Buch Vor langer Zeit stand Aglirta unter dem Schutz eines gerechten und starken Regenten, und seine Bewohner lebten in ...
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Buch Vor langer Zeit stand Aglirta unter dem Schutz eines gerechten und starken Regenten, und seine Bewohner lebten in Wohlstand und Frieden. Doch inzwischen wird das Land von machtgierigen Baronen und intriganten Magiern beherrscht. Die Zauberin Embra ist die Tochter eines solchen Barons. Sie gerät durch die üblen Pläne ihres Vaters in größte Gefahr und kann sich nur durch die Flucht mit Hilfe des kleinen Diebes Craer und des hünenhaften Kriegers Hawkril in Sicherheit bringen. Unterwegs stoßen sie auf den Heiler Sarasper, der sie darum bittet, ihm bei einer großen Aufgabe zu helfen: Der Sage nach wird sich der Schlafende König von seinem jahrhundertelangen Schlummer erheben, um Frieden und Ordnung in Aglirta wiederherzustellen. Doch um den Monarchen zu wecken, müssen die Dwaerindim gefunden werden, lange verschollene Steine mit magischen Kräften. Und so macht sich der bunt zusammengewürfelte Haufen eilig auf die Suche, denn auch die bösen Kräfte sind hinter den Steinen her ... Autor Ed Greenwood, geboren 1959 in Toronto, hat mit den »Forgotten Realms« eine der beliebtesten Welten für die FantasyLeser und Rollenspieler erschaffen. Er hat sie in zahlreichen Veröffentlichungen beschrieben und dazu eine Reihe von Romanen verfasst, unter anderem den populären Zyklus »Die Legende von Elminster«. Ed Greenwood ist Bibliothekar und lebt in einem alten Farmhaus bei Ontario.
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Ed Greenwood
Land ohne König Der Ring der Vier 1 Ins Deutsche übertragen von Marcel Bieger
BLANVALET
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Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Kingless Land. A Tale of the Band of Four (vol. 1)« bei Tor Books, New York. Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Blanvalet Taschenbücher erscheinen im Goldmann Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH. 1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung 11/2003 Copyright © 2000 by Ed Greenwood Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2003 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schluck GmbH, 30827 Garbsen. Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Agt. Schluck/Don Maitz Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck: Eisnerdruck Berlin, GmbH Titelnummer: 24241 Redaktion: Cornelia Köhler Glossar: Marcel Bieger und Cornelia Köhler VB · Herstellung: Peter Papenbrok Printed in Germany ISBN 3-442-24241-X www.blanvalet-verlag.de
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Für Brian, mit dem ich einen Traum teilte. Einen wahren Freund, einen wunderbaren Herausgeber und einen Mitbegeisterten.
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Alles, womit wir prahlen können Alles, was uns mit Stolz erfüllt Kommt zu uns in Blut getränkt: Die verschwendeten Leben derer, welche Für uns alle den Sieg errangen Den Sieg errangen. Ehret sie. Vergesst nicht ihre Namen In Zeiten, da wir darben. Über den Flammen von Feuern Rufen wir sie an Zurückzukommen Denn kein Land hat je genug Helden. Ganz besonders nicht dieses Land Flüsterbeschwörung des Kurgrimmon, Meistersänger von Aglirta, in den längst vergangenen Tagen, da es noch einen König gab
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Prolog C Die Schänke seufzte schon wieder. Flaeros musterte den gut geheizten Raum mit gerunzelter Stirn. Drehspieße aus glänzend poliertem Kupfer baumelten von einem wahren Wald aus gedrungenen Pfeilern und warfen das Flackern des Feuers zu ihm zurück. Männer mit langen Schnurrbärten hoben unbekümmert ihre Pfeifen oder Krüge, und es schien so, als habe außer einem Möchtegernsänger, der noch dazu übers Meer zu Besuch gekommen war, niemand dieses jämmerliche Klagen gehört. Er tarnte seine pfeilschnell hin und her schießenden Blicke, indem er einen Schluck Wein trank. Ein Schauder lief ihm den Rücken hinunter, als hätten ihn eiskalte Finger berührt, denn das Jammern bewegte sich gespenstisch weiter und erklang schließlich zu seiner Linken. Er spähte in diese Richtung, und sein Blick kreuzte den eines alten Mannes mit einer Löwenmähne, der zwei Tische weiter dasaß: einen Blick aus Augen, die hellwach, golden wie die Augen eines Falken – und belustigt blitzten. »Ihr werdet Euch schon noch daran gewöhnen«, meinte der Alte und strich sich gedankenvoll mit dem Daumen über die Nase. Flaeros Delkamper holte tief Luft. Er wölbte eine Augenbraue in dem vergeblichen Versuch, unbekümmert zu wirken, und fragte so
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beiläufig wie möglich: »Dann ... dann handelt es sich also um eine Geistererscheinung?« Der alte Mann kicherte. »Ihr seid durch die Hintertür gekommen, nicht wahr? Übers Wasser?« Flaeros lief rot an. »Aus Ragalar« erklärte er knapp. »Für den Moot. Habe bei Sonnenuntergang angelegt. Mit der Sturmvogel.« Buschige Augenbrauen wanderten nach oben. »Eine solch schnelle … Überfahrt kostet eine Perle oder auch zwei.« Flaeros stellte fest, dass ihn ein goldener, wie ein Schwert niederzuckender Blick von Kopf bis Fuß begutachtete. Er wand sich vor Unbehagen und fühlte sich von einem Augenblick auf den anderen genauer gemustert denn seit seinen Kindertagen. Die goldenen Augen hingegen sahen einen aufgeregten jungen Mann, welcher ein wenig zu eifrig dem Weine zugesprochen hatte. Seiner Kleidung nach zu schließen stammte er aus wohlhabendem ragalaranischem Hause, und seine Augen blitzten angesichts all der Wunder, die er während seiner ersten Unternehmung zu Gesicht bekam, welche ihn von seinem ernsten, grauen Ragalar wegführte. Er verfügte über eine wohlklingende Stimme und sicher auch über eine Vielzahl von Münzen – ein Träumer, der sich danach sehnte, ein Meistersinger zu werden. Vielleicht hatte er sich aus diesem Grund rasch von Eltern verabschiedet, die ihm ihren Segen gaben und allmählich zu glauben begannen, dass die Hoffnungen ihres Sprösslings, überhaupt irgendetwas zu werden, nichts anderes waren als die Träume eines Wirrkopfes. Gereizt angesichts des wissenden Blickes öffnete Flaeros den Mund und wollte schon etwas Unhöfliches sagen – aber das Stöhnen erstarb, als der alte Mann lautlos auf den Platz neben ihm glitt. »Was Ihr hörtet, ist der Grund dafür, warum dieses Haus schlechter besucht ist als die meisten anderen, obwohl der Moot kurz
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bevorsteht.« Die Lippen des Alten verzogen sich zu einem grimmigen Lächeln. »Leute aus SM kommen her, wenn sie von den Balladen-Hungrigen zu sehr bedrängt werden... oder einfach nur, um ihre Ohren zu schonen.« Die strenge, für den Weinausschank zuständige Hausmutter, welche beschlossen hatte, die Zeichen des jüngsten Delkamper nicht weiter zu beachten, erschien wie ein lautloser Schatten und setzte ein großzügig bemessenes Tablett mit heißen, gut gewürzten Waldschwingenpasteten und einer Karaffe eines entschieden besseren Weines vor ihnen ab, als ihn Flaeros jemals gekostet hatte. Er drehte sich überrascht zu ihr um, erblickte aber nichts als einen Wandteppich, der hinter ihr zurückschwang – einen Augenblick zu spät, so dass er das strahlende Lächeln nicht mehr bemerkte, welches sie dem Alten über die Schulter zugeworfen hatte. Wer mochte der Alte wohl sein? Aber schon erzählte die trockene alte Stimme Flaeros, dass er sich in dem »Seufzenden Wasserspeier« befand. Wenn eine leichte Brise durch die gemeißelten Steinohren und das vielzahnige Maul des draußen über dem Eingang angebrachten Wasserspeiers strich, so erklang ein lautes, lebensechtes Seufzen. Flaeros nickte und erstarrte, als er eine warme Berührung an seiner Hand spürte. Der alte Mann hatte das heiße Tablett zu ihm herübergeschoben. Er sah müde auf, als der köstliche Duft von Herzkraut und gerösteten Waldschwingen zu ihm aufstieg. »Esst«, sagte der alte Mann ohne große Umstände. »Ihr müsst in Eurem Magen eine Grundlage für den Wein schaffen. Maerschees Pasteten können mit den Pasteten in ganz Sirlptar mithalten.« Flaeros verspürte plötzlich einen solchen Hunger, dass sich sein Mund mit Speichel füllte. Er biss in eine Pastete wie ein Verhungernder und stellte fest, dass sie genauso gut schmeckte, wie sie roch.
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Heißer Fleischsaft rann ihm übers Kinn, und der alte Mann bedachte ihn mit einem Grinsen. Der jüngste Spross der Delkamper stellte unvermittelt fest, dass ihn das nicht weiter scherte. Er erwiderte das Grinsen, und sogleich drückte ihm der Alte eine weitere Pastete in die Hand. Flaeros war in die sagenumwobene Glitzernde Stadt gekommen, um sich den Moot der Meistersinger anzuschauen. Alle zwei Jahre versammelten sie sich in Sirlptar, um Neuigkeiten auszutauschen, zu entscheiden, welchen Städte und Fürstentümer »unter den Bann« genommen werden sollten, für eine Weile weder Geschichten noch Harfenklänge zu hören und zu beratschlagen, welche Banne nun wieder gnädig aufzuheben seien. Für eine Reihe von Nächten kauften und verkauften sie Instrumente, sangen vor Menschenmengen, die viel zu viel bezahlten, um sich Schulter an Schulter in Gasthöfen drängen zu dürfen, nahmen Lehrlinge an oder tauschten sie aus, beriefen ein paar neue Barden ... und in ganz besonderen Jahren bedachten sie eine Hand voll besonders erlesener Harfenspieler mit dem kastanienbraunen Umhang der Meisterschaft. Flaeros Delkamper war noch Jahre entfernt von einer solch wundervollen Erhebung, und das wusste er auch. Jetzt fühlte er sich schwindelig vor ungetrübter Freude angesichts seines Abenteuers – er saß in einer Schänke in dem sagenhaften Sirlptar, und rings um ihn herum gab es Wunder über Wunder. Klein, aber viel, viel handfester als selbst der beste Gasthof von Ragalar, zudem bevölkert von weit gereisten Leuten ... Menschen, welche erheblich zuversichtlicher wirkten als die ängstlich ihre Münzen zusammenhaltenden Kaufleute aus Ragalar, dem Finsteren. Ja, er war hier allein und weit entfernt von zu Hause in einer Stadt schnell gezückter Schwerter und, so wusste man zu erzählen, meisterlicher Diebe ... aber war er nicht beinahe unsichtbar mit dem
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Vodal an seinem Finger? Er schaute darauf nieder – auf den verdrehten, gehämmerten Nagel mit den Flecken schwarzen Teers, den man vor langer Zeit in die ungefähre Form eines Fingerrings gebogen hatte. Er sah so wertlos aus wie der Tand eines Seemannes, der er ja auch gewesen war, bevor die besten Zauberer, welche die Delkampers längst vergangener Zeiten in ihre Dienste nehmen konnten, eine Reihe von Zaubern auf ihn legten und ihn zum ... nun, zum Vodal machten. Er schaute schnell weg, da er fürchtete, Aufmerksamkeit auf den Ring gelenkt zu haben. Der Ring hatte den Delkampers gute Dienste geleistet und stellte, wie man ihm in scharfem Ton eingetrichtert hatte, den Gegenwert von zehn jüngeren Söhnen ihres Blutes dar, wenn nicht sogar mehr. Er schloss beiläufig die andere Hand darum und spürte dabei das vertraute Prickeln. Der Vodal vermochte vieles, aber man hatte Flaeros genau genommen nur eine Sache erklärt, welche er zu Stande brachte: Wenn man auf eine Person oder einen Gegenstand starrte und seinen Willen entsprechend ausrichtete, konnte man durch alle magischen Verkleidungen schauen und auf die Wahrheit blicken. Nicht dass er damit rechnete, vielen durch Zauberbanne verhüllten Magiern zu begegnen ... aber warum sonst hätte man ein wahrhaft mächtiges Erbstück an einen widerspenstigen Sohn verschwenden sollen? Von plötzlicher Ungeduld hinsichtlich seiner Sippe und seiner Heimat befallen, hörte Flaeros sich selbst fragen: »Und wo genau lag Aglirta, und wie kommt man zu den Überresten? Ich habe Geschichten über seinen Niedergang gehört, aber ich bin mir sicher, dass ich in den vor uns liegenden Nächten bessere und ausführlicher erzählte Sagen hören werde. Kaufleute mögen zwar wilde Gerüchte, aber ich möchte lieber die Wahrheit erfahren.«
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Das Lächeln des alten Mannes mit der Löwenmähne verschwand. »Ihr ehrt mich, Jüngling, indem Ihr annehmt, dass meine Worte wahr sind. So wisset denn: Das ganze von Bergen umgebene Tal des Silberflusses, welcher bis hierher und dann in Richtung Meer fließt und Sirlptar in zwei Teile zerschneidet, wurde einst das stolze Aglirta genannt. Ihr kennt das Gewässer vielleicht besser als den Silberfluss. Irgendwo in den Tiefen des grünen Loaurimm entspringt er. Kein Fürst herrschte je über dieses stille Reich, aber jenseits der Gegenden, in welchen Holzfäller ihrem Tagewerk nachgingen, die Windungen des Flusses hoch durch ein Dutzend Fürstentümer, lag Aglirta. Das ganze Land zwischen den Windfangs gen Norden und den Talaglatlad im Süden – das sind die Gipfel, welche Ihr von Ragalar aus sehen könnt – wird nun das Land ohne König genannt: eine gesetzlose Anzahl miteinander kämpfender Grafschaften, Baronien und sonstiger Fürstentümer. Ein Ort, von dem man sich besser fern hält, bis der Schlafende König erwacht ist.« Flaeros zog eine Augenbraue hoch. »Und das ist nicht nur ein Kindermärchen?« Der alte Mann zuckte mit den Schultern. »Ihr wisst doch, wie es mit solchen Dingen steht ... und dennoch ist es merkwürdig. Barden spinnen über Jahrhunderte hinweg neue Geschichten, aber diese hier verändert sich nicht: Der letzte wahre König von Aglirta wird erwachen, wenn die Dwaerindim an genau dem richtigen Ort liegen.« »Ja«, griff Flaeros eifrig den Faden auf. »Die verzauberten Steine - sind das wirklich bloß Steine? Ich habe gehört, es handele sich um Edelsteine: Riesige Juwelen, die leicht die Handfläche eines Mannes bedecken.« Der alte Mann spreizte die Finger.
