Manuale psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen
Lioba Baving
Störungen des Sozialverhaltens
1 23
Prof...
59 downloads
1343 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Manuale psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen
Lioba Baving
Störungen des Sozialverhaltens
1 23
Prof. Dr. Dr. Lioba Baving Lehrstuhlinhaberin für Kinder- und Jugendpsychiatrie Christian-Albrechts-Universität Kiel Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Zentrum für Integrative Psychiatrie gGmbH Niemannsweg 147 24105 Kiel
ISBN-10 ISBN-13
3-540-20934-4 978-3-540-20934-8
Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag springer.com © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2006 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Renate Scheddin Projektmanagement: Renate Schulz Lektorat: Annette Allée, Dinslaken Design: deblik Berlin SPIN 10980842 Satz: medionet AG, Berlin Gedruckt auf säurefreiem Papier
2126 – 5 4 3 2 1 0
Vorwort aus Max und Moritz (Wilhelm Busch)
Ach, was muss man oft von bösen Kindern hören oder lesen! Wie zum Beispiel hier von diesen, Welche Max und Moritz hießen; Die, anstatt durch weise Lehren Sich zum Guten zu bekehren, Oftmals noch darüber lachten Und sich heimlich lustig machten. Ja, zur Übeltätigkeit, Ja, dazu ist man bereit! Menschen necken, Tiere quälen, Äpfel, Birnen, Zwetschgen stehlen, Das ist freilich angenehmer Und dazu auch viel bequemer, Als in Kirche oder Schule Festzusitzen auf dem Stuhle. Aber wehe, wehe, wehe! Wenn ich auf das Ende sehe!! Ach, das war ein schlimmes Ding, Wie es Max und Moritz ging. Drum ist hier, was sie getrieben, Abgemalt und aufgeschrieben.
Allen Kindern und Jugendlichen mit einer Störung des Sozialverhaltens gewidmet.
IX
Vorwort Aggressiv-dissoziale Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen verursachen sowohl erhebliches individuelles Leid als auch gesamtgesellschaftliche Belastungen. Diese Kinder und Jugendlichen stellen nicht nur ihre Eltern und Lehrer vor besondere Anforderungen, sondern auch die in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Jugendhilfe tätigen Fachkräfte. Ziel des vorliegenden Buches ist es, das für erfolgreiche Therapien und Hilfen bei oppositionellen und aggressiv-dissozialen Kindern bzw. Jugendlichen relevante Wissen kompakt und praxisnah darzustellen. Der Schwerpunkt liegt – neben der Diagnostik – auf der Therapie; für das Verständnis der Störungen des Sozialverhaltens erforderliche theoretische Konzepte werden bewusst knapp dargestellt. Die ersten drei Kapitel widmen sich der Geschichte der Störung, ihrer Definition und Klassifikation und verschiedenen Aspekten ihrer Entstehung. 7 Kapitel 4 und 5 behandeln die Diagnose und Differenzialdiagnose der Störungen des Sozialverhaltens. Geführt wird der Leser hier durch „diagnostische Leitfragen“, die ihn dazu anleiten sollen, den einzelnen Jugendlichen mit seiner individuellen Problematik einzuordnen sowie begleitende Störungen und Probleme zu identifizieren. 7 Kapitel 6 bildet mit dem Thema Therapie den Schwerpunkt des Buches. Hier werden die Interventionsmöglichkeiten umfassend vorgestellt und ihre Anwendung in der Praxis beschrieben. Besondere Aufmerksamkeit liegt dabei auf dem Umgang mit akut-aggressiven Kindern und Jugendlichen in Notfallsituationen; Fachkräfte erhalten hier konkrete Handlungsvorschläge für diese schwierigen Situationen. Der letzte Teil (7 Kap. 7 und 8) befasst sich mit Verlauf und Prognose der Störungen des Sozialverhaltens sowie mit den Schwerpunkten zukünftig zu leistender Forschung. Das Buch richtet sich an Mediziner, Psychologen und Pädagogen, die an der ambulanten oder (teil-)stationären Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Störungen des Sozialverhaltens mitwirken, aber auch an die in Jugendämtern und Einrichtungen der Jugendhilfe tätigen Fachkräfte; darüber hinaus an alle Leser, die mehr über diese spezielle Gruppe von Kindern und Jugendlichen mit ihren vielfältigen Eigenschaften und Schwierigkeiten wissen möchten. Kiel, im Frühjahr 2006 Lioba Baving
XI
Inhaltsverzeichnis Ein Blick zurück: Zur Geschichte der Störung. . . . . . . . . . . . . . . . .
1
4.5.4 Drogenscreening . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Weitergehende Diagnostik. . . . . . . . . 4.7 Entbehrliche Diagnostik . . . . . . . . . .
2
Worum es geht: Definition und Klassifikation. . . . . . . . . . . . . . . .
5
5
2.1 2.2 2.3 2.4 2.4.1 2.4.2 2.5
Definition. . . . . . . . . . . . . Leitsymptome . . . . . . . . . Schweregradeinteilung . . . . Untergruppen . . . . . . . . . . Untergruppen nach ICD-10 . Untergruppen nach DSM-IV . Ausschlussdiagnosen . . . . .
Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung . . . . . . . . .
5.1 5.2
5.3.2
Weitere diagnostische Leitfragen. . . . . Identifizierung weiterer Störungen und Belastungen . . . . . . . . . . . . . . . Achse II des MAS: Umschriebene Entwicklungsstörungen. . . . . . . . . . . Achse III des MAS: Intelligenzniveau . . . Achse IV des MAS: Körperliche Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . Achse V des MAS: Assoziierte aktuelle abnorme psychosoziale Umstände . . . Achse VI des MAS: Globale Beurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus. . Differenzialdiagnose und Hierarchie des diagnostischen Vorgehens . . . . . . Hierarchie des diagnostischen Vorgehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Differenzialdiagnose. . . . . . . . . . . . .
6
Was zu tun ist: Interventionen . . . . .
87
6.1 6.2
Auswahl des Interventionssettings. . . . Behandlungsprogramme und ihre Komponenten. . . . . . . . . . . . . . . . . Krankheitsstadienbezogene Komponenten. . . . . . . . . . . . . . . . . Psychoedukative Maßnahmen und Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . Schulbezogene Interventionen . . . . . . Therapieprogramme. . . . . . . . . . . . . Pharmakotherapie . . . . . . . . . . . . . . Komorbiditätsbezogene Komponenten Besonderheiten bei ambulanter Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besonderheiten bei teilstationärer Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besonderheiten bei stationärer Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
88
1
3 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.2 4.3 4.4 4.5 4.5.1 4.5.2 4.5.3
. . . . . . .
Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie. . . .
Biologische Perspektive. . . . . . . . . Psychosoziale Perspektive . . . . . . . Kind/Jugendlicher in seiner Familie . Kind/Jugendlicher und die Gleichaltrigen . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Kind/Jugendlicher und die Schule . . 3.2.4 Kind/Jugendlicher und seine Familie im psychosozialen Umfeld . . . . . . . 3.3 Modellvorstellungen . . . . . . . . . .
4
. . . . . . .
6 7 7 8 8 12 13
5.2.1 5.2.2 5.2.3
17
. . . . . .
19 21 21
5.2.4
. . . .
25 27
5.3
5.2.5
5.3.1 . . . .
27 28
Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik. . . .
31
Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . Leitsymptome . . . . . . . . . . . . . . . . Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . Psychischer Status des Kindes/ Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . Aktuelle Lebenssituation des Kindes/ Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . Störungsspezifische Entwicklungsgeschichte . . . . . . . . . Komorbide Störungen . . . . . . . . . . Störungsrelevante Rahmenbedingungen. . . . . . . . . . . Testpsychologische und somatische Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fremd- und Selbstbeurteilungsskalen Altersbezogene Testdiagnostik . . . . . Körperliche Untersuchung . . . . . . . .
. . .
32 32 36
.
41
6.2.2
.
42
. .
42 43
6.2.3 6.2.4 6.2.5 6.2.6 6.3
.
48
6.2.1
6.4 . . . .
50 50 51 54
6.5
55 57 57
59 60 60 61 66 67 68 68 68 68 71
90 91 94 103 105 107 130 132 136 136
XII
6.6 6.7
Inhaltsverzeichnis
Jugendhilfe und Rehabilitationsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Entbehrliche Therapiemaßnahmen . . . 157
7
Der Blick voraus: Verlauf und Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
8
Was wir nicht wissen: Offene Fragen . . 167
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
1 Ein Blick zurück: Zur Geschichte der Störung
2
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 1 · Ein Blick zurück: Zur Geschichte der Störung
Dissoziales Verhalten wurde historisch aus zwei unterschiedlichen Perspektiven betrachtet (Earls 1994). Der Vorstellung, dass bei Straftätern ein »Defekt in der Charakterbildung« oder eine »Psychopathie« vorliege, stand der Ansatz gegenüber, dass dissoziales Verhalten eine Reaktion auf widrige familiäre und gesellschaftliche Bedingungen darstelle, also nicht primär auf ein intrapsychisches Defizit zurückzuführen sei, sondern als eine Form der Anpassung an abweichende Lebensbedingungen verstanden werden müsse. William Healy (1869‒1963), der in Chicago und Boston die ersten an Jugendgerichte angeschlossenen Kliniken gründete, ging von einem »konstitutionellen psychischen Defekt« aus, der auf mentalen wie physischen, überwiegend erblich bedingten Defiziten beruhe. Zeitgleich veröffentlichte der englische Psychologe Cyril Burt die Abhandlung »The young delinquent« (Burt 1925), in der er neben vielfältigen biologischen Einflüssen auch soziale Faktoren in ihrer Bedeutung für delinquentes Verhalten würdigte. Hervey Cleckley beschrieb in seiner Monographie The mask of sanity (Cleckley 1941) Merkmale seiner ‒ teilweise durchaus angepassten ‒ Patienten, die sich auch in aktuellen PsychopathieKonzepten wiederfinden, nämlich Affektarmut, Mangel an Einfühlungsvermögen und Schuldgefühl, Unvermögen aus Erfahrung zu lernen, ausgeprägte Egozentrik und Verantwortungslosigkeit. Er nahm an, dass diesen Merkmalen ein tiefgreifender Defekt, eine Art »emotionaler Demenz«, zugrunde liege. Zunehmend trat jedoch die Vorstellung eines konstitutionellen Defektes in den Hintergrund, u. a. mit der Rezeption psychoanalytischer Ideen, zugunsten der Betrachtung der Entwicklungsbedingungen dissozialen Verhaltens. August Aichhorn wies in Verwahrloste Jugend ‒ Die Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung (Aichhorn 1925) auf den Zusammenhang zwischen emotionalen Entbehrungen in der frühen Kindheit ‒ aber auch einem Mangel an Erziehung ‒ und späterer dissozialer Entwicklung hin. John Bowl-
by beschrieb in seinen frühen Untersuchungen delinquenter Jugendlicher (Bowlby 1944) den »gefühllosen Charakter«, den er als besonders gefährdet für das Begehen wiederholter Straftaten betrachtete; er fokussierte jedoch insbesondere auf die Entwicklungsbedingungen dieser Jugendlichen, deren Vorgeschichte durch längere Trennungen von Mutter oder Pflegemutter gekennzeichnet sei. Stärker soziologisch orientierte Theorien betonten die Bedeutsamkeit sozialer Faktoren für die Entstehung und Aufrechterhaltung von Dissozialität, zum einen den Einfluss ungünstiger Vorbilder, der zu dissozialem Verhalten verleitet (»Zugtheorien«), zum anderen ungünstige soziale oder ökonomische Verhältnisse, welche die unter diesen Bedingungen lebenden Menschen zu dissozialem Verhalten nötigen (»Drucktheorien«). Eine bahnbrechende empirische Untersuchung wurde von Sheldon und Eleanor Glueck (Glueck u. Glueck 1950) durchgeführt. Sie verglichen 500 dissoziale Jugendliche mit einer ebenso großen, sehr sorgfältig gematchten Gruppe nichtdissozialer Jugendlicher und fanden sowohl konstitutionelle Unterschiede als auch eine überzufällige Häufung von psychsozialen Belastungsfaktoren, insbesondere gestörte Eltern-Kind-Beziehung und Anschluss an dissoziale Gleichaltrige. ! Auch aus aktueller Sicht ist ein komplexes Wechselspiel biologischer, psychischer und sozialer Faktoren an der Entstehung und Aufrechterhaltung dissozialen Verhaltens beteiligt, wobei die im Einzelfall relevanten Faktoren und deren relative Bedeutung interindividuelle Unterschiede aufweisen (7 Kap. 4).
Bezüglich der Entwicklung und Prognose dissozialen Verhaltens konnte Lee Robins in ihren umfangreichen Längsschnittuntersuchungen zeigen, dass dissoziale Erwachsene meist auch dissoziale Kinder und Jugendliche waren, dass sich aber keineswegs jedes im Kindes- und Jugendal-
Ein Blick zurück: Zur Geschichte der Störung
ter auftretende dissoziale Verhalten ins Erwachsenenalter fortsetzt (Robins 1978). Ein ebenfalls relevanter Begriff, der auch in die Gesetzgebung Eingang gefunden hat, lautet »Verwahrlosung«. Hermann Stutte (Stutte u. von Bracken 1967) fasste darunter sowohl die Lebenssituation eines Kindes oder Jugendlichen als auch das potenziell daraus resultierende Verhalten: Ein »Zustand mangelnden Bewahrtseins«, der durch Mängel in der familiären, sozialen oder epochalen Situation bedingt sei, könne bei entsprechender Disposition des Kindes zu seinem Versagen in Bezug auf die Anforderungen des Gemeinschaftslebens führen. Hartmann definierte Verwahrlosung als »persistentes und generalisiertes Sozialversagen« (Hartmann 1977). Wegen seiner negativen Besetzung und potenziell stigmatisierenden Wirkung ist der Begriff der Verwahrlosung, insbesondere in der Sozialpädagogik, sehr umstritten, ist aber nach Meinung anderer Autoren auch heute noch relevant, weil er eine spezifische Personengruppe mit einer konkreten sozialen Realität bezeichnet, während die Begriffe »Dissozialität« oder »Störung des Sozialverhaltens« eine weit größere Personengruppe einschließen. Im DSM-II, der zweiten Version des Diagnosesystems der US-amerikanischen psychiatrischen Fachgesellschaft (Diagnostisches und Statistisches Manual, American Psychiatric Association 1952), wurde die Störung des Sozialverhaltens (»conduct disorder«) als diagnostische Kategorie etabliert, die unabhängig von der legalen Einordnung des entsprechenden Verhaltens als delinquent oder nichtdelinquent zu sehen ist. Die oppositionelle Störung, bei der trotziges, aufsässiges und negativistisches Verhalten im Vordergrund steht – nicht aber aggressives oder dissoziales Verhalten wie bei der »conduct disorder« – wurde im DSM-III (American Psychiatric Association 1980) als diagnostische Kategorie aufgeführt. Die Internationale Klassifikation psychischer Störungen ICD-9 der Weltgesundheitsorganisation (WHO 1978) enthielt zwar die Diagnose der Störung des Sozialverhal-
3
1
tens, nicht jedoch die der oppositionellen Störung, die erst in die ICD-10 Eingang fand. Die aktuellen Versionen der beiden international gebräuchlichen psychiatrischen Diagnosesysteme, DSM-IV (American Psychiatric Association 2001) und ICD-10 (Weltgesundheitsorganisation 2000), haben sich in ihrer Konzeption der Störungen des Sozialverhaltens einander angenähert (7 Kap. 2).
2 Worum es geht: Definition und Klassifikation 2.1
Definition – 6
2.2
Leitsymptome
2.3
Schweregradeinteilung – 7
2.4
Untergruppen – 8
2.4.1 2.4.2
Untergruppen nach ICD-10 – 8 Untergruppen nach DSM-IV – 12
2.5
Ausschlussdiagnosen – 13
–7
6
Kapitel 2 · Worum es geht: Definition und Klassifikation
1
2.1
Definition
2
Kennzeichnend für die Störungen des Sozialverhaltens (F91) ist nach der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen ICD-10 (Weltgesundheitsorganisation 2000) »ein sich wiederholendes und andauerndes Muster dissozialen, aggressiven oder aufsässigen Verhaltens«, welches die Grundrechte anderer oder dem jeweiligen Lebensalter entsprechende soziale Normen und Regeln verletzt und seit 6 Monaten oder länger besteht. Für die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens ist also ein Verhaltensmuster gefordert, einzelne dissoziale Handlungen rechtfertigen diese Diagnose nicht. Oft liegen bei Störungen des Sozialverhaltens ungünstige psychosoziale Bedingungen vor. Eine Störung des Sozialverhaltens kann zusammen mit einer hyperkinetischen Störung (hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens F90.1) oder mit einer emotionalen Störung wie Depression oder Angst (kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen F92) auftreten. Gegenstand dieser Monographie sind alle Störungen des Sozialverhaltens entsprechend der ICD-10, also die diagnostischen Kategorien F91, F90.1 und F92. Unter dem diagnostischen Begriff »Störung des Sozialverhaltens« wird ein Cluster von dissozialen, aggressiven und/oder oppositionellen Verhaltensweisen subsumiert und aus psychiatrischer Sicht beschrieben.
3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Definition Dissoziales Verhalten verletzt die sozialen Regeln und Prinzipien der Gesellschaft, das Verhalten wird jedoch nicht notwendigerweise in einem gesetzlichen Zusammenhang beurteilt. Bei aggressivem Verhalten handelt es sich um gegen Personen oder Objekte gerichtetes Verhalten, das einen physischen oder emotionalen Schaden verursachen kann.
Nicht jedes aggressive Verhalten ist dissozial – dann beispielsweise nicht, wenn es der Verteidigung der eigenen Person dient. Wiederkehrendes
aggressives Verhalten jedoch, das in einem gegebenen sozialen Kontext deutlich unangemessen ist, erschwert oder verunmöglicht das Zusammenleben mit anderen Menschen und ist mit grundsätzlichen gesellschaftlichen Regeln nicht vereinbar. Auch oppositionelles Verhalten, also trotziges und ungehorsames Verhalten, ist keineswegs immer deviant, sondern in bestimmten Entwicklungsphasen als beinahe normativ zu betrachten (»terrible two«). Ein andauerndes Muster von erheblich ausgeprägtem und altersinadäquatem oppositionellem Verhalten ist jedoch insofern dissozial, als es ebenfalls mit den grundsätzlichen Regeln des Zusammenlebens nicht vereinbar ist. Da aber die ICD-10 zwischen oppositionellen, aggressiven und dissozialen Verhaltensweisen trennt, wird dieser semantischen Abgrenzung auch in der vorliegenden Monographie gefolgt. Einige dissoziale Verhaltensweisen sind gleichzeitig auch delinquente Verhaltensweisen. Definition Der Begriff der »Delinquenz« bezieht sich auf die Verletzung oder Missachtung von strafrechtlichen Normen, unabhängig davon, ob der Handelnde dafür strafrechtlich belangt werden kann. Als »kriminell« wird ein Handeln hingegen dann bezeichnet, wenn das normverletzende Verhalten strafrechtlich sanktioniert werden kann, der Handelnde also strafmündig ist (in Deutschland derzeit ab dem Alter von 14 Jahren).
Ein Kind oder Jugendlicher kann also als delinquent bezeichnet werden, wenn er als gesetzwidrig definiertes Verhalten zeigt, das gleiche Verhalten kann aber auch als »Störung des Sozialverhaltens« einer psychiatrischen Beschreibung zugänglich gemacht werden. Zu bedenken ist jedoch, dass eine Störung der sozialen Rolle allein kein diagnostisches Kriterium einer psychischen Störung darstellt und soziale Abweichungen oder soziale Konflikte ohne persönliche Beeinträchtigung nicht als psychische Störung betrachtet werden sollten (Weltgesundheitsorga-
7
2.3 Schweregradeinteilung
nisation 2000). Streng genommen dürfte also die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens nur dann gestellt werden, wenn von dem zu beobachtenden aggressiven oder dissozialen Verhalten angenommen wird, dass es sich um die Manifestation einer psychischen Störung handelt, wobei jedoch der kinder- und jugendpsychiatrische Sprachgebrauch an dieser Stelle so konsequent nicht ist. Der konzeptuelle Unterschied wird aber spätestens bei der Frage von Behandlungsentscheidungen deutlich, wo wir dann von Störungen des Sozialverhaltens mit überwiegend psychiatrischem bzw. überwiegend pädagogischpsychosozialem Interventionsbedarf sprechen.
2.2
Leitsymptome Verhaltensweisen, welche die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens begründen 5 Deutliches Maß an Ungehorsam, Streiten oder Tyrannisieren 5 Ungewöhnlich häufige oder schwere Wutausbrüche 5 Grausamkeit gegenüber anderen Menschen oder gegenüber Tieren 5 Erhebliche Destruktivität gegen Eigentum 5 Feuerlegen 5 Stehlen 5 Häufiges Lügen 5 Schulschwänzen 5 Weglaufen von zu Hause (außer zur Vermeidung körperlicher oder sexueller Misshandlung)
! Nicht jedes dissoziale Verhalten ist ein Anzeichen für Psychopathologie oder erfordert psychiatrische Behandlung.
Im Gegensatz zur kategorialen Definition einer Störung des Sozialverhaltens, bei der eine Person die entsprechenden diagnostischen Kriterien erfüllt und somit die Diagnose gestellt werden kann, oder aber nicht erfüllt und die Diagnose verworfen wird, kann das Ausmaß an oppositionellem, aggressivem und/oder dissozialem Verhalten auch als eine kontinuierliche oder dimensionale Variable betrachtet werden. Bei einer solchen dimensionalen Betrachtung können sowohl Verhaltensweisen, welche die Schwelle für die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens noch nicht erreichen, als auch unterschiedliche Schweregrade einer Störung des Sozialverhaltens differenzierter beschrieben werden.
2
Jede einzelne der genannten Verhaltensweisen genügt bei erheblicher Ausprägung über einen Zeitraum von mehr als 6 Monaten für die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens, nicht jedoch einzelne solcher Handlungen.
2.3
Schweregradeinteilung
Entsprechend den ICD-10-Forschungskriterien kann der Schweregrad einer Störung des Sozialverhaltens in den folgenden Abstufungen beschrieben werden: 5 Leicht: keine oder nur wenige Symptome neben denen, die für die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens gefordert werden; das disruptive Verhalten verursacht nur geringen Schaden für andere. 5 Mittelgradig: die Zahl der Symptome und der Schaden für andere liegt zwischen leicht und schwer. 5 Schwer: viele Symptome neben den für die Diagnose geforderten und/oder nennens-
8
Kapitel 2 · Worum es geht: Definition und Klassifikation
1
werter Schaden für andere, z. B. bei Diebstahl, Vandalismus oder schwerer körperlicher Gewalt.
2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Zwischen der Vielfalt delinquenter Handlungen, die von einer Person begangen werden, und dem Schweregrad der schwersten von ihr begangenen delinquenten Handlung besteht ein positiver statistischer Zusammenhang. Weiterhin kann nach den ICD-10-Forschungskriterien im Fall einer komorbiden Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (F90.1) oder einer komorbiden emotionalen Störung (F92) deren Schweregrad zur Beschreibung des Schweregrades des Störungsbildes insgesamt herangezogen werden.
2.4
Untergruppen
2.4.1 Untergruppen nach ICD-10 In der ICD-10 werden mehrere Untergruppen der Störungen des Sozialverhaltens unterschieden, die therapeutisch sowie prognostisch bedeutsam sind.
13 14 15 16 17 18 19 20
Störungen des Sozialverhaltens: Untergruppen nach ICD-10 F91.0 Auf den familiären Rahmen beschränkte Störung des Sozialverhaltens F91.1 Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen F91.2 Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen F91.3 Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten F90.1 Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens F92.0 Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung F92.8 Sonstige kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen
Entsprechend ihrer allgemeinen Systematik enthält die ICD-10 auch die Untergruppen »Sonstige Störungen des Sozialverhaltens« (F91.8), »Nicht näher bezeichnete Störung des Sozialverhaltens« (F91.9) und »Nicht näher bezeichnete kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen« (F92.9). Die »Nicht näher bezeichnete Störung des Sozialverhaltens« (F91.9) wird als eine Restkategorie bezeichnet, deren Verwendung nicht empfohlen wird, und zu »Sonstige Störungen des Sozialverhaltens« (F91.8) und »Nicht näher bezeichnete kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen« (F92.9) enthält die ICD-10 keinerlei Ausführungen. Dementsprechend wird hier auf diese diagnostischen Untergruppen nicht weiter eingegangen. F91.0 Auf den familiären Rahmen beschränkte Störung des Sozialverhaltens Über diese Störung liegen kaum empirische Befunde vor. Eventuell handelt es sich um eine leichter ausgeprägte Störung des Sozialverhaltens, bei der vergleichbare Mechanismen wie bei den übrigen Störungen des Sozialverhaltens wirksam sind, jedoch in weniger starker Ausprägung. Auch außerfamiliäre protektive Faktoren könnten dazu beitragen, dass außerhalb der Familie keine Symptomatik von Störungswert entsteht, z. B. ein hoch strukturiertes und tragfähiges außerfamiliäres Milieu oder soziale Ängste beim Kind, so dass es außerhalb der Familie sein Verhalten soweit kontrolliert, dass die Symptomatik nur im sicheren Rahmen der Familie Störungswert erreicht. Andererseits können in der Familie spezifische Bedingungen vorliegen, vor allem eine bedeutsame Beziehungsstörung des Kindes zu einem oder mehreren Mitgliedern der Kernfamilie (z. B. neu hinzugekommenes Elternteil), so dass oppositionelles Verhalten dort und nur dort positiv verstärkt wird. Welche Bedingungen bei einem Patienten jeweils relevant sind, sollte diagnostisch gut herausgearbeitet werden und in die Therapieplanung ein-
2.4 Untergruppen
gehen. Aufgrund der oft hohen Kontextspezifität der Störung ist die Prognose möglicherweise günstiger, als wenn oppositionelles oder aggressives Verhalten in verschiedenen sozialen Kontexten auftritt. F91.1 Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen Hier liegt eine deutliche und umfassende Beeinträchtigung der Beziehungen des betroffenen Kindes zu anderen Menschen vor, wobei hauptsächliches Unterscheidungsmerkmal gegenüber den »sozialisierten« Störungen des Sozialverhaltens gestörte Beziehungen zu Gleichaltrigen sind, die sich als Isolation, Zurückweisung oder Unbeliebtsein bei anderen Kindern oder Jugendlichen sowie durch das Fehlen länger dauernder Freundschaften mit Gleichaltrigen zeigen. Gelegentlich bestehen gute – jedoch keine engen oder vertrauensvollen – Beziehungen zu Erwachsenen, oft sind jedoch auch die Beziehungen zu Erwachsenen durch Unstimmigkeiten, Verärgerung und Feindseligkeit gekennzeichnet. Häufig findet sich eine begleitende emotionale Problematik. F91.2 Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen Das wesentliche Differenzierungsmerkmal gegenüber der Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen besteht in der guten Einbindung in die Gruppe der Gleichaltrigen mit angemessenen, andauernden Freundschaften, während die Beziehungen zu Erwachsenen häufig schlecht sind. Oft besteht die Bezugsgruppe aus dissozialen Kindern/Jugendlichen, wodurch dann das sozial unerwünschte Verhalten des Betroffenen reguliert und verstärkt wird; er kann jedoch auch einer nichtdissozialen Peer-Gruppe angehören und sein dissoziales Verhalten außerhalb dieses Rahmens zeigen.
9
2
F91.3 Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten Dieses Störungsbild ist gekennzeichnet durch trotziges, provokatives, negativistisches und feindseliges Verhalten, aktive Missachtung von Regeln und Anforderungen Erwachsener, geringe Frustrationstoleranz und häufige Wutausbrüche sowie gezieltes Ärgern von Erwachsenen und Gleichaltrigen. Die Kinder sind oft zornig, verärgert und nachtragend und schreiben anderen Menschen die Verantwortung für eigene Fehler zu. Es kommen jedoch keine schweren aggressiven oder dissozialen Handlungen vor; anderenfalls ist eine der anderen Störungen des Sozialverhaltens zu diagnostizieren. Diese Störung tritt in der Regel bei Kindern unter 9–10 Jahren auf. Oft liegt eine komorbide Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung vor (August et al. 1999). Von einer oppositionellen Störung sind Jungen und Mädchen etwa gleich häufig betroffen, während aggressiv-dissoziale Störungen bei Jungen deutlich häufiger als bei Mädchen auftreten. Eine oppositionelle Störung geht mit erheblichen negativen psychosozialen Konsequenzen einher, vor allem Konflikten zwischen Kind und Eltern sowie beeinträchtigten Beziehungen zu Gleichaltrigen. Dadurch wird ein Kind mit einer oppositionellen Störung wichtiger sozialer Erfahrungen und Lernmöglichkeiten beraubt, auch dann, wenn keine weiteren psychiatrischen Störungen vorliegen. Ein Teil der Jungen mit einer oppositionellen Störung entwickelt eine Störung des Sozialverhaltens mit aggressivem oder dissozialem Verhalten (F91.0–F91.2), vor allem vom Subtypus mit Störungsbeginn im Kindesalter (August et al. 1999). Umgekehrt geht eine aggressiv-dissoziale Störung häufig mit oppositionellen Symptomen begleitend oder in der Vorgeschichte einher. Der enge Zusammenhang zwischen oppositioneller Störung und aggressiv-dissozialer Störung gilt vor allem für Jungen, während nur wenige oppositionelle Mädchen aus Nicht-Inanspruchnahme-Stichproben eine aggressiv-disso-
10
1 2 3 4 5 6 7 8
Kapitel 2 · Worum es geht: Definition und Klassifikation
ziale Störung entwickeln. Bei Mädchen hingegen ist das Vorliegen einer oppositionellen Störung ein bedeutsamer Risikofaktor für die Entwicklung einer Angststörung oder einer depressiven Störung (Rowe et al. 2002). F90.1 Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens Sind neben den Kriterien einer Störung des Sozialverhaltens auch die Kriterien für eine einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90) erfüllt – Letztere wird auch als Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bezeichnet –, liegt nach der ICD-10 eine hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (F90.1) vor (. Abb. 2.1). Gering ausgeprägte oder si-
9
Leitsymptom(e) gesichert für Diagnose »Störung des Sozialverhaltens« (mit Schweregrad und Dauer)
10 11
zusätzlich Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung?
12 13 14 15 16 17 18 19 20
tuationsspezifisch auftretende Unaufmerksamkeit oder Hyperaktivität, die bei Kindern und Jugendlichen mit Störungen des Sozialverhaltens häufig zu beobachten sind, rechtfertigen jedoch die Diagnose einer hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens nicht. Diese Kombinationsdiagnose ist zum einen in der Häufigkeit begründet, mit der die beiden Störungen gemeinsam auftreten, zum anderen in der ausgeprägteren Dysfunktion und ungünstigeren Prognose gegenüber der einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90.0) wie auch gegenüber den Störungen des Sozialverhaltens (F91). Sowohl das Auftreten einer oppositionellen Störung als auch der Übergang von einer oppositionellen in eine aggressiv-dis-
nein
ja
zusätzlich Emotionale Störung? nein
ja
Störungen des Sozialverhaltens (F91)
Depressive Störung? nein
Sonstige Sonstigekombinierte kombinierteStörung Störung desSozialverhaltens Sozialverhaltensund und des derEmotionen Emotionen(F92.8) (F92.8) der
zusätzlich Emotionale Störung? nein Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (F90.1)
ja Sonstige Hyperkinetische Störung (F90.8)
ja
Störung Störungdes desSozialverhaltens Sozialverhaltens mitdepressiver depressiverStörung Störung mit (F92.0) (F92.0)
. Abb. 2.1. Störungen des Sozialverhaltens mit komorbider ADHS und/oder emotionaler Störung. (Nach AWMF-Leitlinie »Störung des Sozialverhaltens«, Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie et al. 2003)
2.4 Untergruppen
soziale Störung – vor allem einer solchen mit Beginn im Kindesalter – wird durch das Vorliegen einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung begünstigt (Loeber et al. 1995). Hierbei erhöhen die hyperaktiv-impulsiven Symptome die Wahrscheinlichkeit einer Störung des Sozialverhaltens mehr als die inattentiven Symptome (Lalonde et al. 1998; Babinski et al. 1999). Eine aggressiv-dissoziale Störung mit komorbider ADHS beginnt nicht nur früher, sondern ist auch – verglichen mit einer aggressiv-dissozialen Störung ohne ADHS – von ausgeprägterer Symptomatik und höherer Persistenz gekennzeichnet. F92 Kombinierte Störungen des Sozialverhaltens und der Emotionen Nach der ICD-10 ist die Diagnose einer kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (F92) dann zu stellen, wenn neben der Störung des Sozialverhaltens auch eine depressive Störung oder eine andere emotionale oder Befindlichkeitsstörung besteht. Beim gleichzeitigen Vorliegen einer depressiven Störung aus dem Kapitel F3 mit anhaltenden, eindeutigen depressiven Symptomen, wie ausgeprägter Traurigkeit, Interessenverlust und Freudlosigkeit, sind die diagnostischen Kriterien für eine Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung (F92.0) erfüllt (. Abb. 2.1). Bei Vorliegen einer Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung ist gegenüber einer Störung des Sozialverhaltens sowie gegenüber einer depressiven Störung ohne das Vorliegen der jeweils anderen Störung das Risiko für schulisches Versagen, Substanzmissbrauch und –abhängigkeit erhöht (Marmorstein u. Iacono 2003). Ein beträchtlicher Anteil der Kovariation zwischen beiden Störungen ist auf gemeinsame Faktoren zurückzuführen, die das Risiko beider Störungen erhöhen, wie Dissozialität in der Familie oder Zugehörigkeit zu einer delinquenten Peer-Gruppe (Fergusson et al. 1996). Eine sonstige kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (F92.8) wird dia-
11
2
gnostiziert, wenn neben einer Störung des Sozialverhaltens gleichzeitig auch eine emotionale Störung des Kindesalters (F93) oder eine neurotische Störung (F4) vorliegt, also anhaltende, eindeutige Symptome wie Angst, Furcht, Phobien, Zwangsgedanken oder -handlungen, Depersonalisations- oder Derealisationsphänomene oder Hypochondrie bestehen (. Abb. 2.1). Ein niedriges Selbstwertgefühl, leichtere emotionale Verstimmungen sowie Zorn und Ärger, die bei Kindern und Jugendlichen mit Störungen des Sozialverhaltens häufig vorkommen, rechtfertigen die Diagnose einer kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen nicht. In unselektierten Inanspruchnahme-Populationen zeigte sich eine klinisch signifikante Komorbidität von Zwangsstörungen mit Störungen des Sozialverhaltens (Geller et al. 1996). Möglicherweise wird der Zusammenhang u. a. über eine komorbide Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung vermittelt, die mit beiden Störungen überzufällig häufig assoziiert ist. Nicht selten tritt eine posttraumatische Belastungsstörung komorbid zu einer Störung des Sozialverhaltens auf (Steiner et al. 1997; Ruchkin et al. 2002), meist im zeitlichen Verlauf nach der Störung des Sozialverhaltens (Cauffman et al. 1998; Reebye et al. 2000). Bei Mädchen sind vor allem sexuelle Übergriffe relevant, bei Jungen eher körperliche Übergriffe oder Unfälle. Bei Vorliegen einer Störung des Sozialverhaltens besteht eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, traumatisierenden Ereignissen ausgesetzt zu werden; möglich ist aber auch, dass ungünstige psychosoziale Bedingungen sowohl die Entwicklung einer Störung des Sozialverhaltens als auch einer posttraumatischen Belastungsstörung begünstigen. Vergleichsweise wenig ist über den Zusammenhang zwischen somatoformen Störungen und Störungen des Sozialverhaltens bekannt. Bei jugendlichen Delinquenten ging ein höherer Schweregrad der Störung des Sozialverhaltens mit einer stärker ausgeprägten Somatisierung einher (Vermeiren et al. 2002), und das DSM-IV benennt das Vorliegen einer aggressiv-dissozi-
12
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 2 · Worum es geht: Definition und Klassifikation
alen Störung als einen Risikofaktor für eine spätere somatoforme Störung. F90.8 Sonstige hyperkinetische Störung Wenn gleichzeitig eine Störung des Sozialverhaltens, eine emotionale Störung und eine hyperkinetische Störung vorliegen, kann die Diagnose einer sonstigen hyperkinetischen Störung (F90.8) gestellt werden (. Abb. 2.1). Problematik der Kombinationsdiagnosen Wie aus . Abb. 2.1 ersichtlich, ist bei den Kombinationsdiagnosen F90.1 und F92 die Art der Störung des Sozialverhaltens aus der Diagnose nicht mehr zu entnehmen, bei F92.8 darüber hinaus die Art der anderen emotionalen Störung nicht mehr, bei F90.8 auch nicht mehr, ob eine depressive Störung oder eine andere emotionale Störung vorliegt. Deswegen wird in den Forschungskriterien empfohlen, für Forschungszwecke – zusätzlich zu der Verwendung einer kombinierten Kategorie als übergreifender Diagnose – die drei Dimensionen Störung des Sozialverhaltens, hyperkinetische Störung und emotionale Störung einzeln zu beschreiben. Störungen des Sozialverhaltens mit Beginn in der Kindheit vs. Beginn in der Adoleszenz Nach den ICD-10-Forschungskriterien kann man – in Anlehnung an die entsprechenden Subtypen der »conduct disorder« nach DSM-IV – Störungen des Sozialverhaltens mit Beginn in der Kindheit von Störungen des Sozialverhaltens mit Beginn in der Adoleszenz abgrenzen. Die beiden Subtypen unterscheiden sich in Symptomatik, Geschlechterverhältnis, Entwicklungsverlauf und Prognose (Moffitt et al. 2002). Beide Subtypen können in leichter, mittelgradiger und schwerer Ausprägung auftreten. Bei Störungen des Sozialverhaltens mit Beginn in der Kindheit tritt (mindestens) ein Symptom einer Störung des Sozialverhaltens bis spätestens zum 10. Lebensjahr auf. Hiervon sind wesentlich mehr Jungen als Mädchen betrof-
fen. Oft bestanden vorher oder zeitgleich oppositionelle Symptome und eine komorbide Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ist wesentlich häufiger als bei einer Störung des Sozialverhaltens mit Beginn in der Adoleszenz. Bei statistischer Berücksichtigung von Lebensalter und Geschlecht zeigen Kinder und Jugendliche mit frühem Störungsbeginn eine höhere Anzahl aggressiv-dissozialer Verhaltensweisen, mehr physische Aggression, gestörte Beziehungen zu Gleichaltrigen und früher beginnenden sowie schneller ansteigenden Substanzabusus (Lahey et al. 1999a; Taylor et al. 2002). Auch die Wahrscheinlichkeit eines chronischen Verlaufes und des Übergangs in eine dissoziale Persönlichkeitsstörung ist größer (Ridenour et al. 2002). Bei Störungen des Sozialverhaltens mit Beginn in der Adoleszenz tritt keines der Symptome einer Störung des Sozialverhaltens bis zum 10. Lebensjahr auf. Dieser Subtyp ist weniger deutlich jungenlastig als der Subtyp mit Beginn in der Kindheit, weniger mit ADHS und oppositioneller Störung assoziiert und von weniger schwerem aggressiv-dissozialem Verhalten gekennzeichnet, das in höherem Maße durch deviante Gleichaltrige beeinflusst wird. Aber auch diese Jugendlichen können in ihrer Entwicklung gefährdet sein und sind als Erwachsene in höherem Ausmaß von psychischen Störungen, Substanzabhängigkeit, finanziellen Schwierigkeiten und Eigentumsdelikten betroffen, als dieses bei Jugendlichen ohne Störung des Sozialverhaltens der Fall ist (Moffitt et al. 2002).
2.4.2 Untergruppen nach DSM-IV Im DSM-IV lauten die diagnostischen Kategorien der Störungen des Sozialverhaltens »conduct disorder« und »oppositional-defiant disorder«, die unter dem Oberbegriff der »disruptive behavior disorders« zusammengefasst und von der »attention-deficit/hyperactivity disorder« abgegrenzt werden. Nach dem DSM-IV müssen
13
2.5 Ausschlussdiagnosen
2
für die Diagnose einer »conduct disorder« drei Symptome vorhanden sein. Somit ist beim Vorliegen von ein oder zwei Symptomen – auch in erheblicher Ausprägung – nach dem DSM-IV die diagnostische Schwelle noch nicht erreicht, während nach der ICD-10 bereits die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens gestellt würde, für welche ja lediglich ein Symptom in erheblicher Ausprägung über einen Zeitraum von mindestens 6 Monaten erforderlich ist. Während die ICD-10-Forschungskriterien den DSMIV-Kriterien sehr ähnlich sind, ist die Sinnhaftigkeit der klinischen ICD-10-Kriterien in dem linearen Zusammenhang zwischen der – auch geringen – Anzahl der Symptome einer Störung des Sozialverhaltens und dem negativen Outcome begründet (Satterfield u. Schell 1997; Fergusson u. Woodward 2000).
sprechend der DSM-IV-Klassifikation der Begriff »disruptives Verhalten« verwendet. Hiervon abzugrenzen ist der Begriff »externalisierendes Verhalten«, also – entsprechend der Wortbedeutung – nach außen gerichtetes Verhalten, welches disruptive und hyperkinetische Verhaltensweisen zusammenfasst und diese dem »internalisierenden Verhalten«, also gehemmtem, ängstlichem, zurückgezogenem und depressivem Verhalten, gegenüberstellt (Achenbach u. Edelbrock 1978).
Verwendete Begrifflichkeit . Tabelle 2.1 gibt eine Übersicht über die im Text verwendeten Begriffe, jeweils bei kategorialer wie auch dimensionaler Beschreibung. Aufgrund der besseren Lesbarkeit werden im Text die Störungen des Sozialverhaltens, auf den familiären Rahmen beschränkt (F91.0), bei fehlenden sozialen Bindungen (F91.1) und bei vorhandenen sozialen Bindungen (F91.2) als aggressiv-dissoziale Störungen zusammengefasst. Die Störung des Sozialverhaltens, mit oppositionellem, aufsässigen Verhalten (F91.3) wird kurz als oppositionelle Störung bezeichnet. Statt der sehr umständlichen Formulierung »oppositionell-aggressiv-dissoziales Verhalten« wird ent-
Schizophrenie (F20) Aggressives oder dissoziales Verhalten im Rahmen einer Schizophrenie kann u. a. wahnhaft oder durch Halluzinationen motiviert sein. Auch in der Prodromalphase schizophrener Störungen können soziale Regelübertretungen und aggressive Verhaltensweisen das klinische Bild prägen.
2.5
Ausschlussdiagnosen
Die folgenden Diagnosen müssen ausgeschlossen worden sein, um die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens stellen zu können.
Manische Episode (F30), bipolare affektive Störung (F31) Soziale Regelübertretungen, erhöhte Reizbarkeit und aggressives Verhalten bis hin zu aggressiven Erregungszuständen können im Rahmen einer manischen Episode auftreten.
. Tab. 2.1. Störungen des Sozialverhaltens: kategorial (ICD-10 und DSM-IV) und dimensional ICD-10
DSM-IV
Dimensionale Beschreibung
Störungen des Sozialverhaltens (F91) – Aggressiv-dissoziale Störungen (F91.0–F91.2) – Oppositionelle Störung (F91.3)
Disruptive behavior disorders
Disruptives Verhalten
– Conduct disorder – Oppositional-defiant disorder
– Aggressiv-dissoziales Verhalten – Oppositionelles Verhalten
14
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 2 · Worum es geht: Definition und Klassifikation
Anpassungsstörung mit vorwiegender Störung des Sozialverhaltens (F43.24), Anpassungsstörung mit gemischter Störung von Gefühlen und Sozialverhalten (F43.25) Hier ist z. B. die Trauerreaktion eines Jugendlichen auf ein belastendes Lebensereignis einzuordnen, die sich in (u. a.) aggressivem oder dissozialem Verhalten manifestiert. Halten die Symptome länger als 6 Monate an, sollte nach der ICD-10 im Allgemeinen nicht mehr die Diagnose einer Anpassungsstörung gestellt werden, sondern die Diagnose in Übereinstimmung mit dem gegenwärtigen klinischen Bild geändert werden. Dissoziale Persönlichkeitsstörung (F60.2) Die dissoziale Persönlichkeitsstörung gehört zu den spezifischen Persönlichkeitsstörungen (F60), bei denen laut ICD-10 »eine schwere Störung der charakterlichen Konstitution und des Verhaltens« vorliegt, die mehrere Bereiche der Persönlichkeit betrifft; das auffällige Verhaltensmuster ist tiefgreifend und in vielen persönlichen und sozialen Situationen eindeutig unpassend. Das Zustandsbild ist nicht direkt auf signifikante Hirnerkrankungen oder -schädigungen zurückzuführen. Neben diesen allgemeinen Kriterien einer Persönlichkeitsstörung müssen für die Diagnose einer dissozialen Persönlichkeitsstörung nach der ICD-10 mindestens drei der folgenden Eigenschaften oder Verhaltensweisen vorliegen: 5 mangelnde Empathie und Gefühlskälte gegenüber anderen; 5 deutliche und durchgängige verantwortungslose Haltung sowie tiefgreifende Missachtung und Verletzung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen; 5 Unvermögen zur Aufrechterhaltung längerfristiger Beziehungen, aber keine Schwierigkeiten, Beziehungen einzugehen; 5 sehr geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives einschließlich gewalttätigem Verhalten;
5 Unfähigkeit zum Erleben von Schuldbewusstsein und zum Lernen aus negativen Erfahrungen, einschließlich Bestrafung; 5 deutliche Neigung, andere zu beschuldigen oder vordergründige Rationalisierungen für das eigene Verhalten anzubieten. Anhaltende Reizbarkeit sowie eine vorausgehende Störung des Sozialverhaltens im Kindesund Jugendalter vervollständigen das klinische Bild, sind aber keine Voraussetzungen für die Diagnose. Aufgrund der größeren Verhaltensvariabilität und -plastizität bei Kindern und Jugendlichen im Vergleich zu Erwachsenen ist die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung vor dem Alter von 16 Jahren wahrscheinlich unangemessen. Bei Jugendlichen ist der Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens der Vorzug vor der Diagnose einer dissozialen Persönlichkeitsstörung zu geben, um den Entwicklungsaspekt der Störung und damit die Notwendigkeit pädagogischer und psychiatrisch-psychotherapeutischer Interventionen zu betonen. Schwere bzw. schwerste Intelligenzminderung (F72, F73) Treten bei Vorliegen einer Intelligenzminderung aggressive oder dissoziale Verhaltensweisen auf, so können diese mit F7x.1 (Intelligenzminderung mit deutlicher Verhaltensstörung, die Beobachtung oder Behandlung erfordert) kodiert werden. Für das x ist eine Ziffer zwischen 0 und 3 je nach dem vorliegenden Intelligenzniveau einzusetzen. Grundsätzlich schließt das Vorliegen einer Intelligenzminderung zusätzliche Diagnosen anderer Abschnitte des Kapitels V (F) nicht aus. Treten bei einer leichten Intelligenzminderung (F70; IQ 50–69) oder einer mittelgradigen Intelligenzminderung (F71, IQ 35–49) Symptome einer Störung des Sozialverhaltens auf, sind diese nach der ICD-10 gesondert zu kodieren. Da jedoch für die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens von einem wenigstens grundlegenden Verständnis der Rechte anderer Menschen sowie
2.5 Ausschlussdiagnosen
altersentsprechender sozialer Normen ausgegangen werden muss, ist diese Diagnose mit einer so niedrigen Intelligenz, wie sie bei einer schweren Intelligenzminderung (F72; IQ 20–34) oder gar schwersten Intelligenzminderung (F73; IQ <20) vorliegt, nicht mehr vereinbar. Tiefgreifende Entwicklungsstörungen (F84) Auch bei sehr vielen Kindern und Jugendlichen mit einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung kann aufgrund der Beeinträchtigungen in der sozialen Interaktion und Kommunikation sowie der häufig bestehenden allgemeinen kognitiven Beeinträchtigung nicht davon ausgegangen werden, dass ein Grundverständnis der Rechte anderer Menschen sowie altersentsprechender sozialer Normen besteht; dementsprechend schließen die tiefgreifenden Entwicklungsstörungen (F84) nach der ICD-10 die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens aus. Dennoch stellt sich die Frage, ob nicht Kinder bzw. Jugendliche mit einem hohen Funktionsniveau, z. B. bei Asperger-Syndrom, die keine kognitive und sprachliche Entwicklungsstörung aufweisen, zumindest intellektuell soziale Normen verstehen und befolgen können, so dass im Einzelfall bei Auftreten signifikanten aggressiv-dissozialen Verhaltens auch die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens gerechtfertigt wäre.
15
2
3 Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie 3.1
Biologische Perspektive
– 19
3.2
Psychosoziale Perspektive – 21
3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4
Kind/Jugendlicher in seiner Familie – 21 Kind/Jugendlicher und die Gleichaltrigen – 25 Kind/Jugendlicher und die Schule – 27 Kind/Jugendlicher und seine Familie im psychosozialen Umfeld
3.3
Modellvorstellungen – 28
– 27
18
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 3 ·Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie
»Puzzleteile« zum Verständnis von Störungen des Sozialverhaltens finden sich auf unterschiedlichen Betrachtungsebenen, die jedoch untereinander in einem engen Zusammenhang stehen. Grundsätzlich – wie auch bei anderen kinderund jugendpsychiatrischen Störungsbildern – geht man für die Störungen des Sozialverhaltens von einem biopsychosozialen Modell aus. Genetische und frühe psychosoziale Faktoren beeinflussen die Neurobiologie des Gehirns und damit die Erlebens- und Verhaltensweisen des Individuums. Biologische und psychosoziale Faktoren der Eltern interagieren mit biologischen und psychosozialen Faktoren des Kindes. Oft ist es schwierig, die einzelnen Ebenen voneinander zu trennen. Die folgenden Beispiele sollen die Komplexität der Wechselwirkungen zwischen biologischen und psychosozialen Faktoren verdeutlichen. Beispiele Der Befund, dass in Familien, die aus einer sozioökonomisch benachteiligten Gegend wegzogen, weniger Störungen des Sozialverhaltens auftraten, kann einerseits als Beleg für die Bedeutung von Umgebungseinflüssen interpretiert werden. Andererseits können aber auch Merkmale – biologische wie psychosoziale – einer Familie dazu beitragen, dass sie überhaupt in der Lage ist, eine Gegend mit ungünstigen Lebensbedingungen zu verlassen (Simonoff 2001). Kinder von sehr jungen Müttern weisen ein erhöhtes Risiko von externalisierenden Verhaltensweisen im Kindesalter und von dissozialen Verhaltensweisen in der Adoleszenz auf (Jaffee et al. 2001). Hierfür können – biologisch wie psychosozial bestimmte – Eigenschaften der Mutter bedeutsam sein, die sowohl die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft im Teenager-Alter als auch die Wahrscheinlichkeit dissozialen Verhaltens ihres Kindes erhöhen; die Mütter geben also ihre eigenen »Risikofaktoren« an ihre Kinder weiter. Andererseits sind auch die ungünstigen psychosozialen Folgen einer frühen Mutterschaft (z. B. für Ausbildungsniveau, sozioökonomischen Status, Belastung als Alleinerziehende) für die Lebensumstände
der Familie und damit des Kindes, unabhängig von Merkmalen der Mutter, zu berücksichtigen.
Ein »Risikofaktor« erhöht die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer Störung bei einer Person, die von diesem Faktor betroffen ist, verglichen mit einer Person, die von diesem Faktor nicht betroffen ist. Unterschiedliche Risikofaktoren liefern eigenständige Beiträge zum Verständnis der Entwicklung von Störungen des Sozialverhaltens (Dodge 2001), und die Heterogenität der Störungen des Sozialverhaltens beruht u. a. auf interindividuellen Unterschieden in den Risikofaktoren wie auch Entwicklungswegen. Andererseits können verschiedene Risikofaktoren das gleiche Problemverhalten oder die gleiche Störung verursachen (Äquifinalität). So wiesen – bei etwa gleich hohem Gesamtrisiko für die Entwicklung einer Störung des Sozialverhaltens – unterschiedliche Gruppen von Kindern mit unterschiedlichen Risikofaktoren dennoch ein vergleichbares Ausmaß aggressiven Verhaltens auf; dieses war aber bei manchen Kindern eher auf ungünstiges elterliches Erziehungsverhalten zurückzuführen, bei anderen Kindern dagegen eher auf negative Interaktionen mit Gleichaltrigen (Deater-Deckard et al. 1998). ! Jeder genetische wie auch psychosoziale Risikofaktor für sich betrachtet hat in der Regel keinen bedeutsamen Effekt auf disruptives Verhalten, wichtig ist vielmehr die Kumulation mehrerer Risikofaktoren. Die Wahrscheinlichkeit disruptiven Verhaltens nimmt also mit dem Auftreten und Wirksamwerden von Risikofaktoren zu, die ihrerseits wiederum weitere Risikofaktoren begünstigen können.
Präventive Bemühungen streben somit eine Abnahme von Risikofaktoren und Zunahme von protektiven Faktoren an. Wichtig ist, dass die wissenschaftliche Untersuchung von Risikofaktoren ursächliche Faktoren erfassen sollte, die auslösend und aufrechterhaltend für Störungen des Sozialverhaltens sind, nicht dagegen solche
3.1 Biologische Perspektive
Variablen, die lediglich Begleiterscheinungen von Störungen des Sozialverhaltens darstellen.
3.1
Biologische Perspektive
In diesem Abschnitt sollen die beteiligten Personen, vor allem das Kind bzw. der Jugendliche und seine Eltern, primär auf der biologischen Ebene betrachtet werden. Denn nicht nur das Kind oder der Jugendliche weisen bestimmte biologische Merkmale auf, die sein Verhalten und seine Interaktionen beeinflussen, sondern oft sind es auch die Eltern, die ihrerseits sowohl ihre eigene – unter Umständen schwierige – psychosoziale Entwicklung in die Interaktion mit ihrem Kind einbringen als auch bestimmte biologische Risikofaktoren aufweisen. Solche biologischen Unterschiede zwischen Kindern und Jugendlichen mit disruptiven Störungen und unauffälligen Kindern und Jugendlichen beruhen nicht nur auf genetischen Unterschieden, sondern sie können auch mit dem schädigenden Einfluss biologischer Faktoren (z. B. Geburtskomplikationen, Toxine) zusammenhängen oder Auswirkungen früher gravierender Erfahrungen sein, die im (neuro-)biologischen Substrat des Denkens und Fühlens, also in Körper und insbesondere Gehirn, bleibende »Spuren« hinterlassen haben. Genetische Faktoren In Zwillings- und Adoptionsstudien wurde gefunden, dass – in Abhängigkeit von der untersuchten Stichprobe und der Art des Verhaltens – etwa 40–80% der Varianz aggressiv-dissozialen Verhaltens genetisch beeinflusst werden (Arseneault et al. 2003; Rhee u. Waldman 2002). Genetische Faktoren sind vor allem für früh beginnendes, pervasives und stabiles aggressives Verhalten bedeutsam; dagegen ist das genetische Risiko für aggressiv-dissoziales Verhalten, welches im Jugendalter auftritt, weniger hoch (Arseneault et al. 2003; Eley et al. 2003; Lyons et al. 1995). An dieser genetischen Disposition ist wahrschein-
19
3
lich eine Vielzahl von einzelnen Genen beteiligt, die in der Regel jeweils nur einen kleinen Effekt haben und untereinander wie auch mit Umweltfaktoren interagieren (7 3.3). Als relevant werden u. a. Gene des serotonergen und des dopaminergen Systems betrachtet. Die Zusammenhänge zwischen bestimmten Polymorphismen und ihren Auswirkungen auf das Verhalten des Individuums sind komplex und von vielfältigen anderen Variablen abhängig. Organische Risikofaktoren Organische Risikofaktoren, wie prä-, peri- oder postnatale medizinische Komplikationen und Zigaretten- oder Alkoholkonsum während der Schwangerschaft, können die Wahrscheinlichkeit einer Störung des Sozialverhaltens direkt erhöhen, oder indirekt über die erhöhte Wahrscheinlichkeit der Entwicklung einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, die ihrerseits ein bedeutsamer Risikofaktor für die Entwicklung einer – insbesondere im Kindesalter beginnenden – Störung des Sozialverhaltens ist. Neben den direkten pharmakologischen Effekten des Rauchens auf den Fetus sind wahrscheinlich auch mütterliche Merkmale relevant, die mit fortgesetztem Rauchen trotz Bestehens einer Schwangerschaft in Zusammenhang stehen. In ähnlicher Weise ging mäßiger mütterlicher Alkoholkonsum, der jedoch über die gesamte Schwangerschaft hinweg fortgesetzt wurde, mit ausgeprägterem aggressivem Verhalten der Kinder einher, als wenn die Mütter zumindest im letzten Drittel der Schwangerschaft keinen Alkohol mehr tranken (Brown et al. 1991). Auch die prä- oder postnatale Exposition mit Neurotoxinen, wie Blei oder organischen Lösungsmitteln, erhöht die Wahrscheinlichkeit disruptiver Symptome (Dietrich et al. 2001; Till et al. 2001). Neuroanatomische strukturelle und funktionelle Befunde Bei verschiedenen Probandengruppen mit erhöhter Aggressivität wurden strukturelle Defizite gefunden, vor allem im frontalen Kortex
20
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 3 ·Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie
sowie in Amygdala und Hypothalamus. Liegen umschriebene zerebrale Läsionen vor, so sind die entsprechenden Störungsbilder jedoch grundsätzlich eher den organischen Störungen zuzuordnen. Untersuchungen an Erwachsenen mit einer dissozialen Persönlichkeitsstörung weisen auf eine Dysfunktion des frontolimbischen Systems hin (Soderstrom et al. 2002; Veit et al. 2002), die mit einer verminderten Beeinflussbarkeit durch emotionale Reize einhergehen könnte. Neuroendokrinologische Befunde Bei Jugendlichen und Erwachsenen ging erhöhte Aggressivität mit einem höheren Testosteronspiegel einher, während sich für Kinder kein deutlicher Zusammenhang nachweisen ließ. Testosteron wird weniger mit impulsiver Aggressivität als mit aggressivem Verhalten, das auf soziale Dominanz ausgerichtet ist, in Verbindung gebracht. Bezüglich des Stresshormons Cortisol wurde gefunden, dass der Cortisolspiegel in Ruhe bzw. der Cortisolanstieg unter Stress bei Kindern mit früh beginnendem bzw. stabilem disruptiven Verhalten geringer war als bei Kontrollkindern (McBurnett et al. 2000; van Goozen et al. 2000). Neurochemische Befunde Obwohl erhöhte Aggressivität nicht spezifisch mit einem bestimmten Neurotransmittersystem gekoppelt ist, wurden am häufigsten im serotonergen System Abweichungen gefunden. Die an Kindern und Jugendlichen erhobenen Befunde sind jedoch hinsichtlich der Richtung der Abweichung von gesunden Probanden uneinheitlich, selbst bei Untersuchung von Probanden ähnlichen Lebensalters unter Verwendung der gleichen Methode. Auch wenn wahrscheinlich eine Dysfunktion des serotonergen Systems bei erhöhter impulsiver Aggressivität eine Rolle spielt, so ist dieser Zusammenhang nicht spezifisch, denn Abweichungen im serotonergen System finden sich unter anderem auch bei depressiven Störungen und Zwangsstörungen. Das
dopaminerge System wurde im Zusammenhang mit Aggressivität weitaus weniger untersucht, ist aber auch durch seinen relativ engen Zusammenhang mit der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung relevant. Da zwischen den verschiedenen Neurotransmittersystemen enge Interaktionen bestehen, darf man nicht aus Befunden über Abweichungen in einem bestimmten Neurotransmittersystem ableiten, dass hier die höchste pharmakologische Beeinflussbarkeit bestünde. Weiterhin ist im Kindes- und Jugendalter die Entwicklungsabhängigkeit der Befunde in Betracht zu ziehen. Zum einen wird eine genetische Regulation der Entwicklung von Neurotransmittersystemen angenommen, zum anderen wirken sich auch die Erfahrungen eines Individuums auf seine Neurotransmittersysteme aus. Im Tiermodell konnte gezeigt werden, dass frühkindliche Separation von der Mutter zu bleibenden Veränderungen in verschiedenen Neurotransmittersystemen führen kann (Braun et al. 2000). Psychophysiologische Befunde Bei Kindern mit Störungen des Sozialverhaltens wurde eine im Vergleich zu unauffälligen Kindern niedrigere Herzfrequenz gefunden (Raine 2002), welche auch ein Prädiktor für zukünftiges aggressives Verhalten ist (Raine et al. 1997). Auch die elektrodermale Hautreaktion unter BaselineBedingungen (van Goozen et al. 2000) und in Reaktion auf aversive Stimuli war bei Jungen mit Störungen des Sozialverhaltens vergleichsweise klein und habituierte schnell (Herpertz et al. 2001). Umgekehrt verringerte ein hohes Aktivierungsniveau des autonomen Nervensystems während der Adoleszenz die Wahrscheinlichkeit gewalttätigen Verhaltens im Erwachsenenalter (Raine et al. 1995). Möglicherweise erschwert eine geringe Reaktivität des autonomen Nervensystems das Erlernen des Zusammenhanges zwischen bestimmten Verhaltensweisen und einer darauf folgenden Strafe.
3.2 Psychosoziale Perspektive
3.2
Psychosoziale Perspektive
Hier sollen alle Beteiligten auf der psychosozialen Ebene betrachtet werden, wohl wissend, dass an psychosozialen Unterschieden auch biologische Faktoren beteiligt sein können und dass psychosoziale Faktoren wiederum auf die biologische Ebene zurückwirken können. Kind bzw. Jugendlicher selbst, Eltern und Geschwister, Gleichaltrige, Schule und das sozioökonomische Umfeld spielen eine Rolle bei der Entwicklung von Störungen des Sozialverhaltens und liefern spezifische Beiträge zu deren Vorhersage, andererseits können jedoch unterschiedliche Cluster von Risikofaktoren zu einem vergleichbaren Outcome führen (Deater-Deckard et al. 1998).
3.2.1 Kind/Jugendlicher in seiner
Familie Kindfaktoren mit Einfluss auf elterliches Erziehungsverhalten Nachfolgend wird dargestellt, welche Eigenschaften eines Kindes oder Jugendlichen – seien sie nun primär biologisch oder primär psychosozial verursacht – zu ungünstigem Erziehungsverhalten der Eltern beitragen, oder anders formuliert: was macht ein Kind zu einem »schwierigen« Kind? Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung Kinder und Jugendliche mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung sind aufgrund ihrer Symptomatik von Aufmerksamkeits- und Konzentrationsdefizit, Impulsivität, motorischer Unruhe, eventuell erhöhter Reizbarkeit und Irritierbarkeit sowie Lern- und Gedächtnisdefiziten für ihre Eltern oft deutlich anstrengender und schwieriger zu steuern, als dieses bei Kindern oder Jugendlichen ohne ADHS der Fall ist. So kann es bei den Eltern zu zunehmend häufigeren und nachdrücklicheren
21
3
Versuchen kommen, das Verhalten ihres Kindes zu kontrollieren. ! Bei komorbidem Auftreten von ADHS und disruptiver Störung erhöht sich das Risiko emotional negativer und koersiver Eltern-Kind-Interaktionen.
Denkbar ist aber auch, dass bei diesen Kindern und Jugendlichen ein höheres biologisches Risiko vorliegt. ADHS ist insbesondere für das Auftreten einer Störung des Sozialverhaltens mit frühem Beginn von hoher Relevanz: Bei fast allen Patienten mit ADHS und komorbider aggressiv-dissozialer Störung entwickelte sich die aggressivdissoziale Störung vor dem zwölften Lebensjahr (Biederman et al. 1996). Patienten mit komorbidem Auftreten von ADHS und disruptiver Störung zeigen eine vielfältigere, schwerere und stabilere disruptive Symptomatik mit ausgeprägterer körperlicher Aggressivität und sind stärker von elterlicher Psychopathologie, konflikthaften Interaktionen mit Eltern und Gleichaltrigen, Schwierigkeiten in der Schule und einer schlechteren Prognose betroffen als solche Patienten, die ausschließlich eine disruptive Störung aufweisen (Moffitt 1990; Angold et al. 1999). Von den Kernsymptomen der ADHS ist hier insbesondere die hyperaktivimpulsive Komponente von Bedeutung (Lalonde et al. 1998; Babinski et al. 1999). Impulsivität Erhöhte Impulsivität ist auch ohne das Vorliegen einer ADHS ein Risikofaktor für die Entwicklung aggressiv-dissozialer Verhaltensweisen (Vitacco u. Rogers 2001), u. a. deswegen, weil Impulsivität die Anfälligkeit von Kindern und Jugendlichen für negative Umgebungseinflüsse, z. B. in einem Stadtteil mit hoher Kriminalität, vergrößert (Lynam et al. 2000). Hierbei ist die behaviorale Impulsivität, nicht jedoch die kognitive, relevant (White et al. 1994). Das Vorliegen von erhöhter Impulsivität bei Patienten
22
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 3 ·Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie
mit Störungen des Sozialverhaltens rechtfertigt auch ohne eine komorbide Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung eine Behandlung mit Methylphenidat (s. Leitlinie »Störungen des Sozialverhaltens«, Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie et al. 2003). Irritierbarkeit Irritierbarkeit bezeichnet eine durch relativ geringe Reize auslösbare Veränderbarkeit der Stimmung hin zu Gereiztheit, Ungeduld und Ärger. Mit den Stimmungsveränderungen gehen charakteristische Kognitionen einher, dass andere Menschen absichtlich zu Frustration und Ärger der betroffenen Person beitrügen (Donovan et al. 2000, 2003) Emotionale Unbeteiligtheit Eine Untergruppe von Kindern und Jugendlichen mit Störung des Sozialverhaltens ist durch emotionale Unbeteiligtheit (»callous-unemotional traits«; Frick et al. 1994) gekennzeichnet, also eine Einschränkung von affektivem Mitschwingen, Empathie und Reue- und Schuldempfinden. Dieses Merkmal ist nicht sehr hoch mit aggressiv-dissozialem Verhalten korreliert, geht jedoch dann, wenn eine aggressiv-dissoziale Störung vorliegt, mit ausgeprägteren und vielfältigeren oppositionellen und aggressiv-dissozialen Symptomen, mehr Polizeikontakten sowie höherer Dissozialität der Eltern einher (Christian et al. 1997). Empathie, Sicheinfühlen in die Emotionen des Gegenübers, hemmt aggressives Verhalten, insbesondere dann, wenn dieser Angst hat. Die Wahrnehmung spezifischer Emotionen, vor allem von Angst und Traurigkeit, scheint bei Kindern mit emotionaler Unbeteiligtheit abgeschwächt zu sein (Blair et al. 2001). Emotional unbeteiligte Kinder mit Störung des Sozialverhaltens sind auch durch hohe Furchtlosigkeit gekennzeichnet (Frick et al. 1999), die ihrerseits wiederum einen Prädiktor für ausgeprägtes und stabiles aggressiv-dissoziales Verhalten darstellt (Shaw et al. 2003).
Erhöhtes Angstniveau Bezüglich der Frage, ob ein erhöhtes Angstniveau das Risiko aggressiv-dissozialen Verhaltens vermindert oder erhöht, liegen sehr divergierende Befunde vor. Möglicherweise muss stärker nach unterschiedlichen Aspekten ängstlichen Verhaltens, wie behaviorale Inhibition, Schüchternheit, soziale Ängstlichkeit, erhöhte Reaktivität des autonomen Nervensystems auf potenziell Angst auslösende Stimuli usw. unterschieden werden Verbale und visuell-räumliche Defizite Vorschulkinder mit einer oppositionellen Störung wiesen geringere verbale Fertigkeiten als gesunde Kinder auf, selbst unter Berücksichtigung externalisierenden Verhaltens während der Testdurchführung, welches potenziell zu einer Unterschätzung der tatsächlichen verbalen Fertigkeiten geführt haben könnte (Speltz et al. 1999). Ebenso zeigten Jugendliche mit einer Störung des Sozialverhaltens signifikant niedrigere Leistungen in Sprachtests, unabhängig vom Vorliegen einer komorbiden Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung oder erhöhter Aggressivität (Dery et al. 1999). Auch Sprachstörungen (7 5.2.1) liegen bei Kindern mit Störungen des Sozialverhaltens überzufällig häufig vor (Hinshaw et al. 1993). Umgekehrt zeigten Kinder mit einer Sprachstörung vermehrt Symptome einer Störung des Sozialverhaltens (Beitchman et al. 1996). Der Zusammenhang zwischen eingeschränkten verbalen Fertigkeiten bzw. Sprachstörungen und Störungen des Sozialverhaltens kann auf unterschiedliche Weise vermittelt werden. Beide Problembereiche können durch gemeinsame zugrunde liegende biologische oder psychosoziale Faktoren beeinflusst werden. Sprachliche Defizite schränken ein Kind in seinen Möglichkeiten ein, komplexe soziale Situationen zu verstehen und seinen Befindlichkeiten und Wünschen Ausdruck zu verleihen. Auch das Erkennen, Benennen und damit auch Regulieren von Emotionen wird durch sprachliche Defizite beeinträchtigt. Schulisches Versa-
3.2 Psychosoziale Perspektive
gen aufgrund von sprachlichen Defiziten kann die Entwicklung einer Störung des Sozialverhaltens begünstigen. Andererseits kann auch eine Störung des Sozialverhaltens durch die damit einhergehende Beeinträchtigung vieler schulischer und außerschulischer Lernsituationen zu verbalen Defiziten führen. So bestanden bei Probanden mit stabilem aggressiv-dissozialen Verhalten im Kindes- sowie Jugendalter im Alter von drei Jahren Defizite in der räumlichen Verarbeitung, jedoch keine verbalen Defizite, wogegen im Alter von elf Jahren sowohl räumliche als auch verbale Defizite gefunden wurden. Frühe Defizite in der räumlichen Verarbeitung könnten also zu persistierendem aggressiv-dissozialem Verhalten beitragen und von später hinzukommenden verbalen Defiziten überlagert werden (Raine et al. 2002). Elterliches Erziehungsverhalten Elterlichem Erziehungsverhalten kommt eine große Bedeutung bei Entstehung und Aufrechterhaltung von Symptomen einer Störung des Sozialverhaltens zu, wobei aber das Verhalten der Eltern und das Verhalten des Kindes nicht voneinander unabhängig sind, sondern sich in hohem Maß gegenseitig beeinflussen. So erlaubt beispielsweise ein hoher statistischer Zusammenhang zwischen familiärer Disharmonie und disruptivem Verhalten eines Kindes nicht ohne Weiteres den Schluss, dass die familiäre Disharmonie für das disruptive Verhalten des Kindes kausal verantwortlich sei, sondern umgekehrt kann auch das Verhalten des Kindes zu familiärer Disharmonie führen. Koersiver Erziehungsstil Nach Patterson (1982) ist der primäre Mechanismus für die Entwicklung oppositioneller Verhaltensweisen im Kindesalter ein koersiver Erziehungsstil. Für die Eltern aversive Reaktionen des Kindes auf Anforderungen (z. B. Schimpfen, Schreien, Wutanfälle) führen dazu, dass die Eltern entweder ihre Anforderung zurücknehmen oder aber versuchen, mit »Überre-
23
3
aktionen« – u. a. mit aggressivem Verhalten – durchzusetzen. Situativ wechselnd kann also das Kind sich durch oppositionelles Verhalten einer unangenehmen elterlichen Anforderung entziehen, was lerntheoretisch einer negativen Verstärkung entspricht, die zudem noch intermittierend und unvorhersehbar eintritt, wodurch die Auftretenswahrscheinlichkeit und Stabilität oppositionellen Verhaltens noch weiter erhöht wird. Wenn die Eltern ihre Aufforderung mit unangemessenen Mitteln durchsetzen, lernt das Kind am Modell der Eltern seinerseits den Einsatz aggressiver Verhaltensweisen. So kann es zu einer Eskalation negativen und aggressiven Verhaltens zwischen Eltern und Kind (»coercive cycle«) und zu einem Lerndefizit prosozialer Fertigkeiten kommen. ! Ungünstig sind also sowohl permissives Erziehungsverhalten, z. B. Inkonsistenz, willkürliche Reaktionen und unzureichende Aufsicht und Steuerung, als auch rigides, harsches und von Ärger dominiertes Erziehungsverhalten.
Diese beiden Verhaltensmuster gehen überzufällig häufig miteinander einher (DeVito u. Hopkins 2001). Diesen innerhalb der Familie erlernten Interaktionsstil zeigt das Kind dann auch in der Schule und im Umgang mit Gleichaltrigen. Nach Patterson (1982) ist es bei einem »schwierigen« Kind wahrscheinlicher, dass es zu einem koersiven Erziehungsstil der Eltern kommt. Monitoring Bei älteren Kindern und Jugendlichen wird Monitoring zunehmend wichtiger, dass Eltern also wissen, wann ihr Kind was in Begleitung welcher Personen tut, und dass das Kind bzw. der Jugendliche seine Eltern in dieser Kontrollfunktion geistig präsent hat. Zwischen geringem elterlichen Monitoring und dissozialem Verhalten Jugendlicher besteht ein wechselseitiger Zusammenhang. Einerseits erhöht geringes elterliches Monitoring von Aktivitäten und sozialem Umgang eines Jugend-
24
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 3 ·Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie
lichen die Wahrscheinlichkeit, dass er sich an dissozialen Aktivitäten beteiligt (Frick et al. 1999; Laird et al. 2003). Andererseits führt ein höheres Niveau an dissozialem Verhalten dazu, dass das Wissen der Eltern um die Aktivitäten des Jugendlichen abnimmt, weil die Eltern ihr Bemühen um Monitoring reduzieren oder mehr Schwierigkeiten haben, von dem Jugendlichen Informationen über seine dissozialen Aktivitäten zu bekommen (Laird et al. 2003). Neben geringem elterlichen Monitoring sind auch eingeschränktes Interesse und geringe positive Verstärkung für den Jugendlichen durch seine Eltern sowie eine geringe Beteiligung des Jugendlichen an familiären Aktivitäten wichtige Bedingungsfaktoren für dissoziales Verhalten Jugendlicher (Farrington et al. 2002). Ethnische Zugehörigkeit Elterliches Erziehungsverhalten und dessen Auswirkungen auf das Kind werden auch von der ethnischen Zugehörigkeit signifikant beeinflusst (Ferrari 2002). Für afroamerikanische Kinder erhöhten bestimmte Merkmale des Erziehungsverhaltens, die für europäisch-amerikanische Kinder Risikofaktoren darstellen, die Wahrscheinlichkeit externalisierenden Verhaltens nicht (Deater-Deckard et al. 1998). So setzen afroamerikanische Eltern ein höheres Ausmaß an mäßiger körperlicher Bestrafung ein, was aber nicht zu einem vergleichbaren negativen Outcome führt, möglicherweise deswegen, weil die körperliche Bestrafung von den Kindern als weniger bedrohlich erlebt wird. Die Bedeutung von Risikofaktoren ist also auch von dem soziokulturellen (z. B. ethnischen) Kontext abhängig. Die ethnische Zugehörigkeit stellt jedoch lediglich einen Aspekt kultureller Unterschiedlichkeit dar und erlaubt ohne darüber hinausgehende Informationen über die jeweilige kulturelle Identität (u. a. Erziehung, Weltanschauung, Werte und Normen) kaum generelle Schlussfolgerungen.
Weitere familiäre Faktoren Wenn weitere familiäre Faktoren mit potenziell aufrechterhaltender Wirkung für die Störung des Sozialverhaltens vorliegen, können diese Variablen zu zusätzlichen eltern- bzw. familienbezogenen Interventionen Anlass geben. Anhaltende Disharmonie in der Familie zwischen Erwachsenen kann zu einer direkten Expo-
sition des Kindes mit feindseligen Interaktionen zwischen den Familienmitgliedern führen oder sich indirekt über eine Verschlechterung des elterlichen Erziehungsverhaltens auswirken. Auch ein Mangel an Wärme in der Eltern-KindBeziehung oder Ablehnung gegenüber dem Kind werden zum Teil durch harsches Erziehungsverhalten wirksam (Nix et al. 1999). Körperliche Misshandlung und sexueller Missbrauch erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer Störung des Sozialverhaltens (Flisher et al. 1997; Kaplan et al. 1998; Trickett u. Putnam 1998). Misshandlung, aber auch Vernachlässigung im frühen Lebensalter können zu bleibenden neurobiologischen Veränderungen des Gehirns führen, aber auch später in der Entwicklung kann ein Kind durch Misshandlung habituelle Wahrnehmungen, Interpretationen und emotionale Reaktionen bezüglich sozialer Stimuli erwerben, welche die Wahrscheinlichkeit aggressiver Handlungen erhöhen (Dodge et al. 1990). Psychische Störung oder abweichendes Verhalten eines Elternteils stellt einen weiteren Risi-
kofaktor dar. Mütterliche Depression ist wenig spezifisch für die Pathogenese einer Störung des Sozialverhaltens, sondern kann auch mit vielen anderen psychischen Störungen des Kindes einhergehen. Bislang in der Literatur wenig beachtet ist das mögliche Vorliegen einer elterlichen Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Eine ADHS ist bei Erwachsenen häufig schwieriger zu diagnostizieren als bei Kindern und Jugendlichen, u.a. deswegen, weil im Erwachsenenalter die motorische Hyperaktivität im Vergleich zu Aufmerksamkeitsdefizit und Impulsivität weniger imponiert; die Störung ist im Erwachsenenalter jedoch ähnlich wie im Kindes-
25
3.2 Psychosoziale Perspektive
und Jugendalter einer medikamentösen Behandlung zugänglich. Dissozialität der Eltern kann aus mehreren Gründen relevant sein: aufgrund der höheren genetischen Belastung des Kindes, als ungünstiges Modell für aggressiv-dissoziales Verhalten und durch Beeinträchtigung des familiären Funktionsniveaus bis hin zu Vernachlässigung oder Misshandlung, was durch elterlichen Substanzabusus noch verstärkt werden kann. Eine abweichende Elternsituation bzw. Familienstruktur kann in unterschiedlichen Konstellationen einen Risikofaktor für Störungen des Sozialverhaltens darstellen. Alleinerziehende Mütter sind überdurchschnittlich häufig von einem niedrigeren Schul- und Ausbildungsabschluss und Einkommen, von geringerer sozialer Einbindung und Unterstützung und einem geringeren psychischen Wohlbefinden betroffen. Ob sich dieses auf das Verhalten des Kindes oder Jugendlichen auswirkt, ist wesentlich von der Qualität der Mutter-Kind-Beziehung abhängig, u. a. von der kognitiven Anregung, emotionalen Unterstützung und dem Interesse und Monitoring bezüglich der Aktivitäten des Kindes oder Jugendlichen. Die Abwesenheit des Vaters erhöht die Wahrscheinlichkeit disruptiven Verhaltens nur bei geringer väterlicher Dissozialität; bei dissozialen Vätern dagegen entwickeln die Kinder um so mehr disruptives Verhalten, je mehr Zeit sie mit ihren Vätern verbringen (Jaffee et al. 2003). Instabilität der häuslichen Verhältnisse durch Umzüge der Familie, Trennung der Eltern oder Hineinkommen eines neuen Partners in die Familie ist ein weiterer Risikofaktor. Dabei bringt eine erneute Eheschließung des erziehenden Elternteils potenziell mehr Schwierigkeiten mit sich als allein eine Scheidung, u. a. durch eine Verminderung von Eltern-KindKommunikation und elterlichem Monitoring (Pagani et al. 1998). Geschwister Auch Geschwister können eine Rolle bei der Entwicklung von Störungen des Sozialverhaltens spielen. Eine chronische psychische
3
oder somatische Krankheit bzw. Behinderung eines Geschwisters wie auch ein chronischer Geschwisterkonflikt können die Eltern erheblich belasten und ihr Erziehungsverhalten ungünstig beeinflussen. Aggressive Kinder verhalten sich auch im Umgang mit ihren Geschwistern aggressiv (Aguilar et al. 2001) und können jüngere Geschwister viktimisieren, als Rollenmodell für aggressiv-dissoziales Verhalten dienen oder den Anschluss von Geschwistern an dissoziale Gleichaltrige vermitteln. Enge Geschwister-Koalitionen können dazu beitragen, dass die Erziehungsbemühungen der Eltern unterlaufen werden und deviantes Verhalten – auch noch über den Einfluss einer devianten Gleichaltrigengruppe hinausgehend – gefördert wird (Bullock u. Dishion 2002). Somit müssen bei familienbezogenen Interventionen auch die Beziehungen zwischen den Geschwistern und ihr Einfluss auf die Störung des Sozialverhaltens des Indexpatienten berücksichtigt werden.
3.2.2 Kind/Jugendlicher und die
Gleichaltrigen Die folgenden sozial-kognitiven Mechanismen werden mit Bezug auf die Gruppe der Gleichaltrigen dargestellt, weil sie vor allem in diesem Zusammenhang empirisch untersucht wurden, sie sind natürlich aber auch im Kontakt des Kindes oder Jugendlichen zu Erwachsenen relevant. Aggressive Kinder und Jugendliche nehmen die Absichten anderer Menschen als aggressiver und bedrohlicher wahr, als sie tatsächlich sind (»negative attributional bias«), besonders in uneindeutigen sozialen Situationen, und reagieren dann ihrerseits mit aggressivem Verhalten, das sie als begründet und berechtigt empfinden (Crick u. Dodge 1996). Sie achten auch selektiv auf Anzeichen von Feindseligkeit bei anderen Menschen (Gouze 1987), insbesondere dann, wenn sie aufgeregt sind oder soziales Versagen erleben (Dodge u. Somberg 1987), und sie überschätzen das Ausmaß an Ärger und Aggres-
26
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 3 ·Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie
sion bei anderen und unterschätzen ihre eigene Aggression (Lochman u. Dodge 1998). ! Dieser soziale Wahrnehmungsfehler erhöht die Wahrscheinlichkeit aggressiven Verhaltens des Kindes oder Jugendlichen, was wiederum die Wahrscheinlichkeit aggressiven Verhaltens seitens des Interaktionspartners erhöht.