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»Vier alte Steine sagte der, welcher sie sah ... und weil es sich um einen Barden namens Elloch handelte, hätte er seine Geschichte ausgeschmückt, wenn ihm der Anblick auch nur den geringsten Spielraum gelassen hätte.« »Aber das war nichts als ein Traum«, wandte Flaeros ein. In den goldenen Augen flammte ein plötzliches Feuer auf. »Nichts als ein Traum? Jüngling, in was schwelgen Eurer Meinung nach Barden – und Zauberer – und Liebende von hoher oder auch niederer Geburt? Nach was, glaubt Ihr, streben und hungern Fürsten und Könige? Träume treiben uns alle an!« »Aber ich möchte die Wahrheit hören. Träume sind nicht die Wirklichkeit!« »Sie können aber der Kelch sein, welcher die Wahrheit enthält.« Der junge Delkamper runzelte angesichts dieser Worte die Stirn. Er wedelte mit einer Hand durch die Luft, als wolle er den Gedanken beiseite schieben, um später darüber nachzudenken, vielleicht jedoch auch niemals – und fragte aufgebracht: »Aber glaubt Ihr an all dies? An den Schlafenden König und Aglirta, welches dereinst wieder aufersteht?« Der ruhige Blick der goldenen Augen traf den seinen. »Ja. Das tue ich. Ich bezweifle zwar, dass ich lange genug leben werde, um Zeuge zu sein, und Spott erfüllt mich bei der Vorstellung, dass sein Aufstieg mit einem einzigen mächtigen Zauberschlag den Frieden und die Freigiebigkeit in diesem Land wiederherzustellen vermag – ich glaube, dass wir mit einem Kriegsführer rechnen müssen, welcher seine Klinge für lange Jahre wird schwingen müssen, um Aglirta wieder zusammenzuschmieden. Aber es gibt einen Schlafenden König, der darauf wartet, aufgeweckt zu werden. Irgendwo.« Der junge zukünftige Barde murrte: »Also muss ich derzeit nicht damit rechnen, außerhalb der Stadttore über ihn zu stolpern, oder?«
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Die Lippen des alten Mannes verzogen sich spöttisch. »Das ist wahr genug, junger Löwe. Vielleicht fallt Ihr über den Leichnam eines Räubers oder des Bauern, welchen er erstochen hat, aber ganz gewiss nicht über einen schnarchenden Herrscher.« Flaeros starrte ihn an, und seine Augen weiteten sich. »Was? So gefährlich ist das Land ohne König? Soll ich mir auf meinem Weg zurück zu meinem Zimmer besser ein Schwert kaufen?« Das Lächeln des Alten würde dünner. »Oh, hier in Sirlptar ist es ziemlich sicher. Und flussaufwärts lebt es sich auch nicht schlecht – sofern Ihr unter der festen Herrschaft des Panzerhandschuhes des einen oder anderen von seinen Launen beherrschten Fürsten oder Tersepts steht. Wölfe und noch Schlimmeres durchstreifen hingegen die gefallenen Baronien. Ich würde nicht ohne Schwert in die Wälder ziehen, nein – aber andererseits, wäre ich an Eurer Stelle, würde ich dort gar nicht erst hingehen. Ein Schwert hält keinen Pfeil auf.« Piaeros schüttelte den Kopf. »Ich hörte, Aglirta sei gleichermaßen bezaubernd wie gefährlich, und man müsse mit Bedacht vorgehen. Eure Worte weiten diesen ›Bedacht‹ dergestalt aus, dass man besser seinen bewaffneten Wirt, ergebene Zauberer und so fort mitbringen sollte!« Der alte Mann lächelte und legte einen abgewetzten Stiefel auf einen der Stühle. Er vollführte eine Bewegung mit den Armen, die lediglich danach aussah, als ob er seine alten Glieder reckte, aber noch bevor Flaeros auch nur einmal Luft holen konnte, erschien auch schon Maerschee, als sei sie durch einen Zauber aus dem eben noch leeren Boden hergerufen worden. Sie setzte funkelnde Pokale süß duftenden Weines vor ihnen ab und verschwand ohne einen Laut. »Dieser Tage geschieht viel Aufregendes in Aglirta«, entgegnete der alte Mann ruhig. »Damit meine ich den Niedergang des Goldenen Greifen – Fürst Schwarzgult mit Namen – und den Aufstieg
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seines alten Rivalen Silberbaum.« »Noch ein Fürst?« wagte Flaeros zu fragen, während er an seinem Pokal nippte. Dieser neue Wein schmeckte wie die saftigsten Beeren, die er je gegessen hatte, eingelegt in flüssiges Feuer. Der alte Mann nickte. »Es gibt ein aglirtanisches Sprichwort, das Ihr Euch einprägen solltet. Es besagt, man solle niemals einem Silberbaum trauen. Er plünderte in einem Handstreich und ohne viel Federlesens Schwarzgult aus und ernannte sich selbst zu einer Art Herrscher über beinahe das gesamte Land ohne König, wobei mindestens drei Fürsten kurz davor stehen, das Knie vor ihm zu beugen.« »Beinahe? Wird Silberbaum über das ganze Land herrschen?« Die Löwenmähne fegte durch die Luft, als der alte Mann den Kopf schüttelte. »Faerod Silberbaums Grausamkeit hat nie seine Voraussicht getrübt. Er hat sich Tausende von Männern zu Feinden gemacht, indem er sie zu Gesetzlosen erklärte. Da eine Belohnung auf ihre Köpfe ausgesetzt ist, bleibt ihnen keine andere Möglichkeit, als sich in die Wälder zurückzuziehen und Bauernhöfe zu überfallen, um zu überleben. Sobald die Kälte kommt, wird viel Blut auf dem Schnee dampfen.« »Ich wusste nicht, dass es in Aglirta Tausende von Kriegern gibt.« »Männer strömten aus ganz Asmarand herbei und unternahmen den vergeblichen Versuch, die Inseln von Ieirembor für Schwarzgult zu erobern«, erklärte die alte Stimme. »Nun kehren sie gewissermaßen in Rinnsalen nach Hause zurück – nur um festzustellen, dass ihre Bauernhäuser samt Hab und Gut verschwunden sind und Freunde von ehedem sich gegen sie gewandt haben. Ja, die Wölfe werden in diesem Winter viel zu tun haben.« Flaeros warf einen Blick quer durch die Schankstube. Durch ein
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diamantenförmiges Fenster konnte er die Schwärze der inzwischen angebrochenen Nacht erkennen. Hinter großen Häusern mit dicht gedrängten Menschen darinnen strömte endlos der Silberfluss. Irgendwo da draußen, nicht allzu weit entfernt, schlichen verzweifelte Männer mit gezückten Schwertern herum ... »Warum tut er so etwas?« fragte er plötzlich. »Weshalb sollte er sich so viele kampferprobte Krieger zu Feinden machen? Ist dieser Fürst Silberbaum von Sinnen?« Köpfe drehten sich zu ihnen um. Mit einer Art kaltem Schauder bemerkte Flaeros, dass seine Worte ein klein wenig lauter als angebracht aus seinem Mund gekommen waren. Der Alte lächelte jedoch unbesorgt. »Manche haben dies behauptet, aber meiner Ansicht nach steht es einem Mann besser an, den Fürsten als listig zu bezeichnen und ebenso zu handeln.« Als sich ihre Blicke über den erhobenen Pokalen trafen, fügte er hinzu: »Wenn ein Fürst ohne Vorwarnung damit anfinge, Ritter anzuwerben, würden sich Herrscher den Silberfluss hinauf und hinunter erschrocken erheben und seinem Beispiel folgen. Ein großes Blutvergießen läge in der Luft, und alle müssten eine gewaltige Menge an Geldern ausgeben – und Goldstücke sind etwas, von dem sich Fürsten nur äußerst ungern trennen.« Flaeros gab ein Schnauben von sich. Als ob überhaupt jemand gern dabei zusah, wie seine Geldstücke von ihm wegrollten ... »Und denkt einmal darüber nach«, fuhr der alte Mann fort, »wie es in der Welt ankäme, wenn Ihr laut die Gefahren hinaustrompetetet, welche einem weit entfernt lebenden Volk von einigen wenigen Angreifern drohten, und zudem Aufhebens um den Eifer machtet, mit welchem Ihr zu seiner Verteidigung eiltet. Und siehe da – bei einigen dieser Feinde handelt es sich gar um abtrünnige Zauberer, und Eure Reiterstreifen leiden unter deren
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dunklen Zauberbannen! Um die Sicherheit von Silberbaum zu gewährleisten, braucht Ihr frische Schwerter, deshalb ruft Ihr die Euch freundlich gesonnenen Fürsten dazu auf, Eurem Beispiel zu folgen, indem Ihr einen Blutpreis auf dieses dunklere Erbe von Schwarzgult aussetzt, welches über das schöne Aglirta gekommen ist wie Diebe in der Nacht. Niemand wird Euch widersprechen angesichts der Stärke, die Ihr gegen einen unsichtbaren Feind an den Tag legt. Jene, welche es wagen, in Euer Land einzudringen und Überfälle zu verüben, bekommen Eure Stärke zu spüren, wenden sich anderen Baronien zu, um sie zu belästigen, und schwächen derart Eure Feinde – und bringen den Tag näher heran, an welchem Ihr zuschlagen und sie niedermachen werdet, einen nach dem anderen. Listig dürfte doch wohl eher die angebrachte Bezeichnung sein.« Flaeros schaute verwundert aus dem Fenster in die Nacht hinaus, wo er inzwischen das Blitzen eines einzelnen Sterns erkennen konnte, und wandte ein: »Ihr sprecht über Ränke, welche Länder in einen Krieg treiben ohne Rücksicht auf das Blut, das dabei vergossen wird.« »Ach«, flüsterte der alte Mann über seinen Pokal hinweg, »an dieser Stelle kommt der Wahnsinn ins Spiel.« Auge in Auge saßen sich der alte und der junge Mann gegenüber und starrten sich an, bis Flaeros beinahe verzweifelt fragte: »Wie kommt es, dass Ihr so genau Bescheid wisst?« Alte Lippen verzogen sich in einem lautlosen Lachen. »Ich bin Inderos Sturmharfe.« Flaeros schnappte nach Luft, stieß seinen Stuhl zurück, als sei er einem heiß lodernden Feuer zu nahe gekommen, und glotzte den alten Mann an – welcher sein Glas zu einem beinahe spöttisch zu nennenden Salut erhob. Inderos Sturmharfe! Der allerberühmteste unter den Meistersingern!
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Der älteste und angesehenste Verseschmied von ganz Asmarand, der selten gesehene Meister der verzauberten Harfe, welcher es vermochte, die Töne eines Dutzends Instrumente aus der leeren Luft herbeizurufen, auf dass sie mit seiner Stimme tanzten. Der Mann, welcher die sinnliche Nuesressa von Teln umworben hatte, nur um sie als einen Drachen zu entlarven, welcher mit Hilfe von Gestaltwandlung Männer anlockte wie eine Spinne die Fliegen. Der Mann, welcher mit seinem Gesang Einhörner herbeigerufen und mit Dryaden in den Pilzhainen getanzt hatte, um ihre Geheimnisse kennen zu lernen. Flaeros wusste genau, dass er glotzte wie vom Blitz getroffen, und hätte gern etwas Kluges von sich gegeben. Aber der Versuch war zum Scheitern verurteilt. »I-i-ahhh ...« setzte er an. Sturmharfe bedeutete ihm mit einer Geste, er solle schweigen. »Gestammel ist nicht vonnöten, genauso wenig wie Schmeichelei, welche mir ständig im Überfluss zuteil wird«, sprach der alte Mann leichthin, neigte dann den Kopf und fragte: »Als ich zum ersten Mal mit Euch sprach, habt Ihr mich seltsam angeschaut. Habt Ihr mich schon zuvor gesehen?« Flaeros blinzelte. »Äh, nein«, antwortete er wahrheitsgemäß, »und das weiß ich auch ganz genau. Ich hörte von dem berühmten Sturmharfe, ja, aber … Barden kommen nicht sehr oft nach Ragalar, und angesehene Kaufleute bedenken ihre Söhne mit scheelen Blicken, sollten sich diese in Balladen üben, obwohl sie ein anständiges Gewerbe lernen könnten oder besser gesagt sollten.« Schweigend nickte der alte Mann. Irgendwie kündete sein Blick jetzt nicht mehr von Gefahr, als sei ein Dolch zurück in die Scheide gesteckt worden. Rein aus Gewohnheit rief Flaeros den Vodal an, auf dass dieser
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sein rechtes Auge beherrsche, wobei er darauf achtete, dass sein linkes den alten Mann mit den goldenen Augen weiter unverändert anblickte. Sein rechtes Auge sah einen Mann, der ganz anders ausschaute und ihn über den Rand seines Pokals hinweg anstarrte. Einen jüngeren Mann, wenn auch keinen Jüngling – einen Mann mit verwitterten Zügen, stechenden schwarzen Augen und der löwenartigen Gestalt und der Haltung eines Kriegsherrn, welcher eher in einen Kampf reitet, als träge auf dem Thron eines Fürsten zu sitzen. Einen Mann, der einen spannenlangen, tödlichen Feuerlanzenzauberstab auf Flaeros Delkampers Brust gerichtet hielt. Die Hand mit den haarigen Knöcheln, welche den Zauberstab so geduldig und stetig hielt, schmückte ein riesiger goldener Ring, und auf seinem mächtigen Kopf prangte ein Abzeichen, welches einen goldenen Greifen darstellte. Flaeros holte scharf Luft und bemühte sich mit aller Kraft darum, möglichst unschuldig zu wirken. Das wäre viel schwerer gewesen, wenn er gewusst hätte, was bei der Dreifaltigkeit hier vor sich ging – aber dank ebendieser drei Götter war in Darsar die Wahrheit schon immer ein seltenes Gut gewesen. »Also«, fragte er mit einer Leutseligkeit, die er keineswegs empfand, »was soll ein Mann, der auf Besuch in Sirlptar weilt, anfangen, damit er sich keinen Ärger einhandelt?« Inderos Sturmharfe kicherte. »Zu spät, mein Junge«, meinte er dann und winkte nach Maerschee um mehr Wein. Ohne den Vodal wies seine Hand weder einen Ring noch einen Zauberstab auf. »Ihr müsst Euch stattdessen beruhigen und anfangen, Spaß und Zerstreuung zu finden.«
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Die Herrin der Edelsteine C Des Nachts waren die Wasser des sich windenden Silberflusses eiskalt. Er rollte endlos und ohne Rast über Hawkrils Schultern, als dieser sich mit gleichmäßigen Schwimmzügen der soliden steinernen Dunkelheit der Burgwälle näherte, wobei er hoffte, dass das Klappern von Craers Zähnen dicht neben ihm keine Wache alarmieren würde – und dass sie nicht auf eine Wasserschlange trafen. Aber was bedeutete schon ein weiteres Paar hungriger Fänge? Da sie Ausgestoßene waren, hob jedermann die Hand gegen sie. Als eine kleine Welle eiskalten Wassers sein Gesicht überspülte, kam Hawkril wieder vor Augen, wie verzweifelt sie an einem bescheidenen Feuer hoch droben in den Wildfelsen gesessen und Pläne geschmiedet hatten. Auch damals war es kalt gewesen, und er hatte seinen kleingewachsenen, an eine Spinne erinnernden Kameraden mit der geschickten Zunge dazu aufgefordert, ihnen einen warmen Zufluchtsort vor dem Winterschnee zu finden. »Mit was?« hatte Craer geknurrt. »Mit Eurem Verstand, Langfinger«, hatte der Ritter beinahe heiter erwidert, wusste er doch ganz genau, dass keiner
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von ihnen auch nur ein einziges Geldstück besaß, um sich eine Axt zu kaufen, mit der sie Feuerholz hätten schlagen können. Craer Delnbein hatte ohne jeden Zweifel einen scharfen Verstand – kein Beschaffer der Armee hätte sich ohne einen solchen lange gehalten. Na ja, bei »Beschaffer« handelte es sich eigentlich um einen gut klingenden Titel für etwas, für das die meisten Leute eher den Begriff »Dieb« verwenden mochten. »Mir scheint, es gibt nur einen einzigen Ort, an dem die Menschen genug Münzen haben, um einige davon auf die hohe Kante zu legen, und der heißt Sirlptar«, hatte Craer überlegt. »Und dort befinden sich für meinen Geschmack viel zu viele neugierige Magier – und Silberbaum, der uns als seine Feinde betrachtet, die erschlagen werden müssen.« »Ich wusste, dass wir an der Kehle ausgerechnet des stärksten Feindes enden würden, welchen Ihr finden konntet«, hatte Hawkril geantwortet. »Wie bekommen wir heraus, wo Faerod sein Gold aufbewahrt? Seine Burg bedeckt eine ganze Insel! Und außerdem hat er auch noch diesen Zauberer, diesen Gadaster!« Craer hatte gelächelt und seinen Teil an Neuigkeiten enthüllt: »Ich hörte in Dranmaer, wie zwei Kaufleute damit prahlten, wie bedeutend sie seien und wie viel sie Silberbaum aus der Tasche ziehen würden. Einer der beiden sagte, der alte Mulkyn sei gestorben, während wir im Krieg kämpften. Sie fragten sich, wer ihn wohl ersetzen würde – und wenn man in Aglirta nichts über die möglichen Nachfolger gehört hat, dann kann auch niemand aus den Tälern außergewöhnlich mächtige Zauber angeheuert haben. Ich gehe davon aus,
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dass sie, was die Zauberkunst anbetrifft, schwächer sind als seinerzeit Gadaster ... und deshalb hoffentlich weniger flink in der Lage, zwei Kleiderdiebe zu finden und zu verfolgen.« »Kleiderdiebe?« hatte Hawkril so geduldig gefragt, wie sein Kamerad das von ihm erwartete. »Wer ist die reichste Frau in allen Fürstentümern?« hatte Craer aufgeregt gefragt. Hawkril hatte nicht lange nachgrübeln müssen. »Die Herrin der Edelsteine. Jedenfalls wenn man den Gerüchten Glauben schenkt.« »Genau«, hatte der Beschaffer bestätigt und betont lässig ein winziges Stück des gestohlenen Lammes gegessen, welches sie sich teilten. Der Ritter hatte die Spitze eines Stiefels recht unsanft in Craers Schenkel gebohrt, und der Beschaffer hatte hastig hinzugefügt: »Eine groß gewachsene und schöne Jungfer, jedenfalls behauptet man das, welche heutzutage niemand mehr zu Gesicht bekommt – nicht dass je allzu viele Leute eingeladen worden sind, die Burg Silberbaum zu betreten, oder das von sich aus wollten. Sie trägt mit Juwelen geschmückte Gewänder, darin sind sich alle einig, und sie trug sie ganz gewiss, als sie noch ein Irrwisch von einem kleinen Mädchen war. Ich habe sie damals gesehen ... samt ihren dreiundvierzig Wachen.« »Ist das etwa keine angenehme Erinnerung?« Craer hatte die Achseln gezuckt und sich Fleischsaft von den Fingerspitzen geleckte. »Ich sitze hier und rede mit Euch, und alle meine Glieder sind noch dran, oder vielleicht nicht?« Hawkril hatte ihn angegrinst.