Hierbei ist allerdings die Frage der Kausalität nicht so eindeutig zu beantworten, denn aggressive Kinder erfahren ja tatsächlich mehr Zurückweisung und Viktimisierung durch Gleichaltrige, so dass auch hierdurch eine Zunahme von feindseligen Attributionen erklärbar wäre, welche ja dann auch nicht völlig realitätsinadäquat wären. Ebenso relevant ist jedoch, dass Kinder und Jugendliche mit Störungen des Sozialverhaltens auch eine höhere Erfolgserwartung für aggressives Verhalten haben und davon ausgehen, dass von ihnen gezeigtes aggressives Verhalten wahrscheinlich zur Durchsetzung ihrer Ziele führt. Bereits im Vorschulalter benannten Jungen mit einer oppositionellen Störung mehr aggressive Lösungen für soziale Konfliktsituationen (Coy et al. 2001). Auch für aggressives oder dissoziales Verhalten können diesbezügliche Erfolgserwartungen, einhergehend mit Kompetenzvertrauen für eigenes aggressives bzw. dissoziales Verhalten, ein bedeutsamer aufrechterhaltender Faktor sein. Es ist also wichtig, nicht nur verzerrte soziale Wahrnehmungen, sondern auch positive Kontingenzen für aggressiv-dissoziales Verhalten und diesbezügliche Erwartungen des Kindes oder Jugendlichen zu betrachten. Wenn ein Kind im häuslichen Rahmen viele negative Interaktionen erlebt hat, verfügt es im Kontakt mit Gleichaltrigen nicht über die erforderlichen prosozialen Verhaltensweisen, um positive Interaktionen zu initiieren, sondern wird zum Erreichen von Zielen eher die disruptiven Verhaltensweisen einsetzen, die es auch zu Hause zeigt. Die Wahrscheinlichkeit einer Zurückweisung durch Gleichaltrige wird durch eine komorbide hyperkinetische Störung noch
erhöht (Pope et al. 1989). Die Zurückweisung durch Gleichaltrige erhöht wiederum – unabhängig von und zusätzlich zu anderen Risikofaktoren – das Risiko, bereits vor dem zehnten Lebensjahr eine Störung des Sozialverhaltens zu entwickeln (Miller-Johnson et al. 2002), und führt bei bereits aggressiven Kindern zu einer Zunahme der Aggressivität (Dodge et al. 2003). ! Auch verbale und/oder physische Viktimisierung durch andere Kinder oder Jugendliche erhöht die Wahrscheinlichkeit aggressiven Verhaltens.
Nicht alle viktimisierten Kinder werden durch die Gruppe der Gleichaltrigen abgelehnt, und nicht alle durch Gleichaltrige abgelehnten Kinder erfahren eine Viktimisierung. Viktimisierung weist einen über die Ablehnung durch Gleichaltrige hinausgehenden Erklärungswert für aggressiv-dissoziales Verhalten auf (Schwartz et al. 1998). Eine Viktimisierung durch Gleichaltrige kann als Stressor oder Trauma relevant sein, eine Zunahme aggressiven Verhaltens zur Verteidigung gegen die Übergriffe anderer Kinder oder Jugendlicher bewirken und die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass ein Kind oder Jugendlicher Anschluss an deviante Gleichaltrige sucht, was wiederum ein starker Prädiktor für zunehmendes dissoziales Verhalten sowie für Substanzgebrauch ist. Umgekehrt kann ein hohes Ausmaß positiver Beziehungen zu Gleichaltrigen davor schützen, dass ungünstige familiäre Bedingungen zu vermehrtem Problemverhalten führen, unabhängig von der Aggressivität der Freunde (Criss et al. 2002). Auch prosoziales Verhalten eines Kindes liefert unabhängig von dem Ausmaß seines aggressiven Verhaltens zusätzliche Informationen zur Vorhersage seiner sozialen Anpassung (Crick 1996). Sofern diesbezüglich tatsächlich ein Kompetenzdefizit vorliegt, kann ein Training sozialer Fertigkeiten hilfreich sein.
3.2 Psychosoziale Perspektive
3.2.3 Kind/Jugendlicher und die Schule Es besteht ein statistischer Zusammenhang zwischen Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und Symptomen einer Störung des Sozialverhaltens, dessen Art jedoch bislang nicht geklärt ist. Aggressiv-dissoziales Verhalten während der Grundschulzeit ging mit einer schlechten Leseleistung im Jugendalter einher (Williams u. McGee 1994). Umgekehrt zeigte sich auch ein Zusammenhang zwischen schlechten Leseleistungen im frühen Kindesalter und Symptomen einer Störung des Sozialverhaltens im Jugendalter, der jedoch durch gemeinsame Variablen, wie z. B. frühe Symptome einer Störung des Sozialverhaltens, die bereits vor dem Erlernen des Lesens bestanden hatten, erklärt wurde, so dass nach statistischer Kontrolle dieser Variablen kein signifikanter Zusammenhang mehr zwischen früher Leseleistung und späterer Störung des Sozialverhaltens gefunden wurde (Fergusson u. Lynskey 1997). Im Gegensatz dazu zeigten Kinder mit geringer Leseleistung und unauffälligem Verhalten zu Schulbeginn nach 2 ½ Jahren deutlich mehr disruptives Verhalten, auch nach statistischer Kontrolle möglicher konfundierender Variablen (Bennett et al. 2003). Möglicherweise ist der Zusammenhang zwischen Lesefertigkeit und Störung des Sozialverhaltens altersund kontextabhängig, so dass Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens für die Prädiktion disruptiven Verhaltens im Grundschulalter relevant sein können, während bis zur Adoleszenz so viele andere Problembereiche hinzugekommen sind, dass die Lesefertigkeit relativ zu den anderen Faktoren nur noch eine geringe Bedeutung hat. Darüber hinaus gibt es hier Hinweise auf einen Geschlechtsunterschied: Für Jungen war disruptives Verhalten prädiktiv für spätere defizitäre Lesefertigkeiten, aber nicht umgekehrt; dagegen erwiesen sich frühe Schwierigkeiten beim Lesen bei Mädchen als ein Risikofaktor für disruptives Verhalten in der Adoleszenz (Maughan et al. 1996).
27
3
Für diesen Zusammenhang ist auch die Bedeutung einer komorbiden ADHS, die ja in erheblichem Ausmaß sowohl mit Dyslexie als auch mit den Störungen des Sozialverhaltens assoziiert ist, bislang ungeklärt. Noch weniger ist über den Zusammenhang zwischen Schwierigkeiten beim Erlernen des Rechnens bzw. Dyskalkulie und den Störungen des Sozialverhaltens bekannt. ! Schulisches Leistungsversagen, aus welchen Gründen auch immer, kann in der Pathogenese von Störungen des Sozialverhaltens eine Rolle spielen.
Insbesondere bei Kindern aus benachteiligten psychosozialen Verhältnissen kann früh auftretendes disruptives Verhalten in Kombination mit frühen schulischen Leistungsschwierigkeiten zu einem kumulativen Motivations- und Fertigkeitendefizit führen (Ackerman et al. 2003), welches durch die Zuweisung einer Sündenbockrolle durch Lehrer noch verstärkt werden kann. Wenn es zu Schulschwänzen kommt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind oder Jugendlicher sich devianten Gleichaltrigen anschließt. Umgekehrt führt es bei Schülern zu einer Verminderung dissozialen Verhaltens, wenn sie sich als sozial unterstützt erleben und im Unterricht mitarbeiten (Morrison et al. 2002); hierin kann also ein möglicher Ansatzpunkt für präventive Maßnahmen bestehen.
3.2.4 Kind/Jugendlicher und seine
Familie im psychosozialen Umfeld Niedriges elterliches Ausbildungsniveau und Einkommen, niedriger sozioökonomischer Status sowie die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit sind soziodemographische Faktoren, die mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für Störungen des Sozialverhaltens einhergehen. Welche ethnischen Gruppen die höchsten Raten
28
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 3 ·Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie
aggressiv-dissozialen Verhaltens aufweisen, ist von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedlich, u.a. weil der Einfluss von Ethnie und Rasse auf aggressiv-dissoziales Verhalten durch begleitende Faktoren wie Minderheitenstatus, Migration und Merkmale von Familie, Schule und Nachbarschaft bestimmt wird. Störungen des Sozialverhaltens treten häufiger in Stadtteilen mit sozialer Desorganisation und hoher Kriminalität auf, auch bei Mädchen, und in der Regel in städtischen häufiger als in ländlichen Gebieten (Hipwell et al. 2002). Begleiterscheinung eines niedrigen sozioökonomischen Status kann eine erhöhte familiäre Instabilität sein, z. B. durch häufigere Umzüge, aber auch dadurch, dass beim Eingehen einer neuen Beziehung schneller aus finanziellen Gründen erwogen wird, zusammenzuziehen. Solche Veränderungen der familiären Situation stellen belastende Lebensereignisse für Kinder wie Eltern dar. Bei jüngeren Kindern hängen die Auswirkungen wesentlich davon ab, ob es zu einer Störung des elterlichen Erziehungsverhaltens kommt. Dagegen werden bei Jugendlichen zwar einige Effekte ungünstiger Kontextvariablen durch die Störung des elterlichen Erziehungsverhaltens vermittelt, aber soziale Benachteiligung und familiäre Instabilität erhöhen auch unabhängig vom elterlichen Verhalten die Wahrscheinlichkeit einer dissozialen Entwicklung (Patterson et al. 1998). In Stadtteilen mit höherer sozialer Desorganisation ist elterliches Monitoring besonders wichtig (Beyers et al. 2003), und aus aggressiven Kindern, die in solchen Gebieten leben und wenig elterliches Monitoring erfahren, werden noch stärker aggressive Jugendliche (Pettit et al. 1999). Aggressives Verhalten wird auch durch Lernen am Modell verstärkt, nicht nur durch unmittelbare Beobachtung solchen Verhaltens bei Eltern, Geschwistern oder Gleichaltrigen, sondern auch durch Gewaltdarstellungen in den Medien. Je mehr Zeit 14-jährige Jugendliche täglich mit Fernsehen verbrachten, desto wahrscheinlicher zeigten sie später aggressives Ver-
halten. Weitere Risikofaktoren wie psychische Störungen des Jugendlichen, Vernachlässigung durch seine Eltern, Aufwachsen in einer benachteiligten Gegend, niedriges elterliches Ausbildungsniveau oder geringes Einkommen der Familie erhöhten sowohl tägliche Fernsehdauer als auch aggressives Verhalten signifikant. Aber auch unter statistischer Berücksichtigung dieser Risikofaktoren wurden Jugendliche, die mehr fernsahen, im Laufe ihrer Entwicklung aggressiver, und zwar unabhängig von ihrem Ausgangsniveau an aggressivem Verhalten. Dagegen zeigte sich zwischen Fernsehdauer und Eigentumsdelikten kein Zusammenhang (Johnson et al. 2002). ! Unabhängig von weiteren Risikofaktoren kann die Vielzahl der im Fernsehen dargestellten aggressiven Handlungen die Wahrscheinlichkeit aggressiven Verhaltens durch Lernen am Modell erhöhen.
3.3
Modellvorstellungen
Eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren kann durch vielfältige Wirkmechanismen die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung einer Störung des Sozialverhaltens beeinflussen. Der relative Einfluss einzelner kausaler Faktoren variiert mit dem Lebensalter bei Störungsbeginn. Bei Störungsbeginn in der Kindheit sind genetische Faktoren, die u. a. verschiedene Temperamentsaspekte und kognitive Merkmale beeinflussen, von größerer Bedeutung, während bei später beginnenden Störungen des Sozialverhaltens die Bedeutung psychosozialer Variablen größer ist (Lahey et al. 1999b). Die (biologischen) Eltern geben zum einen ihre genetische Ausstattung an ihr Kind weiter, zum anderen sind sie – mit ihrer eigenen genetischen und biologischen Ausstattung wie auch ihren vielfältigen individuellen psychosozialen Erfahrungen – für die Gestaltung der frühen Umgebung ihres Kindes von hoher Bedeu-
3.3 Modellvorstellungen
tung. Andererseits beeinflusst auch ein Kind von sehr frühem Lebensalter an seine Eltern und mit zunehmendem Lebensalter auch seine weitere psychosoziale Umgebung. Diese Zusammenhänge werden mit dem Begriff der Gen-UmweltKorrelationen beschrieben (Rutter u. Silberg 2002). Definition Passive Gen-Umwelt-Korrelationen beruhen darauf, dass Eltern ihren Kindern sowohl ihre Gene weitergeben als auch aufgrund ihrer eigenen genetisch beeinflussten Merkmale die Umweltbedingungen ihrer Kinder gestalten. Unter aktiven GenUmwelt-Korrelationen wird verstanden, dass ein Kind auf der Basis seines Genotyps aktiv seine spezifischen Umgebungsbedingungen aufsucht oder gestaltet. Evokative Gen-Umwelt-Korrelationen beziehen sich auf die Reaktionen anderer Menschen auf das Kind, die dieses durch sein – zum Teil genetisch bedingtes – Verhalten evoziert.
Bei Letzteren handelt es sich insofern um eine Unterform der aktiven Gen-Umwelt-Korrelationen, als die Reaktionen anderer Personen auf das Individuum auch als Umgebungsfaktoren aufgefasst werden können. Definition Der Begriff der Gen-Umwelt-Interaktionen bezeichnet dagegen genetisch bedingte interindividuelle Unterschiede in der Vulnerabilität für spezifische Umweltfaktoren (Rutter u. Silberg 2002).
Genetische Risikofaktoren können also die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass psychosoziale Risikofaktoren zu aggressivem Verhalten führen. Beispiel Adoptivkinder, die in ihren Adoptivfamilien unter ungünstigen Bedingungen aufwuchsen (Ehekonflikt, Trennung oder Scheidung, psychische Störung oder Substanzabusus der Adoptiveltern), zeigten kein erhöhtes aggressiv-dissoziales Verhalten, wenn sie selbst kein erhöhtes genetisches Risiko aufwiesen; lag
29
3
jedoch bei einem Adoptivkind ein genetisches Risiko vor, wirkten sich solche ungünstigen psychosozialen Bedingungen erheblich auf das Verhalten des Kindes aus (Cadoret et al. 1995).
Umgekehrt können günstige psychosoziale Bedingungen als protektive Faktoren wirken, also dazu beitragen, dass genetische Risikofaktoren in geringerem Ausmaß wirksam werden.
4 Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik 4.1
Symptomatik – 32
4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4
Leitsymptome – 32 Klassifikation – 36 Psychischer Status des Kindes/Jugendlichen – 41 Aktuelle Lebenssituation des Kindes/Jugendlichen – 42
4.2
Störungsspezifische Entwicklungsgeschichte
4.3
Komorbide Störungen – 43
4.4
Störungsrelevante Rahmenbedingungen – 48
– 42
4.5
Testpsychologische und somatische Diagnostik
4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.5.4
Fremd- und Selbstbeurteilungsskalen Altersbezogene Testdiagnostik – 51 Körperliche Untersuchung – 54 Drogenscreening – 55
4.6
Weitergehende Diagnostik – 57
4.7
Entbehrliche Diagnostik – 57
– 50
– 50
32
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
Bei Kindern oder Jugendlichen mit signifikanten und anhaltenden oppositionellen, aggressiven und/oder dissozialen Verhaltensweisen sollte eine sorgfältige diagnostische Abklärung erfolgen, die meist ambulant durchgeführt werden kann. Relevante Informationen beziehen sich darauf, ob und welche Symptome einer Störung des Sozialverhaltens vorliegen, sowie auf den psychischen Status und die aktuelle Lebenssituation des Betroffenen (7 4.1), seine Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung der störungsspezifischen Aspekte (7 4.2), eventuell vorliegende komorbide Störungen (7 4.3) sowie störungsrelevante Rahmenbedingungen (7 4.4). Grundsätzlich sollten für jeden Patienten die in 7 4.1–4.4 genannten Punkte exploriert werden, natürlich mit unterschiedlicher Gewichtung in Abhängigkeit von dem jeweiligen Patienten, anderen für eine Befragung verfügbaren Personen und der diagnostischen Situation; die Aufteilung in die Unterkapitel dient der Systematisierung und ist letztendlich künstlich.
Symptomatik
12
4.1
13
4.1.1 Leitsymptome
14 15 16 17 18 19 20
? Diagnostische Leitfrage Sind die diagnostischen Kriterien für eine Störung des Sozialverhaltens erfüllt?
Diese diagnostische Leitfrage kann in die folgenden Teilfragestellungen untergliedert werden:
Diagnostische Kriterien für eine Störung des Sozialverhaltens 5 Sind ein oder mehrere Leitsymptome einer Störung des Sozialverhaltens vorhanden? 5 Treten ein oder mehrere Leitsymptome einer Störung des Sozialverhaltens seit wenigstens 6 Monaten wiederholt auf? 5 Ist die Ausprägung oppositioneller, aggressiver oder dissozialer Verhaltensweisen deutlich kontext-, alters- oder geschlechtsabweichend?
Sind ein oder mehrere Leitsymptome einer Störung des Sozialverhaltens vorhanden? Welche Symptome einer Störung des Sozialverhaltens über welchen Zeitraum hinweg aufgetreten sind bzw. aktuell bestehen, ist zum einen für die genaue Diagnose bedeutsam, aber zum anderen natürlich auch für die Behandlungsplanung relevant. Nebenstehend werden die Symptome der Störungen des Sozialverhaltens entsprechend den ICD-10-Forschungskriterien aufgelistet, da sie dort mit größerer Detailliertheit als in den klinisch-diagnostischen Leitlinien dargestellt sind. Treten ein oder mehrere Leitsymptome einer Störung des Sozialverhaltens seit wenigstens 6 Monaten wiederholt auf? Für die tatsächlich vorliegenden Symptome einer Störung des Sozialverhaltens sollte erfragt werden: 5 Wie häufig tritt das Verhalten auf (pro Tag, Woche oder Monat)? 5 In welcher Situation tritt das Verhalten auf? 5 In Interaktion mit welcher Person tritt das Verhalten auf? 5 Unter welchen Bedingungen tritt das Verhalten nicht auf? 5 Wie ist der genaue Ablauf des Verhaltens in spezifischen Situationen?
4.1 Symptomatik
33
4
Symptome der Störungen des Sozialverhaltens nach den ICD-10-Forschungskriterien 1.
2. 3.
4. 5.
6. 7. 8. 9.
10. 11.
12.
13.
Für das Entwicklungsalter des Kindes ungewöhnlich häufige und schwere Wutausbrüche Häufiges Streiten mit Erwachsenen Häufige aktive Ablehnung und Zurückweisung von Wünschen und Vorschriften Erwachsener Häufiges, offensichtlich wohl überlegtes Ärgern anderer Häufiges Verantwortlichmachen anderer für eigene Fehler oder eigenes Fehlverhalten Häufige Empfindlichkeit oder Sich-belästigt-fühlen durch andere Häufiger Ärger oder Groll Häufige Gehässigkeit oder Rachsucht Häufiges Lügen oder Brechen von Versprechen, um materielle Vorteile oder Begünstigungen zu erhalten oder um Verpflichtungen zu vermeiden Häufiges Beginnen von körperlichen Auseinandersetzungen Gebrauch von gefährlichen Waffen (z. B. Schlagholz, Ziegelstein, zerbrochene Flasche, Messer, Gewehr) Häufiges Draußenbleiben in der Dunkelheit entgegen dem Verbot der Eltern (beginnend vor dem 13. Lebensjahr) Körperliche Grausamkeit gegenüber anderen Menschen (z. B. ein Opfer mit einem Messer oder mit Feuer verletzen)
Nach Möglichkeit sollte man sich prägnante Situationen so genau beschreiben lassen, dass man sie sich als »Film« vorstellen kann. 5 Wie sehr wirkt oppositionelles, aggressives oder dissoziales Verhalten impulsiv-reaktiv oder proaktiv? Wichtig ist vor allem, ob der Beginn einer solchen Verhaltenssequenz unüberlegt und »hitzig« oder geplant, »mit kühlem Kopf«
14. Tierquälerei 15. Absichtliche Destruktivität gegenüber dem Eigentum anderer (außer Brandstiftung) 16. Absichtliches Feuerlegen mit dem Risiko oder der Absicht, ernsthaften Schaden anzurichten 17. Stehlen von Wertgegenständen ohne Konfrontation mit dem Opfer, zu Hause oder außerhalb (z. B. Ladendiebstahl, Einbruch, Unterschriftenfälschung); 18. Häufiges Schuleschwänzen, beginnend vor dem 13. Lebensjahr 19. Weglaufen von den Eltern oder elterlichen Ersatzpersonen, mindestens zweimal oder einmal länger als eine Nacht (außer, wenn dies zur Vermeidung körperlicher oder sexueller Misshandlung geschieht) 20. Jede kriminelle Handlung, bei der ein Opfer direkt angegriffen wird (einschließlich Handtaschenraub, Erpressung, Straßenraub) 21. Zwingen einer anderen Person zu sexuellen Aktivitäten 22. Häufiges Tyrannisieren anderer (z. B. absichtliches Zufügen von Schmerzen oder Verletzungen, einschließlich andauernder Einschüchterung, Quälen oder Belästigung) 23. Einbruch in Häuser, Gebäude oder Autos
initiiert wirkt, denn mit Fortschreiten einer aggressiven Auseinandersetzung wird fast jeder Mensch irgendwann wütend. 5 Wie lange dauert ein Wutanfall? Wodurch kann er unterbrochen werden? Treten vegetative Begleiterscheinungen auf? Zerstört ein Kind nur Gegenstände von anderen und eigene ungeliebte Gegenstände oder auch
34
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
Wichtig ist es, sich möglichst konkrete Situationen berichten zu lassen, um einen Eindruck vom tatsächlichen Geschehen zu bekommen, sowie möglichst zeitnahe Situationen, da diese am besten erinnert werden.
muss (z. B. aggressiv-dissoziales Verhalten zum Selbstschutz in einem Milieu mit hoher Kriminalität). Weiterhin muss bei der Beurteilung, ob eine Störung des Sozialverhaltens vorliegt, Lebensalter und Entwicklungsniveau sowie das Geschlecht des Kindes oder Jugendlichen berücksichtigt werden. Diesbezügliche deutlich atypische Verhaltensweisen sind Anzeichen einer stärkeren Dysfunktion. Es gibt jedoch keine alters- und geschlechtsbezogenen Standardwerte, um die relative Normabweichung disruptiven Verhaltens bestimmen zu können, so dass man sich lediglich an der »normalen« alters- und geschlechtsbezogenen Entwicklung orientieren kann, die nachfolgend im Überblick dargestellt wird.
Ist die Ausprägung oppositionellen, aggressiven oder dissozialen Verhaltens deutlich kontext-, alters- oder geschlechtsabweichend? Nicht jedes oppositionelle, aggressive oder dissoziale Verhalten ist pathologisch oder erfordert gar psychiatrische Behandlung. Erforderlich ist eine sorgfältige Unterscheidung zwischen alterstypischem Verhalten, vereinzelt auftretenden oppositionellen, aggressiven oder dissozialen Verhaltensweisen und dem Auftreten solchen Verhaltens in Form eines sich wiederholenden und andauernden Musters. Nach ICD-10 wie auch DSM-IV sollte für die Entscheidung, ob die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens zu stellen ist, auch der soziale und ökonomische Kontext berücksichtigt werden, in dem das Verhalten auftritt (7 2.1). Relevant ist beispielsweise, ob das Kind oder der Jugendliche einer ethnischen, kulturellen oder gesellschaftlichen Minderheit mit eigenen Wertnormen angehört oder unzureichenden oder gefährdenden Lebensbedingungen ausgesetzt ist. Hier geht es also um die Frage, ob das disruptive Verhalten auch im Zusammenhang mit einer Funktionsstörung der Person selbst zu sehen ist oder weitgehend als eine Reaktion auf das unmittelbare soziale Umfeld verstanden werden
Altersabhängigkeit disruptiven Verhaltens Physisch aggressives Verhalten ist etwa im 2. Lebensjahr am stärksten ausgeprägt und nimmt danach bei Jungen und Mädchen bis in die Adoleszenz hinein ab. Jungen sind ab dem Kleinkindalter über die ganze Alterspanne hinweg im Durchschnitt körperlich aggressiver (Lahey et al. 1998; Loeber u. Hay 1997), während Mädchen ein höheres Ausmaß an relationaler Aggression als Jungen zeigen (Crick u. Grotpeter 1995; Crick 1997). Für dissoziales Verhalten findet sich zwischen früher Kindheit und Spätadoleszenz ein starker Anstieg (Stanger et al. 1997). Im Kleinkind- und Vorschulalter entwickeln Kinder ihre motorischen und verbalen Fähigkeiten, zeigen zunehmend mehr exploratives und zielgerichtetes Verhalten und Autonomiebestreben, während Eltern ihren Kindern zunehmend Grenzen setzen und Regeln etablieren. Dieses führt zu häufigen Episoden von Aufregung, Wutausbrüchen und Frustration beim Kind, am ausgeprägtesten im Alter von 2–3 Jahren; in diesem Alter ist also regelhaft oppositionelles wie auch körperlich aggressives Verhalten gegenüber Erwachsenen und anderen Kindern zu beobachten. Gegen Ende des Vorschulalters lernen Kinder jedoch, direkte körperliche Aggression zu inhibieren, Ärger und Wut auf andere Wei-
eigene geliebte Gegenstände? Bereut es hinterher sein Verhalten? 5 Welche kurz-, mittel- und langfristigen positiven und negativen Konsequenzen hat das Verhalten für den Betroffenen? Kann er sich durch sein Verhalten Anforderungen und Verpflichtungen entziehen, materielle Vorteile erlangen, höhere soziale Dominanz in der Familie oder in der Gruppe der Gleichaltrigen erreichen oder sichern?
4.1 Symptomatik
se Ausdruck zu verleihen sowie andere Strategien zum Erreichen ihrer Ziele zu entwickeln (Loeber u. Hay 1997). Wegen des häufigen Auftretens solcher Verhaltensweisen in diesem Alter müssen quantitative und qualitative Aspekte, wie die Intensität, Rigidität und Situationsinadäquatheit dieses Verhaltens herangezogen werden, um alterstypische Autonomiebestrebungen und Frustrationsäußerungen von Vorläufersymptomen einer Störung des Sozialverhaltens abgrenzen zu können. Für aggressives Verhalten kann die genaue Betrachtung der Art und Weise, wie ein Kind solches Verhalten einsetzt, Anhaltspunkte liefern. Beispiel Kleinkinder nehmen anderen Kindern Spielzeug häufiger durch Entwinden oder Wegreißen weg, als dass sie stoßen, schlagen oder treten. Weiterhin stehen solche direkten physisch aggressiven Handlungen selten am Anfang eines Konfliktes, sondern treten eher in dessen Verlauf auf.
Bedeutsam im Sinne eines auffäliigen Verhaltens ist also ein direkter physischer Angriff, insbesondere dann, wenn er unprovoziert zu Beginn eines Konfliktes auftritt. Wichtig für die Bestimmung einer Normabweichung ist grundsätzlich die Klärung der Frage, ob das Verhalten eine klinisch bedeutsame Belastung sowie Beeinträchtigung der sozialen Beziehungen oder anderer wichtiger Funktionsbereiche verursacht und mit der Bewältigung der alterstypischen Entwicklungsaufgaben interferiert. In diesem Lebensalter ist relevant: Kann ein Kind bei der Bewältigung von Alltagsroutinen mit Erwachsenen kooperieren? Kann es einvernehmlich zusammen mit Gleichaltrigen spielen oder wird es aufgrund der Destruktivität seines Spielverhaltens ausgeschlossen? Kann ein Kind mit anderen Kindern zusammen sein, ohne dass kontinuierliche Aufsicht erforderlich ist, um die körperliche Sicherheit der Kinder zu gewährleisten?
35
4
Auch im Kleinkind- und Vorschulalter ist stabil und situationsübergreifend auftretendes hoch-intensives oppositionelles und aufsässiges Verhalten pathologisch (Keenan u. Wakschlag 2002) und erfordert eine Behandlung, erst recht dann, wenn auch eine ADHS und/oder aggressives Verhalten bestehen. Gelegentlich kann auch bei Vorschulkindern die Diagnose einer aggressiv-dissozialen Störung gerechtfertigt sein, insbesondere dann, wenn sie erhebliches körperlich-aggressives Verhalten zeigen. Auch wenn Kinder in diesem Alter mögliche Langzeitfolgen ihres Verhaltens nur teilweise überschauen können, sind doch die meisten Vorschulkinder in der Lage, das Konzept von sozialen Regeln und Regelverletzungen zu verstehen und ihr Verhalten daran auszurichten. Trotz der genannten diagnostischen Schwierigkeiten können also deutliche Symptome einer oppositionellen oder aggressiv-dissozialen Störung auch bei jüngeren Kindern grundsätzlich zuverlässig diagnostiziert werden. An Kinder im Schulalter werden höhere Anforderungen als im Vorschulalter gestellt. Im häuslichen Rahmen wird von ihnen erwartet, mehr Verantwortung zu übernehmen sowie zeitweise ohne elterliche Aufsicht funktionieren zu können. Beim Übergang in die Schule müssen Kinder lernen, außerhalb des häuslichen Rahmens den Aufforderungen von Autoritätspersonen nachzukommen, sich an die Routine des Schulalltages anzupassen, adäquate Beziehungen zu Mitschülern aufzubauen und die Anforderungen des Lernstoffes zu bewältigen. Da die zur Bewältigung des Schulalltages erforderliche Anpassung und Kooperation bezüglich der schulischen Regeln und Abläufe vielen Kindern grundsätzlich gelingt, ist das Auftreten deutlicher oppositioneller und aggressiv-dissozialer Verhaltensweisen per se normabweichend (Keenan u. Wakschlag 2002). Im Jugendalter sind ein gewisses Maß an Non-Compliance mit den An- und Aufforderungen Erwachsener sowie an Risikoverhalten normativ, nicht jedoch ein Muster erheblicher,
36
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
situationsübergreifend auftretender und stabiler Aufsässigkeit, ebenso wenig deutliches aggressives oder dissoziales Verhalten. Beispiel Quälen von Tieren ist eines der am frühesten auftretenden Symptome einer aggressiv-dissozialen Störung (Frick et al. 1993), kommt aber auch bei Kindern ohne aggressiv-dissoziale Störung vor. Relevante Merkmale sind hier u. a. das wiederholte Auftreten solcher Verhaltensweisen (Miller 2001), ob diese an sozial hoch bewerteten Tieren (z. B. Haustieren) im Vergleich zu sozial niedriger bewerteten Tieren durchgeführt werden, der Kontext des Verhaltens (z. B. Gruppensituation mit Beeinflussung durch andere vs. allein) sowie Art und Ausmaß der durchgeführten Handlungen.
Geschlechtsunterschiede bei disruptivem Verhalten Bezüglich oppositionellen Verhaltens bestehen keine bedeutsamen Geschlechtsunterschiede. Physisch-aggressives und offen-dissoziales Verhalten tritt häufiger bei Jungen und männlichen Jugendlichen auf, während Mädchen und weibliche Jugendliche mehr verdeckt-dissoziales Verhalten und verbale Aggression zeigen sowie relationale Aggression, die darauf ausgerichtet ist, die sozialen Beziehungen des Opfers zu beschädigen. Wenn bei Mädchen überwiegend offenaggressives Verhalten und bei Jungen überwiegend relational-aggressives Verhalten auftritt, geht dieses mit einer signifikant schlechteren psychosozialen Anpassung einher als geschlechtskonformes aggressives Verhalten (Crick 1997). Weil aggressiv-dissoziales Verhalten bei Mädchen also anders aussieht als bei Jungen, wurde in der Literatur die Frage diskutiert, ob geschlechtsspezifische Diagnosekriterien erforderlich seien, um die für Mädchen typischeren Verhaltensweisen besser zu erfassen. Wahrscheinlich stellen aber die unterschiedlichen Prävalenzraten aggressiv-dissozialer Störungen nicht ein diagnostisches Artefakt dar, sondern spiegeln tatsächliche Geschlechtsunterschiede in der Häufig-
keit solchen Verhaltens wider (Doyle et al. 2003). Praktisch ist jedoch zu berücksichtigen, dass bei Mädchen möglicherweise bereits eine weniger schwer ausgeprägte Störung des Sozialverhaltens zu einem deutlich negativeren Outcome führen kann (Fergusson u. Woodward 2000).
4.1.2 Klassifikation
? Diagnostische Leitfrage Welche Störung des Sozialverhaltens liegt vor?
Zur Klärung der diagnostischen Leitfrage, welche spezifische Störung aus der Gruppe der Störungen des Sozialverhaltens vorliegt, sind die in der Übersicht «Identifizierung der Störung des Sozialverhaltens« aufgeführten Fragen zu beantworten. Nach Möglichkeit sollten Kind bzw. Jugendlicher und Eltern zusammen und getrennt befragt werden und dabei auch ihr Verhalten beobachtet werden. Ist oppositionelles, aggressives, unaufmerksames, impulsives, hyperkinetisches Verhalten zu sehen? Bestehen Anzeichen für eine emotionale Störung? Welche Interaktionen zwischen den Familienmitgliedern sind zu beobachten? Bei Jugendlichen kann es für deren Kooperation günstiger sein, sie zeitlich vor den Eltern zu befragen. Ergänzend können andere Familienmitglieder befragt werden. Wichtig ist es, auch Informationen aus dem außerfamiliären Bereich einzuholen, wobei hier die Frage der ärztlichen Schweigepflicht zu beachten ist. Informationen aus Spielgruppe, Kindergarten oder Schule sind zur Klärung der folgenden Fragen relevant: 5 Wie verhält sich das Kind bzw. der Jugendliche in diesem außerfamiliären Setting (sensorisches, motorisches und kognitives Funktionieren, soziales Verhalten, Verhalten während des Unterrichtes, schulische Leistungen)?
37
4.1 Symptomatik
4
Identifizierung der Störung des Sozialverhaltens 5 Treten signifikante aggressive oder dissoziale Handlungen auf? Liegt eine Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten (F91.3) oder eine Störung des Sozialverhaltens mit offensichtlich aggressivem oder dissozialem Verhalten (F91.0, F91.1 oder F91.2) vor? 5 Treten signifikante aggressive oder dissoziale Handlungen lediglich im Rahmen der Familie auf? Liegt eine auf den familiären Rahmen beschränkte Störung des Sozialverhaltens (F91.0) vor? 5 Bestehen gute soziale Beziehungen zu Gleichaltrigen? Liegt eine Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen (F91.1) oder eine Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen (F91.2) vor?
5 Tritt disruptives Verhalten auch in außerfamiliären Kontexten auf? 5 Sind Symptome einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung oder einer Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität auch außerhalb des häuslichen Rahmens festzustellen? Zur Sicherung einer solchen Diagnose ist die Pervasivität der Symptomatik, also ein durchgehendes Muster der Symptomatik mit Auftreten in mindestens zwei Lebensbereichen/Situationen, z. B. Schule, Familie, Untersuchungssituation, erforderlich (s. Leitlinien »Hyperkinetische Störungen«, Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie et al. 2003). Hierbei ist zu beach-
5 Bestehen komorbid zu der Störung des Sozialverhaltens Symptome einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (die – vor allem bei Jugendlichen – zeitlich vor der Störung des Sozialverhaltens aufgetreten sein können), deren Schweregrad eine eigenständige Diagnose rechtfertigen würde? Liegt eine hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (F90.1) vor? 5 Bestehen komorbid zu der Störung des Sozialverhaltens Symptome einer emotionalen oder anderen Befindlichkeitsstörung, deren Schweregrad eine eigenständige Diagnose rechtfertigen würde? Liegt eine kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (F92) vor? Da bei den letzten beiden Fragestellungen die spezifische Störung des Sozialverhaltens durch das Vorliegen einer komorbiden Störung definiert ist, wird hierauf erst in 7 4.3 (»Komorbide Störungen«) eingegangen.
ten, dass Jugendliche ihr Verhalten in strukturierten Situationen besser steuern können, so dass die Diagnose einer ADHS schwieriger als bei Kindern zu stellen ist. 5 Treten Symptome einer emotionalen Störung (übermäßige Angst, depressive Verstimmung) auf? 5 Sofern eine Psychopharmakotherapie erfolgt: Werden Medikamenteneffekte und/ oder -nebenwirkungen festgestellt? Solche Informationen können im direkten Gespräch, telefonisch, durch schriftliche Berichte in freier Form oder durch Ausfüllen geeigneter standardisierter Beurteilungsskalen gewonnen werden.
38
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
Exkurs Schweigepflicht und Schweigepflichtsentbindung Nach § 203 Abs. 1 des Strafgesetzbuches (StGB) ist es Angehörigen verschiedener Berufsgruppen (u. a. Ärzten und Psychotherapeuten) untersagt, Geheimnisse, die ihnen bei der Berufsausübung anvertraut wurden, unbefugt zu offenbaren. Eine Verletzung der Schweigepflicht kann eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe nach sich ziehen. Als schutzwürdig gelten alle gesundheitlichen, familiären und finanziellen Tatsachen, so auch, dass sich jemand in ärztlicher Behandlung befindet. Nur das unbefugte Offenbaren eines Geheimnisses ist strafbar, wenn also die Weitergabe des Geheimnisses ohne Zustimmung des Verfügungsberechtigten und ohne ein Recht zur Mitteilung erfolgt. Durch eine Entbindung von der Schweigepflicht kann jedoch ein Arzt oder Psychotherapeut zum Offenbaren eines geschützten Geheimnisses berechtigt werden.
12 13 14 15 16 17 18 19 20
die von anderen Personen (z. B. Eltern, Schule) genannten Symptome einer Störung des Sozialverhaltens nicht angegeben bzw. treten nicht auf. Im Durchschnitt berichten Eltern und Lehrer eine höhere Prävalenz von Störungen des Sozialverhaltens als die Kinder bzw. Jugendlichen selbst, die jedoch andere wichtige Informationen beitragen können (z. B. verdeckte aggressiv-dissoziale Handlungen, Substanzkonsum, Dunkelfelddelinquenz, Beziehungen zu Gleichaltrigen, psychosoziales Funktionsniveau). Die Angaben von unterschiedlichen Informanten, auch wenn diese in dem gleichen Lebensbereich mit dem Kind oder Jugendlichen Kontakt haben, können divergieren. Da viele relevante Verhaltensweisen versteckt auftreten können, berichten Dritte häufig nicht alle Symptome und schätzen das Alter bei Störungsbeginn zu hoch ein. Das Alter bei Beginn einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, die ja vor dem 6. Lebensjahr aufgetreten sein muss, kann zuverlässig nur anhand von Informationen Dritter (Eltern, Kindergarten/Vorschule) bestimmt werden.
Informationsquellen
Auch Informationen über Vorbehandlungen (psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung, Logopädie, Ergotherapie usw.), aber auch allgemeine medizinisch relevante Informationen (z. B. über Unfälle, somatische Krankheiten, sonstige medikamentöse Behandlungen) sind einzuholen. Wenn bereits Kontakt zum Jugendamt bestand, sollte nach Möglichkeit versucht werden, diesbezügliche Informationen zu bekommen. Dieses kann allerdings auf erhebliche Vorbehalte der Eltern stoßen. Sofern keine konkrete Gefährdung des Kindeswohls droht, ist es oft ratsam, nicht zu drängen, sondern zunächst abzuwarten, um die Kooperation der Eltern und damit die Behandlung des Kindes nicht zu riskieren. Bei Exploration und psychiatrischer Untersuchung des Patienten werden möglicherweise
5 5 5 5 5 5
Kind/Jugendlicher Erziehungsberechtigte evtl. andere Familienmitglieder Spielgruppe/Kindergarten/Schule evtl. »Vorbehandler« evtl. Jugendamt, Einrichtungen der Jugendhilfe, Jugendgerichtshilfe
Die Reihenfolge des Einholen von Informationen kann variieren. Beachte: Ist eine Schweigepflichtsentbindung erforderlich, liegt sie ggf. vor?
Treten signifikante aggressive oder dissoziale Handlungen auf? Liegt eine Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten (F91.3) oder eine Störung des Sozialverhaltens mit offen-
4.1 Symptomatik
sichtlich aggressivem oder dissozialem Verhalten (F91.0, F91.1 oder F91.2) vor (. Abb. 4.1)? Typische Verhaltensweisen aggressiv-dissozialer Störungen sind Tyrannisieren, exzessives
Streiten und – bei älteren Kindern oder Jugendlichen – Erpressung oder Gewalttätigkeit, ausgeprägte und unkontrollierte Wutausbrüche, Zerstören von Gegenständen, Feuerlegen, Grausamkeit gegenüber anderen Kindern und gegenüber Tieren, Stehlen. Diese Störungen treten in der Regel situationsübergreifend auf, häufig in der Schule am offensichtlichsten. Auch situationsspezifisches Auftreten ist mit der Diagnose vereinbar, sofern das Verhalten nicht ausschließlich im familiären Rahmen zu beobachten ist – dann ist die Diagnose einer auf den familiären Rahmen beschränkten Störung des Sozialverhaltens (ICD-10 F91.0) zu stellen. Wenn deutlich aggressiv-dissoziale Symptome auftreten, darf die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten nicht mehr gestellt werden, auch wenn – was relativ häufig der Fall ist – eine aggressiv-dissoziale Störung mit oppositionellen Symptomen oder auch einer voll ausgebildeten oppositionellen Störung einhergehen kann. Die Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten (F91.3) ist gekennzeichnet durch ein Muster durchgehend negativistischen, feindseligen, aufsässigen, provokativen und trotzigen Verhaltens. Dieses liegt deutlich außerhalb der Grenzen des normalen Verhaltens, verglichen mit gleichaltrigen Kindern; hierbei ist zu berücksichtigen, dass gelegentliches mutwilliges oder ungezogenes Verhalten Teil der normalen Entwicklung von Kindern ist. Kinder mit einer oppositionellen Störung missachten häufig und aktiv Anforderungen oder Regeln Erwachsener und zeigen exzessive Grobheit, Unkooperativität und Widerstand gegen Autorität. Typischerweise hat ihr Trotz eine deutlich provokative Qualität, so dass sie Konfrontationen hervorrufen. Sie ärgern gezielt und überlegt Erwachsene und Gleichaltrige, haben eine geringe Frustrationstoleranz und werden
39
4
schnell wütend, sind oft verärgert und schreiben anderen Menschen die Verantwortung für eigene Schwierigkeiten oder Fehler zu. Für die Diagnose einer oppositionellen Störung muss die Symptomatik auch außerhalb des häuslichen Rahmens vorhanden sein, auch wenn meist das Verhalten bei Interaktionen mit Erwachsenen oder Gleichaltrigen, die das Kind gut kennt, viel offensichtlicher ist; während einer klinischen Untersuchung können Hinweise auf die Störung gänzlich fehlen. Dieses Störungsbild ist charakteristischerweise bei Kindern unter 10 Jahren zu finden; bei älteren Kindern tritt oppositionelles Verhalten meist nicht isoliert auf, sondern geht mit aggressivem und/oder dissozialem Verhalten einher, so dass dann die Diagnose einer aggressiv-dissozialen Störung des Sozialverhaltens (F91.0–F91.2) zu stellen ist. Treten signifikante aggressive oder dissoziale Handlungen lediglich im Rahmen der Familie auf? Liegt eine auf den familiären Rahmen beschränkte Störung des Sozialverhaltens (F91.0) vor? (. Abb. 4.1) Die auf den familiären Rahmen beschränkte
Störung des Sozialverhaltens (F91.0) ist nach der ICD-10 durch aggressives oder dissoziales Verhalten – nicht nur oppositionelles, aufsässiges oder trotziges Verhalten – gekennzeichnet, welches völlig oder fast völlig auf den häuslichen Rahmen oder auf Interaktionen mit Mitgliedern der Kernfamilie oder der unmittelbaren Lebensgemeinschaft beschränkt ist. Diese Diagnose darf nur dann gestellt werden, wenn außerhalb des familiären Rahmens keine bedeutsamen Symptome einer Störung des Sozialverhaltens auftreten und sich die sozialen Beziehungen des Kindes oder Jugendlichen außerhalb der Familie im normalen Rahmen bewegen. Zu beachten ist, dass die allgemeinen Kriterien einer Störung des Sozialverhaltens erfüllt sein müssen; auch eine schwer gestörte Eltern-Kind-Beziehung allein rechtfertigt die Diagnose nicht.
40
Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
1
Leitsymptom(e) gesichert für Diagnose »Störung des Sozialverhaltens« (mit Schweregrad und Dauer)
2 3
Deutliche Aggressivität und/oder Dissozialität?
4 5 6
nein Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten (F91.3)
7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
ja Disruptives Verhalten auch außerhalb der Familie? nein
ja
Störung des Sozialverhaltens, auf den familiären Rahmen beschränkt (F91.0)
Freunde vorhanden? nein
Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen (F91.1)
ja
Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen (F91.2)
. Abb. 4.1. Störungen des Sozialverhaltens (F91). (Nach AWMF-Leitlinie »Störung des Sozialverhaltens«, Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie et al. 2003)
Beispiel Auftreten können: Stehlen zu Hause, oft auf Geld oder Gegenstände von ein oder zwei bestimmten Personen beschränkt; vorsätzlich destruktives Verhalten, meist beschränkt auf bestimmte Familienmitglieder, z. B. Zerstören von Spielzeug oder Schmuck, Zerreißen von Kleidungsstücken; Schnitzen an Möbeln oder Zerstören teurer Gegenstände; auf den häuslichen Rahmen begrenztes Feuerlegen; Gewaltanwendung gegen Familienmitglieder.
Relevant ist auch, welche Faktoren dazu beitragen, dass außerhalb der Familie keine deutlichen Symptome einer Störung des Sozialverhaltens auftreten.
Bestehen gute soziale Beziehungen zu Gleichaltrigen? Liegt eine Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen (F91.1) oder eine Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen (F91.2) vor? (. Abb. 4.1) Bei einer Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen (F91.2) ist das
wesentliche Unterscheidungskriterium, dass die Einbindung in die Gruppe der Gleichaltrigen gut ist und angemessene, andauernde Freundschaften bestehen, während die Beziehungen zu Erwachsenen häufig schlecht sind. Die Beziehungen zu Gleichaltrigen sind oft durch gemeinsame dissoziale Handlungen und aggressives Verhalten gegenüber anderen, nicht zur Bezugs-
41
4.1 Symptomatik
gruppe gehörenden Personen gekennzeichnet, und solche gemeinschaftlichen Handlungen stellen eine wichtige Quelle des Zusammengehörigkeitsgefühls dar (Grotpeter u. Crick 1996). Wenn das aggressiv-dissoziale Verhalten auch das Tyrannisieren von anderen Kindern oder Jugendlichen umfasst, können natürlich gestörte Beziehungen zu den Opfern oder zu einigen anderen Gleichaltrigen bestehen; dieses schließt jedoch die Diagnose nicht aus, wenn das Kind oder der Jugendliche sich zu irgendeiner Gruppe Gleichaltriger loyal verhält und anhaltende Freundschaften hat. Der Betroffene kann auch einer nichtdevianten Peer-Gruppe angehören und sein eigenes aggressiv-dissoziales Verhalten außerhalb dieses Rahmens ausüben. Emotionale Symptome bestehen kaum. Oft ist die Störung außerhalb des familiären Rahmens am deutlichsten sichtbar. Bei einer Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen (F91.1) liegt eine deutliche und umfassende Beeinträchtigung der Beziehungen des betroffenen Kindes oder Jugendlichen zu anderen Menschen vor, wobei das wesentliche Unterscheidungsmerkmal gegenüber den »sozialisierten« Störungen des Sozialverhaltens das Fehlen einer wirksamen Einbindung in eine Peer-Gruppe ist. Sofern konfliktfreie Beziehungen zu Erwachsenen bestehen, die jedoch meist keine enge, vertrauensvolle Qualität haben, schließen sie die Diagnose nicht aus. Oft sind jedoch auch die Beziehungen zu Erwachsenen durch Unstimmigkeiten, Verärgerung und Feindseligkeit gekennzeichnet. Gestörte Beziehungen zu Gleichaltrigen zeigen sich als soziale Isolation, Zurückweisung oder Unbeliebtsein bei anderen Kindern oder Jugendlichen und Fehlen länger dauernder Freundschaften mit Gleichaltrigen. Aggressive Übergriffe und dissoziale Handlungen werden charakteristischerweise allein begangen, aber manchmal kommt es trotz der sozialen Isolation zu einer Verwicklung in Gruppenvergehen, so dass für die Diagnose die Art der Übergriffe weniger wichtig ist als die Qualität der Beziehungen. Letzteres ist auch
4
prognostisch bedeutsam, denn aggressive Kinder mit beeinträchtigten sozialen Bindungen begehen im Erwachsenenalter mehr Gewaltdelikte als besser sozialisierte Kinder (Henn et al. 1980). Häufig findet sich eine gewisse begleitende emotionale Symptomatik; falls diese so ausgeprägt ist, dass die Kriterien einer emotionalen Störung erfüllt sind, ist die Diagnose einer kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (F92) zu stellen (7 2.4). Neben der Beantwortung der diagnostischen Leitfragen sind der aktuelle psychische Status des Kindes/Jugendlichen sowie Informationen zu seiner aktuellen Lebenssituation relevant.
4.1.3 Psychischer Status des Kindes/
Jugendlichen Diesbezügliche Informationen (einschließlich Eigen-/Fremdgefährdung, Substanzmissbrauch) werden vor allem über die Beobachtung und Exploration des Kindes/Jugendlichen, aber auch durch Angaben von Eltern, Lehrern u. a. gewonnen. Weitere relevante Merkmale sind: 5 Temperamentsfaktoren (u. a. »sensation seeking«, Irritierbarkeit) 5 Impulsivität (auch dann, wenn keine weiteren Symptome einer ADHS vorliegen), Umgang mit und Ausleben von Impulsen, Frustrationstoleranz 5 Emotionsregulation, Umgang mit Ärger 5 Kognitives Funktionsniveau (Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Konzentration, Gedächtnis, Intelligenz) 5 Soziale Wahrnehmungs- und Attributionsfehler 5 Fähigkeit zu Selbstreflexion und Übernahme von Verantwortung für eigene Handlungen 5 Fähigkeit zu Perspektivübernahme und Empathie 5 Bindungsfähgkeit 5 Soziale Ansprechbarkeit (Reagieren auf Lob/ Kritik)
42
1
Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
5 Kontrollüberzeugungen 5 Selbstbild.
2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
4.1.4 Aktuelle Lebenssituation des
Kindes/Jugendlichen Diesbezügliche Informationen werden über die Exploration des Kindes bzw. Jugendlichen selbst, durch Befragung Dritter sowie gegebenenfalls durch die Sichtung von Unterlagen (Zeugnisse, Akten) gewonnen. Relevant sind: 5 Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern 5 Beziehungen zu Gleichaltrigen (soziale Akzeptanz, Isolation oder Zurückweisung, Viktimisierung, Freundschaften, Partnerbeziehungen, Anschluss an eine deviante PeerGruppe, Einbindung in Gruppen mit prosozialen Aktivitäten) 5 Schulische bzw. berufliche Situation (aktueller Leistungsstand, Leistungsentwicklung, Fehlzeiten, soziales Verhalten; Übermüdung, Verlangsamung oder ungewöhnliche Affektausbrüche als Hinweis auf Substanzabusus) 5 Lebensstil (auch Risikoverhalten), vorherrschende Motive 5 Ressourcen und Defizite, bezogen auf Familie, Schule, Gleichaltrige, Freizeitverhalten 5 Aktuelle psychosoziale Belastungsfaktoren 5 Delinquenz (Gefährdung Dritter?), anhängige Gerichtsverfahren
4.2
Störungsspezifische Entwicklungsgeschichte
Diesbezügliche Informationen werden vor allem über die Befragung der Eltern, zum Teil auch des Kindes bzw. Jugendlichen selbst, sowie gegebenenfalls durch die Befragung weiterer Personen (z. B. Lehrer, Vorbehandler, Mitarbeiter der Jugendhilfe) und die Sichtung von Unterlagen (Zeugnisse, Akten) gewonnen (falls erfor-
derlich, Schweigepflichtsentbindung einholen!). Relevant sind: 5 Prä-, peri- und postnatale Anamnese: u. a. mütterlicher Alkohol- und/oder Drogenmissbrauch, Medikamenteneinnahme, Infektionskrankheiten, prä-, peri- und postnatale Komplikationen 5 Entwicklungsanamnese (u. a. Meilensteine der Entwicklung: motorische Entwicklung, Sprachentwicklung, Sauberkeitsentwicklung; motorische, sensorische und/oder kognitive Entwicklungsprobleme) 5 Medizinische Anamnese, insbesondere hirnorganische Beeinträchtigungen (u. a. Schädel-Hirn-Trauma, zerebrale Infektionen, Epilepsie, systemische Erkrankungen mit Auswirkungen auf das Gehirn), aber auch andere Krankheiten und Behinderungen 5 Bezugspersonenwechsel und Bindung in den ersten Lebensjahren 5 Vorgeschichte bezüglich des Status als Stiefkind, Adoptionen, Platzierung in Pflegefamilien oder Heimen (auch hinsichtlich Bindungsentwicklung und Beziehungsabbrüchen) 5 Entwicklung in Kindergarten und Schule (intellektuelle Leistungsfähigkeit, Sprache, Aufmerksamkeit und Konzentration, Impulsivität, motorische Unruhe, Verhalten im Umgang mit Gleichaltrigen und Erwachsenen, soziale Beziehungen, Verhalten im Unterricht, schulische Leistungsschwierigkeiten, spezifische Störungen schulischer Fertigkeiten, Beziehungsabbrüche durch Klassen-/Schulwechsel oder Schulverweis, Viktimisierung durch Mitschüler, Sündenbockposition bei Lehrern, Schulschwänzen, Schulverweigerung); evtl. bisherige Schulabschlüsse, evtl. Berufsausbildung 5 Soziale Entwicklung: Vorgeschichte bezüglich der Beziehungen zu Eltern und Geschwistern, anderen Erwachsenen im nahen Umfeld und Gleichaltrigen; Art der Beziehungsgestaltung, soziales Netzwerk, Zurückweisung durch Gleichaltrige, Vikti-
4.3 Komorbide Störungen
5 5
5 5 5 5
5
5
5
4.3
misierung (auch Viktimisierung Dritter), Freundschaften, Partnerbeziehungen, Einbindung in prosoziale Gruppen, Zugehörigkeit zu einer devianten Peer-Gruppe Sexuelle Entwicklung allgemein Vorgeschichte bezüglich körperlicher/sexueller Misshandlung (einschließlich körperlicher/sexueller Misshandlung Dritter) Andauernde psychosoziale Stressoren Verlauf psychiatrischer Vorerkrankungen und etwaige Behandlungen Suizidversuche in der eigenen Vorgeschichte, von Familienmitgliedern oder Peers? Verlauf von Alkohol- und Substanzkonsum (Beginn, Substanzwechsel, Konsummuster; Auswirkungen auf die Beziehungen zu Familienmitgliedern und Gleichaltrigen, auf schulische bzw. berufliche Leistungen und Freizeitverhalten) Verlauf von Symptomen einer Störung des Sozialverhaltens (einschließlich der Auswirkungen auf die Beziehungen zu Familienmitgliedern und Gleichaltrigen, auf schulische bzw. berufliche Leistungen und Freizeitverhalten) Bestrafte Delinquenz und Dunkelfelddelinquenz, also die von den Strafverfolgungsbehörden nicht registrierten Taten, sowie anhängige Verfahren Höchstes erreichtes Funktionsniveau
Komorbide Störungen
? Diagnostische Leitfrage Bestehen weitere komorbide psychiatrische Störungen auf der Achse I des Multiaxialen Klassifikationssystems? Definition Mit Komorbidität wird das Auftreten von mehr als einer spezifisch diagnostizierbaren Störung bei einer Person in einem definierten Zeitintervall bezeichnet, wobei eine komorbide Störung
43
4
gleichzeitig (Begleitstörung) oder sukzessiv (Folgestörung) auftreten kann. Komorbide Störungen können – müssen aber nicht – in einem kausalen Zusammenhang zueinander stehen.
Bei ungefähr der Hälfte der Kinder und Jugendlichen mit einer Störung des Sozialverhaltens liegen komorbide Störungen vor, am häufigsten Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, depressive und Angststörungen sowie Substanzmissbrauch. Von Bedeutung sind auch komorbide psychiatrische Symptome, welche die diagnostische Schwelle für die Diagnose der entsprechenden Störung nicht erreichen. Nachfolgend werden klinisch-psychiatrische Störungen der Achse I des Multiaxialen Klassifikationssystems (MAS; Remschmidt et al. 2001) dargestellt, die komorbid zu einer Störung des Sozialverhaltens auftreten können und für die Behandlungsplanung relevant sein können (7 6.2.6). Mit der Frage, ob die bei einem Patienten festgestellten disruptiven Symptome nicht ausschließlich im Rahmen einer anderen psychischen Störung zu erklären sind, beschäftigt sich ▶Abschn. 5.3. Ausschlussdiagnosen für Störungen des Sozialverhaltens kommen in diesem Kapitel nicht vor, da diese Diagnosen definitionsgemäß gerade nicht zusammen mit der Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens gestellt werden dürfen (7 2.5).
44
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
Komorbide Achse I-Störungen 5 Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen (F1) 5 Depressive Störung → Dann zu stellende Diagnose: Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung (F92.0) 5 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen; Emotionale Störungen des Kindesalters → Dann zu stellende Diagnose: Sonstige kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (F92.8) 5 Bulimia nervosa (F50.2) 5 Nichtorganische Schlafstörungen (F51) 5 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung → Dann zu stellende Diagnose: Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (F90.1) 5 Ticstörungen (F95) 5 Enuresis (F98.0) 5 Enkopresis (F98.1) 5 Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität (F98.8)
13 14 15 16 17 18 19 20
Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen (F1) Dass disruptives Verhalten ausschließlich im Rahmen von Substanzgebrauch – z. B. als Beschaffungskriminalität bei Drogenabhängigkeit oder als wiederkehrendes aggressives Verhalten unter Alkoholintoxikation – auftritt, ist selten; in der Regel besteht im Jugendalter eine Störung durch psychotrope Substanzen komorbid mit einer Störung des Sozialverhaltens. Insbesondere früh beginnender, ausgeprägter und anhaltender Substanzabusus (Nikotin, Alkohol, illegale Drogen) ist mit aggressiv-dissozialen Störungen mit Beginn in der Kindheit sowie dem Vorliegen einer komorbiden Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung assoziiert; hierbei ist multipler Substanzkonsum eher die
Regel als die Ausnahme. Weitere Risikofaktoren für Substanzabusus sind Impulsivität, »sensation seeking«, psychosoziale Belastungen, Traumatisierung in der Vorgeschichte, Zugehörigkeit zu einer delinquenten und vor allem substanzkonsumierenden Peer-Gruppe. Meist tritt die Störung des Sozialverhaltens zeitlich vor dem Beginn regelmäßigen Substanzgebrauches auf, der wiederum die dissoziale Entwicklung verstärkt, aber auch die Wahrscheinlichkeit internalisierender Störungen wird durch ausgeprägten Substanzabusus erhöht. Bei häufigem Konsum von Cannabis steigt die Wahrscheinlichkeit, dass später andere illegale Drogen konsumiert werden. In diesem Sinn ist Cannabis tatsächlich eine »Einstiegsdroge«, wobei dieser Effekt nicht (allein) als pharmakologischer Effekt zu erklären ist, sondern vor allem durch psychosoziale Risikofaktoren vermittelt wird. Bei Jugendlichen mit Substanzkonsum und -abusus ist die Wahrscheinlichkeit risikoreichen Sexualverhaltens erhöht, u. a. aufgrund ihrer häufig ohnehin schon erhöhten Impulsivität, aber auch aufgrund der intoxikationsbedingten Einschränkung von Urteils- und Kontrollfähigkeit. Explorationspunkte Substanzkonsum wird häufig von Jugendlichen nicht ohne Weiteres eingeräumt, noch weniger von sich aus genannt. Es sollte also direkt und spezifisch danach gefragt werden. Folgende Punkte sind bei der Exploration bezüglich Substanzgebrauchs relevant (s. auch Leitlinie »Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen«, Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie et al. 2003): 5 Suchtmittelanamnese: – Zigarettenrauchen – Alkohol: wann erster Konsum, erster Vollrausch, Beginn eines regelmäßigen Konsums, in welcher Menge? – Welche illegalen Substanzen? – Für jede genannte illegale Substanz: wann erster Konsum, Beginn eines regel-
4.3 Komorbide Störungen
5 5
5
5
5 5 5
5 5
5
5 5
mäßigen Konsums, Dauer und Intensität des Konsums im zeitlichen Verlauf? – i.v.-Konsum von Drogen? Körperliche Entgiftungen, Entwöhnungen, Abstinenzphasen? Ausmaß des aktuellen Substanzgebrauches Subjektiv erlebte Drogenwirkungen (Stimmungsänderungen vor, während und nach dem Konsum, als unangenehm erlebte Intoxikations- oder Entzugssymptome) Bisherige negative Konsequenzen des Substanzgebrauchs im schulischen Bereich (z. B. schlechte Leistungen, Fehlen in der Schule), familiären und weiteren psychosozialen Umfeld Intensität der Beschäftigung mit dem Substanzgebrauch, Vernachlässigung früherer Freunde und Hobbys zugunsten von Substanzbeschaffung und -konsum? Tagesablauf (Aktivitäten mit Bezug vs. ohne Bezug zum Substanzgebrauch) Zugehörigkeit zu devianter Peer-Gruppe? Kontext des Substanzgebrauches, diesbezügliche Einstellungen und tatsächlicher Substanzgebrauch in der Peer-Gruppe Riskantes Sexualverhalten (im intoxikierten und nichtintoxikierten Zustand)? Finanzierung des Substanzgebrauches: Diebstähle, Einbrüche, Dealen, Prostitution (gelegentlich auch bei männlichen Jugendlichen!), Schulden? Bisherige Strafen aufgrund von Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz (BtMG), Eigentumsdelikten oder aggressiven Handlungen im Zusammenhang mit dem Substanzkonsum? Aktuelle aufrechterhaltende Faktoren für den Substanzgebrauch Wichtigste Bezugsperson des Jugendlichen, die sein Vertrauen genießt und durch die er eventuell erreicht werden kann.
Bei der Klassifikation der psychischen und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen (F1) ist für das x an der dritten Stelle der ICD-10-
45
4
Kodierung jeweils die relevante Substanz(klasse) einzusetzen. Um Gewissheit über die konsumierten Substanzen zu bekommen, ist es ratsam, Bestätigung aus mehreren Quellen zu suchen (eigene Angaben des Patienten, klinische Symptome, Analyse von Urin- oder Blutproben, Substanzbesitz, fremdanamnestische Angaben). Auch wenn viele Betroffene mehrere Substanzen zu sich nehmen, sollte die Diagnose möglichst entsprechend der am häufigsten gebrauchten Substanz oder Substanzklasse gestellt werden oder aber entsprechend derjenigen, welche die gegenwärtige Störung hervorgerufen hat. Nur wenn die Substanzaufnahme chaotisch und wahllos verläuft, sollte die Kategorie Störungen durch multiplen Substanzgebrauch (F19) gewählt werden. Substanzspezifische Intoxikationssymptome werden in 7 Abschn. 5.3 dargestellt. Angaben zum Nachweis der einzelnen Substanzen finden sich in 7 Abschn. 4.5.4. Klinische Erscheinungsbilder Die klinischen Erscheinungsbilder werden durch die Stellen nach dem Punkt, also ab der vierten Stelle der ICD-10-Kodierung, gekennzeichnet, wobei nicht alle Kodierungen für alle Substanzen sinnvoll anzuwenden sind. Akute Intoxikation. Eine akute Intoxikation (F1x.0) ist ein vorübergehendes Zustandsbild nach Aufnahme psychotroper Substanzen mit Veränderungen oder Störungen von körperlichen Funktionen, psychischen Funktionen (Bewusstsein, Wahrnehmung, Kognition, Affekt) oder Verhalten. Mit Abnahme der Intoxikation verschwinden die Symptome ohne erneute Substanzzufuhr nach einiger Zeit vollständig. Diese Diagnose darf nur dann als Hauptdiagnose gestellt werden, wenn zum Zeitpunkt der Intoxikation keine länger dauernden Probleme mit psychotropen Substanzen bestehen; anderenfalls haben die Diagnosen schädlicher Gebrauch (F1x.1), Abhängigkeitssyndrom (F1x.2) oder psychotische Störung (F1x.5) Vorrang.
46
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
Schädlicher Gebrauch. Ein schädlicher Ge-
brauch (F1x.1) ist dann zu diagnostizieren, wenn das Konsumverhalten zu einer Gesundheitsschädigung führt. Hierbei kann es sich um eine körperliche Störung (z. B. Hepatitis durch i.v.-Konsum von Substanzen, toxische Organschäden durch Inhalation von organischen Lösungsmitteln) oder um eine psychische Störung (z. B. depressive Episode infolge massiven Alkoholkonsums) handeln. Auch wenn bei Jugendlichen durch den Substanzgebrauch deutliche negative psychosoziale Konsequenzen auftreten, wie schädliche impulsive Handlungen unter Substanzeinfluss, Schulversagen oder Beeinträchtigung der sozialen Beziehungen, ist diese Diagnose zu stellen (Leitlinie »Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen«, Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie et al. 2003; American Academy of Child and Adolescent Psychiatry 1997). Häufig werden neben dem Begriff »schädlicher Gebrauch« auch die Begriffe »Missbrauch« oder »Abusus« verwendet. Abhängigkeitssyndrom. Bei
einem Abhängigkeitssyndrom (F1x.2) besteht der starke, gelegentlich übermächtige Wunsch, Substanzen oder Medikamente zu konsumieren. Diese Diagnose sollte nur dann gestellt werden, wenn drei oder mehr der nachfolgend genannten Kriterien gleichzeitig mindestens einen Monat lang oder innerhalb von 12 Monaten wiederholt aufgetreten sind: 5 Starker Wunsch oder eine Art subjektiver Zwang, die psychotrope Substanz zu konsumieren (»Craving«) 5 Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Konsums 5 Toleranzentwicklung: um die ursprünglich durch niedrigere Dosen erreichten psychotropen Wirkungen hervorzurufen, sind zunehmend höhere Dosen erforderlich 5 Fortschreitende Vernachlässigung anderer Interessen oder Vergnügungen zuguns-
ten des Substanzkonsums, erhöhter Zeitaufwand, um die Substanz zu beschaffen, zu konsumieren oder sich von den Folgen des Konsums zu erholen 5 Anhaltender Substanzkonsum trotz Nachweis eindeutiger schädlicher körperlicher, psychischer oder sozialer Folgen 5 Körperliches Entzugssyndrom (s. F1x.3 und F1x.4) bei Reduktion oder Beendigung des Konsums, erkennbar an den substanzspezifischen Entzugssymptomen oder der Aufnahme der gleichen oder einer nahe verwandten Substanz, um Entzugssymptome zu vermindern oder zu vermeiden. Entzugssyndrom. Ein Entzugssyndrom (F1x.3)
verläuft bei Jugendlichen aufgrund des kürzeren Zeitraumes des Substanzmissbrauches meist milder als bei Erwachsenen. Häufige Symptome sind Gespanntheit, Gereiztheit, Unruhe, Schlafstörungen und vegetative Beschwerden wie Schweißausbrüche und gelegentlich Kreislaufbeschwerden; auch ein Einbruch der Stimmung im Sinne einer depressiven oder sogar suizidalen Krise ist möglich. Beginn und Verlauf der Entzugssymptome sind zeitlich limitiert und abhängig von der Substanz und Dosis, die vor dem Absetzen verwendet wurde. Jugendliche reagieren auf mögliche Entzugserscheinungen oft ängstlicher als Erwachsene, was zu einer ausgeprägten Aggravierung der Symptomatik führen kann. Ein Entzugssyndrom kann jedoch auch bei Jugendlichen durch Krampfanfälle kompliziert werden. Die Entzugssymptomatik kann in sehr abgeschwächter Form noch etwa 3–4 Monate fortbestehen, z. B. in Form von innerer Unruhe und leichten Schlafstörungen. Psychotische Störung. Der Gebrauch psychotroper Substanzen kann mit einer psychotischen Störung (F1x.5) einhergehen, deren Symptomatik einer nichtsubstanzinduzierten psychotischen Störung ähneln oder gleichen kann, jedoch gewöhnlich während oder unmittelbar nach dem Substanzgebrauch auftritt und typi-
4.3 Komorbide Störungen
scherweise innerhalb eines Monats zumindest teilweise, innerhalb von 6 Monaten vollständig zurückgeht. Diesbezüglich relevante Substanzen sind Cannabis, Amphetamin, LSD, Ecstasy, Alkohol, psychotrope Alkaloide, organische Lösungsmittel, Alkohol und Kokain; insbesondere bei multiplem Substanzkonsum ist die Gefahr einer psychotischen Störung erhöht. Kinder- und jugendpsychiatrisch relevant aus der diagnostischen Kategorie F1x.7 (Restzustand und verzögert auftretende psychotische Störung) sind die Flashbacks oder Nachhallzustände (F1x.70), die u. a. nach LSD-Konsum auftreten können, sowie die durch psychotrope Substanzen induzierte Persönlichkeits- oder Verhaltensstörung (F1x.71), z. B. nach chronischem Lösungsmittelabusus. Depressive Störung → Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung (F92.0) Nach der ICD-10 ist die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung
(F92.0) dann zu stellen, wenn neben einer Störung des Sozialverhaltens gleichzeitig auch eine depressive Störung aus dem Kapitel F3 besteht (7 2.4). Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen; Emotionale Störungen des Kindesalters → Sonstige kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (F92.8) Eine sonstige kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen wird diagnostiziert, wenn neben einer Störung des Sozialverhaltens gleichzeitig auch eine emotionale Störung des Kindesalters (F93) oder eine neurotische, Belastungs- oder somatoforme Störung (F4) vorliegt, also anhaltende, eindeutige Symptome wie Angst, Furcht, Phobien, Zwangsgedanken oder handlungen, Depersonalisations- oder Derealisationsphänomene oder Hypochondrie (7 2.4).
47
4
Bulimia nervosa (F50.2) Von den Essstörungen kann vor allem eine Bulimie komorbid mit einer Störung des Sozialverhaltens auftreten, mit erhöhter Impulsivität als einem möglichen gemeinsamen Faktor. Das Stehlen von Nahrungsmitteln im Rahmen einer Bulimie sollte jedoch nicht als Störung des Sozialverhaltens klassifiziert werden, wenn sonstige dissoziale oder aggressive Handlungen fehlen. Nicht-organische Schlafstörungen (F51) Ausgeprägte Schlafstörungen, z. B. in Form multipler Apnoe-Episoden im Schlaf, können oppositionelles und aggressives Verhalten klinisch signifikant verstärken (Chervin et al. 2003). Dementsprechend kann eine effektive Behandlung einer komorbiden Schlafstörung eine deutliche Verminderung aggressiven Verhaltens bewirken (Pakyurek et al. 2002). Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung → Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (F90.1) Sind neben den Kriterien einer Störung des Sozialverhaltens auch die Kriterien für eine einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung oder Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (F90.0) erfüllt, liegt nach der ICD-10 eine hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (F90.1) vor (7 2.4). Ticstörungen (F95) Im Rahmen von Ticstörungen treten motorische Tics (z. B. Blinzeln, Kopfrucken, Schulterzucken, bis hin zum Auftreten komplexer Bewegungsabläufe) und/oder vokale Tics (z. B. Räuspern, Bellen, Quieken, Ausstoßen von Worten bis hin zur Koprolalie, dem zwanghaften Gebrauch obszöner Worte) auf. Tics sind dadurch gekennzeichnet, dass sie plötzlich auftreten, rasch ablaufen und weitgehend unwillkürlich sind, auch wenn sie vorübergehend unterdrückt werden können. Bei einer vorübergehenden Ticstörung (F95.0) treten einzelne oder multiple motorische oder vokale Tics für einen Zeitraum von nicht mehr
48
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
als 12 Monaten auf, bei der chronischen motorischen oder vokalen Ticstörung (F95.1) länger als ein Jahr. Beim Tourette-Syndrom (F95.2) treten kombinierte vokale und multiple motorische Tics auf, die in ihrer Anzahl, Lokalisation, Häufigkeit, Intensität und Komplexität zeitlich variieren. Wenn Patienten mit Störungen des Sozialverhaltens zusätzlich eine Ticstörung aufweisen, könnte auch eine komorbide Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung vorliegen, die mit beiden Störungen überzufällig häufig assoziiert ist. Enuresis (F98.0) Unter einer Enuresis wird die normale, vollständige Blasenentleerung zur falschen Zeit am falschen Ort verstanden, während eine Harninkontinenz durch unwillkürlichen Harnabgang mit strukturell, neurogen oder funktionell bedingter Blasendysfunktion gekennzeichnet ist. Verschiedene Risikofaktoren erhöhen sowohl die Wahrscheinlichkeit einer Enuresis nocturna als auch die Wahrscheinlichkeit disruptiven Verhaltens, u. a. niedriger sozioökonomischer Status, männliches Geschlecht, größere psychosoziale Belastung der Familie, chronischer Konflikt der Eltern. Auch unter statistischer Berücksichtigung solcher Variablen zeigt sich im Jugendalter jedoch ein Zusammenhang zwischen Enuresis nocturna und ADHS, während ein Zusammenhang zwischen Enuresis nocturna und disruptivem Verhalten nicht eindeutig belegt ist (Fergusson u. Horwood 1994; Rey et al. 1995) und eventuell durch komorbides Vorliegen einer ADHS vermittelt wird. Eine Harninkontinenz bei Miktionsaufschub geht dagegen häufiger nicht nur mit einer ADHS, sondern auch mit einer oppositionellen Störung einher (Leitlinie »Enuresis und funktionelle Harninkontinenz«, Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie et al. 2003). Enkopresis (F98.1) Zwischen den Störungen des Sozialverhaltens und der Enkopresis besteht ein statistischer
Zusammenhang, der größer für die sekundäre Enkopresis – bei der das Einkoten nach Erlangen der Darmkontrolle erneut auftritt – als für die primäre Enkopresis ist. Zu bedenken ist jedoch, dass eine sekundäre Enkopresis häufiger als eine primäre Enkopresis mit ungünstigen psychosozialen Bedingungen einhergeht (Foreman u. Thambirajah 1996), die für die Entstehung und Aufrechterhaltung sowohl der Störung des Sozialverhaltens als auch der sekundären Enkopresis relevant sein können. Erfolgreiche Behandlung einer Enkopresis vermindert disruptives Verhalten; umgekehrt erschwert ein hohes Ausmaß disruptiven Verhaltens die Behandlung einer Enkopresis (Young et al. 1995). Ein relevanter pathogenetischer Faktor für eine Enkopresis kann ein komorbides Aufmerksamkeitsdefizit sein, welches sich auch auf die Propriozeption bezieht, so dass der Füllungsdruck im Rektum unzureichend wahrgenommen wird. Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität (F98.8) Wenn eine Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität komorbid zu einer Störung des Sozialverhaltens auftritt, sind beide Störungen separat zu kodieren (nicht die Kombinationsdiagnose F90.1, für die neben einer Störung des Sozialverhaltens eine ADHS mit Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität erforderlich ist!). Eine reine Aufmerksamkeitsstörung kann leicht übersehen werden, ist jedoch ebenfalls für die Behandlungsplanung relevant.
4.4
Störungsrelevante Rahmenbedingungen
Hier geht es sowohl um auslösende Bedingungen, die in der Vorgeschichte zur Entstehung der Störung des Sozialverhaltens beigetragen haben, aber möglicherweise keine aktuelle Bedeutung mehr haben, als auch um aufrechterhaltende Bedingungen, die in der aktuellen Situation zum Fortbestehen der Störung beitragen, aber nicht
49
4.4 Störungsrelevante Rahmenbedingungen
Störungsrelevante Rahmenbedingungen Elterliches Erziehungsverhalten
Intrafamiliäre Beziehungen
5 Elterliche Anforderungen: mangelnde Übereinstimmung zwischen Eigenschaften des Kindes und elterlichen Erwartungen, Überforderung oder Unterforderung des Kindes? 5 Mangelnde Struktur, Gewährenlassen, ungenügende und inkonsistente Handhabung von Regeln und Absprachen? 5 Wie werden Aufträge erteilt? 5 Art der Grenzsetzungen? 5 Willkürliche, für das Kind unvorhersehbare Reaktionen und Sanktionen? 5 Art von Belohnungen (sozial, materiell), werden versprochene Belohnungen auch realisiert? 5 Art der Strafe (mild, direkt nach dem Fehlverhalten des Kindes, mit für das Kind verständlicher Erklärung, häufiges ärgergeleitetes und/oder hartes Bestrafen?) 5 Verhältnis zwischen Belohnung und Bestrafung? Wenig Bekräftigung oder gar Bestrafung sozial erwünschten Verhaltens? 5 Koersive Interaktionen zwischen Eltern und Kind, welche Non-Compliance beim Kind verstärken? 5 Umgang mit aggressivem Verhalten des Kindes 5 Positive Beziehungsgestaltung: Erfährt das Kind Aufmerksamkeit, Interesse und Unterstützung? Durchführung gemeinsamer Aktivitäten? 5 Kontrolle und Betreuung des Kindes? Überblick der Eltern über Tagesgestaltung, Aktivitäten und Beziehungen des Kindes? 5 Dysfunktionaler elterlicher Erziehungsstil als Folge von Überforderung bzw. mangelnder Kompetenz?
5 Inadäquate oder verzerrte intrafamiliäre Kommunikation (z. B. widersprüchliche Botschaften, Nichteingehen auf Mitteilungen von anderen, fruchtlose Auseinandersetzungen, regelmäßige Verleugnung familiärer Schwierigkeiten oder Zurückweisen von Versuchen zur Problemlösung)? Strategien für den Umgang mit interpersonellen Konflikten? 5 Mangel an Wärme in der Eltern-Kind-Beziehung? 5 Feindliche Ablehnung des Kindes oder Zuweisung einer »Sündenbockposition«? 5 Körperliche und/oder sexuelle Misshandlung des Kindes oder anderer Familienmitglieder (Lernen am Modell, Viktimisierung)? 5 Anhaltende Disharmonie zwischen erwachsenen Familienmitgliedern? Negativ veränderte intrafamiliäre Beziehungen durch neue Familienmitglieder?
Psychische Störung, abweichendes Verhalten oder Behinderung in der Familie 5 Psychische Störung/abweichendes Verhalten oder Behinderung eines Elternteils? Dadurch Beeinträchtigung des Erziehungsverhaltens oder soziale Einschränkung des Kindes? 5 Elterlicher Gebrauch psychotroper Substanzen (Alkohol, Medikamente, illegale Drogen)? Einstellung der Eltern bezüglich des Gebrauchs psychotroper Substanzen durch ihr Kind? 5 Hohe Impulsivität, Risikoverhalten der Eltern? 5 Aggressives, dissoziales und delinquentes Verhalten (inkl. Verurteilungen) in der Familie? 5 Abweichendes Verhalten/Behinderung eines Geschwisters? 6
4
50
1 2 3 4 5 6 7 8
Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
Psychosoziale Bedingungen 5 Schulische und berufliche Ausbildung der Eltern, Berufstätigkeit, Einkommen? 5 Familiäre Belastungen (z. B. Arbeitslosigkeit, Schulden, Krankheit, häufige Wohnortwechsel) und familiäre Ressourcen (z. B. soziale Integration, soziale Unterstützung und Entlastung durch Dritte)? 5 Abweichende Elternsituation: alleinerziehender Elternteil, wiederholter Wechsel der Elternfiguren, Zusammensetzung und Vorgeschichte der Familie (vor allem bei Stieffamilien und »Patchwork-Familien«)? 5 Erziehung in einer Institution? 5 Zugehörigkeit zu einer sozialen Randgruppe (u. U. mit eigenen Wertnormen)?
5 Armut, unzureichende Lebensbedingungen, Lebensbedingungen mit möglicher psychosozialer Gefährdung, Migration, soziale Verpflanzung, Diskriminierung?
Belastende Lebensereignisse 5 Verlust einer liebevollen Beziehung? 5 Ereignisse, die zur Herabsetzung der Selbstachtung führen? 5 Zurückweisung und/oder Viktimisierung durch Gleichaltrige? 5 Zuweisung einer Sündenbockposition durch Lehrer oder Ausbilder? 5 Sexueller Missbrauch außerhalb der Familie?
9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
notwendigerweise für ihre Entstehung bedeutsam waren. Es soll also der kausale und – noch wichtiger – der funktionale Zusammenhang zwischen dem disruptiven Verhalten und seinem systemischen Kontext erfasst werden. Falls die sozialen Eltern nicht auch die biologischen Eltern sind, sollten nach Möglichkeit Informationen über beide Familien erhoben werden. Auch das Kind oder der Jugendliche sollte befragt werden, weil sein subjektives Erleben bedeutsam ist und weil manche Informationen möglicherweise eher von ihm selbst als von anderen Familienmitgliedern berichtet werden. In der vorstehenden Übersicht werden für jede Kategorie störungsrelevanter Rahmenbedingungen spezifische Aspekte aufgeführt. Hierbei ist zu beachten, dass die genannten Punkte nicht nur diagnostisch wichtig sind, weil sie ein besseres Verständnis der Störungsgenese ermöglichen, sondern dass die Kenntnis der im konkreten Fall relevanten Punkte insbesondere auch für die Therapieplanung von hoher Relevanz ist.
4.5
Testpsychologische und somatische Diagnostik
4.5.1 Fremd- und
Selbstbeurteilungsskalen Fremdbeurteilungsskalen dienen zur standardisierten Einschätzung des Verhaltens des Kindes oder Jugendlichen durch Eltern, Lehrer und Erzieher; bei älteren Kindern und Jugendlichen können auch Selbstbeurteilungsskalen eingesetzt werden. Die durch solche Instrumente gewonnenen Informationen können Exploration bzw. Befragung und Verhaltensbeobachtung nicht ersetzen, jedoch ergänzende Informationen liefern und zu gezielten weiterführenden Fragen genutzt werden. Breitband-Verfahren sind jedoch wenig geeignet, spezifische Muster disruptiven Verhaltens zu erfassen oder Therapieeffekte zu messen. Die Child Behavior Checklist (CBCL; Achenbach 1991) stellt ein Breitband-Verfahren zur Erfassung verschiedener Verhaltensdimensionen (u. a. disruptives und hyperkinetisches Verhalten) dar. Die Elternfragebögen über das
4.5 Testpsychologische und somatische Diagnostik
Verhalten von Kleinkindern (2–3 Jahre) und von Kindern und Jugendlichen (4–18 Jahre) werden durch einen Fragebogen für Lehrer (Teacher Report Form) über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen (4–18 Jahre) und einen Fragebogen zur Selbstbeurteilung (Youth Self Report) für ältere Kinder und Jugendliche (11–18 Jahre) ergänzt. Diese Instrumente liegen in deutschen Versionen vor (Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist 1993a,b, 1998a,b). Mit dem Diagnostik-System für Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter nach ICD10 und DSM-IV (DISYPS-KJ; Döpfner u. Lehm-
kuhl 2000) können verschiedene psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen (u. a. Störungen des Sozialverhaltens, ADHS, Angst- und depressive Störungen, autistische Störungen, Ticstörungen und Bindungsstörungen) erfasst werden. Zur klinischen Beurteilung dienen Diagnose-Checklisten, die Einschätzung durch Eltern und Erzieher/Lehrer erfolgt durch Fremdbeurteilungsbögen, und ältere Kinder und Jugendliche können sich selbst anhand von Selbstbeurteilungsbögen einschätzen. Unter anderem liegen der FBB-HKS (Fremdbeurteilungsbogen Hyperkinetische Störung), FBB-HKS/3–6 für Vorschulkinder mit hyperkinetischen Störungen und FBB-SVV sowie SBB-SVV (Fremd- und Selbstbeurteilungsbogen für Störungen des Sozialverhaltens) vor. Der Erfassungsbogen für aggressives Verhalten in konkreten Situationen (EAS; Petermann u. Petermann 2000) liegt in zwei verschiedenen Versionen, für Jungen und für Mädchen, im Alter von 9–13 Jahren vor. Hierbei handelt es sich um einen normierten Test zur Erfassung des Merkmals Aggression in verschiedenen konkret dargestellten Alltagssituationen, die sich auf Konflikte unter Kindern, Aggressionen gegen Gegenstände und Autoaggression beziehen.
51
4
4.5.2 Altersbezogene Testdiagnostik Eine orientierende Intelligenzdiagnostik sollte nicht nur bei jedem Schüler durchgeführt werden, sondern ist auch für Fragen von Frühförderung und Ausbildung jenseits der Schule relevant. Eine ausführliche testpsychologische Untersuchung von Intelligenz und schulischen Fertigkeiten (Lesen, Schreiben, Rechnen) sollte dann erfolgen, wenn Hinweise auf Schulleistungsprobleme (schlechte Noten, Wiederholung einer Klasse, Besuch einer Sonderschule) oder schulische Unterforderung vorliegen. Ein grundsätzliches Problem bei der testpsychologischen Untersuchung der spezifischen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten besteht darin, dass die Lese-, Rechtschreib- und Rechenleistungen eines Probanden auch von Art und Inhalt seines bisherigen Schulunterrichtes abhängen. Darum ist auch die qualitative Untersuchung der spezifischen individuellen Beeinträchtigungen und Fehler für die Diagnose wichtig (für weitere Erläuterungen 7 5.2). Auch bei Hinweisen auf eine Sprachentwicklungsstörung (7 5.2) kommt der klinischen Untersuchung der Sprache und der Exploration der Bezugspersonen eine hohe Bedeutung zu. Viele Sprachtests sind unzureichend normiert und können lediglich zur klinischen Einschätzung, nicht jedoch zu einer quantitativen Einordnung herangezogen werden. Entwicklungsdiagnostik Bei Vorschulkindern ist die Durchführung einer zumindest orientierenden Entwicklungsdiagnostik ratsam. Der Entwicklungstest von 6 Monaten bis 6 Jahren (ET 6–6; Petermann u. Stein 2000) erlaubt die Erfassung von kindlichem Entwicklungsstand und bedeutsamen Entwicklungsretardierungen über eine relativ breite Altersspanne. Erfasst werden Körpermotorik, Handmotorik, kognitive Entwicklung, Sprachentwicklung, Sozialentwicklung und emotionale Entwicklung.
52
Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
1
Die Münchner Funktionelle Entwicklungsdiagnostik (Hellbrügge 1994) ermöglicht eine
2
differenzierte Erfassung des kindlichen Entwicklungsstandes in verschiedenen Bereichen (1. Lebensjahr: Krabbeln, Sitzen, Laufen, Greifen, Perzeption; 2./3. Lebensjahr: Statomotorik, Handmotorik, Wahrnehmungsverarbeitung, Selbstständigkeit; für beide Altersbereiche: Sprechen, Sprachverständnis, Sozialverhalten).
3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Intelligenzdiagnostik Der Grundintelligenztest (Culture Fair Test) erfasst anhand non-verbalen Testmaterials unter Verwendung unterschiedlicher Aufgabentypen die Fähigkeit, Merkmale rasch zu identifizieren und Regeln zu erkennen. Die Speed-Komponente, bei der auch die Bearbeitungsgeschwindigkeit in das Testergebnis eingeht, benachteiligt körperlich behinderte Probanden. Der Grundintelligenztest Skala 1 (CFT 1; Cattell et al. 1997), der zwischen 5 und 9 Jahren eingesetzt werden kann, erlaubt eine gute Differenzierung im unteren Leistungsbereich, führt jedoch im oberen Leistungsbereich zu Deckeneffekten. Beim Grundintelligenztest Skala 2 (CFT 20; Weiß 1997), der für den Altersbereich zwischen 8 und 60 Jahren eingesetzt werden kann, sind die erste und zweite Testhälfte sehr ähnlich aufgebaut. Somit kann die erste Testhälfte bei Probanden, die mit solchen Aufgaben und Materialien wenig vertraut sind (z. B. aufgrund geringer schulischer Bildung oder Herkunft aus einem anderen Kulturkreis), als Lernphase eingesetzt werden, so dass in diesem Fall nur die zweite Testhälfte in die Auswertung einbezogen wird. Im oberen Leistungsbereich führt der CFT 20 ebenfalls zu Deckeneffekten. Mittlerweile liegt mit dem CFT 20-R (Weiß 2006) eine revidierte Fassung vor. Auch die »Progressive Matrizen-Tests« messen die allgemeine intellektuelle Leistungsfähigkeit mit non-verbalem Material. Gegenüber dem Grundintelligenztest ist nachteilig, dass der Test ausschließlich einen Aufgabentyp enthält, nämlich Matrizen unterschiedlichen Schweregrades. Ein Vorteil besteht darin, dass es sich um einen
reinen Power-Test handelt, bei dem also die Bearbeitungsgeschwindigkeit nicht in das Testergebnis eingeht. Dieses kann bei bestimmten Personengruppen (s. unten) für die Validität des Testergebnisses wichtig sein. Die Coloured Progressive Matrices (CPM; Raven 2002) sind für den Altersbereich von 4 bis 11 Jahren normiert. Die Standard Progressive Matrices (SPM; Heller et al. 1998) können ab 6 Jahren eingesetzt werden. Hier liegen eine nonverbale Instruktion sowie Normen für hörgeschädigte Schüler (14–16 Jahre) vor. Bei älteren Jugendlichen ist die Normierung jedoch wenig differenziert. Die Kaufman-Assessment Battery for Children (K-ABC; Melchers u. Preuß 1994) kann von 2½ bis 12 Jahren eingesetzt werden, wobei die durchzuführenden Tests vom Alter des Kindes abhängen. Die K-ABC enthält die Skala einzelheitlichen Denkens (serielle Aufgaben), die Skala ganzheitlichen Denkens (Analogieschlüsse, räumlich-gestalthaftes Denken) sowie die Fertigkeiten-Skala (z. B. Lesen, Rechnen, allgemeines Wissen). Der Test bietet mehrere Vorteile: Die Aufgaben- und Materialvielfalt trägt zur Untersuchung verschiedener Intelligenzaspekte bei. An den Probanden werden wenig verbale Anforderungen gestellt, und er wird während der Bearbeitung der ersten Items angeleitet, wodurch die Kulturfairness des Tests erhöht wird. Da der Test relativ große Bilder und Objekte verwendet und überwiegend als Power-Test durchgeführt wird, ist er für Probanden mit visuellen und motorischen Defiziten günstig. Die non-verbale Skala der K-ABC enthält sechs Untertests aus den Skalen einzelheitlichen und ganzheitlichen Denkens, ist für den Altersbereich von 4 bis 12 Jahren normiert und ohne Verwendung von Sprache durchführbar. Der Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder III (HAWIK-III; Tewes et al. 1999) ist für den Einsatz von 6 bis 16 Jahren normiert und liefert als Testergebnis einen Gesamt-Intelligenzquotienten, der aus einem Verbal-IQ und einem Handlungs-IQ besteht. Auch der Handlungsteil ist kulturabhängig, und hier gehen in erheb-
4.5 Testpsychologische und somatische Diagnostik
lichem Maß Zeitfaktoren in die Bewertung ein. Daneben können vier weitere Indizes bestimmt werden: sprachliches Verständnis (ähnlich Verbal-IQ), Wahrnehmungsorganisation (ähnlich Handlungs-IQ), Unablenkbarkeit (Subtests Rechnerisches Denken und Zahlennachsprechen) und Arbeitsgeschwindigkeit (Subtests Zahlen-Symbol-Test und Symbolsuche). Das Adaptive Intelligenz Diagnostikum 2 (AID 2; Kubinger u. Wurst 2001) ermöglicht die Erfassung verschiedener verbal-akustischer und manuell-visueller Fähigkeiten im Altersbereich von 6 bis 15 Jahren. Durch die Rasch-Skalierung, also strenge Eindimensionalität der Items innerhalb eines Subtests, ist eine adaptive Itemvorgabe möglich. Dass die Probanden also nur die Items bearbeiten, die ihrem Leistungsniveau entsprechen, fördert ihre Testmotivation und macht die Testdurchführung ökonomisch. Zu mehreren Subtests liegt eine sprachfreie Instruktion vor. Der Snijders-Oomen Non-verbaler Intelligenztest für jüngere Kinder (SON-R 2½–7; Tellegen et al. 1996) und ältere Kinder (SON-R 5½–17; Snijders et al. 1997) misst die allgemeine intellektuelle Leistungsfähigkeit mit Mehrfachwahl- und Handlungstests und ist ohne die Verwendung gesprochener oder geschriebener Sprache durchführbar. Bei den Beispiel-Items erhält der Proband Hilfen zum Verständnis der Aufgabenstellung, darüber hinaus auch bei der Testführung die Rückmeldung, ob das Item richtig beantwortet wurde oder nicht. Der Test weist eine relativ hohe Kulturfairness auf, die Item-Vorgabe erfolgt adaptiv, und überwiegend handelt es sich um einen Power-Test, so dass dieser Test insbesondere zur Untersuchung behinderter Probanden sehr gut geeignet ist. Probanden mit verzögerter Sprachentwicklung oder Sprachstörung Bei Kindern mit verzögerter Sprachentwicklung oder Sprachstörung muss zur Einschätzung der Intelligenz auf sog. non-verbale Verfahren zurückgegriffen werden.
53
4
Non-verbale Intelligenztests für Kinder im Vorschulalter: 5 Snijders-Oomen Nonverbaler Intelligenztest (SON-R 2½–7) 5 Non-verbale Skala der Kaufman Assessment Battery for Children (K-ABC) Diese enthält jedoch viele Untertests mit Anforderungen an das Kurzzeitgedächtnis, und bei sprachentwicklungsgestörten Kindern liegen häufig Störungen des auditiven Kurzzeitgedächtnisses vor. 5 Grundintelligenztest Skala 1 (CFT 1) 5 Coloured Progressive Matrices (CPM) Non-verbale Intelligenztests für Kinder im Schulalter: 5 Snijders-Oomen Nonverbaler Intelligenztest (SON-R 5½−17) 5 Hamburg-Wechsler Intelligenztest für Kinder III (HAWIK-III), Handlungsteil 5 Adaptives Intelligenzdiagnostikum 2 (AID2) 5 Non-verbale Skala der Kaufman Assessment Battery for Children (K-ABC) 5 Grundintelligenztest Skala 1 und 2 (CFT 1, CFT 20, CFT 20-R) 5 Coloured Progressive Matrices (CPM), Standard Progressive Matrices (SPM) Probanden mit Intelligenzminderung Wenn bei einem Probanden eine Intelligenzminderung vorliegt, sind testpsychologische Untersuchung und Interpretation der Testergebnisse schwieriger als bei Probanden mit durchschnittlicher Intelligenz. Bei der Auswahl der Untersuchungsinstrumente und der Interpretation der Ergebnisse müssen die Kooperationsbereitschaft des Probanden, sein soziokultureller Hintergrund, bisherige Bildungsmöglichkeiten und sensorische, motorische und kommunikative Beeinträchtigungen berücksichtigt werden. Es sollten möglichst mehrere standardisierte Intelligenztests eingesetzt werden (z. B. Kaufman Assessment Battery for Children, Sni-
54
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
jders-Oomen Non-verbaler Intelligenztest, Testbatterie für geistig behinderte Kinder). Wenn eine Intelligenztestung aufgrund geringer Kooperationsfähigkeit des Probanden oder auch aufgrund seines Alters (Kleinkind, mentales Alter <3) nicht möglich ist, können eventuell orientierend Verfahren zur Erfassung des Entwicklungsstandes eingesetzt werden. Auch Arbeitsproben (z. B. Malen, Spielen, Alltagsfertigkeiten wie Anziehen oder Essen, Kulturtechniken) liefern wichtige Informationen. Darüber hinaus muss nicht nur das Niveau der kognitiven Fähigkeiten, sondern auch das Niveau der gegenwärtigen sozialen und adaptiven Fertigkeiten beurteilt und berücksichtigt werden (Leitlinie »Intelligenzminderung und grenzwertige Intelligenz«, Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie et al. 2003). Die Vineland Social Maturity Scale, die in einer deutschen Kurzversion in der Testbatterie für geistig behinderte Kinder (Bondy et al. 1992) enthalten ist, erlaubt die Erfassung alltagspraktischer, motorischer, kommunikativer, sozialer und adaptiver Fertigkeiten und kann auch zur Interventionsplanung eingesetzt werden. Das Heidelberger Kompetenzinventar für geistig Behinderte (Holtz et al. 1984) ist ein Beobachtungsverfahren zur Erfassung individueller praktischer, kognitiver und sozialer Kompetenzen, die den Verhaltensspielraum einer Person erweitern und damit ihre Abhängigkeit von besonderen Versorgungsmaßnahmen vermindern. Zielgruppe sind 7–16jährige Schüler von Schulen für geistig Behinderte. Validität einer testpsychologischen Untersuchung der Intelligenz Mögliche Einschränkungen der Validität einer Intelligenztestung, in der Regel in Form einer Unterschätzung der »wahren« Intelligenz, ergeben sich durch ausgeprägte Testangst des Probanden, klinisch-psychiatrische Symptomatik (z. B. Psychose, Depression, Zwangsstörung, ADHS), sedierende Medikation, Herkunft aus einem anderen Kulturkreis, geringe schulische
Ausbildung sowie alltägliche Schwankungen der kognitiven Leistungsfähigkeit (»Tagesform«). Bei Vorliegen einer deutlichen psychiatrischen Symptomatik kann es sinnvoll sein, vor Durchführung einer testpsychologischen Untersuchung zuerst eine (wenigstens partielle) Remission der Störung abzuwarten bzw. die Untersuchung unter adäquater medikamentöser Behandlung (z. B. Methylphenidat bei ADHS) durchzuführen. Dagegen kann eine Testwiederholung zu einer Überschätzung des Intelligenzniveaus führen. Die Validität von Speed-Tests kann besonders bei Probanden mit Sehstörungen, motorischer Behinderung oder feinmotorischen Defiziten sowie im Rahmen einer kinder-/jugendpsychiatrischen Erkrankung (z. B. Nichteinhalten von Zeitlimits bei Asperger-Syndrom, kognitive Verlangsamung bei Depression, wiederholtes Kontrollieren im Rahmen einer Zwangsstörung, deutliches Aufmerksamkeits- bzw. Konzentrationsdefizit) eingeschränkt sein. Bei der Durchführung von testpsychologischen Untersuchungen sind also vielfältige Einschränkungen der Validität möglich, und die kritische Reflexion des Testanwenders hinsichtlich der in einer spezifischen testpsychologischen Untersuchung möglichen Validitätseinschränkungen ist unverzichtbar.
4.5.3 Körperliche Untersuchung Eine orientierende internistisch-neurologische Untersuchung sollte unter besonderer Berücksichtigung der folgenden Punkte durchgeführt werden: 5 Bestehen Anzeichen für eine akute Intoxikation? (7 5.3) – Quantitative oder qualitative Bewusstseinsstörung – Eingeschränkte motorische Koordination: Gangunsicherheit, undeutliche Artikulation, auffälliger Finger-Nase-Versuch
55
4.5 Testpsychologische und somatische Diagnostik
– Alkoholgeruch (Beachte: Alkoholgeruch in der Atemluft schließt eine Intoxikation mit anderen Substanzen nicht aus, denn nicht selten werden mehrere Substanzen gleichzeitig konsumiert!) – Geruch von Farbe oder Lösungsmitteln in Atemluft oder Kleidung bei Inhalanzienabusus – Augenrötung bei Cannabis- oder Alkoholintoxikation – Pupillen: eng (Miosis) bei Intoxikation mit Opiaten, z. B. Heroin, Kodein; weit (Mydriasis) bei Amphetaminen, Ecstasy, LSD, Pflanzenalkaloiden, Kokain – Herzfrequenz: hoch (Tachykardie) bei Intoxikation mit Cannabis, Amphetaminen, Ecstasy, LSD, Pflanzenalkaloiden, Kokain; niedrig (Bradykardie) bei Opiaten 5 Bestehen Anzeichen für einen chronischen Substanzgebrauch? – Einstichstellen (auch Beine und Füße), Spritzenabszesse, Thrombophlebitis (bei i.v.-Konsum z. B. von Heroin) – Gewichtsverlust, Hautkolorit, Haarausfall (Dystrophiezeichen) – Ulzerationen im Bereich der Nase (intranasaler Konsum von Kokain) 5 Bestehen Anzeichen für eine Infektion des zentralen Nervensystems? (7 5.3) – Fieber, Kopfschmerzen, Bewusstseinsstörung – Akute Auffälligkeiten in Verhalten oder Sprechen, delirantes Bild – Fokale oder generalisierte neurologische Symptome, z. B. Hemiparese oder epileptische Anfälle 5 Bestehen Anzeichen für ein Schädel-HirnTrauma? (7 5.3) – Anamnestische Hinweise auf ein Schädel-Hirn-Trauma – Bewusstseinsstörung – Retrograde Amnesie, evtl. zusätzlich anterograde Amnesie
4
– Vegetative Symptome (Blässe, Übelkeit, Erbrechen, Schwindel, Kopfschmerzen) – Neurologische Herdzeichen (bei substanziellen Hirnverletzungen) 5 Bestehen Anzeichen für körperliche oder sexuelle Misshandlung? ! Akute hirnorganische Störungen (Intoxikation, zerebrale Infektion, Schädel-Hirn-Trauma, Delir jeder Genese) – ebenso wie der begründete Verdacht auf eine solche Störung – stellen medizinische Notfälle dar! Unverzüglich erfahrene Kollegen hinzuziehen! (evtl. Neurologe, Pädiater, Internisten! Welche weitere Diagnostik und Therapie? Ist der Patient intensivpflichtig?)
4.5.4 Drogenscreening Bei Verdacht auf eine akute Intoxikation oder auf rezidivierenden Substanzkonsum sollte ein Drogenscreening durchgeführt werden. Die Konsequenzen eines positiven Testergebnisses sollten vor der Probengewinnung besprochen werden. Für ein Drogenscreening ist die Gewinnung einer Urinprobe – möglichst Morgenurin, da am höchsten konzentriert – in der Regel einer Blutprobe vorzuziehen. Denn im Urin sind Substanzen länger nachweisbar (über Tage), im Blut dagegen nur einige Stunden lang; die Substanzkonzentration vor allem von basischen Stoffen ist höher, und Urin enthält weniger Bestandteile, die mit der Bestimmung der Substanz interferieren könnten. Nachteilig ist dagegen, dass die Substanzkonzentration höchstens semiquantitativ bestimmt werden kann. Ein positives Ergebnis weist auf einen Konsum der entsprechenden Substanz hin, erlaubt jedoch keine Aussage über einen schädlichen Gebrauch oder gar eine Abhängigkeit. Ein negatives Ergebnis schließt weder Konsum, schädlichen Gebrauch noch Substanzabhängigkeit aus. Designerdrogen sowie pflanzliche Substanzen lassen sich unter Umständen mit den ver-
56
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
fügbaren Methoden gar nicht nachweisen. Der Zeitraum der Nachweisbarkeit ist von Substanz zu Substanz sehr unterschiedlich, hängt u. a. von der konsumierten Menge, aber auch vom Labor und den verwendeten Methoden ab (Parnefjord 2000). ! Beachte: Verfälschung der Probe durch den Probanden möglich (Austauschen, Verdünnen, auch durch vermehrtes Trinken und/oder Einnahme eines Diuretikums) Immunassays ermöglichen ein leicht hantierbares, schnelles und kostengünstiges Screening auf eine Anzahl von Substanzen bzw. Substanzklassen. Das Prinzip des Immunassays besteht darin, dass die Substanzen in der Probe um Bindungsstellen an den substanzspezifischen Antikörpern konkurrieren. Fehlerquellen sind – neben einem Vertauschen der Urinprobe – Kreuzreaktionen der Antikörper mit chemisch ähnlichen Substanzen, die je nach Hersteller des Immunassays unterschiedlich sein können. Die zur Überprüfung eines positiven Immunassays eingesetzte Gaschromatographie-Massenspektrometrie (GC-MS) erlaubt den Nachweis sehr geringer Substanzmengen mit hoher Spezifität. Durch die Gaschromatographie wird die Probe in gasförmigem Zustand zunächst anhand ihrer physikalischen Eigenschaften aufgetrennt und analysiert, danach wird durch die Massenspektrometrie jede einzelne Komponente durch Ionisierung in ein spezifisches Muster geladener Fragmente zerlegt.
Nachweisbarkeit von psychotropen Substanzen 5 Heroin: mit Immunassay bis zu etwa 2 Tagen nachweisbar; gelegentlich falsch-positiv nach Essen von Mohngebäck! 5 Cannabis: mit Immunassay in der Regel zuverlässig nachweisbar; infolge Speicherung der Metaboliten im Fettgewebe nach einmaligem Konsum mehrere Tage positiv, bei hohem Konsum mehrere Wochen, evtl. am Ende positive und negative Befunde wechselnd 5 Sedativa/Hypnotika: Immunassay, Nachweisbarkeit im Urin sehr variabel, eine Woche und länger für lang wirksame Benzodiazepine (z. B. Diazepam) 5 Amphetamine: mit Immunassay bis zu etwa 3 Tagen nachweisbar; bei zu langer Probenlagerung falsch-positiv durch Fäulnisamine, falsch-negativ durch Resorption von Amphetaminen durch Probengefäße; beachte: auch Methylphenidat kann zu einem falschpositiven Befund führen! 5 Ecstasy: Sensitivität und Spezifität der Immunassays geringer als für Amphetamine; durch GC-MS 3–4 Tage nachweisbar 5 Kokain: Immunassay für Metaboliten, in der Regel zuverlässig, Nachweis ca. 2– 4 Tage möglich 5 LSD: mit Immunassay Nachweis 1– 4 Tage, aber aufgrund der geringen Konzentration (im µg-Bereich) Störbarkeit durch Kreuzreaktivität, z. B. mit Medikamenten 5 Atropin (Pflanzenalkaloid): Immunassay, GC-MS; aber nur geringe Korrelation zwischen Atropinspiegel und klinischem Bild
57
4.7 Entbehrliche Diagnostik
4.6
Weitergehende Diagnostik
Unter bestimmten Fragestellungen kann eine weiterführende Diagnostik sinnvoll sein, wobei die diesbezügliche Indikation in Abhängigkeit von der konkreten Symptomatik und Problemkonstellation zu stellen ist: 5 Bei Verdacht/Hinweis auf Drogenkonsum: Drogenscreening (7 4.5.4) 5 Bei begründetem Verdacht auf i.v.-Drogenkonsum und/oder riskantes Sexualverhalten: evtl. Hepatitis-Serologie, HIV-Serologie (nach Rücksprache mit dem Jugendlichen und seinen Eltern) 5 Bei Verdacht/Hinweis auf eine akute Alkoholintoxikation: Bestimmung der Atemoder Blutalkoholkonzentration (Letztere liefert genauere Werte!) 5 Bei längerfristigem Alkoholkonsum: evtl. Erhöhung von γ-Glutamyltransferase (gGT), carbohydratdefizientes Transferrin (CDT), mittlerem korpuskulärem Volumen (MCV); diese Parameter können jedoch auch bei erheblichem längerfristigem Alkoholabusus unauffällig sein, vor allem im Jugendalter 5 Bei Verdacht/Hinweis auf eine chronische hirnorganische Störung: EEG, evtl. weitere Diagnostik mit bildgebenden Verfahren (vor allem MRI; ggf. PET, SPECT) 5 Bei Hinweis auf eine akute oder chronische zerebrale Infektion: Neurologen hinzuziehen! Eine akute Enzephalitis ist ein medizinischer Notfall! Blutkultur bei Verdacht auf bakterielle Infektion, C-reaktives Protein (CRP) kann früh im Verlauf einer Infektion niedrig oder normal sein! Eventuell mikrobiologische und serologische Diagnostik in Serum und Liquor, PCR (»polymerase chain reaction«) zum Nachweis von Erreger-DNA oder -RNA, EEG, bildgebende Verfahren 5 Bei ausgeprägter Sprachverständnisstörung oder Hinweis auf Sprachverlust: Durchführung eines Schlaf-EEG, um eine erworbene Aphasie mit Epilepsie (Landau-KleffnerSyndrom, F80.3) auszuschließen
4
5 Bei Hinweisen auf eine umschriebene Entwicklungsstörung der Sprache oder der schulischen Fertigkeiten: augenärztliche bzw. pädaudiologische Untersuchung 5 Neuropsychologische Untersuchung für Informationen über individuelle Stärken und Schwächen der Informationsverarbeitung.
4.7
Entbehrliche Diagnostik
Nach dem derzeitigen Kenntnisstand können die folgendenden diagnostischen Maßnahmen als entbehrlich betrachtet werden: 5 Apparative Diagnostik bezüglich hirnorganischer Störungen, wenn keine diesbezüglichen Hinweise vorliegen (7 5.3) 5 Projektive Testdiagnostik ohne spezifische Hypothesen 5 Haaranalyse bei Drogenkonsum, außer für forensische Fragestellungen.
5 Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung 5.1
Weitere diagnostische Leitfragen
5.2
Identifizierung weiterer Störungen und Belastungen
5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4
Achse II des MAS: Umschriebene Entwicklungsstörungen – 61 Achse III des MAS: Intelligenzniveau – 66 Achse IV des MAS: Körperliche Symptomatik – 67 Achse V des MAS: Assoziierte aktuelle abnorme psychosoziale Umstände – 68 Achse VI des MAS: Globale Beurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus – 68
5.2.5
– 60 – 60
5.3
Differenzialdiagnose und Hierarchie des diagnostischen Vorgehens – 68
5.3.1 5.3.2
Hierarchie des diagnostischen Vorgehens Differenzialdiagnose – 71
– 68
1 2
60
Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung
5.1
Weitere diagnostische Leitfragen
6
Die ersten drei diagnostischen Leitfragen sind in Kap. 4 (7 4.1.1, 4.1.2 und 4.3) behandelt worden. Wenn sie beantwortet wurden, ist geklärt, ob eine Störung des Sozialverhaltens und eventuell weitere klinisch-psychiatrische Störungsbilder (Achse I des MAS) vorliegen. Weitere entscheidende diagnostische Schritte sind Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung, zu deren Klärung zwei weitere diagnostische Leitfragen dienen.
7
5 Diagnostische Leitfrage: Bestehen weitere
3 4 5
8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Störungen und Belastungen entsprechend den Achsen II–V des Multiaxialen Klassifikationssystems? Das Multiaxiale Klassifikationssystem (MAS; Remschmidt et al. 2001) beschreibt – neben der klinisch-psychiatrischen Symptomatik des Patienten auf Achse I – auf Achse II spezifische Entwicklungsstörungen (falls vorliegend), auf Achse III das Intelligenzniveau, auf Achse IV somatische Bedingungen/Erkrankungen (falls vorliegend), unter Verwendung der diagnostischen Kriterien der ICD-10, sowie auf Achse V derzeit relevante abnorme psychosoziale Umstände, darüber hinaus auf Achse VI das aktuell bestehende allgemeine Niveau der psychosozialen Anpassung. Für Patienten mit Störungen des Sozialverhaltens potenziell relevante weitere Störungen und Belastungen entsprechend den Achsen II–V des Multiaxialen Klassifikationssystems werden in 7 5.2 erläutert. 5 Diagnostische Leitfrage: Bestehen die disrup-
tiven Symptome nicht nur im Rahmen einer anderen psychiatrischen Störung? Bis jetzt ging es um die Fragen, ob die vorliegenden disruptiven Symptome hinsichtlich Schweregrad und Dauer ihres Bestehens die diagnostischen Kriterien einer Störung
des Sozialverhaltens erfüllen, um welche Störung des Sozialverhaltens es sich handelt und welche komorbiden Störungen und Belastungen darüber hinaus bestehen. Mit dieser diagnostischen Leitfrage tritt man gleichsam einen Schritt zurück und betrachtet die vorliegenden diagnostischen Informationen unter der Frage, ob die gegebenen Symptome, die man bislang unter der Überschrift »Störung des Sozialverhaltens« eingeordnet hatte, nicht sinnvoller und zutreffender im Rahmen einer anderen psychiatrischen Störung zu erklären sind; hier geht es also um die Frage der Differenzialdiagnostik, die in 7 5.3 ausführlich behandelt wird. Die diagnostischen Leitfragen wurden in erster Linie aus didaktischen Gründen in der vorliegenden Reihenfolge dargestellt. Ein erfahrener Diagnostiker geht viel weniger schematisch und sequenziell vor, sondern orientiert sich während des laufenden diagnostischen Prozesses an den bislang vorliegenden Informationen und richtet sein weiteres diagnostisches Vorgehen jeweils danach aus. Gerade eine hohe Vertrautheit mit den diagnostischen Kategorien und Algorithmen verleiht jedoch die Sicherheit, um sehr flexibel und situationsangepasst mit der jeweiligen diagnostischen Fragestellung umgehen zu können.
5.2
Identifizierung weiterer Störungen und Belastungen
? Diagnostische Leitfrage Bestehen weitere Störungen und Belastungen entsprechend den Achsen II–V des Multiaxialen Klassifikationssystems?
In diesem Kapitel sollen für Patienten mit Störungen des Sozialverhaltens potenziell relevante weitere Störungen und Belastungen entspre-
5.2 Identifizierung weiterer Störungen und Belastungen
chend den Achsen II–V des Multiaxialen Klassifikationssystems dargestellt werden.
5.2.1 Achse II des MAS: Umschriebene
Entwicklungsstörungen Die MAS-Achse II »Umschriebene Entwicklungsstörungen« entspricht dem Kapitel F8 der ICD-10, mit Ausnahme der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen (F84), die der Achse I des MAS zugeordnet sind. Auf Achse II werden Einschränkungen oder Verzögerungen in der Entwicklung verschiedener Funktionen (Sprache, visuell-räumliche Fertigkeiten, schulische Fertigkeiten, Bewegungskoordination) kodiert, die wesentlich einer biologischen Fehlfunktion des Gehirns zugeschrieben werden, auch wenn die Ätiologie in den meisten Fällen unbekannt ist. In der Regel hat die Verzögerung oder Einschränkung vom frühestmöglichen Erkennungszeitpunkt an vorgelegen. Charakteristisch ist eine familiäre Häufung solcher Störungen, und wahrscheinlich spielen genetische Faktoren eine wichtige Rolle, während Umweltfaktoren von geringerer Bedeutung sind. Kinder mit Störungen des Sozialverhaltens sind überzufällig häufig von Sprachstörungen und umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten betroffen (Hinshaw et al. 1993). In einer kinder- und jugendpsychiatrischen Inanspruchnahme-Population wiesen mehr als 20% der Kinder und Jugendlichen mit einer oppositionellen Störung eine Sprachstörung auf (Greene et al. 2002). Es muss also bei Kindern und Jugendlichen mit einer Störung des Sozialverhaltens untersucht werden, ob eine spezifische Entwicklungsstörung vorliegt.
61
5
Relevante umschriebene Entwicklungsstörungen (Achse II des MAS) 5 Umschriebene Entwicklungsstörungen der Sprache (F80) – Expressive Sprachstörung (F80.0) – Rezeptive Sprachstörung (F80.1) 5 Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten (F81) – Lese- und Rechtschreibstörung (F81.0) – Isolierte Rechtschreibstörung (F81.1) – Rechenstörung (F81.2) – Kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten (F81.3)
Umschriebene Entwicklungsstörungen der Sprache (F80) Definition Bei den umschriebenen Entwicklungsstörungen der Sprache sind die normalen Entwicklungsmuster der Sprache von frühen Entwicklungsstufen an beeinträchtigt, ohne dass die Störung direkt neurologischen Störungen, Störungen des Sprechablaufes, sensorischen Beeinträchtigungen, einer Intelligenzminderung oder Umweltfaktoren zugeordnet werden kann.
Bei der expressiven Sprachstörung (F80.1) ist die gesprochene Sprache des Kindes, also aktiver Wortschatz, Grammatik und die Fähigkeit, Inhalte sprachlich auszudrücken, in ihrem Niveau deutlich unterhalb des Intelligenzniveaus des Kindes. Das Sprachverständnis ist dagegen weniger deutlich beeinträchtigt. Artikulationsstörungen können vorhanden sein. Bei der rezeptiven Sprachstörung (F80.2) liegt das Sprachverständnis des Kindes, also die Fähigkeit, gesprochene Sprache zu entschlüsseln, deutlich unterhalb seines Intelligenzniveaus. In fast allen Fällen ist auch die expressive Sprache deutlich gestört. Artikulationsstörungen treten häufig auf. Anfangs steht autistisch oder zwang-
62
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung
Leitsymptome einer expressiven Sprachstörung
Leitsymptome einer rezeptiven Sprachstörung
5 Später Beginn des Sprechens 5 Zu geringer Wortschatz für das Lebensalter 5 Eingeschränkte Verständlichkeit des Gesprochenen 5 Äußerungslänge zu kurz für das Lebensalter (mit 2 Jahren keine Zwei-Wort-Äußerungen, mit 3 Jahren keine Drei-Wort-Äußerungen) 5 Dysgrammatische Sätze (falsche Wortstellung im Satz, falsche Artikel, inkorrekte Wortendungen) 5 Schwierigkeiten beim Gebrauch der grammatikalischen Wortformen (z. B. Plural, Imperfekt) 5 Kein Gebrauch von Nebensätzen bei Schulkindern 5 Häufig ausgeprägte Wortfindungsstörungen (bei Worten, die das Kind sicher kennt) 5 Ausgedehntere Sachverhalte können auch von älteren Kindern nur unzureichend verbal dargestellt werden, zum Teil wird bei der Darstellung auf nonverbale Mittel zurückgegriffen.
5 Kein altersentsprechendes Verständnis der gesprochenen Sprache, auch einfache Fragen werden nicht korrekt oder sehr vage beantwortet 5 Unvermögen, einfachen ausschließlich verbalen Anweisungen zu folgen, jedoch promptes Befolgen von Anweisungen, die von Gestik begleitet werden 5 Unfähigkeit, grammatikalische Strukturen zu verstehen (z. B. Verneinungen, Fragen, Vergleiche) 5 Jüngere Kinder sprechen gar nicht oder nur einzelne Wörter, wiederholen echoartig sprachliche Äußerungen, die sie nicht verstehen, oder sprechen in einem unverständlichen Kauderwelsch mit angemessener Intonation 5 Meist normaler sozialer Austausch, normales »So-tun-als-ob-Spiel«, lediglich leichte Einschränkungen der nichtsprachlichen Kommunikation (im Gegensatz zu autistischen Kindern).
13 14 15 16 17 18 19 20
haft wirkendes Verhalten im Vordergrund, später sozialer Rückzug, Depressivität, Schulverweigerung oder Aggressivität. Liegt bei einem Kind mit einer Störung des Sozialverhaltens eine Sprachstörung vor, so ist deren korrekte Diagnose und adäquate Therapie im Rahmen der Behandlungsplanung von hoher Bedeutung. Vor allem bezüglich einer expressiven Sprachstörung sind die Angaben der Bezugspersonen meist relativ zuverlässig, während das Sprachverständnis eines Kindes oft deutlich überschätzt wird (Leitlinie »Umschriebene Entwicklungsstörungen der Sprache«, Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie et al. 2003). Von den Bezugspersonen wird erfragt: 5 Wie lang sind die Äußerungen des Kindes?
5 Macht es Wortstellungs- oder Endungsfehler? 5 Kann das Kind Erlebnisse oder Geschichten verständlich berichten? 5 Ist der Wortschatz etwa altersgemäß? 5 Fallen dem Kind Wörter, die es sicher kennt, häufig nicht ein? 5 Versteht das Kind Sprache altersentsprechend, oder vereinfachen die Bezugspersonen ihre Sprache im Umgang mit dem Kind, verglichen mit Gleichaltrigen? 5 Setzen die Bezugspersonen verstärkt nonverbale Mittel zur Verständigung ein? 5 Achten die Bezugspersonen darauf, dass sie immer wieder die gleichen Worte benutzen, damit das Kind sie versteht?
5.2 Identifizierung weiterer Störungen und Belastungen
5 Antwortet das Kind auffallend häufig mit »ja« auf Fragen? 5 Versteht das Kind beim Lesen altersentsprechende Texte? Läßt es sich ungern altersgemäße Texte vorlesen? Für die Diagnosestellung wird nach der ICD10 eine Diskrepanz zwischen dem Niveau der gesprochenen Sprache bzw. dem Sprachverständnis und dem Intelligenzniveau gefordert. Dennoch unterscheiden sich Kinder, welche die geforderte Diskrepanz aufweisen, hinsichtlich Phänotyp der Sprachstörungen und Ansprechbarkeit auf Behandlung nicht von sprachgestörten Kindern ohne Diskrepanz von Sprachleistung und kognitiven Fähigkeiten. Zudem sind viele Sprachtests so unzureichend normiert, dass sie zwar zur klinischen Einschätzung, nicht jedoch als quantitativer Test herangezogen werden können. ! Eine komorbide Sprachstörung, insbesondere eine rezeptive Sprachstörung, ist von erheblicher prognostischer Bedeutung, keineswegs nur für den schulischen Bereich, denn der Erwerb abstrakter Konzepte ist generell erschwert.
Auch das Benennen, Kategorisieren sowie Kommunizieren von Bedürfnissen und Gefühlen sowie das Anwenden geeigneter Strategien zur Emotionsregulation werden durch Sprache vermittelt. Durch verbales Feedback bezüglich seines Verhaltens gelingt es einem Kind besser, sein eigenes Verhalten zu reflektieren und zu modifizieren. Auch soziale Interaktionen sind in hohem Maß sprachabhängig. Somit kann eine Sprachstörung die Entwicklung eines Kindes erheblich beeinträchtigen.
63
5
Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten (F81) Definition Die umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten umfassen als Obergriff die spezifischen und deutlichen Beeinträchtigungen des Erlernens von Lesen, Rechtschreiben und/oder Rechnen, die nicht durch unkorrigierte Seh- oder Hörstörungen oder neurologische Erkrankungen (z. B. Zerebralparese) erklärbar sind und keine direkte Folge mangelnder Lerngelegenheit, wie z. B. von Schulversäumnis, häufigem Schulwechsel oder unangemessenem Unterricht, darstellen.
Für die Diagnose ist Voraussetzung, dass klinisch eine eindeutige Beeinträchtigung einer oder mehrerer spezieller schulischer Fertigkeiten vorliegt und dass der diesbezügliche Leistungsstand des Kindes deutlich unterhalb seines Intelligenzniveaus liegt und nicht durch eine Intelligenzminderung erklärbar ist. Bei jüngeren Kindern kann eine deutliche Diskrepanz zwischen den Noten in Deutsch (Lesen und Rechtschreiben) bzw. Mathematik (Rechnen) und den übrigen Fächern bestehen, bei älteren Kindern ist nicht selten eine Generalisierung des Lern- bzw. Leistungsversagens festzustellen. Zum einen können die wiederholten Misserfolgserlebnisse zu einem Motivationsdefizit führen, das auch die sonstigen schulischen Leistungen beeinträchtigt, zum anderen können sich unmittelbare Folgen einer umschriebenen Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten auch in anderen Fächern zeigen. Eine (Lese- und) Rechtschreibstörung kann mit Beeinträchtigungen bei allen schulischen Anforderungen einhergehen, für welche Schriftsprache relevant ist, z. B. Textaufgaben in Mathematik und Fremdsprachen. Beeinträchtigungen durch eine Rechenstörung können sich auch in den naturwissenschaftlichen Fächern zeigen. Die Entwicklungsstörung muss spätestens bis zum 5. Schuljahr in Erscheinung getreten sein, in der Regel zeigt sie sich von Beginn der Schulzeit an. In den Vorschuljahren sind meist in den Berei-
64
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung
chen Sprechen oder Sprache, seltener bei Motorik und Visuomotorik Entwicklungsstörungen aufgetreten (Leitlinie »Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten«, Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie et al. 2003). Definierendes Merkmal der Lese- und Rechtschreibstörung (F81.0) ist eine umschriebene Beeinträchtigung der Entwicklung der Lesefertigkeiten, und damit sehr häufig einhergehend der Rechtschreibung. Ab der späten Kindheit ist oft die Lesefertigkeit verbessert, während beim Rechtschreiben das größere Defizit liegt. Dagegen ist bei der isolierten Rechtschreibstörung (F81.1) keine umschriebene Lesestörung in der Vorgeschichte festzustellen. Die Rechenstörung (F81.2) zeigt sich vor allem bei den Grundrechenarten (Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division), weniger bei den höheren mathematischen Fertigkeiten. Eine kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten (F81.3) ist
dann zu diagnostizieren, wenn die Lese-, Rechtschreib- und Rechenfertigkeiten beeinträchtigt sind, ohne dass dieses durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder unangemessene schulische Förderung erklärbar wäre. Rechtschreibfehler treten vor allem beim Diktat und beim spontanen Schreiben auf, während Abschreiben von Anfang an oder in höheren Klassen weitgehend fehlerfrei sein kann. Kinder mit gutem Gedächtnis und/oder höherer Intelligenz kompensieren unter Umständen in den ersten Schulklassen ihre (Lese-)Rechtschreibstörung und versagen erst in einer höheren Schulklasse, wenn ungeübte Schriftsprachleistungen und ein höheres Leistungsniveau und Tempo verlangt werden. Schwerer betroffene Kinder sind meist nicht fähig, ihre Fehler beim Lesen und Rechtschreiben selbst zu erkennen und zu korrigieren. Bereits im Vorschulalter haben die betroffenen Kindern Schwierigkeiten, trotz normaler peripherer Hörfähigkeit Laute zu unter-
11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Lesestörung
Rechtschreibstörung
Die Lesestörung (Vorkommen bei F81.0 und F81.3) ist gekennzeichnet durch: 5 Auslassen, Ersetzen, Verdrehen oder Hinzufügen von Worten oder Wortteilen 5 Vertauschen von Buchstaben in Wörtern oder Wörtern im Satz 5 Niedrige Lesegeschwindigkeit 5 Startschwierigkeiten beim Vorlesen, langes Zögern oder Verlieren der Zeile 5 Defizite im Leseverständnis: Gelesenes kann schlecht wiedergegeben werden; die Fähigkeit, im Gelesenen Zusammenhänge zu erkennen und daraus Schlüsse zu ziehen, ist beeinträchtigt.
Bei Vorliegen einer Rechtschreibstörung (Vorkommen bei F81.0, F81.1 und F81.3) zeigen sich bei Verwendung der deutschen Schriftsprache folgende Fehler: 5 Reversionen (Verdrehungen von Buchstaben im Wort: b-d, p-q) 5 Reihenfolgefehler (Umstellungen von Buchstaben im Wort) 5 Auslassungen von Buchstaben oder Wortteilen 5 Einfügungen von falschen Buchstaben oder Wortteilen 5 Regelfehler als Verstöße gegen die regelhaften Abweichungen von der lautgetreuen Schreibung (z. B. Dehnungsfehler, Groß- und Kleinschreibung) 5 Fehlerinkonstanz: Dieselben Wörter werden auch nach langer Übung immer wieder unterschiedlich fehlerhaft geschrieben.
5.2 Identifizierung weiterer Störungen und Belastungen
scheiden, einfache Wortreime zu bilden, das Alphabet aufzusagen und die Buchstaben korrekt zu benennen.
65
5
und nehmen dazu unter Umständen äußere visuelle Reize zur Hilfe. Beim Subtrahieren im Kopf zählen die Kinder häufig rückwärts ab, wodurch sie dann oft nicht die richtige Zahl, sondern die nächstgrößere Zahl als Lösung angeben.
Rechenstörung Bei Vorliegen einer Rechenstörung (Vorkommen bei F81.2 und F81.3) können in folgenden Bereichen Schwierigkeiten bestehen: 5 Erfassen der Größe einer Menge und Vergleichen mit einer anderen Menge 5 Verstehen von Rechenoperationen und der ihnen zugrunde liegenden Konzepte (z. B. mehr-weniger, Teil-Ganzes, Vielfaches) 5 Aufbau von Zahlenstrahl- oder Zahlenraumvorstellungen, Abschätzen von Rechenergebnissen 5 Erwerb des arabischen Stellenwertsystems und seiner syntaktischen Regeln sowie der hierauf aufbauenden Rechenprozeduren 5 Sprachliche Zahlenverarbeitung (Erwerb der Zahlwortsequenz und der Zählfertigkeiten, Speichern von Faktenwissen, z. B. Einmaleins) 5 Übertragen von Zahlen aus einer Kodierung in eine andere (Zahlwort – arabische Ziffer – analoge Repräsentation).
Wie bei der (Lese-)Rechtschreibstörung können auch Kinder mit einer Rechenstörung, die über eine höhere Intelligenz und/oder ein gutes Gedächtnis verfügen, in den unteren Grundschulklassen ihre Störung unter Umständen noch kompensieren. Bei der klinischen Untersuchung der Rechenfertigkeiten kann ein Kind bei einfachen Additionen im Kopf möglicherweise zum richtigen Ergebnis gelangen, benötigt jedoch meist deutlich länger als andere Kinder seines schulischen Niveaus. Jüngere Kinder kommen ohne Abzählen an den Fingern kaum zum richtigen Ergebnis, ältere Kinder zählen im Kopf
Beispiel »Wieviel sind 17 minus 6?« Antwort: »12«. Lösungsweg des Kindes: 17 – 16 – 15 – 14 – 13 – 12 (also 6 Zahlen zurückgezählt, ausgehend von 17).
Besonders schwer fällt den Kindern das Überschreiten der Zehnergrenzen (z. B. 26 minus 9). Manche Kinder wenden komplizierte Zerlegungen der einzelnen Zahlen und etliche dazwischen liegende Rechenschritte an und kommen so unter Umständen zum richtigen Ergebnis, wenn auch aufgrund der hohen Belastung des Arbeitsgedächtnis deutlich störanfälliger, benötigen aber hierfür sehr viel Zeit. Beim Multiplizieren kann ein Kind eventuell das Einmaleins als Faktenwissen aus dem Gedächtnis abrufen, ohne aber das Prinzip verstanden zu haben oder anwenden zu können. So kann es vielleicht aus dem Kopf 1×8, 2×8 usw. bis 10×8 aufsagen, aber – selbst mit visueller Unterstützung – außerstande sein, für 11×8 die richtige Lösung zu finden. Dividieren fällt selbst Jugendlichen mit einer Rechenstörung, denen es gelungen ist, in den anderen drei Grundrechenarten Kompensationsstrategien zu entwickeln ist, sehr schwer. Für mündliche wie schriftliche Rechenoperationen konstruieren Kinder mit einer Rechenstörung ihre eigenen Algorithmen, die gelegentlich zufällig zu einem richtigen Ergebnis führen können. Somit ist es bei der klinischen Untersuchung sehr wichtig, sich erklären zu lassen, wie das Kind jeweils zu dem von ihm genannten Ergebnis gelangt ist. Bei Vorliegen einer Rechenstörung ist auch das Erlernen bestimmter alltagspraktischer Fertigkeiten erschwert, wie z. B. das Berechnen des Wechselgeldes beim Einkaufen oder das Uhrlesen bei Uhren mit Zifferblättern. Selbst wenn diese Fertigkeiten grundsätzlich erworben werden,
66
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung
wird in Alltagssituationen viel Zeit dafür benötigt. Detaillierte Hinweise zur Durchführung der klinischen Prüfung bei Verdacht auf eine Rechenstörung können der Leitlinie »Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten« (Deutsche Gesellschaft für Kinderpsychiatrie und Psychotherapie et al. 2003) entnommen werden. ! Bei der klinischen Untersuchung einer Rechenstörung ist nicht in erster Linie relevant, ob das Kind eine Rechenaufgabe richtig oder falsch gelöst hat, sondern wie es zur (richtigen oder falschen) Lösung gelangt ist. Zum Teil können die Kinder über ihre Vorgehensweisen und Algorithmen Auskunft geben, zum Teil muss der Untersucher sich diese durch Verhaltensbeobachtung in der Untersuchungssituation und die Art der Fehler des Kindes selbst erschließen.
Zur Diagnose einer umschriebenen Störung schulischer Fertigkeiten sind neben der Exploration und klinischen Untersuchung des betroffenen Schülers und der Befragung seiner Eltern auch Informationen vom Deutsch- bzw. Mathematiklehrer sowie die Einsichtnahme in die Schulzeugnisse und Schulhefte wichtig. Es sollte eine quantitative testpsychologische Untersuchung des allgemeinen Intelligenzniveaus und der betroffenen schulischen Fertigkeiten mit standardisierten Lese-, Rechtschreib- und/oder Rechentests durchgeführt werden. Die Diagnose sollte nur dann gestellt werden, wenn der im Lese-, Rechtschreib- bzw. Rechentest erreichte Prozentrang nicht signifikant größer als 10 ist. Darüber hinaus darf keine Intelligenzminderung (IQ <70) vorliegen, und es ist eine Diskrepanz zwischen der allgemeinen intellektuellen Leistungsfähigkeit und dem Versagen im Lesen, Schreiben oder Rechnen aufzuzeigen, etwa als T-Wert-Diskrepanz >12 oder als Diskrepanz von mindestens 1,5 Standardabweichungen zwischen den beiden Testergebnissen. Dabei ist es wichtig, das allgemeine Intelligenzniveau unabhängig von der fraglichen umschriebenen Entwicklungs-
störung zu erfassen. Bei Vorliegen einer (Leseund) Rechtschreibstörung sind z. B. HAWIK-III, K-ABC, AID 2, SON-R, CFT20 und SPM geeignete Intelligenztests; CFT1 und CPM können bei Kindern im oberen Altersbereich der Normierungsstichprobe zu Überschätzungen des Intelligenzniveaus führen. Bei der Untersuchung hinsichtlich des Vorliegens einer Rechenstörung ist zu beachten, dass K-ABC und HAWIK-III stark rechenabhängige Subtests enthalten, die bei der Bestimmung des allgemeinen Intelligenzniveaus unberücksichtigt bleiben und durch den Mittelwert der übrigen Subtests ersetzt werden sollten. Die Tests schulischer Fertigkeiten sind nach dem Klassenniveau des Schülers auszuwählen, wodurch das Ergebnis stark vom schulischen Curriculum des Schülers abhängt. Viele der Schulleistungstests sind unzureichend normiert, weswegen eine klinische Untersuchung unverzichtbar ist (7 4.5.2). ! Bei Vorliegen einer umschriebenen Störung schulischer Fertigkeiten ist zu prüfen, inwieweit diese bei dem jeweiligen Patienten eine aufrechterhaltende Bedingung für seine Störung des Sozialverhaltens darstellt.
Ein solcher Zusammenhang ist bei jüngeren Kindern plausibler als bei älteren Kindern oder gar Jugendlichen, ebenso dann, wenn disruptives Verhalten spezifisch und regelhaft im Zusammenhang mit schulischen Anforderungen auftritt.
5.2.2 Achse III des MAS:
Intelligenzniveau Die Achse III des MAS enthält u. a. die Kategorien der Intelligenzminderung nach der ICD-10 (F70–F79). Definition Während bei einer Demenz bereits erworbene kognitive und soziale Fähigkeiten in Folge eines
67
5.2 Identifizierung weiterer Störungen und Belastungen
Krankheitsprozesses verloren gehen, ist für eine Intelligenzminderung (= geistige Behinderung) eine unvollständige Entwicklung der geistigen Fähigkeiten sowie der psychosozialen Anpassung kennzeichnend.
Letzteres gilt in geringerem Maße auch für die Lernbehinderung (= unterdurchschnittliche Intelligenz, oder niedrige Intelligenz entsprechend dem Multiaxialen Klassifikationssystem), welche nicht als separate Kategorie in der ICD10 aufgeführt wird; nach der üblichen Terminologie liegt bei einer Lernbehinderung der Intelligenzquotient zwischen 70 und 84. Die in der ICD-10 angegebenen Intelligenzwerte basieren auf Testergebnissen mit einem Mittelwert von 100 und einer Standardabweichung von 15, in Übereinstimmung mit vielen gebräuchlichen Intelligenztests. Eine Lernbehinderung, eine leichte Intelligenzminderung (F70: IQ 50–69) sowie eine mittelgradige Intelligenzminderung (F71: IQ 35–49) begünstigen die Entwicklung einer Störung des Sozialverhaltens, wobei mit der vierten Stelle der ICD-10-Kodierung das Ausmaß der Verhaltensstörung klassifiziert werden kann (also F70.1 bzw. F71.1: leichte bzw. mäßige Intelligenzminderung mit deutlicher Verhaltensstörung, die Beobachtung oder Behandlung erfordert). Eine schwere Intelligenzminderung (F72: IQ 20–34) oder schwerste Intelligenzminderung (F73: IQ <20) stellt jedoch eine Ausschlussdiagnose für eine Störung des Sozialverhaltens dar, da man bei einem so niedrigen Intelligenzniveau nicht mehr von einem Verständnis selbst einfachster Regeln des Zusammenlebens ausgehen kann (7 2.5). Die Einschätzung der Intelligenz sollte auf allen verfügbaren Informationen beruhen. Dazu gehören der klinische Eindruck (Kontaktverhalten, affektive Reaktionen, Aufmerksamkeit, Konzentration, Reaktionsfähigkeit, Sprachverständnis und -produktion), das Anpassungsverhalten der Person an die Anforderungen des alltäglichen Lebens, gemessen an ihrem kulturellen Hintergrund, sowie ihre Leistungsfähigkeit in psycho-
5
metrischen Tests, u. a. auch in standardisierten Intelligenztests, soweit diese bei der betroffenen Person durchführbar sind. Der jeweilige Test sollte unter Berücksichtigung des individuellen Leistungsniveaus sowie zusätzlicher spezifischer Behinderungen, wie sensorischen oder motorischen Beeinträchtigungen, ausgewählt werden. Die angegebenen IQ-Werte sind nicht als starre Grenzen, sondern eher als Richtlinien zu verstehen, da die mit einem Intelligenztest gemessenen Werte auch von vielen anderen intelligenzunabhängigen Faktoren beeinflusst werden können (7 4.5.2). ! Ein über dem Durchschnitt liegendes Intelligenzniveau stellt einen protektiven Faktor bezüglich der Entwicklung einer Störung des Sozialverhaltens dar.
5.2.3 Achse IV des MAS: Körperliche
Symptomatik Auf der Achse IV werden aktuelle körperliche (zerebrale und nichtzerebrale) Störungen kodiert, unabhängig davon, ob angenommen werden kann, dass sie in einem ursächlichen Zusammenhang mit einer psychischen Störung stehen oder nicht. Das Vorliegen einer chronischen körperlichen (nichtzerebralen) Krankheit stellt erhöhte Anforderungen an die Ressourcen eines Kindes oder Jugendlichen wie auch seiner psychosozialen Umgebung, so dass die Betroffenen häufiger Symptome einer Störung des Sozialverhaltens entwickeln, als dieses bei gesunden Gleichaltrigen der Fall ist. Dieses gilt um so mehr für zerebrale Störungen. So wurden im Verlauf mehrerer Jahre nach einer bakteriellen Meningitis die Defizite von Aufmerksamkeit und Kurzzeitgedächtnis zwar kleiner, Defizite hinsichtlich gemessener Intelligenz, exekutiver Funktionen und schulischer Fertigkeiten waren jedoch weiterhin festzustellen (Grimwood et al. 2000). Solche Kinder und Jugendlichen sind in höherem Ausmaß von schulischem Leistungs-
68
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung
versagen und disruptivem Verhalten betroffen (Koomen et al. 2003). Ein höheres Ausmaß an disruptivem Verhalten nach einer Enzephalitis kann jedoch auch eine unmittelbare Folge der zerebralen Störung sein; in diesem Fall wäre auf Achse I die Diagnose »postenzephalitisches Syndrom« zu kodieren (7 5.3).
5.3
Differenzialdiagnose und Hierarchie des diagnostischen Vorgehens
? Diagnostische Leitfrage Bestehen die disruptiven Symptome nicht nur im Rahmen einer anderen psychiatrischen Störung?
5.2.4 Achse V des MAS: Assoziierte
aktuelle abnorme psychosoziale Umstände Hier geht es um psychosoziale Belastungsfaktoren mit aktueller Relevanz für das dissoziale Verhalten. Diesbezüglich relevante Kategorien wurden in Kap. 4 (7 4.4) bereits aufgeführt, in welchem sie sich jedoch – über die aktuellen abnormen psychosozialen Umstände hinaus – auch auf psychosoziale Belastungen in der Vorgeschichte bezogen, die für die Genese der Störung des Sozialverhaltens relevant gewesen sein könnten.
5.2.5 Achse VI des MAS: Globale
Beurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus Diese Achse bildet das globale Funktionsniveau unter Berücksichtigung des psychischen, sozialen und schulisch-beruflichen Funktionierens ab. Die Kodierung bezieht sich auf das niedrigste Funktionsniveau innerhalb der letzten 3 Monate (oder einen entsprechend der Akuität der Störung kürzeren Zeitraum) vor der aktuellen psychiatrischen Untersuchung. Die Skala reicht von einer Kodierung von 1 für das höchste Funktionsniveau bis 9 für das niedrigste Funktionsniveau. Achse VI ist auch deswegen bedeutsam, weil sie die erforderliche Intensität der Interventionen bestimmt (7 6.1)
Unter »Differenzialdiagnostik« wird die Abwägung der verschiedenen Symptome eines Patienten hinsichtlich der möglichen zugrunde liegenden Krankheiten verstanden. Dieses kann die Auswahl einer von mehreren möglichen Diagnosen, das Stellen von komorbiden Diagnosen oder von Ausschlussdiagnosen beinhalten. Ausschlussdiagnosen für die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens werden in 7 2.5 erörtert, die Differenzialdiagnostik zwischen verschiedenen Untergruppen der Störungen des Sozialverhaltens in 7 4.1, komorbide Diagnosen auf Achse I des MAS werden unter 7 2.4 und 7 4.3 dargestellt, komorbide Diagnosen auf den Achsen II–IV des MAS unter 7 5.2. Im vorliegenden Abschnitt geht es vor allem um die Frage, ob die festgestellten disruptiven Symptome nicht lediglich im Rahmen einer anderen psychiatrischen Störung der Achse I des MAS bestehen. ! Nach der ICD-10 gilt: »Merkmale der Störungen des Sozialverhaltens können symptomatisch auch bei anderen psychiatrischen Erkrankungen auftreten, dann ist die zugrunde liegende Diagnose zu kodieren.«
5.3.1 Hierarchie des diagnostischen
Vorgehens Je akuter disruptive Symptome auftreten, desto vordringlicher ist die differenzialdiagnostische Abklärung bezüglich der Störungen aus den Kapiteln F0 »Organische, einschließlich symptomatischer Störungen« und F1 »Psychische und
5.3 Differenzialdiagnose und Hierarchie des diagnostischen Vorgehens
Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen« der ICD-10, da es sich um potenziell lebensbedrohliche Zustände handeln kann. In Akutsituationen müssen weiterhin die Differenzialdiagnosen einer akuten Psychose und einer manischen Episode vordringlich abgeklärt werden. Gerade bei Patienten mit einer bekannten Störung des Sozialverhaltens oder schwierigen psychosozialen Bedingungen ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass disruptives Verhalten in diesem Zusammenhang gesehen wird und andere – u. a. auch organische – Faktoren als Erklärungsmöglichkeit für akut auftretendes aggressives Verhalten zu wenig in Betracht gezogen werden.
Wichtige Ursachen akuter aggressiver Erregungszustände 5 Enzephalitis 5 Substanzintoxikation (vor allem Alkohol, Amphetamine, Kokain, Inhalanzien; besonders unberechenbar sind Mischintoxikationen) 5 Schädel-Hirn-Trauma 5 Delir jeglicher Pathogenese 5 Akute Psychose 5 Manische Episode
Beispiel Ein 16-jähriger männlicher Jugendlicher, ein Ausländer, der nicht gut deutsch spricht, wird von der Polizei in Begleitung seines Cousins gebracht, weil er auf der Straße durch lautes und aggressives Verhalten aufgefallen war. Dieses Verhalten zeigt er auch gegenüber dem untersuchenden Arzt. Der Cousin gibt an, dass der Patient schon immer schnell wütend geworden sei und Angst vor Ärzten habe. Sie seien im Fußballstadion bei einem Spiel gewesen und hätten Bier getrunken. Trotz des Heranziehens eines Übersetzers wird die psychiatrische Untersuchung durch die Sprachbarriere erschwert, und der Patient scheint Schwierigkeiten zu haben, dem Gespräch zu folgen. Der Cousin gibt an, dass ein Onkel früher mal einen Nervenzusammenbruch hatte und sehr durcheinander gewesen sei,
69
5
so dass er in einer Klinik behandelt worden sei. Bei der somatischen Untersuchung zeigt sich Fieber und ein leicht erhöhter Blutdruck. Mögliche Differenzialdiagnosen, die sich gegenseitig nicht ausschließen, sind: 5 Störung des Sozialverhaltens, evtl. mit komorbider ADHS (Patient folgt aufgrund eines Aufmerksamkeitsdefizites dem Gespräch unzureichend) 5 Intoxikation mit Alkohol, evtl. auch mit anderen Substanzen (Biergeruch; erhöhter Blutdruck infolge von u. a. Amphetaminkonsum) 5 Psychotische Störung (familiäre Belastung) 5 Schädel-Hirn-Trauma, z. B. durch körperliche Auseinandersetzung oder Sturz im Rahmen des Stadionbesuches Hier lieferte das Vorliegen von Fieber mit erhöhtem Blutdruck und der eingeschränkten Fähigkeit des Patienten, seine Aufmerksamkeit auf das Gespräch zu richten, den entscheidenden differenzialdiagnostischen Hinweis auf das Vorliegen einer zerebralen Infektion mit einem deliranten Bild.
Diagnostisches und differenzialdiagnostisches Vorgehen bei aggressiven Erregungszuständen (angelehnt an Guerrero 2003) 5 Identifizieren des (der) aktuell wichtigsten Symptoms (Symptome) 5 Identifizieren möglicher Differenzialdiagnosen anhand der Ergebnisse von Exploration, psychiatrischer Untersuchung und ggf. fremdanamnestischen Informationen 5 Erhebung der Vitalparameter (ziehen Sie spezifisch Störungen mit hoher Gefährdung für den Patienten in Betracht!) 5 »Warum jetzt«? Welche Hypothese erklärt am besten, warum gerade jetzt ein aggressiver Erregungszustand auftritt? 5 Überprüfen der Differenzialdiagnosen anhand aller vorliegenden Informationen.
70
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung
Exkurs Zerebrale Infektionen als Ursachen aggressiven Verhaltens Symptome einer akuten Virusenzephalitis Bei einer akuten Virusenzephalitis können neben der Triade aus Fieber, Kopfschmerzen und Bewusstseinsstörung auch Desorientiertheit, Auffälligkeiten im Verhalten oder Sprechen, fokale oder generalisierte neurologische Symptome, z. B. Hemiparese oder epileptische Anfälle, sowie gelegentlich ein delirantes Zustandsbild auftreten. Mittels einer Kernspinuntersuchung lassen sich frühe Zeichen einer akuten Virusenzephalitis mit hoher Sensitivität erkennen. Die Laboruntersuchungen des Blutes hingegen erbringen bei viralen ZNS-Infektionen entweder einen Normalbefund oder geringfügig erhöhte Entzündungsparameter. Herpes-simplex-Enzephalitis. Das Herpes-simplex-Virus (HSV) ist der häufigste Erreger einer nichtepidemischen akuten viralen Enzephalitis in den westlichen Ländern. Die HSV-Enzephalitis ist eine der schwerwiegendsten zerebralen Infektionen, assoziiert mit hohen Mortalitätsraten und erheblichen bleibenden Beeinträchtigungen. Etwa ein Drittel der Patienten sind Kinder und Jugendliche. Fokale Nekrosen des Gehirnparenchyms treten vor allem temporal und orbitofrontal auf, besonders bei Kindern jedoch auch parietal und okzipital (De Tiège et al. 2003). Die ersten Symptome einer HSV-Infektion können völlig unspezifisch sein. Das klinische Bild einer HSV-Enzephalitis fluktuiert charakteristischerweise und kann sich über einen Zeitraum von mehreren Tagen entwickeln. Als Symptome können auftreten: Fieber, Kopfschmerzen, Bewusstseinsstörung (bis hin zum Koma), Verwirrung, Lethargie, verändertes Verhalten, delirantes Bild, fokale neurologische Zeichen, zerebrale Krampfanfälle (bei etwa der Hälfte der Patienten), Beeinträchtigungen der Sprache (bis hin zur Aphasie), Gedächtnisstörungen, Aggressivität.
Die klinische Diagnose kann oft nur wenig zuverlässig gestellt werden. HSV-spezifische Antikörper im Serum haben für die Diagnose einer Herpes-simplex-Enzephalitis keine hohe Bedeutung (Sauerbrei et al. 2000), denn etwa 90% der Bevölkerung sind seropositiv für HSV1, und eine Titer-Erhöhung tritt unter Umständen erst 10 Tage nach Beginn der Erkrankung auf. Die diagnostische Methode der Wahl bei Verdacht auf eine Herpes-simplex-Enzephalitis ist die MRI-Untersuchung (Chaudhuri u. Kennedy 2002). Gesichert wird die Diagnose durch Nachweis der Viren-DNA im Liquor durch PCR (»polymerase chain reaction«). Es muss jedoch bereits bei dem begründeten klinischen Verdacht einer Herpes-simplex-Enzephalitis schnellstmöglich eine Behandlung mit Aciclovir begonnen werden, da die Prognose von einem möglichst zügigen Behandlungsbeginn entscheidend abhängt. Symptome einer akuten bakteriellen Enzephalitis Das klinische Bild einer akuten bakteriellen (eitrigen) Meningoenzephalitis ist gekennzeichnet durch hohes Fieber, starken Kopfschmerz, schweres Krankheitsgefühl, Schüttelfrost, Übelkeit und Erbrechen, Lichtscheu, Gereiztheit, Verwirrtheit, Bewusstseinsstörung (in schweren Fällen Koma), zerebrale Krampfanfälle. Meningismus, Brudzinski-Zeichen (reflektorische Beugung im Kniegelenk bei passiver Anhebung des Kopfes) sowie Kernig-Zeichen (im Sitzen kann keine Kniestreckung ausgeführt werden) sind im Kindes- und Jugendalter oft nur mäßig ausgeprägt oder fehlen ganz. Bei akutem Beginn ist in der Regel deutlich, dass die psychopathologischen Veränderungen im Rahmen einer somatischen Erkrankung zu sehen sind. Die häufigsten Erreger einer bakteriellen Meningoenzephalitis im Kindesalter sind Neisseria meningitidis und Streptococcus pneumoniae, bei Jugendlichen Meningokokken. 6
5.3 Differenzialdiagnose und Hierarchie des diagnostischen Vorgehens
Vor Beginn einer antibiotischen Therapie sollte eine Blutkultur abgenommen werden. Im Blutbild zeigt sich eine Leukozytose, und es kommt zu einer Erhöhung des C-reaktiven Proteins, die jedoch ganz früh im Verlauf der Infektion noch fehlen kann. Die definitive Diagnose einer bakteriellen Meningoenzephalitis erfolgt durch Erregernachweis im Liquor.
71
5
! Eine akute Enzephalitis ist ein medizinischer Notfall! Nach Ablauf einer Enzephalitis kann es im Rahmen eines postenzephalitischen Syndroms (F07.1) zu erhöhter Aggressivität kommen.
5.3.2 Differenzialdiagnose Nachfolgend werden für die Störungen des Sozialverhaltens differenzialdiagnostisch relevante
klinisch-psychiatrische Störungsbilder aufgeführt. Der zugehörige differenzialdiagnostische Entscheidungsbaum ist in . Abb. 5. 1 gestellt.
Differenzialdiagnostisch relevante klinisch-psychiatrische Störungsbilder (Achse I des MAS) 5 Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen (F0) – Delir, nicht durch Alkohol oder sonstige psychotrope Substanzen bedingt (F05) – Nicht näher bezeichnete organische psychische Störung aufgrund einer Schädigung des Gehirns oder einer körperlichen Krankheit (F06.9) – Organische Persönlichkeitsstörung (F07.0) – Postenzephalitisches Syndrom (F07.1) – Organisches Psychosyndrom nach Schädel-Hirn-Trauma (F07.2) 5 Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen (F1) – Intoxikation mit psychotropen Substanzen (F1x.0) – Delir im Rahmen einer akuten Intoxikation (F1x.03) – Entzugssyndrom mit Delir (F1x.4) – Substanzinduzierte psychotische Störung (F1x.5) – Persönlichkeits- oder Verhaltensstörung durch psychotrope Substanzen (F1x.71)
5 Schizophrenie (F20): Ausschlussdiagnose! 5 Manische Episode (F30), bipolare affektive Störung (F31): Ausschlussdiagnose! 5 Depressive Episoden (F32), rezidivierende depressive Störung (F33), Dysthymia (F34.1) Wenn komorbid mit einer Störung des Sozialverhaltens → Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung 5 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen (F4), emotionale Störungen des Kindesalters (F93) Wenn komorbid mit einer Störung des Sozialverhaltens → Sonstige kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen 5 Essstörungen (F50) 5 Nichtorganische Schlafstörungen (F51) 5 Dissoziale Persönlichkeitsstörung (F60.2): Ausschlussdiagnose! 5 Emotional instabile Persönlichkeitsstörung (F60.3) – Impulsiver Typus (F60.30) – Borderline-Typus (F60.31) 6
72
1 2 3 4 5 6 7
Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung
5 Abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle (F63) – Pathologisches Glücksspiel (F63.0) – Pathologische Brandstiftung (F63.1) – Pathologisches Stehlen (F63.2) – Störung mit intermittierend auftretender explosiver Reizbarkeit (F63.8) 5 Tiefgreifende Entwicklungsstörung (F84): Ausschlussdiagnose! 5 Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90.0) Wenn komorbid mit einer Störung des Sozialverhaltens → Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens
8
5 Emotionale Störung mit Geschwisterrivalität (F93.3) 5 Elektiver Mutismus (F94.0) 5 Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters (94.1) 5 Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung (F94.2) 5 Ticstörungen (F95) – Vorübergehende Ticstörung (F95.0) – Chronische motorische oder vokale Ticstörung (F95.1) – Kombinierte vokale und multiple motorische Tics (Tourette-Syndrom; F95.2) 5 Enuresis (F98.0), Enkopresis (F98.1) 5 Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität (F98.8)
9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen (F0) Das Kapitel F0 der ICD-10 umfasst psychische Krankheiten mit nachweisbarer Ätiologie in einer zerebralen Krankheit, einer Hirnverletzung oder einer anderen Störung, die zu einer Hirnfunktionsstörung führt. Die Funktionsstörung kann primär sein, bei Krankheiten, Verletzungen oder Störungen, die das Gehirn direkt oder in besonderem Maße betreffen; oder sekundär, z. B. bei Systemerkrankungen oder Störungen, die das Gehirn nur als eines von vielen Organen oder Körpersystemen betreffen. Durch Alkohol und andere psychotrope Substanzen verursachte Störungen der Hirnfunktion werden jedoch unter F1 klassifiziert, damit alle durch psychotrope Substanzen bedingten Störungen in einem Abschnitt zusammengefasst sind. Fast alle organischen Störungen können in jedem Lebensalter, mit Ausnahme der frühen Kindheit, beginnen. Die Verwendung des Begriffes »organisch« impliziert nicht, dass die Störungen in anderen Kapiteln der ICD-10 nicht auf einer Abweichung der Gehirnfunktion beruhen, sondern
weist lediglich daraufhin, dass das zu beobachtende psychopathologische Syndrom auf jeden Fall einer unabhängig davon diagnostizierbaren zerebralen oder systemischen Krankheit oder Störung zugeordnet werden kann. Der Begriff »symptomatisch« wird dann verwendet, wenn eine organische psychische Störung auf einer mittelbaren zerebralen Beteiligung bei einer systemischen, extrazerebralen Krankheit oder Störung beruht. In der Regel erfordert also die Diagnosestellung bei Störungen aus diesem Abschnitt die Verwendung zweier Kodierungen, eine Kodierung für das psychopathologische Syndrom, die andere für die zugrunde liegende somatische Störung. Die psychopathologischen Symptome der unter F0 aufgeführten Zustandsbilder können sehr vielfältig sein, lassen sich aber in zwei Hauptgruppen unterteilen. Einerseits gibt es Syndrome, bei denen die auffallendsten, immer vorhandenen Merkmale Störungen der kognitiven Funktionen (Gedächtnis, Lernen, Planungsfähigkeit) oder Störungen des Sensoriums (Bewusstsein, Aufmerksamkeit) sind, also z. B. Demenz oder Delir. Aber auch im Rahmen die-
5.3 Differenzialdiagnose und Hierarchie des diagnostischen Vorgehens
ser Störungsbilder kann es zu akutem agitiertem und aggressivem Verhalten kommen, und das Delir stellt eine wichtige Differenzialdiagnose bei akut auftretenden aggressiven Erregungszuständen dar. Andererseits gibt es Syndrome, bei denen kognitive Störungen oder Störungen des Sensoriums nur in geringem Maß bestehen und die sich überwiegend auf den emotionalen Bereich bzw. das gesamte Persönlichkeitsund Verhaltensmuster beziehen. Bei Kindern ist weniger eine Veränderung von stabilen Merkmalen als eine deutliche Abweichung von der normalen Entwicklung festzustellen. Hierbei auftretende Symptome sind emotionale Labilität, Reizbarkeit, mangelnde Impulskontrolle, plötzliche Aggression oder Wutausbrüche, die im Verhältnis zum auslösenden psychosozialen Faktor völlig unangemessen erscheinen, deutliche Apathie, Misstrauen oder paranoide Vorstellungen. Delir, nicht durch Alkohol oder sonstige psychotrope Substanzen bedingt (F05) Bei einem Delir – in dessen Rahmen es zu aggressivem Verhalten kommen kann – handelt es sich um ein akut auftretendes, ätiologisch unspezifisches Syndrom, welches auf eine globale Dysfunktion kortikaler Zentren hinweist. Kennzeichnend sind gleichzeitig bestehende Störungen des Bewusstseins und der Aufmerksamkeit, der Wahrnehmung, des Denkens, des Gedächtnisses, der Psychomotorik, der Emotionalität und des Schlaf-Wach-Rhythmus. Die Differenzialdiagnose hinsichtlich der möglichen Ursachen eines Delirs ist sehr breit, von relativ benigne bis potenziell fatal. Ein Delir kann eine direkte physiologische Konsequenz einer systemischen Krankheit oder Funktionsstörung (systemische Infektionen, Hypoxie, Hypoglykämie, Störungen des Wasser- oder Elektrolythaushalts, hormonelle Störungen, hepatische oder renale Erkrankungen, Thiaminmangel, postoperativer Zustand, postiktaler Zustand, Schädel-Hirn-Trauma, zerebrale Infektionen) sein, eines Medikamentes (z. B. Anticholinergika, Lithium) oder Toxins (z. B. Schwerme-
73
5
talle; Insektizide, die Acetylcholinesterase-Hemmer enthalten) sein oder durch Intoxikation oder Entzug im Rahmen eines Substanzmissbrauches hervorgerufen werden. Ein Delir infolge einer zerebralen oder systemischen Krankheit oder Störung kann unter Delir, nicht durch Alkohol oder sonstige psychotrope Substanzen bedingt (F05) verschlüsselt
werden. Daneben ist ebenfalls die zugrunde liegende somatische Störung entsprechend der ICD-10 zu kodieren. Auch delirante Zustandsbilder aufgrund ärztlich verordneter Medikation sollten hierunter verschlüsselt werden, z. B. anticholinerges Delir bei Einnahme von Biperiden (Akineton), Trizyklika oder Clozapin (Leponex), wobei die entsprechende Medikation mit einer zusätzlichen Kodierung aus dem Kapitel XIX, Abschnitt T der ICD-10 zu verschlüsseln ist. Dagegen werden delirante Zustandsbilder infolge des Konsums psychotroper Substanzen unter Abschnitt F1 der ICD-10 »Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen« klassifiziert, u. a. als akute Intoxikation mit Delir (F1x.03), z. B. als anticholinerges Delir durch Ingestion von Pflanzenalkaloiden (F19.03), sowie als Entzugssyndrom mit Delir (F1x.4) z. B. bei Alkohol- oder Benzodiazepinentzug, das bei Jugendlichen jedoch kaum vorkommt. Ein delirantes Zustandsbild kann in jedem Lebensalter auftreten. Die Symptomatik beginnt in der Regel plötzlich und fluktuiert situativ wie auch innerhalb einer 24-Stunden-Periode. In den meisten Fällen bildet ein Delir sich innerhalb von 4 Wochen wieder zurück, kann jedoch im Rahmen bestimmter internistischer Erkrankungen, z. B. chronische Lebererkrankung, Karzinom oder subakute bakterielle Endokarditis, mit fluktuierendem Verlauf bis zu einem Zeitraum von mehreren Monaten bestehen. Bei einem Delir bestehen Auffälligkeiten in den folgenden Bereichen, wobei nicht jeder Patient in jedem Bereich gleichermaßen Auffälligkeiten zeigt: 5 Bewusstsein: quantitative oder qualitative Bewusstseinsstörung (s. Übersicht)
74
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung
5 Aufmerksamkeit: reduzierte Fähigkeit, die Aufmerksamkeit auszurichten, zu fokussieren, aufrechtzuerhalten und umzustellen; erhöhte Ablenkbarkeit, Fragen müssen wiederholt werden, Probleme, dem Gespräch zu folgen 5 Orientierung: zeitliche Desorientiertheit, in schweren Fällen auch Desorientiertheit zu Ort und Person 5 Gedächtnis: Beeinträchtigung des Immediatgedächtnisses, also der unmittelbaren Wiedergabe, und des Kurzzeitgedächtnisses (der Patient wird gebeten, sich an mehrere Gegenstände zu erinnern, und soll diese nach Fortsetzung des Gesprächs für einige Minuten wiederholen); das Langzeitgedächtnis ist relativ intakt 5 Denken: Beeinträchtigung des abstrakten Denkens und der Auffassung, typischerweise mit einem gewissen Grad an Inkohärenz (im Gespräch weitschweifig, am Thema vorbei, Gedankengang nicht gut nachvollziehbar, unvermitteltes Springen von einem Thema zum anderen) 5 Psychomotorik: Hypo- oder Hyperaktivität und nicht vorhersagbarer Wechsel zwischen beiden Extremen; verminderter oder vermehrter Redefluss; verlängerte Reaktionszeit; verstärkte Schreckreaktion 5 Schlaf-Wach-Rhythmus: Schlafstörung, in schweren Fällen völlige Schlaflosigkeit oder Umkehr des Schlaf-Wach-Rhythmus mit Schläfrigkeit am Tage; nächtliche Verschlimmerung der Symptome; unangenehme Träume oder Albträume, die nach dem Erwachen als Illusionen oder Halluzinationen fortbestehen können 5 Affekt: Depression, Apathie, staunende Ratlosigkeit, Euphorie, Angst oder Furcht, Reizbarkeit, Wut, aggressives Verhalten 5 Wahrnehmung: Wahrnehmungsverzerrung, Illusionen und (meist optische) Halluzinationen
Bewusstseinsstörungen Quantitative Bewusstseinsstörungen: Bewusstseinsminderung (durch eine Verminderung der Vigilanz) 5 Benommenheit: leichteste Ausprägung einer Bewusstseinsstörung mit Auffassungsstörungen und Denkverlangsamung 5 Somnolenz: abnorme Schläfrigkeit, stark verlangsamt, aber weckbar 5 Sopor: nur stärkere Reize lösen noch Reaktionen aus, adäquate Schmerzreaktion, für kurze Zeit weckbar 5 Koma: Bewusstlosigkeit, nicht weckbar; evtl. auf Schmerzreize noch unkoordinierte Abwehrbewegungen Qualitative Bewusstseinsstörungen: Bewusstseinsveränderung 5 Bewusstseinstrübung: Verwirrtheit von Denken und Handeln; z. B. Delir 5 Bewusstseinseinengung: Traumhafte Veränderung des Bewusstseins, verminderte Ansprechbarkeit auf Außenreize bei erhaltener Handlungsfähigkeit; z. B. bei Epilepsie, Intoxikation 5 Bewusstseinsverschiebung: Bewusstseinssteigerung mit Gefühl der Intensitäts- und Helligkeitssteigerung gegenüber dem Tagesbewusstsein; z. B. bei Intoxikation (u. a. Ecstasy, LSD)
Die frühen Anzeichen eines Delirs können aufgrund des fluktuierenden Bildes übersehen werden, insbesondere dann, wenn man den normalen psychischen Status des Patienten nicht kennt. Kulturelle und sprachliche Barrieren können die diagnostische Unsicherheit noch weiter erhöhen (Muench et al. 2001). Deswegen sind fremdanamnestische Informationen von Personen, die mit dem Patienten vertraut sind, äußerst wichtig, zum einen hinsichtlich der relevanten medizinischen und psychiatrischen Vorgeschichte, ein-
5.3 Differenzialdiagnose und Hierarchie des diagnostischen Vorgehens
schließlich Medikation und Substanzkonsum, sowie um Angaben über Vorgeschichte und Entwicklung des aktuellen Bildes sowie Art und Ausmaß der Abweichung vom Normalzustand zu erhalten. Die Fluktuationen in der Symptomatik können jedoch zu widersprüchlichen fremdanamnestischen Angaben über die Symptomatik des Patienten führen. Neben Exploration, psychiatrischer Untersuchung und Anamnese sind körperliche Untersuchung, Laboruntersuchungen sowie EEG (meist verlangsamte Hintergrundaktivität) und MRI für die Differenzialdiagnose der zugrunde liegenden Ätiologie des Delirs relevant. Das anticholinerge Delir geht aufgrund seiner spezifischen Pathogenese mit einer spezifischen Symptomatik einher.
Symptome eines anticholinergen Delirs (F05) 5 Agitiertheit und Aggressivität 5 Optische Halluzinationen 5 Mydriasis 5 Rote, trockene Haut 5 Fieber 5 Tachykardie 5 Dysarthrie 5 Harnverhalt
! Ein Delir kann lebensgefährlich sein. Neben psychiatrischer Behandlung ist eine sorgfältige organische Diagnostik und Überwachung erforderlich.