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»Aber ich läge nicht ganz falsch, wenn ich annähme, dass sie an diesem Tag keiner Edelsteine verlustig ging?« Der Beschaffer hatte übertrieben aufgeseufzt und seinen Fingernägeln erklärt: »Ich dachte, wenn ich das Mädchen in Ruhe ließe, würde sie viel größer werden ... und ihre Gewänder mit ihr, so dass ich eines Tages mehr und noch dazu viel größere Juwelen einheimsen könnte ...« »Wir sind aufgebrochen, die Inseln zu erobern«, hatte Hawkril nachdenklich gebrummt, »und jetzt reden wir darüber, wie man die Kleider einer Dame stiehlt.« »Es geht hier aber nicht um irgendeine Dame«, rief ihm Craer ins Gedächtnis. »Und ob sie nun ein Einsiedlerleben führt oder nicht, sie kann kaum unschuldig oder gar nett sein, handelt es sich doch immerhin um Fürst Faerods Tochter! Die Herrin der Juwelen, berühmt für ihr Leben in Müßiggang und Luxus. Sie besitzt vielleicht vierzig mit Edelsteinen besetzte Gewänder – und nur einen Körper, sie zu tragen. Vielleicht hat sie auch Schränke oder ganze Ankleidezimmer voller Kleider, derer sie überdrüssig ist und die sie nicht mehr tragen mag. Wir tun ihr einen Gefallen, wenn wir ihr eines wegnehmen – und eines, nur ein einziges, sollte für fünf oder sechs Jahreszeiten mit genug Wein zum Herunterkippen ausreichen sowie für die Suche nach der einen richtigen Frau in Sirlptar oder sogar dem sagenumwobenen Renschoun jenseits des Verwunschenen Meeres.« Hawkril hatte die Achseln gezuckt. Craer hatte es schon wieder getan. »Nun, wenn Ihr das so seht ...« meinte er langsam. »Ja, wir können bei dem Versuch natürlich schon ums Leben kommen«, hatte ihm der Beschaffer ins Ohr gezischt, »a-
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ber warum sollten wir nicht großartig und kämpfend den Versuch unternehmen, statt in kalten Winternächten zu zittern und zu hungern und auf die Wölfe zu warten, die all dem ein Ende bereiten würden?« Wieder schwappte ihm Wasser ins Gesicht und riss Hawkril aus seinen Erinnerungen an warmes, saftiges Lammfleisch. Hätte er sich überhaupt zu sprechen getraut, dann hätte er den an seiner Seite schwimmenden Beschaffer danach gefragt, wie dieser es rechtfertigte, ein Gewand zu stehlen – das Gewand einer Dame, zum Donnerwetter! Aber sie befanden sich jetzt schon dicht unter den grimmigen grauen Mauern, und er wagte es nicht, auch nur ein Wort zu sagen. Die eisige Brise, die gespenstisch vorbeistrich, mochte durchaus die Ohren eines lauschenden Zauberers mit sich tragen. Eines Zauberers, dessen Langeweile sich sehr schnell verflüchtigen und der Schadenfreude darüber weichen würde, zwei Gesetzlose abzuschlachten, die es wagten, auf die Insel vorzudringen, welche die Burg Silberbaum war. Warum, ach warum nur hatte er es Langfinger erlaubt, ihn in einen solchen Wahnsinn hineinzuziehen? Sie hatten beschlossen einzudringen, ein Gewand zu stehlen oder was auch sonst immer einen fetten Gewinn versprach, sofern sie es ohne große Mühe tragen konnten, und dann wieder zu verschwinden, ohne länger zu verweilen, die Burg zu erkunden oder der Gier anheimzufallen. Die Burg Silberbaum bedeckte die gesamte Insel im Silberfluss ... zumindest umschlossen ihre Mauern das ganze Eiland. Mauern, welche nun hoch über ihnen in den Himmel ragten wie eine schwarze Hand, die sich gegen sie erhob – ein schwarzer Panzerhandschuh, der nur darauf wartete, sich zu-
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sammenzuballen, niederzufahren und alles zu zerquetschen, was er fassen konnte. Es war allseits bekannt, dass sich im Herzen der Insel ein mit Bäumen bestandener Garten befand, irgendwo zwischen dem flussabwärts gelegenen Palast, in welchem die Prinzessin Embra Silberbaum lebte – die groß gewachsene, wunderschöne, Herrin der Edelsteine, die niemand je zu Gesicht bekam –, und einem Hafen sowie einer Festung, der eigentlichen Burg Silberbaum, am »Bug« oder östlichen Ende der Insel. Mauern so steil und brüchig wie die einer jeden kühnen Burg verbanden die Anlagen und ragten wie ein riesiger Schild, welcher unerwünschte Eindringlinge abhielt, aus den felsigen Wurzeln der Insel. Zwei verzweifelte Gesetzlose aus den traurigen Überresten von Ezendor Schwarzgults Armee zum Beispiel. Das Abzeichen mit dem Goldenen Greifen, welches sie so stolz getragen hatten, bedeutete jetzt ihren Tod – und einen ruchlosen Mann irgendwo auf der vor ihnen liegenden Insel schienen nur noch einige wenige kühne Schlachten davon zu trennen, das Reich für sich zu beanspruchen, welches Schwarzgult nicht hatte erobern können, wobei sich die Baronien von Brostos, Maerlin und Ornentar seinen Erlassen und Wünschen beugten. Eine größere Schlange, als sie im Silberfluss schwimmen mochte. Das Wasser schlug wieder Wellen, und der größte Teil von Hawkrils lautem, wütendem Knurren wurde hinweggetragen. Craer hatte die Führung übernommen und war in dem Moment vom Strand aus aufgebrochen, als die Nacht zur
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Gänze hereingebrochen war und die Flussnebel sich erhoben hatten. Hoffentlich würde dies ausreichen, um sie vor jedem möglichen Beobachter zu verbergen, welcher auf den dräuenden Zinnen hocken mochte. Ihre einzige Chance, die Insel zu erreichen, ohne zu ertrinken, bestand darin, den Hafen als Ziel anzupeilen und sich von der Flussströmung an der ganzen befestigten Insel entlangtragen zu lassen bis zu dem groben Felsvorsprung in den ansonsten glatten Burgmauern, wo auf den Befehl Faerod Silberbaums hin eine Landungsbrücke weggerissen worden war, um unerwünschte Besucher von seiner Tochter fern zu halten. Sie würden die Burg nur dann lebendig erreichen, wenn es ihnen möglich war, dorthin zu gelangen, bevor der Mond aufging und den Fluss in ein Band sich kräuselnden Silbers verwandelte. Selbst ein vor Müdigkeit gähnender Wächter konnte kaum zwei Köpfe übersehen, die sich gleichmäßig auf die Burg zubewegten. Langsam, alter Mond, langsam ... dieses eine Mal ... »Ganz nahe jetzt«, hauchte Craer so leise, dass Hawkril die Worte nur so eben verstand. Als ihre Fingerspitzen beinahe gleichzeitig über nassen, schleimigen Stein fuhren, fügte der Beschaffer fast lautlos hinzu: »Scheint, dass wir die ganze Nacht in diesem verfluchten Fluss zugebracht haben!« Er zuckte wie ein sich schnell dahinwindender Aal, als er sich auf die zerklüftete Felsoberfläche hochstemmte, ein dunkel glitzernder Schatten vor Hawkrils Nase. Sie hatten alle beide Tragesäcke mitgebracht und die Waffen, welche sie mitführten, in mit Gänsefett geschmierten Scheiden festgezurrt ... und alle beiden froren, waren nass und zweifelten in-
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zwischen an ihrem kühnen – ach, bei der Dreifaltigkeit, in Wahrheit närrischen – Plan. »Fertig«? wisperte Craer in Hawkrils Ohr, als sich der Ritter auf einen Felsensims neben seinem Kameraden hochzog und sich einen Stiefel vom Fuß zerrte, um entschieden zu viel Flusswasser auszukippen. »Nein, aber wenn wir einem Wachposten begegnen, kann ich ihn immer noch ersäufen«, schimpfte der Schwertmeister und zog sich bedächtig den Stiefel wieder an. Beide Männer trugen ihre leichte lederne Kampfausrüstung ohne die Polster, welche sie in einer Schlacht getragen hätten, denn diese hätten voll gesogen jede Kletterei unmöglich gemacht. Wenigstens waren die Mauern hier rau und leicht zu erklimmen. Zweifellos hatten die Herren von Silberbaum im Lauf der Jahrhunderte kaum einen Gedanken an die stetig abnehmende Zahl der Diebe verschwendet, welche töricht genug waren, den Versuch zu unternehmen, bei Fürsten einzudringen, von denen einer wie der andere für Grausamkeit, Sklavenhandel und die Vorliebe fürs Foltern berüchtigt war. Es hatte den Anschein, dass der letzte Spross der Linie, Fürst Faerod, auch nicht viel wachsamer war. »So, das war’s, jetzt ist er verloren, der Narr«, sagte Craer mit leisem Spott zu sich selbst, während er sich die Fingerspitzen an den Steinmauern abwischte, bis er sie für trocken genug hielt, um nach oben zu greifen und nach dem ersten Halt zu tasten. Der Palast befand sich in Richtung der anderen Seite der Insel, und nicht weit von seinen Mauern entfernt ankerte ein Schiff, den örtlichen Gerüchten zufolge der Standort rastloser Silberbaum-Soldaten, die dort stationiert worden waren, um
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alle feindlichen Versuche zu unterbinden, sich der Fähre des Barons zu bedienen. Hoffentlich bewachte nichts und niemand die Mauern hier, wo der Landesteg und ein Pavillon niedergerissen worden waren und zwei verzweifelte Männer sich nun nach oben kämpften. »Verzweifelt oder einfach nur närrisch«, grunzte Craer. Er bemerkte nicht, dass er laut gesprochen hatte, bis er von unten Hawkrils Antwort vernahm. »Ihr müsst das auseinander halten, Langfinger: Ihr seid verzweifelt, ich hingegen bin närrisch.« Craer grinste in die Dunkelheit und kletterte weiter, ohne zu antworten. Der Weg nach oben war einfach – zu einfach, Schrien ihm all seine alterprobten Instinkte zu – und sie waren beinahe schon an den mit Schießscharten versehenen Zinnen angelangt, welche die Oberkante der Mauer schmückten. Er hatte keinen Hinweis bemerkt, keinen Laut gehört, der auf Wachen hätte schließen lassen, aber ... Darum bemüht, kein Geräusch zu erzeugen und selbst das leiseste Zischen zu hören, welches eine durch die Luft geschwungene Waffe erzeugen mochte, hievte sich der Beschaffer auf den glatten, mit Vogelkot – ein erfreuliches Anzeichen für Vernachlässigung – bedeckten Stein zwischen zwei Zinnen. Die Mauer wirkte dick und wies hier oben nicht das geringste Anzeichen von Verwitterung auf. Nicht das allerkleinste Anzeichen ... Die Haare auf seinem Nacken stellten sich auf. Craer schnürte stirnrunzelnd zwei seiner Dolche los. Dann schluckte er und kroch nach vorn, um Platz für Hawkril zu machen. Der Ritter klopfte ihm bereits ungeduldig aufs Bein, weil er
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der Gefahr eines tödlichen Sturzes in den kalten, unten dräuenden Fluss entrinnen wollte. Ein einfacher Gang ohne Geländer verlief in beiden Richtungen an der Innenseite der Mauern entlang, so weit Craers Blick reichte. Er entdeckte keine Treppe, keinen Turm und keine Plattform, die seinen Verlauf unterbrochen hätte. Alles schien verlassen, und direkt vor ihnen erkannte er dichte Reihen schweigender Bäume. Der Gang befand sich etwa drei Mannslängen hoch über dem Boden und schien weder Fallen noch Fallgruben aufzuweisen. Aber der größte Teil verschwand ohnehin in der Dunkelheit. Manche Zauber geben ein schwaches, hohes Singen von sich, ein endloses Pfeifen erweckter Magie ... aber hier gab es keinen solchen Ton. Man hatte die Bäume beschnitten und vorwitzige Äste entfernt, welche sonst über den Gang geragt hätten. Craer schaute mit gerunzelter Stirn in beide Richtungen der verlassenen Mauerkurve, entdeckte aber nichts, was nicht in Ordnung gewesen wäre. Das Keuchen des hinter ihm stehenden Hawkril spürte er mehr auf seiner Schulter als dass er es hörte. Etwas stimmte nicht ... Er langte nach hinten und klopfte wohl überlegt zweimal auf den Arm des Ritters – das Schwarzguitische Signal, abzuwarten und ruhig zu bleiben, bis ein anders lautender Befehl erfolgte –, und bewegte sich dann vorwärts, wobei er gebückt blieb und sich Stück für Stück äußerst vorsichtig weiterarbeitete, da er mit einem Stolperdraht rechnete, der den Tod aus den dunklen, dichten Blättern hervorlocken mochte. Aber da war nichts. Er nestelte die Schnüre auf, welche sein hauchdünnes, rasier-messerscharfes Kurzschwert sicherten. Craer zog die
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Waffe hervor und schwang sie durch die Luft. Die Klinge war in stumpfem Schwarz gearbeitet, aber die Schmiere, die ein Rosten verhindern sollte, glitzerte im ersten Licht des aufgehenden Mondes. Nichts geschah, auch dann nicht, als er den Boden des Ganges berührte und fest drückte. Dann seufzte er, zuckte die Achseln und machte einen Schritt nach vorn und nach unten, wobei er im gleichen Augenblick wusste, dass er einen Fehler gemacht hatte. Das war der Fall, aber Hawkril hatte sich ihm angeschlossen, noch bevor etwas Craers Bein berührte. Er zuckte davon weg und fühlte, wie Leder zerriss. Als er nach unten blickte, sah er einen in etwa menschlich aussehenden Arm, welcher aus den Steinen gesprossen war und nach ihm gegriffen hatte. Ein zweiter langte nach Hawkril – und dann ein dritter! »Aufgepasst!« schnarrte er und stieß den Ritter von sich weg. Eine Gänsehaut überlief ihn, als er einen Wald von Fingerspitzen aus den Steinen wachsen sah. »Springt!« zischte er. »Wir müssen weg, bevor –« Von allen Seiten langten grausame Steinfinger nach ihnen. »Verdammt«, fluchte Hawkril und legte sein ganzes Körpergewicht in einen Streich seines Kriegsschwertes. Craer hörte, wie Stein zerbarst und in Splittern von den Zinnen rings um den Schwertmeister regnete, und einen Augenblick später beugte er sich vor und drosch mit dem Knauf seines eigenen Schwertes auf die steinernen Hände ein, welche sich mit alles zerquetschender Kraft um seine Fußknöchel schlössen. »Runter von der Mauer«, keuchte er in Hawkrils Richtung, wobei er die Füße verdrehte, aufstampfte und die nach
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ihm langenden Steinfinger wegtrat. Er hörte den großen Ritter vor Anstrengung grunzen, und irgendetwas traf sein Bein mit betäubender Wucht. Craer fühlte, wie es in seinem Stiefel feucht wurde – dann war er plötzlich frei. Er schwang sich ins Nichts, zog die Knie an und hoffte, in etwas zu landen, was Erde war und nicht etwa Stachelspitzen oder die wartenden Kiefer eines Wächterungeheuers. Seine Absätze trafen auf weiche Erde und Blätter, welche unter ihm zerrissen – und dann rollte er sich verzweifelt zur Seite, um einem aus dem Gleichgewicht geratenen Ritter auszuweichen, der mit durch die Luft dreschenden Armen aus der Nacht beinahe genau auf ihn stürzte. Der Beschaffer spürte einen weiteren Schlag auf sein Bein ... und dann herrschte Stille. Er holte tief Luft, sprang auf die Füße und zerrte an Hawkril. »Hier mag es einen Warnzauber geben! Kommt!« Der Ritter antwortete mit einem Grunzen und einem gleich darauf folgenden Fluch. Als er beinahe widerstrebend herumrollte, um wieder auf die Füße zu kommen, fielen ihm die Überreste einer dornigen, mit Beeren bedeckten Pflanze von Rücken und Schultern. Hawkril blickte nach unten und vergewisserte sich, dass er, was auch immer sich dort unten befinden mochte, sorgfältig zertreten hatte, und stieg ein wenig steif aus den zerstampften Überresten auf das, was ein moosbewachsener Pfad sein musste. Der vor ihm liegende Park erschien ihm wie ein Irrgarten aus von Mondlicht versilberten Baumstümpfen, sich windenden Pfaden, Beeten voller nur halb erkennbaren, im Schatten liegenden Blumen und Sträuchern. Was sie vor sich sahen,
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schien eine Abfolge sanfter Hügel zu sein. Craer hatte schon ein paar Schritte den Gartenweg hinunter gemacht, wobei er gebückt einherschlich, aufmerksam um sich spähte und ein Paar weiche (und triemasse) Lederhandschuhe überzog. »Man sagt, der Fürst gehe hier auf Hirschjagd«, murmelte er, »und seine Tochter wandele müßig im Blumengarten einher, der sich vielleicht in dieser Richtung befindet.« Ohne ein weiteres Wort wandte sich der Beschaffer in die angegebene Richtung und lief in einer Art gebücktem Lauf dahin. Er schien zu hinken. Ohne auf seine eigenen Schmerzen zu achten, stemmte Hawkril seine Absätze in den Boden, setzte seinem Kameraden nach und schimpfte leise: »Sollte sie eben jetzt in einem Garten herumwandern, so ganz im Dunkeln, dann bestimmt nicht, um hier ihre Zeit zu vertändeln ... es sei denn, sie ist einen guten Teil weniger bei Sinnen als die meisten von uns.« Keiner der beiden Eindringlinge bemerkte, dass die Mauer hinter ihnen Wellen schlug, sich ausbeulte und für aller Augen so aussah, als bestehe sie aus kräftig aufgerührtem Pudding und nicht etwa aus solidem Stein. Plötzlich kippte eine der Zinnen vornüber, schien durch den Gang hindurch nach unten in Richtung des Bodens zu fließen statt donnernd hinunterzukrachen. Als sie das zerstörte Blumenbeet erreichte, in welchem gerade erst zwei ausgewachsene Männer gelandet waren, hielt sie an, und ihre Form wandelte sich kaum merklich. Als sie sich wieder bewegte, schritt sie aus wie ein Mann – wie ein schwerfälliger Ritter in voller Rüstung mit geschlossenem Visier, einer steinernen, zum Töten bereiten Klinge und einem die freie Hand bede-
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ckenden schweren, mit Stacheln besetzten Panzerhandschuh. Die Gestalt bewegte sich ungelenk vorwärts, als sei sie sich ihrer Umgebung nicht ganz bewusst; sie folgte den Eindringlingen mit erhobenem, zum Zuschlagen bereitem Schwert. Hawkril reckte den Kopf nach vorn und lauschte angestrengt. Von weiter hinten auf dem Weg, den sie gekommen waren, drangen die schwachen Geräusche zur Seite gefegten Laubes an sein Ohr. Er runzelte die Stirn. »Hunde?« fragte er verwirrt. »Nein, das ist etwas anderes, denn es bewegt sich langsamer vorwärts ...« »Nun kommt schon«, drängte Craer und verfiel in einen schnelleren Trab. Er hinkte sichtbar, und sein Lächeln wirkte angespannt und nicht ganz echt. »Ich bezweifle nicht, dass wir den Verursacher schnell genug kennen lernen werden.« Nach ein paar Schritten wechselte er die Richtung. »Das da sind sorgfältig angelegte Rabatten!« »Woher kommt denn diese plötzliche Leidenschaft für Blumen?« knurrte Hawkril. »Es ist ein bisschen zu dunkel, um Blüten zu bewundern.« Der Beschaffer bedachte ihn mit einem mitleidigen Blick, als habe er einen bedauernswerten Dummkopf vor sich, und erklärte: »Wenn die Prinzessin Embra von Zeit zu Zeit der Muße frönt und in ihrem Blumengarten umherspaziert, dann sind besagte Gärten vielleicht frei von Wächtern oder irgendwelchen Ungeheuern. Ist das durch den dicken Helm gedrungen, Laternenpfahl?« Das Rascheln und Krachen kam ständig näher. »Kommt gerade an!« teilte Hawkril seinem Waffenbruder mit und schloss sich dem keuchenden Beschaffer in einem
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letzten Spurt hin zu Blumen und offenen, von Mondlicht beschienenen Stellen an. Der Mond schien inzwischen sehr hell; die freie Hache vor ihnen schimmerte wie eine Reihe im Kerzenlicht blitzender Klingen im Laden eines Schwertmachers. Vor diesem Glanz erhob sich eine dunkle Masse: Ein wütender Wächterlindwurm mit hoch aufragendem, Furcht erregendem Schnabel starrte sie aus glitzernden Augen an. »Verdammt!« keuchte Hawkril und kam zum ersten Mal außer Atem. »Was ist das, mein lieber Craer? Ist die Nacht unseres Verhängnisses angebrochen?« »Wie bitte?« »Schaut doch! Der Lindwurm!« »Eine Statue, Klotzkopf ... schaut doch richtig hin. Dort drüben steht eine andere, dort, und –« »An diesem Ort handelt es sich vielleicht um echte Lindwürmer, die bis zu dem Augenblick in Stauen verzaubert sind, in welchem wir versuchen, an ihnen vorbeizukommen«, beschwerte sich Hawkril. »Wollt Ihr ein Abenteurer sein, Kumpel, und dieses Schwert benutzen?« zog Craer ihn auf. Der Ritter bemerkte jedoch, dass der Beschaffer im Laufen seinen Würgedraht aus einem seiner Handschuhe zog und in bereithielt – und dass die Spitze seines kurzen Schwertes sich nicht einmal in die Richtung der Scheide neigte. Die Gartenlichtungen sahen im Mondlicht wunderschön aus; es war ein Jammer, dass irgendetwas hinter ihnen herjagte und sie es nicht wagen konnten, auch nur einen Blick in all die Lauben zu werfen, an denen sie vorbeieilten. Vor ihnen beschien das silberne Mondlicht Steinbalkone, und Fenstern warfen seinen Schein zurück ...
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Der Anblick wurde einen Herzschlag später von etwas Riesigem, Behaartem versperrt, das lautlos und mit weit aufgerissenen Kiefern und glänzenden Zähnen durch die Luft sprang. »Bei den Hörnern!« fluchte Hawkril und schwang sein Schwert in Richtung des Wesens, als es an ihnen vorbeistürzte. »Das ist ein Wolf!« Sein Stahl traf die springende Gestalt und schlitzte ihr mit einem ratternden Geräusch die Rippen auf, so dass das Blut nur so spritzte und ihm das Schwert fast aus der Faust gerissen worden wäre. Der Wolf gab kein Geräusch von sich, weder aus Wut noch vor Schmerz. Man hörte nur das Zuschnappen seiner Kiefer, als er gegen Craer prallte, ihn rückwärts zu Boden stieß und wütend nach seinem Gesicht biss. Der Ritter schluckte einen Fluch herunter und hackte nach dem Kopf der Bestie. Die Pfoten des Wolfes hatten sich in Craers Würgedraht verfangen, welchen der Beschaffer hastig zwischen seinen beiden Händen ausgespannt hatte, um den Weg zu seiner Kehle zu versperren. Das Tier schien nicht weiter auf die lange, gezackte Wunde zu achten, die Hawkrils Schwert in seine Seite gehauen hatte – ein Riss, aus welchem große Mengen einer dunklen Flüssigkeit quollen –, aber es konnte den Schlag nicht missachten, der ihm beinahe den Kopf vom Körper trennte. Unter all dem Blut gab Craer gurgelnde Würgelaute von sich, und Hawkril beugte sich vor, um den Wolf von seinem Kameraden zu zerren. Der plötzliche Schlag gegen seine Rippen trieb ihm die
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Luft aus der Lunge. Gegen seinen Willen schrie Hawkril auf, während er zu Boden ging und sein Schwert durch die Luft schwang, ohne jedoch etwas zu treffen. Ein zweiter Wolf war aufgetaucht. Blut rann aus dem Maul und der aufgeschlitzten Kehle der ersten Bestie, welche auf Craer lag und den kleinen Mann beinahe in dem heißen, nassen, blendenden Strom ertränkte. Craer spuckte, hustete und versuchte weiterzuatmen, während er mit einem Ellbogen gegen die schlaffen Kiefer presste, um sich von dem Gewicht des Wolfes zu befreien. Es musste sich um ein Paar der legendären Rauchwölfe handeln, die immer schwiegen, wenn sie töteten ... zumindest hoffte er, dass sie es hier nur mit zweien dieser Biester zu tun hatten. Hawkril keuchte vor Schmerz, allerdings vermochte Craer ihn unter dem fürchterlichen Geräusch zubeißender Kiefer kaum zu hören. Craer kämpfte verzweifelt darum, sich von dem feuchten, toten Gewicht zu befreien, welches auf ihm lastete. Er musste so schnell wie möglich zu seinem Freund gelangen. Dann war es geschafft! Er sprang auf die Füße, taumelte und stürzte auf die Knie nieder, da der Boden erbebte und sich etwas Großes, Dunkles vor das Mondlicht schob. Es ragte über den miteinander kämpfenden Gestalten Hawkrils und des Wolfes auf, die jetzt, Tritte austeilend, hin und her rollten. Ein Schwert aus massivem Stein fuhr nach oben – bei der Dreifaltigkeit, ein Steinritter! – und dann nach unten, wobei es Funken auf Steinornamenten schlug, welche die Blumenbeete schmückten. Hawkril befand sich nur eine Handbreit entfernt von dem niederfahrenden Schwert, aber der Wolf, welcher ihn ange-
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griffen hatte, sackte mit wild um sich tretenden Läufen auf den Boden. Die Klinge hatte ihn säuberlich in zwei Hälften zerteilt. Craer war schon aufgesprungen und tauchte unter dem sich wieder erhebenden Steinschwert durch, um an seinem stöhnenden Freund zu zerren. »Hoch! Hoch und weggerannt!« keuchte. »Rennt, Ihr dickköpfiger Schwertschwinger!« Hawkril kaum taumelnd auf die Füße, gab eine Art Schnauben von sich, stolperte aus dem Blumenbeet und lief wankend und schwerfällig davon, wobei ihn der Beschaffer am Ellbogen ergriff und weiterzerrte. »Los doch, los, los, los! Schnell, los doch.« Craer starrte auf den sich nähernden Steinwächter zurück und sah, dass er ihnen mit erhobenem Schwert und starr blickenden, leeren Steinaugen folgte. Falls er sich hinsichtlich der Magie irrte, welche das steinerne Ungetüm bewegte, so würden das Leben und die Laufbahn von Craer Delnbein und Hawkril Anharu nur allzu bald ein Ende finden. Der offene, vom Mondlicht erhellte Teil des Gartens lag dicht vor ihnen, also würde er in Kürze Gewissheit erlangen. Oder in Kürze sterben. Der Boden erbebte unter ihren verzweifelt vorwärts stürmenden Füßen; der Steinritter war ihnen schon wieder dicht auf den Fersen. Aber jetzt nur noch einen oder zwei Sprünge getan, und dann ... Dann gelangten sie keuchend ins Freie. Die zerrissenen Blätter des Busches, durch welchen sie zuletzt gebrochen waren, wirbelten um sie herum. Vor ihnen plätscherte leise ein
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Springbrunnen. Craer packte Hawkril fluchend am Arm, als der Ritter seitwärts weitertaumeln wollte, und riskierte einen Blick über die Schulter – gerade in dem Moment, als der Steinritter einen Schritt in freies Gelände tat. Er fror nicht ein, so wie Craer das gehofft hatte. Bald würden sie dem Palast so nahe sein, dass selbst die verschlafenste Serviermagd den schwerfälligen Tritt des Steinmannes vernehmen würde. Dann würde es tatsächlich keine Rolle mehr spielen, ob nun das riesige Steinschwert sie in Stücke hackte – oder der Tod sie in Form von Wächterschwertern oder Zauberbannen ereilte. Tot war tot. »Und nicht einmal ein einziges Gewand zum Vorzeigen«, murmelte er, als der Steinriese über ihnen aufragte und das Schwert gen Himmel hob, ohne auf die brechenden, wild tanzenden Zweige zu achten. »Hawkril«, zischte er, »dort hinten steht eine Statue. Lauft auf ihre andere Seite – und benutzt sie als Schild!« Der Ritter wandte ihm ein vor Schmerz verzerrtes Gesicht zu und nickte. »Und Ihr?« »Ich werde mich mit etwas anderem Klugen beschäftigen«, erwiderte Craer und wurde von einem geisterhaften Lächeln belohnt. Das Lächeln verschwand, als das donnernde Niederkrachen der riesigen Klinge Stein über Stein kreischen ließ. Ein Stück Einfassung, vielleicht von einem Grabstein, verwandelte sich in einen vom Boden aufspritzenden Hagel von Steinsplittern. Steinsplitter, welche die Absätze des davonhastenden Ritters trafen, ihn zu einem wankenden Lauf anspornten und einen sich verzweifelt zu Boden werfenden Beschaffer beina-
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he enthauptet hätten. Craer rollte sich eilig zur Seite, wobei er Dreck und sorgfältig geschnittenes Gras ausspuckte, kam auf die Füße und sah, dass ihm der Steinritter geduldig und unaufhaltsam dicht auf den Fersen nachfolgte. Er führte einen kleinen Tanz auf und bewegte sich dabei weg von der Statue, die er vorhin entdeckt hatte – irgendein Fürst Silberbaum, der mit seinem Schwert in Richtung der Sterne wedelte, um den Hengst, auf welchem er saß, zum Aufbäumen anzutreiben; eine Pose, welche, wie es aussah, alle unter Durchfall leidenden Vögel der Insel ungeheuer beeindruckte – um sicherzustellen, dass der Steinritter ihm und nicht Hawkril folgte. Das steinerne Gesicht schaute ihn nicht an, und die Augen blieben leer, aber die Schultern drehten sich in Richtung des Beschaffers, der es so sehr hasste, Langfinger genannt zu werden, und das Schwert erhob sich erneut zu einem Schlag. Es handelte sich also um einen Suchzauber, nicht um einen in einem Gemach des Palastes wach liegenden Zauberer, welcher den Steinriesen lenkte und ihn einmal hier, einmal da zuschlagen ließ ... wenigstens dafür sei den drei Göttern gedankt! Craer schnappte nach Luft, beobachtete, wie der Steinritter sich drohend über ihm aufbaute, und wagte dann einen weiteren Blick in Richtung der Statue. Ja, sie war groß genug, und Hawkril war sicher in ihren Schatten gelangt, wo er laut genug schnaufte, um hier drüben gehört zu werden. Jetzt brauchten sie mehr als nur ein Quäntchen Glück – aber hauchdünne Chancen waren das Einzige, was ihnen im Augenblick blieb ... Und überhaupt alles, was sich ihnen seit