Nicht näher bezeichnete organische psychische Störung aufgrund einer Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns oder einer körperlichen Krankheit (F06.9) Wenn deutliche disruptive Symptome als organisch bedingt aufgefasst werden, können sie als nicht näher bezeichnete organische psychische Störung eingeordnet werden.
75
5
Voraussetzung für die Diagnose einer organischen psychischen Störung nach diesen beiden diagnostischen Kategorien ist der objektive Nachweis anhand körperlicher, neurologischer oder laborchemischer Untersuchungen und/oder Anamnese einer zerebralen Krankheit, Schädigung oder Funktionsstörung oder einer systemischen Krankheit in der Vorgeschichte, die bekanntermaßen eine zerebrale Funktionsstörung verursachen kann. Solche zugrunde liegenden somatischen Störungen sind u. a.: Infektionskrankheiten mit zentralnervöser Beteiligung, Schädel-Hirn-Traumata, zerebrale Tumoren, Epilepsie, endokrine und metabolische Störungen und Autoimmunprozesse mit zentralnervöser Beteiligung. Weiterhin wird ein zeitlicher Zusammenhang (Wochen bis einige Monate) zwischen der Entwicklung der zugrunde liegenden Krankheit und dem Auftreten des psychischen Syndroms gefordert. Ein deutlicherer Hinweis auf eine ätiologische Beziehung ergibt sich, wenn es nach Rückbildung oder Besserung der zugrunde liegenden vermuteten Ursache auch zu einer Besserung der psychischen Störung kommt.
76
Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung
1
Kind/Jugendlicher mit disruptiven Symptomen
2 3 4 5 6 7
ja
Störung von Bewusstsein oder Orientierung? Wahrnehmungsstörungen? Formale oder inhaltliche Denkstörungen? Gehobene Stimmung oder gesteigerter Antrieb?
Richtungsweisende pathologische Befunde: Somatisch-neurologische Untersuchung EEG, bildgebende Verfahren Labor (Drogenscreening, Toxikologie) ja
Abgrenzbarer Beginn der Symptomatik, besonderes Ereignis vorausgehend, Symptomatik ≤ 6 Monate bestehend? ja
nein
F0 Organische Störungen (auch komorbid) F1 Störungen durch psychotrope Substanzen (auch komorbid)
8
F20 Schizophrenie (Ausschluss) F30 Manische Episode (Ausschluss) F31 Bipolare affektive Störung (Ausschluss)
11 12 13 14
nein Wiederholte Handlungen ohne vernünftige Motivation, die nicht kontrolliert werden können und die Interessen der betroffenen Person oder anderer schädigen nein
ja
Qualitative Beeinträchtigung in den wechselseitigen sozialen Beziehungen und Kommunikationsmustern, eingeschränkte, stereotype Interessen und Aktivitäten?
F63 Abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle (auch komorbid) ja F84
Tiefgreifende Entwicklungsstörungen (Ausschluss)
16
ja
F95.2 Tourette-Syndrom (auch komorbid)
ja
F91, F92, F90.1, F90.8 Störungen des Sozialverhaltens (s. Abb. 2.1, 4.1)
nein Kombinierte vokale und multiple motorische Tics?
ja
F60.2 dissoziale Persönlichkeitsstörung (Ausschluss)
nein Abnormes Beziehungsmuster zu Bezugspersonen?
Bindungsstörungen (auch komorbid, dann F91.1)
18
nein Intensive negative Gefühle gegenüber einem unmittelbar jüngeren Geschwister?
ja
F94
20
nein Unvorhersehbare, launenhafte Stimmung, Ausagieren von Impulsen ohne Rücksicht auf Konsequenzen, Alter ≥16 Jahre?
ja F60.3 Emotional-instabile Persönlichkeitsstörung (auch komorbid)
15
19
Selbstinduzierte Gewichtsabnahme, Essattacken, pathologische Furcht, zu dick zu werden?
ja F50 Essstörungen (auch komorbid)
F93.3 Emotionale Störung mit Geschwisterrivalität (auch komorbid, dann F92.8)
17
nein
F43.24, F43.25 Anpassungsstörung mit vorwiegender/gemischter Störung des Sozialverhaltens (Ausschluss)
9 10
nein
nein Ausgeprägte soziale Devianz mit Affektarmut, fehlendem Schuldbewusstsein, allgemeine Kriterien einer Persönlichkeitsstörung erfüllt, Alter ≥16 Jahre? nein
Mindestens ein disruptives Symptom in erheblicher Ausprägung seit mindestens sechs Monaten nein ja Evaluation des bisherigen diagnostischen Prozesses, Einholen von weiteren diagnostischen Informationen
. Abb. 5.1. Differenzialdiagnostik bei disruptiven Symptomen. (Nach AWMF-Leitlinie »Störung des Sozialverhaltens«, Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie et al. 2003)
5.3 Differenzialdiagnose und Hierarchie des diagnostischen Vorgehens
77
Exkurs Hirntumoren als Ursache aggressiven Verhaltens Hirntumoren stellen im Kindesalter nach den Leukämien die zweitgrößte Gruppe maligner Erkrankungen dar. Ein Hirntumor kann sich durch Lokalsymptome infolge der Irritation des Hirngewebes am Tumorsitz sowie in unspezifischen Fernsymptomen äußern, die durch intrakranielle Drucksteigerung (Tumormasse, peritumorales Ödem, Liquoraufstau) entstehen. Primäre Manifestation eines Großteils der Hirntumoren im Kindesalter sind Kopfschmerzen; eines der frühesten Anzeichen eines Hirntumors kann jedoch auch eine Verhaltensänderung des betroffenen Kindes sein (van Koot 1992). Nicht selten treten Wutausbrüche und impulsiv-aggressives Verhalten auf, vor allem dann, wenn temporale und hypothalamische Regionen – welche mit aggressivem Verhalten in Zusammenhang stehen – betroffen sind (van Koot 1992; Nakaji et al. 2003; Weissenberger et al. 2001). Auch gutartige Tumoren und andere intrakranielle Raumforderungen, z. B. Abszesse, umschriebene Blutungen und Zysten, können zu erhöhter Aggressivität führen, selbst dann, wenn im MRI kein Hinweis auf einen Verdrängungseffekt oder erhöhten intrakraniellen Druck festzustellen ist, und psychiatrische Symptome mit deutlich erhöhter impulsiver Aggressivität können die einzige Manifestation sein – ohne begleitende neurologische Befunde wie zerebrale Krampfanfälle oder fokale Ausfälle (von Gontard u. Müller 1991; Nakaji et al. 2003). Die chirurgische Entfernung des Tumors kann eine kausale Therapie des disruptiven Verhaltens darstellen (Nakaji et al. 2003). Auch wenn intrakranielle Tumoren eine seltene Ursache disruptiven Verhaltens sind, sollte man zumindest bei extremer oder atypischer Ausgestaltung des aggressiven Verhaltens sowie bei zusätzlichem Vorliegen neurologischer Symptome eine MRI-Untersuchung in Betracht ziehen.
Epilepsie als Ursache aggressiven Verhaltens Eine Epilepsie kann idiopathisch, d. h. ohne eine erkennbare Ursache, auftreten oder Folge einer Enzephalitis, eines Schädel-Hirn-Traumas oder eines Gehirntumors sein. Bei den meisten Patienten mit Epilepsie besteht keine erhöhte Aggressivität, hiervon ist lediglich eine kleine Subgruppe betroffen, insbesondere bei Beteiligung temporolimbischer Regionen. Im Zusammenhang mit epileptischen Anfällen auftretendes aggressives Verhalten geht mit hohem Arousal, Angst oder Furcht einher. Während eines epileptischen Anfalls auftretendes, iktales aggressives Verhalten ist selten, und in der Regel handelt es sich dann um einfaches, stereotypes und ungezieltes aggressives Verhalten. Auch postiktal, im Anschluss an einen epileptischen Anfall, tritt äußerst selten eine konsekutive Abfolge zielgerichteter aggressiver Handlungen auf. Interiktales, also im Intervall zwischen den epileptischen Anfällen auftretendes impulsiv-aggressives Verhalten ist ein bei Patienten mit Temporallappen-Epilepsie gut bekanntes, aber dennoch selten auftretendes Phänomen; es kann auch Folge von interiktaler epileptiformer Aktivität sein. Vermehrtes impulsiv-aggressives Verhalten im Rahmen einer Epilepsie kann nicht nur direkt auf die abnorme elektrische Aktivität zurückzuführen sein, sondern auch eine unerwünschte Nebenwirkung einer antiepileptischen Therapie darstellen. So kam es vor allem bei Kindern mit Intelligenzminderung unter antiepileptischer Behandlung zu vermehrter Gereiztheit und aggressivem Verhalten (Harbord 2000). Grundsätzlich kann natürlich auch bei Patienten mit einer Epilepsie vermehrt proaktiv-aggressives Verhalten auftreten, welches dann nicht als unmittelbar organisch verursachtes Verhalten zu betrachten ist, wohl aber mit den mit einer Epilepsie einhergehenden kognitiven, emotionalen und psychosozialen Schwierigkeiten in Zusammenhang stehen kann. 6
5
78
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung
Schädel-Hirn-Trauma als Ursache aggressiven Verhaltens Als akute Folge eines Schädel-Hirn-Traumas kann es zu erhöhter Aggressivität kommen, u. a. während der posttraumatischen Bewusstseinsstörung oder im Rahmen eines Delirs. 5 Leitsymptom bei Schädel-Hirn-Traumata: – Posttraumatische Bewusstseinsstörung (aber nicht notwendigerweise Bewusstseinsverlust! der Patient kann relativ unauffällig erscheinen) 5 Weitere Symptome: – Retrograde Amnesie für die das Schädel-Hirn-Trauma bewirkende Krafteinwirkung selbst sowie einen variablen davor liegenden Zeitraum – Evtl. anterograde Amnesie – Evtl. vegetative Symptome (Blässe, Übelkeit, Erbrechen, Schwindel, Kopfschmerzen) – Bei substanziellen Hirnverletzungen: neurologische Herdzeichen – Bei schweren Schädel-Hirn-Traumata: gravierende Kreislauf- und Atemfunktionsstörungen Diagnostisch besonders problematisch sind Kinder, meist mit mittelgradigem Schädel-HirnTrauma, die zunächst relativ unbeeinträchtigt wirken, aber dann rasch infolge intrakranieller Komplikationen komatös werden und versterben können (»talk and die«). Relevante Informationen aus der Vorgeschichte: 5 Liegt ein Unfallmechanismus vor, der ein Schädel-Hirn-Trauma nahelegt? 5 Sind Spuren einer Krafteinwirkung auf den Gesichtsschädel festzustellen? 5 Kann der Patient sich an das Schädel-HirnTrauma selbst erinnern? 5 Trat eine posttraumatische Bewusstseinsstörung auf (die aber auch übersehen worden sein kann)?
! Bei Verdacht auf ein signifikantes akutes Schädel-Hirn-Trauma: Spezialisten hinzuziehen! Weiterhin kann aggressives Verhalten im Rahmen eines organischen Psychosyndroms nach Schädel-Hirn-Trauma (F07.2) auftreten (s. unten), welches 15–40% der Kinder mit einem schweren Schädel-Hirn-Trauma als Langzeitfolge entwickeln. Hierbei handelt es sich nicht um ein einheitliches Syndrom, sondern in Abhängigkeit von unterschiedlich schweren Läsionen in unterschiedlichen Hirnregionen können sich unterschiedliche Symptome manifestieren (McAllister u. Arciniegas 2002). Bei einem geschlossenen Schädel-Hirn-Trauma sind häufig vor allem frontale und temporale Regionen betroffen, so dass es neben kognitiven Beeinträchtigungen (u. a. von Verarbeitungsgeschwindigkeit, Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Problemlösen) zu ausgeprägter Impulsivität, affektiver Labilität und Irritabilität sowie impulsiver Aggressivität bei geringfügigen Anlässen kommen kann (McAllister 1992; Max et al. 2001). Bereits geringe fokale neurologische Symptome können auf eine substanzielle Hirnschädigung mit oft massiven neuropsychologischen Defiziten hinweisen. Auch ein leichtes bis mäßig ausgeprägtes Schädel-Hirn-Trauma, das in der Regel nicht zu einem anhaltenden organischen Psychosyndrom führt, kann vorübergehend deutliche Beeinträchtigungen der Impulskontrolle verursachen oder prämorbid bestehende Beeinträchtigungen noch verstärken. Für den Verlauf sind auch psychosoziale Faktoren von großer Bedeutung (Max et al. 1998), in Wechselwirkung mit den durch organische Faktoren bedingten Schwierigkeiten. So zeigte sich bei Kindern nach einem Schädel-HirnTrauma eine Zunahme aggressiven Verhaltens erst im Zusammenhang mit erhöhten schulischen Anforderungen (Feeney u. Ylvisaker 2003).
5.3 Differenzialdiagnose und Hierarchie des diagnostischen Vorgehens
Organische Persönlichkeitsstörung (F07.0) Eine organische Persönlichkeitsstörung ist dadurch gekennzeichnet, dass über einen mehrmonatigen Zeitraum eine auffällige Veränderung verglichen mit dem prämorbiden Verhalten besteht. Das Verhalten der Patienten wird in hohem Maße von ihren aktuellen Bedürfnissen und Impulsen gesteuert, ohne Berücksichtigung von Konsequenzen des Verhaltens oder sozialen Konventionen. Weiterhin sind affektive Veränderungen in Form von emotionaler Labilität, Reizbarkeit und Wutausbrüchen, aber auch Apathie oder gehobene Stimmung sowie kognitive Veränderungen mit eingeschränkter Planungs- und Konzentrationsfähigkeit zu beobachten. Eine organische Persönlichkeitsstörung kann sich also u. a. als enthemmtes, aggressives und dissoziales Bild darstellen, weiterhin auch mit eingeschränkter Ausdauer einhergehen, die zur Verwechslung mit einem Konzentrationsdefizit im Rahmen einer ADHS Anlass geben kann. Postenzephalitisches Syndrom (F07.1) Das postenzephalitische Syndrom stellt eine länger anhaltende Verhaltensänderung nach einer viralen oder bakteriellen Enzephalitis dar. Die Symptome sind unspezifisch und können, je nach Alter und Entwicklungsstand des Betroffenen, interindividuell unterschiedlich sein und – auch in Abhängigkeit vom jeweiligen Erreger der Enzephalitis – unterschiedlich verlaufen. Der Hauptunterschied zur organischen Persönlichkeitsstörung besteht darin, dass die Symptomatik oft teilweise oder vollständig reversibel ist und selten länger als 24 Monate andauert. Kennzeichnend ist das Auftreten mindestens eines der folgenden residualen neurologischen Symptome: Lähmung, Taubheit, Aphasie, konstruktive Apraxie oder Akalkulie. Auch hier können erhöhte Reizbarkeit mit aggressivem Verhalten und kognitive Defizite Anlass zur Verwechslung mit einer (hyperkinetischen) Störung des Sozialverhaltens geben.
79
5
Organisches Psychosyndrom nach SchädelHirn-Trauma (F07.2) Ein organisches Psychosyndrom nach SchädelHirn-Trauma, welches gewöhnlich so schwer war, dass es zur Bewusstlosigkeit führte, kann sich neben vegetativen Symptomen (Erschöpftheit, Kopfschmerzen, Schwindel) und kognitiven Symptomen (Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, kognitive Verlangsamung) auch in emotionalen Symptomen (Ängstlichkeit, depressive Verstimmung, Reizbarkeit, aggressive Ausbrüche) äußern. Der objektive Nachweis für eine Gehirnschädigung anhand eines EEG oder mit bildgebenden Verfahren kann fehlen, entscheidend ist die Anamnese eines Schädel-HirnTraumas mit Bewusstlosigkeit im Zeitraum von bis zu 4 Wochen vor Beginn der Symptomatik. Die emotionalen Symptome können bei reizbarer und aggressiver Tönung an eine Störung des Sozialverhaltens denken lassen. Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen (F1) Wenn bei Jugendlichen, welche die diagnostischen Kriterien für eine solche Störung durch psychotrope Substanzen (F1) erfüllen, auch signifikante Symptome einer Störung des Sozialverhaltens auftreten, liegt meist Komorbidität beider Störungen vor (7 4.3). Dass Symptome einer Störung des Sozialverhaltens ausschließlich im Rahmen eines Substanzkonsums – z. B. als Beschaffungskriminalität bei Abhängigkeit von illegalen Drogen oder als wiederkehrendes aggressives Verhalten unter Alkoholintoxikation – zu beobachten sind, ist selten. Akutes aggressives Verhalten durch psychotrope Substanzen Die Symptome einer Intoxikation mit psychotropen Substanzen (F1x.0) sind nicht eindeutig vorherzusagen; für das x ist die jeweils relevante psychotrope Substanz einzusetzen. So können dämpfende Substanzen agitiertes, enthemmtes und aggressives Verhalten hervorrufen, während Stimulanzien zu sozialem Rückzug und intro-
80
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung
vertiertem Verhalten führen können. Bei Halluzinogenen können die Wirkungen besonders unvorhersehbar sein. Alkohol wirkt in niedriger Dosierung eher anregend, in höherer Dosierung können Aggressivität und Erregungszustände auftreten, bei sehr hohen Blutspiegeln Sedierung und Bewusstseinsstörung bis hin zum Koma. Auch der Konsum von Amphetaminen, Kokain, Halluzinogenen, organischen Lösungsmitteln und Pflanzenalkaloiden kann zu sehr aggressivem Verhalten führen. Immer muss auch die Möglichkeit einer Mischintoxikation berücksichtigt werden, deren Wirkungen besonders unberechenbar sind. Im Rahmen einer akuten Intoxikation kann es auch zu einem Delir (F1x.03) kommen, z. B. als anticholinerges Delir durch Ingestion von Pflanzenalkaloiden (F19.03). Weniger bedeutsam ist im Jugendalter das Entzugssyndrom mit Delir (F1x.4), welches z. B. bei Alkohol- oder Benzodiazepinentzug auftreten kann. Erhebliches aggressives Verhalten kann im Rahmen einer substanzinduzierten psychotischen Störung (F1x.5) auftreten. Diesbezüglich relevante Substanzen sind Cannabis, Amphetamine, LSD, Ecstasy, Alkohol, psychotrope Alkaloide, organische Lösungsmittel, Alkohol und Kokain; insbesondere bei multiplem Substanzkonsum ist die Gefahr einer psychotischen Störung erhöht. Weiterhin kann es, z. B. nach chronischem Abusus von organischen Lösungsmitteln, zu einer durch psychotrope Substanzen induzierten Persönlichkeits- oder Verhaltensstörung (F1x.71) mit erhöhter Aggressivität kommen. Schizophrenie (F20) Die Diagnose einer Schizophrenie schließt nach der ICD-10 die gleichzeitige Diagnosestellung einer Störung des Sozialverhaltens aus (7 2.5). Drogeninduzierte psychotische Bilder sind unter F1x.5 zu kodieren. Aggressives Verhalten im Rahmen einer schizophrenen Störung kann u. a. wahnhaft oder durch Halluzinationen motiviert sein.
Manische Episode (F30) und bipolare affektive Störung (F31) Diese Diagnosen schließen nach der ICD-10 die gleichzeitige Diagnosestellung einer Störung des Sozialverhaltens aus (7 2.5). Die im Rahmen einer manischen Episode auftretenden Symptome von Ablenkbarkeit, Gefühl von Gedankenrasen, Verlust normaler sozialer Hemmungen, leichtsinnigem Verhalten ohne Gefahrenbewusstsein, motorischer Unruhe und Gesprächigkeit, vermindertem Schlafbedürfnis und Gereiztheit lassen sich auch im Rahmen einer ADHS erklären, sind jedoch bei einer klassischen Manie aufgrund des episodischen Verlaufes gut davon abgrenzbar. Bei jüngeren Kindern ergeben sich hier jedoch differenzialdiagnostische Schwierigkeiten, und gerade bei Kindern mit ausgeprägter affektiver Instabilität, Irritabilität und Aggressivität wird im US-amerikanischen Raum nicht selten eine bipolare Störung diagnostiziert. Begründet wird dieses u. a. damit, dass eine bipolare Störung mit Beginn im Kindesalter sehr selten einen klassischen episodischen Verlauf zeige, wie er bei erwachsenen Patienten zu sehen ist, sondern subkontinuierlich und unregelmäßig verlaufe, wobei das klinische Bild von Irritabilität, Dysphorie, Wutausbrüchen, Feindseligkeit und Aggressivität gekennzeichnet sei. Dagegen hat die Diagnose einer bipolaren Störung im Kindesalter im Verbreitungsbereich der ICD-10 Seltenheitswert. Diese Frage ist jedoch keineswegs akademisch, denn die klinische Erfahrung zeigt, dass bei einem Teil der Kinder mit dem beschriebenen klinischen Bild tatsächlich die Gabe eines stimmungsstabilisierenden Medikamentes (z. B. Valproat, Lithium) für eine suffiziente Behandlung notwendig sein kann. Depressive Episoden (F32), rezidivierende depressive Störung (F33) und Dysthymia (F34.1) Wenn neben den diagnostischen Kriterien für eine Störung des Sozialverhaltens auch die diagnostischen Kriterien für eine depressive Stö-
5.3 Differenzialdiagnose und Hierarchie des diagnostischen Vorgehens
rung aus dem Kapitel F3 erfüllt sind, dann ist die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung (F92.0) zu stellen (7 2.4). Hierbei ist zu bedenken, dass insbesondere Eltern, aber unter Umständen auch Kinder und Jugendliche selbst, zu einer Aggravierung der depressiven Symptomatik und einer Dissimulation aggressiv-dissozialen Verhaltens neigen. Selbst wenn eine Störung des Sozialverhaltens zeitlich nach einer depressiven Störung aufgetreten ist, kann nicht vorausgesetzt werden, dass eine effektive Behandlung der depressiven Störung zu einer Remission der Störung des Sozialverhaltens führt. Hierbei ist u. a. relevant, wie lang die Störung des Sozialverhaltens bereits besteht und in welchem Maß für die disruptiven Verhaltensweisen aktuelle aufrechterhaltende Faktoren unabhängig von der depressiven Störung vorliegen. Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen (F4) und emotionale Störungen des Kindesalters (F93) Wenn neben den diagnostischen Kriterien für eine Störung des Sozialverhaltens auch die diagnostischen Kriterien für eine Störung aus den Kapiteln F4 oder F93 erfüllt sind, dann ist laut ICD-10 eine sonstige kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (F92.8) zu diagnostizieren (7 2.4). Hier stellt sich jedoch die Frage, ob nicht die separate Aufnahme spezifischer Störungen aus diesen Kategorien, wie z. B. Panikstörung, Zwangsstörung oder posttraumatische Belastungsstörung, in die multiaxiale Diagnose des betroffenen Patienten sinnvoll wäre. Vor allem im häuslichen Rahmen auftretende Zwangshandlungen (F42.1), die mit aggressivem Verhalten einhergehen können, wenn der Patient an deren Durchführung gehindert wird, können Anlass zur Verwechslung mit einer auf den häuslichen Rahmen beschränkten Störung des Sozialverhaltens geben. Auch im Rahmen einer posttraumatischen Belastungsstörung (F43.1) können Reizbarkeit und Wutausbrüche auftre-
81
5
ten; typisches Kennzeichen ist jedoch das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen oder Albträumen. Wenn nach einem belastenden Lebensereignis vorwiegend bzw. unter anderem Symptome einer Störung des Sozialverhaltens auftreten, die nicht länger als 6 Monate andauern, ist die Diagnose einer Anpassungsstörung mit vorwiegender Störung des Sozialverhaltens (F43.24) bzw. einer Anpassungsstörung mit gemischter Störung von Gefühlen und Sozialverhalten (F43.25) zu stellen.
Dagegen sollte für die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens die Symptomatik mindestens 6 Monate lang bestanden haben (7 2.5). Essstörungen (F50) Das Stehlen von Nahrungsmitteln im Rahmen einer Essstörung (z. B. Heißhungerattacken bei Bulimia nervosa) sollte nicht als Störung des Sozialverhaltens klassifiziert werden, wenn sonstige dissoziale oder aggressive Handlungen fehlen. Gleichwohl kann eine Störung des Sozialverhaltens komorbid mit einer Bulimie auftreten (7 4.3), seltener mit einer Anorexie. Nichtorganische Schlafstörungen (F51) Eine Schlafstörung kann als komorbide Störung zu einer Störung des Sozialverhaltens relevant sein (7 4.3). Dissoziale Persönlichkeitsstörung (F60.2) Die Diagnose einer dissozialen Persönlichkeitsstörung schließt nach der ICD-10 die gleichzeitige Diagnosestellung einer Störung des Sozialverhaltens aus (7 2.5). Emotional-instabile Persönlichkeitsstörung (F60.3) Im Einzelfall können erhebliche Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen einer (hyperkinetischen) Störung des Sozialverhaltens mit ausgeprägter impulsiver Aggressivität und einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typus (F60.30) auftreten, für deren
Diagnose nach den ICD-10-Forschungskriterien
82
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung
mindestens drei der folgenden Merkmale erfüllt sein müssen: 5 Deutliche Tendenz, unerwartet und ohne Berücksichtigung der Konsequenzen zu handeln 5 Deutliche Tendenz zu Streitereien und Konflikten mit anderen, vor allem dann, wenn impulsive Handlungen unterbunden oder kritisiert werden 5 Neigung zu Ausbrüchen von Wut oder Gewalt mit Unfähigkeit zur Kontrolle explosiven Verhaltens 5 Schwierigkeiten in der Beibehaltung von Handlungen, die nicht unmittelbar belohnt werden 5 Unbeständige und unberechenbare Stimmung. Eine Störung des Sozialverhaltens geht – unabhängig von einer komorbiden ADHS – häufig mit erhöhter Impulsivität und reaktiv-impulsiver Aggressivität einher. Auch Schwierigkeiten bei der Beibehaltung nicht unmittelbar belohnter Handlungen und affektive Instabilität lassen sich zwanglos im Rahmen einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung erklären. Generell sollte die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung im Jugendalter aufgrund der noch deutlichen Entwicklungsabhängigkeit des Verhaltens zurückhaltend gestellt werden, frühestens ab dem Alter von 16 Jahren. Zur diagnostischen Abgrenzung können Informationen über die Entwicklung des Störungsbildes insbesondere im Vorschul- und frühen Schulalter herangezogen werden. Auch wenn eine Persönlichkeitsstörung selbstverständlich nicht plötzlich im Alter von 16 oder 17 Jahren auftritt, sondern bereits im jüngeren Lebensalter Vorläufersymptome – über die leider wenig empirisch gesichertes Wissen vorliegt – bestanden haben müssen, so ist doch für die Diagnose einer ADHS Voraussetzung, dass die Symptomatik sich spätestens bis zum 6. Lebensjahr manifestiert hat. Die Response auf eine Behandlung mit Stimulanzien läßt sich nicht zur diagnostischen Abgrenzung
heranziehen, da hierdurch auch impulsives Verhalten, welches nicht im Rahmen einer ADHS auftritt, vermindert wird. Die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens als komorbide Störung bei einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typus erscheint dann gerechtfertigt, wenn neben impulsivaggressiven Handlungen auch ein Muster von geplanten, proaktiv-aggressiven oder dissozialen Handlungen festzustellen ist. Die Diagnose einer dissozialen Persönlichkeitsstörung, die in stärkerem Maße als eine Störung des Sozialverhaltens charakterologische Abweichungen im Sinne von Gefühlskälte, Egozentrik und mangelnder Gewissensbildung betont, schließt die Diagnose einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung aus. Für die Diagnose einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus
(F60.31) müssen, zusätzlich zu den Kriterien einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typus, zwei weitere spezifische Kriterien erfüllt sein, wodurch in der Regel die Abgrenzung von einer Störung des Sozialverhaltens gut gelingt: 5 Störungen und Unsicherheit bezüglich Selbstbild, Zielen und innerer (einschließlich sexueller) Präferenzen 5 Neigung, sich auf intensive, aber instabile Beziehungen einzulassen, oft mit der Folge von emotionalen Krisen 5 Übertriebene Bemühungen, Verlassenwerden zu vermeiden 5 Wiederholte Drohungen oder Handlungen mit Selbstbeschädigung (selbstverletzendes Verhalten, parasuizidale oder suizidale Handlungen) 5 Anhaltendes Gefühl von innerer Leere. Abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle (F63) Mit der Diagnose pathologisches Glücksspiel (F63.0) wird die Unfähigkeit bezeichnet, dem Impuls zum Glücksspiel zu widerstehen, obwohl schwerwiegende Konsequenzen drohen oder
5.3 Differenzialdiagnose und Hierarchie des diagnostischen Vorgehens
bereits eingetreten sind, sowie die ständige gedankliche Beschäftigung mit dem Glücksspiel. Falls delinquente Handlungen ausschließlich in diesem Rahmen durchgeführt werden – z. B. Diebstähle zur Finanzierung des Glücksspiels –, wird hierdurch die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens nicht gerechtfertigt. Umgekehrt kann Glücksspiel auch im Rahmen einer Störung des Sozialverhaltens beobachtet werden, die im Jugendalter sehr viel häufiger als das pathologische Spielen auftritt. Für die Differenzialdiagnose ist zum einen der für das pathologische Spielen typische Kontrollverlust relevant, zum anderen, ob – neben eventuellen delinquenten Handlungen zur Finanzierung des Glücksspiels – andere dissoziale oder aggressive Handlungen auftreten, die dann die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens nahelegen würden. Das Störungsbild der pathologischen Brandstiftung (F63.1) ist gekennzeichnet durch mehrere Episoden – anscheinend unmotivierter – versuchter oder vollendeter Brandstiftung an Häusern oder anderen Objekten sowie eine intensive Beschäftigung mit allem, was mit Feuer und Bränden in Zusammenhang steht. Die Motivation für die Brandstiftung liegt in der Beobachtung des Brandes selbst; berichtet werden Gefühle wachsender Spannung vor der Handlung und starke Erregung, Vergnügen, Befriedigung oder Entspannung während oder sofort nach ihrer Ausführung. Andere Motive wie materieller Gewinn, Rache, politischer Extremismus oder Verdecken von Spuren einer Straftat sind nicht erkennbar oder nicht relevant. Die Störung ist bei Männern – oft mit geringen sozialen Fertigkeiten und schulischem Leistungsversagen in der Vorgeschichte – häufiger als bei Frauen. Die Diagnose wird nicht gestellt, wenn das Feuerlegen im Rahmen einer Störung des Sozialverhaltens, einer manischen Episode oder als Reaktion auf Wahnphänomene oder Halluzinationen (z. B. bei Schizophrenie) auftritt oder auf vermindertes Urteilsvermögen (z. B. bei geistiger Behinderung, tiefgreifender Entwicklungsstörung) zurückzuführen ist. Zwischen entwick-
83
5
lungsbedingtem Experimentieren mit Feuer sowie unbeabsichtigter Brandstiftung, Brandstiftung im Rahmen einer Störung des Sozialverhaltens und pathologischer Brandstiftung sind die Übergänge im Kindes- und Jugendalter fließend, und meistens tritt Brandstiftung im Rahmen einer Störung des Sozialverhaltens auf. Pyromanie scheint im Kindesalter selten vorzukommen; es gibt jedoch vereinzelt Jugendliche, die tatsächlich die typischen diagnostischen Kriterien einer Impulskontrollstörung erfüllen, nämlich ausgeprägtes Interesse und häufige Beschäftigung mit Feuer und damit assoziierten Gegenständen und Handlungen sowie steigende Spannung vor der Handlung und Spannungsabfall nach der Handlung. Sofern andere dissoziale Verhaltensweisen oder aggressive Verhaltensweisen fehlen, ist auch im Jugendalter die Diagnose der Pyromanie oder pathologischen Brandstiftung zu stellen. Nach der ICD-10 ist pathologisches Stehlen (Kleptomanie, F63.2) charakterisiert durch häufiges Nachgeben gegenüber dem Impuls, Dinge zu stehlen, die nicht zum persönlichen Gebrauch oder aufgrund ihres Geldwertes benötigt werden. Die Gegenstände werden häufig weggeworfen oder verschenkt, manchmal auch gehortet oder heimlich zurückgegeben. Wie bei anderen Impulskontrollstörungen beschreiben die Betroffenen gewöhnlich steigende Spannung vor der Tat und Vergnügen, Befriedigung oder Entspannung während und sofort nach der Tat. Die Diebstähle – in Geschäften oder an anderen Orten – werden allein und gewöhnlich ohne Vorausplanung durchgeführt. Der Impuls zum Stehlen wird oft als Ich-dyston, falsch und sinnlos erlebt, und zwischen den einzelnen Diebstählen können Angst und Schuldgefühle auftreten, was jedoch erneutes Stehlen nicht verhindert. Hierbei handelt es sich um eine eher seltene Störung. Vom pathologischen Stehlen abzugrenzen sind die weitaus häufigeren Fälle, bei denen der persönliche Nutzen der Diebstähle offensichtlich ist und die Diebstahlshandlungen sorgfältiger geplant sind. Insbesondere Jugendliche stehlen gelegentlich auch als Mutprobe oder »Initi-
84
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung
ationsritual«. Pathologisches Stehlen darf ebenfalls nicht diagnostiziert werden, wenn die Diebstähle als Ausdruck von Wut oder Rache oder als Reaktion auf Wahnphänomene oder Halluzinationen begangen werden oder besser durch eine Störung des Sozialverhaltens oder eine manische Episode erklärt werden können. Diese Störung tritt überwiegend beim weiblichen Geschlecht auf. Die Störung mit intermittierend auftretender explosiver Reizbarkeit (»intermittent explosive disorder« 312.34 nach DSM-IV), die nach der ICD-10 unter Sonstige abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle (F63.8) subsumiert wird, ist eine eher unscharfe diagnostische Kategorie mit folgenden Kriterien: 5 Auftreten von mehreren umschriebenen Episoden aggressiver Impulsdurchbrüche, die zu schweren Gewalttätigkeiten oder Zerstörung von Eigentum führen 5 Das Ausmaß an Aggressivität während dieser Episoden steht in erheblichem Missverhältnis zu irgendeinem auslösenden psychosozialen Belastungsfaktor 5 Wenn die aggressiven Episoden besser im Rahmen einer anderen psychischen Störung erklärbar sind oder auf die direkte körperliche Wirkung einer Substanz (z. B. Alkohol/Drogenintoxikation oder -entzug, Medikamente) oder auf organische Störungen (z. B. Schädel-Hirn-Trauma) zurückzuführen sind, soll die Diagnose einer Störung mit intermittierend auftretender explosiver Reizbarkeit nicht gestellt werden. Unspezifische Abweichungen in der neurologischen Untersuchung (»soft signs«) oder im EEG sind mit der Diagnose vereinbar. Zwischen den Episoden mit explosiver Reizbarkeit können Zeichen allgemeiner Impulsivität oder Aggressivität vorhanden sein. Das Alter bei Beginn der Störung scheint zwischen der späten Adoleszenz und dem 3. Lebensjahrzehnt zu liegen und tritt häufiger beim männlichen Geschlecht auf. Die Störung kann zu Schulver-
weis oder Verlust des Ausbildungs- oder Arbeitsplatzes, erheblicher Belastung zwischenmenschlicher Beziehungen, Unfällen, Hospitalisierung (z. B. wegen Verletzungen durch Kämpfe oder Unfälle) oder Freiheitsentzug führen. Tiefgreifende Entwicklungsstörungen (F84) Die Diagnose einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung schließt nach der ICD-10 die Diagnosestellung einer Störung des Sozialverhaltens aus (7 2.5). Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90.0) Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen treten oft komorbid zu Störungen des Sozialverhaltens auf, wobei dann die Kombinationsdiagnose einer hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens (F90.1) zu stellen ist (7 2.4). Bei der Frage der Differenzialdiagnose zwischen einer einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitskeitsstörung (F90.0) und einer hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens (F90.1) ist zu bedenken, dass auch Kinder mit ADHS ohne komorbide Störung des Sozialverhaltens aufgrund ihres unachtsamen und ungesteuerten Verhaltens Regeln verletzen und mit ihrer Umgebung in Konflikt geraten, so dass ein gewisses Ausmaß disruptiven Verhaltens noch mit der Diagnose einer einfachen Aktivitätsund Aufmerksamkeitsstörung vereinbar ist. Emotionale Störung mit Geschwisterrivalität (F93.3) Die Symptomatik einer emotionalen Störung mit Geschwisterrivalität kann nicht nur komorbid zu einer Störung des Sozialverhaltens auftreten, sondern auch mit einer auf den familiären Rahmen beschränkten Störung des Sozialverhaltens (F91.0) oder einer kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (F92) verwechselt werden. Viele jüngere Kinder zeigen während der Monate nach der Geburt eines unmittelbar nachfolgenden Geschwisterkindes ein gewisses
5.3 Differenzialdiagnose und Hierarchie des diagnostischen Vorgehens
85
5
Ausmaß an emotionalen Auffälligkeiten. Diese sind meist nur gering ausgeprägt und vorübergehend, manchmal kann jedoch die nach der Geburt des jüngeren Geschwisters entstandene Rivalität und Eifersucht auffällig ausgeprägt sein und lang anhalten. Das Konkurrieren mit dem Geschwisterkind um die Aufmerksamkeit und Zuneigung der Eltern sollte nur dann als abnorm bewertet werden, wenn es mit besonders negativen Gefühlen verbunden ist. Hartnäckige Weigerung zu teilen, Mangel an positiver Beachtung und freundlicher Zuwendung, aber auch offene Feindseligkeit, körperliches Verletzen, Böswilligkeit oder Hintergehen des Geschwisters können auftreten. Gewöhnlich nehmen oppositionelles oder konfrontatives Verhalten gegenüber den Eltern zu, aber neben Wutausbrüchen kommt es auch zu Verstimmungszuständen in Form von Angst, Unglücklichsein oder sozialem Rückzug. Darüber hinaus ist oft eine gewisse Regression mit Verlust bereits erworbener Fertigkeiten (z. B. Blasen- oder Darmkontrolle) und einer Tendenz zu babyhaftem Verhalten zu beobachten. So möchte das Kind das Baby in Aktivitäten, welche die elterliche Aufmerksamkeit beanspruchen, z. B. gefüttert werden, nachahmen. Der Schlaf kann gestört sein, und häufig besteht ein verstärktes Bedürfnis nach elterlicher Aufmerksamkeit, etwa beim Zubettgehen. Die Abgrenzung gegenüber einer auf den familiären Rahmen beschränkten Störung des Sozialverhaltens (F91.0) oder einer kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (F92) ergibt sich aus dem kausalen Zusammenhang mit der Geburt eines Geschwisterkindes, der sich in der zeitlichen Nähe zur Geburt sowie in den spezifischen Inhalten des abweichenden Verhaltens widerspiegelt. Bei einem Persistieren des Problematik kann sich hieraus jedoch eine auf den familiären Rahmen beschränkte Störung des Sozialverhaltens entwickeln.
tet das oppositionelle Verhalten eines mutistischen Patienten deutlich das bei dieser Störung üblicherweise zu beobachtende Ausmaß, kann erwogen werden, zusätzlich die Diagnose einer oppositionellen Störung zu stellen.
Elektiver Mutismus (F94.0) Im Rahmen eines elektiven Mutismus tritt häufig auch oppositionelles Verhalten auf. Überschrei-
kombinierten vokalen und multiplen motorischen Tics (Tourette-Syndrom, F95.2) werden
Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters (F94.1) Hauptmerkmal einer reaktiven Bindungsstörung des Kindesalters ist ein abnormes Beziehungsmuster zu Betreuungspersonen, mit deutlich widersprüchlichen oder ambivalenten sozialen Reaktionen in verschiedenen Situationen, das sich vor dem Alter von 5 Jahren entwickelt hat. Weiterhin liegt eine emotionale Störung mit einem Verlust emotionaler Ansprechbarkeit, sozialem Rückzug, aggressiven Reaktionen und/ oder ängstlicher Überempfindlichkeit vor. Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung (F94.2) Die Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung ist von einem diffusen, nichtselektiven Bindungsverhalten bzw. einem relativen Fehlen selektiver sozialer Bindungen gekennzeichnet. Ab dem Kleinkindalter ist aufmerksamkeitssuchendes Verhalten zu beobachten, welches sich auch als disruptives Verhalten manifestieren kann. Wenn eine Bindungsstörung komorbid zu einer Störung des Sozialverhaltens auftritt, ist die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen (F91.2) zu stellen (7 4.1). Ticstörungen (F95) Eine vorübergehende Ticstörung (F95.0) oder eine chronische motorische oder vokale Ticstörung (F95.1) tritt vor allem bei Vorliegen einer hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens als komorbide Störung auf (7 4.3). Bei etwa einem Viertel der Patienten mit
plötzlich auftretende Wut und explosives aggres-
86
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung
sives Verhalten als signifikante klinische Probleme benannt, vor allem bei komorbider ADHS oder Zwangsstörung (Budman et al. 1998; Stephens u. Sandor 1999). Tourette-Patienten ohne komorbide ADHS zeigen dagegen kein höheres Ausmaß an disruptivem Verhalten als unauffällige Kinder (Sukhodolsky et al. 2003). Es besteht jedoch in der Literatur kein Konsens darüber, ob bei diesen Patienten »übliches« oppositionelles oder aggressives Verhalten vorliegt, das ja auch bei Patienten mit einer Störung des Sozialverhaltens ohne Tourette-Syndrom sehr impulsiv und unkontrollierbar wirken kann, oder ob das beschriebene Verhalten Tourette-spezifische Kennzeichen aufweist und möglicherweise eher im Sinne einer Impulskontrollstörung interpretiert werden muss. Koprolalie, das dranghafte Ausstoßen obszöner Worte, tritt im Kindesalter bei etwa 10% der Patienten auf (Goldenberg et al. 1994), während Kopropraxie, das dranghafte Ausführen obszöner Gesten, seltener zu beobachten ist. Im Rahmen eines Tourette-Syndroms kann auch nichtobszönes sozial unangemessenes Verhalten, u. a. Beleidigen von anderen Menschen, häufig eines Familienmitgliedes oder einer vertrauten Person, zu Hause oder in einer vertrauten Umgebung auftreten. Dieses wird von den Patienten als dranghaftes Verhalten beschrieben, welches sie zu unterdrücken versuchen (Kurlan et al. 1996). Je stärker das disruptive Verhalten als eingebettet in die Ticstörung erscheint, desto weniger ist die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens gerechtfertigt. Andererseits kann auch eine Störung des Sozialverhaltens, insbesondere beim Vorliegen dissozialer Verhaltensweisen und proaktiv-aggressiven Verhaltens, unabhängig von einem Tourette-Syndrom auftreten. Nichtorganische Enuresis (F98.0) und nichtorganische Enkopresis (F98.1) Sowohl die nichtorganische Enuresis als auch die nichtorganische Enkopresis können komorbid zu einer Störung des Sozialverhaltens auftreten (7 4.3).
Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität (F98.8) Auch eine Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität, die komorbid zu einer Störung des Sozialverhaltens auftritt (7 2.4), ist bei der Behandlungsplanung zu berücksichtigen. Hier wird dann jedoch nicht die Kombinationsdiagnose F90.1 gestellt, sondern die beiden Störungen werden separat kodiert.
6 Was zu tun ist: Interventionen 6.1
Auswahl des Interventionssettings
– 88
6.2
Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4 6.2.5 6.2.6
Krankheitsstadienbezogene Komponenten – 91 Psychoedukative Maßnahmen und Psychotherapie – 94 Schulbezogene Interventionen – 103 Therapieprogramme – 105 Pharmakotherapie – 107 Komorbiditätsbezogene Komponenten – 130
6.3
Besonderheiten bei ambulanter Behandlung – 132
6.4
Besonderheiten bei teilstationärer Behandlung
6.5
Besonderheiten bei stationärer Behandlung
6.6
Jugendhilfe und Rehabilitationsmaßnahmen
6.7
Entbehrliche Therapiemaßnahmen – 157
– 90
– 136
– 136 – 149
1 2 3 4 5
88
Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
6.1
Auswahl des Interventionssettings
Eine Störung des Sozialverhaltens hat nicht nur für Dritte, sondern auch für die Entwicklung des betroffenen Kindes oder Jugendlichen selbst negative Konsequenzen, so dass bei Diagnose einer solchen Störung auch geeignete Interventionen durchgeführt werden sollten.
6
Wesentlich für die Auswahl des Interventionssettings ist zunächst die Klärung der Frage, ob eine akute Eigen- und/oder Fremdgefährdung besteht (. Abb. 6.1). Wenn bei Vorliegen einer akuten Eigen- und/oder Fremdgefährdung ein überwiegend akut-psychiatrischer Interventionsbedarf gegeben ist, wenn also die Gefährdung auf einer psychiatrischen Störung beruht oder zumindest ein dahingehender Verdacht besteht, ist eine stationäre kinder– bzw. jugend-
Leitsymptom(e) gesichert für Diagnose »Störung des Sozialverhaltens« (mit Schweregrad und Dauer)
7 8
Akute Eigen- und/oder Fremdgefährdung?
9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
nein
ja
Komorbide psychische Störung mit psychiatrischem Interventionsbedarf? ja Ambulante, teil- oder vollstationäre kinder-/jugendpsychiatrische Behandlung
nein
Psychische Störung mit psychiatrischem Interventionsbedarf?
nein
Ambulante pädagogische Maßnahmen (z.B. Erziehungsberatungsstelle)
Jugendamt (evtl. Polizei, Jugendgerichtsbarkeit)
ja Stationäre kinder-/ jugendpsychiatrische Krisenintervention
Wenn signifikanter Drogenkonsum: Ambulante, teil- oder vollstationäre Einrichtung der Suchthilfe
Rat, das Jugendamt hinzuzuziehen
Hilfen zur Erziehung (ambulant, teilstationär, vollstationär) . Abb. 6.1. Auswahl des Interventionssettings bei Störungen des Sozialverhaltens. (Nach AWMF-Leitlinie »Störung des Sozialverhaltens«, Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2003)
6.1 Auswahl des Interventionssettings
psychiatrische Krisenintervention angezeigt. Wenn jedoch ein überwiegend psychosozialer oder pädagogischer Interventionsbedarf vorliegt, wenn Eigen- und/oder Fremdgefährdung eines Jugendlichen beispielsweise eine unmittelbare Folge seiner momentanen psychosozialen Situation darstellen und hier schon allein durch Herausnahme des Jugendlichen aus seinem aktuellen Setting Abhilfe geschaffen werden kann, stellt aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht die Aufnahme in einer vollstationären Einrichtung der Jugendhilfe (z. B. Kinder- und Jugendnotdienst, Notaufnahmeplätze eines Kinderheimes, Bereitschaftsgruppe, Bereitschaftspflegestelle) eine geeignete Krisenintervention dar. Bei Gewaltdelinquenz ohne akuten psychiatrischen Interventionsbedarf sind bei strafmündigen Jugendlichen auch Polizei sowie Jugendgerichtsbarkeit zuständige Instanzen. Hierbei kommt es stets auf den aktuell bestehenden Interventionsbedarf an: Selbstverständlich kann dann, wenn in einer konkreten Situation der psychosozial-pädagogische Interventionsbedarf überwiegt, der betroffene Minderjährige eine psychische Störung haben, umgekehrt spielen bei kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlungen auch pädagogische Interventionen eine Rolle, und zu unterschiedlichen Zeitpunkten kann ein unterschiedlicher Interventionsbedarf bestehen. Kinder oder Jugendliche mit einer Störung des Sozialverhaltens ohne eine komorbide psychische Erkrankung mit psychiatrischem Interventionsbedarf, deren abweichendes Verhalten oft mit ihrer altersspezifischen Orientierung zusammenhängt, benötigen keine kinder- bzw. jugendpsychiatrische Behandlung. Hier kommen – in Abhängigkeit vom Schweregrad der Störung des Sozialverhaltens bzw. vom Funktionsniveau (Achse VI des MAS; 7 5.2) des Kindes oder Jugendlichen, also seiner Fähigkeit zur Bewältigung alterstypischer Entwicklungsaufgaben – bei einer wenig ausgeprägten Problematik ambulante pädagogische Maßnahmen (z. B. Erziehungsberatung) in Betracht. Bei einer deut-
89
6
licheren Problematik sollte Eltern geraten werden, sich für geeignete Hilfen zur Erziehung an das Jugendamt zu wenden. Auch für Jugendliche mit sporadischem Probierkonsum von sog. »weichen Drogen« ohne psychiatrische Störung ist keine jugendpsychiatrische Behandlung, sondern eine Beratung in Beratungskontexten der Sucht- oder Jugendhilfe indiziert. Wenn dagegen ein deutlicher Substanzmissbrauch besteht, kann für Entgiftung und/oder Entwöhnung ein spezialisiertes Behandlungssetting erforderlich sein. Die Durchführung einer Entgiftung ist in der Regel nur dann sinnvoll, wenn ein Therapieplatz – der u. a. über Drogenberatungsstellen vermittelt wird – für eine daran anschließende Entwöhnungsbehandlung zur Verfügung steht. Das Behandlungssetting sollte dem Entwicklungsniveau des Patienten entsprechen; eine Behandlung in einem Setting für Erwachsene ist meist weniger sinnvoll. Wenn bei Vorliegen einer Störung des Sozialverhaltens ein komorbider psychiatrischer Interventionsbedarf besteht, ist eine kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung indiziert. Diese wird bei leicht ausgeprägter Störung des Sozialverhaltens und psychiatrischer Störung bzw. höherem Funktionsniveau des Kindes oder Jugendlichen ambulant durchgeführt. Anderenfalls kann eine teilstationäre oder stationäre kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung sinnvoll sein. In jedem Fall sollte überlegt werden, das Jugendamt für Jugendhilfemaßnahmen im Anschluss an eine teilstationäre oder stationäre kinder-/jugendpsychiatrische Behandlung bzw. parallel zu einer ambulanten Behandlung hinzuzuziehen (7 6.6). Insbesondere bei Kindern mit einer Störung des Sozialverhaltens – bei denen aufgrund des jüngeren Lebensalters noch eine höhere Veränderbarkeit des Verhaltens besteht, die aber andererseits aufgrund des frühen Störungsbeginns grundsätzlich eine schlechtere Prognose haben – ist nach sechsmonatiger Intervention eine Erfolgskontrolle erforderlich (Leitlinie »Störungen des Sozialverhaltens«, Deutsche Gesell-
90
1 2
Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
schaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie et al. 2003), bei welcher auch die Wahl des Interventionssettings überprüft werden sollte.
3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
6.2
Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
Die Behandlung von Patienten mit Störungen des Sozialverhaltens erfolgt mittels eines multimodalen Behandlungsprogramms. Patienten mit Störungen des Sozialverhaltens weisen eine hohe Heterogenität auf, und für unterschiedliche Patienten sind unterschiedliche Risiko- und aufrechterhaltende Faktoren bedeutsam. Die multimodale Behandlung sollte alle dysfunktionalen Lebensbereiche des betroffenen Kindes oder Jugendlichen berücksichtigen, da Transfereffekte von einem Bereich auf einen anderen Bereich kaum zu erwarten sind (Barkley et al. 2000). Dieses gilt um so mehr, je älter der Patient ist, je ausgeprägter die Störung ist und je mehr Bereiche betroffen sind. ! Vorrangige Behandlungsziele sind die Verminderung von Eigen- und/oder Fremdgefährdung, die Verminderung disruptiven Verhaltens und wesentlicher aufrechterhaltender Bedingungen sowie die Erhöhung des Funktionsniveaus des Patienten.
Ob simultan oder sequenziell vorgegangen wird, hängt zum einen von der Akuität der Probleme in unterschiedlichen Bereichen ab, zum anderen davon, ob das Erreichen eines Behandlungsziels Voraussetzung für das Erreichen eines anderen Behandlungsziels ist. Entsprechend der jeweiligen Problemkonstellation und dem Behandlungsbedarf wird ein Therapieplan unter Einbezug verschiedener Komponenten erstellt: 5 Psychoedukative Maßnahmen: Aufklärung und Beratung der Eltern, des Kindes/
5
5
5
5 5
Jugendlichen und der Lehrer bzw. Erzieher (7 6.2.2) Eltern- bzw. familienbezogene Interventionen: Elterntraining und Interventionen in der Familie, einschließlich Familientherapie (7 6.2.2) Kind-/jugendlichenbezogene Interventionen (ab dem Schulalter): soziales Problemlöseund Kompetenztraining (7 6.2.2) Interventionen in Kindergarten/Schule, einschließlich Platzierungsinterventionen (7 6.2.3) Pharmakotherapie (7 6.2.5) Jugendhilfemaßnahmen (7 6.6)
Hierbei sind auch Informationen über bisherige Interventionen und ihre Auswirkungen relevant. Welche (Selbst-)Hilfeversuche im familiären Umfeld, Hilfen zur Erziehung jeglicher Art, kinder- und jugendpsychiatrische und -psychotherapeutische Behandlungen wurden bisher durchgeführt? Wurde eine Verbesserung, Verschlechterung oder keine Veränderung beobachtet? Sofern Veränderungen auftraten, in welchen Bereichen waren diese zu beobachten und wie lange hielten diese an? Wurden die Interventionen lege artis ausgeführt, ggf. wie intensiv und über welchen Zeitraum? Aus diesen Informationen ergeben sich wichtige Hinweise auf die Erfolgsaussichten weiterer in Frage kommender Interventionen. Familienbezogene Interventionen sind aufgrund der Vielzahl an familienbezogenen Risikofaktoren in der Regel unverzichtbar. Die Behandlungsplanung sollte unter Einbezug relevanter Kind-, Eltern- und Familienfaktoren sowie Faktoren des psychosozialen Umfeldes erfolgen. Auch die soziokulturellen einschließlich ethnischer und religiöser Gegebenheiten und Wertvorstellungen der Familie sind zu berücksichtigten. Das Definieren von konkreten, spezifischen Zwischenzielen unter Beteiligung von Kind bzw. Jugendlichem und Eltern hilft dabei, den Behandlungsfortschritt für Kind, Eltern und
91
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
Behandler sichtbar werden zu lassen und die Effektivität einer Intervention zu beurteilen. Die Qualität der therapeutischen Beziehung zwischen Kind und Behandler sowie zwischen Eltern und Behandler ist für den Therapieerfolg von hoher Relevanz. Sehr wichtig ist es, neutral und gelassen mit sog. »Widerstand« umzugehen. Gerade Kinder und Jugendliche mit Störungen des Sozialverhaltens wachsen häufig unter schwierigen psychosozialen Bedingungen auf, und es ist eher die Regel als die Ausnahme, dass die Eltern – aus welchen Gründen auch immer – nicht in der Weise mitarbeiten (können), wie die »Helfer« es für notwendig halten. Dann sollte eine sachliche Analyse erfolgen, worin das Hindernis besteht. Wenn Interventionen nicht umgesetzt werden, ist dies stets ein Anzeichen dafür, dass bestimmte Hindernisse für die Behandlung nicht hinreichend berücksichtigt wurden. Hieraus können sich relevante Informationen ergeben, z. B. dass wichtige aufrechterhaltende Faktoren oder Beschränkungen der psychosozialen Ressourcen nicht genügend in die Behandlungsplanung einbezogen wurden. ! Die Behandlung sollte hinreichend intensiv und von hinreichend langer Dauer sein, um tatsächlich Verhaltensänderungen beim Patienten zu bewirken. Bei der Planung und Durchführung der Interventionen ist darauf zu achten, dass eine möglichst hohe Generalisierung des Behandlungserfolgs in den Alltag des Patienten erreicht werden kann.
Stets sollte überlegt werden, wie der Behandlungserfolg stabilisiert werden kann, z. B. durch eine Fortführung der Behandlung mit geringerer Intensität, »Booster-Sitzungen« in größeren Zeitabständen oder »Nachsorge« in anderen Settings, einschließlich Elterngruppen, regionalen sozialen Diensten und Jugendhilfe. Bei einem nicht unerheblichen Teil der Patienten kann keine vollständige Remission erreicht werden. Da bei einer Störung des Sozialverhaltens jedoch die Tendenz besteht, dass
6
zunehmend mehr Lebensbereiche negativ beeinflusst werden, ist es bereits als Erfolg zu bewerten, wenn der Schweregrad der Störung und die Anzahl betroffener Lebensbereiche nicht zunimmt und das Funktionsniveau des Kindes oder Jugendlichen, also die Bewältigung seiner alterstypischen Entwicklungsaufgaben, gesichert werden kann.
6.2.1 Krankheitsstadienbezogene
Komponenten
Prävention und frühe Intervention Die Stabilität von Störungen des Sozialverhaltens sowie Ausmaß und Vielfalt möglicher negativer Auswirkungen legen es nahe, präventive Anstrengungen zu unternehmen. Sind oppositionelle, aggressive und/oder dissoziale Verhaltensweisen erst einmal etabliert, trägt eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren zu ihrer Aufrechterhaltung und Stabilisierung bei und wirkt dem Einfluss von Interventionen, die auf eine Verminderung solcher Verhaltensweisen gerichtet sind, entgegen. Deswegen ist es wichtig, dass frühzeitig Maßnahmen ergriffen werden, die bei den Risikofaktoren für die Entwicklung von Störungen des Sozialverhaltens ansetzen. Solche Präventionsprogramme unterscheiden sich hinsichtlich des Zeitpunkts der Intervention (Pränatalzeit bis Adoleszenz), hinsichtlich des Fokus der durchgeführten Interventionen (Kind/ Jugendlicher, Familie, Schule, Gemeinde) sowie hinsichtlich des Umfangs und Interventionsbedarfs der Zielgruppe. Universelle Prävention Eine universelle Prävention zielt darauf ab, bei allen Mitgliedern einer (Teil-)Population Risikofaktoren zu vermindern. Bespiele dafür sind: 5 Einschränkung von Gewaltdarstellungen in den Medien (einschließlich Computerspielen, Internet) sowie diesbezügliche Zugangsbeschränkungen für Kinder und Jugendliche
92
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
5 Verringerung von Alkohol- und Drogenkonsum in der Bevölkerung (Substanzgebrauch während der Schwangerschaft als pränataler Risikofaktor, beeinträchtigtes Funktionieren als Eltern durch Substanzabusus, mit Substanzabusus assoziierte Gewalttaten mit der Gefahr direkter oder indirekter Traumatisierung von Kindern und Jugendlichen, Erwachsene als Modell für Substanzkonsum, Zugang zu Alkohol und Drogen für Kinder und Jugendliche, deren Substanzkonsum wiederum das Risiko einer aggressiv-dissozialen Störung erhöht) 5 Förderung der allgemeinen Erziehungskompetenz von Erwachsenen durch Informationsvermittlung über die Entwicklung von Kindern und über Strategien für den Umgang mit möglichen Problemen 5 Verbesserung der sozialen Fertigkeiten von Schülern und Lehrern durch Einbezug entsprechender Inhalte in schulische Curricula. Selektive Prävention Eine selektive Prävention wird bei Gruppen mit überdurchschnittlichem Risiko durchgeführt. Kinder von jungen Müttern, allein erziehenden Müttern und Müttern mit niedrigem sozioökonomischem Status weisen ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Störung des Sozialverhaltens auf. In einer Studie wurden Frauen mit solchen soziodemographischen Risikofaktoren während der Schwangerschaft und der ersten beiden Lebensjahre des Kindes durch eine Gemeindeschwester betreut. Ziel war es, gesundheitsbewusstes Verhalten der Frauen während der Schwangerschaft und der ersten Lebensjahre des Kindes zu fördern, sie hinsichtlich Familienplanung, Ausbildung und Berufstätigkeit zu beraten und eine kompetente Versorgung des Kindes zu sichern. Die Frauen waren – im Vergleich zu Frauen, welche die übliche Betreuung während der Schwangerschaft und nach der Geburt des Kindes erhielten – weniger auf Sozialhilfe angewiesen, hatten weniger Probleme im Zusammenhang mit Substanzkonsum, und es kam sel-
tener zu Vernachlässigung oder Misshandlung der Kinder; diese wiederum zeigten im Alter von 15 Jahren weniger delinquentes Verhalten, Alkohol- und Drogenkonsum (Olds et al. 1998). Indizierte Prävention Dagegen richtet sich eine indizierte Prävention an Personen mit eindeutigem Risiko. Zum einen kann es sich um Personen mit einem Risikofaktor handeln, der ohne geeignete Maßnahmen zu einer Störung führt, auch wenn aktuell noch keine Symptome der Störung festgestellt werden können. Zum anderen geht es um Personen, die bereits Anzeichen einer sich entwickelnden Störung aufweisen – in diesem Fall überschneiden sich die Begriffe »indizierte Prävention« und »Frühintervention«. Bei Störungen des Sozialverhaltens stellt sich jedoch das Problem der Frühdiagnostik, denn es liegt kein hinreichend präzises Wissen bezüglich alters- und geschlechtstypischer Symptome – insbesondere bei jüngeren Kindern – vor, um die relative Abweichung von der Bezugsgruppe bestimmen zu können (Bennett et al. 1998), auch wenn das Vorliegen von deutlicher, altersuntypischer körperlicher Aggressivität ein vergleichsweise aussagekräftiges Symptom ist (Loeber et al. 2000). Problematisch kann auch sein, dass Eltern von Hoch-Risiko-Kindern, welche durch ein Screening in Kindergarten oder Schule identifiziert wurden, das disruptive Verhalten ihres Kindes eventuell noch als wenig problematisch erleben und somit nicht zu Interventionen motiviert sind (Barkley et al. 2000). Ein günstiger Schnittpunkt zwischen hinreichend genauer Identifikation von Kindern mit ungünstigen Entwicklungsverläufen und der noch ausreichend hohen Wirksamkeit von Interventionen liegt im 8.–9. Lebensjahr (McMahon et al. 1994). Eltern und Lehrer scheinen zu diesem Zeitpunkt noch motiviert, das Risiko einer ungünstigen Schullaufbahn abzuwenden, eventuelle Ablehnung durch die Mitschüler ist noch beeinflussbar, und das Kind hat noch kein generalisiertes Leistungs- und Motivationsdefizit ent-
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
wickelt. Die Durchführung einer multimodalen indizierten Präventionsmaßnahme mittels effektiver eltern- und kindbezogener Interventionen unter Einbezug von Förderunterricht, Schulsozialarbeit und eventuell Jugendhilfemaßnahmen kann also in dieser Altersstufe das Risiko ungünstiger Entwicklungen noch deutlich reduzieren. Für Präventions- wie auch Interventionsmaßnahmen gilt, dass sie dann erfolgreicher sind, wenn auslösende bzw. aufrechterhaltende Faktoren in mehreren Bereichen angegangen werden. Krisenintervention Definition Der Begriff »Krisenintervention« bezeichnet den Einsatz zeitlich begrenzter Maßnahmen zur Bewältigung einer akuten Krise, also einer dringlichen Gefahrensituation, die von der Person selbst bzw. ihrem psychosozialen Umfeld nicht bewältigt werden kann.
Welche Maßnahmen zur Krisenintervention geeignet sind, ist davon abhängig, wie eine Krise sich äußert und wodurch sie hervorgerufen wurde. Krisen erfordern keinesfalls immer eine stationäre Intervention, sondern oft können ambulante Maßnahmen (z. B. Kinder- und Jugendtelefon, Beratungsstellen, ambulante kinder- und jugendpsychiatrische oder -psychotherapeutische Vorstellung) zu ihrer Bewältigung ausreichen. Erst dann, wenn eine Krise mit ambulanten Maßnahmen nicht mehr bewältigbar ist, insbesondere beim Vorliegen von akuter Eigenund/oder Fremdgefährdung, ist eine stationäre Krisenintervention erforderlich. In Abhängigkeit davon, ob in der aktuellen Krise ein überwiegend akut-psychiatrischer oder ein überwiegend psychosozial-pädagogischer Interventionsbedarf vorliegt, ist eine stationäre kinder-/jugendpsychiatrische Krisenintervention oder aber die Krisenaufnahme in einer vollstationären Einrichtung der Jugendhilfe (Kinder- und Jugendnotdienst, Bereitschaftsgruppe, Notaufnahme-
93
6
plätze eines Kinderheimes, Bereitschaftspflegestelle) eine geeignete Maßnahme (7 6.1). Oppositionelles, aggressives oder dissoziales Verhalten ist nicht notwendigerweise ein Krankheitssymptom, und eine Störung des Sozialverhaltens mit überwiegend zielgerichtetem Einsatz aggressiven Verhaltens zur Durchsetzung eigener Interessen stellt auch bei hoher Akuität dieses Verhaltens keine primär kinder- und jugendpsychiatrische Behandlungsindikation dar. Dagegen kann akut-aggressives Verhalten aufgrund einer Impulskontrollstörung, also bei einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit, Anlass für eine jugendpsychiatrische Krisenintervention, u. a. zum Zweck einer medikamentösen Intervention, sein. Auch bei aggressivdissozialen Jugendlichen mit einer komorbiden psychiatrischen Störung ist nur dann vorrangig eine jugendpsychiatrische Krisenintervention angezeigt, wenn ein enger Zusammenhang zwischen dieser Störung und der Notwendigkeit zur Krisenintervention besteht. Anderenfalls kann unter bestimmten Voraussetzungen nach Bewältigung der Krise durchaus eine – auch stationäre – kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung sinnvoll sein, z. B. bei komorbider depressiver oder hyperkinetischer Störung, nicht jedoch als Krisenintervention bezüglich des aggressiven Verhaltens. Wenn ein aggressiv-dissozialer Jugendlicher als Notfall in einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie vorgestellt wird, ist es günstig, bereits bei der Anmeldung, spätestens jedoch dann, wenn tatsächlich eine stationäre jugendpsychiatrische Notaufnahme durchgeführt wird, deutlich zu machen, dass es sich nur um eine (kurzfristige) Krisenintervention handeln kann. Sofern eine stationär behandlungsbedürftige kinder- und jugendpsychiatrische Störung diagnostiziert wird, sollte deren Behandlung zeitlich getrennt von der Krisenintervention durchgeführt werden. Auch wenn in der Situation, die zu einer stationären Krisenintervention führte, bei einem Minderjährigen Selbst- und/oder Fremdge-
94
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
fährdung vorlag, kann die stationäre Aufnahme so entlastend wirken, dass ein offenes Setting genug Schutz bieten kann. Wenn Selbst- und/ oder Fremdgefährdung auf der Grundlage einer psychiatrischen Störung in einem offenen kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlungssetting auch durch 1:1-Betreuung nicht ausreichend bewältigbar ist, werden als Ultima ratio freiheitsentziehende Maßnahmen durchgeführt, in der Regel durch Aufnahme in einer geschlossenen oder fakultativ schließbaren Station. Hierbei handelt es sich um einen massiven Eingriff in die Grundrechte des betroffenen Minderjährigen, der nur unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit, mit Achtung vor der Würde und den Bedürfnissen des Minderjährigen und unter Beachtung der gesetzlichen Grundlagen und Verfahrensgarantien nur so lange wie unbedingt erforderlich durchgeführt werden darf (7 6.5). Auch bei Jugendlichen, die in einer geschlossenen Station behandelt werden müssen, wird der »Grad der Geschlossenheit« in Anpassung an die psychopathologischen Symptome und die Absprachefähigkeit des Patienten individuell und flexibel gestaltet. Bei Vorliegen einer akuten Eigen- und/oder Fremdgefährdung handelt es sich um einen gesetzlichen Notstand nach § 34 StGB, der eine Durchbrechung der gesetzlichen Schweigepflicht rechtfertigt. ! Ein zur Verschwiegenheit Verpflichteter (z. B. Arzt, Psychotherapeut) darf ohne die Einwilligung des Minderjährigen auch gegenüber den Erziehungsberechtigten keine Geheimnisse offenbaren. Nur unter wenigen Bedingungen darf ohne oder gegen den Willen des Patienten die gesetzliche Schweigepflicht durchbrochen werden, vor allem in Fällen des gesetzlichen Notstandes nach § 34 StGB, also bei gegenwärtiger, nicht anders abwehrbarer Gefahr, etwa bei drohender Suizidgefahr eines psychisch Kranken.
6.2.2 Psychoedukative Maßnahmen
und Psychotherapie Diese Themen werden in einem Abschnitt dargestellt, weil der Übergang zwischen Psychoedukation und Psychotherapie fließend ist, denn eine gut durchgeführte Aufklärung und Beratung stellt bereits eine effektive psychotherapeutische Intervention dar. Aufklärung und Beratung der Eltern In jedem Fall sollte eine Aufklärung und Beratung der Eltern mit folgenden Inhalten erfolgen: 5 Informationen hinsichtlich der Symptomatik, der vermuteten Ätiologie, des vermutlichen Verlaufes sowie der Behandlungsmöglichkeiten; 5 Beratung hinsichtlich pädagogischer Interventionen zur Bewältigung konkreter Problemsituationen: durch positive Zuwendung bei angemessenem Verhalten, angemessene Aufforderungen und Grenzsetzungen in eindeutiger Weise und angemessene negative Konsequenzen bei disruptivem Verhalten. Elterntraining Je jünger ein Kind ist, desto wichtiger ist die Durchführung von Interventionen bei den Eltern, um deren Verhalten in Bezug auf das Kind zu verändern. Eine sehr gut untersuchte Methode mit nachgewiesener Wirksamkeit stellt das Elterntraining dar (Kazdin 2000). Ziel eines Elterntrainings ist es nicht, Kinder zu »dressieren«, sondern in ihrer Entwicklung zu unterstützen. Denn Kinder mit einer oppositionellen Störung werden von ihren Eltern als unkontrollierbar erlebt und befinden sich in einem chronischen Konflikt mit ihnen; hinzu kommen negative Erfahrungen mit Gleichaltrigen. So internalisiert ein Kind ein negatives Bild von sich selbst und anderen Menschen, und es kommt zu einer zunehmend negativen Entwicklung. Dem Elterntraining liegt – im Gegensatz zur Familientherapie – ein Mediatoren-Modell zugrunde: Über die Eltern als Mediatoren nimmt
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
der Therapeut auf indirektem Weg Einfluss auf das Kind. Das Verhalten des Kindes soll von den Eltern als veränderbar verstanden werden, und die Auswirkungen ihres eigenen Verhaltens auf das Verhalten ihres Kindes sollen ihnen deutlich werden. Beispiel Von großer Bedeutung ist es, wie Eltern ihr Kind wahrnehmen: Denken sie, dass ihr Kind deviantes Verhalten zeigt, um sie zu ärgern? Haben sie unrealistische Erwartungen an das Verhalten ihres Kindes? Können sie differenzieren, wann ihr Kind Unterstützung benötigt, wann Begrenzung? Die Eltern werden angeleitet, das Verhalten des Kindes oder Jugendlichen auf eine veränderte Art und Weise zu beobachten und zu definieren, z. B.: »Mein Kind will mich mit seinem Wutausbruch nicht (nur) ärgern, sondern es ist frustriert und weiß nicht, wie es auf andere Weise damit umgehen kann«.
Wichtig ist, dass Eltern realistische, altersadäquate Erwartungen an das Verhalten ihres Kindes haben und die spezifischen Merkmale ihres Kindes – z. B. seine ADHS-Symptomatik – verstehen, die zu seinem disruptiven Verhalten beitragen. Vor allem bei ausgeprägtem disruptiven Verhalten des Kindes und/oder mehreren fehlgeschlagenen Interventionsversuchen ist es wichtig, den Eltern schnell möglichst konkrete Verhaltensstrategien zum Umgang mit problematischen Verhaltensweisen ihres Kindes an die Hand zu geben. Beispiel Einfache und klare Anweisungen, promptes und konsistentes Reagieren auf erwünschtes und unerwünschtes Verhalten, Einführen eines Token-Systems für erwünschtes Verhalten und einer Time-out-Prozedur als negative Konsequenz, Etablieren von »Notfallplänen« für konfliktreiche Situationen (z. B. morgens, Mahlzeiten, Einkaufen, Besuche, Öffentlichkeit).
95
6
Eltern sollte deutlich werden, dass sie, wenn sie dem Wunsch des Kindes nachgeben, weil es einen Wutanfall bekommt, die Wahrscheinlichkeit weiterer Wutausbrüche erhöhen. In solchen Situationen kann ein Time-out eingesetzt werden, damit das Kind (wie auch die Eltern) sich wieder beruhigen können; denn es ist kontraproduktiv, wenn Eltern die Kontrolle über sich selbst verlieren und anfangen zu schreien oder das Kind zu schlagen. Eltern können ihr Kind dabei unterstützen, die Kontrolle über sein Verhalten wieder zu erlangen, und versuchen, nach einem solchen Vorfall wieder zu einem neutralpositiven Ton zu gelangen. Generelles Ziel ist es auch, den Eltern Strategien zu vermitteln, die die Zusammenarbeit zwischen Kind und Eltern fördern. Eltern werden dazu ermutigt, mit ihrem Kind Absprachen zu treffen, die Regeln sowie die Konsequenzen deutlich und nachvollziehbar mitzuteilen, adäquate und faire positive und negative Konsequenzen zu wählen, und nicht ihr Kind zu bestrafen, ohne den Grund dafür verdeutlicht zu haben. Im Rahmen der von den Eltern vorgegebenen Ziele können Kindern Optionen und Wahlmöglichkeiten angeboten werden und potenziell konflikterzeugende Ereignisse vorbesprochen werden. Beispiel Wenn ein Kind seine Hausarbeiten nicht machen will, kann es helfen, wenn es Teilaspekte selber bestimmen darf, z. B. mit welchem Stift es schreiben will oder in welcher Reihenfolge es die Hausarbeiten erledigt.
Kinder mit oppositionellen Störungen finden es häufig schwierig, Außenvorgaben bezüglich eines Wechsels ihrer Tätigkeit unmittelbar nachzukommen; es gelingt ihnen leichter, sich kooperativ zu verhalten, wenn die Veränderung vorher angekündigt wird. Beispiel Statt der unmittelbaren Aufforderung »Jetzt ist Schlafenszeit« kann die Ankündigung »In fünf Minuten ist es Zeit, schlafen zu gehen« besser angenommen
96
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
werden; statt »Komm zum Essen« eher »Fahr noch eine Runde (mit dem Fahrrad) und komm dann zum Essen«. Verstärkerpläne können wiederkehrende Mög-
lichkeiten zum Gespräch zwischen Kind und Eltern bieten. Die im Verstärkerplan benannten Anforderungen und Konsequenzen werden mit dem Kind besprochen und abgestimmt. Bei der Vergabe von Punkten reflektiert das Elternteil eigene Erwartungen und teilt diese dem Kind mit, und das Verhaltens des Kindes, aber auch des Elternteils, wird besprochen. Langwierige Diskussionen sind ungünstig, aber ein Ziel der Eltern sollte es auch sein, beim Kind eine gewisses Maß an Einsicht in die gestellten Anforderungen sowie Kooperation zu erreichen. Erst recht bei älteren Kindern und Jugendlichen ist es wichtig, dass diese lernen, ihre Position zu erklären, zu verhandeln und Kompromisse zu schließen. Soziale Verstärker (Lob, Zuwendung, gemeinsame angenehme Aktivitäten) eröffnen die Möglichkeiten zu positiven Interaktionen zwischen Kind und Eltern. Eine Verbesserung der Eltern-Kind-Beziehung ist ebenso wichtig wie Struktur und Regelmäßigkeit sowie konsequentes Ignorieren oder leichte negative Konsequenzen bei oppositionellem oder aggressivem Verhalten des Kindes und Belohnung von erwünschtem Verhalten. Ein Aspekt davon ist das gemeinsame Verbringen von Freizeit mit Aktivitäten, die von allen Familienmitgliedern positiv bewertet werden. Ziel ist ein liebevoll-konsequenter Erziehungsstil, bei dem das Stellen von Anforderungen und Setzen von Grenzen mit Verständnis und Wertschätzung für die Individualität des Kindes einhergehen.
Wichtige Prinzipien des Elterntrainings 5 Erkennen und Einsetzen von positiven Elternqualitäten 5 Erkennen und Einsetzen von positiven Kindqualitäten 5 Eindeutig formulierte, altersadäquate Anforderungen und Grenzsetzungen 5 Einsatz von Konsequenzen des kindlichen Verhaltens in möglichst direktem Zusammenhang und somit für das Kind vorhersehbar 5 Positive Konsequenzen für kooperatives und prosoziales Verhalten des Kindes (Aufmerksamkeit und Lob durch die Eltern; Privilegien, materielle Belohnungen bzw. diesbezügliche Token; soziale sind besser als materielle Verstärkungen) 5 Negative Konsequenzen für oppositionelles, aggressives und/oder dissoziales Verhalten (Ignorieren des Verhaltens durch die Eltern, Verlust von Belohnungen, Time-out) 5 Beendigung zu harter, zu gewährender oder inkonsistenter elterlicher Erziehungspraktiken 5 Etablieren von Struktur und Regelmäßigkeit in den täglichen Abläufen entlastet Eltern und hilft Kindern 5 Adäquate Äußerungsmöglichkeiten der Autonomiebestrebungen des Kindes im Rahmen der von den Eltern vorgegebenen Abläufe und Ziele 5 Mehr »Familienzeit«, welche gemeinsam mit angenehmen Tätigkeiten verbracht wird; auch als Verstärker einsetzbar
Elterntraining ohne direkte Anwendung negativer Sanktionen Bei sehr impulsiven und/oder aggressiven Eltern kann eine Abwandlung des Vorgehens dahingehend erforderlich sein, dass auf das Etablieren
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
direkter negativer Sanktionen verzichtet wird, da diese missbräuchlich gegen das Kind eingesetzt werden könnten (Ducharme et al. 2000). Beschränken auf Aufforderungen mit hoher Er folgswahrscheinlichkeit. Den Eltern wird ver-
mittelt, nur Aufforderungen mit hoher Erfolgswahrscheinlichkeit an das Kind zu richten, also solche Aufforderungen, denen es mit einer hohen Wahrscheinlichkeit nachkommt. Das Befolgen einer Aufforderung wird von den Eltern mit Lob und körperlicher Berührung beantwortet, so dass die Eltern sich schnell als erziehungskompetenter erleben und das familiäre Klima positiver wird. Wenn das Kind anhand einfach zu befolgender Aufforderungen gelernt hat, kooperatives Verhalten als positiv zu erleben, können vorsichtig zunehmend schwierigere Anforderungen an das Kind gestellt werden. Ignorieren unerwünschter Verhaltensweisen.
Das Ignorieren unerwünschter Verhaltensweisen, die keine grundlegenden Rechte anderer Menschen verletzen, kann bei einer ausgeprägten oppositionellen Störung zunächst eine geeignete Strategie sein. Anderenfalls muss das Kind so häufig korrigiert werden, dass dies zu einer weiteren Belastung der Eltern-Kind-Interaktion führt und von den Eltern kaum konsistent durchgehalten werden kann. Ignorieren bedeutet hier, dass die Eltern keine Reaktion auf unerwünschte Verhaltensweisen des Kindes zeigen, wohl aber unmittelbar auf jede andere Verhaltensweise des Kindes; denn vollständiges Ignorieren des Kindes für einen gewissen Zeitraum stellt ja eine soziale Bestrafung dar. Wenn Verhaltensweisen nicht ignoriert werden können, weil ein Kind sich selbst oder andere Menschen damit körperlich zu verletzen droht, kann Ignorieren in Verbindung mit Hinlenken des Kindes zu einer anderen Aktivität hilfreich sein. Etablieren von Alltagsroutinen. Alltagsroutinen werden für eine Tageszeit oder eine tägliche Aktivität eingesetzt, die besonders häu-
97
6
fig zu Konflikten führt. Hierfür stellen die Eltern zusammen mit ihrem Kind einen Ablaufplan auf, in welchem dem Kind weniger angenehme Tätigkeiten, z. B. Zähneputzen, mit angenehmeren Tätigkeiten, z. B. Vorlesen einer Geschichte durch seine Mutter, abwechseln. Wenn eine Verpflichtung nicht erfüllt wird, tritt somit als natürliche Konsequenz der Verlust der zeitlich darauf folgenden angenehmen Aktivität ein. Beispiel Hilfreich ist auch die visuelle Gestaltung des Ablaufund Zeitplanes mit grafischen Mitteln; so kann ein älteres Kind den Plan auf dem Computer erstellen, oder ein jüngeres Kind kann mit seiner Mutter Bilder aus Zeitschriften ausschneiden und aufkleben, um die jeweiligen Aktivitäten des Planes zu visualisieren. Wenn die Eltern im Plan eintragen, dass das Kind die jeweiligen Aktivitäten ausgeführt hat, liefert dieses dem Kind eine direkte visuelle Rückmeldung und kann Anlass zum Loben des Kindes sein; wenn das Kind seine Aktivitäten anhand des Planes checkt, kann es sich die Abfolge der Tätigkeiten und erwünschten Verhaltensweisen besser merken sowie sein Gefühl von Selbstwirksamkeit erhöhen.
Eltern sollten darauf vorbereitet werden, dass ihr Kind sich zeitweise nicht an den Plan und die diesbezüglichen Absprachen halten will, und mögliche Reaktionen eventuell im Rollenspiel üben. Dabei sollten sie weder nachgeben noch auf die zunehmenden Emotionen ihres Kindes ihrerseits mit verstärkten Emotionen reagieren. Beispiel Eine Routine für das Einkaufen im Supermarkt mit einem jüngeren Kind kann so aussehen, dass Mutter und Kind zusammen eine Liste mit 10 Gegenständen erstellen, die das Kind während des Einkaufens suchen und in den Einkaufswagen legen soll, um seiner Mutter zu helfen. Der letzte Gegenstand auf der Liste befindet sich immer kurz vor der Kassenzone. Als Belohnung für das Finden dieses Gegenstands darf das Kind einen von drei akzeptablen Gegenständen aussuchen und ebenfalls in den Wagen legen. Hält
98
1
Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
2
das Kind sich nicht an die Absprachen, führt dieses zum unmittelbaren Verlassen des Ladens. Vor jedem Einkauf werden die Regeln kurz vor Betreten des Ladens wiederholt.
3
Natürliche Konsequenzen. Anstelle von Stra-
4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
fen werden natürliche Konsequenzen unerwünschten Verhaltens genutzt. Verantwortungsloses Verhalten führt zu einem Verlust von Privilegien in dem Ausmaß, wie es zum Schutz von Gesundheit, Sicherheit oder anderen grundlegenden Rechten anderer Menschen erforderlich ist. Beispiel Wenn ein Kind während eines Spiels mit Gegenständen nach einem anderen Kind wirft, kann es solange nicht weiter an dem Spiel teilnehmen, bis es sich beruhigt hat, damit niemand verletzt wird.