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einer ganzen Weile bot. »Nun mach schon«, murmelte er, »schlag den Helden in Stücke.« Die Klinge des Steinritters erhob sich wieder und fuhr nach unten. Ihr Hieb musste nicht schnell sein, solange das Opfer nicht fliehen konnte. Ein einziger Schlag dieses Steinschwertes – so groß und so schwer wie ein Pferd – würde sogar jemanden so Großen wie Hawkril töten. Und er würde Craer Delnbein zu blutigem Brei zermalmen, den es nicht zu bestatten lohnte. Stein sauste auf ihn nieder, und Craer sprang um sein Leben. Dumpf dröhnte der Boden hinter ihm – sehr dicht hinter ihm –, und dann flitzte er durch das Mondlicht und raste über das ordentlich geschnittene Gras, als seien ihm schon wieder Wölfe auf den Fersen. Vielleicht gab es hier ja tatsächlich noch welche, wenn auch auf weiter entfernten Lichtungen des Gartens, aber darüber konnte er sich später noch kümmern. Im Moment gab es an Ort und Stelle Sorgen genug, die ihn auf Trab hielten. Der Beschaffer kletterte an der Statue hoch, wobei seine vom Blut schlüpfrigen Hände oft genug abrutschten, und dankte der Dreifaltigkeit für Steinmetze, welche geschwungene Schwänze und Sättel mit hoher Lehne geschaffen hatten, an denen verzweifelte Kletterer Halt für ihre Füße fanden. Als er, ein Vogelnest aus dem steinernen Pferdemaul tretend, den Kopf des Rosses erreicht hatte, blickte er nach unten und sah seinen Freund, der zu ihm hochstarrte. Und dann sah er den Steinritter, welcher sich gerade über ihn hermachen wollte. Das Steinschwert schwang in die Höhe, und der Kopf des
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Steinritters kippte leicht nach hinten, als könnten die blicklosen Augen den verzweifelten Mann sehen. Wenn Craer nicht bald eine Möglichkeit einfiel, wie er dem Ungetüm den Kopf abschlagen konnte, dann war es vielleicht bald mit ihnen vorbei – und falls es Craer nicht irgendwie gelang, von der Statue wegzukommen. Er stand ganz oben auf dem aus Stein gehauenen Sattel und wartete angespannt ab. Der Beschaffer würde nur eine Gelegenheit zum Springen bekommen. Das Schwert schwang in einem Hieb herum, welcher von der Waffe des Steinreiters abprallte, wodurch der Ritter leicht zur Seite gedreht wurde und Craer um einige Zoll verfehlte. Der Beschaffer ließ das Steinschwert an sich vorbeisausen, sprang beinahe leichtfüßig auf die Schulter des Ritters und klammerte sich an dessen Kopf fest. Nein, er fand weder einen Saum noch eine weiche, schwache Stelle. Es hätte sich um einen richtigen Mann handeln können, so lebendig fühlte sich das Steinwesen an. Lebendig und so massiv wie Stein, und Craer würde hier und jetzt sterben, denn das Steinschwert schwang wieder zurück und drohte, ihn im nächsten Augenblick vom Kopf des Ritters zu fegen. Im letzten Moment schwang sich Craer auf die andere Seite und ließ sich fallen, wobei er sich nur mit den Fingerspitzen festklammerte. Der Ritter schlug sich selbst hart auf den Kopf, und Craers Welt erbebte in ihren Angeln. Kurze Blitze knisterten durch seine Fingerspitzen und rasten über den gekurvten Stein, und der Beschaffer fiel nach unten. Schmerz durchschoss ihn so rasch, dass ihm nicht einmal die Zeit zum Schreien blieb. Dann prallte er auch schon auf feuchtes Gras, während hoch über ihm die den Mond
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verdeckende Masse des Steinritters hin und her schwankte, kippte und dunkel und unausweichlich auf ihn zu stürzte. Craer wusste, dass er nicht entkommen konnte. Ein starker Arm ergriff ihn am Ellbogen und schleuderte ihn in ein Blumenbeet. »Könnt Ihr Euch nicht raushal...« krächzte Craer, und dann setzte ein tiefes, den Boden erschütterndes Krachen ein, das alles übertönte, was der Beschaffer noch hatte sagen wollen. Der Fall des Steinritters schleuderte den hilflosen Hawkril durch die Luft, und Craer konnte im Licht des Mondes beobachten, wie sein taumelnder Freund sich in wortlosem Schmerz zusammenkrümmte, bevor ihn ein weiter entferntes Teil des Blumenbeetes verschluckte. Nachdem schwerfällig über den Boden rollende Steinbrocken zum Stillstand gekommen waren, senkte sich schließlich Stille über den Garten. »Hawkril«, zischte der Beschaffer, »das Ungetüm ist unten. Wie schlimm sieht es bei Euch aus?« »Haltet Ihr mich für einen Meisterheiler? Wie, bei den Hörnern, soll ich das wissen?« knurrte der Schwertmeister nicht allzu weit entfernt. »Meine Rippen ... sind hinüber. Alles ... ist nass und offen ...« Craer kämpfte sich durch Blumenanlagen, um dann Hawkrils Arm von dessen Seite zu heben und sich die Verletzungen anzuschauen, aber der Ritter zuckte zusammen, schüttelte die Hand des Freundes keuchend ab, kam taumelnd auf die Füße und hinkte über das Gras in Richtung des Springbrunnens. Der Beschaffer musterte einen Augenblick lang stirnrunzelnd den Rücken des verwundeten Kriegers, dann setzte er
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sich langsam auf das weiche Gras und zog sich den linken Stiefel vom Fuß. Der enthielt ebenso viel Wasser wie vorhin der von Hawkril – aber er barg auch noch etwas anderes: Eine flaches Fläschchen, welches Craer losschnürte und für einen Moment in der Hand hielt, als zögere er, sich von ihm zu trennen. Dann sprang er auf und lief mit einem stiefellosen Fuß auf den Schwertmeister zu, um ihm den kleinen Glasbehälter anzubieten. Hawkril sank auf den steinernen Rand des Springbrunnenbeckens nieder und schluckte ohne Frage und ohne Hast das heilende Gebräu. Craer hielt ihn an einem Arm fest, als der übliche kurze, ein Zähneklappern verursachende Anfall den Ritter schüttelte. Als es vorüber war, schaute Hawkril auf. Die tiefen Furchen des Schmerzes waren aus seinem Gesicht verschwunden, und er meinte leise: »Nehmt meinen Dank entgegen. Ich schulde Euch jetzt einen riesengroßen Gefallen, Craer.« »Wir werden morgen früh vor den Traualter treten«, versuchte sich der Beschaffer an einem Scherz und kletterte in das Becken des Springbrunnens. Das Wasser war kalt, und schleimige Wasserpflanzen bedeckten den schlüpfrigen Grund des Beckens unter seinen Füßen. Ihm blieb leider nichts anderes übrig, er musste das Wolfsblut abwaschen, sonst würde ihnen auch noch der letzte blinde Hund in all den Tälern folgen können. Als Craer sich zusammenkauerte und beobachtete, wie dunkle Fäden des Wolfsblutes quer durch das Wasser von ihm wegtrieben, folgte ihm Hawkril. Ein tiefes Grollen löste sich aus der Kehle des Schwertmeisters, als ihn die Kälte des Wassers erfasste, doch dann ließ er sich, dem Beispiel seines
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Freundes folgend, ins Wasser sinken. Er zuckte zusammen, als das schleimige Nass seine zerfetzte Seite umspülte. Er tastete behutsam die Verletzung ab, dann schaute er auf und fragte: »Nun, sollen wir weitermachen? Inzwischen ist sie bestimmt auf den Beinen und wartet auf uns, es sei denn, sie ist taub.« Craer verzog die Lippen zu einem freudlosen Lachen und ging voraus, wobei er einer schweigenden Abfolge von Pfaden, Rasenflächen, Lauben und kleinen gewölbten Brücken über Teiche folgte. Alles schimmerte in kalter Schönheit. Der Weg nahm überraschend viel Zeit in Anspruch; wenn die Herrin der Edelsteine sich auf ihre Ohren verließ, um aufgeweckt zu werden, und nicht auf Warnungen durch Magie, dann mochte Hawkril sich irren ... und alle beide vielleicht lange genug am Leben bleiben, um den nächsten Morgen heraufdämmern zu sehen. Aber der Beschaffer befand sich nicht in der Stimmung, Wetten darauf abzuschließen. Die am weitesten nach Westen ragenden Teile der Burg folgten der von hier aus nicht sichtbaren Mauer. Die zahlreichen Türme, Verstrebungen und Balkone ließen sie in aller Augen wie ein großes Steinungeheuer mit vielen Füßen wirken, welches sich im Schlaf auf dem Boden ausgestreckt hatte. Aber unmittelbar vor ihnen stiegen ihre grauen, grimmigen Mauern in den Himmel auf und gingen hoch droben in drei schmale Hängebrücken über, umbaute Gänge mit Fenstern, welche zu dem Frauenturm führten. Dieser Turm bestand aus Elfenbeingestein und hatte einst die zahlreichen Frauen eines lange verblichenen Fürsten Silberbaum beherbergt ... und wenn man den Gerüchten Glauben schenken
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durfte, so lebte dort heute die Herrin der Edelsteine. Die Balkone und die Fenster mit den Spitzbögen, welche sie von der Mauer aus gesehen hatten, waren natürlich viel größer, als sie aus der Entfernung gewirkt hatten, aber die beiden Eindringlinge erreichten unbehelligt die Schatten der Burg und Verharrten dort lange Zeit. Sie lauschten und hielten Ausschau nach irgendeinem Anzeichen, welches auf Wächter oder sonst etwas schließen ließ, das sie aufgescheucht haben mochten. Nur in den Sagen der Barden verfügten Zauberer über so viel überflüssige Magie, dass sie ein Feld nächtlicher Beobachtungs- und Aufsichtszauber hinter dem anderen wirkten – aber wie das alte Sprichwort sagte, bedurfte es ja auch nur eines einzigen solchen magischen Walles, um Eindringlinge abzuhalten. Craer warf den Kopf in den Nacken und holte tief und geräuschlos Luft, wobei er seine Schultern und Finger ausschüttelte, um die Muskeln zu entspannen. Dann langte er unter seinen Gürtel, zog das fadenscheinige Hemd hoch bis unter die Achseln und begann, sich etwas vom Bauch zu wickeln, was an eine gefurchte Rüstung erinnerte. Es handelte sich um ein langes, gewachstes Seil und türmte sich mit einem kaum wahrnehmbaren feuchten Schmatzen in Schlingen neben seinen Füßen auf. Während Hawkril zusah, zog der Beschaffer seine feuchten Handschuhe zurecht und kletterte die Mauer mit der bedächtigen, mühelosen Sorgfalt eines Meisterkletterers hinauf. Er hatte eine geriffelte Säule ausgewählt, welche zu drei nebeneinander aufgereihten Balkonen führte, und er glitt wie ein träger Schatten daran hinauf, so lautlos wie Hawkrils angehal-
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tener Atem. Er ließ den ersten Balkon links liegen, den zweiten auch, und betrat schließlich den dritten. Nach ein paar Augenblicken erfolgte ein Rucken an dem Seil, das Hawkril dazu aufforderte, seinerseits den Aufstieg in Angriff zu nehmen. Der kräftige Mann stemmte die bestiefelten Füße gegen die Steinrippen, wand sich eine Seilschlinge um den Arm und zog sich entschlossen in Richtung der Sterne. Der vom Mond beschienene Weg zum dritten Balkon erschien ihm endlos lang, und Hawkril rang keuchend nach Luft, als er sich schließlich neben Craer niederduckte und seinem Waffenbruder mit einem zweifachen Fingerklopfen zu verstehen gab, dass er bereit war zum Weitermachen. Der Beschaffer legte seinen Mund auf Hawkrils Ohr und hauchte: »Mir gefällt nicht, wie all diese Türen aussehen. Ein einfaches Seil mit einer Glocke daran würde als nächtlicher Alarm ausreichen, auch ohne irgendeinen Zauber.« Hawkril beäugte die Reihen von Balkontüren, die nichts weiter aufwiesen als verzierte Metallrahmen mit eingesetztem Glas und geschlossenen Vorhängen dahinter, welche eine endlose dunkle Wand bildeten und jeden Blick auf möglicherweise dahinter liegende Schätze – oder auch Wächter – verhüllten. Er zuckte die Achseln und murrte: »Ihr seid der Beschaffer. Wo sollen wir weitermachen?« Craer wies auf ein kleines, von Läden verschlossenes Fenster, welches sich ein ganzes Stück weit von dem Balkon entfernt in der Mauer befand. Darunter gähnte nichts als Leere. Hawkril rollte mit den Augen; dann lächelte er, zuckte mit den Schultern und vollführte eine einladende Geste. Der Dieb glitt wie ein eiliger Schatten über den Balkon,
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wobei er sich im Laufen duckte und darauf achtete, unterhalb der Brüstung zu bleiben. Dann krabbelte er ohne zu zögern über die Mauer, wobei er mit gespenstischer Leichtigkeit und unheimlicher Lautlosigkeit Halt für Finger und Füße fand. Craer schien mit den Fingerspitzen an der Wand zu kleben und erreichte schnell die Fensterläden. Ganz vorsichtig zog er erst an dem einen, dann an dem anderen, musste aber feststellen, dass beide fest verschlossen waren. Er blickte zum ersten Mal nach unten, um festzustellen, was ihn dort erwartete, langte nach der Oberkante der Läden, klammerte sich fest und verlagerte vorsichtig sein Gewicht. Hätte Hawkril nicht angestrengt auf das schwache Knarren von Scharnieren und Holz gelauscht, so wäre es ihm wohl entgangen. Der Beschaffer hing für einen kurzen Augenblick wie eine geduldig lauernde Spinne in der Luft und zog ein Messer aus einer an seinem Unterarm angebrachten Scheide. Hawkril beobachtete, wie sein Freund die Klinge langsam und bedächtig in den Spalt zwischen den beiden Fensterläden gleiten ließ – und gleich darauf einen von außen nicht erkennbaren Haken oder Riegel hochschob. Der Fensterladen, an dem Craer immer noch hing, schwang unter seinem Gewicht nach außen auf und drohte, gegen die Wand zu krachen. Der Beschaffer drehte sich auf dem kurzen Weg, so dass seine Schultern den Aufprall auf den Steinen abfingen. Laden und Beschaffer erbebten in unheimlicher Stille, und Hawkril sah, dass sein Freund schmerzlich das Gesicht verzog, bevor er sich hochwuchtete, die Beine nach oben schwang und im Turm verschwand.
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Beschienen vom hellen, kalten Licht des vollen Mondes erbebte in einem zertrampelten, verwüsteten Blumenbeet ein über mannsgroßer Stein – und rollte sich herum. Niemand war da, der ihn hätte anstoßen können, kein Ungeheuer, welches von unten her gegen ihn drückte, um aus der Erde hervorzubrechen, und ihn dabei von der Stelle bewegte... dennoch rührte sich der Stein, langsam und unheimlich still. Er rollte aus dem Blumenbeet und rummste gegen einen weiteren Stein, mit dem er bis vor kurzem noch verbunden gewesen war und der die Form einer menschlichen Hand aufwies. Ein Stein, welcher sich auf die Fingerspitzen erhob und wie eine dunkle Spinne von der Größe eines Hundes vorsichtig tastend durch die dunklen Schatten krabbelte, bis er schließlich eine Reihe von zertrümmerten Steinen berührte, die einmal sein Arm gewesen waren. Die Steine erbebten und rollten zusammen, wobei sie gegeneinander klackten, als seien sie von Spielern geworfenen worden, die mit dem Wurf eines Steins eine ganze Reihe anderer treffen und zum Beben bringen. Eine Reihe, welche erzitterte, hin und her zu wogen schien und sich plötzlich in die Luft erhob. Die Hand befand sich ganz oben an der Spitze und schoss, dem Kopf einer unbeholfenen Schlange gleich, in den vom Mondlicht erhellten Himmel. Der Arm schwang senkrecht nach oben, gefolgt von einem seltsamen, ungeordneten Steinhaufen, und fuhr dann wie ein niederschießender Falke auf den ersten Stein herunter, welcher aus dem Blumenbeet gerollt war.