Durchführung des Elterntrainings Insbesondere zu Beginn eines Elterntrainings ist es sehr wichtig, dass die Eltern in ihren Äußerungen gestärkt werden und so Sicherheit gewinnen und für die weitere Arbeit motiviert werden. Eltern haben, bevor sie mit ihrem Kind in Behandlung kommen, häufig schon vielfältige Erfahrungen des Scheiterns im Umgang mit ihrem Kind gemacht und fühlen sich von Verwandten und Erziehern oder Lehrern als »schlechte Eltern« gesehen und abgewertet. Hier kann die Erfahrung, dass es anderen Eltern ähnlich ergangen ist, hilfreich sein. Es sollten die Anliegen der Eltern erfragt werden, bezogen auf möglichst konkrete Alltagssituationen mit wiederkehrenden Schwierigkeiten im Umgang mit dem Kind, und dafür möglichst konkrete Hilfen angeboten werden, die leicht im Alltag unter den gegebenen familiären Bedingungen und Belastungen umgesetzt werden können. Diese sollten anknüpfen an Wissen und Fertigkeiten, die bei den Eltern bereits vorhanden sind, und möglichst genau beschrieben werden. Noch besser ist es, wenn der Therapeut zu erwerbende Fertigkeiten demonstriert (»Lernen am Modell«) und
das praktische Vorgehen und Handeln der Eltern in der Interaktion mit ihrem Kind anleitet, ohne dabei belehrend zu wirken. Die Wirkungen und Schwierigkeiten bei der Umsetzung zu Hause werden in den Trainingssitzungen besprochen, so dass ggf. erforderliche Modifikationen im Vorgehen der Eltern vorgenommen werden und wiederum von den Eltern zu Hause erprobt werden können. Wenn die Eltern dieses nicht als intrusiv erleben, kann die Durchführung von einzelnen Trainingssitzungen im häuslichen Rahmen sehr günstig sein, denn hierdurch wird das Verständnis des Behandlers für die psychosozialen Bedingungen der Familie erhöht und der Transfer des Erlernten in die häusliche Situation unterstützt. Bei jungen Kindern sind Spielstunden mit Kind und Eltern unter Beachtung der Grundprinzipien des Elterntrainings mit Anleitung durch den Therapeuten sehr hilfreich dafür, dass die Eltern ihre neu erworbenen Fertigkeiten üben können und mehr Sicherheit im Umgang mit ihrem Kind gewinnen. Wenn das Elterntraining in einem Gruppensetting durchgeführt wird, sollte genügend Zeit für Fragen und zum Üben der Fertigkeiten eingeplant sowie Diskussion und Feedback der Teilnehmer untereinander gefördert werden. Auch Kontakt der Eltern untereinander und gegenseitige Unterstützung außerhalb der Gruppensitzung erhöht die Generalisierung und Stabilisierung der Therapieeffekte. Ausbildungsniveau und soziokultureller Hintergrund der Eltern sollten berücksichtigt werden; es kann ratsam sein, weniger Gewicht auf schriftliches Material und verbale Lehrmethoden zu legen und mehr mit Lernen am Modell und Rollenspiel zu arbeiten. Der (soziale) Vater sollte auch dann möglichst eng einbezogen werden, wenn die Erziehungsfunktion im Alltag weitgehend der Mutter zugeordnet ist. Deutliche Unterschiede im Erziehungsstil zwischen den Eltern sollten vermindert werden, und eine Unterstützung der Mutter in ihrer Erziehungsfunktion durch den Partner ist wichtig. Bei allein erziehenden Müttern mit wenig stabilen Partnerbeziehungen ist
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
es jedoch oft besser, die Mutter in ihrer Rolle der weitgehend allein verantwortlichen Erziehungsperson zu stärken, denn für ein Kind ist es weniger schwierig, sich auf verschiedene Partner der Mutter als auf wechselnde Väter einzustellen. Bei Problemen mit einer langen Vorgeschichte kann man keinen ausreichenden Effekt innerhalb kurzer Zeit und mit wenigen Trainingsstunden erwarten; meist ist ein Trainingsumfang von mindestens 20 Sitzungen in wöchentlichen oder zweiwöchentlichen Abständen erforderlich. Es sollten realistische Zwischenziele gesetzt werden und kleine Erfolge, die vielleicht von den Eltern gar nicht wahrgenommen oder nicht als solche erlebt werden, positiv verstärkt werden. Wenn Eltern ihr eigenes Verhalten und das ihrer Kinder regelmäßig evaluieren, kann es ihnen dabei helfen, ihre Ziele präsent zu halten; auch der Behandler sollte dieses tun. Eltern müssen darauf vorbereitet werden, dass Hindernisse auftreten werden und Rückschläge zu erwarten sind. Günstig für die Stabilisierung des Trainingseffektes ist es, wenn nach Durchführung des eigentlichen Trainings noch Booster-Sitzungen in längeren Zeitabständen angeschlossen werden können. Ergänzende Interventionen bei unzureichender Wirksamkeit Die kurz- und langfristige Wirksamkeit von Elterntraining, vor allem für Kinder zwischen 4 und 8 Jahren, ist gut gesichert. Elterntrainings, die bei Kindern im Vorschulalter durchgeführt werden, sind wirkungsvoller, als wenn die Kinder älter sind (Dishion u. Patterson 1992). Elterntraining ist weniger gut wirksam, wenn erschwerende Faktoren hinzukommen: 5 Psychische Störungen der Eltern 5 Niedriger sozioökonomischer Status der Eltern 5 Hohe psychosoziale Belastung der Eltern 5 Chronischer Ehekonflikt 5 Allein erziehendes Elternteil 5 Kinder mit einer ausgeprägten und/oder stabilen Störung des Sozialverhaltens 5 Kinder mit komorbiden Störungen
99
6
Dann sind zusätzliche eltern- und/oder kindbezogene Interventionen erforderlich, um die Wirksamkeit von Elterntraining zu erhöhen: 5 Coping-Fertigkeiten und interpersonelle Fertigkeiten der Eltern erhöhen 5 Aufbauen eines sozialen Netzwerkes zur Unterstützung und Entlastung der Eltern 5 Hinarbeiten auf die Behandlung wichtiger elterlicher Probleme (z. B. Depression, Substanzmissbrauch) 5 Psychotherapeutische und/oder medikamentöse Behandlung komorbider Störungen des Kindes. Oft kann es günstig sein, zunächst mit dem eigentlichen Elterntraining zu beginnen, weil auch dieses über eine Verhaltensänderung des Kindes die Belastung der Eltern deutlich verringern kann. Bei unzureichendem Erfolg können dann zusätzliche Interventionen durchgeführt werden, die möglichst spezifisch auf die tatsächlichen Belastungs- und Risikofaktoren gerichtet sein sollten. Häufig belasten ungünstige psychosoziale Bedingungen die Eltern in einem solchen Ausmaß, dass kaum noch Ressourcen zur Bewältigung der Anforderungen des Alltags bestehen, und je mehr elterliche Probleme vorhanden sind, desto weniger wirksam ist der isolierte Einsatz eines Elterntrainings. Interventionen bei belasteten Familien müssen stärker das Umfeld der Familie berücksichtigen, also nicht nur die klassischen Ziele eines Elterntrainings verfolgen, sondern auch die psychosozialen Schwierigkeiten der Familie angehen. Dann ist eher ein Ansatz im Sinne der multisystemischen Therapie (Henggeler et al. 1998) geeignet, bei welcher ein »Paket« vielfältiger Interventionen für Kinder/ Jugendliche und ihre Familien »je nach Bedarf« eingesetzt wird, häufig in Form von »Home Treatment«. Dabei wird den Eltern Hilfe in den Bereichen und auf die Art und Weise angeboten, die sie benötigen, um ihre Eltern- und Erziehungsfunktion adäquat erfüllen zu können; hier stellt Elterntraining lediglich einen Bestandteil dar. Wichtige elterliche Probleme (z. B. Drogenmiss-
100
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
brauch, psychische Störungen, auch elterliche ADHS, soziale Isolation bei allein erziehenden Müttern, finanzielle Probleme) müssen berücksichtigt werden, und die Hilfsangebote für die Familie dürfen wenig an zusätzlichen Anforderungen stellen bzw. die hierdurch bedingte Entlastung muss so schnell einsetzen und so groß sein, dass der seitens der Familie zu erbringende Aufwand mindestens ausgeglichen wird. Familientherapie Familientherapeutische Interventionen sind bei Störung der familiären Beziehungen – auch dann, wenn eine auf den familiären Rahmen beschränkte Störung des Sozialverhaltens als Folge einer spezifischen familiären Interaktionsstörung angesehen wird – sowie bei Jugendlichen mit Störung des Sozialverhaltens indiziert. Alle Familienmitglieder sollen dabei unterstützt werden, dass sie effektiver kommunizieren, miteinander verhandeln und Probleme lösen, um so die Kooperation sowohl zwischen Eltern und Kindern als auch der Eltern untereinander zu verbessern. Die gegenseitigen Erwartungen aneinander sollten möglichst konkret benannt werden und Absprachen getroffen werden, wobei der Jugendliche auch bei den Absprachen über die Konsequenzen von Regelverstößen beteiligt werden sollte. ! Ziel einer Familientherapie ist es, die Wahrnehmung, Erwartungen, Einstellungen und emotionalen Reaktionen der Familienmitglieder untereinander zu verändern, um gegenseitige Beschuldigungen und Abwertungen zu verringern und positive Interaktionen zu fördern.
Wirksamkeit bei Störungen des Sozialverhaltens ist vor allem für kognitiv-behaviorale familientherapeutische Ansätze nachgewiesen, z. B. für die funktionale Familientherapie (Alexander u. Parsons 1973). Hier wird angenommen, dass das ungünstige Verhalten des Kindes oder Jugendlichen innerhalb der Familie eine bestimmte Funktion hat, z. B. mehr Abgrenzung von den
Eltern zu erreichen, welche mit adaptiveren Verhaltensmustern nicht erreicht werden kann. Nach Erkennen dieser grundlegenden Funktion des Problemverhaltens wird versucht, die Kommunikations- und Interaktionsmuster in der Familie so zu verändern, dass ein günstigeres Verhalten des Jugendlichen möglich ist. Ein weiteres wichtiges Ziel ist es, Eltern in die Lage zu versetzen, dass sie ihr Kind von ungünstigen Peer-Gruppen trennen und es beim Aufbau von adäquaten Peer-Beziehungen unterstützen. Beispiel So könnten Eltern ihr Kind dazu anhalten, dass es nachmittags an regelmäßigen und strukturierten Aktivitäten mit Gleichaltrigen unter Aufsicht von Erwachsenen teilnimmt. Eine nachmittägliche Betreuung in der Schule ist dann günstig, wenn das Kind anderenfalls viel Zeit allein zu Hause oder mit dissozialen Gleichaltrigen verbringt und der sozialpädagogische Interventionsbedarf nicht so groß ist, dass eine teilstationäre Jugendhilfemaßnahme erforderlich ist. Regelmäßige prosoziale Aktivitäten, welche dem Kind Freude bereiten, sollten unterstützt werden. Gerade für Kinder mit stark ungesteuertem, hypermotorischem Verhalten ist die regelmäßige Teilnahme an Sportgruppen zum »Austoben« und zum Erlernen von »Fairness« günstig.
Hierbei ist auch die Etablierung von Monitoring wichtig. Während Eltern jüngerer Kinder ihr Wissen über deren Aktivitäten und sozialen Umgang durch direkte Beobachtung beziehen, verbringen ältere Kinder und Jugendliche mehr Zeit außerhalb direkter Aufsicht von Erwachsenen. Somit muss hier eine indirektere Form von Monitoring etabliert werden. Dieses kann Gespräche mit dem Kind über seine Freunde und Aktivitäten umfassen, auch im Rahmen von gemeinsamen Aktivitäten mit dem Kind, Gespräche mit Lehrern und anderen Eltern, sowie die Etablierung bestimmter Regeln durch die Eltern, mit wem ihre Kinder in welchem Rahmen umgehen dürfen. Erfolgreiches Monitoring setzt jedoch
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
auch eine gewisse Bereitschaft des Kindes oder Jugendlichen zu diesbezüglicher Kooperation voraus, so dass ausschließlich rigide Kontrolle und Durchsetzen von Verboten nicht zielführend sind, sondern sich unter Umständen durch die Belastung der Eltern-Kind-Beziehung negativ auswirken können. Aufklärung und Beratung des Kindes/ Jugendlichen Diese sollte bei Kindern ab dem Schulalter und bei Jugendlichen in altersangemessener Form durchgeführt werden. Ziele sind: 5 Information hinsichtlich der Symptomatik, der vermuteten Ätiologie, des vermutlichen Verlaufes sowie der Behandlungsmöglichkeiten 5 Anleitung des Kindes/Jugendlichen zur Selbstbeobachtung und Selbststeuerung Soziales Problemlöse- und Kompetenztraining Wichtige kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen bei Kindern und Jugendlichen mit Störungen des Sozialverhaltens sind unter den Begriff des sozialen Problemlöse- und Kompetenztrainings zu fassen, dessen Kurzzeitwirksamkeit belegt ist, mit jedoch wenig nachgewiesenen Langzeiteffekten (Kazdin 2000). Je nach Programm und Zielgruppe werden hier unterschiedliche Schwerpunktsetzungen vorgenommen: Wahrnehmung und Bewertung sozialer Situationen, soziales Problemlösen/Umgang mit sozialen Konfliktsituationen, Erwerb sozialer Fertigkeiten, Umgang mit Ärger und Wut. Die Durchführung eines solchen Trainingsprogramms ist jedoch nur dann sinnvoll, wenn ein Kind oder Jugendlicher tatsächlich nicht über die entsprechenden Fertigkeiten verfügt, nicht aber, wenn vorhandene Fertigkeiten nicht zum Einsatz gebracht werden, weil aggressiv-dissoziales Verhalten zu positiveren Konsequenzen führt. Je geringer die kognitiven Fertigkeiten eines Kindes sind, desto wichtiger ist es, nicht einen überwiegend kognitiv-verbalen Ansatz zu
101
6
wählen, sondern möglichst konkret, z. B. mit Geschichten, Spielen und auf der Verhaltensebene zu arbeiten. Adäquate Wahrnehmung und Interpretation sozialer Situationen Aggressive Kinder achten in sozialen Situationen überdurchschnittlich häufig auf Anzeichen für Feindseligkeit, insbesondere dann, wenn sie soziale Zurückweisung erleben und ein hohes Niveau emotionaler Erregung aufweisen. Solche negativen Attributionen tragen zu den interpersonalen Schwierigkeiten aggressiver Kinder und Jugendlicher bei und sollten gegebenenfalls ein Ziel therapeutischer Interventionen sein, da sie häufig dysfunktional sind und eine aufrechterhaltende Bedingung für impulsiv-aggressives Verhalten darstellen. Weiterhin kann auch die Fähigkeit, eigene und fremde Emotionen differenziert wahrzunehmen, eingeschränkt sein, und damit auch die Fähigkeit, sich in die Sichtund Erlebensweise einer anderen Person hineinzuversetzen. Ziel ist somit die differenziertere Wahrnehmung eigener und fremder Absichten, Einstellungen, Gefühle und Handlungen, um eine differenziertere Interpretation sozialer Situationen zu fördern. Beispiel Als Materialien können Bilder oder Videofilme mit Personen in sozialen Situationen, die dem Alltagserleben der Kinder ähnlich sind, verwendet werden. Die Kinder werden angeleitet, die Situationen zu beschreiben, die dargestellten Gefühle zu identifizieren, zu überlegen, was der aktuellen Situation vorausgegangen sein könnte und in welchen Situationen sie sich selbst so gefühlt haben; gefördert werden also auch Perspektivübernahme und Einfühlungsvermögen. Anhand uneindeutiger sozialer Situationen können verschiedene Interpretationen der Situation und der Motivation der beteiligten Personen besprochen und diskutiert werden. Hilfreich kann auch das Nachspielen und Erleben im Rollenspiel sein, wobei auch die physiolo-
102
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
gisch-vegetative Komponente von Emotionen einbezogen werden sollte.
Erwerb sozialer (Problemlöse-)Fertigkeiten Das Training zum Erwerb sozialer Fertigkeiten umfasst Training von Kooperation und Hilfeverhalten, Vereinbaren und Einhalten von Regeln, angemessene Selbstbehauptung, Training kommunikativer Fertigkeiten, um befriedigende soziale Kontakte, vor allem zu Gleichaltrigen, zu initiieren und gestalten und soziale Alltagsanforderungen zu bewältigen. Soziale Fertigkeiten und ihre Anwendung in unterschiedlichen Situationen können besprochen und im Rollenspiel geübt werden. Zum einen werden Problemlösestrategien bei interpersonellen Konflikten erlernt, zum anderen soziale Fertigkeiten, um gefundene Problemlösungen auch tatsächlich adäquat umsetzen zu können. Problemlösen wird als ein Prozess mit schrittweisem Vorgehen verstanden. Beispiel Zunächst wird das Problem beschrieben, und die Kinder lernen, ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte Aspekte der Situation oder des Problems zu lenken, die zu einer konstruktiven Problemlösung führen können. Dann werden in der Gruppe mögliche Lösungen generiert und entwickelt und dann mögliche kurz- , mittel- und langfristige Konsequenzen jeder vorgeschlagenen Lösung erwogen. Prosoziale Problemlösungen werden durch den Therapeuten verstärkt. Die am geeignetsten erscheinende Lösung wird ausgewählt und ihre Umsetzung auf der Handlungsebene geplant. Nach ihrem praktischen Durchführen – wobei konkrete soziale Fertigkeiten geübt werden – , bewertet das Kind das Ergebnis und benennt – auch wenn es das Ergebnis als insgesamt unbefriedigend erlebt – partielle Erfolge und positive Aspekte seines eigenen Handelns.
Adäquater Umgang mit negativen Emotionen Zwischen einer geringen Fähigkeit zur Regulation negativer Emotionen – vor allem Ärger,
Frustration, Wut – und erhöhter impulsiver Aggressivität besteht ein Zusammenhang: Ein Kind, dessen Fähigkeit zur Regulation negativer Emotionen beeinträchtigt ist, kann auf eigentlich geringfügige Frustration, beispielsweise im Zusammenhang mit der Forderung zu kooperativem Verhalten, mit heftigem Ausagieren seiner negativen Emotionen, z. B. durch Schreien, Schimpfen oder Schlagen, reagieren. Dagegen zeigen Kinder, die über effektive Strategien verfügen, um starke negative Gefühle zu regulieren, häufiger prosoziales Verhalten (Eisenberg et al. 1996). Beim Ärger-Kontroll-Training (Lochman 1992) lernen die Kinder und Jugendlichen, ihre individuellen Auslöser für Ärger und aggressives Verhalten zu erkennen und ihre eigenen mit Ärger einhergehenden körperlichen und emotionalen Reaktionen wahrzunehmen, so dass sie in Konfliktsituationen rechtzeitig mittels Selbstinstruktion (»Stop! Denk nach! Was sollte ich jetzt tun?«) ihre impulsiv-aggressive Reaktion blockieren können. So eröffnet sich ihnen überhaupt erst die Möglichkeit, ihr Handeln in potenziellen Konfliktsituationen zu verändern und ihre aggressiven Impulse durch Gebrauch von Beruhigungstechniken und positiven Selbstverstärkungen (»cool bleiben«) zu kontrollieren. Sie entwickeln und üben auch Strategien, um mit Kritik und Misserfolgen angemessen umzugehen und die begleitenden Gefühle von Ärger und Wut zu kontrollieren. In der Gruppe werden spezifische Situationen diskutiert, die Ärger und Wut auslösen, und Rollenspiele durchgeführt. Sehr wichtig ist hier aber auch, dass eine kognitive Umstrukturierung gelingt: Gewonnen hat, wer sich nicht ärgern läßt. Verloren hat man, wenn man sich von dem anderen so ärgern läßt, dass man die Kontrolle über sich verliert und die negativen Folgen hinnehmen muss. Denn sonst sind die Kinder und Jugendlichen möglicherweise gar nicht motiviert, ihre Fertigkeiten zur Kontrolle negativer Emotionen tatsächlich einzusetzen.
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
Durchführung des sozialen Problemlöseund Kompetenztrainings Üblicherweise wird das Training in einer (Klein-) Gruppe durchgeführt, da die Kinder so mehr Möglichkeiten haben, voneinander zu lernen und zusammen zu üben. Auch das gegenseitige Feedback der Kinder ist sehr wichtig für den Transfer des Gelernten in soziale Alltagssituationen mit Gleichaltrigen. Bei Kindern mit sehr geringen sozialen Fertigkeiten oder starker sozialer Gehemmtheit kann es jedoch erforderlich sein, eine individuelle Trainingsphase vorzuschalten. Das Training sollte attraktiv und abwechslungsreich gestaltet werden, um die Aufmerksamkeit der Kinder zu fokussieren und ihre Motivation zur Mitarbeit zu fördern. Der Therapeut nimmt eine aktive Rolle ein: Er demonstriert den Gebrauch geeigneter Selbst-Verbalisationen, verstärkt geeignete Problemlösungen, gibt Hinweissignale für den Gebrauch bestimmter Fertigkeiten, gibt Feedback und lobt die Anwendung des Erlernten. Zentrale Konzepte und neu erworbene Fertigkeiten werden durch Wiederholung gefestigt, auch unter Verwendung von Videofilmen und graphisch gestalteten Materialien, z. B. Aufkleber oder Cartoons, als »prompts« für bestimmte soziale Fertigkeiten oder Strategien. ! Zur Förderung der Generalisierung auf den Alltag ist es äußerst wichtig, dass für die Kinder relevante Alltagssituationen und -probleme in den Trainingssitzungen bearbeitet und antizipierend geübt werden.
Ob die Kinder die im Training erlernten Verhaltensweisen auch tatsächlich im Alltag anwenden, hängt wesentlich davon ab, ob sie diese im Vergleich zu ihren etablierten aggressiven Strategien als nützlicher erleben; deswegen sind genaue Kenntnisse über die Lebensumstände der Kinder und ihrer Bezugsgruppe Voraussetzung, um im Alltag anwendbare alternative Verhaltensstrategien entwickeln zu können. Um die Anwendung der gelernten Strategien auch in schwie-
103
6
rigeren Situationen zu üben, sollten auch Konfliktsituationen in der Gruppe geübt werden, die mit einer gewissen emotionalen Erregung bei den Kindern einhergehen. Die Arbeit mit den Kindern wird von einer intensiven Beratung der Eltern begleitet. Sie werden in regelmäßigen Abständen über die neu erworbenen Konzepte und sozialen (Problemlöse-)Fertigkeiten ihrer Kinder informiert und gebeten, den Gebrauch dieser Fertigkeiten zu loben und zu verstärken, wann immer sie dies bei ihrem Kind bemerken. So können sie die Funktion von Mediatoren übernehmen und ihr Kind bei alternativen Problem- und Konfliktlösungen unterstützen. ! Am erfolgreichsten ist die Kombination von eltern- und kindzentrierten Interventionen (Webster-Stratton u. Hammond 1997); dagegen ist die isolierte Durchführung von kindzentrierten Interventionen nur begrenzt sinnvoll.
Kindzentrierte Interventionen erhöhen nicht den Effekt von Elterntraining auf disruptives Verhalten, führen aber zu einer Verbesserung in Bereichen, die durch das Elterntraining nicht beeinflusst werden, z. B. Beziehungen zu Gleichaltrigen.
6.2.3 Schulbezogene Interventionen Eine Beratung von Erziehern bzw. Lehrern eines Kindes sollte dann durchgeführt werden, wenn im Kindergarten bzw. in der Schule deutliche Symptome auftreten und die Eltern ihr Einverständnis zu einer solchen Beratung gegeben haben. Mögliche Beratungsinhalte können sein: 5 Information hinsichtlich der Symptomatik der Störung, der vermuteten Ätiologie sowie der Behandlungsmöglichkeiten 5 Beratung hinsichtlich pädagogischer Interventionen zur Bewältigung konkreter Problemsituationen, insbesondere durch positive Zuwendung bei angemessenem Ver-
104
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
halten, angemessene Aufforderungen und Grenzsetzungen in eindeutiger Weise sowie durch angemessene negative Konsequenzen bei disruptivem Verhalten Ein Kind sollte eine für es geeignete Schulform besuchen, nach Möglichkeit seinem intellektuellen Leistungsniveau entsprechend. Insbesondere bei einem niedrigen sozioökonomischen Status der Familie können Schwierigkeiten des Kindes, sich nach der Einschulung an den Schulalltag zu gewöhnen, und frühe schulische Leistungsdefizite zu persistierendem Problemverhalten führen, mit einem Circulus vitiosus zwischen defizitären grundlegenden schulischen Fertigkeiten, Motivationsmangel und disruptivem Verhalten, welcher beim Vorliegen von einer ADHS und/ oder Teilleistungsstörungen eine noch ungünstigere Dynamik aufweisen kann. Da es schon früh zu Entscheidungen kommen kann, die für die weitere Entwicklung des Kindes gravierende Konsequenzen haben können, z. B. Umsetzung auf eine Sonderschule, sind in einer solchen Situation eine umfassende und präzise Diagnostik sowie entschlossene Interventionen unverzichtbar. Allerdings kann bei Vorliegen einer intellektuellen Begabung im Bereich der Lernbehinderung an der Grenze zur geistigen Behinderung die an Schulen für geistig Behinderte meist stärker gegebene Möglichkeit zur individuellen Betreuung gerade bei Kindern mit ausgeprägter impulsiv-reaktiver Aggressivität günstiger sein. Bei ausgeprägter aggressiv-dissozialer Störung ist es äußerst schwierig bis unmöglich, dass die betroffenen Kinder bzw. Jugendlichen Regelschulen besuchen. Schulische Maßnahmen in Form von Zurückstufung, Umsetzung in eine Parallelklasse oder eine andere Regelschule als Reaktion auf disruptives Verhalten führen häufig lediglich zur einer Verschiebung der Problematik und bringen zusätzliche Beziehungsabbrüche mit sich. Eine Rückstellung vom Schulbesuch aufgrund hyperkinetischer, oppositioneller oder aggressiver Verhaltensweisen sollte nicht erfolgen, da
keine Verbesserung solcher Verhaltensweisen durch Reifungsprozesse zu erwarten ist. Durch ein schulisches Kontingenzmanagement-Programm mit Lob für angemessenes Verhalten der Kinder sowie Entzug von Smileys – welche die Kinder zu Beginn einer Schulstunde als »Guthaben« erhielten – bei aggressivem Verhalten (»Response Cost«) konnte Letzteres deutlich vermindert werden (Reynolds u. Kelley 1997). Wichtig ist, dass der Entzug eines Smileys als unmittelbare Konsequenz unerwünschten Verhaltens erfolgt, unter kurzer Angabe einer Begründung, so dass den Kindern die an sie gerichteten Erwartungen klar mitgeteilt werden. Die Kinder können ihre Smileys spätestens am Ende des Schultages in Belohnungen, die in der Schule leicht realisiert werden können, eintauschen. So kann ein positives schulisches Klima gefördert werden, und der Unterricht muss durch das Einsetzen negativer Konsequenzen nicht unterbrochen werden. Auch hier ist die Dauer der Intervention von großer Bedeutung; so zeigte ein aufwändiges multimodales Programm, welches mit verhaltensauffälligen Vorschulkindern über ein Jahr hinweg durchgeführt wurde, direkt danach gute Effekte (Barkley et al. 2000), die jedoch 2 Jahre später nicht mehr nachweisbar waren (Shelton et al. 2000). Hinsichtlich der Aufwand-Nutzen-Relation könnte es günstiger sein, weniger aufwändige Interventionen über einen längeren Zeitraum zu etablieren. Maßnahmen in der Schule bieten den Vorteil, dass sie direkt bei den Kindern ansetzen können und gegebenenfalls auch ohne Mitarbeit der Eltern realisierbar sind. Effektive Interventionen zur Verminderung aggressiv-dissozialen Verhaltens älterer Kinder und Jugendlicher stellen (sekundäre) Präventionsmaßnahmen für jüngere Kinder bezüglich der Aufnahme in dissoziale Peer-Gruppen wie auch bezüglich einer potenziellen Viktimisierung dar. Wichtig ist es, dass solche Interventionen möglichst an mehreren Schulen eines Gebietes etabliert werden, um dissoziale Peer-Effekte zu reduzieren; Aufwand
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
und Kosten solcher Programme müssen also hinreichend gering sein, so dass diese über lange Zeit möglichst flächendeckend etabliert werden können. Wünschenswert ist es, dass es Schule bzw. Kindergarten und Eltern gelingt, im Interesse des Kindes zusammenzuarbeiten, denn häufig entstehen im Laufe der Zeit auch in diesem Bereich »koersive« Interaktionen, bei denen beide Seiten wechselseitig zunehmend negativeres Verhalten der anderen Seite fördern. ! Wenn jedoch eine konkrete Gefährdung des Kindeswohls zu befürchten ist, dürfen und sollen Lehrer bzw. Erzieher auch ohne Wissen oder Einverständnis der Eltern das Jugendamt informieren.
6.2.4 Therapieprogramme Hier werden nur Therapieprogramme vorgestellt, die in deutscher Sprache vorliegen und somit ohne den Aufwand einer Übersetzung der Trainingsmaterialien praktisch angewendet werden können. Therapieprogramm für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Verhalten Beim Therapieprogramm für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Verhalten THOP
(Döpfner et al. 2002) handelt es sich um ein multimodales Therapieprogramm für Kinder von etwa 3 bis 12 Jahren, das sowohl bei Kindern mit hyperkinetischen Symptomen als auch bei Kindern mit oppositionellen Symptomen eingesetzt werden kann. Nach einer umfassenden Diagnostik erfolgt die Erstellung eines Therapieplanes für die individuellen Verhaltensprobleme des Kindes. Hierbei sollen Eltern bzw. Erzieher/Lehrer die Fertigkeiten erwerben, um als Mediatoren von Verhaltensänderungen des Kindes zu fungieren. Je nach Indikation können verhaltenstherapeutische Interventionen in der Familie,
105
6
in Kindergarten/Schule sowie beim Kind selbst mit einer medikamentösen Behandlung des Kindes kombiniert werden. Ein nach den gleichen Grundprinzipien aufgebautes Buch für Eltern, Wackelpeter und Trotzkopf (Döpfner et al. 2000), lässt sich im Rahmen des Therapieprogrammes oder als Selbsthilfebuch einsetzen. Bei den familienzentrierten Interventionen steht die Arbeit mit den Eltern im Mittelpunkt, wobei das Kind je nach Problematik, Alter und Behandlungsbaustein unterschiedlich stark integriert wird; nur wenige Bausteine werden ausschließlich mit den Eltern durchgeführt. Zentrale Ziele der familienzentrierten Interventionen sind die Verbesserung der Eltern-Kind-Beziehung und die Verringerung problematischer Verhaltensweisen des Kindes in der Familie. Folgende Themenkomplexe werden im THOP behandelt: 1. Konkrete Beschreibung der Verhaltensprobleme, Entwicklung eines gemeinsamen Störungskonzeptes anhand von konkreten Beispielsituationen, Behandlungsziele und Behandlungsplanung 2. Förderung positiver Eltern-Kind-Interaktionen (z. B. durch gemeinsame Spielzeiten von Eltern und Kind, die unter genau definierten, gemeinsam erarbeiteten und geübten Regeln zu Hause durchgeführt werden) 3. Pädagogisch-therapeutische Interventionen zur Verminderung von impulsivem und oppositionellem Verhalten (z. B. wirkungsvolle Aufforderungen, positive Zuwendung zum Kind bei angemessenem Verhalten, angemessene negative Konsequenzen bei Problemverhalten) 4. Spezielle operante Methoden (z. B. TokenSysteme, Response-Cost-Verfahren, Auszeit) bei Problemen, die durch die pädagogischtherapeutischen Interventionen nicht hinreichend vermindert werden konnten 5. Interventionen bei spezifischen Verhaltensproblemen (z. B. Hausaufgaben, Verhalten in öffentlichen Situationen)
106
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
6. Maßnahmen zur Generalisierung und Stabilisierung der Effekte. Bei den kindzentrierten Interventionen steht die Arbeit mit dem Kind im Vordergrund, wobei die Eltern ebenfalls einbezogen werden; hierbei werden zwei verschiedene Behandlungsansätze verfolgt. 5 Zum einen werden die Inhalte der einzelnen Behandlungsbausteine mit dem Kind erarbeitet, um es stärker in die familienzentrierten Interventionen einzubeziehen. Dieses ist für Kinder ab dem Schulalter sinnvoll und erfolgt unter Verwendung von kindgemäßen Kurzgeschichten, mit Peter als Hauptperson, der von allen »Wackelpeter« oder »Trotzkopf« genannt wird. 5 Zum anderen kann mit dem Kind selbst ein Training durchgeführt werden als Spieltraining für Kinder im Vorschulalter; für Schulkinder Selbstinstruktionstraining oder Selbstmanagement, wodurch Strategien der Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle erarbeitet werden sollen. Im Verlauf der Durchführung dieser Interventionen bezieht der Therapeut die Eltern ein und leitet sie als Kotherapeuten an. In der Regel werden die Behandlungsmodule entsprechend der individuellen Problemkonstellation zusammengestellt. Die familienzentrierten Interventionen können unabhängig von kindzentrierten Interventionen durchgeführt werden; die Durchführung von kindzentrierten ohne familienzentrierte Interventionen ist jedoch nicht sinnvoll. Bei Interventionen in Kindergarten bzw. Schule werden therapierelevante problematische Verhaltensweisen des Kindes in einem Gespräch mit Erziehern bzw. Lehrern definiert, über die Problematik des Kindes aufgeklärt und ein verhaltenstheoretisches Erklärungsmodell vermittelt. Sofern erforderlich, wird über organisatorische Aspekte (z. B. Unterrichtsorganisation, Gestaltung des Gruppenraumes oder Klassen-
zimmers) und pädagogische Strategien (wirkungsvolle Aufforderungen, positive Verstärkung angemessenen Verhaltens, negative Konsequenzen bei unangemessenem Verhalten) sowie spezielle verhaltenstherapeutische Techniken (z. B. Token-Systeme, Verstärkerentzug) informiert. Das Therapieprogramm wird meist als Einzeltherapie durchgeführt, kann aber auch in der Gruppe eingesetzt werden. Bei wöchentlichen Sitzungen muss durchschnittlich mit einem Behandlungszeitraum zwischen einem halben und einem Jahr gerechnet werden; danach ist häufig eine Nachbetreuung in größeren Zeitabständen sinnvoll. Training mit aggressiven Kindern Im Mittelpunkt des Trainings mit aggressiven Kindern (Petermann u. Petermann 2001) stehen – im Gegensatz zum THOP – kindbezogene Interventionen; eltern- bzw. familienbezogene Interventionen werden begleitend durchgeführt. Die Zielgruppe dieses Trainingsprogramms sind Kinder im Alter von 7 bis 13 Jahren, bei niedrigerem Intelligenzniveau auch ältere Kinder. Ziel ist es, Defizite sozialer Kompetenzen zu überwinden und aggressive Handlungsstrategien durch sozial kompetentes Alternativverhalten zu ersetzen. Nach einer diagnostischen Phase mit Kind und Eltern und der Indikationsstellung erfolgt das Abschließen eines »Trainingsvertrages«. Begonnen wird mit einem Einzeltraining mit dem Kind, gefolgt von einem Gruppentraining in einer Kleingruppe. Die Kinder sollten hinsichtlich ihrer Lernvoraussetzungen relativ ähnlich sein, können jedoch unterschiedlich bezüglich Alter, Geschlecht und Art des aggressiven Verhaltens sein. Trainingsbegleitend wird eine Beratung der Eltern durchgeführt sowie Kontakt mit der Schule aufgenommen.
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
Das Trainingsprogramm verwendet folgende Einzelmodule: 5 Verminderung des Erregungsniveaus und Erreichen motorischer Ruhe durch bildgetragene Entspannungsgeschichten (»Kapitän-Nemo-Geschichten«) 5 Differenziertere Wahrnehmung sozialer Situationen und Handlungsabläufe durch Wahrnehmungs- und Problemlösespiele sowie Videofilme, die Konfliktsituationen darstellen 5 Selbstkontrolle als Schritt zur Aggressionshemmung anhand von Selbstbeobachtungsbögen (»Detektivbogen«) und Selbstinstruktionskarten 5 Angemessene Selbstbehauptung und prosoziales Verhalten 5 Perspektivwechsel und Empathiefähigkeit durch strukturierte Rollenspiele 5 Übertragung der gelernten Inhalte auf den Alltag, z. B. mit Hilfe von Verhaltensaufgaben. Im Mittelpunkt der begleitenden Elternberatung stehen das Erziehungsverhalten und die Interaktionen mit dem Kind. Wichtige Ziele sind die Vermittlung von systematischer Verhaltensbeobachtung und -steuerung, z. B. konsequentes und eindeutiges Loben, Techniken des Ignorierens und sozialen Ausschlusses als negative Konsequenzen bei unangemessenem Verhalten des Kindes. Es werden typische Konfliktsituationen zwischen Eltern und Kind besprochen und analysiert. Unter anderem durch Arbeitsmaterialien sollen Eltern dabei unterstützt werden, das erworbene Wissen zunehmend auf Alltagssituationen zu übertragen. In der Regel wird das Programm ambulant durchgeführt, kann aber auch im stationären Rahmen eingesetzt werden. Für die Generalisierung und Stabilität der Trainingsfortschritte ist das frühzeitige Einbeziehen von Alltagserfahrungen sehr wichtig. Durch dieses Trainingsprogramm kann insbesondere prosoziales Verhalten gefördert werden.
107
6
6.2.5 Pharmakotherapie Obwohl bei Störungen des Sozialverhaltens eine Pharmakotherapie nicht als Therapie der ersten Wahl und nicht als einzige Therapie durchgeführt werden sollte, hat eine Pharmakotherapie vor allem bei ausgeprägt impulsiv-aggressivem Verhalten und/oder bei bedeutsamer psychiatrischer Komorbidität in einem multimodalen Behandlungsprogramm einen wichtigen Stellenwert. Grundsätzlich ist impulsive Aggressivität eher einer medikamentösen Behandlung zugänglich als geplantes aggressives Verhalten, aber auch Letzteres kann durch eine Pharmakotherapie vermindert werden (Klein et al. 1997; Connor et al. 2002). Zu beachten ist, dass es allein infolge einer stationären Aufnahme kurzfristig zu einer deutlichen Verminderung aggressiven Verhaltens kommen kann (Malone et al. 1997). Deswegen sollte mit einer Pharmakotherapie nach Möglichkeit nicht gleich im Anschluss an eine stationäre Aufnahme begonnen worden, da sonst der Effekt der stationären Aufnahme selbst und der Effekt der Medikation nicht ohne weiteres voneinander unterschieden werden können. Generell ist eine Monotherapie mit einem einzigen Medikament günstiger als eine Kombination von Medikamenten, aber gelegentlich ist eine Monotherapie nicht ausreichend wirksam. In jedem Fall sollte eine Medikation nur bei klinisch bedeutsamer Response fortgesetzt werden; eine vollständige Remission ist jedoch weniger wahrscheinlich. Die Auswahl eines Medikamentes erfolgt anhand von Art und Schweregrad des disruptiven Verhaltens, komorbiden psychiatrischen Störungen, Kontraindikationen für den Einsatz eines bestimmten Medikamentes (u. a. somatische Erkrankungen, Einnahme anderer Medikamente, unzureichende Kontrolle der Medikation durch die Betreuungspersonen) und anamnestischen Informationen über Effekte und Nebenwirkungen von Medikamenten, mit denen bereits Behandlungsversuche bei diesem Patienten unternommen wurden. Diesbezügliche
108
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
Informationen sollten vor Beginn einer medikamentösen Behandlung bzw. mit Beginn einer stationären jugendpsychiatrischen Behandlung, in deren Rahmen die Gabe einer Akutmedikation erforderlich werden könnte, möglichst präzise erhoben werden. Für die Reihenfolge medikamentöser Behandlungsversuche in Abhängigkeit von Symptomatik und komorbider Störung wird in Anlehnung an die Treatment Recommendations for the Use of Antipsychotics for Aggressive Youth (Schur et al. 2003) empfohlen: 5 Bei komorbider ADHS bzw. hoher Impulsivität: Stimulanzien vor Neuroleptikum 5 Bei komorbider ängstlicher bzw. depressiver Störung: Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) vor Neuroleptikum 5 Bei ausgeprägtem impulsiv-aggressivem Verhalten: Neuroleptikum vor »Mood stabilizer« (z. B. Lithium/Valproat) 5 Bei ausgeprägter emotionaler Labilität und Irritierbarkeit: Mood stabilizer vor Neuroleptikum 5 Bei niedriger Intelligenz: Neuroleptikum vor Stimulanzien 5 Generell: Atypisches Neuroleptikum vor klassischem Neuroleptikum, dabei »start low, go slow, taper slow«. Generell muss bei der Pharmakotherapie von Kindern und Jugendlichen beachtet werden, dass aufgrund der Reifungsabhängigkeit zentralnervöser Neurotransmittersysteme sowie aufgrund der pharmakokinetischen Besonderheiten des Kindes- und Jugendalters die an Erwachsenen gewonnenen Ergebnisse pharmakologischer Untersuchungen nicht direkt auf Kinder und Jugendliche übertragen werden können. Andererseits liegen jedoch gerade für das Kindes- und Jugendalter kaum pharmakologische Untersuchungen vor. Somit findet in diesem Altersbereich ein ausgedehnter »Off-label-Einsatz« von Medikamenten statt, also ohne dass eine Zulassung des Medikamentes für diese Altersgruppe und/oder Indikation vorliegt. Dieses gilt für
alle medizinischen Fächer, in denen Kinder und Jugendliche behandelt werden, am ausgeprägtesten für Intensivmedizin, Neonatologie und Onkologie, aber auch für die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Andererseits hat ein Arzt die Pflicht, Medikamente auch außerhalb des zugelassenen Einsatzbereiches einzusetzen, wenn dieses wissenschaftlicher Standard ist (»Aciclovir-Urteil«, OLG Köln). Als Ausweg aus diesem Dilemma kann im Rahmen der ärztlichen Therapiefreiheit ein individueller Heilversuch durchgeführt werden. Ein solcher setzt nach den Arzneimittel-Richtlinien voraus, dass nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse ein relevantes Ausmaß der Wirksamkeit bei einer definierten Indikation gegeben ist und dass eine Nutzen-Risiko-Abwägung zu einem günstigen Ergebnis führt. Der verordnende Arzt unterliegt dabei einer besonderen Sorgfaltspflicht. Wesentlich ist, dass der behandelnde Arzt eine sorgfältige und umfassende Aufklärung vornimmt und diese sehr gut und detailliert dokumentiert, unter Aufnahme spezifischer Nachfragen und Einzelpunkte, die mit den Erziehungsberechtigten erörtert wurden. Bei einem individuellen Heilversuch besteht jedoch keine Haftung des Medikamentenherstellers bei Folgeschäden; das Haftungsrisiko liegt dann beim behandelnden Arzt, wenn die Aufklärung unzureichend durchgeführt und/oder dokumentiert wird, anderenfalls bei den Sorgeberechtigten. Es besteht keine Pflicht der gesetzlichen Krankenkassen zur Kostenübernahme.
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
Ärztliche Aufklärung im Rahmen eines individuellen Heilversuches (nach Fegert 2003) 5 Wirkungen und Nebenwirkungen 5 Aufklärung darüber, dass das Medikament für diese Altersgruppe und/oder Indikation arzneimittelrechtlich nicht zugelassen ist 5 Aufklärung über zugelassene Behandlungsalternativen 5 Aufklärung über das Recht, jederzeit den Heilversuch abzubrechen 5 Aufklärung über haftungsrechtliche Konsequenzen 5 Informationen über bisherige Behandlungserfahrungen und die Leitlinien der Fachgesellschaften
Relevante Substanzen, sowohl zur längerfristigen medikamentösen Behandlung bei Störungen des Sozialverhaltens als auch zur Notfallmedikation bei aggressiven Erregungszuständen, werden nachfolgend dargestellt. Wichtige Medikamentengruppen sind Stimulanzien, atypische Neuroleptika, Antidepressiva, Mood stabilizer und – ausschließlich als Akutmedikation – Benzodiazepine. Ein Teil der in diesem Kapitel aufgeführten Hinweise wurde den Monographien von Nissen, Fritze und Trott (1998) sowie von Benkert und Hippius (2000) entnommen, ohne dass diese – im Interesse der Lesbarkeit des Textes – einzeln gekennzeichnet sind. Dem Leser wird unbedingt empfohlen, jeweils auch die aktuellen Fachinformationen über von ihm eingesetzte Medikamente zu Rate zu ziehen. Ein Teil der Fachinformationen kann auch im Internet über www.roteliste.de abgerufen werden. Stimulanzien Die Wirksamkeit von Stimulanzien (Methylphenidat, Amphetamin, Pemolin) zur Behandlung einer ADHS und ihr günstiges Wirkungs/Nebenwirkungsprofil sind außerordentlich gut
109
6
belegt. Für die Effekte auf Ablenkbarkeit und Konzentration sind im Allgemeinen geringere Dosen erforderlich als zur ausreichenden Wirkung auf Impulsivität, motorische Unruhe und Aggressivität. Etwa 70–80% der Patienten zeigen eine therapeutische Response auf Methylphenidat. Bei unzureichender Wirksamkeit von Methylphenidat ist ein Behandlungsversuch mit Amphetamin angezeigt (Leitlinie »Hyperkinetische Störungen«, Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie et al. 2003). Beim Einsatz von Stimulanzien ist eine gute Aufklärung der Eltern, gegebenenfalls auch von Erziehern und Lehrern, über Effekte und Nebenwirkungen besonders wichtig, da in den Medien viele Falschinformationen verfügbar sind. Pemolin, das im Gegensatz zu Methylphenidat und Amphetamin nicht dem Betäubungsmittelgesetz unterliegt, darf aufgrund vereinzelter Fälle von schwerer Leberschädigung erst dann eingesetzt werden, wenn Behandlungsversuche mit Methylphenidat und Amphetamin erfolglos waren und andere Behandlungsformen unzureichend wirksam wird, nach Stellen der Diagnose einer ADHS und eingehender Aufklärung der Eltern über die mit der Anwendung von Pemolin verbundenen potenziellen Risiken durch einen Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Zur Beurteilung des Effektes sind neben Informationen von den Eltern auch Rückmeldungen aus der Schule wichtig. Auch ältere Kinder und Jugendliche sollten nach ihrem Erleben des Medikationseffektes sowie nach Nebenwirkungen befragt werden. In regelmäßigen Abständen, wenigstens jährlich, ist ein kontrollierter Auslassversuch in Erwägung zu ziehen, um zu überprüfen, ob eine Fortsetzung der medikamentösen Behandlung erforderlich ist. Dieser wird am günstigsten während der Schulperiode durchgeführt, so dass der Auslassversuch unter realistischen Bedingungen geschieht und Rückmeldungen aus der Schule eingeholt werden können. Ob es im Laufe einer längeren Behandlung zu einer echten Toleranz gegen Stimulanzi-
110
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
en und dadurch zu einem Verlust der Wirksamkeit kommen kann, ist fraglich; viel wahrscheinlicher ist, dass die Stimulanziendosis nicht der wachstumsbedingten Zunahme des Körpergewichtes angepasst wurde. Eine Überdosierung mit Stimulanzien ist weniger gefährlich als bei den meisten anderen Psychopharmaka, aber dennoch können extreme Überdosierungen tödlich sein. Am häufigsten treten sympathomimetische Intoxikationserscheinungen, nämlich Blutdrucksteigerung, Tachykardie und Hyperthermie, auf. Zur Behandlung von hypertensiven Krisen und ausgeprägten Tachykardien sind β-Blocker geeignet. Bei starker psychomotorischer Erregung können Benzodiazepine eingesetzt werden. Paranoid-psychotische Syndrome als Intoxikationsfolge klingen nach kurzer Zeit wieder ab; falls erforderlich, können sie mit Neuroleptika (z. B. Haloperidol i.v.) behandelt werden. Methylphenidat Wirkungsweise. Methylphenidat hemmt in ers-
ter Linie die Wiederaufnahme von Dopamin in die Präsynapse, wodurch die Dopaminkonzentration im synaptischen Spalt erhöht wird; darüber hinaus werden auch das noradrenerge und das serotonerge Neurotransmittersystem beeinflusst. ! Methylphenidat ist Medikament der ersten Wahl zur Behandlung einer ADHS, hat aber auch Effekte auf Symptome einer Störung des Sozialverhaltens.
So wurden in einer Metaanalyse bei Dosierungen von etwa 1,0 mg Methylphenidat/kg Körpergewicht und Tag mittlere bis große Effekte auf disruptive Symptome gefunden (Connor et al. 2002). Die Wirkung auf die Symptome einer Störung des Sozialverhaltens zeigt sich unabhängig davon, ob eine komorbide AHDS besteht (Klein et al. 1997); dementsprechend enthält die Leitlinie »Störungen des Sozialverhaltens« (Deutsche
Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie et al. 2003) die Empfehlung, Methylphenidat auch für diese Indikation einzusetzen. Auch bei Patienten mit unterdurchschnittlicher Intelligenz, die eine hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens aufweisen, kann eine Medikation mit Stimulanzien sinnvoll sein. Die Diagnose – für die erforderlich ist, dass ein Patient deutlich unaufmerksamer und unruhiger ist, als es seinem Lebensalter und Intelligenzniveau entsprechend zu erwarten wäre – ist jedoch schwieriger zu stellen. Bei Patienten mit geistiger Behinderung ist der Effekt von Methylphenidat auf disruptives Verhalten kleiner (Connor et al. 2002) und die Wahrscheinlichkeit von Nebenwirkungen größer als bei Patienten ohne geistige Behinderung. Methylphenidat ist erst ab dem Alter von 6 Jahren zugelassen; es gibt jedoch klinische Situationen, in denen auch bei jüngeren Kindern eine medikamentöse Behandlung unverzichtbar ist, z. B. bei einer komorbiden rezeptiven Sprachstörung oder bei einer so ausgeprägten ADHS-Symptomatik, dass diese zu einer psychosozialen Gefährdung des Kindes führt. Zu beachten ist, dass die Gefahr von Nebenwirkungen größer als bei älteren Kindern ist und möglichst niedrige Dosierungen gewählt werden sollten. Dosierung. Die Größe des Effektes von Methylphenidat auf disruptives Verhalten steht wahrscheinlich nicht in direktem Zusammenhang mit der Größe des Effektes auf die ADHSKernsymptome Aufmerksamkeits- und Konzentrationsdefizit, Impulsivität und Hyperaktivität (Klein et al. 1997; Connor et al. 2002); dieses muss also getrennt voneinander evaluiert werden. Zur Verminderung disruptiven Verhaltens ist oft eine höhere Methylphenidatdosis (ca. 1 mg/kg Körpergewicht und Tag) erforderlich als zur Verminderung der ADHS-Kernsymptome. Günstig ist die dreimalige Gabe von Standard-Methylphenidat oder aber die morgendliche Gabe eines Retardpräparates, um einen medikamentösen Effekt über den ganzen
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
Tag hinweg zu erzielen (Stein et al. 1996; Pelham et al. 2001). Von der Überschreitung einer Tagesdosis von 1 mg/kg Körpergewicht ist in der Regel abzuraten, weil es dann wiederum zu einer Verschlechterung des kognitiven Funktionierens – mit einer Einengung der Aufmerksamkeit und Einschränkungen der kognitiven Flexibilität und der Problemlösefähigkeit – kommt und das Risiko von Nebenwirkungen deutlich zunimmt. Die Obergrenze liegt grundsätzlich bei 60 mg Methylphenidat pro Tag; in Einzelfällen werden jedoch bei Jugendlichen höhere Dosen bis zu etwa 80 mg/Tag benötigt. Auf ambulanten Betäubungsmittel(BtM)-Rezepten ist das Überschreiten der vorgesehenen Höchstmenge durch den Großbuchstaben A zu kennzeichnen. Die medikamentöse Einstellung sollte mit einer niedrigen Dosis begonnen werden, in Abhängigkeit vom Körpergewicht in der Regel 5–10 mg Methylphenidat, um zu überprüfen, ob eine erhöhte Sensitivität für bestimmte Nebenwirkungen wie Bauchschmerzen oder sympathomimetische Effekte besteht. Bei Verträglichkeit kann die Steigerung der Dosis ebenfalls in 5– 10-mg-Schritten erfolgen. Aufgrund der kurzen Halbwertszeit von Methylphenidat ist es häufig bereits in der Aufdosierungsphase sinnvoll, eine zweite Dosis zu geben. Insbesondere bei Kindern mit disruptiven Symptomen ist häufig auch die Gabe einer dritten Dosis ratsam, wobei darauf geachtet werden muss, ob das Einschlafen dadurch gestört wird; umgekehrt kann es jedoch auch – durch eine Verminderung der motorischen Unruhe vor dem Schlafengehen – zu verbessertem Einschlafen kommen. Alternativ zur 2- bis 3-maligen Gabe von StandardMethylphenidat kann die Gabe eines Retardpräparates in Betracht gezogen werden. Da bei Kindern und Jugendlichen mit einer hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens die Medikation nicht nur zur Verminderung der Symptome in der Schule dient, sondern auch zur Förderung der sozialen Integration in die Familie und in die Gruppe der Gleichaltrigen, ist eine Fortführung der Stimulanzienbehandlung meist
111
6
auch am Wochenende und in den Schulferien indiziert. In etwa jährlichen Abständen sollte ein kontrollierter Auslassversuch der Medikation in Betracht gezogen werden. Wenn Zweifel bezüglich des Medikationseffektes – bei Eltern oder Behandlern – bestehen, kann ein Doppelblindversuch hilfreich sein. Hierzu sollte eine Dosis gewählt werden, die für eine Therapie-Response ausreichend hoch ist, etwa 0,5–0,7 mg/kg Körpergewicht und Tag. Zur Vermeidung von Nebenwirkungen kann schrittweise bis zur Zieldosis aufdosiert werden; dann erfolgt der Wechsel zu einer etwa zwei- bis vierwöchigen Doppelblindphase, bei der weder Patient/Eltern noch Behandler wissen, wann der Patient Verum und wann Placebo erhält. In jedem relevanten Setting wird für vorgegebene Zeitabschnitte die Wirkung beurteilt, nach Möglichkeit immer von den gleichen Personen, weil so die Reliabilität der Beurteilung höher ist. Nach der Entblindung zeigt sich dann, ob die Bewertungen des medikamentösen Effektes mit der Gabe von Verum bzw. Placebo übereinstimmen. Pharmakokinetik. Die Wirkung von Methylphenidat setzt in der Regel nach 30–60 Minuten ein, im Einzelfall – vor allem auf nüchternen Magen – auch schon nach 10 Minuten. Die maximale Plasmakonzentration wird nach etwa 1–2 Stunden erreicht, die Plasmahalbwertszeit beträgt etwa 2½ Stunden, und nach 4 Stunden ist meist kein signifikanter Medikamenteneffekt mehr festzustellen. Wenn Rebound-Phänomene im Sinne eines verstärkten Auftretens der Symptomatik mit Nachlassen des Medikamenteneffektes auftreten oder wenn die mittägliche Einnahme der Medikation nicht gewährleistet ist, kann die morgendliche Gabe eines Methylphenidat-Retardpräparates vorteilhaft sein; hierdurch verlängert sich jedoch nicht die Halbwertszeit an sich, sondern der Zeitraum, über den hinweg der Stoff freigesetzt wird. In der Leber wird der Hauptmetabolit Ritalinsäure gebildet, der inaktiv ist und innerhalb von 24 Stunden vollständig über den Urin ausgeschieden wird. Gelegentlich können
112
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
jedoch gewisse klinische Effekte von Methylphenidat auch noch über den Zeitraum des Absetzens hinaus festzustellen sein, obwohl der Wirkstoff im Serum nicht mehr nachweisbar ist. Dem könnte – neben psychogenen Effekten – zugrunde liegen, dass Methylphenidat im ZNS eine andere Pharmakokinetik aufweist als peripher oder dass Medikationseffekte auf die Rezeptoren über einen längeren Zeitraum hinweg anhalten. Nebenwirkungen. Nebenwirkungen, wie Ein-
schlafstörungen, verminderter Appetit, Erhöhung von Herzfrequenz und systolischem und diastolischem Blutdruck, treten bei Methylphenidat in geringerem Maß als bei Amphetamin auf. Sofern es zu Einschlafstörungen kommt, nehmen diese im Laufe der medikamentösen Behandlung eher ab. Unter einer Methylphenidat-Behandlung kann das Einschlafen jedoch auch verbessert werden, weil der Patient weniger unruhig ist und somit leichter zur Ruhe kommt. Bei deutlich reduziertem Appetit und Gewichtsverlust kann es vorteilhaft sein, wenn die Einnahme nach den Mahlzeiten erfolgt, nach Möglichkeit etwa 1 Stunde danach, um die Resorption des Medikaments nicht zu beeinträchtigen. Stimulanzien werden am besten in einem sauren Milieu resorbiert, so dass auch Milch mit der Resorption interferieren kann. Falls gastrointestinale Beschwerden auftreten, nehmen diese meist während der ersten Behandlungswochen ab. Es kann zu einer geringfügigen Erhöhung von systolischem Blutdruck, diastolischem Blutdruck und Herzfrequenz kommen, die in der Regel klinisch nicht signifikant ist. Bei vorbestehender Tachykardie, kardialen Arrhythmien oder Hypertonie sollte jedoch vor Beginn der Medikation ein internistisches Konsil eingeholt werden. Wenn über das Auftreten von vermehrter motorischer Unruhe während einer Methylphenidat-Behandlung berichtet wird, liegt sehr selten ein unmittelbarer Medikamenteneffekt vor, der dann am ausgeprägtesten ist, wenn das Medikament den höchsten Blutspiegel aufweist. Oft handelt es sich um einen Wahrnehmungsbias,
bei dem das Wiederauftreten der ADHS-Symptomatik nach Abklingen des medikamentösen Effektes, infolge des Kontrastes zu dem ruhigeren Verhalten unter Medikation, als verstärkt erlebt wird. Gelegentlich liegt auch ein Rebound-Effekt vor, bei dem die Symptomatik nach Nachlassen der medikamentösen Wirkung tatsächlich vorübergehend stärker auftritt. Eine nach Therapiebeginn zu beobachtende erhöhte Reizbarkeit oder Verstimmtheit kann damit in Zusammenhang stehen, dass die Kinder/Jugendlichen unter Medikation ihre Schwierigkeiten sehr viel deutlicher wahrnehmen. Auch dass die Patienten unter Medikation motorisch ruhiger sind, kann dazu führen, dass sie depressiver erscheinen. Es kann jedoch auch zu einer direkt pharmakodynamisch bedingten Zunahme von Reizbarkeit, Dysphorie oder Ängstlichkeit kommen, zu Beginn oder erst später im Verlauf der Behandlung, und dieses Risiko ist dann größer, wenn solche Symptome bereits vor Behandlungsbeginn bestanden. Bei einer länger anhaltenden depressiven Verstimmung sollten Dosisreduktion, Umsetzung auf ein anderes Medikament oder eventuell die zusätzliche Gabe eines SerotoninWiederaufnahmehemmers erwogen werden. Zu beachten ist auch, dass ein reines Aufmerksamkeitsdefizit ohne hyperkinetische Symptomatik, für welches Methylphenidat ebenfalls Medikament der ersten Wahl ist, häufiger mit depressiven oder Angstsymptomen einhergeht. Die klinische Signifikanz einer möglichen Verzögerung des Längenwachstums ist wahrscheinlich deutlich geringer, als bislang angenommen wurde. Zu berücksichtigen ist auch, dass Kinder mit ADHS – wahrscheinlich aufgrund hormoneller Abweichungen – im Durchschnitt etwas kleiner als Gleichaltrige ohne ADHS sind. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Methylphenidat-Behandlung und einer Verzögerung des Längenwachstums konnte nicht nachgewiesen werden. Dennoch sollten Körperlänge und -gewicht etwa halbjährlich gemessen und anhand eines Wachstumsdiagrammes kontrolliert werden. Gegebenenfalls
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
sollte die Dosis reduziert oder die Behandlung ausgesetzt werden, bis es zu einem Aufholen der Wachstumsverzögerung gekommen ist. Bei bestimmungsgemäßem Gebrauch von Methylphenidat in den zugelassenen Anwendungsgebieten ist die Gefahr einer Abhängigkeit von Methylphenidat praktisch nicht vorhanden; es muss jedoch die Möglichkeit eines Gebrauchs in nicht vorgeschriebenen Dosierungen oder einer Weitergabe des Medikaments an Dritte beachtet werden, auch wenn Methylphenidat vergleichsweise selten im Rahmen eines Substanzabusus eingesetzt wird. Die Entwicklung einer Substanzabhängigkeit wird durch eine Stimulanzienbehandlung nicht gefördert, sondern wahrscheinlich im Gegenteil eher verringert. Bei Patienten mit signifikantem Substanzabusus darf Methylphenidat jedoch nicht eingesetzt werden. Zu beachten ist, dass unter MethylphenidatEinnahme ein Amphetamin-Screening im Urin positiv werden kann, weil die beiden Substanzen strukturell sehr ähnlich sind. Sehr seltene Nebenwirkungen sind Leukopenie, Thrombozytopenie oder Anämie sowie eine Störung der Leberfunktion. Kontraindikationen. Kontraindikationen sind das Bestehen einer psychotischen Störung oder einer Schwangerschaft. Eine psychotische Störung kann durch Stimulanzien exazerbieren. Stimulanzien sind plazentagängig, und in tierexperimentellen Untersuchungen wurden für Methylphenidat teratogene Effekte beschrieben. Deshalb sollten weibliche Jugendliche, die mit Methylphenidat behandelt werden, zuverlässige Maßnahmen zur Schwangerschaftsverhütung anwenden. Bei herabgesetzter Krampfschwelle sollte Methylphenidat langsam aufdosiert und eine niedrige Zieldosis angestrebt sowie EEGKontrollen durchgeführt werden. Das Vorliegen einer Epilepsie ist dann, wenn ein Patient unter antiepileptischer Medikation anfallsfrei ist, keine Kontraindikation für eine Behandlung mit Methylphenidat. Lediglich in Einzelfällen
113
6
kommt es zu einem Anstieg der Anfallshäufigkeit, was zu einem Überprüfen der Therapie und ggf. Absetzen von Methylphenidat führen sollte. Auch das Vorliegen einer Ticstörung, einschließlich eines Tourette-Syndroms, stellt keine absolute Kontraindikation für die Behandlung einer (hyperkinetischen) Störung des Sozialverhaltens mit Stimulanzien dar. Die Auswirkungen auf die Ticsymptomatik sind individuell unterschiedlich. Vor allem zu Beginn einer Stimulanzienbehandlung können die Tics zunehmen und – solange die Therapie fortgesetzt wird – auf einem höheren Niveau persistieren oder aber nach einigen Wochen wieder abnehmen; die Medikation kann aber auch ohne Auswirkungen auf die Ticsymptomatik bleiben oder diese gar vermindern. Es gibt keine Evidenz dafür, dass Stimulanzien zur bleibenden Verstärkung einer Ticsymptomatik, über den Zeitraum der Medikamenteneinnahme hinaus, geführt hätten. Bei der Beurteilung dessen, ob Stimulanzien zu einer Verstärkung der Ticsymptomatik geführt haben könnten, muss berücksichtigt werden, dass diese – auch ohne Stimulanziengabe - einer störungsimmanenten Dynamik (»waxing and waning«) unterliegt. Sollte es unter Stimulanzien, deren Gabe als für den Patienten notwendig erachtet wird, tatsächlich zu einer länger andauernden, untolerierbaren Verstärkung von Tics kommen, kann eine zusätzliche Medikation zur Behandlung der Ticsymptomatik erwogen werden. Hierbei ist Tiaprid das Mittel der ersten Wahl, in einschleichender Dosierung von 2 mg, 5 mg und 10 mg/kg Körpergewicht. Als Nebenwirkungen können vor allem Müdigkeit, aber auch Agitation und Schlaflosigkeit, sowie Kopfschmerzen und Schwindel auftreten. Auch unter einer medikamentösen Behandlung der Ticsymptomatik ist jedoch oft keine vollständige Symptomfreiheit zu erwarten, so dass es bei einer chronischen Ticstörung ein wichtiges Therapieziel darstellt, die Bewältigung und soziale Kompetenz des Patienten im Umgang mit seiner Symptomatik zu erhöhen.
114
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
Interaktionen. Methylphenidat hemmt den Ab-
bau von Antiepileptika, Neuroleptika und trizyklischen Antidepressiva, so dass deren Dosis bei Kombination mit Methylphenidat eventuell reduziert werden muss. So wurden bei Kombination von Methylphenidat und Imipramin Unruhe, Verwirrtheit und psychotische Episoden beschrieben. Auch die Wirksamkeit aller Sympathomimetika wird verstärkt. Durch MAO-Hemmer wird der Metabolismus von Methylphenidat verlangsamt, so dass die Methylphenidat-Konzentration ansteigt. Bei gleichzeitiger Gabe von Carbamazepin kann die Wirksamkeit von Methylphenidat vermindert werden. Kontrolluntersuchungen. Sinnvoll ist die Kon-
trolle von Blutbild, Transaminasen und Bilirubin sowie Blutdruck und Puls vor Therapiebeginn; außerdem sollte ein EKG vor Theraphiebeginn und nach Erreichen der Zieldosis geschrieben werden. Bei Hinweisen auf eine erniedrigte Krampfschwelle ist auch ein EEG sinnvoll. Unter der Behandlung sollten in angemessenen Abständen Blutdruck- und Pulskontrollen durchgeführt werden. Ein sorgfältiges klinisches Monitoring und Untersuchungen von Blutbild und Leberfunktionsparametern sowie jährlich ein EKG sind bei längerer Methylphenidatbehandlung erforderlich. Bei dissozialen Jugendlichen sollte eine Verordnung von Methylphenidat nur bei sehr guter Kontrolle der Medikamenteneinnahme durch die Eltern erfolgen.
16
Amphetamin
17
Wirkungsweise. Für Amphetamin zeigte sich
18 19 20
ein ähnlicher Effekt auf disruptives Verhalten wie für Methylphenidat, wenn auch in einer geringeren Anzahl von Studien (Connor et al. 2002). Somit erscheint, bei unzureichender Response auf Methylphenidat, der Einsatz von Amphetamin auch für diese Indikation gerechtfertigt, jedoch nur dann, wenn eine sehr gute Kontrolle der Medikamenteneinnahme durch die Betreuungspersonen gewährleistet ist. Amphet-
amin ist in Deutschland nicht als Fertigarznei im Handel, sondern muss – üblicherweise als D,LAmphetaminsulfat in Form von Saft oder Kapseln – individuell rezeptiert und in der Apotheke hergestellt werden. Das D-Isomer ist 3- bis 4-mal wirksamer als das L-Isomer. Dosierung. Die
medikamentöse Einstellung wird üblicherweise mit einer niedrigen Dosis begonnen, z. B. 5 mg Amphetamin, um die Sensitivität vor allem für sympathomimetische Nebenwirkungen zu überprüfen. Dann wird die Dosis meist in 5-mg-Schritten erhöht, bis ein adäquater Therapieeffekt festzustellen ist. Übliche Tagesdosen liegen bei 10–20 mg, die Maximaldosis beträgt 40 mg. Pharmakokinetik. Die Wirkung setzt nach etwa 30–60 Minuten ein, die maximale Plasmakonzentration wird nach etwa 2 Stunden erreicht, die Plasmahalbwertszeit bewegt sich zwischen 5 und 8 Stunden, mit erheblicher interindividueller Variabilität. Nach Metabolisierung in der Leber erfolgt die Ausscheidung im Urin, die stark von dessen pH-Wert beeinflusst wird, mit einer niedrigen Ausscheidungsrate bei alkalischem Urin, einer hohen bei saurem Urin. Nebenwirkungen und Kontraindikationen. Als Nebenwirkungen treten gastrointestinale Beschwerden, verminderter Appetit (wahrscheinlich häufiger als unter Methylphenidat und Pemolin), Einschlafstörungen, erhöhte Reizbarkeit, Hypertonie und Tachykardie auf. Kontraindikationen sind Substanzabusus, psychotische Störung sowie Schwangerschaft. Beobachtungen am Menschen haben gezeigt, dass Amphetamine für den Fetus schädlich sein können; deshalb sollten weibliche Jugendliche unter der Behandlung mit Amphetamin zuverlässige Maßnahmen zur Schwangerschaftsverhütung anwenden. Bei vorbestehender Tachykardie, kardialen Arrythmien oder Hypertonie sollte vor Beginn der Medikation ein internistiches Konsil eingeholt werden.
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
Interaktionen. Amphetamin kann die Wirkung
von β-Blockern verringern, von Trizyklika verstärken. Kontrolluntersuchungen. Sinnvoll ist die Kontrolle von Blutbild, Transaminasen, Bilirubin, Kreatinin sowie Blutdruck und Puls vor Therapiebeginn; außerdem sollte ein EKG vor Therapiebeginn und nach Erreichen der Zieldosis geschrieben werden. Bei Hinweisen auf eine erniedrigte Krampfschwelle ist auch ein EEG sinnvoll. Unter der Behandlung sollten in angemessenen Abständen Blutdruck- und Pulskontrollen durchgeführt werden, sowie ein sorgfältiges klinisches Monitoring und Untersuchungen von Blutbild und Leberfunktionsparametern und etwa jährlich ein EKG bei längerer Behandlung.
Pemolin Wirkungsweise. Pemolin (Tradon) hat ähnliche Wirkungen im zentralen Nervensystem wie Methylphenidat und Amphetamin, unterscheidet sich aber in seiner Strukturformel deutlich von den beiden anderen Substanzen und unterliegt nicht dem Betäubungsmittelgesetz. Dosierung. Man sollte mit einer niedrigen Do-
sis beginnen (z. B. 10–20 mg Pemolin, in Abhängigkeit vom Körpergewicht), vor allem um zu überprüfen, ob eine erhöhte Nebenwirkungssensitivität besteht, und dann etwa alle 3–5 Tage die Dosis in 10-mg-Schritten steigern, bis sich ein therapeutischer Effekt zeigt. Bei Pemolin benötigt die individuelle Dosisfindung unter Umständen relativ lange. Übliche Tagesdosen betragen 20–60 mg; eine Dosis von 100 mg pro Tag sollte nicht überschritten werden. Pharmakokinetik. Die höchste Plasmakonzent-
ration wird 2–4 Stunden nach Einnahme erreicht, und die Plasmahalbwertszeit beträgt 8– 12 Stunden, so dass meist eine einmalige Einnahme pro Tag ausreichend ist. 60% der Dosis werden nach hepatischer Metabolisierung, 40% oh-
115
6
ne Metabolisierung über die Niere ausgeschieden. Die Angaben über den Wirkungsbeginn divergieren in der Literatur, zwischen wenigen Tagen und einigen Wochen. Nebenwirkungen. Die Substanz zeigt nur sehr
geringe sympathomimetische Effekte auf Blutdruck und Herzfrequenz; wie bei anderen Stimulanzien können jedoch verminderter Appetit, gastrointestinale Beschwerden, Einschlafstörungen und erhöhte Reizbarkeit auftreten. Bauchschmerzen können jedoch auch Anzeichen einer Leberfunktionsstörung sein, der relevantesten Nebenwirkung von Pemolin. Bei etwa 3% der Patienten tritt eine Erhöhung der Transaminasen auf, die sich nicht in jedem Fall nach Absetzen des Medikaments wieder normalisiert. In Einzelfällen kam es zu akutem Leberversagen, häufig bei Patienten mit Vorerkrankungen der Leber oder Begleitmedikation. ! Eine Therapie mit Pemolin darf nur dann begonnen werden, wenn Methylphenidat keinen ausreichenden Erfolg zeigte und andere Behandlungsformen unzureichend wirksam sind. Die Erstverordnung von Pemolin muss nach sorgfältiger Überprüfung durch einen Kinder- und Jugendpsychiater erfolgen. Die weitere Verordnung darf nur durch Ärzte mit breiter Erfahrung in der Behandlung von ADHS nach eingehender Aufklärung der Eltern über die mit der Anwendung von Pemolin verbundenen potenziellen Risiken erfolgen. Die Patienten müssen vor Therapiebeginn normale Leberfunktionsparameter aufweisen, und unter der Therapie sind diese regelmäßig in zweiwöchentlichen Abständen zu kontrollieren.
Günstig für die Behandlung einer ADHS bei Kindern und Jugendlichen mit einer Störung des Sozialverhaltens ist das praktisch nicht vorhandene Missbrauchspotential von Pemolin; ungünstig sind jedoch die hohen Anforderungen an die Compliance der Patienten bezüglich der häufig erforderlichen Kontrollen der Leberfunk-
116
1
Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
2
tionsparameter, sowie die Tatsache, dass im Falle eines komorbiden Substanzgebrauchs oft weitere hepatotoxische Substanzen, z.B. Alkohol, konsumiert werden.
3
Imipramin
4
Wirkungsweise. Imipramin ist ein trizyklisches
5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Antidepressivum, das die synaptische Wiederaufnahme von Serotonin und Noradrenalin etwa gleichermaßen hemmt und so deren Konzentration im synaptischen Spalt erhöht; außerdem wirkt es anticholinerg, antihistaminerg und antiadrenerg. Für Imipramin ist eine begrenzte Wirksamkeit bei ADHS nachgewiesen, die jedoch geringer ist als die der Stimulanzien. Für die Behandlung einer Depression im Kindes- und Jugendalter wurde keine über einen Plazeboeffekt hinausgehende Wirkung belegt; dennoch kann Imipramin bei komorbider depressiver oder ängstlicher Symptomatik vorteilhaft gegenüber dem Einsatz von Stimulanzien sein, da Stimulanzien bei dieser Symptomkonstellation weniger gut wirken und zu einer Verstärkung der depressiven bzw. ängstlichen Symptomatik führen können. Die Wirksamkeit von Imipramin bei Vorliegen einer Enuresis nocturna ist klar belegt; eine medikamentöse Behandlung ist jedoch nur dann sinnvoll, wenn ein hoher Leidensdruck besteht und begleitend verhaltenstherapeutische Interventionen erfolgen, denn bei alleiniger Pharmakotherapie kommt es oft innerhalb von wenigen Wochen bis Monaten nach Absetzen des Medikamentes zu einem Rezidiv. Dosierung. Die Behandlung sollte mit einer
niedrigen Dosis beginnen, in Abhängigkeit vom Körpergewicht 10–25 mg/Tag, und dann langsam erhöht werden. Eine Dosis von 2,5 mg/kg Körpergewicht sollte im Kindesalter nicht überschritten werden. In Abhängigkeit von erwünschten weiteren Wirkungen (z. B. auf Enuresis nocturna, Alpträume) und Nebenwirkungen (z. B. Sedierung oder Aktivierung, Schwitzen, Mundtrockenheit) kann die Medikation als Einmalgabe
morgens oder abends erfolgen oder in zwei bis drei Einzeldosen über den Tag hinweg verteilt werden. Auch das Absetzen muss langsam erfolgen, denn sonst können – aufgrund der anticholinergen Wirkkomponente – cholinerge Absetzsymptome auftreten (vermehrte Traumaktivität und Alpträume, Übelkeit und Erbrechen, kolikartige Bauchschmerzen und Diarrhoe). Pharmakokinetik. Imipramin wird nach oraler Gabe vollständig resorbiert. Die Halbwertszeit von Imipramin beträgt 12 Stunden, die des Hauptmetaboliten Desipramin geringfügig länger. Nebenwirkungen. Durch die anticholinerge
Komponente kann es zu Mundtrockenheit (mit einem erhöhten Risiko von Karies und Gingivitis bei langfristiger Gabe), Akkommodationsstörungen, (meist nur diskreter) Beschleunigung der Herzfrequenz, Miktionsstörungen, Obstipation und anticholinerger Suppression des REMSchlafes – die bei häufigem Auftreten von Albträumen therapeutisch erwünscht sein kann – kommen. Weiterhin können Störungen der Thermoregulation mit Hypo- oder Hyperthermie sowie verminderter oder vermehrter Schweißsekretion und eine Appetitsteigerung mit Kohlenhydrathunger und Gewichtszunahme auftreten; Letzeres kann dann vorteilhaft sein, wenn es unter Stimulanzien zu einem Gewichtsabfall gekommen ist. Imipramin kann geringgradig sedierend wirken, wobei sich bei längerer Einnahme diesbezüglich eine partielle Toleranz entwickeln kann; es kann aber auch aktivieren sowie zu Unruhe und Schlafstörungen führen. Aufgrund der antiadrenergen Eigenschaften kann es zu einer orthostatischen Hypotonie mit dem Risiko von Stürzen kommen. Selten treten Grandmal-Anfälle auf, deren Wahrscheinlichkeit mit der Dosis und der Geschwindigkeit der Dosissteigerung zunimmt. Wie alle Trizyklika kann Imipramin bei vorbestehender Leitungsverzögerung einen Leitungsblock provozieren und in toxischen Konzentrationen zu Tachyarrhythmien
117
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
führen und negativ inotrope Wirkungen entfalten. Erhöhungen der Leberenzyme treten häufiger auf, zwingen jedoch selten zum Absetzen; selten tritt eine cholestatische Hepatitis auf. Sehr selten wurde eine Agranulozytose beschrieben; bei einem Abfall der Leukozyten unter 3000/mm3 sollte das Medikament abgesetzt werden. Kontraindikationen. Obstruktionen der Harnwege oder des Darms, Engwinkelglaukom und kardiale Überleitungsstörungen stellen Kontraindikationen für Imipramin dar. Bei bekannter zerebraler Anfallsbereitschaft sollte eine medikamentöse Einstellung nur sehr vorsichtig und unter EEG-Kontrollen erfolgen. Insbesondere bei Jugendlichen mit Suizidversuchen in der Vorgeschichte sollte Imipramin nur dann verordnet werden, wenn eine sichere Kontrolle der Medikamenteneinnahme durch die Betreuungspersonen gewährleistet ist. Interaktionen. Bei Kombination mit niedrig-
potenten Neuroleptika kann es zu einer wechselseitigen Verstärkung anticholinerger, antihistaminerger (u. a. sedierender) und antiadrenerger (u. a. blutdrucksenkender) Wirkungen kommen. In Kombination mit Benzodiazepinen tritt eine verstärkte Sedierung auf. Neuroleptika, serotonerge Antidepressiva und Methylphenidat erhöhen die Plasmakonzentration trizyklischer Antidepressiva. Kontrolluntersuchungen. Vor Therapiebeginn sowie nach Erreichen der Zieldosis sollten Blutbild, Leberwerte, Blutdruck, Puls und EKG kontrolliert werden. Unter einer längeren Behandlung sollten regelmäßig Blutdruck und Puls, Blutbild sowie Leber- und Nierenwerte überprüft werden. Bei Auftreten von Fieber oder Infekten ist ebenfalls eine Kontrolle des Blutbildes erforderlich.
6
Neuroleptika Pipamperon Wirkungsweise. Pipamperon (u. a. Dipiperon) ist ein niedrig-potentes Neuroleptikum, das aufgrund seiner sedierenden und anxiolytischen Wirkung zur Behandlung unspezifischer Unruhe- und Erregungszustände eingesetzt werden kann. Pharmakodynamisch wirkt es stark antiserotonerg, deutlich weniger antidopaminerg, antihistaminerg und antiadrenerg, und kaum anticholinerg. Dosierung. Übliche Anfangsdosen bei Kindern
unter 10 Jahren liegen bei etwa 0,5–1,0 mg/kg Körpergewicht, bei älteren Kindern etwa 20–40 mg pro Einzelgabe. Im Allgemeinen ist eine Tagesdosis von maximal 2–6 mg/kg Körpergewicht ausreichend. Eine Kombination mehrerer niedrig-potenter Neuroleptika ist nicht sinnvoll und kann aufgrund unberechenbarer Interaktionen gefährlich sein. Nebenwirkungen und Kontrolluntersuchungen. Extrapyramidalmotorische Nebenwir-
kungen können dosiabhängig auftreten, auch Hyperprolaktinämie wurde beschrieben. Sehr selten wurde über eine Verlängerung des QT-Intervalls berichtet, so dass beim Vorliegen anderer Ursachen für eine Verlängerung des QT-Intervalls Vorsicht geboten ist. Blutdyskrasien und Leberfunktionsstörungen wurden in Einzelfällen beschrieben. Kontrollen von Blutbild, Leberfunktionswerten und Prolaktin unter einer längerfristigen Behandlung sind ratsam. Promethazin Wirkungsweise. Promethazin (u.a. Atosil) wird
zur Sedierung bei Unruhe- und Erregungszuständen und bei Ein- und Durchschlafstörungen eingesetzt. Es wirkt vorwiegend antihistaminerg, zusätzlich anticholinerg, antiadrenerg und schwach antiserotonerg; antipsychotische oder
118
Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
1
extrapyramidalmotorische Effekte treten in der Regel nicht auf.
2
Dosierung und Pharmakokinetik. Die Tagesdo-
3 4 5 6 7 8 9 10
sis beträgt bei Kindern unter 10 Jahren 1–2 mg/ kg Körpergewicht, bei Kindern ab 10 Jahren etwa 25–50 mg pro Einzelgabe. Promethazin wird oral schnell und nahezu vollständig resorbiert. Nebenwirkungen und Kontrolluntersuchungen.
Bei i.v.-Injektionen sind Venenwandreizungen und Thrombophlebitiden bis hin zu Nekrosen möglich. Die häufigsten Nebenwirkungen sind Mundtrockenheit und Störungen der Speichelsekretion. Vor allem bei Kindern kann es zu einer paradoxen ZNS-Stimulation mit Tremor, Irritabilität und Schaflosigkeit kommen, wobei fieberhafte Erkrankungen und Dehydration prädisponierend wirken. Die Kontrolle von Blutbild und Leberfunktionsparametern unter einer längeren Therapie mit Promethazin ist ratsam.
11
Levomepromazin
12
Wirkungsweise. Levomepromazin (u. a. Neurocil) ist ein trizyklisches, niedrig-potentes Neuroleptikum, das aufgrund seiner stark sedierenden Wirkung bei akuten Erregungszuständen eingesetzt wird. Es wirkt antihistaminerg, antiserotonerg, anticholinerg und antiadrenerg, jedoch lediglich schwach antidopaminerg.