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Ein kurzes Feuer aufblitzender Funken sprang von einem Stein zum anderen, und plötzlich erbebten überall die im Mondlicht wie auch im Schatten liegenden Steine, setzten sich in Bewegung und rollten düster knirschend zusammen. Ein umgestürzter Kopf formte sich auf Schultern, ein gefallenes Schwert fuhr in die Luft, und ein steinerner Ritter hob den Kopf und stellte sich im Mondlicht von neuem auf die Füße. Wie ein wildes Tier, das Witterung aufnimmt, stand er da und drehte den Kopf leicht in diese, dann in jene Richtung. Er suchte etwas. Etwas, dass er vorhin nicht hatte töten können. Alle Lampen waren gelöscht, aber der Beschaffer konnte genug sehen, um festzustellen, dass sich vor ihm ein Tisch befand und dahinter eine lange, enge Kammer, in deren Wänden sich überall mit Vorhängen versehene Durchgänge öffneten. Spulen mit Fäden standen auf Regalen zu seiner Linken; Scheren hingen an einem Wandbrett weiter rechts. Dies musste ein Näh- und Anproberaum sein – und bei der Gestalt dort drüben auf der anderen Seite des Raumes handelte es sich um keinen Wächter, sondern um eine Schneiderpuppe. Gut und schön. Ein kaum wahrnehmbares würziges Aroma verriet Craer, dass er die Kammer einer Dame von hohem Rang betreten hatte. Er hockte lauschend und immer wieder um sich schauend auf dem Fensterbrett, bis er entschieden hatte, wie er weiter vorgehen wollte. Zunächst ganz leise und vorsichtig einen Schritt hinein in die Kammer getan – so – und dann die Fensterläden geschlossen ...
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Craer kroch in den Schatten neben dem Tisch, blieb dort für eine weitere Ewigkeit lauschend sitzen und bewegte sich dann geschmeidig wie eine Katze auf einen der Bogengänge zu. Er teilte die Vorhänge mit seinem Messer und lugte hindurch. Aha, er hatte richtig gelegen: Dahinter befand sich ein Ankleideraum. Und was für ein Ankleideraum! Oberlichter über den Wandteppichen ließen schwaches Mondlicht in das Zimmer scheinen, in welches er nun blickte, und in dem blauweißen Schimmer konnte er einen niedrigen, reich verzierten Schrank erkennen, auf dessen glänzendem Oberteil eine Reihe hölzerner Köpfe prangten, allesamt mit funkelnden Tiaren, sanft hin und her schwingenden Trauben glänzender Diamantenohrringe oder fein gravierten Masken aus Metall ausgestattet. Auf Haken an der Wand und Bügeln, welche an Ketten von der Decke baumelten, hingen Kleider. Dutzende – nein, Hunderte farbenfroher, eleganter Kleidungsstücke, und alle glitzerten mit dem kalten Feuer von Edelsteinen! Kaskaden von Juwelen, wahre Trauben und Wellen und Wirbel, daumengroß hier, noch größer dort, und nie lächerliche Einzelstücke oder dürftige Dreiergruppen ... Zeloster und Schwarzamarle und sogar eine Sternsalvenbrosche von der Größe seiner Hand, gekrönt von den seltensten Edelsteinen von allen: den regenbogenfarbenen, schimmernden Tränen, welche man als Skaramareenes kannte. Bei den Hörnern der Jägerin, welche Reichtümer! Das war mehr, als in seinen kühnsten Träumen Aglirta oder sogar ganz Asmarand enthalten mochte! Warum – aber nein, jetzt nicht mehr lange geglotzt und gezögert! Zugelangt und die Flucht ergriffen, bevor irgendein Unheil erwachte ...
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Craer griff sich eine Hand voll Gewänder, wickelte sie sich um den Arm und drehte sich mit unendlicher Sorgfalt um, damit er ja keinen Laut verursachte, welcher vielleicht ... Blaues Feuer brach ohne Vorwarnung aus der Dunkelheit, eine magische Flamme, die sengend und brennend in ihn schoss, so dass er in einem betäubten, keuchenden Tanz voller Todespein quer durch den Raum wirbelte. Von Blitzen umzuckt taumelte der Beschaffer durch eine Reihe von Gewändern, dann durch einen weiteren von Vorhängen verborgenen Durchgang in ein dahinter liegendes Gemach, vor dem Hawkril hocken musste. Schluchzend und mit letzter Kraft klammerte sich Craer an die Vorhänge und zerrte an ihnen, um sie herunterzureißen. Hawkril sprang mit erhobenem Schwert auf und starrte durch das Glas hindurch auf seinen sich windenden Freund und den kriechenden, flackernden Schein, welcher ihn umbrachte. Knurrend und mit aller Macht schwang er sein Schwert gegen die Balkontür, wobei er in die Luft sprang, um sein ganzes Gewicht hinter den Schlag zu legen. Glas zerbarst singend und klingend in Scherben, Wächterzauber vergingen in seufzendem, silbernen Rauch und funkelndem Staub, und der Schwertträger brach durch die Trümmer in den Raum und griff nach dem zuckenden Beschaffer. Dieses Mal leuchtete der Blitz silbern und grün auf. Er traf den Schwertmeister wie ein Rammbock, riss ihn von den Füßen und schmetterte ihn gegen eine der Wände. Der Beschaffer wurde wie ein welkes Blatt von dem Sog erfasst, taumelte zur Seite und gegen die Steinwand, wo ihn die ent-
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fesselte erbarmungslose Macht ebenso hilflos und außer Atem festgenagelt hielt wie Hawkril. Er starrte auf ihren Ursprung, der sich einen Raum weiter entfernt befand, aber unaufhaltsam auf sie zuschritt wie nur irgendein wütender Fürst, welcher sich seinen Weg durch die Bogengänge bahnte. Groß und schrecklich kam sie heran in ihrem Nachtgewand, und die Hexenlichter ihrer erwachten Macht wirbelten funkelnd um sie herum. Die Herrin der Edelsteine war, wie es schien, eine mächtige Zauberin. Die grauen, steil aufragenden Gipfel, welche man allgemein als die Windfangs kannte, erhoben sich wie ein Schild zwischen dem Gewundenen Tal und den schlimmsten Winterstürmen, welche die ausgedehnten Hochebenen von Dalondblas in Richtung Norden ausdörrten und glitzernde Schneewehen so hoch wie Burgzinnen auftürmten. Winter in den Windfangs brachten von Nebelschwaden begleitete Stürme mit sich, welche durch die Felsspalten und über die glitzernden Kadaver erfrorener Klippenschafe heulten. Im Sommer jedoch ächzten schwere Karren von den Steinbrüchen herunter durch die blühende Baronie von Loushoond, deren übergewichtiger und dem Wein zugetaner Tersept jeden, der sich über Straßenräuber beschwerte, aus blassen, wässrigen Augen anblinzelte und Ritter aussandte, welche die Straßen entlangritten und ihre blitzenden vergoldeten Rüstungen zur Schau stellten. Über den Steinbrüchen erhoben sich die zerrissenen Vorsprünge und Steinformationen, welchen man die Wildfelsen nannte. Grimmige Berge erhoben sich hinter ihnen und schickten von Zeit zu Zeit riesige Felsplatten nach unten, die donnernd zu Tal krachten. Dort
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lebten Ungeheuer und gesetzlose, verzweifelte Männer; die Gesetzestreuen hingegen mieden die Wildfelsen, sprachen jedoch des Nachts in den Wirtshäusern gern über sie. In der Nacht, in der Flaeros Sirlptar betrat, erhob sich eine Flammenzunge inmitten der Wildfelsen. Bei dem Feuer hockten zwei dieser verzweifelten Männer und fluchten, weil es so lange gedauert hatte, bis sie ein Schaf erwischt hatten. Deswegen hatten sie ihr Kochfeuer in der Dunkelheit entfachen müssen, wodurch es weithin sichtbar flackerte. »Oh verflucht«, schimpfte Craer Delnbein, als die Flamme den dürren Ast hinaufraste, welchen er zum Anfachen benutzt hatte, und seine Fingerspitzen versengte. »Verflucht, verflucht, verflucht!« Er schüttelte seine schmerzende Hand, und der große Mann mit den breiten Schultern, der auf der anderen Seite des Feuers hockte, fragte: »Braucht Ihr Hilfe bei der Wahl Eurer Worte? Kann Ich Euch ein ›schaut nur‹ oder vielleicht auch ein ›bei der Dreifaltigkeit!‹ anbieten?« Craer bedachte seinen Begleiter mit einem Blick, der so sengend war wie die Flammen zwischen ihnen, und zischte: »Schweigt, Hawkril! Schweigt!« »Wiederholungen sind gut, ja«, stimmte ihm der Ritter mit der tiefen Stimme zu, ohne jedoch zu lächeln. »Sie helfen unsereins mit den zerdellten Helmen, Eure Gedankengänge zu verstehen.« »Wenn Ihr mit Eurer Neunmalklugerei fertig seid, Hawkril«, giftete Craer, »bratet endlich das Fleisch, bevor ein Wolf es sich holt – nachdem er vielleicht uns als seine ersten beiden Bissen verschlungen hat!« »Ich werde Euch mit dem letzten Rest der Soße bestreichen, wenn Ihr der erste sein wollt.« »Wie haben nicht einmal genug Geld, um uns eine zweite Fla-
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sche davon zu kaufen«, gab Craer bitter zurück. Hawkril zuckte die Achseln. »Da wir es nicht wagen, hinunter nach Loushoond zu gehen, spielt das ohnehin keine Rolle.« Craer seufzte, während er den Schwertmeister beobachtete, der sich daranmachte, zwei blutige Scheiben Lammfleisch zu braten. Der große Mann nickte und lehnte sich gegen die Felsen, ohne sich um das Fett und das Blut des Lammes zu scheren, welches er geschlachtet hatte – oder die Fliegenschwärme, welche ihn jetzt wie entfesselt umsummten. Obwohl ein Preis auf Hawkril Anharus Kopf ausgesetzt war und er kein Heim hatte, in das er hätte zurückkehren können, wirkte er ebenso gelassen wie seinerzeit, als er sein Schwert in Ibrelm geschwungen oder die Bordelle von Sirlptar durchstreift hatte. Der Riese von einem Ritter mit der roten Haut und mehr Muskeln als die meisten anderen seiner Zunft trug die zerschrammten Armschützer eines Schwertmeisterveteranen. Der einzige Hinweis auf seine Verzweiflung fand sich in der Anzahl der Worte, die aus seinem Mund drangen; gewöhnlich schwatzte Craer unentwegt, während der Ritter mit Worten geizte und nur ein paar wenige von sich gab, wenn es sich denn nicht vermeiden ließ. Er spürte Craers Blick, schaute auf und ließ ein Lächeln aufblitzen, dann benutzte er die Rückseite seiner Klinge, um eine Narbe zwischen seinen Schulterblättern zu kratzen. »Wie ist es Euch in Dranmaer ergangen, Schwertbruder?« »Nicht besser als in Sirlptar«, antwortete der kleine, spinnenartige Mann knapp. »Jedermann erinnert sich dort anscheinend an einen überschlauen Beschaffer, der sich vor einer Jahreszeit eine Keule hier und eine Hand voll Münzen dort schnappte.« »Nun, wenn Ihr bei Euren Diebereien nicht gespottet und gesungen oder Jongleurtricks vollführt habt«, erklärte Hawkril ruhig, »dann
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werden die Leute nicht so schlau sein, sich an Euer Gesicht zu erinnern.« »Wenn ich möchte, dass Ihr mir einfache Tatsachen um die Ohren schlagt, Ihr Laternenpfosten von einem Ritter«, bemerkte Craer müde, »dann werde ich Euch ganz gewiss darum bitten. Und bis dahin ...« »Oh, eine Drohung tut sich vor mir auf«, grummelte Hawkril. »Entfaltet sie vor mir – ich flehe Euch an, Meister der schnellen Zunge; zitternd erwarte ich die helle Klinge Eurer Gewitztheit.« »So wie ich unter der Stachelkeule der Euren leide«, schnappte Craer und zerrte an seinem Gürtel. Ein Messer mit schwarzer Klinge schoss zwischen seinen Fingern hervor und bohrte sich mit einem lauten Geräusch in das Feuerholz – und nagelte eine langsam niedergleitende Scheibe des Lammfleisches fest, welches einen Augenblick darauf in die Flammen gefallen wäre. Erinnerungen flackerten auf: Ein Mann von der Insel, der an ebendem Messer erstickte und niederstürzte; ein Schicksal, welches er mit vielen teilte. Doch trotz all der tödlichen Künste von Craer Delnbein, Beschafferveteran, lagen die Inseln von Ieirembor immer noch unbesiegt da, und es waren Hawkril und Craer gewesen, die auf leckenden, mit geschlagenen Männern überladenen Schiffen nach Hause zurückgekrochen kamen – um auf der Stelle zu Gesetzlosen erklärt zu werden. Ezendor Fürst Schwarzgult war ein stolzer, gut aussehender Mann mit einem Schwertarm wie aus Eisen gewesen und mit genug scharfem Verstand begabt, um mit seiner Hilfe sämtliche Feinde niederzumähen, und er hatte gerne gelacht. Unter seiner Herrschaft war Schwarzgult gediehen und zur größten und mächtigsten unter den Flussfestungen geworden, reicher noch als Ornentar und sogar Silberbaum. Den Einwohnern stand sogar ausreichend Geld zur Verfü-
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gung, um Barden anzuheuern, welche neue Lieder schmieden sollten ... beinahe genug Geld, um die Glitzernde Stadt selbst auszustechen. Vielleicht war dies der Grund für Schwarzgults Sturz gewesen. Die reichen Kaufleute von Sirlptar hatten gelernt, den Aufstieg des Fürsten, seine Kriegskunst und seine Reichweite zu fürchten. Eine gedeihende Baronie weiter flussaufwärts war eine Sache – aber ein Fürstentum mit der Kühnheit, nach den Inseln von Ieirembor zu greifen, hingegen unerhört. Die Inseln erhoben sich aus der See wie eine Wand, welche die Mündung des Silberflusses schützte, fünf baumbestandene Felshindernisse, welche sowohl Sirlptars Schatzgarten wie auch seine rückwärtige Verteidigung darstellten. Die bevölkerungsreichste Insel, Ibrelm, reichte, was die Größe betraf, auch nicht annähernd an selbst die kleinste der Baronien heran, aber auf allen vier Inseln gab es reichhaltige Bestände des Bauholzes, aus dem die dicht aneinander gedrängten Gebäude der Glitzernden Stadt errichtetet worden waren, und außerdem Kupfer, das in Gestalt von Töpfen und Pfannen in jedem dritten Laden glänzte. Vielleicht hatten ja die Ladenbesitzer genug Zauberer und Schwertmeister angeheuert, um die Krieger des Goldenen Greifen zu brechen. Nie zuvor hatten Craer und Hawkril solche unfassbaren Mengen unermüdlicher Feinde vor sich gesehen. Der kühne Schlag des Fürsten war gescheitert, und die wenigen überlebende Getreuen flohen nach der blutigen Niederlage in Richtung Heimat, nur um festzustellen, dass ihr Fürst entweder tot oder geflohen war und sein alter Widersacher Faerod Silberbaum Schwarzgult erobert hatte. Das Abzeichen des Goldenen Greifen bedeutete jetzt nicht nur eine schwindende Hoffnung auf ehrliches Geld, sondern auch, dass
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der Fürst ein Kopfgeld auf seine Träger ausgesetzt hatte. Und dem schon seit langem von Mythen umrankten Thron von Aglirta schien das Schicksal zu drohen, das Hinterteil des stolzen und grausamen Fürsten Silberbaum zu spüren zu bekommen. Hawkril reckte sich. »Es tut gut, mit Euch zusammen wieder zurück zu sein, Craer«, erklärte er bedächtig. Er hockte bei dem Fleisch, und sein Gürtelmesser blitze hell in seiner haarigen Hand. »Sollen wir zusammen auf die Jagd gehen?« Der Beschaffer zuckte die Achseln. Er wollte verhindern, dass ein Waffenbruder die Tränen sah, welche ihm in die Augen schossen. »Ich kann mir keine bessere Straße vorstellen als die, welche wir stets gemeinsam beschreiten«, entgegnete er ungelenk. »Ist das Fleisch fertig?« Der Schwertmeister grinste. »Ich würde Eure flinke Zunge vermissen, wenn ich nicht in der Nähe wäre, sie zu hören.«
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Zwei
Die zitternde Flucht aus dem Schloss C Schlanke Finger und vor Zorn fest zusammengepresste Lippen woben einen Zauber, welcher ihnen sehr wohl den Tod bringen mochte. Flammende Augen musterten sie von oben bis unten. Craer konnten nur zusehen, sonst nichts. Betäubende, sengende Blitze nagelten die Männer fest an die Wand und pressten sie gegen die kalten Kanten von Edelsteinen, Miederschlangen aus Draht und Harnischen; ihre heftigsten Ausläufer ließen sie keuchen, schwitzen und beben, und ihre Muskeln spannten sich an und brannten, was ihre Glieder zucken ließ, während um sie herum Metall leise klirrte. Hilflos in ihrem Gefängnis zuckend, taten die Männer das Einzige, das sie noch konnten. Sie starrten die Frau an. Nicht dass ihnen dies schwer fiel. Langes, fließendes Haar ergoss sich in dunklen Wellen über schmale Schultern und rahmte Augen ein, die wütend in einem Gesicht blitzten, dessen Wangen und Kinn schöner geformt waren, als die beiden Männer dies je zuvor gesehen hatten.