13 14 15 16 17 18 19 20
Dosierung und Pharmakokinetik. Eine übliche
Dosis bei aggressiven Erregungszuständen älterer Kinder und Jugendlicher beträgt 25 mg Levomepromazin oral oder i.m. (tiefe intramuskuläre Gabe!). Bei i.m.-Gabe ist die maximale Konzentration nach 30–90 Minuten erreicht, oral nach 2–3 Stunden. Zunächst sollte man sich an einer Tagesdosis von etwa 1 mg/kg Körpergewicht, verteilt auf mehrere Dosen, orientieren, wobei jedoch in Abhängigkeit von den klinischen Erfordernissen und der Verträglichkeit des Medikamentes auch höhere Dosen eingesetzt werden können. Eine i.v.-Gabe von Levo-
mepromazin sollte nicht durchgeführt werden, da bei paravenöser oder intraarterieller Injektion Gewebeschäden bis zum Totalverlust der betroffenen Extremität auftreten können. Nebenwirkungen und Kontraindikationen. Als Nebenwirkungen können auftreten: Schwindel, Mundtrockenheit, Obstipation, Ileus, Harnverhalt, Akkommodationsstörung, orthostatische Hypotonie (kann sehr ausgeprägt sein!), Tachykardie, Verlängerung der QTc-Zeit, Glaukomanfall, epileptische Anfälle, Anstieg der Leberenzyme, cholestatische Hepatitis; zu extrapyramidalmotorischen Symptomen oder einem Delir kommt es erst unter hohen Dosen. Bei Langzeitbehandlung kann es zu Gewichtszunahme, Hyperprolaktinämie (mit Gynäkomastie, Galaktorrhoe, Menstruationsstörung, sexuellen Funktionsstörungen) und einer Verminderung der Glukosetoleranz kommen. Gelegentlich auftretende Nebenwirkungen sind Blutdyskrasien, Photosensibilisierung, allergische Hautreaktionen, bei Langzeittherapie Pigmenteinlagerung in Cornea und Linse der Augen. Bei parenteraler Gabe von Levomepromazin können die autonomen Nebenwirkungen besonders ausgeprägt sein. Häufig tritt innerhalb von 10–20 Minuten nach i.m.-Injektion eine Blutdrucksenkung auf, die 4–6 Stunden, gelegentlich bis zu 12 Stunden anhalten kann. Die Injektionslösung enthält Sulfit, welches sehr selten, vor allem bei Asthmapatienten, zu Überempfindlichkeitsreaktionen in Form von keuchender Atmung, Asthmaanfall, Erbrechen, Durchfall, Bewusstseinsstörungen oder Schock führen kann. I.m.-Injektionen von Levomepromazin können schmerzhafte Infiltrationen hinterlassen. Eine seltene Nebenwirkung stellt das lebensbedrohliche maligne neuroleptische Syndrom dar, welches ein sofortiges Absetzen der Medikation erfordert. Levomepromazin sollte nach Möglichkeit nicht i.v. injiziert werden, denn bei versehentlicher paravenöser oder intraarterieller Injektion können schwere Gewebeschäden bis zum Totalverlust der Extremität auftreten. Wenn eine i.v.-Gabe als unbe-
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
dingt erforderlich erachtet wird, sollte wegen der Häufigkeit von Gefäßanomalien in der Ellenbeuge, die zu einer versehentlichen intraarteriellen Injektion führen können, Venen außerhalb der Ellenbeuge verwendet werden. Auch bei lege artis durchgeführter i.v.-Injektion können Thrombophlebitiden bis hin zu Nekrosen auftreten, so dass nur langsam und nach Verdünnung auf 1:10 intravenös injiziert werden darf. Interaktionen. Bei Kombination mit anderen
zentral dämpfenden Substanzen können verstärkt Sedierung und Atemdepression auftreten. Eine Kombination mit anderen anticholinergen Substanzen sollte aufgrund der Gefahr eines anticholinergen Delirs vermieden werden. Bei Kombination mit trizyklischen Antidepressiva kommt es zu einer wechselseitigen Beeinflussung des hepatischen Metabolismus mit erhöhten Plasmakonzentrationen. Die Kombination mit anderen niedrig-potenten Neuroleptika bringt keine Vorteile, sondern lediglich Risiken mit sich. Kontrolluntersuchungen. Das Auftreten einer Blutdyskrasie aktuell oder in der Vorgeschichte stellt eine Kontraindikation für die Gabe von Levomepromazin dar (Gefahr der Agranulozytose). Somit sollten bei Gabe von trizyklischen Neuroleptika Blutbild (einschließlich Differenzialblutbild und Thrombozyten) sowie Transaminasen kontrolliert werden, in den ersten Wochen 14-tägig, dann viertel- bis halbjährlich. Auch ein EKG sollte vor und nach Beginn der Behandlung durchgeführt werden, danach in halbjährlichen Abständen; weiterhin ein EEG. ! Der Patient sowie seine Betreuungspersonen sollten über die »grippeähnlichen« Symptome einer Agranulozytose informiert werden.
Risperidon Wirkungsweise. Risperidon (Risperdal) ist ein
atypisches Neuroleptikum, führt also zu erheb-
119
6
lich weniger extrapyramidalmotorischen Nebenwirkungen als die klassischen Neuroleptika. Das Rezeptorprofil weist neben einem ausgeprägten Serotonin-Antagonismus auch antidopaminerge und antiadrenerge, jedoch keine anticholinergen Eigenschaften auf. Risperidon ist in Deutschland ab dem 6. Lebensjahr bei Verhaltensstörungen in Form von Impulssteuerungsstörungen mit selbst- und/oder fremdaggressivem oder behandlungsbedürftigem störendem Verhalten bei Intelligenzminderung oder Intelligenz im unteren Normbereich zugelassen. In kontrollierten Studien wurde eine Verminderung aggressiven Verhaltens bei Kindern und Jugendlichen mit Störung des Sozialverhaltens gezeigt (Findling et al. 2000). Eine Kombination von Risperidon mit Stimulanzien zur Behandlung aggressiven Verhaltens bei einer hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens ist möglich (Snyder et al. 2002). Weiterhin weist Risperidon auch eine stimmungsstabilisierende Wirkung auf. Dosierung. Zur Verminderung impulsiv-aggressiven Verhaltens wird Risperidon üblicherweise in einer niedrigen Dosierung eingesetzt. Die Anfangsdosis beträgt 0,25 mg pro Tag bei Kindern und 0,5 mg pro Tag bei Jugendlichen. Der Dosisaufbau sollte schrittweise erfolgen, bei dieser Indikation bis zu einer Zieldosis von etwa 1–2 mg täglich für Kinder und 2–4 mg täglich bei Jugendlichen (Pappadopulos et al. 2003). Zur Beurteilung des Therapieerfolges ist ein Behandlungszeitraum von mindestens 2 Wochen mit einer adäquaten Dosis erforderlich. Übliche Erhaltungsdosen liegen zwischen 0,5 mg und 1 mg pro Tag. Wenn eine Remission des aggressiven Verhaltens für mindestens 6 Monate bestanden hat, kann erwogen werden, die Medikation langsam abzusetzen. Pharmakokinetik. Risperidon wird nach oraler Gabe vollständig resorbiert, und die maximale Plasmakonzentration wird nach 1–2 Stunden erreicht. In der Leber erfolgt die Metabolisierung über CYP2D6 zu 9-Hydroxyrisperidon, welches
120
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
eine ähnliche biologische Wirkung wie Risperidon aufweist, aber eine längere Halbwertszeit (17–22 Stunden) hat. Nebenwirkungen. Unter Risperidon kommt es
bei Kindern und Jugendlichen häufiger zu einer Sedierung als bei Erwachsenen, die jedoch meist wenig ausgeprägt ist und vor allem zu Beginn der Behandlung auftritt (Snyder et al. 2002; Turgay et al. 2002). Führt diese zu einer signifikanten Beeinträchtigung, kann die abendliche Gabe von Risperidon günstig sein. Die Verminderung aggressiven Verhaltens zeigte sich unabhängig von sedierenden Effekten. Extrapyramidale Symptome treten viel seltener auf als bei klassischen Neuroleptika, vor allem in einer niedrigen Dosierung. Eine signifikante Nebenwirkung ist die mögliche Gewichtszunahme, auch wenn diese wahrscheinlich geringer ist als bei anderen atpyischen Neuroleptika, jedoch interindividuell variabel. Auch unter einer niedrigen Dosierung kann eine Hyperprolaktinämie mit Gynäkomastie, Galaktorrhoe, Menstruationsstörung und sexuellen Funktionsstörungen auftreten. Autonome Nebenwirkungen sind unter niedrigen Dosierungen kaum relevant; wenn es zu einer orthostatischen Dysregulation kommt, dann vor allem zu Beginn der Behandlung. Die QTc-Zeit kann unter Risperidon verlängert sein. Sehr selten wurden das Auftreten einer akuten Leukopenie oder Thrombozytopenie beschrieben. Bei allen Neuroleptika kann es zu einem lebensbedrohlichen malignen neuroleptischen Syndrom (MNS) kommen, das durch Hyperthermie, Muskelrigidität, autonome Instabilität (Schwitzen, unregelmäßiger Puls oder Blutdruck, Tachykardie und Herzrhythmusstörungen) und wechselnde Bewusstseinslagen gekennzeichnet ist; weitere Symptome können eine Erhöhung der Kreatinkinase, Myoglobinurie und akutes Nierenversagen sein. Ein malignes neuroleptisches Syndrom wurde für Risperidon nur in Einzelfällen beschrieben. Wenn ein Patient jedoch Symptome entwickelt, die auf ein MNS hindeuten oder unklares hohes Fieber oh-
ne zusätzliche MNS-Symptome entwickelt, müssen alle Neuroleptika einschließlich Risperidon abgesetzt werden. Ein isolierter geringfügiger Anstieg der Kreatinkinase erfordert kein sofortiges Absetzen, sollte aber Anlass zu enger klinischer und laborchemischer Überwachung geben. Kontrolluntersuchungen. Vor Therapiebeginn
sowie im ersten Monat nach Therapiebeginn sollten Blutbild, Leber- und Nierenwerte, Blutdruck, Puls, EKG und EEG kontrolliert werden; unter längerer Behandlung regelmäßig Blutbild, Leber- und Nierenfunktionsparameter, Blutdruck und Puls sowie Prolaktin. Olanzapin Wirkungsweise. Olanzapin (Zyprexa) ist ein atypisches Neuroleptikum mit hauptsächlich antiserotonergen, antidopaminergen und anticholinergen Eigenschaften. Bezüglich seiner Wirksamkeit zur Verminderung aggressiven Verhaltens liegen vergleichsweise wenig Daten vor; im Einzelfall kann es jedoch eine geeignete Alternative zu Risperidon darstellen (Soderstrom et al. 2002). Olanzapin weist wie Risperidon einen stimmungsstabilisierenden Effekt auf. Dosierung. Als Anfangsdosis sollten 2,5–5 mg gegeben und die Dosis in 2,5-mg-Schritten gesteigert werden, übliche Zieldosen bewegen sich zwischen 0,15–0,20 mg/kg Körpergewicht (Soderstrom et al. 2002). Eine Tagesdosis von 12,5 mg bei Kindern und 20 mg bei Jugendlichen sollte nicht überschritten werden (Pappadopulos et al. 2003). Aufgrund des sedierenden Effektes ist die abendliche Gabe etwa 1–2 Stunden vor dem Schlafengehen günstig. Zur Beurteilung des Therapieerfolges ist ein Behandlungszeitraum von mindestens 2 Wochen unter einer adäquaten Dosis erforderlich. Nach einer Remission des aggressiven Verhaltens für mindestens 6 Monate kann erwogen werden, die Medikation schrittweise abzusetzen, da es bei plötzlichem
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
Absetzen zu Schwitzen, Schlaflosigkeit, Zittern, Angst, Übelkeit oder Erbrechen kommen kann. Pharmakokinetik. Die Resorption von Olanza-
pin wird durch Nahrungsaufnahme nicht beeinflusst. Die maximale Plasmakonzentration wird innerhalb von 5–8 Stunden erreicht, die Eliminationshalbwertszeit beträgt 30–40 Stunden. Nebenwirkungen und Kontraindikationen. Die klinisch relevanteste Nebenwirkung von Olanzapin – neben der Sedierung – ist die Gewichtszunahme, die zum Teil erheblich sein kann. Häufig treten, besonders zu Beginn der Behandlung, vorübergehende asymptomatische Erhöhungen der Lebertransaminasen auf. Somit ist bei Patienten mit Anzeichen einer Leberfunktionsstörung oder Kombination mit potenziell hepatotoxischen Substanzen Vorsicht angebracht. Triglyzerid- und Glukosespiegel können ansteigen, und bei Diabetekern kann es zu einer potenziell bedrohlichen Verschlechterung der Stoffwechselsituation kommen, so dass eine geeignete ärztliche Überwachung ratsam ist. Häufig werden erhöhte Prolaktinspiegel festgestellt, die jedoch selten mit klinisch relevanten Befunden (Gynäkomastie, Galaktorrhoe) einhergehen. Bei Patienten mit niedrigen Leukozyten- und/oder Neutrophilenwerten jeglicher Ursache sowie bei Risikofaktoren oder Anzeichen für eine Knochenmarkdepression ist Vorsicht bei der Anwendung von Olanzapin geboten. Weitere mögliche Blutbildveränderungen sind Thrombozytopenie und Eosinophilie. Eine orthostatische Hypotonie tritt häufig auf; gelegentlich kommt es zu Bradykardien mit oder ohne Hypotonie oder Synkope. Anticholinerge Nebenwirkungen können sich als gering ausgeprägte, vorübergehende Mundtrockenheit oder Obstipation manifestieren. Das Risiko von extrapyramidalmotorischen Symptomen (Dyskinesie, Akathisie, Parkinsonismus) ist vergleichsweise gering; das Risiko einer Spätdyskinesie nimmt bei einer Langzeitbehandlung zu. Unter Olanzapin kommt es selten zu Krampfanfällen, meist bei Patienten mit vor-
121
6
bestehend herabgesetzter Krampfschwelle. Hinsichtlich eines möglichen malignen neuroleptischen Syndroms gelten die gleichen Hinweise, wie oben für Risperidon dargestellt. Zeichen einer Olanzapin-Überdosierung sind Tachykardie, Agitation und Aggressivität, Dysarthrie, extrapyramidalmotorische Symptome, Bewusstseinsminderung bis hin zum Koma, Atemdepression, Krampfanfälle und Delir. Interaktionen. Bei Kombination von Olanzapin
und Valproat kommt es häufig zu einer Neutropenie. Die gleichzeitige Gabe von Olanzapin und Lithium oder Valproat erhöht die Wahrscheinlichkeit von Zittern, Mundtrockenheit, Appetitsteigerung und Gewichtszunahme. Kontrolluntersuchungen Vor Therapiebeginn sowie im ersten Monat nach Therapiebeginn sollten Blutbild, Leber- und Nierenwerte, Blutglukose, Blutdruck, Puls, EKG und EEG kontrolliert werden; unter längerer Behandlung regelmäßig Blutbild, Leber- und Nierenfunktionswerte, Blutdruck und Puls, HbA1c und Prolaktin.
Haloperidol Bei Haloperidol handelt es sich um ein klassisches hochpotentes Neuroleptikum, das vor allem antagonistisch an Dopamin (D2)-Rezeptoren wirkt. Aufgrund der deutlichen extrapyramidalen Nebenwirkungen und des Risikos von Spätdyskinesien sowie des subjektiv unangenehmen Erlebens des Medikationseffektes durch die Patienten sollte Haloperidol nur dann zur Behandlung impulsiv-aggressiven Verhaltens eingesetzt werden, wenn vorher mindestens ein atypisches Neuroleptikum in adäquater Dosierung über einen adäquaten Zeitraum gegeben wurde (Schur et al. 2003). Zu bedenken ist auch, dass die Mood stabilizer Lithium und Valproat wahrscheinlich ebenfalls eine günstigere Nutzen-Risiko-Bilanz aufweisen. Für diese Indikation wird Haloperidol in einer vergleichsweise
122
Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
1
niedrigen Dosierung von 0,025–0,1 mg/kg Körpergewicht eingesetzt.
2
Mood stabilizer
3
Lithium
4
Wirkungsweise. Lithium, welches als Mood sta-
8
bilizer vor allem bei Manien und bipolaren Störungen eingesetzt wird, fördert die serotonerge Neurotransmission. Eine weitere Indikation stellt – nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung – das Auftreten ausgeprägter impulsivaggressiver Erregungszustände dar, da Lithium diesbezüglich in einigen Studien eine gute Wirksamkeit bei Kindern und Jugendlichen aufwies (Campbell et al. 1995; Malone et al. 2000).
9
Dosierung und Pharmakokinetik. Die Aufdo-
5 6 7
10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
ne Verdopplung der Lithiumkonzentration im Serum. Die Gesamtdosis kann entweder auf mehrere Einzeldosen über den Tag hinweg verteilt werden, oder die gesamte Tagesdosis kann als Einmalgabe vor dem Schlafengehen verabreicht werden. Beim Wechsel von Mehrfachgabe zur Einzelgabe sollte anfänglich die Lithiumkonzentration häufiger kontrolliert werden. Die Medikation sollte immer zu einer festgesetzten Zeit eingenommen werden. Eine versäumte Einnahme darf nicht mit einer verdoppelten Dosis beim nächsten Einnahmezeitpunkt ausgeglichen werden. Für die Dauermedikation sind Retardpräparate (z. B. Lithiumsulfat, Lithiumcarbonat) wegen der geringeren Schwankungen der Serumkonzentration günstiger. Nebenwirkungen. Vor allem zu Beginn der Be-
sierung erfolgt einschleichend, beginnend mit einer niedrigen Lithiumdosis von etwa 10 mmol/ Tag. Zu beachten ist, dass die Lithiumpräparate verschiedener Hersteller sehr unterschiedliche Mengen an Lithiumsalz enthalten. Dann wird die Dosis entsprechend der Lithiumkonzentration im Serum in Schritten von etwa 10 mmol erhöht. Die maximale Lithiumkonzentration wird etwa 1½–2 Stunden nach der Einnahme erreicht, und die Halbwertszeit beträgt bei Jugendlichen etwa 18 Stunden; die Elimination von Lithium erfolgt ausschließlich renal. Die Lithiumkonzentration sollte in der Einstellungsphase jeweils im Steady state kontrolliert werden, der etwa 5–7 Tage nach Dosisänderung erreicht wird. Eine Blutentnahme zur Kontrolle der Lithiumkonzentration sollte jeweils vor der nächsten morgendlichen Einnahme und möglichst genau 12 Stunden nach der letzten Einnahme durchgeführt werden. Die Dosisanpassung erfolgt entsprechend der Lithiumkonzentration im Serum sowie der Verträglichkeit. Der Serumspiegel sollte zwischen 0,5–0,8 mmol/l liegen; Spiegel über 1,5 mmol/l sind im toxischen Bereich, Spiegel höher als 2,0 mmol/l lebensbedrohlich. Eine Verdopplung der Lithiumdosis bewirkt ei-
handlung können ein dosisabhängiger feinschlägiger Tremor, Polyurie mit resultierender Polydipsie und Übelkeit auftreten, die mit Fortdauer der Behandlung oder einer Verringerung der Dosis abklingen. Die Patienten sollten ihren Durst adäquat stillen, jedoch nicht mit kalorienhaltigen Getränken. Initial kommt es zu einem Natrium- und Kaliumverlust, weil deren Reabsorption an den renalen Tubuli vermindert wird; innerhalb einer Woche sollten jedoch Natrium- und Kaliumkonzentration wieder auf ihr Ausgangsniveau zurückgekehrt sein. Unter lang dauernder Behandlung kann eine Verminderung der renalen Konzentrationsfähigkeit auftreten, die sich als nephrogener Diabetes insipidus mit Polyurie sowie Polydipsie äußert; dieser Zustand ist nach Absetzen von Lithium in der Regel reversibel. Weiterhin kann es zur Harninkontinenz kommen. Eine Vielzahl von Nebenwirkungen wird auch unter adäquater Dosierung beobachtet. Häufig kommt es zu einer Gewichtszunahme, weiterhin zu Sedierung, Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Übelkeit und Erbrechen, Diarrhoe, Mundtrockenheit oder exzessiver Speichelproduktion. Eine – meist euthyreote – Struma oder eine Hypothyreose können auftreten sowie eine
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
verminderte Glukosetoleranz. Lithium aktiviert Akne vulgaris und psoriatische Hauteffloreszenzen. Ein Anstieg der Leukozyten bis hin zur Leukozytose ist unbedenklich. In der Regel gilt dieses auch für eine Dysrhythmisierung des EEG sowie für im EKG festzustellende Repolarisationsstörungen. Gelegentlich können Störungen der Funktion des Sinusknotens, meist als Bradykardie, auftreten; dann sollte ein Kardiologe hinzugezogen werden. Als motorische bzw. neurologische Nebenwirkungen sind beschrieben: Muskelschwäche, Myalgie, unwillkürliche Bewegungen der Extremitäten, extrapyramidalmotorische Symptome, Krampfanfälle, verwaschene Sprache, Koordinationsstörungen, Kopfschmerzen, Schwindel, Benommenheit, Somnolenz, Stupor und Koma, Halluzinationen, Geschmacksstörungen, Gesichtsfeldausfälle, verschwommenes Sehen. Vor allem bei jüngeren Kindern sind Symptome wie Tremor, Schwindel, Verwirrtheit und Ataxie häufigere Nebenwirkungen. Intoxikationszeichen sind im allgemeinen bei Lithiumspiegeln über 1,5 mmol/l festzustellen, können aber bei empfindlichen Patienten bereits unter normalen oder leicht erhöhten Lithiumspiegeln auftreten. Warn- und Initialsymptome sind Polyurie, Polydipsie, Diarrhoe, Übelkeit, Erbrechen, Muskelschwäche, erhöhter Muskeltonus, Faszikulationen, Müdigkeit, Koordinations- , Konzentrations- und Artikulationsstörungen, Schwindel, Verwirrtheit, Nystagmus, Tremor und Hyperreflexie. Bei höheren Lithiumspiegeln kommt es zu Tinnitus, verschwommenem Sehen, Ataxie, Apathie, eventuell zu Herzrhythmusstörungen und Kreislaufkollaps sowie zu renalen Störungen, in besonders schweren Fällen zu epileptischen Anfällen und Koma. Lithium sollte bei den ersten Anzeichen einer Intoxikation abgesetzt werden. Kontraindikationen. Die wichtigsten Kontraindikationen einer Lithiumbehandlung sind ausgeprägte Hyponatriämie, akute und chronische Nierenerkrankungen, ebenso Krankheiten, die
123
6
zu einer Niereninsuffizienz führen können (z. B. Gicht, Pyelonephritis) dekompensierte kardiale Erkrankungen, Herzrhythmusstörungen, Psoriasis vulgaris, Hypothyreose und Epilepsie. Einnahme von Lithium während der Schwangerschaft, vor allem im ersten Trimenon, erhöht die Rate von fetalen kardiovaskulären Fehlbildungen (bei weiblichen Jugendlichen also Schwangerschaftstest vor der Behandlung, sichere Verhütung während der Behandlung!). Interaktionen. Lithium kann mit einer Viel-
zahl von Medikamenten interagieren, so dass bei gleichzeitiger Gabe mit anderen Medikamenten stets große Vorsicht geboten ist. Die gleichzeitige Gabe von Serotonin-Wiederaufnahmehemmern kann zu einem potenziell lebensbedrohlichen Serotonin-Syndrom führen. Die Kombination von Lithium mit Neuroleptika kann neurotoxisch sein (bis hin zu einer Enzephalopathie in sehr seltenen Fällen) und sollte nur unter besonderer Vorsicht erfolgen. Lithiumsalze sollten 48 Stunden vor einer Operation oder Narkose abgesetzt werden, da die Wirkung neuromuskulär blockierender Substanzen durch Lithium verlängert wird. Kontrolluntersuchungen. Die
empfohlenen Kontrolluntersuchungen vor Beginn und während einer Lithiumbehandlung sind in . Tab. 6.1 dargestellt. Da Lithium allein renal ausgeschieden wird, muss vor Beginn der Behandlung eine ungestörte Nierenfunktion mittels Messung der Kreatinin-Clearance belegt werden. Der Halsumfang sollte vierteljährlich, die Schilddrüsenwerte wenigstens jährlich gemessen werden, um rechtzeitig der Entwicklung einer Struma durch Substitution von Thyroxin vorbeugen zu können. Neben den Routinebestimmungen des Lithiumspiegels sollte eine zusätzliche Kontrolle des Lithiumspiegels immer bei Verdacht auf eine Lithiumintoxikation durchgeführt werden sowie dann, wenn infolge interkurrenter Erkrankungen die Gefahr von Änderungen der Lithiumbilanz besteht (z. B. Elektrolytverluste durch
124
1
Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
. Tab. 6.1. Empfohlene Kontrolluntersuchungen unter Lithium. (Nach Nissen et al. 1998) Monat
2 3 4
Vorher Lithiumspiegel im Serum
Vierteljährlich
1
2
3
4
5
6
++++
+
+
+
+
+
Jährlich
+
Natrium, Kalium, Kalzium
+
++++
+
+
+
+
+
Serumkreatinin, Harnstoff
+
++++
+
+
+
+
+
KreatininClearance
+
+
Urinstatus, Osmolalität
+
+
T3, T4, TSH
+
+
Nüchternblutzucker
+
Blutbild
+
+
12
EKG
+
+
EEG
+
+
13
Körpergewicht
+
+
+
14
Halsumfang
+
+
+
ggf. Schwangerschaftstest
+
5 6 7 8 9 10 11
15 16 17 18 19 20
+
+
+
+
+
+
+ +
Alle Kontrolluntersuchungen sind bei gegebener klinischer Indikation häufiger als angegeben durchzuführen.
Schwitzen, Fieber, Erbrechen oder Diarrhoe). Auch die anderen Kontrolluntersuchungen sind bei gegebener klinischer Indikation häufiger durchzuführen. Valproat Wirkungsweise. Valproat, welches vor allem als
Antiepileptikum, aber auch als stimmungssta-
bilisierendes Medikament eingesetzt wird, verstärkt die GABAerge Neurotransmission. Bislang liegen wenige, aber vielversprechende Daten zur Anwendung bei Kindern und Jugendlichen mit Störungen des Sozialverhaltens vor. So kam es unter Divalproex (50% Natrium-Valproat, 50% Valproinsäure) in einer kontrollierten Studie zu einer deutlichen Reduktion von Stim-
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
mungslabilität, Reizbarkeit und explosiven Wutausbrüchen (Donovan et al. 2000). Dosierung. Die Aufdosierung sollte wegen mög-
licher gastrointestinaler Beschwerden einschleichend erfolgen. In der Regel vergehen 2–4 Tage, bis der Valproatspiegel konstant ist. Der empfohlene Valproatspiegel, bestimmt vor der ersten Tagesdosis, liegt bei 50–100 µg/ml. Übliche Dosierungen bei Kindern betragen 30 mg/kg Körpergewicht, bei Jugendlichen 25 mg/kg Körpergewicht, verteilt auf zwei Tagesdosen. Pharmakokinetik. Valproat wird nach oraler Gabe schnell und vollständig resorbiert, und der maximale Plasmaspiegel wird nach 2–8 Stunden erreicht. Die Substanz ist zu über 90% an Plasmaproteine gebunden, wird in der Leber metabolisiert und mit einer Eliminationshalbwertszeit von 12–16 Stunden ausgeschieden. Nebenwirkungen. Die häufigsten Nebenwir-
kungen sind Übelkeit und Brechreiz, die durch Einnahme der Medikation mit der Mahlzeit gelindert werden können; auch Appetitsteigerung und Gewichtszunahme treten häufig auf. Sofern es zu einer Sedierung kommt, was jedoch unter Monotherapie selten der Fall ist, nimmt diese im Laufe der Behandlung ab. Selten sind – meist dosisabhängige – Thrombozytenabfälle und Neutropenien (Einzelfälle von Agranulozytose sind beschrieben!). Valproat kann auch eine von-Willebrand-Jürgens-Erkrankung hervorrufen. Bei operativen Eingriffen ist die potenziell erhöhte Blutungsneigung zu berücksichtigen. Unter hohen Dosen kann ein Tremor auftreten, sowie Reizbarkeit und Dysphorie. Eine Intoxikation geht mit Bewusstseinsminderung (bis hin zum Koma), Muskelschwäche, Hypo- bis Areflexie, Koordinationsstörungen und Verwirrtheit einher; bei Monotherapie ist eine Überdosierung jedoch vergleichsweise wenig gefährlich. Valproat ist plazentagängig, und Neuralrohrdefekte bei Einnahme von Valproat während der Schwangerschaft sind beschrieben.
125
6
! Valproat kann in seltenen Fällen, vor allem bei jungen Kindern, schwerwiegende Pankreaserkrankungen verursachen und hepatotoxisch wirken. Eine Leberschädigung tritt meist innerhalb der ersten 6 Monate der Behandlung auf, besonders in der 2.–12. Woche. Die Betreuungspersonen müssen über Symptome einer beginnenden Valproat-Unverträglichkeit – Appetitlosigkeit, neu auftretende Abneigung gegen gewohnte Speisen oder gegen Valproat selbst, Übelkeit und wiederholtes Erbrechen, unklare Oberbauchbeschwerden, Ödemneigung, Apathie, Bewusstseinsstörung mit Verwirrtheit und Unruhe – aufgeklärt werden, die sich oft schon vor einer Veränderung der Leberwerte zeigen.
Kontraindikationen. Absolute Kontraindikationen sind Lebererkrankungen in der Eigen- oder Familienanamnese sowie manifeste schwerwiegende Leber- und Pankreasfunktionsstörungen, Leberfunktionsstörungen mit tödlichem Ausgang unter Valproattherapie eines Geschwisterkindes, Porphyrie und Blutgerinnungsstörungen. Valproat darf nur unter besonderer Vorsicht bei Kleinkindern, mehrfach behinderten Kindern und Jugendlichen und Patienten mit Knochenmarkschädigung angewendet werden, ebenso bei Patienten mit metabolischen Erkrankungen, insbesondere angeborenen Enzymopathien, denn unter Valproat kann es zu einem Anstieg des Ammoniakserumspiegels mit Apathie, Somnolenz, Erbrechen und Hypotension kommen. Interaktionen. Nach Möglichkeit sollte eine Be-
handlung mit Valproat als Monotherapie durchgeführt werden. Potenziell hepatotoxische Substanzen (auch Alkohol!) verstärken wahrscheinlich die Hepatotoxizität von Valproat. Bei Einnahme enzyminduzierender Medikamente ist die Eliminationshalbwertszeit von Valproat kürzer. Valproat hemmt den hepatischen Metabolismus anderer Substanzen. Der Spiegel von ungebundenem Diazepam wird bei Kombination mit Valproat erhöht, die Plasma-Clearance von Di-
126
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
azepam und Lorazepam reduziert. Die zentral dämpfende Wirkung von Neuroleptika und Antidepressiva wird verstärkt. Kontrolluntersuchungen. Vor Therapiebeginn sollten eine ausführliche Anamnese, insbesondere hinsichtlich Hepatopathie, Pankreasaffektionen, Stoffwechselstörungen und Gerinnungsstörungen beim Patienten und in der Familie erhoben werden und eine gründliche klinische Untersuchung sowie laborchemische Kontrollen [Differenzialblutbild mit Thrombozyten, Quick, partielle Thromboplastinzeit (PTT), Fibrinogen, Gerinnungsfaktoren, Gesamt-Eiweiß, Leberwerte, Lipase, α-Amylase im Blut, Blutglukose] vorgenommen werden. Bei ambulanter Einstellung sollten Eltern und behandelnder Arzt engen persönlichen sowie telefonischen Kontakt halten. Vier Wochen nach Behandlungsbeginn sollte eine erneute klinische und laborchemische Untersuchung durchgeführt werden, in den darauffolgenden 3 Monaten monatlich, danach zweimal mit 6 Wochen Abstand und zweimal mit 12 Wochen Abstand; zusätzlich sollte in jedem der genannten Zeitintervalle jeweils ein telefonischer Kontakt erfolgen, der erste 2 Wochen nach Behandlungsbeginn. Wenn das Kind klinisch unauffällig ist, sollten bei jeder ärztlichen Untersuchung Differenzialblutbild mit Thrombozyten und die Transaminasen bestimmt werden, bei jeder zweiten Untersuchung auch die Gerinnungsparameter. Die Eltern müssen dazu angehalten werden, sich bei klinischen Auffälligkeiten unabhängig von diesem Zeitplan sofort an den behandelnden Arzt zu wenden. Nach einer Therapiedauer von einem Jahr ohne Auffälligkeiten sind nur noch 2–3 ärztliche Kontrollen pro Jahr erforderlich. Bei Jugendlichen etwa ab dem 15. Lebensjahr sollten vor Therapiebeginn und im ersten Halbjahr monatliche Kontrollen des klinischen Befundes und der Laborparameter durchgeführt werden.
! Ein sofortiger Therapieabbruch ist zu erwägen: bei einer nicht erklärbaren Störung des Allgemeinbefindens, klinischen Zeichen einer Leber- oder Pankreasaffektion oder einer Blutungsneigung, mehr als 2- bis 3facher Erhöhung der Lebertransaminasen auch ohne klinische Zeichen (aber ggf. mögliche Enzyminduktion durch Begleitmedikation bedenken), leichter (1½–2facher) Erhöhung der Lebertransaminasen bei gleichzeitigem akutem fieberhaftem Infekt und ausgeprägter Störung des Gerinnungsstatus.
Selektive SerotoninWiederaufnahmehemmer Für eine günstige Beeinflussung impulsiver Aggressivität durch selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer, eventuell über eine Verminderung der Impulsivität, gibt es Hinweise. So führte Citalopram bei Kindern und Jugendlichen mit Störungen des Sozialverhaltens und ADHS zu einer deutlichen Verminderung von Reizbarkeit und impulsiv-aggressivem Verhalten, während proaktiv-aggressives Verhalten nicht vermindert wurde; hierbei handelte es sich jedoch nicht um eine kontrollierte Studie (Armenteros u. Lewis 2002). Ähnliche Effekte wurden bei Erwachsenen für Fluoxetin (Coccaro u. Kavoussi 1997) und Paroxetin (Cherek et al. 2002) gefunden. ! Wenn eine signifikante depressive oder Angststörung komorbid zu einer Störung des Sozialverhaltens besteht und einer medikamentösen Behandlung bedarf, sind die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) Mittel der ersten Wahl, auch wenn für diese Indikation keine Zulassung unter 18 Jahren vorliegt, da sie im Vergleich zu den trizyklischen Antidepressiva eine höhere Wirksamkeit bei Kindern und Jugendlichen und weniger Nebenwirkungen aufweisen.
Alle SSRI hemmen die Wiederaufnahme von Serotonin in die Präsynapse sehr viel potenter
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
als die von Noradrenalin und Dopamin und wirken damit deutlich selektiver als die trizyklischen Antidepressiva. Da die SSRI sich generell wenig voneinander unterscheiden, werden sie zunächst als Substanzgruppe beschrieben und im Anschluss daran für die Einzelsubstanzen die relevanten Unterschiede, die sich vor allem auf Pharmakokinetik und Dosierung beziehen, dargestellt. Wirkungsweise und Nebenwirkungen. Die re-
levanteste Nebenwirkung der SSRI im Kindesund Jugendalter ist ihre aktivierende Wirkung mit erhöhter Unruhe, Agitiertheit und Schlafstörungen. Bei depressiven Patienten mit Suizidgefährdung ist zu berücksichtigen, dass es unter einer Behandlung mit SSRI – wie bei allen Antidepressiva – in einem frühen Stadium der Symptombesserung zu einer erhöhten Suizidgefährdung kommen kann. Eventuell muss kurzzeitig ein sedierendes Medikament, z. B. ein Benzodiazepin, zusätzlich gegeben werden. Hier ist das Prinzip »start low, go slow, taper slow« besonders wichtig: Man sollte also mit einer niedrigen Dosis beginnen und diese langsam erhöhen, eine niedrige Zieldosis wählen und bei Beendigung der medikamentösen Behandlung die Dosis langsam abbauen, da es sonst zu Absetzsymptomen wie Schwindel, Kopfschmerzen, Übelkeit, Reizbarkeit und Angst kommen kann. Mit dem Eintreten einer antidepressiven Wirkung kann nicht vor Ablauf von mindestens 2 Wochen Behandlung mit einer ausreichenden Dosis gerechnet werden. Die Resorption wird durch Nahrungsaufnahme nicht beeinflusst. In der Regel ist eine einmalige Gabe morgens ausreichend; falls im Einzelfall Müdigkeit als Nebenwirkung auftritt, abends. Da die SSRI überwiegend hepatisch metabolisiert werden, sollte bei eingeschränkter Leberfunktion eine niedrigere Dosis gewählt werden; weiterhin sind dann engmaschige Kontrollen der Leberfunktion erforderlich. Weitere Nebenwirkungen sind Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Schwindel und Benommenheit, die vor allem zu Beginn der
127
6
Behandlung häufig auftreten. Sexuelle Funktionsstörungen können die Compliance Jugendlicher vermindern. Im Gegensatz zu den trizyklischen Antidepressiva treten unter SSRI keine autonomen oder kardiovaskulären Nebenwirkungen auf, so dass Intoxikationen deutlich weniger gefährlich sind als bei den Trizyklika. Kontraindikationen und Interaktionen. Bei Diabetikern kann eine Behandlung mit SSRI den Blutzuckerspiegel beeinflussen, so dass dessen medikamentöse Einstellung überprüft werden muss. Bei Patienten mit nicht oder unzureichend behandelter Epilepsie dürfen SSRI nicht eingesetzt werden, wohl aber – unter sorgfältiger ärztlicher Überwachung – bei Patienten mit medikamentös kontrollierter Epilepsie; sollte es jedoch zu einem Anstieg der Anfallshäufigkeit kommen, muss das Antidepressivum abgesetzt werden. Da SSRI die Blutungsneigung erhöhen können, müssen sie bei Patienten mit anamnestisch bekannten Blutungsanomalien mit Vorsicht eingesetzt werden, ebenso bei Patienten, die andere Medikamente (z. B. atypische Neuroleptika, Phenothiazine) einnehmen, die das Blutungsrisiko erhöhen. Bei Kombination mit Neuroleptika treten vermehrt extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen auf, und die Gefahr eines malignen neuroleptischen Syndroms ist möglicherweise erhöht. Aufgrund der Gefahr eines potenziell lebensbedrohlichen Serotonin-Syndroms dürfen SSRI niemals mit Monoaminooxidase(MAO)-Hemmern kombiniert werden, und beim Wechsel von oder zu einem MAO-Hemmer muss ein ausreichender Zeitabstand eingehalten werden, dessen Länge von den jeweiligen Substanzen abhängig ist. Ebenso sollten SSRI nicht mit anderen serotonerg wirkenden Medikamente, z. B. Lithium, Tryptophan oder Johanniskraut, kombiniert werden. Ein Serotonin-Syndrom wird durch eine Überstimulation zentraler Serotonin-Rezeptoren verursacht und ist durch die Trias aus Fieber, neuromuskulären Symptomen (Rigor, Hyperreflexie, Myoklonien, Tremor,
128
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
evtl. Erhöhung der Kreatinkinase) und psychopathologischen Auffälligkeiten (delirähnliche Symptome wie Desorientiertheit, Verwirrtheit, Unruhe, zum Teil Erregungszustände, aber auch Euphorie) gekennzeichnet; weiterhin treten gastrointestinale Symptome wie Übelkeit, Erbrechen und Diarrhoe auf. Vital bedrohliche Komplikationen sind Herzrhythmusstörungen, Krampfanfälle, Koma, Multiorganversagen und Verbrauchskoagulopathie. Bei Verdacht auf ein Serotonin-Syndrom müssen sofort die Medikamente abgesetzt werden (in 90% der Fälle ausreichend) und eine symptomatische Behandlung (Kühlung, Volumensubstitution, bei Bedarf Sedierung) eingeleitet werden; bei Komplikationen kann eine intensivmedizinische Behandlung erforderlich werden. Kontrolluntersuchungen. Empfohlene Kontrolluntersuchungen vor Therapiebeginn und nach Erreichen der Zieldosis sind Blutbild, Leber- und Nierenwerte, Blutdruck, Puls und EKG, sowie unter längerer Therapie in halbjährlichen Abständen, EKG etwa jährlich.
12
Citalopram
13
Dosierung. Die Einstiegsdosis für Kinder bzw.
14 15 16 17 18 19 20
Jugendliche liegt bei 5–10 mg pro Tag und kann dann in 5-mg-Schritten erhöht werden. Eine Tagesdosis von 20 mg kann durchaus ausreichend sein; das Überschreiten einer Tagesdosis von 40 mg erscheint im Kindes- und Jugendalter nicht ratsam. Beim Absetzen der Medikation wird eine schrittweise Dosisreduktion über einen Zeitraum von 1–2 Wochen empfohlen. Pharmakokinetik. Die Resorption wird durch gleichzeitige Nahrungsaufnahme nicht beeinflusst. Die Plasmahalbwertszeit beträgt 1½ Tage. Durch Metabolisierung in der Leber entstehen zwei aktive, aber schwächere Metaboliten. Steady-state-Konzentrationen werden nach 1–2 Wochen erreicht. Zwischen dem Citalopram-Spiegel und der therapeutischen Wirkung bzw. Neben-
wirkungen besteht kein enger Zusammenhang. Da Citalopram ein schwacher Inhibitor des hepatischen CYP2D6-Metabolismus ist, treten vergleichsweise wenig Interaktionen mit anderen Substanzen auf. Fluoxetin Dosierung. Bei Kindern und Jugendlichen liegt die Einstiegsdosis je nach Körpergewicht bei 5– 10 mg, und die Dosiserhöhung kann in 5-mgSchritten vorgenommen werden. Zur Behandlung einer depressiven Störung ist selten eine höhere Zieldosis als 20 mg pro Tag erforderlich. Pharmakokinetik. Da die Halbwertszeiten von
Fluoxetin (4–6 Tage) und seines etwa gleichermaßen wirksamen Metaboliten Norfluoxetin (4– 16 Tage) sehr lang sind, erreichen die Plasmakonzentrationen erst nach mehreren Wochen einen Steady state, und nach Beendigung der Einnahme bleibt noch für Wochen wirksame Substanz im Körper. Da Fluoxetin durch das Cytochrom450-2D6-Isoenzym-System der Leber metabolisiert wird, sollten andere Substanzen, die hauptsächlich durch dieses System metabolisiert werden, am unteren Ende ihres jeweiligen Dosisbereiches dosiert werden. Fluvoxamin Bei Vorliegen einer komorbiden Zwangsstörung kann Fluvoxamin eingesetzt werden, welches in kontrollierten Studien an Kindern und Jugendlichen Wirksamkeit für diese Indikation gezeigt hat und in Deutschland ab dem Alter von 8 Jahren zur Behandlung von Zwangsstörungen zugelassen ist. Dosierung. Die Initialdosis beträgt 25 mg; die Dosis kann etwa alle 3–4 Tage in 25-mg-Schritten gesteigert werden. Während übliche Dosen zur Behandlung einer depressiven Störung im Kindes- und Jugendalter bei 100–150 mg liegen, kann zur Behandlung einer Zwangsstörung eine höhere Dosis erforderlich sein. Tagesdosen ab
129
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
100–150 mg sollten auf zwei, evtl. drei Einzeldosen verteilt werden. Unter hohen Dosen kommt es zu einem deutlichen Anstieg der Nebenwirkungshäufigkeit; die maximale Tagesdosis bei Kindern und Jugendlichen beträgt 200 mg. Bei eingeschränkter Leber- oder Nierenfunktion sollte zurückhaltender dosiert werden. Bis sich eine Wirksamkeit auf Zwangssymptome zeigt, können 5 Wochen Behandlungsdauer und länger mit einer ausreichenden Dosis erforderlich sein. Pharmakokinetik und Interaktionen. Im Ver-
gleich zu den anderen SSRI weist Fluvoxamin eine kurze Halbwertszeit von etwa 20 Stunden auf und hat keine aktiven Metaboliten. Fluvoxamin ist ein starker Hemmer des Isoenzyms CYP1A2, wodurch die Plasmakonzentration von trizyklischen Antidepressiva (z. B. Imipramin, Clomipramin) und Neuroleptika (z. B. Olanzapin, Clozapin) erhöht wird; die Dosierung von trizyklischen Antidepressiva oder Neuroleptika sollte im unteren Dosisbereich liegen. In geringerem Maß werden auch CYP2C und CYP3A4 gehemmt, was zu einem Anstieg der Spiegel von Carbamazepin und Diazepam führen kann. Paroxetin Paroxetin ist der potenteste Serotonin-Wiederaufnahmehemmer und hat wahrscheinlich von allen SSRI die geringste therapeutische Breite, so dass hier besonders nachdrücklich auf langsames Auf- und Abbauen der Dosierung und das Wählen einer niedrigen Zieldosis hingewiesen werden muss. Die klinische Erfahrung bei der Anwendung im Kindes- und Jugendalter zeigt, dass übliche Dosen bei 10–15 mg liegen; eine Steigerung der Tagesdosis über 15 mg verbessert wahrscheinlich nicht die Wirksamkeit, führt aber zu deutlich mehr Nebenwirkungen. ! In der Produktinformation des Herstellers wird vor der Anwendung von Paroxetin bei Kindern und Jugendlichen gewarnt, so dass aus forensischen Gründen davon abgeraten werden muss.
6
Benzodiazepine Lorazepam Wirkungsweise, Pharmakokinetik und Dosierung. Lorazepam gehört zu den Benzodiazepi-
nen und wirkt über eine Verstärkung der inhibierenden Wirkung GABAerger Neuronen anxiolytisch und sedierend. Es wird nach oraler und intramuskulärer Gabe schnell und nahezu vollständig resorbiert und ist gut steuerbar, weil weder aktive Metaboliten mit der Gefahr einer Kumulation noch Interaktionen bei der Elimination auftreten. Somit ist Lorazepam für den Einsatz bei aggressiven Erregungszuständen geeignet, sollte jedoch nur unter strenger Indikationsstellung eingesetzt werden. Eine übliche Initialdosis beträgt 1 mg; bei unzureichender Wirkung ist nach etwa einer halben Stunde eine Wiederholung möglich (jedoch Vorsicht: die maximale Plasmakonzentration ist erst nach 1–2 Stunden erreicht). Im Vergleich zu Diazepam wird etwa ein Viertel der Dosis benötigt. Zur oralen Gabe liegen neben Tabletten auch lyophilisierte Plättchen (Tavor expidet 1 mg und 2,5 mg) vor, die sich bei Kontakt mit Flüssigkeit (auch in der Hand!) auflösen, wodurch ein Zurückhalten des Medikamentes im Mund verhindert wird; die Resorption als solche unterscheidet sich jedoch nicht von herkömmlichen Tabletten. Eine i.v.-Injektion ist bei Benzodiazepinen aufgrund der Gefahr von Blutdruckabfall und Atemdepression immer sehr langsam vorzunehmen (z. B. 1 mg Lorazepam über 2– 5 Minuten). Nebenwirkungen und Kontraindikationen. Bei akuter Überdosierung können Schwindel, Dysarthrie, Ataxie, Apathie, Verlangsamung der motorischen Abläufe, muskuläre Schwäche und Doppelbilder auftreten. Falls Somnolenz eintritt, sind für deren Dauer die Vitalparameter zu kontrollieren. Auch unter üblichen Dosen kann es zu paradoxen Disinhibitionsphänomenen mit Angst, Agitiertheit und Erregungszuständen
130
1 2 3
Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
kommen. Lorazepam sollte nicht bei akuter Intoxikation mit anderen zentral wirksamen Substanzen eingesetzt werden. Wegen der Gefahr einer Abhängigkeitsentwicklung ist die Anwendung von Lorazepam nach Möglichkeit auf Einzelgaben oder auf wenige Tage zu beschränken.
4
Diazepam
5
Wirkungsweise. Diazepam (u.a. Valium) ist
6 7 8 9 10
6.2.6 Komorbiditätsbezogene ebenfalls ein Benzodiazepin und verstärkt als solches die GABAerge Hemmung. Dosierung. Bei akuten Erregungszuständen wird Diazepam, in Abhängigkeit vom Körpergewicht, in einer Dosis von etwa 5–10 mg oral, i.m. oder i.v. eingesetzt; bei unzureichender Wirkung kann eine weitere Gabe im Abstand von etwa 30 Minuten erfolgen.
17
Pharmakokinetik. Oral wird Diazepam schnell resorbiert, und die maximale Plasmakonzentration wird nach etwa 1 Stunde erreicht. Die rektale Resorption erfolgt ähnlich schnell wie die orale, ist jedoch unzuverlässiger. Auch bei i.m.-Injektion ist die Resorption unsicher. Eine i.v.-Injektion muss aufgrund möglicher Atemdepression und Blutdruckabfall stets sehr langsam durchgeführt werden. Bedingt durch die hohe Lipophilie erfolgt eine schnelle Passage der Blut-HirnSchranke und eine schnelle Anflutung der medikamentösen Wirkung. Aufgrund des großen Verteilungsvolumens hat eine Einmalgabe nur eine kurzdauernde Wirkung; da pharmakologisch aktive Metaboliten mit sehr langer Halbwertszeit gebildet werden, besteht bei wiederholter Gabe Kumulationsgefahr.
18
Nebenwirkungen und Kontraindikationen. Bei
11 12 13 14 15 16
19 20
paradoxen Disinhibitionsphänomenen mit Agitiertheit und Erregungszuständen kommen. Diazepam sollte bei akuter Intoxikation mit anderen zentral wirksamen Substanzen nicht eingesetzt werden (mit Ausnahme eines Rauschmittel-induzierten Delirs).
akuter Überdosierung können Schwindel, Dysarthrie, Ataxie, Apathie, Verlangsamung der motorischen Abläufe, muskuläre Schwäche und Doppelbilder auftreten. Falls Somnolenz eintritt, sind für deren Dauer die Vitalparameter zu kontrollieren. Auch unter üblichen Dosen kann es zu
Komponenten Komorbide klinisch-psychiatrische Störungen der Achse I des Multiaxialen Klassifikationssystems sollten in die Behandlungsplanung einbezogen werden, aber auch – wenn vorhanden – Belastungen auf den Achsen II–V, denn möglicherweise muss deswegen das Vorgehen bei der Behandlung der Störung des Sozialverhaltens modifiziert werden. Insbesondere dann, wenn komorbide Störungen und Belastungen aufrechterhaltende Faktoren für die Störung des Sozialverhaltens sein könnten, sollten geeignete psychosoziale Interventionen und – wenn erforderlich – pharmakotherapeutische Interventionen zu ihrer Behandlung ausgewählt werden. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass das Vorhandensein der Störung des Sozialverhaltens sich wiederum auf die Behandlung der komorbiden Störung(en) – meist erschwerend – auswirken kann. Hinweise zur Berücksichtigung komorbider Störungen bei der Pharmakotherapie finden sich auch in 7 6.2.5. ! Signifikante komorbide Störungen müssen bei der Erstellung des Behandlungsplans berücksichtigt werden!
Komorbider Konsum psychotroper Substanzen Wenn Substanzabusus bzw. -abhängigkeit im Vordergrund des aktuellen Störungsbildes steht, sollte zunächst eine diesbezügliche Behandlung (Entgiftung, Entwöhnung) in einem spezialisierten Setting erfolgen (7 6.1). Bei schädlichem Gebrauch psychotroper Substanzen sollte der
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
131
6
Jugendliche über kurz-, mittel- und langfristige Effekte der von ihm konsumierten Substanzen informiert werden (American Academy of Child and Adolescent Psychiatry 1997). Eltern, Betreuer, Lehrer u. a. werden dahingehend beraten, das Monitoring des Jugendlichen bezüglich des Konsums von psychotropen Substanzen und des Umgangs mit substanzkonsumierenden Gleichaltrigen zu erhöhen. Als kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen können Kontingenzmanagement und operante Verstärkung abstinenten Verhaltens eingesetzt werden. Die Vermittlung weiterführender Beratungsund Therapieangebote sowie Hinzuziehen des Jugendamts sollten erwogen werden. Eine medikamentöse Behandlung einer kinder-/jugendpsychiatrischen Erkrankung sollte nur bei sehr guter Überwachung der Medikamenteneinnahme durch die Betreuungspersonen durchgeführt werden. Primäres Ziel ist das Erreichen und Aufrechterhalten von Abstinenz. Dennoch kann eine realistische Sichtweise zum einen der Chronizität von Substanzgebrauch und -abusus bei einigen Jugendlichen, zum anderen des selbstlimitierenden Verlaufes dieser Problematik bei vielen anderen Jugendlichen Schadenslimitierung als ein Zwischenziel einer Behandlung erscheinen lassen, deren Langzeitziel Abstinenz ist. Schadenslimitierung beinhaltet: Verringerung der konsumierten Menge und der negativen Konsequenzen des Substanzgebrauchs sowie Erhöhung des Funktionsniveaus des Jugendlichen in einem oder mehreren Bereichen (z. B. Familie, Schule, Umgang mit nichtdevianten Gleichaltrigen). »Kontrollierter Gebrauch« einer Substanz sollte niemals Ziel einer Behandlung bei Jugendlichen sein (American Academy of Child and Adolescent Psychiatry 1997).
und schulzentrierten Interventionen zu berücksichtigen: bei Aufträgen und Instruktionen Aufmerksamkeit des Kindes sicherstellen, genügend Abwechslung in Themen und Tätigkeiten anbieten, eindeutige und unmittelbare (positive wie negative) Konsequenzen etablieren, höhere Ungeduld und Impulsivität des Kindes berücksichtigen, Zwischenphasen mit motorischer Aktivität einplanen; medikamentöse Behandlung in Betracht ziehen.
Komorbide Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung bzw. Aufmerksamkeitsdefizit ohne Hyperaktivität Komorbide ADHS bzw. Aufmerksamkeitsdefizit ohne Hyperaktivität sind bei eltern-, kind-
Eingeschränkte Bindungsfähigkeit Eine signifikante Einschränkung der Bindungsfähigkeit verschlechtert die Prognose einer Störung des Sozialverhaltens wesentlich. Deswegen ist eine hohe Beziehungskonstanz außerordent-
Komorbide emotionale oder andere Befindlichkeitsstörung Eine komorbide emotionale (F3, F93) oder andere Befindlichkeitsstörung (F4) erfordert eine adäquate kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung mit psychotherapeutischen, ggf. auch pharmakologischen Interventionen, ohne jedoch als »Entschuldigung« für disruptives Verhalten funktionalisiert zu werden. Die Response auf Stimulanzien kann schlechter sein, und eine Verstärkung der emotionalen Symptomatik ist möglich; andererseits kann aber eine Verbesserung des Funktionsniveaus unter einer Stimulanzienbehandlung zur Verminderung einer emotionalen Symptomatik beitragen. Komorbide Enkopresis Bei Kindern mit einer ADHS kann aufgrund der Aufmerksamkeitsstörung, die sich auch auf die Propriozeption bezieht, die Wahrnehmung des Füllungsdrucks im Rektum unzureichend sein, so dass die primäre Behandlung einer ADHS sinnvoll erscheint; anderenfalls sollten Enkopresis und Störung des Sozialverhaltens gleichzeitig therapeutisch angegangen werden (Leitlinie »Enkopresis«, Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie et al. 2003).
132
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
lich wichtig, und alle Interventionen (Psychotherapie, Jugendhilfemaßnahmen) müssen langfristig angelegt sein. Komorbide rezeptive oder expressive Sprachstörung Eine komorbide – insbesondere rezeptive – Sprachstörung hat eine herausragende Bedeutung für die Prognose, und eine früh einsetzende, intensive Förderung ist zwingend erforderlich. Bei jeder Intervention müssen die sprachlichen Möglichkeiten des Kindes berücksichtigt und die Kommunikation mit visuellen Signalen unterstützt werden. Wichtig ist der Besuch einer Sprachheilschule, wenn in Wohnortnähe vorhanden, intensive logopädische Behandlung, und der Einbezug der Eltern als Kotherapeuten. Wenn eine adäquate Behandlung im häuslichen Rahmen nicht realisierbar ist oder keine geeignete Schule erreichbar ist, sollte frühzeitig eine langfristige Platzierung in einer auf Sprachstörungen spezialisierten Einrichtung erwogen werden (Beziehungsabbrüche vermeiden!). Ein komorbides Aufmerksamkeitsdefizit sollte mit hoher Priorität medikamentös behandelt werden. Komorbide Störung schulischer Fertigkeiten Auch hier ist das Prinzip wichtig, dass die Priorität im Behandlungsplan davon bestimmt wird, in welchem Ausmaß es sich bei einer spezifischen Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten um eine aufrechterhaltende Bedingung für die Störung des Sozialverhaltens handelt. Vor allem bei älteren Schülern sind auch bei günstiger Beeinflussung der Lese-, Rechtschreiboder Rechenstörung meist wenig direkte Effekte auf die Störung des Sozialverhaltens zu erwarten. Bei jüngeren Kindern können jedoch spezifische Fördermaßnahmen die Gefahr von Schulversagen als einem relevanten Risikofaktor vermindern. Fördermaßnahmen sollten nach Möglichkeit in der Schule erfolgen, denn gerade Eltern mit geringen Ressourcen können kaum eine regelmäßige außerschulische För-
derung ihres Kindes gewährleisten. Bei besonders ausgeprägten schulischen Teilleistungsstörungen können jedoch spezielle Therapiemaßnahmen erforderlich sein, die dann, wenn eine Teilleistungsstörung zu einer (drohenden) seelischen Störung führt und hieraus eine (drohende) seelische Behinderung resultiert, in den Bereich der Jugendhilfemaßnahmen nach § 35a KJHG fallen.
6.3
Besonderheiten bei ambulanter Behandlung
Bei Kindern und Jugendlichen mit einer Störung des Sozialverhaltens ist eine kinder- bzw. jugendpsychiatrische Behandlung indiziert, wenn neben der Störung des Sozialverhaltens eine komorbide psychiatrische Störung besteht. Bei signifikantem Substanzabusus sollte dieser das vorrangige Ziel von Interventionen in spezialisierten Beratungs- bzw. Behandlungssettings darstellen. Bedauerlicherweise ist ein ambulantes kognitiv-verhaltenstherapeutisches Behandlungsangebot mit Beratung der Eltern oft nicht ausreichend wirksam, wie an einer großen Inanspruchnahme-Population gezeigt wurde (Wagner et al. 2004). Je mehr Risikofaktoren bei Kind und Familie vorliegen, desto stärker muss individualisiert gearbeitet werden und desto besser müssen die verschiedenen Interventionen aufeinander bezogen werden. Home Treatment Definition Home Treatment ist eine intensivierte Form der ambulanten Behandlung, welche als aufsuchendes Therapieangebot im häuslichen Rahmen durchgeführt wird und somit Interventionen im natürlichen Umfeld des Patienten enthält.
Diese Form der Behandlung ist nur für einen Teil der Patienten geeignet und setzt gute Mitarbeit
133
6.3 Besonderheiten bei ambulanter Behandlung
6
Geeignete Interventionen bei ambulanter Behandlung 5 Immer Aufklärung und Beratung über die Störung des Sozialverhaltens wie auch ggf. komorbide Störungen und mögliche Zusammenhänge zwischen den Störungen sowie über Risikofaktoren, Verlauf und geeignete Behandlungsmöglichkeiten (7 6.2.2) 5 Durchführen von geeigneten psychosozialen Interventionen und – wenn erforderlich – pharmakotherapeutischen Interventionen, auch bezüglich der komorbiden Störung (unter Berücksichtigung der Spezifika der Störung des Sozialverhaltens) 5 Elterntraining bei Kindern (7 6.2.2), ggf. unter Berücksichtigung der Spezifika der komorbiden Störung, z. B. welche Modifikationen bei komorbider ADHS, depressiver Störung oder Sprachstörung im Verhalten der Eltern erforderlich sind 5 Familientherapie bei Jugendlichen
von Eltern und Patient voraus, kann jedoch auch besonders geeignet sein, die Motivation einer Familie zur Mitarbeit zu erhöhen. Durch Home Treatment konnte bei Kindern und Jugendlichen mit Störungen des Sozialverhaltens, auch bei Komorbidität mit ADHS oder emotionalen Störungen, die psychiatrische Symptomatik reduziert und eine Verbesserung der psychosozialen Anpassung erreicht werden (Lay et al. 2001), wobei die Therapieeffekte auch nach mehreren Jahren noch nachgewiesen werden konnten (Mattejat et al. 2001). Je ausgeprägter die psychosoziale Belastung einer Familie ist, desto wichtiger ist es jedoch, im Rahmen eines aufsuchenden Therapieangebotes nicht nur Elterntraining im häuslichen Umfeld durchzuführen, sondern insbesondere
5 Trennung des Kindes/Jugendlichen von ungünstigen Peer-Gruppen, Aufbau von adäquaten Peer-Beziehungen mit Unterstützung und Kontrolle durch die Eltern 5 Förderung der Lösung wichtiger elterlicher Probleme (ggf. Kontakt der Eltern zu Elterngruppen vermitteln, ergänzende Eheberatung, Beratung bei finanziellen Problemen, Behandlung psychischer Störungen der Eltern usw.) 5 Soziales Problemlösetraining einzeln oder in der Gruppe (7 6.2.2) 5 Wahl einer adäquate(re)n Schulform, Förderung der Zusammenarbeit von Eltern und Schule; evtl. berufsvorbereitende Maßnahmen (7 6.2.3, 7 6.6) 5 Geeignete pharmakotherapeutische Interventionen zur Behandlung der Störung des Sozialverhaltens in Betracht ziehen (7 6.2.5) 5 Geeignete Jugendhilfemaßnahmen in Betracht ziehen, z. B. Erziehungsberatung, sozialpädagogische Familienhilfe, außerhäusliche Unterbringung (7 6.6)
auch auf den Abbau psychosozialer Belastungen und die Förderung von familiären Ressourcen zu fokussieren, da eine hohe familiäre psychosoziale Belastung prognostisch ungünstig für das Kind ist. Obwohl es sich beim Home Treatment um eine wirksame und vergleichsweise kostengünstige Behandlungsmethode für einen Teil der Patienten mit einer Störung des Sozialverhaltens handelt, hat es dennoch keinen Eingang in die etablierten kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlungsstrukturen gefunden. Multisystemische Therapie Definition Die multisystemische Therapie (Henggeler et al. 1996) ist ein innovativer, sehr erfolgreicher ambu-
134
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
lanter Therapieansatz, bei dem Jugendliche mit einer ausgeprägten aggressiv-dissozialen Störung innerhalb ihres psychosozialen Umfeldes durch familienbezogene Interventionen in Kombination mit Case Management behandelt werden.
Dieser Ansatz wird deswegen hier vorgestellt, weil er wichtige diagnostische und therapeutische Prinzipien enthält, auch wenn in einem üblichen kinder- und jugendpsychiatrischen bzw. -psychotherapeutischen Behandlungssetting nicht in dieser Weise gearbeitet wird. Theoretische Grundlagen Ein Jugendlicher wird als Teil eines komplexen Netzwerkes von miteinander in Beziehung stehenden psychosozialen Systemen (Familie, Schule, Gleichaltrige, Nachbarschaft) verstanden, in welchem das aggressiv-dissoziale Verhalten durch problematische Interaktionen innerhalb und über diese Systeme hinweg aufrechterhalten wird. Stationäre psychiatrische Behandlung, außerhäusliche Platzierung oder Inhaftierung verändern diese psychosozialen Determinanten aggressiv-dissozialen Handelns, zu denen der Jugendliche irgendwann wieder zurückkehrt, nicht. ! Ziel ist es, zentrale Aspekte der psychosozialen Systeme, in die der Jugendliche eingebettet ist, vor allem seine Familie und seine Beziehungen zu anderen Jugendlichen, so zu verändern, dass nicht dissoziales, sondern prosoziales Verhalten gefördert wird, unter Nutzung von Stärken und Ressourcen jedes dieser Systeme.
Zu diesem Zweck können Interventionen in einem oder – häufig – mehreren dieser Systeme erforderlich sein. Diagnostisch steht der Zusammenhang zwischen Problemverhalten und seinem breiteren systemischen Kontext im Vordergrund. Anhand dessen wird ein individueller und umfassender Interventionsplan erstellt, in dessen Zentrum familienbezogene Interventionen stehen, denen eine entscheidende Bedeu-
tung für die zu erreichenden Veränderungen beigemessen wird. Als sehr wichtig wird auch das Identifizieren und Überwinden von Faktoren angesehen, welche die Therapie sowie die Inanspruchnahme von sozialen Diensten und kommunalen Hilfsangeboten behindern. Die Verantwortung dafür, dass die Familie mitarbeitet, sowie für den Behandlungserfolg insgesamt liegt bei den Behandlern. Familienbezogene Interventionen Selbst psychosozial hochgradig belastete Familien werden als eine äußerst wichtige Ressource für den Jugendlichen verstanden. Die Eltern, die gegenüber ihrem Kind vor allem Hilflosigkeit, Frustration und Ärger empfinden, werden in ihrer Kompetenz und ihrem Selbstvertrauen im Umgang mit dem Jugendlichen gestärkt und können so positiv erlebte Verantwortung für eine Verbesserung im Verhalten ihres Kindes übernehmen. Sie erwerben die erforderlichen Fertigkeiten und eröffnen sich Ressourcen, um das Verhalten ihres Kindes zu kontrollieren, Grenzen zu setzen und angemessene positive und negative Konsequenzen anzuwenden sowie mit konflikthaften Interaktionen in der Familie umzugehen. Sie werden dazu ermutigt, die emotionale Beziehung zu ihrem Kind zu verbessern, indem sie positive Kommunikationsangebote machen und mehr Zeit mit ihrem Kind bei Aktivitäten verbringen, die für alle angenehm sind. Talente und Stärken des Jugendlichen werden identifiziert, und es wird versucht, die psychosozialen Systeme so zu verändern, dass der Jugendliche darin unterstützt wird. Der Therapeut ermutigt die Eltern, prosoziale Freizeitaktivitäten des Jugendlichen mit nichtdevianten Gleichaltrigen (z. B. die Teilnahme an Sportgruppen, aber auch jedes anderes Interesse eines Jugendlichen, das dafür geeignet ist) aktiv zu unterstützen und seine Kontakte zu devianten Gleichaltrigen (z. B. Schulverweigerern, Drogenkonsumenten) zu unterbinden, auch durch negative Sanktionen. Die Eltern kontrollieren, wo der Jugendliche sich aufhält und mit wem er
6.3 Besonderheiten bei ambulanter Behandlung
umgeht, und suchen Kontakt zu seinen Freunden. Die Modifikation des sozialen Netzes des Jugendlichen ist von großer Bedeutung für die Aufrechterhaltung und Generalisierung der Behandlungseffekte. Unter Umständen arbeitet der Therapeut auch mit dem Jugendlichen selbst, um seine sozialen Fertigkeiten zur Abgrenzung gegen sozialen Druck durch deviante Gleichaltrige zu erhöhen. Weiterhin werden die Eltern beim Entwickeln und Implementieren von Strategien unterstützt, um das Funktionieren des Jugendlichen in Schule oder Ausbildung zu fördern, z. B. durch das Etablieren eines regelmäßigen, kooperativen Informationsaustausches zwischen Eltern und Schule über Anwesenheit und Mitarbeit des Jugendlichen und durch die Implementierung einer Tagesstruktur, die auch eine feste Zeit für das Nacharbeiten von Schulstoff beinhaltet. Um ein soziales Netzwerk aufzubauen, das die Eltern dabei unterstützt, diese Veränderungen vorzunehmen und aufrechtzuerhalten, werden sie zu Kontakten mit Verwandten, Nachbarn und Freunden ermutigt. Die Familie soll möglichst aktiv an der Behandlung mitarbeiten, und der Behandlungsplan wird in Zusammenarbeit von Therapeut und Familienmitgliedern entworfen. An jedes relevante Familienmitglied werden Anforderungen hinsichtlich verantwortlichen Handelns gestellt, auch an den Jugendlichen selbst, der bestimmte Aufgaben erfüllen und bestimmten Verhaltensregeln folgen muss, und die Interventionen werden so gewählt, dass sich alle Familienmitglieder täglich oder wöchentlich dafür engagieren müssen. Aufbau und praktische Umsetzung Die multisystemische Therapie besteht nicht aus spezifischen, für die einzelnen Therapiesitzungen festgelegten Interventionen, sondern benennt allgemeine Richtlinien für die Fallkonzeptualisierung, Spezifizierung der Behandlung und die Priorisierung von Interventionen. Die Interventionen sind gegenwarts-, handlungsund ressourcenorientiert und beziehen sich auf konkrete, spezifische Probleme. Sie sind auf die
135
6
individuellen Stärken und Bedürfnisse jeder einzelnen Familie zugeschnitten und werden unter strategischen Punkten ausgewählt und aufeinander abgestimmt, um synergistische Effekte zu maximieren; die Auswahl und Reihenfolge der Interventionen kann also von Familie zu Familie sehr unterschiedlich sein. Der Therapeut wendet eine Anzahl empirisch fundierter Behandlungsansätze (u. a. Elterntraining, Familientherapie und kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen für einzelne Familienmitglieder) an; auch pharmakotherapeutische Interventionen werden in den Behandlungsplan einbezogen. Die meisten familien- und einzeltherapeutischen Interventionen führt er selbst durch und koordiniert – im Sinne eines Case Managements – die Inanspruchnahme anderer wichtiger sozialer Dienste, auch unter Aspekten der Evaluation des tatsächlichen Nutzens für den Jugendlichen und seine Familie. Die Therapiesitzungen werden zu Hause bei der Familie durchgeführt, auch abends oder am Wochenende, wenn es für die Familie günstig ist. Die Vorteile dieses Vorgehens bestehen darin, dass die Kooperation der Familie erhöht wird, eine validere Einschätzung der anzugehenden Probleme und der diesbezüglichen Ergebnisse gelingt und dass Generalisation und Stabilität der Behandlungsergebnisse leichter erreicht werden können. Der Therapeut geht auch zusammen mit den Eltern in die Schule des Jugendlichen und auf Ämter, wenn erforderlich. Die Intensität der Behandlung wird den Erfordernissen angepasst, mit einer Vielzahl von Kontakten pro Woche zwischen Therapeut und Familie zu Beginn der Behandlung. Dementsprechend arbeitet ein Therapeut nur mit einer geringen Anzahl von Familien gleichzeitig. Später im Verlauf der Behandlung, die etwa 3–5 Monate dauert, wird die Häufigkeit der Kontakte deutlich geringer. Effektivität Die Langzeitwirksamkeit der multisystemischen Therapie bei Jugendlichen mit erheblicher Delinquenz ist gut belegt, auch für weibliche Jugend-
136
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
liche und Jugendliche aus ethnischen Minderheiten sowie aus psychosozial hochgradig belasteten Familien. Drogenkonsum, psychische Störungen, Kriminalitätsrate und die Anzahl außerhäuslicher Platzierungen der Jugendlichen konnten vermindert werden. Durch verbesserte innerfamiliäre Beziehungen und erhöhtes elterliches Monitoring wurde der Kontakt der Jugendlichen zu devianten Gleichaltrigen vermindert, was wiederum zu einer Abnahme delinquenten Verhaltens bei den Jugendlichen führte (Huey et al. 2000).
6.4
Besonderheiten bei teilstationärer Behandlung
Ein teilstationäres (tagesklinisches) Behandlungssetting ist für Patienten geeignet, die ambulant nicht ausreichend behandelt werden können, für die aber eine vollstationäre Behandlung noch nicht oder nicht mehr erforderlich ist. Für Patienten, die nach einem stationären Klinikaufenthalt noch weitere Behandlung benötigen, kann eine tagesklinische Behandlung ein wichtiges Zwischenstadium im Rahmen einer gestuften Belastungssteigerung sein. Tagsüber stehen für die Patienten alle diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten zur Verfügung, kinder- bzw. jugendpsychiatrische Behandlung integriert mit sozialpädagogischer Betreuung und individueller angepasster schulischer Förderung oder Schulbesuch. Voraussetzungen für die Durchführung einer teilstationären Behandlung sind, dass kein akut schädigendes Familienmilieu vorliegt, dass die Entfernung zwischen Wohnort und Tagesklinik bewältigbar ist und das Kind bzw. der Jugendliche durch den täglichen Wechsel zwischen Elternhaus und Klinik nicht überfordert wird. Ein teilstationäres Behandlungssetting bietet gegenüber einer ambulanten Behandlung den Vorteil eines therapeutischen Milieus, innerhalb dessen eine Verhaltensmodifikation in der Gruppe möglich ist, falls die Patientengruppe
nicht zu viele Kinder bzw. Jugendliche mit Störungen des Sozialverhaltens enthält. Ein soziales Problemlösetraining kann so mit einem größeren Alltagsbezug durchgeführt werden, und soziale Fertigkeiten können schneller aufgebaut und stabilisiert werden. Komorbide psychiatrische Störungen können systematischer behandelt werden, als dieses in einem ambulanten Setting der Fall ist. Da Elterntraining so konkret wie möglich durchgeführt werden sollte, ist es günstig, wenn Eltern in das teilstationäre Behandlungssetting einbezogen und im praktischen Umgang mit ihrem Kind angeleitet werden. Im Rahmen einer teilstationären Behandlung kann auch Schuldiagnostik durchgeführt werden sowie erforderlichenfalls ein spezifisches Training zur Behandlung von Teilleistungsstörungen erfolgen. ! Je jünger ein Kind ist, desto mehr ist einer teilstationären Behandlung der Vorzug vor einer vollstationären Behandlung zu geben, um es nicht von seinen Bezugspersonen zu trennen.
Die Voraussetzungen für den Transfer in die häusliche Situation sind günstiger, da Kind und Eltern Erlerntes zu Hause unmittelbar praktisch erproben und modifizieren können. Wenn ein Kind von einem Elternteil gebracht und abgeholt wird, kann dieses zum täglichen Informationsaustausch zwischen Eltern und Behandlungsteam genutzt werden.
6.5
Besonderheiten bei stationärer Behandlung
Indikationen für eine stationäre Behandlung sind akute Eigen- oder Fremdgefährdung auf der Grundlage einer psychiatrischen Störung zur Krisenintervention, das Vorliegen stationär behandlungsbedürftiger psychiatrischer Begleiterkrankungen sowie ein unzureichender Behandlungserfolg bei weniger intensiven Interventionen.
6.5 Besonderheiten bei stationärer Behandlung
! Sie müssen der Krankenkasse nachvollziehbar erklären, aus welchem Grund ein Kind oder Jugendlicher mit einer Störung des Sozialverhaltens in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik behandelt wird. Eine inhaltlich unzureichend (oder schlecht lesbar) ausgefüllte Verlängerungsanzeige erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Anfrage durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) deutlich!
Gegebenenfalls kann in der Klinikschule eine gezielte Verhaltensbeobachtung unter schulischer Belastung und eine Abklärung des schulischen Leistungsstandes sowie spezifischer Probleme bei schulischen Anforderungen durchgeführt werden. Bei stationär behandlungsbedürftigen Kindern und Jugendlichen mit Störungen des Sozialverhaltens wird in der Regel das Jugendamt hinzugezogen, wobei auch Möglichkeiten außerfamiliärer Platzierung in Betracht gezogen werden sollten. Bereits während der stationären Behandlung sollte nach Möglichkeit die Wiedereingliederung in die Herkunftsschule oder die berufliche Rehabilitation erfolgen (7 6.6). Während der stationären Behandlung sollte – eventuell mit teilstationärer Behandlung als Übergang – eine anschließende ambulante Behandlung, kombiniert mit Jugendhilfemaßnahmen, eingeleitet werden. Ziele der ambulanten Behandlung sind es, den Behandlungserfolg zu stabilisieren und auf eine erneute Verstärkung der Symptomatik zeitnah mit geeigneten Interventionen reagieren zu können.
137
Unabdingbar bei der stationären Aufnahme von Patienten mit Störungen des Sozialverhaltens 5 Dem Kind bzw. Jugendlichen so deutlich wie möglich das Ziel und die Abläufe der stationären Behandlung und die Erwartungen an sein Verhalten erklären 5 »Spielregeln« für aggressives Verhalten mit Patient und Eltern besprechen, Räumlichkeiten (z. B. Time-out-Raum) zeigen 5 Gepäck und Kleidung in Anwesenheit des Patienten kontrollieren lassen (Waffen, Drogen?) 5 Drogenscreening im Urin (u. U. auch schon bei älteren Kindern!); wenn indiziert, ankündigen, dass auch während der stationären Behandlung unangekündigte Screening-Untersuchungen erfolgen; Absprachen treffen, welche Konsequenzen ein positiver Drogenurin hat 5 Schwangerschaftstest bei weiblichen Jugendlichen (auch in vergleichsweise jungem Lebensalter) 5 Erheben der Vorgeschichte aggressiven Verhaltens, einschließlich Auslösern, Warnzeichen, selbstverletzendes Verhalten, auf welche Interventionen welche Response, frühere Fixierungen und Zwangsmedikationen 5 Erheben von Informationen für den Fall, dass eine Notfallmedikation erforderlich wird: Bestehen Kontraindikationen für bestimmte Medikamente (somatische Erkrankungen, erhebliche unerwünschte Wirkungen in der Vorgeschichte)? Aktuelle Medikation (auch für evtl. komorbide somatische Erkrankungen)? Medikation mit guter Wirkung aus der Vorgeschichte bekannt? Drogenkonsum, so dass eine Interaktion mit der Notfallmedikation zu befürchten ist?
6
138
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
Interventionen bei aggressivem Verhalten auf der Station Es sollte eine individuelle, mit dem Patienten abgestimmte Abfolge von Interventionen festgelegt werden, die bei aggressivem Verhalten eingesetzt werden können. Ziel ist es, dass der Patient soweit wie möglich selbst dazu beiträgt, sein aggressives Verhalten zu vermindern. Dabei wird er vom Behandlungsteam soweit wie erforderlich unterstützt. ! Freiheitsentziehende Maßnahmen wie Fixierung sowie Zwangsmedikation dürfen lediglich zur Gefahrenabwehr eingesetzt werden, wenn alle vorgeschalteten Maßnahmen versagt haben.
Bei allen Patienten mit aggressivem Problemverhalten sollte Psychoedukation bezüglich Stressreduktion und Ärgerkontrolle durchgeführt werden und die Anwendung der erlernten Fertigkeiten in vielfältigen alltäglichen Situationen geübt werden. Wenn ein Kind oder Jugendlicher Warnzeichen zeigt, die aggressives Verhalten ankündigen (z. B. provozierendes oder drohendes Verhalten, zunehmende Unruhe und Anspannung), wird der Patient durch »Prompting« (Geben von kurzen verbalen oder nonverbalen Hinweisen) darauf aufmerksam gemacht, Strategien zur Problemlösung bzw. Spannungsreduktion anzuwenden, nach Möglichkeit solche, die sich in früheren Situationen bei ihm als effektiv erwiesen haben. Wenn dieses zur Verminderung des aggressiven Verhaltens nicht ausreichend ist, wird der Patient durch aktivere verbale Interventionen darin unterstützt, innere Spannung und Konflikte mit der Außenwelt ohne aggressive Ausbrüche zu bewältigen, üblicherweise in einer 1:1-Situation, um sein Gefühl von Autonomie zu erhöhen und Gruppenprozesse zu minimieren. Bei überwiegend proaktiv-aggressivem Verhalten werden verbale Warnungen eingesetzt, die den Einsatz negativer Konsequenzen ankündigen, falls das aggressive Verhalten fortgesetzt wird. Beim »Time-away«
wird der Betroffene in einen Raum, z. B. sein eigenes Zimmer geschickt und dazu angehalten, eine Aktivität auszuwählen und durchzuführen (z. B. Spielen, Lesen, Malen oder Basteln, Musik hören, ein Bad nehmen), um sich selbst zu beruhigen. Hier geht es in erster Linie darum, dass das Kind oder der Jugendliche lernt, für sich selbst eine beruhigende Atmosphäre mit einer für ihn angenehmen Tätigkeit zu schaffen. »Talking down« bedeutet, mit einem sehr angespannten Patienten, der kaum noch Kontrolle über sein Verhalten hat und unmittelbar selbstund/oder fremdgefährdend werden kann, auf eine sehr ruhige und nichtkonfrontative Weise zu sprechen, um ihn zu beruhigen. Time-out Time-out wird bei regelverletzendem und aggressivem Verhalten als Entzug sozialer Verstärkung eingesetzt. Dieses kann mittels einer räumlichen Separierung, z. B. auf einem Time-out-Stuhl bei jüngeren Kindern, aber auch in einem separaten, reizarmen Time-out-Raum durchgeführt werden. Zu Beginn der Behandlung sollte dies mit dem Patienten und seinen Eltern besprochen und der Time-out-Raum gezeigt werden. Ebenfalls vor der Durchführung einer solchen Intervention sollten mit dem Kind beruhigende Selbstverbalisationen erarbeitet werden und das Kind bei Durchführung einer Time-out-Prozedur dazu angehalten werden, diese Selbstverbalisationen einzusetzen. Wenn ein Patient sich im Time-out-Raum befindet, muss er kontinuierlich überwacht werden. Orientierend für die Zeitdauer einer Time-out-Maßnahme ist zunächst einmal die Anzahl der Lebensjahre des Kindes in Minuten. Wenn das Kind sich in dieser Zeit noch nicht beruhigen konnte, kann der Time-out bis zu etwa einer halben Stunde ausgedehnt werden, jedoch nicht länger als bis zu dem Zeitpunkt, an dem das Kind sich sicher beruhigt hat. Wenn ein Kind im Time-out-Raum erheblich gegen die Wände schlägt und droht, sich selbst zu verletzen, muss die Time-out-Maßnahme beendet werden. In dieser Weise eingesetzte
6.5 Besonderheiten bei stationärer Behandlung
Time-out-Maßnahmen sind pädagogische Maßnahmen, keine freiheitsentziehenden Maßnahmen, und bedürfen somit keiner richterlichen Genehmigung. Festhalten Diese Intervention wird vor allem bei jüngeren Patienten eingesetzt, in der Regel durch zwei Mitarbeiter des Pflegeteams, die dabei versuchen, den Patienten verbal zu beruhigen. Günstig dafür ist die Beherrschung spezieller Festhaltetechniken, die mit geringem Verletzungsrisiko für alle Beteiligten durchgeführt werden können. Es darf nicht zu viel Druck auf den Rücken eines auf dem Bauch liegenden Patienten ausgeübt werden, da sonst Erstickungsgefahr besteht. Diese Methode erreicht ihre Grenzen durch Größe und/oder Körperkraft des Patienten. Sie sollte bei Patienten mit sexuellem Missbrauch in der Vorgeschichte nicht eingesetzt werden, ebenso wenig bei Patienten, welche die körperliche Nähe während dieser Intervention als so positiv erleben, dass es zu einer Zunahme ihres aggressiven Verhaltens kommt. Zwangsmaßnahmen Erst dann, wenn bei eigen- und/oder fremdgefährdendem aggressivem Verhalten alle geeigneten deeskalierenden Interventionen – einschließlich des Anbietens einer sedierenden Bedarfsmedikation – erfolglos waren, werden zur Gewährleistung der Sicherheit des Jugendlichen selbst und/oder der von Dritten (Mitpatienten, Mitarbeitern) Zwangsmaßnahmen eingesetzt. ! Selbstverständlich ist hier in jedem Fall die am wenigsten restriktive Maßnahme zu wählen, mit der dieses Ziel erreicht werden kann. Würde und Autonomie des Patienten müssen gewahrt werden, so weitgehend, wie es in einer solchen Situation möglich ist.
Überlegen Sie, ob Sie Rücksprache mit dem zuständigen Oberarzt halten müssen – manch-
139
6
mal erfordert die Akuität der Situation jedoch unmittelbares Eingreifen. Andere Patienten sollten sich nicht in dem Stationsbereich aufhalten, in dem die Zwangsmaßnahme durchgeführt wird. Elementare Voraussetzung dafür, dass eine solche Intervention lege artis durchgeführt werden kann, ist die Verfügbarkeit von einer ausreichenden Anzahl von gut ausgebildeten Mitarbeitern. Grundsätzlich sollte eine Klinik, die freiheitsentziehende Maßnahmen durchführt, mit eigenen Mitteln die Behandlung auch hoch aggressiver Patienten gewährleisten können. Wenn jedoch abzusehen ist, dass eine notwendige Fixierung nicht mehr adäquat durchgeführt werden kann und mit einer Gefährdung von Patient und Mitarbeitern einhergeht, sollte Amtshilfe durch die Polizei angefordert werden. Wenn in einer Klinik mit einer gewissen Regelmäßigkeit solche Situationen auftreten, ist die pflegerische Besetzung der Stationen zu gering. Fixierung. Vor Durchführung einer Fixierung
sollte ein geeignetes Bett durch Anbringen von Fixierungsgurten – in der Regel 5-Punkt-Fixierung mit Bauchgurt und Fixierung aller Extremitäten – in der für den Patienten geeigneten Größe vorbereitet werden und eine geeignete sedierende Notfallmedikation in oraler sowie intramuskulärer Applikationsform bereitgestellt werden. Ein Notfallkoffer zur Durchführung einer kardiopulmonalen Reanimation sollte unmittelbar verfügbar sein. Derjenige, der die Zwangsmaßnahme koordiniert und leitet (falls uneindeutig, unbedingt vorher klären!), gibt ruhig klare, für alle Beteiligten verständliche Anweisungen. Vor dem tatsächlichen Durchführen einer Fixierung erklärt er dem Patienten, dass die Fixierung nun unmittelbar bevorstehe und der Patient jetzt die letzte Möglichkeit habe, diese durch Einnehmen der Medikation zu vermeiden. Anderenfalls halten alle Mitarbeiter auf Kommando den Patienten gleichzeitig an Armen und Beinen fest, legen ihn mit dem Rücken auf das Bett und bringen
140
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
die Fixierungsgurte an. Wichtig ist, dass Teams gut aufeinander eingespielt sind und sich mit wenigen Worten verständigen können, wer welche Handlungen durchführt. Der Kopf des Patienten sollte während des Anbringens der Fixierung festgehalten werden, um ein Schädel-HirnTrauma oder Bisswunden zu vermeiden, aber es darf unter keinen Umständen Druck auf den Hals ausgeübt werden (Erstickungsgefahr, Barorezeptoren-Reflex mit plötzlichem Blutdruckabfall). Erst nach fachgerechtem, sicherem Anbringen der Fixierung dürfen die Haltegriffe gelöst werden. Auf eine adäquate Lagerung des Patienten ist zu achten, wobei der Kopf frei drehbar sein muss und kein Druck auf große Blutgefäße oder oberflächlich liegende Nerven ausgeübt werden darf. Weiterhin muss jede anhand der Kleidung gegebene Möglichkeit für eigengefährdendes Verhalten des Patienten in der Fixierung unterbunden werden. Minimal erforderlich ist das Leeren der Taschen aller Kleidungsstücke (Taschenmesser, Feuerzeug!), Ausziehen der Schuhe und das Entfernen von Gürtel und Schmuck sowie von allen Kleidungsstücken, die sich am Hals zuziehen könnten. Fixierte Patienten müssen kontinuierlich überwacht werden, erst recht bei Gabe einer Medikation, jedoch unter Umständen nicht durch eine Person direkt im Zimmer, wenn dieses vom Patienten als zusätzliche Provokation empfunden wird, sondern mittels Sichtfenster mit Sicherheitsglas oder evtl. Kamera. Wenn der Patient sich beruhigt hat und schläft oder aber wieder absprachefähig ist, ist die Fixierung zu beenden. Es sollte immer unmittelbar nach Anbringen der Fixierung ein Fixierungsprotokoll zur präzisen Dokumentation der Maßnahme angelegt werden.
se gefährlich, einen Patienten, der schon ruhiger wird, noch zu sedieren. Auch dem fixierten Patienten sollte die Medikation zunächst wieder oral angeboten werden. Lediglich dann, wenn eine orale Verabreichung nicht möglich ist, ist eine i.m.-Gabe indiziert (Pappadopoulos et al. 2003; American Academy of Child and Adolescent Psychiatry 2002). Auch wenn in einer solchen Situation die orale Einnahme faktisch erzwungen wird, wird sie von den Patienten in der Regel als weniger invasiv als eine Injektion erlebt. Die Resorption ist bei i.m.-Gabe meist unzuverlässiger als bei oraler Gabe. Günstig kann z. B. die Gabe von Tavor expidet sein, welches sich im Mund auflöst, so dass keine Aspirationsgefahr besteht. Falls wirklich eine i.m.-Applikation durchgeführt werden muss, sollte diese tatsächlich intramuskulär und nicht subkutan durchgeführt werden (vor allem bei übergewichtigen Patienten ist auf eine ausreichende Länge der Kanüle zu achten!). Viele Medikamente – insbesondere Neuroleptika – haben parenteral mehr Nebenwirkungen (z. B. Blutdruckabfall bei Levomepromazin, akute Dystonie bei Haloperidol) als oral (Pappadopoulos et al. 2003). Ein Patient, der sich gegen eine i.v.-Injektion zur Wehr setzt, hat selbst in einer Fixierung meist noch soviel Bewegungsfreiheit, dass die Gefahr einer paranvenösen Applikation besteht. Vitalparameter, Medikamentenwirkungen und -nebenwirkungen müssen engmaschig kontrolliert werden. Unter bestimmten Bedingungen kann auch eine Zwangsmedikation ohne das Durchführen einer Fixierung indiziert sein; dieses setzt jedoch voraus, dass das aggressive Verhalten des Patienten in dem Zeitraum bis zum Eintreten einer suffizienten sedierenden Wirkung auf andere Weise hinreichend kontrolliert werden kann.
Sedierung. Wenn ein Patient längere Zeit fixiert werden muss, weil der zur Fixierung führende aggressive Erregungszustand weiterhin anhält, ist eine medikamentöse Sedierung erforderlich. Es ist jedoch wenig sinnvoll und möglicherwei-
! Die Eltern müssen umgehend über die Zwangsmaßnahme informiert werden. Sofern nicht bereits vor Durchführung der Zwangsmaßnahme (Fixierung und/oder Zwangsmedikation) ein Unterbringungsbeschluss bestand, ist diese
6.5 Besonderheiten bei stationärer Behandlung
auch bei einmaligem Vorkommen nachträglich einer richterlichen Prüfung zu unterziehen.
Wenn der Patient zur Ruhe gekommen ist und wieder Kontrolle über sein Verhalten hat, sollte der Vorfall mit ihm nachbesprochen und eine Verhaltensanalyse durchgeführt werden, unter Einnahme einer sachlichen und neutralen Haltung, so dass der Patient sich nicht (zusätzlich) gedemütigt fühlt. Wie bei allen aggressiven Vorfällen, die zur Schädigung anderer Menschen oder zur Destruktion von Gegenständen führen, ist die Wiedergutmachung entstandener Schäden durch den Patienten als natürliche Konsequenz seiExkurs Empfehlungen für das Procedere, falls ein Patient sich in einem Raum verbarrikadiert 5 Es sollte vermieden werden, dass es überhaupt soweit kommt. In den Räumlichkeiten insbesondere einer geschlossenen Station sollte sich kein Mobiliar befinden, welches dazu eingesetzt werden kann, eine Zimmertür zu versperren. 5 Wenn mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass keine Eigengefährdung vorliegt, kann zunächst abgewartet werden. 5 Bei Hinweis auf Eigengefährdung muss versucht werden, den Patient dazu zu bringen, die Tür zu öffnen. Das Fenster sollte nach Möglichkeit von außen gesichert werden. 5 Bestehen konkrete Hinweise auf Eigengefährdung, muss versucht werden, notfalls auch unter Anwendung von Gewalt, die Tür zu öffnen.
141
6
nes aggressiven Verhaltens zu verstehen. Die Gewichtung dieser unterschiedlichen Aspekte ist jeweils gut auszubalancieren und individuell auf den Patienten abzustimmen. Das Verhalten des Behandlungsteams im Anschluss an einen solchen Vorfall ist sehr entscheidend dafür, wie der Betroffene den Vorfall verarbeitet. Auch mit den anderen Patienten in der Station sollten grundsätzliche Aspekte solcher Situationen besprochen werden, um ihnen eine realitätsnahe Sichtweise des Geschehenen zu ermöglichen. Im Team muss das Procedere, einschließlich der vorausgehenden deeskalierenden Maßnahmen, evaluiert werden.
5 Auch Glas der höchsten Sicherheitsstufe (sog. »Panzerglas«) kann durch hoch erregte Jugendliche, selbst wenn sie körperlich wenig kräftig sind, zerstört werden, wenn sie oft genug immer wieder auf die gleiche Stelle schlagen. Besteht Eigengefährdung (wenn das Zimmer oberhalb des Erdgeschosses liegt, ist diese bei einem hoch erregten Patienten wahrscheinlich gegeben!), rufen Sie rechtzeitig die Feuerwehr, um die Tür aufbrechen zu lassen! Hat das Glas erst einmal Sprünge, hält es höchstens noch wenige Minuten. Bitten Sie darum, dass sich der Einsatzwagen ohne Martinshorn dem Einsatzort nähert, da sonst Angst und Wut des Patienten noch verstärkt werden können! 5 Veranlassen Sie, dass die anderen Patienten vom Einsatzort ferngehalten werden und sich nicht von der Station entfernen, wenn die Einsatzkräfte in die Station hineingelassen werden. 5 Seien Sie darauf vorbereitet, dass Sie es nach Öffnen der Tür mit einem Patienten im Ausnahmezustand zu tun haben, der maximal erregt und aggressiv oder körperlich und psychisch völlig erschöpft ist.
142
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
Notfallmedikation bei aggressiven Erregungszuständen Lorazepam (Tavor) 5 Oral schnelle und fast vollständige Resorption (i.v.-Injektion nur sehr langsam durchführen, Gefahr von Blutdruckabfall und Atemdepression); gut steuerbar (keine aktiven Metaboliten, keine Interaktionen bei der Elimination) 5 Übliche Initialdosis bei akutem Erregungszustand: 1 mg, möglichst oral 5 Lyophilisierte Plättchen (Tavor expidet 1 mg, 2,5 mg), lösen sich bei Kontakt mit Flüssigkeit auf, kein Zurückhalten des Medikamentes im Mund möglich 5 Bei unzureichender Wirkung Wiederholung nach 30 Minuten möglich (jedoch Vorsicht: maximale Plasmakonzentration erst nach 1–2 Stunden) 5 Bei akuter Überdosierung: Schwindel, Dysarthrie, Ataxie, Apathie, Verlangsamung der motorischen Abläufe, muskuläre Schwäche, Doppelbilder; falls Somnolenz eintritt, Kontrolle der Vitalparameter 5 Paradoxe Disinhibitionsphänomene mit Angst, Agitiertheit und Erregungszuständen auch unter üblichen Dosen möglich 5 Nicht bei akuter Intoxikation mit anderen zentral wirksamen Substanzen 5 Anwendung auf Einzelgaben oder auf wenige Tage beschränken (Gefahr der Abhängigkeitsentwicklung)
Diazepam (Valium) 5 Übliche Initialdosis bei akutem Erregungszustand: 5–10 mg oral, i.m. oder i.v. 5 Oral: schnelle Resorption, maximale Plasmakonzentration nach etwa 1 Stunde; rektal: schnelle Resorption, aber unzuverlässiger; i.m.-Injektion: unsichere, stark variierende Resorption; i.v.-Injektion: nur sehr langsam durchführen, Gefahr von Blutdruckabfall und Atemdepression
5 Schnelle Anflutung der medikamentösen Wirkung; bei Einmalgabe nur kurz dauernde Wirkung, bei wiederholter Gabe Kumulationsgefahr! (aktive Metaboliten mit sehr langer Halbwertszeit) 5 Bei akuter Überdosierung: Schwindel, Dysarthrie, Ataxie, Apathie, Verlangsamung der motorischen Abläufe, muskuläre Schwäche, Doppelbilder; falls Somnolenz eintritt, Kontrolle der Vitalparameter 5 Paradoxe Disinhibitionsphänomene mit Angst, Agitiertheit und Erregungszuständen auch unter üblichen Dosen möglich 5 Nicht bei akuter Intoxikation mit anderen zentral wirksamen Substanzen; Ausnahme: Mittel der Wahl beim komplizierten Halluzinogenrausch (»Horrortrip«)
Levomepromazin (Neurocil) 5 Übliche Dosis bei aggressiven Erregungszuständen älterer Kinder und Jugendlicher: 25 mg oral oder i.m. (tiefe intramuskuläre Gabe!) 5 Maximale Plasmakonzentration: oral nach 2–3 Stunden, i.m. nach 30–90 Minuten 5 Möglichst keine i.v.-Gabe (bei paravenöser oder intraarterieller Injektion Gewebeschäden bis zum Totalverlust der betreffenden Extremität); wenn doch, Venen außerhalb der Ellenbeuge verwenden; nur langsam und nach Verdünnung auf 1:10 injizieren 5 Nebenwirkungen: orthostatische Hypotonie (kann sehr ausgeprägt sein, besonders nach parenteraler Gabe, evtl. stundenlang!), Tachykardie, Verlängerung der QTc-Zeit, Obstipation, Ileus, Harnverhalt, Akkommodationsstörung, Glaukomanfall, epileptische Anfälle, cholestatische Hepatitis, Blutdyskrasien, allergische Hautreaktionen; erst bei hohen Dosen extrapyramidalmotorische Symptome, Delir; selten: malignes neuroleptisches Syndrom 6
143
6.5 Besonderheiten bei stationärer Behandlung
5 Injektionslösung enthält Sulfit (selten, vor allem bei Asthmapatienten, Überempfindlichkeitsreaktionen: keuchende Atmung, Asthmaanfall, Erbrechen, Durchfall, Bewusstseinsstörungen, Schock) 5 Bei Kombination mit anderen zentral dämpfenden Substanzen: verstärkt Sedierung und Atemdepression 5 Bei Kombination mit anderen anticholinergen Substanzen: Gefahr eines anticholinergen Delirs 5 Kontraindikation: Blutdyskrasie aktuell oder in der Vorgeschichte (Gefahr der Agranulozytose)
Pipamperon (Dipiperon) 5 Niedrig-potentes Neuroleptikum 5 Ausschließlich oral anwendbar (Tabletten, Saft); Kinder <10 Jahre: ca. 0,5–1,0 mg/kg Körpergewicht, bei älteren Kindern etwa 20–40 mg pro Einzelgabe 5 Relevante Nebenwirkungen: Harnverhalt, orthostatische Hypotonie, Tachykardie, epileptische Anfälle, allergische Hautreaktionen
Behandlung eines deliranten Syndroms Delirante Syndrome sind potenziell lebensbedrohlich; eine kontinuierliche medizinische Überwachung ist dringend geboten (Vitalparameter, EKG, Elektrolyte, Leber- und Nierenwerte). 5 Kausale Behandlung: Behandlung der zugrunde liegenden Störung, aber nicht selten multifaktorielle Verursachung 5 Symptomatische Behandlung: – Hoch-potentes Neuroleptikum (z. B. Haloperidol) in niedriger Dosierung zur Kontrolle von Agitation und Halluzinationen
–
–
–
Niedrig-potentes Neuroleptikum zur Sedierung (jedoch nicht bei einem anticholinergen Delir, da Verstärkung der anticholinergen Wirkung; dann Haloperidol) Nach Möglichkeit keine Benzodiazepine, außer bei Delir durch Alkoholentzug oder Entzug von Sedativa/Hypnotika sowie bei Delir durch Intoxikation mit psychotropen Substanzen Beim anticholinergen Delir: Sofortiges Absetzen anticholinerger Pharmaka (nur unter intensivmedizinischen Bedingungen: sehr langsame i.v.-Injektion von Physostigmin, einem BlutHirn-Schranken-gängigen Cholinesterasehemmer; aufgrund der kurzen Halbwertszeit von ca. 30 Minuten kann die delirante Symptomatik wieder auftreten und eine erneute Gabe von Physostigmin erfordern; Kontraindikation: Asthma bronchiale)
Behandlung akuter extrapyramidalmotorischer Symptome 5 Zungen-Schlund-Krämpfe können lebensbedrohlich sein! Biperiden (Akineton) i.v.! Langsam zunächst 5 mg i.v. geben, bei unzureichender Wirkung nach wenigen Minuten wiederholen! 5 In einer akuten Situation keinesfalls erst orale Gabe von Akineton, denn der Wirkungseintritt erfolgt zu langsam. Muss man im Anschluss an eine orale Gabe noch eine i.v.-Injektion durchführen, besteht die Gefahr einer Kumulation anticholinerger Effekte! 5 Achtung: Oft hat Akineton eine kürzere Halbwertszeit als das Neuroleptikum, so dass die Gabe – unter Umständen mehrmals – wiederholt werden muss.
6
144
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
Notfallmedikation bei aggressiven Erregungszuständen Benzodiazepine können vor allem bei Kindern paradoxe Reaktionen auslösen, dann sind niedrig-potente Neuroleptika (z. B. Pipamperon, Levomepromazin) besser geeignet. Eine Kombination mehrerer niedrig-potenter Neuroleptika ist nicht sinnvoll und kann aufgrund unberechenbarer Interaktionen gefährlich sein. Inzwischen liegen atypische Neuroleptika als Präparationen zur i.m.-Injektion vor; da bislang jedoch kaum Erfahrungen damit verfügbar sind, kann ihre Anwendung bei Kindern und Jugendlichen derzeit nicht empfohlen werden. Rechtliche Grundlagen freiheitsentziehender Maßnahmen Eine Unterbringung Minderjähriger mit freiheitsentziehenden Maßnahmen, die sog. geschlossene Unterbringung, greift massiv in deren Persönlichkeitsrechte ein und darf somit ausschließlich dann durchgeführt werden, wenn ausreichender Schutz sowie notwendige Hilfe in einem offenen Setting nicht zu gewährleisten sind. Für die geschlossene Unterbringung in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik gibt es zwei verschiedene gesetzliche Grundlagen: 5 Nach den Landesunterbringungsgesetzen für psychisch Kranke (UBG, PsychKG) ist das Ziel der öffentlich-rechtlichen geschlossenen Unterbringung die Gefahrenabwendung sowie die Behandlung des Betroffenen bei konkreter Gefährdung der eigenen Person, anderer Personen oder erheblicher Rechtsgüter anderer aufgrund einer akuten psychiatrischen Störung. Sie kann auch gegen den Willen der Erziehungsberechtigten erfolgen und fällt in die Zuständigkeit der Vormundschaftsgerichte. 5 Nach § 1631b BGB kann durch einen Familienrichter eine zivilrechtliche Genehmigung zur Unterbringung mit Freiheitsentzug nur dann erteilt werden, wenn dieses zum Wohl des betroffenen Minderjährigen erfor-
derlich ist. Eine solche Unterbringung nach § 1631b BGB kann weniger problematisch für die weitere Entwicklung eines Jugendlichen sein als ein Freiheitsentzug nach den Unterbringungsgesetzen der Länder, u. a. weil durch letzteres Vorgehen der Zugang zu manchen Berufen (Polizei, Militär, Verbeamtung) eingeschränkt wird. Nach § 1631b BGB müssen jedoch grundsätzlich vor Beginn der freiheitsentziehenden Unterbringung der Antrag der Sorgeberechtigten beim Familiengericht, die Erstellung eines ärztlichen Zeugnisses, die richterliche Anhörung des Minderjährigen sowie des Jugendamtes und der richterliche Beschluss erfolgen. Auch wenn in Ausnahmefällen nach § 1631b Satz 2 BGB die Unterbringung ohne richterliche Zustimmung gestattet ist – welche jedoch unverzüglich, unter Heranziehen der Fristenregelung nach Art. 104 Abs. 2 GG spätestens nach 48 Stunden, einzuholen ist (Schlink u. Schattenfroh 2001) – kann das vom Gesetzgeber in § 1631b BGB grundsätzlich vorgesehene Procedere der Dynamik einer Situation, die eine Krisenintervention aufgrund von akuter Eigen- und/ oder Fremdgefährdung erfordert, häufig nicht gerecht werden. Im Gegensatz zu einer Unterbringung nach den Landesunterbringungsgesetzen für psychisch Kranke ist für eine Unterbringung nach § 1631b BGB nicht relevant, ob diese überwiegend psychiatrisch oder überwiegend pädagogisch begründet wird, und sie kann auch in einer geschlossenen Einrichtung der Jugendhilfe durchgeführt werden. Für beide gerichtlichen Verfahren, sowohl zur Anordnung (Unterbringungsgesetze) als auch zur Genehmigung (§ 1631b BGB) freiheitsentziehender Maßnahmen, gelten die gesetzlichen Verfahrensvorschriften der §§ 70–70n FGG, welche den betroffenen Minderjährigen umfassende Partizipationsrechte einräumen. Eine geschlossene Unterbringung aufgrund einer kinder-/
6.5 Besonderheiten bei stationärer Behandlung
jugendpsychiatrischen Erkrankung ist meist nur für einen Zeitraum von wenigen Wochen erforderlich; wenn dagegen bei Jugendlichen mit hochgradig stabilem aggressiv-dissozialem Verhalten und geringer Bindungsfähigkeit eine Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung der Jugendhilfe notwendig erscheint, wird dieses meist für einen deutlich längeren Zeitraum (von in der Regel mehreren Monaten) empfohlen. Dieses spiegelt sich auch in Ausführlichkeit und Detailliertheit der jeweiligen Unterbringungsgutachten wider. Therapeutisch-pädagogisch begründete Einschränkungen wie Ausgangsregelungen oder ein störungsbedingt eingeschränkter Zugang zu bestimmten Räumlichkeiten stellen keine freiheitsentziehenden Maßnahmen dar. Umgang mit akut-aggressiven Patienten ! Beim Umgang mit aggressiven Patienten sollten Sie stets auch Ihre eigene Sicherheit berücksichtigen! Wenn Sie sich in einer Situation physisch gefährdet fühlen, sollten Sie diese verändern!
Wenn der Arzt ein sicheres Setting herstellt, kann das auch zur Entspannung des Patienten beitragen. Ängstliche – wie auch konfrontativ auftretende – Ärzte werden mit einer höheren Wahrscheinlichkeit angegriffen. Zu einem angespannten und aggressiven Patienten sollte eine ausreichende körperliche Distanz gewahrt werden, nicht nur im Interesse der eigenen Sicherheit, sondern vor allem deswegen, weil der Patient eine zu geringe körperliche Distanz als bedrohlich erleben könnte. Man sollte sich seiner eigenen emotionalen Reaktionen und seiner Verhaltensweisen in einer solchen Situation gewahr sein. Vorsicht ist gut, Angst eher hinderlich. Eine entspannte Körperhaltung beruhigt Sie selbst und den Patienten (jedoch so, dass man beweglich bleibt und erforderlichenfalls schnell Distanz zwischen sich und den Patienten bringen kann). Bewusst ausatmen und Entspan-
145
6
nen von Armen und Beinen lässt sich unauffällig während der Exploration durchführen. Setzen Sie sich nicht genau gegenüber dem Patienten hin, sondern etwas seitlich versetzt, nehmen Sie regelmäßig kurz Blickkontakt auf, aber sehen Sie ihn nicht zu viel oder zu lange direkt an (»nicht zu viel eigene Energie auf den Patienten richten!«). Vermeiden Sie schnelle und raumgreifende Bewegungen. Erklären Sie dem Patienten jeweils kurz, was Sie tun, auch wenn Sie banale Handlungen ausführen (z. B. ein Formular holen, den Pieper beantworten usw.). Stellen Sie eine »Arbeitsbeziehung« her, seien Sie ruhig und sachlich. Vermeiden Sie bei einem sehr angespannten Patienten nach Möglichkeit konfrontative Themen, sobald Sie ausreichend Informationen haben, um die aktuelle Situation zu bewältigen. Wenn Sie merken, dass der Patient unter Spannung gerät, lenken Sie das Gespräch auf ein anderes Thema. Falls Sie in der Situation beunruhigt sind und der Patient Sie darauf anspricht, streiten Sie es nicht ab, sondern räumen Sie es in sachlichem Tonfall ein. Achten Sie darauf, dass Sie den Explorationsraum schnell verlassen können; setzen Sie sich jedoch so hin, dass sich der Patient durch Sie nicht eingeengt fühlt. Der Explorationsraum sollte keine Gegenstände enthalten, die als Wurfgeschoss oder Stichwaffe benutzt werden können. Der Raum sollte so gelegen sein, dass andere Mitarbeiter Ihnen schnell zur Hilfe kommen können. Falls es ein Alarmsystem gibt, sollten Sie sich mit der Position des Knopfes so vertraut machen, dass Sie ihn ohne Hinsehen oder gar Suchen betätigen können. Es sollten regelmäßige Übungen stattfinden, zur Überprüfung der technischen Funktionsfähigkeit und um zu gewährleisten, dass jeder Mitarbeiter weiß, was im Alarmfall zu tun ist. Es kann günstig sein, wenn der Patient Sie nicht nur als anonymen Funktionsträger wahrnimmt, aber bleiben Sie sachlich. Gerade Jugendliche fühlen sich sonst eventuell nicht ernst genommen. Sie können beispielsweise sagen, dass Sie etwas müde sind und sich einen
146
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
Kaffee holen wollen, und ihm dann auch etwas zu trinken anbieten (Plastik- oder Papierbecher; keine Flüssigkeit, die so heiß ist, dass sie zu Verbrühungen führen könnte). Tatsächlich können Patienten mit ADHS durch Kaffee ruhiger oder zumindest fokussierter werden. Wenn Sie eine heikle Situation dadurch entspannen können, dass Sie dem Patienten erlauben zu rauchen, dürfen Sie das Jugendschutzgesetz (in öffentlichen Räumen ist das Rauchen erst ab 16 Jahren erlaubt) sowie die Stationsregeln ruhig ignorieren (jedoch nicht in Räumen mit Rauchmelder!). In solchen Situationen hat die unmittelbare physische Sicherheit aller Beteiligten absoluten Vorrang. Gerade aggressiv-dissoziale Jugendliche mit ADHS rauchen häufig, und durch Nikotinentzug kann ein ohnehin schon gespannter und aggressiver Jugendlicher noch explosiver werden. Wenn Sie mit dem Patienten in einen anderen Raum gehen, gehen Sie neben ihm, nicht vor ihm, und achten Sie auf seine Bewegungen. Wenn Sie mit ihm in ein anderes Stockwerk gehen müssen, benutzen Sie nicht den Aufzug, sondern die Treppe. Halten Sie ausreichend Abstand. Wenn Sie sich unsicher fühlen, lassen Sie sich von einem Mitarbeiter begleiten. Falls Sie unmittelbar körperlich bedroht werden und sich nicht in Sicherheit bringen können, versuchen Sie, auf eine für den Patienten unerwartete, aber nicht bedrohliche Weise zu reagieren. Selbst wenn Sie Selbstverteidigungstechniken beherrschen, ist es um ein Vielfaches besser, wenn Sie vermeiden, diese anwenden zu müssen. Im Zweifelsfall wird Ihnen ein gespannter und aggressiver Jugendlicher, der möglicherweise seinerseits Kampfsport betreibt, sehr wahrscheinlich überlegen sein.
Dilemma: Einerseits möchten Sie niemanden in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik stationär aufnehmen, dessen aggressives Verhalten nicht einer psychiatrischen Intervention bedarf. Andererseits können Sie bei einem akutaggressiven, angespannten Patienten kaum ausschließen, auch nicht durch eine längere psychiatrische Exploration, dass nicht doch z. B. eine Intoxikation, ein psychotisches oder delirantes Bild vorliegt. Und selbst wenn keine psychiatrische Ursache des aggressiven Verhaltens zu finden ist, Sie den Patienten dementsprechend wieder gehen lassen und es dann im zeitlichen Zusammenhang mit der Vorstellung bei Ihnen zu erheblichen fremdaggressiven Handlungen kommt, ist das unerfreulich.
Vorstellung akut-aggressiver Patienten im Dienst Wenn Ihnen im Dienst ein fremdaggressiver Jugendlicher vorgestellt wird, stehen Sie – selbst wenn der Patient mit der Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens bekannt ist – vor folgendem
Wenn Ihnen ein Patient telefonisch angemeldet wird, versuchen Sie, möglichst viele Informationen von der anmeldenden Person zu bekommen. Überprüfen Sie, ob der Patient bereits einmal in der Klinik in Behandlung war, und versu-
! Nur wenn das aggressive Verhalten des Jugendlichen klar situativ gebunden oder personenbezogen aufgetreten ist und er bei Ihnen ruhig und absprachefähig ist, wenn Sie keinerlei akute psychiatrische oder somatische Störung erkennen können und Sie den Jugendlichen in die Obhut eines Ihnen zuverlässig erscheinenden Erwachsenen unmittelbar übergeben können, können Sie den Jugendlichen – nach Rücksprache mit dem Dienst habenden Oberarzt! – gehen lassen.
Oft bleibt Ihnen aber nachts nichts anderes übrig, als einen aggressiven Jugendlichen, der Ihnen als Notfall vorgestellt wird, aufzunehmen. ! Machen Sie in jedem Fall absolut deutlich, dass es sich hierbei lediglich um eine Krisenintervention handelt, die so kurz wie möglich gehalten wird und wahrscheinlich am nächsten Tag bereits wieder zu Ende sein wird.
6.5 Besonderheiten bei stationärer Behandlung
chen Sie, relevante Informationen der Datenbank oder der Akte zu entnehmen. Versuchen Sie ebenso von den Personen, die den Patienten in die Klinik bringen, möglichst viel Information über die Umstände, die zur aktuellen Vorstellung bei Ihnen geführt haben, zu erhalten. Wenn ein Jugendlicher in Begleitung seiner Betreuungspersonen kommt, ist es unter Umständen günstiger, erst mit dem Jugendlichen allein zu sprechen. Achten Sie aufmerksam auf den Patienten: 5 Äußeres, Kleidung, Zeichen von Verwahrlosung? 5 Geruch nach Alkohol? 5 Schwitzen oder Frösteln? 5 Unsicherer Gang? 5 Ängstliches, misstrauisches Verhalten? 5 Achtet er auf seine Umgebung? 5 Wie nimmt er Kontakt zu Ihnen auf? 5 Wie zeigt er sich im Gespräch? Abgelenkt, perseverierend, verwirrt? Hat er Mühe, dem zu folgen? Ist er assoziativ gelockert oder inkohärent im Gedankengang? 5 Wird wahnhaftes Erleben deutlich? Bejaht er das Erleben von Halluzinationen, oder gewinnen Sie aus seinem Verhalten diesen Eindruck? Die wichtigsten Differenzialdiagnosen in einer solchen klinischen Situation sind das Vorliegen einer hirnorganischen Störung, einer Intoxikation sowie einer akuten Psychose. Hier ist klinisches Wissen bezüglich psychiatrischer Differenzialdiagnostik und somatischer Ursachen aggressiven Verhaltens (z. B. zerebrale Infektion, Intoxikation) unverzichtbar (7 5.3). Die Frage, ob man bei einem akut-aggressiven Patienten eine körperliche Untersuchung durchführt, ist ein Dilemma: Tut man es nicht, kann man etwas Wichtiges übersehen, z. B. Hinweise auf eine organische Genese des aktuellen aggressiven Bildes, andererseits kann es auch den Patienten provozieren und die Situation endgültig zum Eskalieren bringen. Deswegen sollten Sie sich den Patienten von der Minu-
147
6
te des Erstkontaktes an möglichst genau (aber unauffällig) anschauen und auf sich wirken lassen, weil Sie hieraus bereits wesentliche Hinweise auf eine mögliche organische Genese gewinnen können. Sobald Sie denken, dass eine organische Genese vorliegen könnte, haben Sie keine Wahl! Erklären Sie, was Sie tun. Beschränken Sie sich auf das Erheben der körperlichen Untersuchungsbefunde, die für Sie unverzichtbar sind. Im Nachtdienst geht es nur darum, den Patienten sicher über die Nacht zu bringen – darüber hinausgehender Ehrgeiz ist nicht nur unnötig, sondern manchmal auch schädlich. Wenn der Patient aufgebracht verlangt, dass etwas jetzt unbedingt geregelt werden müsse, oder er unbedingt mit jemandem sprechen will, Sie jedoch den Eindruck haben, dass es ihn noch weiter aufbringen würde, erklären Sie sachlich, dass es Abend/Nacht ist und deswegen jetzt nicht geht, aber dass am nächsten Tag alles geklärt werden wird (jedoch nach Möglichkeit keine Versprechungen machen, die der Tagdienst nicht einlösen kann, es sei denn, Sie haben wirklich keine andere Wahl!). Natürlich müssen Sie die Sorgeberechtigten informieren, aber wenn Sie den Eindruck haben, dass es die Situation erschweren könnte, versuchen Sie, die Sorgeberechtigten von einem Kontaktversuch abzubringen. Auch hier gilt: Es kann alles am nächsten Tag geregelt werden.
148
1 2 3 4 5 6 7 8 9
Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
Allgemeine Empfehlungen für den Bereitschaftsdienst 5 Tragen Sie im Dienst keine Kleidung, Schuhe oder Schmuck, die Sie unbeweglich machen oder gefährden (Halstücher können zum Würgen benutzt werden; Schmuck, insbesondere Ohrschmuck, kann zu unangenehmen Verletzungen führen). Während der Exploration hochaggressiver Patienten kann es ratsam sein, für diesen Zeitraum keine Brille zu tragen. 5 Überschätzen Sie sich selbst nicht, ein aufgebrachter Patient ist immer wacher und energiegeladener als Sie selbst! 5 Hören Sie auf die Ratschläge von erfahrenen Mitarbeitern des Pflegedienstes! Im Nachtdienst gilt noch mehr als tagsüber, dass alle »an einem Strang ziehen« müssen.
10
Empfehlungen für den Umgang mit der Polizei
11
5 Wenn Sie »die Polizei« anrufen, vergessen Sie in der Aufregung nicht, sich den Namen des Polizeibeamten, mit dem Sie sprechen, nennen zu lassen und zu notieren. Dieses hilft Ihnen, wenn Sie sich in der gleichen Angelegenheit noch einmal an die Polizei wenden müssen. 5 Bescheinigen Sie niemals die Haftfähigkeit eines Patienten, der Ihnen von Polizeibeamten im Dienst vorgestellt wird. Der Patient könnte z. B. ein Schädel-Hirn-Trauma, eine innere Blutung, eine noch zunehmende Intoxikation usw. haben. Die Prüfung der Haftfähigkeit ist Aufgabe des Polizeiarztes.
12 13 14 15 16 17 18 19 20
5 Wenn Ihnen ein hochaggressiver Patient in Handfesseln von Polizeibeamten vorgestellt wird, prüfen Sie sehr kritisch, ob Sie die Handfesseln öffnen lassen, denn dieses kann von den Polizeibeamten als Signal interpretiert werden, dass ihr Einsatz erfolgreich beendet ist. Bitten Sie die Beamten in jedem Fall darum, noch in der Nähe zu bleiben. (Sollte der Patient erneut aggressiv werden und wiederum das Anlegen von Handfesseln erforderlich werden, nehmen Sie die kritischen Kommentare bezüglich Ihrer Fehleinschätzung mit Gelassenheit hin.) 5 Grundsätzlich ist es Aufgabe der Klinik, mit eigenen Mitteln auch den Umgang mit hochaggressiven Patienten zu gewährleisten. Wenn jedoch abzusehen ist, dass aufgrund besonderer Umstände (z. B. hocherregter Patient mit 100 kg Gewicht und einem schwarzen Gürtel im Thai-Boxen) eine notwendige Fixierung nicht adäquat durchgeführt werden kann und mit einer erheblichen Gefährdung von Mitarbeitern und Patient zu rechnen ist, fordern Sie Amtshilfe durch die Polizei an. Dieses wird natürlich von der Polizei nicht gern gesehen und sollte sehr restriktiv gehandhabt werden. 5 Wenn Sie Amtshilfe anfordern, sorgen Sie dafür, dass die Polizeibeamten ihre Dienstwaffen vor dem Betreten der geschlossenen Station in Gewahrsam geben. Polizeibeamten trennen sich nicht gern von ihren Dienstwaffen, aber Sie werden noch weniger gern sehen, dass geladene Waffen in eine geschlossene Station mitgenommen werden, die sich in Ihrer Verantwortung befindet! 6
149
6.6 Jugendhilfe und Rehabilitationsmaßnahmen
5 Wenn ein Patient abgängig ist, bei dem eine Eigengefährdung angenommen werden muss (nicht nur bei Suizidalität, sondern auch, wenn er »hilflos« ist, z. B. verwirrt, hochgradig erregt, oder auch bei sehr kalter Witterung unzureichend bekleidet), zögern Sie nicht, den Patienten durch die Polizei suchen zu lassen. Sie sollten den Polizeibeamten eine möglichst genaue Personenbeschreibung geben, unter Angabe der aktuell getragenen Kleidung, und möglichst genaue Angaben, wo die Polizei suchen sollte. Ist der Patient wieder aufgetaucht (in der Klinik oder an einem anderen Ort, z. B. zu Hause), informieren Sie umgehend die Polizei!
6.6
Jugendhilfe und Rehabilitationsmaßnahmen
Bei der Planung von Interventionen für Kinder und Jugendliche mit Störungen des Sozialverhaltens sollte immer auch über geeignete Jugendhilfemaßnahmen nachgedacht werden. Eltern können an das Jugendamt verwiesen werden bzw. das Jugendamt kann durch die Kinder- und Jugendpsychiatrie rechtzeitig hinzugezogen werden. Voraussetzung hierfür ist eine Schweigepflichtsentbindung durch die Erziehungsberechtigten; davon darf (und muss) lediglich bei konkret drohender Gefährdung des Kindeswohls abgewichen werden. Hilfe zur Erziehung Nach § 27 Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) hat jeder Personensorgeberechtigte einen Rechtsanspruch auf Hilfe zur Erziehung, »wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist«. Art und Umfang der Hilfe richten sich dabei nach dem jeweiligen erzieherischen Bedarf, wobei das engere sozi-
6
5 Seien Sie höflich und freundlich im Umgang mit den Polizeibeamten. »Nachts sitzen alle in einem Boot«, und die nächste Situation, in der Sie Amtshilfe durch die Polizei benötigen, kommt bestimmt.
ale Umfeld des Kindes oder Jugendlichen in die jeweilige Hilfe einbezogen werden soll. Neben den im KJHG genannten, im Folgenden aufgeführten Hilfen zur Erziehung sind auch andere Hilfen unter Gestaltung flexibler Hilfearrangements grundsätzlich möglich. Ambulante Maßnahmen Erziehungsberatung (§ 28 KJHG). 'LH Erziehungsberatung ist eine Hilfe zur Erziehung, die von Erziehungsberatungsstellen und anderen Beratungseinrichtungen, z. B. Familienberatungsstellen, erbracht wird. Eltern und andere Erziehungsberechtigte, aber auch Kinder und Jugendliche selbst, sollen bei der Klärung und Bewältigung individueller und familienbezogener Probleme und der zugrunde liegenden Faktoren unterstützt werden. Erziehungsberatung kann auch im Anschluss an eine kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung sinnvoll sein. Sozialpädagogische Familienhilfe (§ 31 KJHG). Sie soll durch intensive – in der Regel aufsuchende und auf längere Dauer angelegte – Betreuung und Begleitung Familien in ihren Erzie-
150
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
hungsaufgaben, bei der Lösung von Konflikten und Krisen sowie bei der Bewältigung von Alltagsproblemen und im Kontakt mit Ämtern und Institutionen unterstützen und dabei Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Je nach Gestaltung dieser Hilfe kann es dabei eher um organisatorische Aspekte des Haushaltes gehen oder aber inhaltlich eher einem im häuslichen Rahmen durchgeführten Elterntraining mit Verhaltensmodifikation, z. B. bei oppositionellen Störungen jüngerer Kinder, entsprechen.
Soziale Gruppenarbeit (§ 29 KJHG). 6LH hat Erziehungsbeistand/Betreuungshelfer (§ 30 KJHG).
Im Gegensatz zu diesen beiden familienbezogenen Maßnahmen soll der Erziehungsbeistand/ Betreuungshelfer die meist älteren Kinder und Jugendlichen bei der Bewältigung von Entwicklungsproblemen unterstützen, möglichst unter Einbeziehung des sozialen Umfelds, und dabei unter Erhaltung des Lebensbezuges zur Familie die Verselbstständigung des betroffenen Minderjährigen fördern. Diese Maßnahme kann in unterschiedlicher Intensität durchgeführt werden.
12
Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung (§ 35 KJHG). Die Grenze zwischen Erzie-
13
hungsbeistandschaft und intensiver sozialpädagogischer Einzelbetreuung ist fließend. Letztere stellt eine – in der Regel auf längere Zeit angelegte – Maßnahme dar, die einen Jugendlichen bei seiner sozialen Integration und eigenverantwortlichen Lebensführung unterstützen soll und ganz auf seine individuellen Bedürfnisse zugeschnitten werden kann.
14 15 16 17 18 19 20
der Gruppe, Begleitung der schulischen Förderung und Elternarbeit unterstützt und dadurch der Verbleib des Minderjährigen in seiner Familie gesichert werden. Wichtige Aspekte sind, dass die Gruppe nicht schwerpunktmäßig aus Kindern mit disruptiven Verhaltensweisen bestehen sollte, dass die Elternarbeit eine hohe Priorität haben sollte und dass eine quantitativ und qualitativ adäquate personelle Besetzung gegeben sein muss.
Teilstationäre Maßnahmen Teilstationäre Maßnahmen der Jugendhilfe sind bei intakten Familienbeziehungen, aber mangelnder Aufsicht und Steuerung durch die Eltern, sowie bei deutlicher Beeinträchtigung des Umgangs mit Gleichaltrigen geeignet. Erziehung in einer Tagesgruppe (§ 32 KJHG). +LHUEHL soll die Entwicklung eines Kin-
des oder Jugendlichen durch soziales Lernen in
das Ziel, auf der Grundlage eines gruppenpädagogischen Konzeptes die Entwicklung älterer Kinder und Jugendlicher durch soziales Lernen in der Gruppe zu fördern. Hier wird also – im Gegensatz zur Erziehung in einer Tagesgruppe – fast nur mit den Kindern bzw. Jugendlichen, nicht jedoch mit ihren Eltern gearbeitet. Eine solche Maßnahme sollte bei Kindern und Jugendlichen mit Störungen des Sozialverhaltens grundsätzlich mit großer Vorsicht betrachtet werden, denn wenn mehrere Gruppenmitglieder von einer Störung des Sozialverhaltens betroffen sind, besteht die Gefahr einer gegenseitigen Verstärkung aggressiv-dissozialer Verhaltensweisen (Dishion et al. 1999; 7 6.7). Vollstationäre Maßnahmen Bei einem Kindes mit ausgeprägter Symptomatik bzw. bei chronischem Erziehungsversagen der Eltern ist rechtzeitig auch eine vollstationäre Maßnahme in Betracht zu ziehen, nicht erst dann, wenn über Jahre hinweg eine Vielzahl anderer Maßnahmen gescheitert ist. Vollzeitpflege (§ 33 KJHG). Durch Vollzeitpflege soll Kindern und Jugendlichen entsprechend ihrem Alter und Entwicklungsstand, ihren persönlichen Bindungen sowie den Möglichkeiten, die Erziehungsbedingungen in ihrer Herkunftsfamilie zu verbessern, in einer anderen Familie eine zeitlich befristete Erziehungshilfe oder eine auf Dauer angelegte Lebensform geboten werden. Dieses kann z. B. bei Vorliegen einer auf den fa-
6.6 Jugendhilfe und Rehabilitationsmaßnahmen
miliären Rahmen beschränkten Störung des Sozialverhaltens sinnvoll sein, wenn das Kind oder der Jugendliche in anderen Settings ein deutlich höheres Funktionsniveau als im Rahmen seiner Herkunftsfamilie aufweist. Heimerziehung, sonstige betreute Wohnform (§ 34 KJHG). Unter Heimerziehung, sonstige
betreute Wohnform werden verschiedene Hilfen zusammengefasst, bei denen Kinder bzw. Jugendliche außerhalb ihrer Familie in einer Einrichtung über Tag und Nacht (Heimerziehung) oder in einer sonstigen betreuten Wohnform (z. B. Wohngruppe) leben. Die Minderjährigen sollen durch eine Verbindung von Alltagserleben mit pädagogischen und therapeutischen Angeboten in ihrer Entwicklung gefördert werden. Entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes oder Jugendlichen und den Möglichkeiten zur Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie kann eine solche Hilfe zum Ziel haben: Rückkehr in die Herkunftsfamilie, Vorbereitung der Erziehung in einer anderen Familie, Bieten einer auf längere Zeit angelegten Lebensform und Vorbereitung auf ein selbstständiges Leben. ! Das Prinzip »ambulante vor stationären Maßnahmen« darf nicht dazu führen, dass sich eine Kette von erfolglosen Maßnahmen aneinanderreiht, welche zwar zunehmend intensiver werden, jedoch jeweils hinter der Eskalation der Probleme »hinterherhinken«.
Eine zunehmende Schwere der Symptomatik, welche zunehmend mehr Lebensbereiche beeinträchtigt, ist die Regel, nicht die Ausnahme. Durch die wiederholten Beziehungsabbrüche und das von allen Beteiligten, einschließlich des Kindes bzw. Jugendlichen selbst erlebte Scheitern werden die Erfolgschancen der jeweils nachfolgenden Intervention durch die vorausgegangenen fehlgeschlagenen Interventionen geringer. Es erscheint auch nicht sinnvoll, bereits gescheiterte Interventionen immer noch einmal zu wie-
151
6
derholen. Ein solches Vorgehen wird dem Kind nicht gerecht und stellt eine Verschwendung von Ressourcen dar. Gerade die ersten Interventionen sollten nicht unter kurzfristigen Kostenminimierungsaspekten gewählt werden, denn die langfristigen Kosten (nichtmateriell und materiell) einer unzureichenden Frühintervention sind um ein Vielfaches höher. Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche ! »Kinder oder Jugendliche haben Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn 1. ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht und 2. daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist« (aus § 35a Abs. 1 KJHG).
Hier wird also eine zweigliedrige Anspruchsregelung formuliert. Zum ersten muss festgestellt werden, dass eine Abweichung der seelischen Gesundheit vom lebensaltertypischen Zustand (»seelische Störung«) bereits seit 6 Monaten besteht oder nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate andauern wird (was bei einer Störung des Sozialverhaltens aufgrund der hohen Chronizität der Verläufe meist sowieso gegeben ist). Zum zweiten muss aus der Abweichung der seelischen Gesundheit eine Beeinträchtigung der Teilhabe des Kindes oder Jugendlichen am Leben in der Gesellschaft resultieren (»seelische Behinderung«) bzw. dann, wenn die Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft noch nicht eingetreten ist, nach fachlicher Erkenntnis als Folge zu erwarten sein (»drohende seelische Behinderung«). Nicht die Sorgeberechtigten, sondern der Minderjährige selbst hat ggf. einen Rechtsanspruch auf Eingliederungshilfe; ab dem Alter
152
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
von 16 Jahren kann er auch selbst den Antrag stellen. Nach § 35a KJHG können nicht nur (teil)stationäre Hilfen, sondern auch ambulante Hilfen geleistet werden, so auch die Behandlung einer spezifischen Störung schulischer Fertigkeiten bei den Kindern und Jugendlichen, bei denen es infolge einer Dyslexie oder Dyskalkulie zu einer Abweichung der seelischen Gesundheit gekommen ist, welche die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt oder zu beeinträchtigen droht. Hilfeplanung Dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe obliegt die Durchführung der Hilfeplanung nach § 36 KJHG. Die Information, Beratung und Beteiligung von Sorgeberechtigten und Kind bzw. Jugendlichem an der Aufstellung des Hilfeplans, in dem der Hilfebedarf, die zu gewährende Art der Hilfe sowie die notwendigen Leistungen festgestellt werden, ist nach dem KJHG verbindlich (§ 36 Abs. 2 KJHG). Die Hilfeplanung umfasst weiterhin, dass regelmäßig auch im Verlauf der Hilfe mit allen Beteiligten geprüft wird, ob die Hilfe weiterhin notwendig und geeignet ist. Von entscheidender Bedeutung für die Wirksamkeit von Maßnahmen ist deren Durchführung über einen ausreichend langen Zeitraum. Als Erfolg ist es bereits zu bewerten, wenn der Schweregrad der Störung und die Anzahl betroffener Lebensbereiche nicht zunimmt. Erscheinen Hilfen nach § 35a KJHG erforderlich, soll bei der Aufstellung und Änderung des Hilfeplans und bei der Durchführung der Hilfe eine Person mit kinder- und jugendpsychiatrischer bzw. -psychotherapeutischer Fachkompetenz beteiligt werden. Die Notwendigkeit von Eingliederungshilfen ergibt sich hier daraus, dass eine kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung allein gescheitert bzw. aussichtslos ist, z. B. aufgrund von Ausprägung und Schweregrad der Störung oder unzureichenden Möglichkeiten von Familie oder weiterem psychosozialem Umfeld zur Mitarbeit bei der Behandlung. Während eine kin-
der- und jugendpsychiatrische Behandlung von den Kostenträgern nach SGB V getragen wird, fällt die pädagogische Langzeitbetreuung von psychisch gestörten Kindern und Jugendlichen in den Aufgaben- und Finanzierungsbereich der Jugendhilfe nach SGB VIII. Je mehr komorbide Störungen bei Kindern und Jugendlichen mit Störungen des Sozialverhaltens vorhanden sind, desto wichtiger ist jedoch eine enge Kooperation zwischen Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie, da jedes von beiden Hilfssystemen allein überfordert ist. Ein häufiger Wechsel des Minderjährigen zwischen stationärer kinderbwz. jugendpsychiatrischer Behandlung und stationären Jugendhilfemaßnahmen bzw. dem häuslichen Umfeld ist in seinem Interesse unbedingt zu vermeiden. Kinder- und jugendpsychiatrische Krankenhausbehandlungen sind bei einem hohen Anteil kinder- und jugendpsychiatrischer Begleitsymptomatik indiziert, können jedoch grundsätzlich nur kurz- bis höchstens mittelfristige Interventionen darstellen. ! Gerade bei Störungen des Sozialverhaltens mit ihrer enormen Stabilität und schlechten Prognose sind jedoch langfristige Interventionen erforderlich, und dann, wenn die pädagogischen Anforderungen die kinder- und jugendpsychiatrischen Anforderungen übersteigen, fördert nicht eine langfristige Krankenhausbehandlung und Hospitalisierung die Entwicklung eines Kindes oder Jugendlichen, sondern das Aufwachsen in einem möglichst »normalen« Umfeld mit stabilen Beziehungen.
Andererseits sollte die Kinder- und Jugendpsychiatrie auch daran mitarbeiten, dass Kinder und Jugendliche in diesem Umfeld tatsächlich längerfristig verbleiben können, z. B. durch ambulante kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung, Supervision sowie Gewährleistung von notwendigen Kriseninterventionen, ggf. auch im stationären Rahmen, mit einer Rückkehr des Jugendlichen in seine Jugendhilfeeinrichtung nach Bewältigung einer akuten Krise. Somit ist die
6.6 Jugendhilfe und Rehabilitationsmaßnahmen
Entwicklung bedarfsgerechter, flexibler Betreuungsstrukturen der Jugendhilfe unter Mitwirkung der Kinder- und Jugendpsychiatrie erforderlich, welche in Anbetracht der hohen gesellschaftlichen Brisanz dieser Problematik nicht an Auseinandersetzungen über Zuständigkeiten und Kostenträger scheitern darf. Geschlossene Unterbringung in der Jugendhilfe Eine geschlossene Unterbringung in der Jugendhilfe ist nur dann gerechtfertigt, wenn das Kindeswohl gefährdet ist und ausreichender Schutz sowie notwendige Hilfe mit weniger einschneidenden Maßnahmen nicht gewährleistet werden können sowie wenn ein überwiegend pädagogischer Interventionsbedarf besteht. Rechtsgrundlage für eine solche geschlossene Unterbringung in der Jugendhilfe ist die zivilrechtliche Unterbringung nach § 1631b BGB, bei der es ausschließlich um das Kindeswohl geht, nicht um Gefahrenabwehr, wie fälschlicherweise durch das polemische Schlagwort vom »Wegsperren« suggeriert wird. Aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht kann eine vorübergehende geschlossene Unterbringung bei einzelnen Kindern und Jugendlichen in spezifischen Situationen überhaupt erst die Einleitung einer intensiven sozialpädagogischen Betreuung ermöglichen, wobei freiheitsentziehende Maßnahmen lediglich einen Einstieg in eine Hilfe – jedoch keinesfalls deren Ersatz – darstellen können und sollen. Eine geschlossene Unterbringung in einer Einrichtung der Jugendhilfe kann in folgenden Fällen gerechtfertigt sein: 5 Bei Kindern und Jugendlichen mit stabilen, hochgradig operant verstärkten Strategien des Durchsetzens eigener Ziele mit aggressiven Mitteln, bei welchen ein eindeutiges, sehr konsequent verfolgtes System von Regeln und Sanktionen erforderlich ist, wenn die emotionale Erreichbarkeit und Fähigkeit zur Mitarbeit deutlich eingeschränkt sind;
153
6
Beispiel Kevin (12;4 Jahre). Im Wesentlichen von seiner Großmutter erzogen, da seine psychisch kranke Mutter überfordert war. Im Grundschulalter ausgeprägtes aggressives Verhalten, dreimaliger Schulwechsel, schließlich Schulausschluss. Sozialpädagogische Familienhilfe mit ambulanter kinderpsychiatrischer Behandlung blieb erfolglos. Bei Mitteilung, dass eine außerfamiliäre Unterbringung erforderlich sei, Aggressionsausbruch mit Suiziddrohungen, daraufhin Aufnahme in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik. Es wurden eine hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens sowie eine bislang unerkannte Legasthenie, außerdem nächtliches Einnässen diagnostiziert. Perfektionistischer Junge mit hohem Anspruch an sich selbst, aufgrund von Konzentrationsstörung und Legasthenie schulisch überfordert, jedoch bei gut durchschnittlicher Intelligenz mit positiven Aussichten für einen Schulabschluss. Empfehlung zur anschließenden Unterbringung für 6–8 Wochen in einer geschlossenen Einrichtung der Jugendhilfe, damit Schulbesuch und kinderpsychiatrische Behandlung sichergestellt werden könnten, mit Öffnung des Settings bei wachsender Bindung. Die Unterbringung erfolgte entsprechend der gutachterlichen Empfehlung, aggressives sowie dissoziales Verhalten blieben aber weiterhin bestehen, und es kam zu einem körperlichen Angriff gegen einen Erzieher. Auf Anfrage wurde die Verlängerung der geschlossenen Unterbringung um ein halbes Jahr mit entsprechenden Öffnungsmöglichkeiten empfohlen.
5 bei Kindern und Jugendlichen, die sich durch wiederholtes Weglaufen therapeutischen Interventionen entziehen, z. B. bei eingeschränkter Bindungsfähigkeit; Beispiel Steffen (16;9 Jahre). Auffällige Entwicklung bereits seit dem Grundschulalter; verschiedene, teils gemeinschaftlich begangene Straftaten im strafunmündigen Alter. Konsum von Nikotin seit dem 9. Lebensjahr, Cannabis seit dem 13. Lebensjahr, Alkohol seit dem 16. Lebensjahr. In der Vorgeschichte mehrere orthopädische Operationen mit teilweise längeren Kranken-
154
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
hausaufenthalten. Eltern geschieden, leiblicher Vater lehnt Kontakt zu dem Jugendlichen ab. Im 15. Lebensjahr Schulausschluss und Verurteilung zu Jugendarrest, als 16-Jähriger Verurteilung zu einer Jugendstrafe. Da seine Mutter Heimunterbringung ablehnte, Teilverbüßung der Haftstrafe, anschließende Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung. Dort Vorbereitung auf den Hauptschulabschluss mit Schwierigkeiten, aber guten Aussichten. Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen, der Jugendliche entzog sich nach Möglichkeit Anforderungssituationen und sozialen Situationen. Die gutachterliche Empfehlung lautete, die geschlossene Unterbringung bis zum Hauptschulabschluss zu verlängern sowie eine anschließende Ausbildung und stützende Jugendhilfemaßnahmen einzuleiten.
5 bei Kindern und Jugendlichen, die vorübergehend von spezifischen Umgebungen und Möglichkeiten ferngehalten werden müssen, z. B. drogenabhängige Patienten für die Zeit nach der Entgiftung. Beispiel Sandra (16;5 Jahre). Schulschwänzen seit ca. 18 Monaten vor der Begutachtung. Im Jugendalter gehäuft Schwierigkeiten mit den Eltern, einmal vom Vater so geschlagen, dass eine Krankenhausbehandlung notwendig wurde. Nikotin und Alkohol seit dem 14. Lebensjahr, inzwischen Polytoxikomanie. Regelmäßige Beschaffungsprostitution. Mit den Eltern zerstritten, glaubt, ihnen gleichgültig zu sein. Ein Jahr vor der Begutachtung Suizidgedanken und parasuizidale Handlungen. Resigniert; geringe Behandlungsmotivation, da sie nach einer Entzugsbehandlung keine Perspektive für sich sehe. Es wurde eine Entzugsbehandlung in einer geschlossenen Station und die anschließende Aufnahme in einer Therapieeinrichtung für drogenabhängige Jugendliche empfohlen.
Qualitätsmerkmale einer Jugendhilfeeinrichtung Relevante Qualitätsmerkmale einer vollstationären Einrichtung der Jugendhilfe sind das Vorliegen eines an der wissenschaftlichen Evidenz
orientierten Störungskonzeptes, welches in ein schlüssiges pädagogisches Konzept umgesetzt wird, das Qualifikationsprofil der Mitarbeiter, ein hinreichender Personalschlüssel sowie die personelle Besetzung außerhalb der üblichen Dienstzeiten. Letzteres ist für die konsequente Einhaltung eines Settings von hoher Bedeutung, denn eine unzureichende Besetzung abends, nachts oder am Wochenende führt dazu, dass die dann anwesenden Mitarbeiter im berechtigten Interesse ihrer persönlichen Sicherheit Regeln und Grenzen nicht adäquat durchsetzen können. Dieses wirkt im Sinne einer intermittierenden Verstärkung kontraproduktiv. Ein Teil der Kinder und Jugendlichen ist auch auf eine einrichtungsinterne Schule zur konsequenten Einhaltung des Settings und zur Vermeidung von Überforderung durch täglichen Milieuwechsel angewiesen. Weiterhin ist erforderlichenfalls die Gewährleistung einer adäquaten kinder- und jugendpsychiatrischen bzw. psychotherapeutischen Betreuung in der Einrichtung von Belang. Falls in einer Einrichtung geschlossene Unterbringungen durchgeführt werden, sollte ein Stufensystem mit einer »Variabilität der Geschlossenheit« zur zunehmenden Öffnung des Settings führen, wenn eine Verminderung des Problemverhaltens sowie insbesondere eine Steigerung der Fähigkeit des Jugendlichen, unter offenen Bedingungen aktiv mitzuarbeiten, erreicht werden konnten. Rehabilitative Maßnahmen Wenn es um Hilfen zur Eingliederung bei Kindern und Jugendlichen mit (drohender) seelischer Behinderung, also Maßnahmen nach § 35a KJHG geht, sind die Träger der öffentlichen Jugendhilfe auch Rehabilitationsträger entsprechend dem Neunten Sozialgesetzbuch »Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen«. Weitere Rehabilitationsträger sind u. a. die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung und der Rentenversicherung, die Bundesagentur für Arbeit und die Träger der Sozialhilfe. Ziel rehabilitativer Maßnahmen ist es, Menschen mit
6.6 Jugendhilfe und Rehabilitationsmaßnahmen
Exkurs Inobhutnahme Kinder und Jugendliche haben das Recht, sich an das Jugendamt zu wenden, wo sie in Notund Konfliktsituationen auch ohne Wissen der Sorgeberechtigten beraten werden können (§ 8 Abs. 3 KJHG). Wenn ein Kind oder Jugendlicher um Obhut bittet, ist das Jugendamt dazu verpflichtet (§ 42 KJHG). Eine solche Inobhutnahme, also eine vorläufige Unterbringung, kann bei einer geeigneten Person, in einer Einrichtung oder in einer betreuten Wohnform erfolgen. Der Sorge- oder Erziehungsberechtigte muss über eine Inobhutnahme jedoch unverzüglich informiert werden. Widerspricht er der Inobhutnahme, muss das Jugendamt ihm das Kind bzw. den Jugendlichen unverzüglich übergeben oder eine familiengerichtliche Entscheidung herbeiführen. Zur Inobhutnahme ist das Jugendamt auch verpflichtet, wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder Jugendlichen dies erfordert, ggf. auch unter Einsatz freiheitsentziehender Maßnahmen. »Freiheitsentziehende Maßnahmen sind dabei nur zulässig, wenn und soweit sie erforderlich sind, um eine Gefahr für Leib oder Leben des Kindes oder des Jugendlichen oder eine Gefahr für Leib oder Leben Dritter abzuwenden. Die Freiheitsentziehung ist ohne gerichtliche Entscheidung spätestens mit Ablauf des Tages nach ihrem Beginn zu beenden.« (§ 42 Abs. 5 KJHG). Eine Inobhutnahme unter Freiheitsentzug ist jedoch nicht zulässig, wenn lediglich andere Rechtsgüter wie Eigentum oder die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet werden.
155
Schutzauftrag des Jugendamtes bei Kindeswohlgefährdung Nach § 8a KJHG hat das Jugendamt, wenn ihm gewichtige Hinweise zur Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen bekannt werden, das Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte abzuschätzen. Dabei sind auch die Personensorgeberechtigten sowie der Minderjährige einzubeziehen, soweit hierdurch dessen wirksamer Schutz nicht in Frage gestellt wird. Wenn das Jugendamt Hilfen zur Abwendung der Gefährdung für ausreichend und notwendig hält, muss es den Sorge- /Erziehungsberechtigten diese Hilfen anbieten. Auch die Fachkräfte, die solche Hilfen erbringen, sollen bei den Sorge-/Erziehungsberechtigten darauf hinwirken, dass diese die erforderlichen Hilfen auch tatsächlich in Anspruch nehmen; wenn die Fachkräfte der Ansicht sind, dass die angenommenen Hilfen zur Abwendung der Gefährdung nicht ausreichen, sollen sie das Jugendamt informieren. Hält das Jugendamt das Tätigwerden des Familiengerichts für erforderlich, hat es das Gericht anzurufen. Wenn eine dringende Gefahr besteht und die Entscheidung des Gerichts nicht abgewartet werden kann, muss das Jugendamt den Minderjährigen in Obhut nehmen. Soweit zur Abwendung der Gefährdung des Minderjährigen das Tätigwerden z. B. von Einrichtungen der Gesundheitshilfe erforderlich ist, hat das Jugendamt darauf hinzuwirken, dass die Sorge- /Erziehungsberechtigten diese Einrichtungen auch tatsächlich in Anspruch nehmen. Ist ein sofortiges Tätigwerden erforderlich und wirken die Sorge-/Erziehungsberechtigten dabei nicht mit, so schaltet das Jugendamt die anderen zur Abwendung der Gefährdung zuständigen Stellen selbstständig ein.
6
156
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
einer (drohenden) körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung die Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. In diesem Sinn kann der Begriff »Rehabilitation« auch auf Kinder und Jugendliche sinnvoll angewendet werden. Medizinische Fachkräfte, die bei Ausübung ihres Berufes Behinderungen wahrnehmen, sind verpflichtet, die Sorgeberechtigten auf das Vorliegen einer solchen Behinderung hinzuweisen (§ 61 Abs. 2 SGB IX). Bei Kindern und Jugendlichen mit einer Störung des Sozialverhaltens steht die schulische bzw. berufliche Rehabilitation im Vordergrund. Eine medizinische Rehabilitation, die durch Wiederherstellung der Gesundheit die Voraussetzungen für die Eingliederung in Arbeit, Beruf und Gesellschaft schaffen soll, kann z. B. bei Jugendlichen mit Substanzabhängigkeit sinnvoll sein, jedoch nur dann, wenn sie von schulischer bzw. beruflicher Rehabilitation begleitet wird. Schulische Rehabilitation Ziel der schulischen Rehabilitation ist die (Wieder-)Herstellung der Schulfähigkeit und die (Wieder-)Eingliederung in die Schule, um den Kindern und Jugendlichen eine üblicherweise erreichbare Bildung zu ermöglichen. Sonderpädagogischer Förderbedarf besteht bei Kindern und Jugendlichen, die in ihren Bildungs-, Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten so stark beeinträchtigt sind, dass sie im Unterricht der allgemeinen Schule ohne sonderpädagogische Förderung nicht hinreichend gefördert werden können. Durch sonderpädagogische Förderung soll bei behinderten und von Behinderung bedrohten Kindern und Jugendlichen durch individuelle Hilfen ein möglichst hohes Maß an schulischer und beruflicher Eingliederung und gesellschaftlicher Teilhabe erreicht werden. Sie ist nicht an Sonderschulen gebunden, sondern kann auch an allgemeinen Schulen erfolgen. Gesetzliche Grundlage für die Förderung bilden die Schulgesetze der Länder. In einem besonderen Verfahren werden der individuelle Entwicklungsstand des Kindes sowie sein familiäres und
schulisches Umfeld untersucht und der sonderpädagogische Förderbedarf sowie die entsprechenden Fördermaßnahmen bestimmt. Bei Kindern und Jugendlichen mit Störungen des Sozialverhaltens geht es häufig um den Erwerb schulischer Grundvoraussetzungen. Eventuell ist zunächst sogar, z. B. bei extrem niedriger Frustrationstoleranz des Schülers, Einzelunterricht erforderlich. Die Anforderungen sollten an der – unter Umständen sehr geringen – Belastbarkeit der Schülers sowie an seinen Stärken orientiert sein, so dass viel positive Rückmeldung gegeben werden kann. Insbesondere bei komorbider ADHS ist eine abwechslungsreiche Unterrichtsgestaltung mit einem Wechsel der Tätigkeiten erforderlich. Auch die Vermittlung von Lern-, Arbeits- und Problemlösestrategien sowie der Einsatz von Verhaltensverträgen kann hilfreich sein. Bei etwas höherer Belastbarkeit des Schülers kann auch Förderunterricht in kleinen Gruppen, die jedoch nicht allein aus Kindern mit Störungen des Sozialverhaltens bestehen sollten, durchgeführt werden. Weiterhin kann – in Abstimmung mit der Schule – Schulsozialarbeit als Teil der Jugendsozialarbeit (§ 13 KJHG) sinnvoll sein, also sozialpädagogische Hilfen für sozial benachteiligte oder individuell beeinträchtigte Kinder und Jugendliche bei der schulischen Ausbildung. Berufliche Rehabilitation Auch hier geht es zunächst um den Erwerb beruflicher Grundvoraussetzungen als Vorbereitung auf eine Ausbildung oder Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit. Eine solche berufsvorbereitende Maßnahme sollte wenigstens auf einen mehrmonatigen Zeitraum angelegt sein; oft ist sie deutlich länger erforderlich. Es werden grundlegende berufsorientierte Fertigkeiten als Voraussetzung einer beruflichen Eingliederung – adäquate Arbeitshaltung, Planung, Flexibilität, soziale und alltagspraktische Fertigkeiten – gefördert, unterstützt durch intensive sozialpädagogische Betreuung; daneben ist auch die Berufsfeldfindung relevant. Die Maßnahme
6.7 Entbehrliche Therapiemaßnahmen
sollte möglichst gut an den Möglichkeiten und Grenzen (Impulsivität, geringe Frustrationstoleranz, geringe Ausdauer, geringe Fertigkeit im Umgang mit sozialen Konflikten) des jeweiligen Jugendlichen ausgerichtet sein und eine flexible Anpassung des Vorgehens an die Entwicklung des einzelnen Jugendlichen erlauben. Soweit die Träger der öffentlichen Jugendhilfe Rehabilitationsträger sind, also bei Eingliederungshilfen nach § 35a KJHG, unterliegen sie den Verfahrensvorschriften des SGB IX, auch wenn die Leistungen – wie bisher auch – auf der Grundlage des KJHG erbracht werden, und sie sind an die im SGB IX vorgegebenen Fristen gebunden. Danach muss ein Rehabilitationsträger innerhalb von 2 Wochen nach Eingang eines Antrages bei ihm feststellen, ob er für die beantragte Leistung zuständig ist. Erklärt er sich zuständig, muss er den individuellen Hilfebedarf innerhalb von 3 Wochen feststellen. Hält er sich für nicht zuständig, muss er den Antrag unverzüglich an den nach seiner Auffassung zuständigen Rehabilitationsträger weiterleiten. Der zweite befasste Rehabilitationsträger hat dann – unabhängig von seiner Zuständigkeit – über den Rehabilitationsbedarf zu entscheiden. Besteht ein Dissenz zwischen den Leistungsträgern über die Zuständigkeit, ist dieser ohne die Einbeziehung des Antragstellers zu klären. Wenn zur Feststellung des Rehabilitationsbedarfes ein Gutachten erforderlich ist, so muss ein beauftragter Gutachter dieses innerhalb von 14 Tagen vorlegen und der Rehabilitationsträger innerhalb weiterer 3 Wochen entscheiden.
6.7
Entbehrliche Therapiemaßnahmen
Die Durchführung eines sozialen Trainings in Gruppen, die überwiegend aus aggressiv-dissozialen Jugendlichen bestehen, ist kontraindiziert. Durch die gegenseitige Verstärkung devianten Verhaltens der Jugendlichen untereinander wird langfristig die Wahrscheinlichkeit von delin-
157
6
quentem Verhalten und Substanzmissbrauch erhöht, selbst bei direktiver Steuerung der Gruppenprozesse durch den Therapeuten (Dishion et al. 1999). Zur Wirksamkeit von tiefenpsychologisch fundierter oder psychoanalytischer Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen mit Störungen des Sozialverhaltens liegen keine kontrollierten Studien vor. Non-direktive Spieltherapie ist auch bei jüngeren Kindern unwirksam.
7 Der Blick voraus: Verlauf und Prognose
160
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 7 · Der Blick voraus: Verlauf und Prognose
Verlauf oppositioneller Störungen Eine oppositionelle Störung entwickelt sich oft schon im Vorschulalter, und bereits dann weist das Störungsbild eine beträchtliche Stabilität auf, vor allem bei komorbider Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (Lavigne et al. 2001). Die Auffälligkeiten zeigen sich insbesondere im häuslichen Rahmen. In voller Ausprägung hat sich das Störungsbild oft bis spätestens zum Alter von 8 Jahren entwickelt. Ein Teil der Jungen überschreitet – in der Regel noch vor oder in der frühen Pubertät (»early onset«) – die Schwelle zu einer aggressiv-dissozialen Störung, häufig bei fortbestehender oppositioneller Symptomatik. Dagegen ist der Zusammenhang zwischen oppositioneller Störung und aggressivdissozialen Störungen mit Beginn in der Adoleszenz (»late onset«) viel weniger deutlich (August et al. 1999). Für Mädchen erhöht das Vorliegen einer oppositionellen Störung vor allem das Risiko, eine Angststörung oder eine depressive Störung zu entwickeln, während die Wahrscheinlichkeit einer aggressiv-dissozialen Störung nicht erhöht wird (Rowe et al. 2002). Die Häufigkeit komorbider Störungen bei Kindern mit einer oppositionellen Störung ist natürlich stark stichprobenabhängig. Während in populationsbezogenen Untersuchungen relativ geringe Komorbiditätsraten gefunden wurden (14% ADHD, 14% Angststörungen, 9% depressive Störungen; Angold u. Costello 1996), ist die Häufigkeit komorbider Störungen bei oppositionellen Kindern, die in klinischen – auch nichtpsychiatrischen – Kontexten vorgestellt wurden, deutlich höher (Lavigne et al. 2001). Dagegen erhöht eine oppositionelle Störung – im Gegensatz zu einer aggressiv-dissozialen Störung – das Risiko einer Alkoholabhängigkeit im Jugendalter nicht (Kuperman et al. 2001). Die Frage, ob eine oppositionelle Störung ohne das zwischenzeitliche Auftreten einer aggressiv-dissozialen Störung die Entwicklung einer dissozialen Persönlichkeitsstörung begünstigt, ist ungeklärt (Langbehn et al. 1998; Loeber et al. 2002).
! Jedes Kind mit einer oppositionellen Störung, das Ihnen in einem beliebigen professionellen Kontext begegnet, gehört – unabhängig vom Vorliegen individueller Risikofaktoren – zu der Gruppe mit einem erhöhten Risiko begleitender psychischer Störungen!
Sowohl das Auftreten einer oppositionellen Störung als auch der Übergang von einer oppositionellen in eine aggressiv-dissoziale Störung wird durch das Vorliegen einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung wahrscheinlicher; aber auch eine komorbide affektive Störung kann den Übergang einer oppositionellen Störung in eine aggressiv-dissoziale Störung begünstigen (Greene et al. 2002). Für die Stabilität von oppositionellen Symptomen sind ungünstiges elterliches Erziehungsverhalten sowie psychische Störungen der Eltern bedeutsam, während bei günstigerem Erziehungsverhalten die Stabilität einer oppositionellen Symptomatik geringer ist (August et al. 1999). Auch der Schweregrad einer oppositionellen Störung bestimmt ihre Stabilität: Je ausgeprägter die oppositionelle Störung, desto stabiler bleibt sie zwischen später Kindheit und Adoleszenz bestehen (Cohen et al. 1993). Ist ein Kind von einer oppositionellen Störung betroffen, beeinträchtigt diese – unabhängig vom eventuellen Auftreten weiterer komorbider Störungen – nicht nur seine Beziehungen zu Erwachsenen, sondern auch zu Gleichaltrigen; durch eine oppositionelle Störung wird ein Kind also in erheblichem Ausmaß seiner Möglichkeiten beraubt, in sozialen Beziehungen zu lernen. Verlauf aggressiv-dissozialer Störungen Eine aggressiv-dissoziale Störung kann bereits im Alter von 5 Jahren auftreten, beginnt jedoch meist in der späten Kindheit oder frühen Adoleszenz, selten nach dem 16. Lebensjahr. Auch bei Mädchen kann deutliches und persistierendes aggressiv-dissoziales Verhalten schon ab der Grundschulzeit zu beobachten sein (Ackerman et al. 2003).
Der Blick voraus: Verlauf und Prognose
Häufig wird zwischen offen (»overt«) und verdeckt (»covert«) auftretenden Symptomen einer aggressiv-dissozialen Störung unterschieden. Definition Offen auftretende Symptome sind Wutausbrüche, Drohungen, offen gezeigte verbale oder physische Aggression, verdeckt auftretende Symptome dagegen Lügen, Stehlen, Betrügen, heimliche Rache, verstecktes Provozieren.
Wenn sowohl offene als auch verdeckte Verhaltensweisen auftreten, weist dieses auf eine schwerere und stabilere Störung des Sozialverhaltens hin (Loeber u. Schmaling 1985). Eine weitere klinisch relevante Unterteilung ist die zwischen reaktiver und proaktiver Aggression. Definition Impulsiv-reaktives Verhalten erfolgt »explosiv« bei geringen Anlässen als Reaktion auf das Erleben von Bedrohung oder Herabsetzung durch andere Menschen. Dagegen wird proaktiv-aggressives Verhalten zielgerichtet und funktional eingesetzt, um durch die Verletzung der Rechte anderer Menschen persönliche Vorteile – materielle Vorteile oder auch soziale Dominanz – zu erreichen.
Kinder mit stärker reaktiv-aggressiver Komponente zeigen von einem früheren Lebensalter an aggressives Verhalten, stärker beeinträchtigte Beziehungen zu Gleichaltrigen sowie Viktimisierung durch Gleichaltrige, inadäquate Problemlösefertigkeiten und sind häufiger von einer komorbiden ADHS betroffen. Dagegen ist proaktiv-aggressives Verhalten stärker mit der Erwartung eines positiven Ergebnisses für solches Verhalten verbunden (Dodge et al. 1997; Schwartz et al. 1998) und geht häufiger mit Delinquenz im Adoleszentenalter einher (Vitaro et al. 1998). Hierbei handelt es sich jedoch um Prototypen aggressiven Verhaltens; klinisch ist häufig ein
161
7
gemischtes reaktiv-proaktives Bild zu beobachten. Kinder mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung haben gegenüber unauffälligen Kindern ein mehrfach erhöhtes Risiko, eine aggressiv-dissoziale Störung zu entwickeln, in der Regel jedoch vermittelt durch eine oppositionelle Störung, während eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ohne eine komorbide oppositionelle Störung nur ein schwacher Prädiktor für das Auftreten einer aggressiv-dissozialen Störung ist (Biederman et al. 1996). Eine ADHS ist insbesondere für das Auftreten einer aggressiv-dissozialen Störung mit frühem Beginn von hoher Relevanz (Loeber et al. 1995). Fast alle Patienten mit ADHS und komorbider aggressiv-dissozialer Störung entwickelten diese bereits vor dem 12. Lebensjahr (Biederman et al. 1996), während aggressiv-dissoziale Störungen ohne eine komorbide ADHS sich in der Regel später manifestieren (Moffitt 1990). Wenn Kinder mit einer ADHS von einer aggressiv-dissozialen Störung betroffen sind, dann ausgeprägter, stabiler und mit mehr physischer Aggression, als es ohne komorbide ADHS der Fall wäre (Hinshaw et al. 1993). Von den Kernsymptomen der ADHS ist hier insbesondere die hyperaktiv-impulsive Komponente von Bedeutung (Lalonde et al. 1998; Babinski et al. 1999). Häufige Vorläufer früh beginnender aggressiv-dissozialer Störungen sind persistierende oppositionelle Symptome; diese bestehen oft auch über den Beginn des aggressiv-dissozialen Verhaltens hinaus fort, wobei aber die Diagnose einer oppositionellen Störung bei Vorliegen einer aggressiv-dissozialen Störung nicht mehr separat gestellt werden darf, sondern in der Diagnose der aggressiv-dissozialen Störung aufgeht. Insbesondere die im Kindesalter beginnenden aggressiv-dissozialen Störungen gehen mit körperlich-aggressiven Verhaltensweisen einher, während dies für die im Jugendalter beginnenden Störungen weit weniger gilt (Lahey et al. 1998).
162
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 7 · Der Blick voraus: Verlauf und Prognose
Die Symptome aggressiv-dissozialer Störungen verändern sich mit dem Lebensalter und der Zunahme der kognitiven und körperlichen Möglichkeiten. Im Jugendalter zeigen sich mehr interindividuelle Unterschiede in der Symptomatik einer aggressiv-dissozialen Störung als im Kindesalter. Die Wahrscheinlichkeit schwerwiegender aggressiver Handlungen (z. B. Raub, Vergewaltigung, Totschlag) nimmt während der Adoleszenz zu, und die Veränderbarkeit der Störung nimmt ab. Die meisten ausgeprägt aggressiven Handlungen im Jugend- und jungen Erwachsenenalter werden von einer kleinen Anzahl von Personen (etwa 5%) dieser Altersgruppe begangen, die in der Regel seit ihrer Kindheit persistierend aggressiv sind (Loeber u. Hay 1997; Lacourse et al. 2002). Bei ihnen nimmt in der Adoleszenz die Häufigkeit hochaggressiver Handlungen zu, sie führen bereits etablierte aggressive Verhaltensmuster mit einem zunehmenden Maß an Aggressivität durch und fügen ihrem Verhaltensrepertoire neue aggressive Verhaltensweisen hinzu. Eine Einschränkung der Bindungsfähigkeit aggressiver Kinder erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sie als Erwachsene an Gewaltdelikten beteiligt sind (Henn et al. 1980). Störungen des Sozialverhaltens weisen eine hohe Stabilität auf. In der Ontario Child Health Study (Offord et al. 1992) zeigten 44% der Kinder, die anfangs die Diagnosekriterien einer aggressiv-dissozialen Störung erfüllten, auch 4 Jahre später noch eine solche Störung. In einer Klinikstichprobe erfüllten fast 90% der Jungen und männlichen Jugendlichen mit einer aggressivdissozialen Störung auch in den drei folgenden Jahren die diagnostischen Kriterien für diese Störung zu mindestens einem weiteren Zeitpunkt (Lahey et al. 1995). Bei Mädchen ist die Stabilität aggressiv-dissozialer Störungen wahrscheinlich nicht geringer als bei Jungen, vielleicht sogar höher (Tremblay et al. 1992; Verhulst u. van der Ende 1991). Wie für die oppositionelle Störung gilt auch für die aggressiv-dissoziale Störung, dass die Stabilität der Störung durch ihren Schweregrad beeinflusst wird: Je ausge-
prägter die Störung, desto stabiler bleibt sie zwischen später Kindheit und Adoleszenz bestehen (Cohen et al. 1993). Die kumulative Stabilität über die Zeit ist höher und klinisch relevanter als die Stabilität von einem Jahr zum darauf folgenden Jahr, denn die Symptomatik von Störungen des Sozialverhaltens unterliegt – wie bei anderen Störungen auch – gewissen Schwankungen, und die Ausprägung der Symptomatik kann zufällig zu einem Messzeitpunkt gerade unterhalb der Schwelle für das Stellen der Diagnose bleiben. Zu berücksichtigen ist auch, dass Messfehler, die zur Erhöhung der gemessenen Variabilität beitragen, aus methodischen Gründen zu einer Unterschätzung der tatsächlichen Stabilität führen können (Fergusson 1998). Entwicklungsgefährdung durch Störungen des Sozialverhaltens Störungen des Sozialverhaltens gehen mit vielfältigen negativen Auswirkungen einher, nicht nur für Dritte, sondern auch für die Betroffenen selbst. ! Dabei besteht die Tendenz, dass zunehmend mehr Lebensbereiche betroffen werden.