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Barfüßig stand Embra Silberbaum da. Sie mochte so groß sein wie Hawkril, vielleicht überragte sie ihn sogar um ein weniges. Sie hatte mehr Anmut als jede Schänkentänzerin, und ihre sanften, weichen Bewegungen wirkten umso verführerischer, als sie ganz zu ihr selbst gehörten und nicht als bewusste Verführung eines Mannes gedacht waren. Ihr Haar schimmerte blauschwarz, ihre Augen hingegen eher schwarzblau – es war zu dunkel, um dies genau beurteilen zu können, stammte das Licht doch einzig von den um die Männer herumrasenden Blitzen und den unbeständig um ihre langen, anmutigen Finger spielenden Flammen. Die Herrin der Edelsteine vollführte mit den Fingern einer Hand eine abschließende Geste und setzte sich dann auf ein Sofa, um ihre beiden Gefangenen aus dunklen, gefährlichen Augen zu mustern. Die Tausende glitzernder Edelsteine auf den Gewändern, welche hinter ihr hingen, schienen ihren grimmigen Blick noch zu verstärken, denn sie wirkten wie eine Vielzahl schwarz schimmernder, missbilligender Augen. Keine Magie wurde wirksam, welche der Beschaffer oder der Ritter bemerkt hätten – aber als die Blitze und mit ihnen auch der größte Teil des Prickeins und der Schmerzen langsam und flackernd erstarben, stellten die Männer fest, dass eine unsichtbare Kraft sie ebenso unverrückbar wie zuvor an der Wand festhielt. »Warum seid ihr hier?« fragte die Prinzessin Silberbaum so ruhig, als berate sie mit ihren Kammerdamen darüber, welche Kleiderfarbe am besten zu ihrem Haar passe. Ihr durchschimmerndes gazeartiges Gewand verbarg keine Einzelheit ihrer schlanken, wunderbaren Figur. Der ernste Gesichtsaus-
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druck, welchen sie zur Schau trug, minderte die Schönheit ihrer dunklen Augen und Brauen nicht im Mindesten, genauso wenig wie ihr blasses Gesicht, welches bei einem Leichnam atemberaubend gewirkt hätte. Einem Leichnam ... Craer fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Die Stille zog sich immer mehr in die Länge, und er versuchte, nicht auf einen Schwanenflügel zu schauen, der ganz aus Diamantentrauben bestand, so dick wie seine geschlossene Faust, und keine vier Zoll vor seiner Nase baumelte. Schließlich antwortete er: »Prinzessin, Ihr werdet es kaum glauben, dessen bin ich mir bewusst, aber wir wurden von Eurem Vater angeheuert, um die Verteidigung des Frauenturms einer Probe zu –« Schlanke Finger bewegten sich kaum merklich, und der Beschaffer keuchte, als ihn erneut ein plötzlicher Schmerz durchfuhr. Er konnte fühlen, dass seine Glieder unwillkürlich zuckten, als Zauberkraft durch ihn hindurchwogte und – bei der Dreifaltigkeit – wieder abebbte. »Sehr schwer zu glauben, das ist wahr, mein Herr«, erwiderte die Prinzessin Silberbaum kalt, »und Eure Angabe lässt keinen Zweifel daran, dass Ihr alles andere als vertraut seid mit diesem ... Haushalt. Meine Geduld hat Grenzen. Ich erwarte ehrliche und unumwundene Antworten, meine Herren.« Die andere Hand hob sich aus ihrem Schoß, und sie bewegte die Finger als wortlose Erinnerung and die Macht, über die sie gebot. Entlang der Wände blitzen hier und da Smaragde grün auf, als seien sie eifrig bestrebt, die Macht, welche ihre Herrin wirkte, zu bestätigen.
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Craer verbannte alle Anzeichen des Schmerzes von seinem Gesicht, schenkte der Erbin von Silberbaum ein Lächeln und meinte glatt: »Natürlich. Nehmt meine Entschuldigung an, Prinzessin. Ihr müsst wissen, dass uns drei Geschichten mitgegeben wurden, welche wir anstelle der Wahrheit erzählen sollten. Bevor der Zauberer Gadaster Mulkyn Eurem Vater diente, hatte er drei Lehrlinge, und einem von ihnen – Ihr werdet gewiss Verständnis dafür haben, dass ich im Moment keine Namen nennen möchte – wurde von Gadaster etwas versprochen, das er im Falle des Ablebens des großen Zauberers erben sollte. Wir sind ausgesandt worden, dieses Etwas zu finden und an uns zu bringen, und ...« Dieses Mal glich sein Keuchen beinahe einem Schluchzen und wurde zu einem tiefen, gurgelnden Stöhnen, als sich der Beschaffer mit bebenden Gliedern an der Wand krümmte. Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen sah Craer, wie seine eigene rechte Hand sich steif von seiner Seite hob, ungeschickt weit ausholte, zur Seite schwang und sein Gesicht so hart traf, dass seine Augen tränten und seine Ohren klingelten. Sie hatte dafür gesorgt, dass er sich selbst auf den Mund schlug. Der Ritter gab ein Knurren von sich und stieß sich mit gebleckten Zähnen und an der Kehle hervortretenden Blutgefäßen von der Wand ab. Er löste sich vielleicht einen halben Schritt von der Mauer, bevor er wieder so hart zurückgerissen wurde, dass der dumpf klingende Aufprall seines Kopfes etliche Perlenschnüre von ihrer Halterung schüttelte, worauf sie sich geschmeidig auf die Tischplatte darunter schlängelten. Wunderschöne Lippen pressten sich erneut zusammen, bevor die Prinzessin kalt erklärte: »Die Grenzen meiner Geduld
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sind bald erreicht, werte Herren. Wählt eure Worte mit Bedacht, denn sie entscheiden über euer Schicksal.« Craer nickte und öffnete den Mund zum Sprechen, aber Hawkril grollte: »Genug der Lügen, meine Dame. Ich heiße Hawkril Anharu und bin Ritter; das da ist mein Freund Craer Delnbein, ein Beschaffer von Beruf; soweit ich weiß, benutzt Euer Vater den Titel ›Lastalan‹. Wir dienten beide dem Goldenen Greifen und sind erst vor kurzer Zeit von der Niederlage bei den Inseln zurückgekehrt. Wir mussten feststellen, dass sich vieles im Tal stark verändert hat, und wir haben schon vor langer Zeit von einer Herrin gehört, deren Gewänder vor Juwelen nur so strotzen ... sind das genug einfache Wahrheiten, um uns einen raschen Tod oder mehr Geduld Eurerseits einzuhandeln?« Er glaubte zu sehen, dass die Prinzessin Silberbaum beinahe lächelte, bevor ihre Augen aufblitzten und sie fragte: »Habt ihr irgendwelche weiteren Freunde, Verbündete oder Mietlinge hier auf der Insel Silberbaum?« »Nein«, lautete die schlichte Antwort. Die Herrin der Juwelen wandte den Blick Craer zu und stellte leise fest: »Na also – Ihr seht doch, wie es gemacht wird, Herr Beschaffer? Die einfache Wahrheit ist hier in Aglirta ein seltenes Gut, wie ich festgestellt habe, und ich weiß sie zu schätzen.« Sie blickte wieder Hawkril an und fragte freundlich: »Und wie sehen eure Pläne für die Zukunft aus?« Sie hob eine schlanke Hand und umfasste leere Luft, als ob sie ein Feuer mit hüpfenden Flammen darin hielte, ohne jedoch Schmerz zu verspüren. Craer sah eine kurze, dunkle Zukunft vor sich, in welcher er wie eine entbehrliche Spielfi-
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gur tödliche Aufgaben für diese ranke, dunkeläugige Prinzessin ausführte, und platzte heraus: »Oh nein. Niemals, Herrin ... tötet uns hier und jetzt, falls Ihr das müsst, aber ...« Eine gebieterische Hand vollführte eine gereizte Geste, um ihn zum Schweigen zu bringen. Die Männer sahen die Augen der Prinzessin Silberbaum ärgerlich aufblitzen, als sie sich vorbeugte und sie beide anstarrte. Ärger und noch etwas anderes ... handelte es sich da vielleicht um wachsende Erregung? »Setzen. Setzt euch, und hört mir zu.« Ihre Hand bewegte sich erneut, und die Macht, welche die Freunde an die Wand genagelt hatte, war plötzlich verschwunden. Ihnen blieb kaum die Zeit, taumelnd das Gleichgewicht und ihre Haltung wiederzuerlangen, als die Prinzessin Embra auch schon einen weiteren raschen Zauber wob. Hinter den Männern scharrten zwei mit Gold verzierte Stühle wie zu einem Willkommen, Karaffen erhoben sich in einer majestätischen Kurve von einem in der Nähe stehenden Beistelltisch und schwebten in die Luft neben ihren Händen. Die beiden Männer beäugten sie mit Unbehagen; selbst als die üppig gebauchten Behälter lockend mitten in der Luft stehen blieben, bewegte sich keiner der beiden, um sie zu berühren. Verbitterung und Abscheu wechselten sich auf dem fein gezeichneten Gesicht der Herrin der Edelsteine ab, und sie krümmte zwei Finger in einer »Hierher«-Geste und zischte: »Setzt euch, bei den Hörnern!« Eine Karaffe eilte in ihre wartende Hand wie ein Vogel, der vor dem Bogen eines Jägers flieht; sie ergriff sie, zog den Stöpsel wie ein durstiger Krieger und nahm einen Schluck.
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»Seht ihr? Der Inhalt ist sicher – nun trinkt, und nehmt Platz, werte Herren! Ich bin es müde zu sehen, wie ihr nach Ausgängen sucht und die Muskeln anspannt, um nach einer Waffe zu greifen. Falls ihr es nicht bemerkt haben solltet, es ist spät, und der Schlaf lockt; vielleicht wäre es mir möglich, mich auch dann des Schlafes zu erfreuen, wenn die zerfetzten Körper zweier Narren auf dem Boden am Fuße meines Bettes verstreut lägen.« Sie schwieg und starrte die beiden Männer an. In ihren Augen stand eine unmissverständliche Herausforderung. Hawkril antwortete, indem er sich schwer auf den Stuhl fallen ließ und nach einer Karaffe griff, welche sanft hinter ihm herschwebte. Der Schwertmeister hob das Gefäß hoch, stieß ein raues »Auf Eure Gesundheit, meine Dame« aus und trank. Craer starrte den Ritter an, als sei diesem ein zweiter Kopf gewachsen – zuckte dann leicht mit den Schultern und folgte seinem Beispiel. Er wischte sich gerade die Lippen mit dem Rücken einer Hand ab, als er bemerkte, dass sich ein leichtes Lächeln auf die Lippen der Prinzessin stahl, während ihre Finger eine kaum merkliche Figur in die Luft schrieben. Der Beschaffer sprang auf die Füße und verschluckte sich bei dem Versuch, das auszuspucken, was er zu sich genommen hatte, und es gleichzeitig herunterzuschlucken, um Atem zu schöpfen für einen Fluch. Aber ein seltsames dumpfes Stechen stieg in seiner Kehle auf, bevor er auch nur ein einziges Wort zu krächzen vermochte. Craer erstarrte, seine Finger erreichten nicht ganz das Heft des nächsten Dolches, und er sah goldene Flammen aus seiner Nase züngeln, Feuerstöße, welche aus seinem eigenen Mund schossen und denen aufs Haar glichen, welche der Prinzessin
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Silberbaum aus den geöffneten Lippen drangen. Goldfarbenes Geflacker umkreiste ihr Kinn, und er schaute schnell zu Hawkril hinüber, nur um eine ähnliche Feuersbrunst und einen erstaunten Blick zu sehen. »Entspannt Euch, Craer«, sagte die Zauberin freundlich. »Sogar das Feuer tief in Euch drinnen ...« Eine aufsteigende Wärme durchfuhr plötzlich den Magen des Beschaffers. Er schluckte, seine Finger schlossen sich um das Heft seines Dolches und packten fest zu. »... richtet keinen Schaden an. Es ist nichts weiter als ein Schild, welches magisches Spionieren im Zaum halten soll. Um der Liebe der Herrin willen, lehnt euch beide zurück, und hört mir zu. Uns bleibt nicht viel Zeit.« »Oh. Wie kommt das denn?« Embra Silberbaum beugte sich vor, stützte ihre Ellenbogen auf die Schenkel wie nur irgendein Klatsch und Tratsch verbreitender Krieger und erklärte leise und drängend: »Ich bin hier ebenso gewiss eine Gefangene, wie all diese Fenster und Türen als Panzer mit dreifacher Verriegelung angelegt wurden. Mein Vater und seine drei Magier – die jeden Wettbewerb in Sachen Grausamkeit gewinnen würden, das könnt ihr mir glauben – haben mich hier gebunden, auf dass ich letzten Endes ein Teil dieser Burg werden soll.« »Wie bitte? Werte Dame, ich verstehe Euch nicht«, erwiderte Hawkril, und das entsprach der Wahrheit. »In Bälde werde ich diesen Körper verlieren« fuhr die dunkeläugige Prinzessin fort, »und dazu meinen Atem, um zu einem Geist zu werden, welcher an die Steine, die Holzbalken und überhaupt die ganze Burg Silberbaum gebunden werden soll. Eine ›lebende Burg‹ nennen sie das; für alle Zei-
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ten bei Bewusstsein und hier verwurzelt mit genug Zauberkraft, um jede Verletzung und jedes Bröckeln zu heilen, welches selbst dem dicksten Stein im Laufe der Zeitläufte widerfährt. Und darüber hinaus soll mein Geist Türen und Tore und so weiter öffnen und schließen, um diesen Ort zu verteidigen ... für alle Ewigkeit.« Craer runzelte die Stirn. »Und was ist mit Eurer eigenen Zauberkraft? Ihr könnt nicht fliehen oder ihnen auf sonst eine Art widerstehen?« Die dunklen Augen blickten ihn traurig und beinahe f lehentlich an. »Mir wurde nur genug Magie beigebracht, um nützlich zu sein, aber nicht so viel, als dass ich Krieg gegen meine Lehrer führen könnte. Ich war kaum mehr als ein Kind, als man die ernsten Banne auf mich legte – und manche davon haben bis zum heutigen Tag auf mir gelastet, als ihr mit euren nächtlichen Plünderungen begonnen habt.« »Wir?« grummelte Hawkril immer noch misstrauisch. Die Prinzessin Silberbaum schaute den Ritter an. »Ihr beiden habt einige der Zauber gebrochen, welche mich banden, ja, als ihr euch mit einem der Wächter im Garten anlegtet. Seit diesem Moment habe ich euch beobachtet. Voller Hoffnung. Zum ersten Mal in meinem Leben kann ich darauf hoffen ... die Freiheit zu erlangen.« »Und Ihr wollt, dass wir Euch bei der Flucht von diesem Ort helfen?« fragte Craer, der gerade entdeckt hatte, dass seine Fingerspitzen, welche den Knauf des Dolches umfassten, taub geworden waren. Er ließ die Waffe los und schüttelte die Finger aus, damit sie wieder ihren Dienst versahen. Die Zauberin schluckte, hob den Kopf ein kleines bisschen