Im Jugendalter kann es zu häufigen Schulwechseln, Schulausschluss oder Schulverweigerung durch den Jugendlichen selbst kommen, mit der Konsequenz, dass kein Schulabschluss erreicht wird; Ähnliches gilt für Berufsausbildungen. Das Risiko körperlicher Schäden durch Unfälle oder gewaltsame Auseinandersetzungen ist erhöht. Häufig zeigen Jugendliche mit aggressiv-dissozialen Störungen auch ein riskantes Sexualverhalten. Sie nehmen schon in relativ jungem Lebensalter Sexualkontakte auf, haben eine höhere Anzahl an Sexualpartnern sowie mit höherer Wahrscheinlichkeit ungeschützten Geschlechtsverkehr, so dass das Risiko von sexuell übertragbaren Krankheiten (auch HIV) und Schwangerschaft bzw. Elternschaft im jungen Lebensalter erhöht ist; außerdem haben sie ein höheres
Der Blick voraus: Verlauf und Prognose
Risiko, Opfer sexueller Übergriffe zu werden. Dieses gilt auch für männliche Jugendliche, auch wenn für weibliche Jugendliche negative Konsequenzen riskanten Sexualverhaltens häufig gravierender sind (Fergusson u. Woodward 2000). Das Risiko negativer Auswirkungen nimmt mit der Anzahl der Symptome zu. Auch aus diesem Grund sollten bereits bei leicht bis mäßig ausgeprägten aggressiv-dissozialen Störungen geeignete Interventionen erfolgen. Im Erwachsenenalter sind – neben fortgesetztem dissozialem Verhalten bei bis zu 50% der Betroffenen – anhaltende Schwierigkeiten und ein reduziertes psychosoziales Funktionsniveau festzustellen: niedriges Ausbildungsniveau, Arbeitslosigkeit (Fergusson u. Horwood 1998), beeinträchtigte zwischenmenschliche Beziehungen und Partnerschaften, auch mit Ausüben von Gewalt durch beide Geschlechter (Ehrensaft et al. 2003), mehr gesundheitliche Probleme und eine geringere Lebenserwartung (Bardone et al. 1998). Die Wahl dissozialer Partner (»assortative mating«) erhöht die genetische wie auch psychosoziale Belastung der Kinder und trägt zur Transmission aggressiv-dissozialen Verhaltens in die folgende Generation bei. Der Zusammenhang zwischen aggressiv-dissozialem Verhalten im Kindes- und Jugendalter und einem ungünstigen Outcome im Erwachsenenalter, wie fehlendem Schulabschluss oder Arbeitslosigkeit, ist zum einen durch Faktoren bedingt, die sowohl mit frühem aggressiv-dissozialen Verhalten als auch dem Fehlen von Entwicklungs- und Ausbildungschancen einhergehen (z. B. niedrige Intelligenz, ADHS, niedriger sozioökonomischer Status). Zum anderen wird dieser Zusammenhang auch direkt durch eine Reihe risikoträchtiger Verhaltensweisen in der Adoleszenz, wie Anschluss an delinquente Gleichaltrige, Substanzgebrauch und Konflikte mit Lehrern vermittelt (Fergusson u. Horwood 1998; Fergusson u. Woodward 2000).
163
7
Psychiatrische Begleit- und Folgeerkrankungen bei Störungen des Sozialverhaltens Die Wahrscheinlichkeit psychiatrischer Begleitund Folgeerkrankungen ist bei Jugendlichen mit einer Störung des Sozialverhaltens deutlich erhöht. Vor allem weibliche Jugendliche mit disruptivem Verhalten entwickeln überzufällig häufig eine komorbide internalisierende Störung, z. B. eine depressive Störung oder eine Angststörung (Keenan et al. 1999; Fergusson u. Woodward 2000). Der mit einer Störung des Sozialverhaltens einhergehende Lebensstil erhöht die Wahrscheinlichkeit traumatisierender Erlebnisse und somit der Entwicklung einer komorbiden posttraumatischen Belastungsstörung, aber ungünstige psychosoziale Bedingungen können auch direkt sowohl zu einer Störung des Sozialverhaltens als auch zu einer posttraumatischen Belastungsstörung führen. Die Wahrscheinlichkeit von Substanzmissbrauch und -abhängigkeit ist erhöht, in noch höherem Maße, wenn komorbid zu einer aggressiv-dissozialen Störung eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung besteht. Häufig wird zuerst Alkohol oder Tabak konsumiert, gefolgt von Cannabis, dann andere illegale Substanzen (Kuperman et al. 2001). Im Zusammenhang mit Substanzkonsum, aber auch unabhängig davon, ist das Risiko von Suizidversuchen bei Jugendlichen mit einer Störung des Sozialverhaltens deutlich erhöht (Beautrais et al. 1996; Grøholt et al. 2000). Insbesondere für schwere, impulsiv durchgeführte Suizidversuche männlicher Jugendlicher war körperliche Aggressivität ein besserer Prädiktor als das Vorliegen einer depressiven Symptomatik (Simon et al. 2001). Auch im Erwachsenenalter ist das Risiko anderer psychiatrischer Störungsbilder erhöht, wenn im Jugendalter eine Störung des Sozialverhaltens vorlag. Bei vielen psychiatrischen Störungsbildern des Erwachsenenalters, natürlich bei der dissozialen Persönlichkeitsstörung, aber auch u. a. bei Essstörungen, Manie, Substanzabhängigkeit, Angststörungen, Zwangs-
164
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 7 · Der Blick voraus: Verlauf und Prognose
störung, posttraumatischer Belastungsstörung und depressiven Störungen, weist ein erheblicher Prozentsatz der Patienten – je nach Störung 25–60% – in der Vorgeschichte eine Störung des Sozialverhaltens auf (Kim-Cohen et al. 2003). Dieser Zusammenhang kann zum einen auf gemeinsamen – biologischen und psychosozialen – Faktoren beruhen, die sich im Kindes- und Jugendalter als Störung des Sozialverhaltens, im Erwachsenenalter dagegen als eine andere psychiatrische Störung manifestieren; zum anderen erhöht das Vorliegen einer Störung des Sozialverhaltens die Wahrscheinlichkeit, als Folge der Symptome sowie psychosozialen Belastungen dieser Störung später andere psychiatrische Störungen zu entwickeln. Eine der prognostisch ungünstigsten Konsequenzen einer aggressiv-dissozialen Störung im Kindes- und Jugendalter ist die Entwicklung einer dissozialen Persönlichkeitsstörung im Erwachsenenalter; die Wahrscheinlichkeit hierfür wird mit etwa 25% beziffert. Auch Mädchen können im Erwachsenenalter von einer dissozialen Persönlichkeitsstörung betroffen sein (Keenan et al. 1999). Das Risiko ist bei einer aggressiv-dissozialen Störung mit Beginn in der Kindheit deutlich höher als bei Beginn im Jugendalter (Ridenour et al. 2002). Die Anzahl sowie Vielfalt aggressiv-dissozialer Verhaltensweisen im Kindesalter ist ein besserer Prädiktor für deren Stabilität bis ins Erwachsenenalter als jede einzelne Verhaltensweise für sich betrachtet (Loeber 1991), unabhängig von begleitenden familiären und sozialen Faktoren (Hill 2003). Wenn eine aggressiv-dissoziale Störung mit emotionaler Unbeteiligtheit (»unemotional-callous traits«) einhergeht, besteht ein noch höheres Risiko für die Entwicklung einer dissozialen Persönlichkeitsstörung (Loeber et al. 2002). Typen von Entwicklungsverläufen Basierend auf den Ergebnissen der DunedinLängsschnittstudie wurden typisierend zwei unterschiedliche Entwicklungsverläufe aggres-
siv-dissozialen Verhaltens vorgeschlagen (Moffitt et al. 1996). Die höchste Stabilität der Störung besteht bei Störungsbeginn im Kindesalter. Die Symptomatik setzt frühzeitig ein, wobei körperlich-aggressives Verhalten im Vordergrund steht, und weist eine hohe Persistenz über die Lebenszeit hinweg auf. Die Betroffenen weisen im Vergleich zu den Probanden mit Störungsbeginn in der Adoleszenz ein niedrigeres Intelligenzniveau und schlechtere Leistungen in neuropsychologischen Tests, mehr Schwierigkeiten mit Gleichaltrigen und ungünstigere familiäre Bedingungen auf. Im Erwachsenenalter zeigen sie mit einer höheren Wahrscheinlichkeit antisoziale Persönlichkeitszüge, psychiatrische Auffälligkeiten, Substanzabhängigkeit und damit im Zusammenhang stehende Delikte. Sie haben viele berufliche und finanzielle Schwierigkeiten und die höchste Rate an Partnerschaftskonflikten sowie an Gewaltverbrechen, insbesondere gegen Frauen und Kinder (Moffitt et al. 2002). Als Grundlage der Störung wird ein Zusammenwirken genetischer und anderer biologischer Faktoren, dadurch bedingter neuropsychologischer Defizite sowie ungünstiger psychosozialer Bedingungen angenommen. Beispiel Ronny fiel bereits im Kindergarten durch sein unruhiges, hypermotorisches und ungesteuertes Verhalten auf. Auf Anforderungen von Erwachsenen reagierte er mit Trotz und Wutausbrüchen. Im Umgang mit Gleichaltrigen kam es häufig zu Streit und körperlichen Auseinandersetzungen, wobei Ronny schon bei kleinen Provokationen erhebliche Aggressivität zeigte. In der Grundschule wurde er häufig ermahnt, weil er den Unterricht störte, auf seinem Stuhl kippelte und Vorwände suchte, um aufstehen zu können. Beim Erlernen des Lesens und Schreibens hatte er große Mühe und zeigte auch im weiteren Verlauf des Schulbesuchs erhebliche Schwierigkeiten in diesen Bereichen. Ab der 3. Klasse besuchte er trotz seines durchschnittlichen Intelligenzniveaus eine Schule für Lernbehinderte. Etwa ab der 5. Klasse schwänzte er regel-
Der Blick voraus: Verlauf und Prognose
mäßig die Schule, verbrachte seine Zeit mit anderen dissozialen Gleichaltrigen, beging Ladendiebstähle und stahl auch seinen Eltern Geld. Im Alter von 13 Jahren wurde Ronny in einer vollstationären Einrichtung der Jugendhilfe platziert, begleitet von ambulanter kinder- bzw. jugendpsychiatrischer Behandlung sowie mehrfachen stationären Kriseninterventionen und einer längeren stationären Behandlung in einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Zwei Jahre später wurde er aufgrund seines ausgeprägten aggressiv-dissozialen Verhaltens aus der Einrichtung wieder nach Hause entlassen. Mit 16 Jahren wurde Ronny wegen gefährlicher Körperverletzung und wiederholten Fahrens ohne Führerschein, auch unter dem Einfluss von Alkohol, zu einer zweijährigen Jugendstrafe auf Bewährung verurteilt.
Bei Störungsbeginn in der Adoleszenz spielt die Imitation von dissozialen Gleichaltrigen eine wichtige Rolle bei der Pathogenese, aber auch ungünstige familiäre Bedingungen und aktuelle belastende Lebensereignisse erwiesen sich als signifikante Prädiktoren (Lay et al. 2005). Im Vordergrund der Problematik stehen delinquente Verhaltensweisen. Die Folgen für die Entwicklung des Jugendlichen sind viel weniger ausgeprägt als bei der ersten Gruppe, aber auch hier sind im jungen Erwachsenenalter mehr Angst und Depression, Substanzabhängigkeit, finanzielle Schwierigkeiten und Partnerschaftsprobleme festzustellen als bei jungen Erwachsenen, die nie dissoziales Verhalten gezeigt haben (Moffitt et al. 2002). Beispiel Svens Entwicklung verlief zunächst unauffällig. Er wurde altersgerecht eingeschult und besuchte nach der Grundschule zunächst die Realschule. Als er 12 Jahre alt war, ließen sich seine Eltern scheiden. Sven zog mit seiner Mutter in eine andere Stadt und wechselte die Schule. Seine schulischen Leistungen verschlechterten sich deutlich, es kam regelmäßig zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen seiner Mutter und ihm, er schwänzte häufiger die Schule und schloss sich einer Clique von dissozialen Gleich-
165
7
altrigen an, mit denen er Alkohol trank, Cannabis rauchte und gelegentlich Ecstasy einnahm. Mit 14 Jahren wurde er bei einem Ladendiebstahl gestellt, und es wurde Strafanzeige gegen ihn erstattet. Nachdem er nach der zweiten Wiederholung der 9. Klasse wiederum das Klassenziel nicht erreichte, besuchte er im Anschluss an seine Schulzeit das Berufsvorbereitende Jahr. Hier konnte er einen guten Abschluss erreichen und im Anschluss daran eine dreijährige Ausbildung in einem Bildungs- und Rehabilitationszentrum erfolgreich abschließen, wodurch er den erweiterten Realschulabschluss erwarb. Drogen konsumierte er nur noch sporadisch. Polizeilich wurde er nicht mehr auffällig.
In der Follow-up-Untersuchung im Alter von 26 Jahren (Moffitt et al. 2002) konnte jedoch noch eine dritte Gruppe unterschieden werden, die durch ein hohes Ausmaß aggressiv-dissozialen Verhaltens im Kindesalter gekennzeichnet war, welches jedoch während der Adoleszenz deutlich abnahm. Dennoch zeigten die Betroffenen im Erwachsenenalter anhaltend delinquentes Verhalten, wenn auch auf niedrigem Niveau, mehr Angst und Depression, soziale Isolation, ein geringes Ausbildungsniveau sowie berufliche und finanzielle Probleme. Prädiktoren von Stabilität und Veränderbarkeit Verschiedene, zum Teil miteinander hoch korrelierte Faktoren, sind prädiktiv für die Stabilität aggressiv-dissozialer Störungen: Schweregrad der Störung, Störungsbeginn in der Kindheit, komorbide Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, ausgeprägte oppositionelle Symptomatik, früh beginnende und persistierende körperliche Aggressivität, emotionale Unbeteiligtheit, komorbider Substanzgebrauch, niedrige Intelligenz, schulisches Leistungsversagen und dissoziale Persönlichkeitsstörung der biologischen Eltern (Christian et al. 1997; Lahey et al. 1995; Biederman et al. 2001). Umgekehrt sind Prädiktoren für eine höhere Veränderbarkeit: geringerer Schweregrad der aggressiv-dissozi-
166
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 7 · Der Blick voraus: Verlauf und Prognose
alen Störung, weniger ADHS-Symptome, höhere verbale Intelligenz des Kindes, höherer sozioökonomischer Status der Familie und nichtdissoziale biologische Eltern (Lahey et al. 2002). Psychosoziale Faktoren, wie die Qualität der innerfamiliären Beziehungen, haben jedoch auch bei Vorliegen genetischer und biologischer Risikofaktoren einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf den Verlauf aggressiv-dissozialen Verhaltens (Biederman et al. 2001). Vor allem Kinder mit einem hohen genetischen Risiko, die gleichzeitig anhaltenden ungünstigen psychosozialen Einflüssen ausgesetzt sind, haben also eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass ihr Problemverhalten persistiert. Hier darf man keinesfalls eine abwartende Haltung einnehmen, sondern es sind wirksame Interventionen erforderlich (van der Valk et al. 2003). ! Nehmen Sie auch die »leichteren« und oft relativ früh in der Entwicklung auftretenden Symptome einer Störung des Sozialverhaltens ernst!
Dieses gilt vor allem dann, wenn die in der folgenden Übersicht genannten Risikofaktoren vorliegen.
Risikofaktoren für die Stabilität einer Störung des Sozialverhaltens 5 »Early onset« 5 Komorbidität mit ADHS 5 Hohes Ausmaß oppositioneller Symptomatik 5 Früh beginnende und persistierende körperliche Aggressivität 5 Emotionale Unbeteiligtheit, Empathiemangel 5 Niedrige Intelligenz 5 Schulisches Leistungsversagen 5 Dissoziale Persönlichkeitsstörung bei den biologischen Eltern 5 Ungünstiges elterliches Erziehungsverhalten 5 Anhaltende innerfamiliäre Streitigkeiten 5 Geringer innerfamiliärer Zusammenhalt
Aufgrund der Tendenz der Störung, zunehmend schwerer zu werden und zunehmend mehr Lebensbereiche zu betreffen, ist es bereits als Erfolg zu bewerten, wenn der Schweregrad der Störung und die Anzahl betroffener Lebensbereiche nicht zunimmt. ! Auf längere Sicht gilt: Gut ist, wenn es nicht schlechter wird!
8 Was wir nicht wissen: Offene Fragen
168
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 8 · Was wir nicht wissen: Offene Fragen
Deutlich ist, dass viele »weiße Flecken« auf der »Landkarte« der Störungen des Sozialverhaltens bestehen. Hier sollen lediglich einige Schwerpunkte herausgegriffen werden. Psychische Störung oder pädagogisches Problem? Ein konzeptuelles wie auch praktisches Problem besteht in der Abgrenzung, ob es sich bei einer Störung des Sozialverhaltens um eine psychische Störung, ein überwiegend pädagogisches Problem oder auch um eine funktionale Reaktion auf schwierige psychosoziale Bedingungen handelt, z. B. Aufwachsen in einem Gebiet mit einer hohen Kriminalitätsrate. Risiko- und protektive Faktoren Einiges ist darüber bekannt, welche Risikofaktoren grundsätzlich die Wahrscheinlichkeit einer Störung des Sozialverhaltens erhöhen, jedoch weniger über ihre Spezifität für bestimmte Personengruppen und Manifestationen disruptiven Verhaltens und ihr Zusammenwirken in unterschiedlichen Problemkonstellationen, noch weniger über protektive Faktoren. Gerade hier ist ein Zuwachs an Wissen relevant, da das Fördern protektiver Faktoren ebenso bedeutsam ist wie das Vermindern von Risikofaktoren. Dies gilt um so mehr, als bestimmte genetische und biologische Risikofaktoren derzeit nicht beeinflussbar sind und somit ein wichtiger Präventions- wie Interventionsansatz im Nutzbarmachen und Fördern protektiver Faktoren bestehen kann. Sehr wichtig ist auch die Klärung der Frage, warum bei manchen Patienten, die im Kindesalter eine klinisch relevante Störung des Sozialverhaltens aufweisen, im weiteren Verlauf disruptives bzw. dissoziales Verhalten zurückgeht (»desistors«). Ein solcher Verlauf kann nicht nur bei Kindern mit einer oppositionellen Störung auftreten, die als Jugendliche deutlich weniger auffälliges Verhalten und ein höheres psychosoziales Funktionsniveau aufweisen können, sondern auch bei Kindern mit einer signifikanten
aggressiv-dissozialen Störung, die möglicherweise im Jugend- oder auch jungen Erwachsenenalter zumindest keine Eskalation aggressiven wie auch nichtaggessiven dissozialen Verhaltens zeigen und ihr Funktionsniveau nicht weiter verschlechtern. Entwicklungsabhängigkeit und Modellbildung Um die Entwicklungsabhängigkeit disruptiven Verhaltens angemessen zu berücksichtigen, wird ein Kausalmodell benötigt, das mit dem Lebensalter variierendes disruptives Verhalten durch Interaktionen zwischen dispositionellen Faktoren und entwicklungs- sowie zeitsensitiven Faktoren erklären kann. Darüber hinaus müsste ein solches Kausalmodell durch individuelle Faktoren ergänzbar und modifizierbar sein, da man für die konkrete klinische Arbeit letztlich für jeden Patienten ein individuelles Modell spezifizieren muss, das den diagnostischen und therapeutischen Prozess leitet. In dieses individuelle Modell sollte auch das komplexe Muster von Stärken und Schwächen dieses Patienten eingehen. Hier ist auch die Frage sehr wichtig, wie die vorhandene wissenschaftliche Evidenz über Kausalfaktoren, die im Allgemeinen für disruptives Verhalten relevant sind, bei der klinischen Arbeit zur Auswahl von für den einzelnen Patienten relevanten Hypothesen und zum Erstellen eines individuellen Behandlungsplans genutzt werden kann. Prädiktion Weil disruptives Verhalten aufgrund der Kumulation von Problemen und der Stabilisierung solcher Verhaltensweisen ab einem bestimmten Zeitpunkt kaum noch zu beeinflussen ist, ist die Durchführung von Frühinterventionen von hoher Bedeutung. Hier stehen wir jedoch vor dem Problem, dass bei Kindern im Vorschulund frühen Grundschulalter die Vorhersagegenauigkeit noch relativ gering ist. Eine Verbesserung der Prädiktion würde es erlauben, Maßnahmen der Prävention und Frühintervention
Was wir nicht wissen: Offene Fragen
auf solche Kinder zu fokussieren, die ein hohes Risiko für die Entwicklung einer Störung des Sozialverhaltens aufweisen. Effektivität und Effizienz von Interventionen Entscheidend ist eine Verbesserung der Interventionsmöglichkeiten bei Störungen des Sozialverhaltens. Dieses beinhaltet auch Fragen der differenziellen Indikation unterschiedlicher Interventionsmethoden, der spezifischen Wirkmechanismen erfolgreicher Interventionen sowie des Kosten-Nutzen-Verhältnisses von Interventionen, also ihrer Effizienz, auch unter Berücksichtigung übergreifender ökonomischer Aspekte. Eine in diesem Zusammenhang äußerst wichtige Frage ist auch, wie die Behandlungscompliance von Patienten und Eltern, insbesondere bei psychosozial und sozioökonomisch stark belasteten Familien, erhöht und die »Drop-out-Rate« reduziert werden kann, denn ein wesentlicher limitierender Faktor für den Interventionserfolg bei Störungen des Sozialverhaltens besteht darin, dass die Betroffenen nicht ausreichend lange an geeigneten Interventionen teilnehmen. Auch der Frage, wie man wirkungsvoll psychosoziale Belastungen innerhalb dieser Familien vermindern kann, müssten noch mehr Forschungsressourcen gewidmet werden. Weiterhin erscheint es sehr bemerkenswert, dass die Tendenz dieser Kinder bzw. Jugendlichen und ihrer Eltern, sich Interventionen zu entziehen, mit einer Tendenz im Gesundheitssystem einhergeht, effektive Behandlungsprogramme – insbesondere die Multisystemische Therapie nach Henggeler, aber auch im deutschen Sprachraum erprobte Interventionsmethoden wie das Home Treatment – nicht in den Versorgungsstandard einzubeziehen. Bei der Etablierung und Umsetzung langfristigerer Interventionspläne, die auch aufsuchende Interventionen beinhalten sollten, ist eine enge Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe erforderlich.
169
8
Anhang: Leitlinien Die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie können abgerufen werden unter: http://www.uni-duesseldorf.de/WWW/AWMF/ll/ll_kjpp.htm.
Literatur
174
Literatur
Achenbach TM (1991) Manual for the child behavior checklist/4-18 and 1991 profile. University of Vermont, Department of Psychiatry, Burlington, VT Achenbach TM, Edelbrock C (1978) The classification of childhood pathology: a review and analysis of empirical efforts. Psychol Bull 85: 1275–1301 Ackerman BP, Brown E, Izard CE (2003) Continuity and change in levels of externalizing behavior in school of children from economically disadvantaged families. Child Dev 74: 694–709 Aguilar B, O’Brien KM, August GJ, Aoun SL, Hektner JM (2001) Relationship quality of aggressive children and their siblings: a multiinformant, multimeasure investigation. J Abnorm Child Psychol 29: 479–489 Aichhorn A (1925) Verwahrloste Jugend – Die Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung. Huber, Bern (5. Aufl. 1965) Alexander JF, Parsons BV (1973) Short-term behavioral intervention with delinquent families: impact on family process and recidivism. J Abnorm Psychol 81: 219– 225 American Academy of Child and Adolescent Psychiatry (1997) Practice parameters for the assessment and treatment of children and adolescents with substance use disorders. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 36 (10S): 140S–156S American Academy of Child and Adolescent Psychiatry (2002) Practice parameter for the prevention and management of aggressive behavior in child and adolescent psychiatric institutions, with special reference to seclusion and restraint. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 41(2S): 4S–25S American Psychiatric Association (1952) Diagnostic and statistical manual of mental disorders, 2nd edn. American Psychiatric Association, Washington, DC American Psychiatric Association (1980) Diagnostic and statistical manual of mental disorders, 3rd edn. American Psychiatric Association, Washington, DC American Psychiatric Association (2001) Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSMIV, 3. Aufl. Hogrefe, Göttingen Angold A, Costello EJ (1996) Toward establishing an empirical basis for the diagnosis of oppositional defiant disorder. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 35: 1205– 1012 Angold A, Costello EJ, Erkanli A (1999) Comorbidity. J Child Psychol Psychiatry 40: 57–87 Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist (1993a) Elternfragebogen über das Verhalten von Kleinkindern (CBCL/2–3). Arbeitsgruppe Kinder-, Jugend- und Familiendiagnostik (KJFD), Köln Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist (1993b) Lehrerfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen. Deutsche Bearbeitung der Teach-
er’s Report Form der Child Behavior Checklist (TRF). Einführung und Anleitung zur Handauswertung. Arbeitsgruppe Kinder-, Jugend- und Familiendiagnostik (KJFD), Köln Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist (1998a) Elternfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen. Deutsche Bearbeitung der Child Behavior Checklist (CBCL/4-18). Einführung und Anleitung zur Handauswertung, 2. Aufl. Arbeitsgruppe Kinder-, Jugend- und Familiendiagnostik (KJFD), Köln Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist (1998b) Fragebogen für Jugendliche. Deutsche Bearbeitung der Youth Self-Report Form der Child Behavior Checklist (YSR). Einführung und Anleitung zur Handauswertung, 2. Aufl. Arbeitsgruppe Kinder-, Jugend- und Familiendiagnostik (KJFD), Köln Armenteros JL, Lewis JE (2002) Citalopram treatment for impulsive aggression in children and adolescents: an open pilot study. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 41: 522–529 Arseneault L, Moffitt TE, Caspi A et al. (2003) Strong genetic effects on cross-situational antisocial behaviour among 5-year-old children according to mothers, teachers, examiner-observers, and twins’ self-reports. J Child Psychol Psychiatry 44: 832–848 August GJ, Realmuto GM, Joyce T, Hektner JM (1999) Persistence and desistance of oppositional defiant disorder in a community sample of children with ADHD. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 38: 1262–1270 Babinski LM, Hartsough CS, Lambert NM (1999) Childhood conduct problems, hyperactivity-impulsivity, and inattention as predictors of adult criminal activity. J Child Psychol Psychiatry 40: 347–355 Bardone AM, Moffitt TE, Caspi A, Dickson N, Stanton WR, Silva PA (1998) Adult physical health outcomes of adolescent girls with conduct disorder, depression, and anxiety. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 37: 594– 601 Barkley RA, Shelton TL, Crosswait C et al. (2000) Multimethod psycho-educational intervention for preschool children with disruptive behavior: preliminary results at post-treatment. J Child Psychol Psychiat 41: 319–332 Beautrais al, Joyce PR, Mulder RT (1996) Risk factors for serious suicide attempts among youths aged 13 through 24 years. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 35: 1174– 1182 Beitchman JH, Brownlie EB, Inglis A, Wild J, Ferguson B, Schachter D (1996) Seven-year follow-up of speech/ language impaired and control children: psychiatric outcome. J Child Psychol Psychiatry 37: 961–970 Benkert O, Hippius H (2000) Kompendium der Psychiatrischen Pharmakotherapie, 2. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York
Literatur
Bennett KJ, Lipman EL, Racine Y, Offord DR (1998) Do measures of externalizing behaviour in normal populations predict later outcome?: Implications for targeted inverventions to prevent conduct disorder. J Child Psychol Psychiat 39: 1059–1070 Bennett KJ, Brown KS, Boyle M, Racine Y, Offord D (2003) Does low reading achievement at school entry cause conduct problems? Soc Sci Med 56: 2443–2448 Beyers JM, Bates JE, Pettit GS, Dodge KA (2003) Neighborhood structure, parenting processes, and the development of youths’ externalizing behaviors: a multilevel analysis. Am J Community Psychol 31: 35–53 Biederman J, Faraone SV, Milberger S et al. (1996) Is childhood oppositional defiant disorder a precursor to adolescent conduct disorder? Findings from a four-year follow-up study of children with ADHD. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 35: 1193–1204 Biederman J, Mick E, Faraone SV, Burback M (2001) Patterns of remission and symptom decline in conduct disorder: a four-year prospective study of an ADHD sample. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 40: 290–298 Blair RJ, Colledge E, Murray L, Mitchell DG (2001) A selective impairment in the processing of sad and fearful expressions in children with psychopathic tendencies. J Abnorm Child Psychol 29: 491–498 Bondy C, Cohen R, Eggert D, Lüer G (1992) Testbatterie für geistig behinderte Kinder. Beltz, Weinheim Bowlby J (1944) Forty-four juvenile thieves: their characters and home-life. Int J Psychoanal 25: 1–57 Braun K, Lange E, Metzger M, Poeggel G (2000) Maternal separation followed by early social deprivation affects the development of monoaminergic fiber systems in the medial prefrontal cortex of Octodon degus. Neuroscience 95: 309–318 Brown RT, Coles CD, Smith IE, Platzman KA, Silverstein J, Erickson S, Falek A (1991) Effects of prenatal alcohol exposure at school age. II. Attention and behavior. Neurotoxicol Teratol 13: 369–376 Budman CL, Bruun RD, Park KS, Olson ME (1998) Rage attacks in children and adolescents with Tourette’s disorder: a pilot study. J Clin Psychiatry 59: 576–580 Bullock BM, Dishion TJ (2002) Sibling collusion and problem behavior in early adolescence: toward a process model for family mutuality. J Abnorm Child Psychol 30: 143–153 Burt C (1925) The young delinquent. Appleton, New York Cadoret RJ, Yates WR, Troughton E, Woodworth G, Stewart MA (1995) Genetic-environmental interaction in the genesis of aggressivity and conduct disorders. Arch Gen Psychiatry 52: 916–924 Campbell M, Adams PB, Small AM et al. (1995) Lithium in hospitalized aggressive children with conduct disorder: a double-blind and placebo-controlled study. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 34: 445–453
175
Cattell RB, Weiß RH, Osterland J (1997) Grundintelligenztest Skala 1 (CFT 1). Hogrefe, Göttingen Cauffman E, Feldman SS, Waterman J, Steiner H (1998) Posttraumatic stress disorder among female juvenile offenders. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 37: 1209–1216 Chaudhuri A, Kennedy PG (2002) Diagnosis and treatment of viral encephalitis. Postgrad Med J 78: 575–583 Cherek DR, Lane SD, Pietras CJ, Steinberg JL (2002) Effects of chronic paroxetine administration on measures of aggressive and impulsive responses of adult males with a history of conduct disorder. Psychopharmacology (Berl) 159: 266–274 Chervin RD, Dillon JE, Archbold KH, Ruzicka DL (2003) Conduct problems and symptoms of sleep disorders in children. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 42: 201– 208 Christian RE, Frick PJ, Hill NL, Tyler L, Frazer DR (1997) Psychopathy and conduct problems in children. II: Implications for subtyping children with conduct problems. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 36: 233–241 Cleckley H (1941) The mask of sanity. Mosby, St. Louis Coccaro EF, Kavoussi RJ (1997) Fluoxetine and impulsive aggressive behavior in personality-disordered subjects. Arch Gen Psychiatry 54: 1081–1088 Cohen P, Cohen J, Brook J (1993) An epidemiological study of disorders in late childhood and adolescence. II: Persistence of disorders. J Child Psychol Psychiatry 34: 869–877 Connor DF, Glatt SJ, Lopez ID, Jackson D, Melloni RH Jr (2002) Psychopharmacology and aggression. I: A meta-analysis of stimulant effects on overt/covert aggression-related behaviors in ADHD. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 41: 253–261 Coy K, Speltz ML, DeKlyen M, Jones K (2001) Social-cognitive processes in preschool boys with and without oppositional defiant disorder. J Abnorm Child Psychol 29: 107–119 Crick NR (1996) The role of overt aggression, relational aggression, and prosocial behavior in the prediction of children’s future social adjustment. Child Dev 67: 2317–2327 Crick NR (1997) Engagement in gender normative versus nonnormative forms of aggression: links to social-psychological adjustment. Dev Psychol 33: 610–617 Crick N, Dodge KA (1996) Social information-processing mechanisms in reactive and proactive aggression. Child Dev 67: 993–1002 Crick NR, Grotpeter JK (1995) Relational aggression, gender, and social-psychological adjustment. Child Dev 66: 710–722 Criss MM, Pettit GS, Bates JE, Dodge KA, Lapp AL (2002) Family adversity, positive peer relationships, and chil-
176
Literatur
dren’s externalizing behavior: a longitudinal perspective on risk and resilience. Child Dev 73: 1220–1237 Deater-Deckard K, Dodge KA, Bates JE, Pettit GS (1998) Multiple risk factors in the development of externalizing behavior problems: group and individual differences. Dev Psychopathol 10: 469–493 Dery M, Toupin J, Pauze R, Mercier H, Fortin L (1999) Neuropsychological characteristics of adolescents with conduct disorder: association with attention-deficithyperactivity and aggression. J Abnorm Child Psychol 27: 225–236 De Tiège X, Heron B, Lebon P, Ponsot G, Rozenberg F (2003) Limits of early diagnosis of herpes simplex encephalitis in children: a retrospective study of 38 cases. Clin Infect Dis 36: 1335–1339 Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie DGKJP et al. (2003) Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter, 2. Aufl. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln DeVito C, Hopkins J (2001) Attachment, parenting, and marital dissatisfaction as predictors of disruptive behavior in preschoolers. Dev Psychopathol 13: 215–231 Dietrich KN, Ris MD, Succop PA, Berger OG, Bornschein RL (2001) Early exposure to lead and juvenile delinquency. Neurotoxicol Teratol 23: 511–518 Dishion T, Patterson GR (1992) Age effects in parent training outcome. Behav Ther 23: 719–729 Dishion TJ, McCord J, Poulin F (1999) When interventions harm. Peer groups and problem behavior. Am Psychol 54: 755–764 Dodge KA (2001) The science of youth violence prevention. Progressing from developmental epidemiology to efficacy to effectiveness to public policy. Am J Prev Med 20(1 Suppl): 63–70 Dodge KA, Somberg DR (1987) Hostile attributional biases among aggressive boys are exacerbated under conditions of threats to the self. Child Dev 58: 213–224 Dodge KA, Bates JE, Pettit GS (1990) Mechanisms in the cycle of violence. Science 250: 1678–1683 Dodge KA, Lochman JE, Harnish JD, Bates JE, Pettit GS (1997) Reactive and proactive aggression in school children and psychiatrically impaired chronically assaultive youth. J Abnorm Psychol 106: 37–51 Dodge KA, Lansford JE, Salzer Burks V, Bates JE, Pettit GS, Fontaine R, Price JM (2003) Peer rejection and social information-processing factors in the development of aggressive behavior problems in children. Child Dev 74: 374–393 Döpfner M, Lehmkuhl G (2000) Diagnostik-System für Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter nach ICD-10 und DSM-IV (DISYPS-KJ), 2. Aufl. Huber, Bern
Döpfner M, Schürmann S, Lehmkuhl G (2000) Wackelpeter & Trotzkopf. Hilfen bei hyperkinetischem und oppositionellen Verhalten, 2. Aufl. Beltz, PVU Weinheim Döpfner M, Schürmann S, Frölich J (2002). Therapieprogramm für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Problemverhalten THOP. Praxismaterial, 2. Aufl. Beltz PVU, Weinheim Donovan SJ, Stewart JW, Nunes EV et al. (2000) Divalproex treatment for youth with explosive temper and mood lability: a double-blind, placebo-controlled crossover design. Am J Psychiatry 157: 818–820 Donovan SJ, Nunes EV, Stewart JW, Ross D, Quitkin FM, Jensen PS, Klein DF (2003) “Outer-directed irritability”: a distinct mood syndrome in explosive youth with a disruptive behavior disorder? J Clin Psychiatry 64(6): 698–701 Doyle AE, Biederman J, Monuteaux M, Cohan SL, Schofield HL, Faraone SV (2003) Diagnostic threshold for conduct disorder in girls and boys. J Nerv Ment Dis 191: 379–386 Ducharme JM, Atkinson L, Poulton L (2000) Success-based, noncoercive treatment of oppositional behavior in children from violent homes. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 39: 995–1004 Earls F (1994) Oppositional-defiant and conduct disorders. In: Rutter M, Taylor E, Hersov L (eds) Child and adolescent psychiatry: modern approaches, 3rd edn. Blackwell Scientific, Oxford, UK, pp 308–329 Ehrensaft MK, Cohen P, Brown J, Smailes E, Chen H, Johnson JG (2003) Intergenerational transmission of partner violence: a 20-year prospective study. J Consult Clin Psychol 71: 741–753 Eisenberg N, Fabes RA, Karbon M et al. (1996) The relations of children’s dispositional prosocial behavior to emotionality, regulation, and social functioning. Child Dev 67: 974–992 Eley TC, Lichtenstein P, Moffitt TE (2003) A longitudinal behavioral genetic analysis of the etiology of aggressive and nonaggressive antisocial behavior. Dev Psychopathol 15: 383–402 Farrington DP, Loeber R, Yin Y, Anderson SJ (2001) Are within-individual causes of delinquency the same as between-individual causes? Crim Behav Ment Health 12: 53–68 Feeney TJ, Ylvisaker M (2003) Context-sensitive behavioral supports for young children with TBI: short-term effects and long-term outcome. J Head Trauma Rehabil 18: 33–51 Fegert JM (2003) Ethische und rechtliche Probleme bei Behandlungen schizophrener Patienten mit Neuroleptika im Kindes- und Jugendalter. Nervenheilkunde 22: 75–79
Literatur
Fergusson DM (1998) Stability and change in externalising behaviours. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci 248: 4– 13 Fergusson DM, Horwood LJ (1994) Nocturnal enuresis and behavioral problems in adolescence: a 15-year longitudinal study. Pediatrics 94: 662–668 Fergusson DM, Horwood LJ (1998) Early conduct problems and later life opportunities. J Child Psychol Psychiatry 39: 1097–1108 Fergusson DM, Lynskey MT (1997) Early reading difficulties and later conduct problems. J Child Psychol Psychiatry 38: 899–907 Fergusson DM, Woodward LJ (2000) Educational, psychosocial, and sexual outcomes of girls with conduct problems in early adolescence. J Child Psychol Psychiatry 41: 779–792 Fergusson DM, Lynskey MT, Horwood LJ (1996) Origins of comorbidity between conduct and affective disorders. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 35: 451–460 Ferrari AM (2002) The impact of culture upon child rearing practices and definitions of maltreatment. Child Abuse Negl 26: 793–813 Findling RL, McNamara NK, Branicky LA, Schluchter MD, Lemon E, Blumer JL (2000) A double-blind pilot study of risperidone in the treatment of conduct disorder. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 39: 509–516 Flisher AJ, Kramer RA, Hoven CW et al. (1997) Psychosocial characteristics of physically abused children and adolescents. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 36: 123– 131 Fonagy P (2003) Towards a developmental understanding of violence. Br J Psychiatry 183: 190–192 Foreman DM, Thambirajah MS (1996) Conduct disorder, enuresis and specific developmental delays in two types of encopresis: a case-note study of 63 boys. Eur Child Adolesc Psychiatry 5: 33–37 Frick PJ, Lahey BB, Loeber R et al. (1993) Oppositional defiant disorder and conduct disorder: a meta-analytic review of factor analyses and cross-validation in a clinical sample. Clin Psychol Review 13: 319–340 Frick PJ, O’Brien BS, Wootton JM, McBurnett K (1994) Psychopathy and conduct problems in children. J Abnorm Psychol 103: 700–707 Frick PJ, Lilienfeld SO, Ellis M, Loney B, Silverthorn P (1999) The association between anxiety and psychopathy dimensions in children. J Abnorm Child Psychol 27: 383–392 Geller DA, Biederman J, Griffin S, Jones J, Lefkowitz TR (1996) Comorbidity of juvenile obsessive-compulsive disorder with disruptive behavior disorders. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 35: 1637–1646 Glueck S, Glueck E (1957) Unraveling juvenile delinquency, 3rd edn. Harvard University Press Cambridge, MA (1st edn. 1957)
177
Goldenberg JN, Brown SB, Weiner WJ (1994) Coprolalia in younger patients with Gilles de la Tourette syndrome. Mov Disord 9: 622–625 Gontard A von, Müller U (1991) Psychiatric and neurologic symptoms in children with arachnoid cysts – a case report. Z Kinder Jugendpsychiatr 19: 30–37 Goozen SH van, Matthys W, Cohen-Kettenis PT, Buitelaar JK, Engeland H van (2000) Hypothalamic-pituitaryadrenal axis and autonomic nervous system activity in disruptive children and matched controls. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 39: 1438–1445 Gouze KR (1987) Attention and social problem solving as correlates of aggression in preschool males. J Abnorm Child Psychol 15: 181–197 Greene RW, Biederman J, Zerwas S, Monuteaux MC, Goring JC, Faraone SV (2002) Psychiatric comorbidity, family dysfunction, and social impairment in referred youth with oppositional defiant disorder. Am J Psychiatry 159: 1214–1224 Grimwood K, Anderson P, Anderson V, Tan L, Nolan T (2000) Twelve years outcomes following bacterial meningitis: further evidence for persisting effects. Arch Dis Child 83: 111–116 Grøholt B, Ekeberg ø, Wichstrøm L, Haldorsen T (2000) Young suicide attempters: a comparison between a clinical and an epidemiological sample. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 39: 868–875 Grotpeter JK, Crick NR (1996) Relational aggression, overt aggression, and friendship. Child Dev 67: 2328–2338 Guerrero APS (2003) General medical considerations in child and adolescent psychiatric symptoms. Child Adolesc Psychiatric Clin N Am 12: 613–628 Harbord MG (2000) Significant anticonvulsant side-effects in children and adolescents. J Clin Neurosci 7: 213– 216 Hartmann K (1977) Theoretische und empirische Beiträge zur Verwahrlosungsforschung, 2. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Hellbrügge T (1994) Münchener Funktionelle Entwicklungsdiagnostik. Urban & Schwarzenberg, München Heller KA, Kratzmeier H, Lengfelder A (1998) Matrizen-TestManual Band 1 (SPM). Beltz-Test, Göttingen Henggeler SW, Pickrel SG, Brondino MJ, Crouch JL (1996) Eliminating (almost) treatment dropout of substance abusing or dependent delinquents through homebased multisystemic therapy. Am J Psychiatry 153: 427–428 Henggeler SW, Schoenwald SK, Borduin CM, Rowland MC, Cunningham PR (1998) Multisystemic treatment of antisocial behavior in children and adolescents. Guilford, New York Henn FA, Bardwell R, Jenkins RL (1980) Juvenile delinquents revisited. Adult criminal activity. Arch Gen Psychiatry 37: 1160–1163
178
Literatur
Herpertz SC, Wenning B, Mueller B, Qunaibi M, Sass H, Herpertz-Dahlmann B (2001) Psychophysiological responses in ADHD boys with and without conduct disorder: implications for adult antisocial behavior. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 40: 1222–1230 Hill J (2003) Early identification of individuals at risk for antisocial personality disorder. Br J Psychiatry Suppl 44: S11–S14 Hinshaw SP, Lahey BB, Hart EL (1993) Issues of taxonomy and comorbidity in the development of conduct disorder. Dev Psychopathol 5: 31–49 Hipwell AE, Loeber R, Stouthamer-Loeber M, Keenan K, White HR, Kroneman L (2002) Characteristics of girls with early onset disruptive and antisocial behaviour. Crim Behav Ment Health 12: 99–118 Holtz K, Eberle G, Hilling G, Marker K (1984) HeidelbergerKompetenz-Inventar für geistig Behinderte. Heidelberger Verlagsanstalt, Heidelberg Huey SJ Jr, Henggeler SW, Brondino MJ, Pickrel SG (2000) Mechanisms of change in multisystemic therapy: reducing delinquent behavior through therapist adherence and improved family and peer functioning. J Consult Clin Psychol 68: 451–467 Jaffee S, Caspi A, Moffitt TE, Belsky J, Silva P (2001) Why are children born to teen mothers at risk for adverse outcomes in young adulthood? Results from a 20-year longitudinal study. Dev Psychopathol 13: 377–397 Jaffee SR, Moffitt TE, Caspi A, Taylor A (2003) Life with (or without) father: the benefits of living with two biological parents depend on the father’s antisocial behavior. Child Dev 74: 109–126 Johnson JG, Cohen P, Smailes EM, Kasen S, Brook JS (2002) Television viewing and aggressive behavior during adolescence and adulthood. Science 295: 2468–2471 Kaplan SJ, Pelcovitz D, Salzinger S, Weiner M, Mandel FS, Lesser ML, Labruna VE (1998) Adolescent physical abuse: risk for adolescent psychiatric disorders. Am J Psychiatry 155: 954–959 Kazdin AE (2000) Treatments for aggressive and antisocial children. Child Adolesc Psychiatr Clin N Am 9: 841– 858 Keenan K, Wakschlag LS (2002) Can a valid diagnosis of disruptive behavior disorder be made in preschool children? Am J Psychiatry 159: 351–358 Keenan K, Loeber R, Green S (1999) Conduct disorder in girls: a review of the literature. Clin Child Fam Psychol Rev 2: 3–19 Kim-Cohen J, Caspi A, Moffitt TE, Harrington H, Milne BJ, Poulton R (2003) Prior juvenile diagnoses in adults with mental disorder. Arch Gen Psychiatry 60: 709–717 Klein RG, Abikoff H, Klass E, Ganeles D, Seese LM, Pollack S (1997) Clinical efficacy of methylphenidate in conduct disorder with and without attention deficit hyperactivity disorder. Arch Gen Psychiatry 54: 1073–1080
Koomen I, Grobbee DE, Jennekens-Schinkel A, Roord JJ, Furth AM van (2003) Parental perception of educational, behavioural and general health problems in schoolage survivors of bacterial meningitis. Acta Paediatr 92: 177–185 Koot BJ van (1992) Behavioral and affective manifestations of brain tumours in children: a unit management perspective. Axone 13: 118–121 Kubinger KD, Wurst E (2001) Adaptives Intelligenzdiagnostikum 2. Hogrefe, Göttingen Kuperman S, Schlosser SS, Kramer JR, Bucholz K, Hesselbrock V, Reich T, Reich W (2001) Developmental sequence from disruptive behavior diagnosis to adolescent alcohol dependence. Am J Psychiatry 158: 2022–2026 Kurlan R, Daragjati C, Como PG et al. (1996) Non-obscene complex socially inappropriate behavior in Tourette’s syndrome. J Neuropsychiatry Clin Neurosci 8: 311– 317 Lacourse E, Cote S, Nagin DS, Vitaro F, Brendgen M, Tremblay RE (2002) A longitudinal-experimental approach to testing theories of antisocial behavior development. Dev Psychopathol 14: 909–924 Lahey BB, Loeber R, Hart EL et al. (1995) Four-year longitudinal study of conduct disorder in boys: patterns and predictors of persistence. J Abnorm Psychol 104: 83– 93 Lahey BB, Loeber R, Quay HC et al. (1998) Validity of DSM-IV subtypes of conduct disorder based on age of onset. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 37: 435–442 Lahey BB, Goodman SH, Waldman ID et al. (1999a) Relation of age of onset to the type and severity of child and adolescent conduct problems. J Abnorm Child Psychol 27: 247–260 Lahey BB, Waldman ID, McBurnett K (1999b) The development of antisocial behavior: an integrative causal model. J Child Psychol Psychiatry 40: 669–682 Lahey BB, Schwab-Stone M, Goodman SH et al. (2000) Age and gender differences in oppositional behavior and conduct problems: a cross-sectional household study of middle childhood and adolescence. J Abnorm Psychol 109: 488–503 Lahey BB, Loeber R, Burke J, Rathouz PJ (2002) Adolescent outcomes of childhood conduct disorder among clinic-referred boys: predictors of improvement. J Abnorm Child Psychol 30: 333–348 Laird RD, Pettit GS, Bates JE, Dodge KA (2003) Parents’ monitoring-relevant knowledge and adolescents’ delinquent behavior: evidence of correlated developmental changes and reciprocal influences. Child Dev 74: 752–768 Lalonde J, Turgay A, Hudson JI (1998) Attention-deficit hyperactivity disorder subtypes and comorbid dis-
Literatur
ruptive behaviour disorders in a child and adolescent mental health clinic. Can J Psychiatry 43: 623–628 Langbehn DR, Cadoret RJ, Yates WR, Troughton EP, Stewart MA (1998) Distinct contributions of conduct and oppositional defiant symptoms to adult antisocial behavior: evidence from an adoption study. Arch Gen Psychiatry 55: 821–829 Lavigne JV, Cicchetti C, Gibbons RD, Binns HJ, Larsen L, DeVito C (2001) Oppositional defiant disorder with onset in preschool years: longitudinal stability and pathways to other disorders. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 40: 1393–1400 Lay B, Blanz B, Schmidt MH (2001) Effectiveness of home treatment in children and adolescents with externalizing psychiatric disorders. Eur Child Adolesc Psychiatry 10(Suppl 1): I80–90 Lay B, Ihle W, Esser G, Schmidt MH (2005) Juvenile-episodic, continued or adult-onset delinquency? Eur J Criminology 2: 39–65 Lochman JE (1992) Cognitive-behavioral intervention with aggressive boys: three-year follow-up and preventive effects. J Consult Clin Psychol 60: 426–432 Lochman JE, Dodge KA (1998) Distorted perceptions in dyadic interactions of aggressive and nonaggressive boys: effects of prior expectations, context, and boys’ age. Dev Psychopathol 10: 495–512 Loeber R (1991) Antisocial behavior: more enduring than changeable? J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 30: 393–397 Loeber R, Hay DF (1997) Key issues in the development of aggression and violence from childhood to early adulthood. Annu Rev Psychol 48: 371–410 Loeber R, Schmaling KB (1985) Empirical evidence for overt and covert patterns of antisocial conduct problems: a metaanalysis. J Abnorm Child Psychol 13: 337–353 Loeber R, Green SM, Keenan K, Lahey BB (1995) Which boys will fare worse? Early predictors of the onset of conduct disorder in a six-year longitudinal study. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 34: 499–509 Loeber R, Green SM, Lahey BB, Kalb L (2000) Physical fighting in childhood as a risk factor for later mental health problems. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 39: 421–428 Loeber R, Burke JD, Lahey BB (2002) What are adolescent antecedents to antisocial personality disorder? Crim Behav Ment Health 12: 24–36 Lynam DR, Caspi A, Moffitt TE, Wikstrom PO, Loeber R, Novak S (2000) The interaction between impulsivity and neighborhood context on offending: the effects of impulsivity are stronger in poorer neighborhoods. J Abnorm Psychol 109: 563–574 Lyons MJ, True WR, Eisen SA et al. (1995) Differential heritability of adult and juvenile antisocial traits. Arch Gen Psychiatry 52: 906–915
179
Malone RP, Luebbert JF, Delaney MA, Biesecker KA, Blaney BL, Rowan AB, Campbell M (1997) Nonpharmacological response in hospitalized children with conduct disorder. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 36: 242– 247 Malone RP, Delaney MA, Luebbert JF, Cater J, Campbell M (2000) A double-blind placebo-controlled study of lithium in hospitalized aggressive children and adolescents with conduct disorder. Arch Gen Psychiatry 57: 649–654 Marmorstein NR, Iacono WG (2003) Major depression and conduct disorder in a twin sample: gender, functioning, and risk for future psychopathology. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 42: 225–233 Mattejat F, Hirt BR, Wilken J, Schmidt MH, Remschmidt H (2001) Efficacy of inpatient and home treatment in psychiatrically disturbed children and adolescents. Follow-up assessment of the results of a controlled treatment study. Eur Child Adolesc Psychiatry 10 (Suppl 1): I80–90 Maughan B, Pickles A, Hagell A, Rutter M, Yule W (1996) Reading problems and antisocial behaviour: developmental trends in comorbidity. J Child Psychol Psychiatry 37: 405–418 Max JE, Castillo CS, Bokura H et al. (1998) Oppositional defiant disorder symptomatology after traumatic brain injury: a prospective study. J Nerv Ment Dis 186: 325– 332 Max JE, Robertson BAM, Lansing AE (2001) The phenomenology of personality change due to traumatic brain injury in children and adolescents. J Neuropsychiatry Clin Neurosci 13: 161–170 McAllister TW (1992) Neuropsychiatric sequelae of head injuries. Psychiatr Clin North Am 15: 395–413 McAllister TW, Arciniegas D (2002) Evaluation and treatment of postconcussive symptoms. NeuroRehabilitation 17: 265–283 McBurnett K, Lahey BB, Rathouz PJ, Loeber R (2000) Low salivary cortisol and persistent aggression in boys referred for disruptive behavior. Arch Gen Psychiatry 57: 38–43 McMahon RJ (1994) Diagnosis, assessment, and treatment of externalizing problems in children: the role of longitudinal data. J Consult Clin Psychol 62: 901–917 Melchers P, Preuß U (1994) Kaufman-assessment battery for children (K-ABC), 2nd edn. Swets, Lisse Miller C (2001) Childhood animal cruelty and interpersonal violence. Clin Psychol Rev 21: 735–749 Miller-Johnson S, Coie JD, Maumary-Gremaud A, Bierman K, Conduct Problems Prevention Research Group (2002) Peer rejection and aggression and early starter models of conduct disorder. J Abnorm Child Psychol 30: 217–230
180
Literatur
Moffitt TE (1990) Juvenile delinquency and attention deficit disorder: boys’ developmental trajectories from age 13 to age 15. Child Dev 61: 893–910 Moffitt TE, Caspi A, Dickson N, Silva P, Stanton W (1996) Childhood-onset versus adolescent-onset antisocial conduct problems in males: natural history from ages 3-18 years. Dev Psychopathol 8: 399–424 Moffitt TE, Caspi A, Harrington H, Milne BJ (2002) Males on the life-course-persistent and adolescence-limited antisocial pathways: follow-up at age 26 years. Dev Psychopathol 14: 179–207 Morrison GM, Robertson L, Laurie B, Kelly J (2002) Protective factors related to antisocial behavior trajectories. J Clin Psychol 58: 277–290 Muench J, Verdieck A, Lopez-Vasquez A, Newell M (2001) Crossing diagnostic borders: herpes encephalitis complicated by cultural and language barriers. J Am Board Fam Pract 14: 46–50 Nakaji P, Meltzer HS, Singel SA, Alksne JF (2003) Improvement of aggressive and antisocial behavior after resection of temporal lobe tumors. Pediatrics 112: e430– e433 Nissen G, Fritze J, Trott GE (1998) Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter. Fischer, Ulm Nix RL, Pinderhughes EE, Dodge KA, Bates JE, Pettit GS, McFadyen-Ketchum SA (1999) The relation between mothers‘ hostile attribution tendencies and children‘s externalizing behavior problems: the mediating role of mothers‘ harsh discipline practices. Child Dev 70: 896–909 Offord DR, Boyle MH, Racine YA et al. (1992) Outcome, prognosis, and risk in a longitudinal follow-up study. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 31: 916–922 Olds D, Henderson CR, Cole R et al. (1998) Long term effects of nurse home visitation on children’s criminal and antisocial behavior. JAMA 280: 1238–1244 Pagani L, Tremblay RE, Vitaro F, Kerr M, McDuff M (1998) The impact of family transition on the development of delinquency in adolescent boys: a 9-year longitudinal study. J Child Psychol Psychiatry 39: 489–499 Pakyurek M, Gutkovich Z, Weintraub S (2002) Reduced aggression in two inpatient children with the treatment of their sleep disorder. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 41: 1025 Pappadopulos E, Macintyre Ii JC, Crismon ML et al. (2003) Treatment recommendations for the use of antipsychotics for aggressive youth (TRAAY). Part II. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 42: 145–161 Parnefjord R (2000) Das Drogentaschenbuch. Thieme, Stuttgart Patterson GR (1982) Coercive family process. Castalia, Eugene, OR Patterson GR, Forgatch MS, Yoerger KL, Stoolmiller M (1998) Variables that initiate and maintain an early-
onset trajectory for juvenile offending. Dev Psychopathol 10: 531–547 Pelham WE, Gnagy EM, Burrows-Maclean L et al. (2001) Once-a-day Concerta methylphenidate versus threetimes-daily methylphenidate in laboratory and natural settings. Pediatrics 107: E105 Petermann F, Petermann U (2000) Erfassungsbogen für aggressives Verhalten in konkreten Situationen, 4. Aufl. Hogrefe, Göttingen Petermann F, Petermann U (2001) Training mit aggressiven Kindern. Beltz PVU, Weinheim Petermann F, Stein IA (2000) Der ET 6–6. Swets, Frankfurt/ Main Pettit GS, Bates JE, Dodge KA, Meece DW (1999) The impact of after-school peer contact on early adolescent externalizing problems is moderated by parental monitoring, perceived neighborhood safety, and prior adjustment. Child Dev 70: 768–778 Pope AW, Bierman KL, Mumma GH (1989) Relations between hyperactive and aggressive behavior and peer relations at three elementary grade levels. J Abnorm Child Psychol 17: 253–267 Raine A (2002) The role of prefrontal deficits, low autonomic arousal, and early health factors in the development of antisocial and aggressive behavior in children. J Child Psychol Psychiatry 43: 417–434 Raine A, Venables PH, Williams M (1995) High autonomic arousal and electrodermal orienting at age 15 years as protective factors against criminal behavior at age 29 years. Am J Psychiatry 152: 1595–1600 Raine A, Venables PH, Mednick SA (1997) Low resting heart rate at age 3 years predisposes to aggression at age 11 years: evidence from the Mauritius Child Health Project. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 36: 1457– 1464 Raine A, Yaralian PS, Reynolds C, Venables PH, Mednick SA (2002) Spatial but not verbal cognitive deficits at age 3 years in persistently antisocial individuals. Dev Psychopathol 14: 25–44 Raven JC (2002) Coloured progressive matrices, 3rd edn. Hogrefe, Göttingen Reebye P, Moretti MM, Wiebe VJ, Lessard JC (2000) Symptoms of posttraumatic stress disorder in adolescents with conduct disorder: sex differences and onset patterns. Can J Psychiatry 45: 746–751 Remschmidt H, Schmidt MH, Poustka F (2001) Multiaxiales Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 der WHO, 4. Aufl. Huber, Bern Rey JM, Bird KD, Hensley VR (1995) Bedwetting and psychopathology in adolescents. J Paediatr Child Health 31: 508–512 Reynolds LK, Kelley ML (1997) The efficacy of a response cost-based treatment package for managing aggres-
Literatur
sive behavior in preschoolers. Behav Modif 21: 216– 230 Rhee SH, Waldman ID (2002) Genetic and environmental influences on antisocial behavior: a meta-analysis of twin and adoption studies. Psychol Bull 128: 490–529 Ridenour TA, Cottler LB, Robins LN, Compton WM, Spitznagel EL, Cunningham-Williams RM (2002) Test of the plausibility of adolescent substance use playing a causal role in developing adulthood antisocial behavior. J Abnorm Psychol 111: 144–155 Robins LN (1978) Sturdy childhood predictors of adult antisocial behaviour: replications from longitudinal studies. Psychol Med 8: 611–622 Rowe R, Maughan B, Pickles A, Costello EJ, Angold A (2002) The relationship between DSM-IV oppositional defiant disorder and conduct disorder: findings from the Great Smoky Mountains Study. J Child Psychol Psychiatry 43: 365–373 Ruchkin VV, Schwab-Stone M, Koposov R, Vermeiren R, Steiner H (2002) Violence exposure, posttraumatic stress, and personality in juvenile delinquents. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 41: 322–329 Rutter M, Silberg J (2002) Gene-environment interplay in relation to emotional and behavioral disturbance. Annu Rev Psychol 53: 463–490 Satterfield JH, Schell A (1997) A prospective study of hyperactive boys with conduct problems and normal boys: adolescent and adult criminality. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 36: 1726–1735 Sauerbrei A, Eichhorn U, Hottenrott G, Wutzler P (2000) Virological diagnosis of herpes simplex enzephalitis. J Clin Virol 17: 31–36 Schlink B, Schattenfroh S (2001) Zulässigkeit der geschlossenen Unterbringung in Heimen der öffentlichen Jugendhilfe. In: Fegert JM, Späth K, Salgo L (Hrsg) Freiheitsentziehende Maßnahmen in Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie. Votum, Münster, S 73– 171 Schur SB, Sikich L, Findling RL et al. (2003) Treatment recommendations for the use of antipsychotics for aggressive youth (TRAAY). Part I: a review. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 42: 132–144 Schwartz D, McFadyen-Ketchum SA, Dodge KA, Pettit GS, Bates JE (1998) Peer group victimization as a predictor of children’s behavior problems at home and in school. Dev Psychopathol 10: 87–99 Shaw DS, Gilliom M, Ingoldsby EM, Nagin DS (2003) Trajectories leading to school-age conduct problems. Dev Psychol 39: 189–200 Shelton TL, Barkley RA, Crosswait C et al. (2000) Multimethod psychoeducational intervention for preschool children with disruptive behavior: two-year post-treatment follow-up. J Abnorm Child Psychol 28: 253–266
181
Simon OR, Swann AC, Powell KE, Potter LB, Kresnow MJ, O’Carroll PW (2001) Characteristics of impulsive suicide attempts and attempters. Suicide Life Threat Behav 32(Suppl 1): 49–59 Simonoff E (2001) Gene-environment interplay in oppositional defiant and conduct disorder. Child Adolesc Psychiatr Clin N Am 10: 351–374 Snijders JT, Tellegen PJ, Laros JA (1997) Snijders-Oomen Non-verbaler Intelligenztest (SON-R 5½–17). Swets Test Services, Frankfurt Snyder R, Turgay A, Aman M, Binder C, Fisman S, Carroll A, Risperidone Conduct Study Group (2002) Effects of risperidone on conduct and disruptive behavior disorders in children with subaverage IQs. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 41: 1026–1036 Soderstrom H, Rastam M, Gillberg C (2002) A clinical case series of six extremely aggressive youths treated with olanzapine. Eur Child Adolesc Psychiatry 11: 138–141 Speltz ML, DeKlyen M, Calderon R, Greenberg MT, Fisher PA (1999) Neuropsychological characteristics and test behaviors of boys with early onset conduct problems. J Abnorm Psychol 108: 315–325 Stanger C, Achenbach TM, Verhulst FC (1997) Accelerated longitudinal comparisons of aggressive versus delinquent syndromes. Dev Psychopathol 9: 43–58 Stein MA, Blondis TA, Schnitzler ER et al. (1996) Methylphenidate dosing: twice daily versus three times daily. Pediatrics 98: 748–756 Steiner H, Garcia IG, Matthews Z (1997) Posttraumatic stress disorder in incarcerated juvenile delinquents. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 36: 357–365 Stephens RJ, Sandor P (1999) Aggressive behaviour in children with Tourette syndrome and comorbid attentiondeficit hyperactivity disorder and obsessive-compulsive disorder. Can J Psychiatry 44: 1036–1042 Stutte H, Bracken H von (1967) Fachwörterverzeichnis für Jugendhilfe und Jugendrecht – Teil II Psychologische, psychiatrische und heilpädagogische Fachausdrücke. Arbeitsgemeinschaft für Erziehungshilfe, Hannover Sukhodolsky DG, Scahill L, Zhang H et al. (2003) Disruptive behavior in children with Tourette’s syndrome: association with ADHD comorbidity, tic severity, and functional impairment. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 42: 98–105 Taylor J, Malone S, Iacono WG, McGue M (2002) Development of substance dependence in two delinquency subgroups and nondelinquents from a male twin sample. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 41: 386–393 Tellegen PJ, Winkel M, Wijnberg-Williams BJ (1996) SnijdersOomen Non-verbaler Intelligenztest (SON-R 2 1/2–5). Swets Test Services, Frankfurt Tewes U, Rossmann P, Schallberger U (1999) HamburgWechsler-Intelligenztest für Kinder, Revision 1999: HAWIK-III. Huber, Bern
182
Literatur
Till C, Koren G, Rovet JF (2001) Prenatal exposure to organic solvents and child neurobehavioral performance. Neurotoxicol Teratol 23: 235–245 Tremblay E, Masse B, Perron D, LeBlanc M, Schwartzmann AE, Ledingham JE (1992) Early disruptive behavior, poor school achievement, delinquent behavior, and delinquent personality: longitudinal analyses. J Consult Clin Psychol 60: 64–72 Trickett PK, Putnam FW (1998) Developmental consequences of child sexual abuse. In: Trickett PK, Schellenbach CJ (eds) Violence against children in the family and the community. American Psychological Association, Washington DC, pp 39–56 Turgay A, Binder C, Snyder R, Fisman S (2002) Long-term safety and efficacy of risperidone for the treatment of disruptive behavior disorders in children with subaverage IQs. Pediatrics 110: e34 Valk JC van der, Oord EJCG van den, Verhulst FC, Boomsma DI (2003) Genetic and environmental contributions to stability and change in children’s internalizing and externalizing problems. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 42: 1212–1220 Veit R, Flor H, Erb M, Hermann C, Lotze M, Grodd W, Birbaumer N (2002) Brain circuits involved in emotional learning in antisocial behavior and social phobia in humans. Neurosci Lett 328: 233–236 Verhulst FC, Ende J van der (1991) Four year follow-up of teacher-reported problem behaviours. Psychol Med 21: 965–977 Vermeiren R, Deboutte D, Ruchkin V, Schwab-Stone M (2002) Antisocial behaviour and mental health. Eur Child Adolesc Psychiatry 11: 168–175 Vitaro F, Gendreau PL, Tremblay RE, Oligny P (1998) Reactive and proactive aggression differentially predict later conduct problems. J Child Psychol Psychiatry 39: 377–385 Vitacco MJ, Rogers R (2001) Predictors of adolescent psychopathy: the role of impulsivity, hyperactivity, and sensation seeking. J Am Acad Psychiatry Law 29: 374– 382 Wagner A, Jennen-Steinmetz C, Göpel C, Schmidt MH (2004) Wie effektiv sind Interventionen bei Kindern und Jugendlichen mit Störungen des Sozialverhaltens? – eine Inanspruchnahmestudie. Z KinderJugendpsychiatr 32, 5-16 Webster-Stratton C, Hammond M (1997) Treating children with early-onset conduct problems: a comparison of child and parent training interventions. J Consult Clin Psychol 65: 93–109 Weiß RH (1997) Grundintelligenztest Skala 2 (CFT 20), 4. Aufl. Hogrefe, Göttingen Weiß RH (2006) Grundintelligenztest Skala 2 – Revision – (CFT 20-R) Hogrefe, Göttingen
Weissenberger AA, Dell ML, Liow K, Theodore W, Frattali CM, Hernandez D, Zametkin AJ (2001) Aggression and psychiatric comorbidity in children with hypothalamic hamartomas and their unaffected siblings. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 40: 696–703 World Health Organization (1978) Manual of the international statistical classification of diseases, injuries, and causes of death (ICD-9). World Health Organization, Genf Weltgesundheitsorganisation WHO (2000) Internationale Klassifikation psychischer Störungen: ICD-10, Kapitel V (F); klinisch-diagnostische Leitlinien, 4. Aufl. Bern: Huber White JL, Moffitt TE, Caspi A, Bartusch DJ, Needles DJ, Stouthamer-Loeber M (1994) Measuring impulsivity and examining its relationship to delinquency. J Abnorm Psychol 103: 192–205 Williams S, McGee R (1994) Reading attainment and juvenile delinquency. J Child Psychol Psychiatry 35: 441– 459 Young MH, Brennen LC, Baker RD, Baker SS (1995) Functional encopresis: symptom reduction and behavioral improvement. J Dev Behav Pediatr 16: 226–232
A–C
Sachverzeichnis
184
Sachverzeichnis
A Abhängigkeit 46 Aciclovir-Urteil 108 Adaptives IntelligenzDiagnostikum 2 53 Adoptivkinder 29 Aggressiver Erregungszustand 69 Aggressives Verhalten 34, 35, 77, 145, 146 – Altersabhängigkeit 34 – iktales 77 – interiktales 77 – Jugendliche 35 – Kleinkinder 34, 35 – offenes 161 – postiktales 77 – Schulkinder 35 – Umgang mit 145 – verdecktes 161 – Vorschulkinder 34 AID 2 53 Akineton 143 Alkohol 80 Alkoholkonsum 19, 57 – während der Schwangerschaft 19 Alleinerziehende Mutter 25 Alltagsroutinen 97 Ambulante Behandlung 132 Amnesie 78 – retrograde 78 – anterograde 78 Amphetamin 114 Amtshilfe 148 Angststörung 22 Anpassungsstörung 14, 81 – mit gemischter Störung von Gefühlen und Sozialverhalten 14 – mit vorwiegender Störung des Sozialverhaltens 14, 81 Anticholinerges Delir 76 Ärger-Kontroll-Training 102 Aufforderungen 97 Aufklärung 94 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung 21, 37, 161 Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität 48 Ausschlussdiagnosen 13, 68 Autonomes Nervensystem 20
B Behandlung 132ff. – ambulante 132 – stationäre 136 – tagesklinische 136 – teilstationäre 136 Belastende Lebensereignisse 50 Benommenheit 75 Benzodiazepine 129 Beratung 94 Berufliche Rehabilitation 156 Betäubungsmittelgesetz 45, 109 Betreutes Wohnen 151 Bewusstseinsminderung 75 Bewusstseinsstörungen 75, 78 – posttraumatische 78 – qualitativ 75 – quantitativ 75 Bewusstseinsveränderung 75 Bindungsstörung des Kindesalters 85 – mit Enthemmung 85 – reaktive 85 Biperiden 143 Bipolare Störung 13, 80 Brudzinski-Zeichen 70 Bulimia nervosa 47, 81
C Cannabis 44 CFT 1 52 CFT 20 52 CFT 20-R 52 Child Behavior Checklist 50 Citalopram 126, 128 »Coercive Cycle« 23 Cortisol 20 »Craving« 46 Culture-Fair-Test 52
D Defizite 22 – verbale 22 – visuell-räumliche 22 Delinquenz 6 Delir 74, 76, 143 – anticholinerges 76, 143 Diazepam 130, 142
Differenzialdiagnose 60, 68, 69, 71, 72 – Entscheidungsbaum 72 Dipiperon 117, 143 Dissoziale Persönlichkeitsstörung 14 Dissoziales Verhalten 6 DISYPS-KJ 51 Dopamin 20 Drogenscreening 55 DSM-IV 12 Dyskalkulie 27 Dyslexie 64
E EAS 51 Effektivität 169 Effizienz 169 Einfache Aktivitäts– und Aufmerksamkeitsstörung 84 Eingliederungshilfe 151, 152 Elektiver Mutismus 85 Elektrodermale Hautreaktion 20 Elterliches Erziehungsverhalten 49 Eltern 49 – Erziehungsstil 49 – psychische Störung 49 – Substanzabhängigkeit 49 Eltern-Kind-Beziehung 96 Elterntraining 94, 96, 98 – Durchführung 98 Emotionale Störung mit Geschwisterrivalität 84 Emotionale Unbeteiligtheit 22, 164 Emotional-instabile Persönlichkeitsstörung 81 – vom Borderline-Typus 82 – vom impulsiven Typus 81 Emotionen 102 – negative 102 Emotionsregulation 102 Empathie 22 Enkopresis 48 Entgiftung 89 Entwicklung aggressiven Verhaltens 162 Entwicklungsdiagnostik 51 Entwicklungsgefährdung 162 Entwicklungsgeschichte 42 Entwicklungsstörungen 61, 63 – der Sprache 61 – schulischer Fertigkeiten 63 – tiefgreifende 15
185
Sachverzeichnis
– umschriebene 61 Entwicklungsverläufe 164 Entwöhnung 89 Entzugssyndrom 46 Enuresis 48 Enzephalitis 70 – bakteriell 70 – Herpes simplex 70 – viral 70 Epilepsie 77 EPMS 143 EPS 143 Erfolgserwartung für aggressives Verhalten 26 Erregungszustand 69 – aggressiver 69 Erziehungsbeistand 150 Erziehungsberatung 149 Erziehungsstil 98 Erziehungsverhalten 23, 96 Essstörungen 81 ET 6--6 51 Ethnische Gruppen 28 Ethnische Zugehörigkeit 24 Extrapyramidal-motorische Symptome 143
F Fahndung 149 Familienrichter 144 Familientherapie 99 FBB-HKS 51 FBB-SVV 51 Fixierung 139 Fluoxetin 126, 128 Fluvoxamin 128 Freiheitsentziehende Maßnahmen 94, 144 – rechtliche Grundlagen 144 Funktionsniveau 68 Furchtlosigkeit 22
G Gaschromatographie-Massenspektrometrie 56 GC-MS 56 Geistige Behinderung 67 Genetische Faktoren 19 Gen-Umwelt-Interaktionen 29 Gen-Umwelt-Korrelationen 29 Geschlechtsunterschiede 36
Geschlossene Unterbringung 94, 144, 153 – §1631b BGB 153 – Jugendhilfe 153 – Rechtliche Grundlagen 144 Geschwister 25 Geschwisterrivalität 84 Gewaltdarstellungen 28 Gleichaltrige 25 Grundintelligenztest 52
H Haftfähigkeit 148 Haldol 121 Haloperidol 121 Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder III 52 Harninkontinenz 48 Hausarbeiten 95 HAWIK-III 52 Heidelberger Kompetenzinventar für geistig Behinderte 54 Heim 151 Herpes-simplex-Enzephalitis 70 Herzfrequenz 20 Hilfe zur Erziehung 149ff. Hilfeplanung 152 Hirntumoren 77 Hirnverletzungen 78 Home Treatment 132
I Imipramin 116 Immunassay 56 Impulsivität 21 Impulsiv-reaktives Verhalten 161 Individueller Heilversuch 108, 109 Indizierte Prävention 92 Inobhutnahme 155 Intelligenz 66, 67 Intelligenzdiagnostik 52ff. Intelligenzminderung 14, 53, 66, 67 Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung 150 Intermittent Explosive Disorder 84 Interventionsbedarf 89 Interventionssetting 88 Intoxikation 45, 54, 79 Intrakranielle Drucksteigerung 77 Irritierbarkeit 22
J Jugendhilfe 89, 149ff. Jugendhilfeeinrichtung 154
K K-ABC 52 Kaufman-Assessment Battery for Children 52 Kernig-Zeichen 70 Kindeswohlgefährdung 155 Kleptomanie 83 Klinikschule 136 Koersiver Erziehungsstil 23 Koma 75 Kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten 64 Komorbide Störungen 43, 44, 130 – Therapie 130 Kontingenzmanagement 104 Koprolalie 86 Kopropraxie 86 Körperliche Erkrankungen 67 Körperliche Untersuchung 54, 147 Krisenintervention 89, 93, 146
L Landau-Kleffner-Syndrom 57 Längsschnittstudie 2, 164 Legasthenie 64 Leitlinien 171 Leitsymptome 7, 32 – ICD-10-Forschungskriterien 33 Lernbehinderung 67 Lese- und Rechtschreibstörung 64 Lesefertigkeiten 27 Lesestörung 63, 64 Levomepromazin 118, 142 Lithium 121 Lorazepam 129, 142
M Mädchen 36, 160, 162 Manie 13, 80 MAS 44, 60, 61, 66, 67, 68 – Achse I 44 – Achse II 61 – Achse III 66 – Achse IV 67
186
Sachverzeichnis
– Achse V 68 – Achse VI 68 Matrizentest 52 – Coloured Progressive Mactrices (CPM) 52 – Standard Progressive Matrices (SPM) 52 Mediatoren-Modell 95 Medikamentöse Behandlung 108 Medizinischer Dienst der Krankenkassen 137 Meningoenzephalitis 70 Methylphenidat 110ff. – Abbau 111 – Appetitminderung 112 – Depressive Verstimmung 112 – Doppelblindversuch 111 – Dosierung 110 – Effekte 110 – Einschlafstörungen 112 – EKG 114 – Geistige Behinderung 110 – Interaktionen 114 – Kontraindikationen 113 – Kontrolluntersuchungen 114 – Krampfschwelle 113 – Längenwachstum 112 – MAO-Hemmer 114 – Nebenwirkungen 111, 112 – Pharmakokinetik 111 – Psychotische Störung 113 – Rebound-Effekt 111 – Resorption 112 – Retardpräparat 110 – Schwangerschaft 113 – Substanzabhängigkeit 113 – Ticstörungen 113 Missbrauch 24 – sexueller 24 Misshandlung 24 Monitoring 23, 99 Mood stabilizer 121 Multiaxiales Klassifikationssystem 60 Multisystemische Therapie 99, 133 Münchner Funktionelle Entwicklungsdiagnostik 52 Mutismus 85
N Nachtdienst 146 Nachweis von 56 – Amphetaminen 56
– Atropin 56 – Cannabis 56 – Ecstasy 56 – Heroin 56 – Kokain 56 – LSD 56 Natürliche Konsequenzen 98 Neuroanatomische Befunde 19 Neurochemische Befunde 20 Neurocil 118, 142 Neuroendokrinologische Befunde 20 Neuroleptika 117 Notdienst 146 Notfall 93 Notfallmedikation 137, 142 – Diazepam 142 – Dipiperon 143 – Levomepromazin 142 – Lorazepam 142 – Neurocil 142 – Pipamperon 143 – Tavor 142 – Valium 142 Notfallversorgung 147
O Olanzapin 120 Oppositionelle Störung 39 Organische Persönlichkeitsstörung 79 Organische Störungen 73 Organisches Psychosyndrom 78, 79 – nach Schädel-Hirn-Trauma 78
P § 8a KJHG 155 § 35a KJHG 151 § 1631b BGB 144 Paroxetin 126, 129 Pathologische Brandstiftung 83 Pathologisches Glücksspiel 82 Pathologisches Stehlen 83 Pemolin 109, 115 – Leberschädigung 109 Persönlichkeitsstörung 14, 81, 82, 79 – Borderline 82 – dissoziale 14 – emotional-instabile 81, 82 – organische 79 Pharmakotherapie 107ff. Pipamperon 117, 143
Polizei 148 Polizeiliche Fahndung 149 Postenzephalitisches Syndrom 79 Posttraumatische Belastungsstörung 11 Power-Test 52 Prädiktion 168 Prädiktoren 165 Prävention 91 – indizierte 92 – selektive 92 – universelle 91 Proaktiv-aggressives Verhalten 161 Probierkonsum 89 Problemlösetraining 101 Prognose 163 Progressive Matrizen-Tests 52 Promethazin 117 Prompting 138 Protektive Faktoren 168 Psychische Störung eines Elternteils 24 Psychischer Status 41 PsychKG 144 Psychoedukation 94 Psychopathie 2 Psychophysiologische Befunde 20 Psychosoziale Bedingungen 50 Psychosyndrom 79 – organisches 79 Psychotrope Substanzen 44, 46, 56 – Nachweisbarkeit 56 – Psychotische Störung 46 Pyromanie 83
Q Qualitative Bewusstseinsstörungen 75 Quantitative Bewusstseinsstörungen 75
R Rauchen während der Schwangerschaft 19 Reaktive Aggressivität 161 Rechenstörung 63, 64, 65 Rechtschreibstörung 63, 64 Rehabilitation 154, 156 – berufliche 156 – schulische 156 »Response Cost« 104
187
Sachverzeichnis
Risikofaktoren 18, 19, 166 – organische 19 Risperdal 119 Risperidon 119
S Schädel-Hirn-Trauma 55, 78 Schädlicher Gebrauch 46 Schizophrenie 13, 80 Schlafstörungen 47 Schule 27, 103, 104 Schulische Rehabilitation 156 Schulisches Leistungsversagen 27 Schulschwänzen 27 Schutzauftrag des Jugendamtes 155 Schweigepflicht 38, 94 Schweigepflichtsentbindung 38 Schweregradeinteilung 7 Sedierung 140 Seelische Behinderung 151 Selbstkontrolle 107 Selbst-Verbalisationen 103 Selektive Prävention 92 Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer 126 Serotonin 20 SGB V 152 SGB VIII 152 SGB IX 156 Sicherheitsmaßnahmen 145, 146 Snijders-Oomen Non-verbaler Intelligenztest 53 Somatoforme Störungen 11, 80 Somnolenz 75 SON-R 2½-7 53 SON-R 5½-17 53 Sopor 75 Soziale Gruppe 150 Soziale Wahrnehmung 25, 101 Sozialer Kontext 34 Soziales Kompetenztraining 101 Sozialpädagogische Familienhilfe 150 Sozioökonomischer Status 28 Speed-Test 54 Sprachstörungen 22, 53, 61, 62 – expressive 61, 62 – rezeptive 61, 62 SSRI 126 Stabilität 160 – oppositionelle Störungen 160
– aggressiv-dissoziale Störungen 160 Stationäre Behandlung 136 Stimulanzien 109, 110 – Aufklärung 109 – Auslassversuch 109 – Betäubungsmittelgesetz 109 – Effekte 109 – Überdosierung 110 Störung des Sozialverhaltens 8, 9, 10, 11, 12, 39, 40, 41, 81 – auf den familiären Rahmen beschränkt 8, 39 – Beginn in der Adoleszenz 12 – Beginn in der Kindheit 12 – bei fehlenden sozialen Bindungen 9, 41 – bei vorhandenen sozialen Bindungen 9, 40 – hyperkinetische 10 – mit depressiver Störung 11, 81 – mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten 9, 39 Störung mit intermittierend auftretender explosiver Reizbarkeit 84 Störungsbeginn im Kindesalter 164 Störungsbeginn in der Adoleszenz 165 Substanzkonsum 46
T Tagesgruppe 150 Tagesklinische Behandlung 136 Talking down 138 Tavor 129, 142 Teilhabeproblematik 152 Teilstationäre Behandlung 136 Temporallappen-Epilepsie 77 Testbatterie für geistig behinderte Kinder 54 Testdiagnostik 50, 51 Testosteron 20 Therapieplan 90 Therapieprogramm für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Verhalten 105 THOP 105 Tiaprid 113 Ticstörungen 47, 85 Tiefgreifende Entwicklungsstörungen 15 Tierquälen 36
Time-away 138 Time-out 95, 138 Tourette-Syndrom 48, 85, 86 Training mit aggressiven Kindern 106
U Umschriebene Entwicklungsstörungen 61 Universelle Prävention 91
V Valium 130, 142 Valproat 123 Väter 25, 98 – dissoziale 25 Verbale Defizite 22 Verdeckte Aggressivität 161 Verlauf 160 – aggressiv-dissoziale Störungen 160 – oppositionelle Störungen 160 Verstärkerpläne 96 Verwahrlosung 3 Vigilanz 75 Viktimisierung 26 Vineland Social Maturity Scale 54 Virusenzephalitis 70 Visuell-räumliche Defizite 22 Vollstationäre Maßnahmen 150 Vollzeitpflege 150
W »Weiche« Drogen 89 Wohngruppe 151
Z Zerebrale Infektion 55, 57, 69, 70 Zerebrale Raumforderung 77 Zurückweisung durch Gleichaltrige 26 Zwangsmaßnahmen 139 – Fixierung 139 – Sedierung 140 Zwangsstörungen 11 Zyprexa 120