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und erwiderte: »Ich biete euch eine Wahl an. Brecht die letzten Bindungen, die ich euch nennen werde, und flieht mit mir in aller Eile, wobei ihr mich als gleichgestellte Kameradin bei euren Abenteuern ansehen sollt ... oder weist mich zurück, und seht euch meines Vaters Richterspruch übereignet.« »Dann erwartet uns ein grausamer Tod, nachdem Zauber durch unseren Geist gekrochen sind«, antwortete Craer beinahe flüsternd. »Edle Dame, das ist nicht der Hauch einer Wahl.« Sie spreizte die Finger und erwiderte bitter: »Ich bin nicht in der Lage, Euch mehr anzubieten, werter Herr Beschaffer, und wenn wir hier noch allzu lange verweilen und Spitzfindigkeiten austauschen, dann sind Eure Wahl und meine Gelegenheit, die Freiheit zu verlangen, auf einen Schlag hinweggefegt. Es braucht nicht mehr als einen Zauberer, der bemerkt, dass seine Banne verschwunden sind, oder der sich aus keinem besonderen Grund dazu entschließt, den Verlockungen einer schlafenden Maid nachzuspüren – und das tun sie oft, und sie schämen sich ihrer überquellenden Augen nicht, wenn ich erwache – und ...« Sie vollführte eine zuschnappende Bewegung, ließ die Hand sinken und starrte die beiden Männer an. Wieder wirkte ihr Blick aus dunklen Augen herausfordernd. »Ihr guten Herren«, sagte sie tonlos, »ich bin verzweifelt.« Craer beobachtete, wie die Fünkchen der goldenen Flammen bei ihren Worten ins Nichts entschwanden, und schaute dann Hawkril an. Sie beide hatten allen Grund, Zauberei zu hassen. Bittere Erinnerungen an Schlachtfelder kamen ihnen in den
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Sinn, flammten auf und breiteten sich aus. Die Gesichter sterbender Kameraden, durch Zauber riesig groß aufgedunsen, drängten sich wie Geister zwischen die grimmigen Blicke, welche die beiden Kameraden wechselten. Nach einem kurzen Schweigen ergriff der Ritter das Wort. »Ein Zauberer jedweder Art ist etwas Seltenes und Wertvolles.« Er spreizte die Finger, zuckte die Achseln und fügte hinzu: »Und wer in ganz Darsar wünschte sich nicht die Freiheit?« Craer runzelte die Stirn, blickte erst Hawkril und dann die Herrin der Edelsteine an. Mit ihren von Seide umhüllten sanften Kurven glich sie so gar nicht den grausamen, hart gesottenen Kriegszauberern, die er kannte, aber ... »Wie können wir Euch trauen?« murmelte er und schüttelte ungläubig und verzweifelt zugleich den Kopf. Mit einem leisen Rascheln ihrer Seidengewänder erhob sich Embra Silberbaum und ging langsam auf ihn zu, die Hände an den Seiten. Sie kniete vor dem Beschaffer nieder, zog den Dolch aus der Scheide, welchen er noch vor wenigen Augenblicken so fest umklammert hatte, drückte ihm die Waffe in die Hand und richtete deren Spitze auf ihre eigene Kehle. Sie blieb vor ihm knien, schaute an der Klinge entlang und wisperte: »Genauso, wie ich euch beiden traue.« »Bei den Krallen des Pechrabenschwarzen!« fluchte Hawkril ungläubig. Craer warf seinem Freund einen aufgeregten, beinahe verzweifelten Blick zu und blickte dann nieder in die dunklen Augen, welche ein Flehen und auch Hoffnung, aber keine Angst ausdrückten. Der Beschaffer schluckte und sagte fest:
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»Prinzessin, mir scheint, wir haben eine Übereinkunft.« Die Herrin der Edelsteine schloss die Lider und stieß einen tiefen Atemzug aus. Ihr Blick ließ Craer frei, als habe sie eine Fessel durchschnitten. Durch die Spitze der Klinge hindurch konnte Craer spüren, wie sie bebte, beinahe sogar zitterte. »Dann«, sagte sie unsicher, »nehmt die Klinge weg, und lasst mich aufstehen.« Craer gehorchte ihr eilig und mit Vorsicht. Hawkril wagte es, ihr die Hand anzubieten; mit der ersten Spur eines echten Lächelns ergriff sie diese und meinte dann spröde: »Lasst meine Gewänder hier. Dort drüben liegt ein Wäschesack. Leert ihn, und bringt ihn hinüber in den angrenzenden Raum. Beschaffer, könnt Ihr irgendwelche Klingen entbehrten?« »Alle von ihnen, Euer Hoheit, wenn der Preis mein Leben ist«, erwiderte Craer ein wenig säuerlich. Während sie in den angrenzenden Raum gingen, nestelten seine Finger eilig an den Handgelenken, den Schenkeln und seinem Kragen herum. Er hielt sechs Dolche in Händen, als die Prinzessin anhielt, mit der Hand über eine weitere Türöffnung strich, um auch dort einen seufzenden Zauber zu zerteilen, als handele es sich um Spinnweben, und sagte: »Hawkril, füllt Euren Sack mit dem Inhalt des kleinen Kästchens dort drüben an der Wand. Rührt sonst nichts an, wenn Euch Euer Leben lieb ist.« Sie wandte sich um, wies auf eine Anrichte sowie einen Schrank und fragte: »Craer, meint Ihr, ihr beide könnt diesen Schrank da herumrücken und unter die beiden Hängelampen schieben – und daran hochklettern, wenn ich es euch sage?« Der Beschaffer nickte. Den Wandschrank wegzurücken,
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mochte ihre ganze Kraft erfordern, aber wenn sie andernfalls sterben müssten ... »Meine Hände dürfen bei dieser Sache nicht im Spiel sein, sonst wird alles andere misslingen«, erklärte Embra Silberbaum. »Nehmt diese beiden Schalen dort drüben und stellt eine davon auf den Boden. Hierhin ...«, sie berührte die glatten Marmorplatten des Bodens mit einem nackten Fuß, und als sie dann die Hand ausstreckte, bemerkte Craer, dass diese vor Aufregung zitterte, »und die andere dorthin.« Der Beschaffer türmte seine Dolche zu einem glitzernden Stapel auf dem Boden auf und beeilte sich, ihr zu gehorchen. Als er sich vorbeugte, um die zweite Schale abzusetzen, hörte er, wie sie Hawkril anzischte: »Seid Ihr immer noch nicht fertig? Steckt das Kästchen einfach in den Sack – uns bleibt nicht die Zeit zum Staunen und Anstarren!« Craer blickte auf. Hawkrils Gesicht zeigte sich blass vor Staunen. Der Sack in seiner Hand war prall gefüllt, und in der anderen hielt er reichlich unsicher einen Berg glitzernder Edelsteine – Bezrime, Amblaere, Sternglitter und Peldoone genug, um eine ganze Reihe von Fürstentümern zu kaufen, mehr, als jeder der beiden Männer je zuvor in seinem Leben gesehen hatte. Der Beschaffer nickte hastig, während Hawkril sich schüttelte, als ob er gerade aufgewacht sei, und den glasklaren Glücksregen in den Sack rieseln ließ. »Das waren die Letzten«, meinte der Ritter mit unüberhörbarer Ehrfurcht. »Ich bin fertig.« »Jetzt lasst den Sack fallen und helft mit, den Schrank zu verschieben«, antwortete die Zauberin ungeduldig. »Wir legen doch gewiss keinen großen Wert darauf, die sechs Wäch-
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ter zu Gesicht zu bekommen, welche ihn dorthin geschoben haben, oder?« Hawkril beeilte sich. Der Schrank war schwer – bei der Dreifaltigkeit, er war wirklich schwer! – aber indem sie ihre Schultern gemeinsam gegen das Möbelstück stemmten und losstürmten, als wollten sie einen Rammbock durch eine Tür treiben, gelang es dem Beschaffer und dem Ritter, das Ungetüm über den Boden zu schieben, bis es unter den Lampen stand. Craer betrachtete ihr Werk stirnrunzelnd, öffnete die Türen und zog eine Innenschublade heraus, welche als Trittstufe dienen konnte. Zufrieden nickte er. »Und jetzt?« »Holt noch einen Sack«, forderte Embra und ließ ihren Worten ein plötzliches Lächeln folgen wie ein Kind, das sich an einem gelungenen Streich erfreut. »Und Wasser – hinter der von hier aus dritten Tür ist ein Wasserhahn – genug Wasser, um diese Schale zu füllen.« Craer und Hawkril befolgten hastig ihren Befehl. Binnen kürzester Zeit enthielt der Sack ein Dutzend dicker, eindrucksvoll ausschauender Bücher, welche aus einem Kasten am Bett stammten, bedeckt von hohen Stiefeln, Kniehosen sowie einem dunklen Langhemd, welches die Prinzessin Silberbaum ausgesucht hatte, und auch die Schale war gefüllt. Sie stieg hinein und wies Craer an, einen seiner Dolche auf den Boden neben die Schale zu legen. Dann befahl die Prinzessin: »Jeder nimmt jetzt einen Dolch und klettert auf eins der Möbelstücke.« Hawkril zog eine Augenbraue hoch und gleichzeitig eine zögernde Hand. »Meiner Erinnerung nach«, erklärte er gleichmütig und mit einem kaum hörbaren warnenden Unterton, »sind wir zu der
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Übereinkunft gekommen, einen Kameraden aufzunehmen und nicht einen Offizier, welcher das volle Kommando über uns ausübt.« Die Prinzessin Silberbaum blickte ihm in die Augen und erwiderte: »Das ist wahr, mein lieber Freund Hawkril – aber bei dieser Sache weiß ich, wie wir vorzugehen haben, und jeder Fehler würde uns alle dem Tode anheim fallen lassen. Schenkt mir in dieser Angelegenheit bitte euer Vertrauen.« Der Ritter hielt ihren Blick für einen langen Augenblick mit dem seinen gefangen, nachdem sie in Schweigen verfallen war. Dann nickte er langsam, nahm einen Dolch vom Boden und schwang sich auf die Anrichte, welche unter seinem Gewicht ächzte, aber standhielt. Craer befand sich, den Dolch in der Hand, bereits oben auf dem Schrank. Die Zauberin blickte die beiden Männer an, holte tief Luft und sagte schließlich: »Ich werde euch dazu auffordern, gleichzeitig zuzuschlagen. Bei den Metallerhebungen, an denen die Lampenketten die Decke erreichen. Stellt sicher, dass Ihr über irgendeinen Teil der dort eingravierten Runen schneidet. Schlagt fest zu und – bei der Dreifaltigkeit! – verfehlt sie nicht. Dann schließt ihr die Augen und lasst eure Klingen los. Es wird eine ... eindrucksvolle Erwiderung erfolgen. Inmitten dessen, was dann geschieht, muss sich jeder von euch einen Sack greifen: Prägt euch fest ins Gedächtnis ein, wo sie stehen. Es mag Dunkelheit herrschen, und wir müssen uns sehr rasch bewegen. Schlagt erst zu, wenn ich den Befehl dazu ausspreche.« Die beiden Freunde wechselten einen Blick und nickten ihr zu. Embra kniete sich nieder, nahm den Dolch, riss etwas
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ab, das an einer dünnen Kette um eines ihrer Fußgelenke hing, und legte es in die trockene Schale. Dann erhob sie sich, wandte sich um, blickte die Männer an und fuhr dann wohl überlegt mit Craers Messer nach unten über die Außenseite ihres Armes. Das Blut quoll dunkel und schnell aus dem Schnitt. Die Prinzessin Silberbaum streckte den Arm aus, so dass die warme Flüssigkeit über ihre Fingerspitzen in die leere Schale rinnen musste, beobachtete für einen Moment, wie sie an ihrem Arm entlangrieselte, und schnappte dann: »Schlagt jetzt zu!« Und bei diesem letzen Wort fielen die ersten dunklen Tropfen in Richtung Schale. Funken sprühten, als die Dolche mit Runen versehenes Metall berührten – und wo die Klingen auf trafen, hinterließen sie eine Spur von Blitzen, welche in die Nacht schossen. Weiß und wild wie hüpfende Lanzen schossen diese Blitze heiß in die Luft. Craer fluchte und zog die Hand weg. Sein Dolch explodierte zu Tropfen aus Metall, und die rauchenden Spritzer, welche an seiner Wange vorbeischossen, verschwanden in der Nacht. Überall um sie herum erhob sich ein Heulen, und irgendetwas Unsichtbares wogte durch die plötzlich äußerst dünne Luft um ihn herum, wobei es sich so schwerfällig vorwärts wälzte wie eine Welle, die über einem kleinen Boot voller sich entschieden festklammernder Krieger vor den felsigen Gestaden von Ieirembor zusammenbricht. Eine zweite Welle der Macht waberte stöhnend durch den Raum, eine Vielzahl eben erst erweckter kleiner Flämmchen in ihrem Kielwasser hinter sich herziehend, und in ihrem vergehenden Schein sah
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Craer, wie die Anrichte umkippte und Hawkril wegsprang. Das darauf folgende Krachen erschütterte den gesamten Raum, und in den umliegenden Zimmern antworteten ein Dutzend kleinerer Unglücke. In einem Ausbruch von durch Magie berührten Feuern – es musste sich um ersterbende Banne handeln – sah der Beschaffer die Umrisse der Zauberin, die immer noch in der Schale stand, eine Schicht ihres Nachtgewandes mit einem triumphierenden Ruck von sich riss und die Hand hob, um sich die Seide um den Arm zu wickeln. Plötzlich von einer neuen Welle erfasst, bebte der Boden und der Schrank schickte sich zu einer eigenen langsamen und Ehrfurcht gebietenden Reise an, die in einer donnernden Begegnung mit dem Boden enden würde. Craer sprang von dem wankenden Holz in die Richtung, in welcher sich sein Sack befinden musste. Er winselte, als ihn etwas traf, das von der Decke herabstürzte und gegen seine Schulter krachte, drehte sich hilflos in der Luft, landete hart auf dem Boden und rollte weiter, bis seine Stiefelabsätze gegen den Sack krachten. Gegen Bücher und nicht etwas Edelsteine, der Dreifaltigkeit sei Dank. Kaum dass er wieder auf den Füßen stand, erbebte der ganze Turm unter ihm und um ihn herum, so dass er ins Taumeln geriet. Die Banne waren gebrochen, so weit, so gut, und der Fürst, seine drei Zauberer und das halbe Gewundene Tal konnten nicht umhin zu bemerken, dass sich hier etwas tat! Eine feste Hand packte ihn im Dunkeln am Ellenbogen. »Haltet Euch hier fest«, sagte Embra Silberbaum und legte seine Hand auf eine Gewandfalte auf ihren schlanken Hüften.
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»Und wenn Ihr Eure Finger nicht bei Euch behaltet, dann kriegt Ihr von mir die drei Dolche zurück, welche Ihr auf dem Boden habt liegen lassen – und zwar mit der Spitze zuerst.« Craer antwortete mit einem Geräusch, das eher einem Schnauben glich als einem Kichern, und bewegte sich gemeinsam mit ihr durch das bebende, von Scherben übersäte Dunkel. Er prallte nur einmal gegen ihren weichen Körper, als Hawkril aus der Dunkelheit auftauchte und sich mit einem lauten Grollen zu erkennen gab. Die Herrin der Edelsteine zögerte nicht, sondern antwortete mit einem beruhigenden Summen und ergriff seinen Unterarm, um auch den zweiten neuen Kameraden zu führen. Gemeinsam suchten sie sich einen Weg um Stühle herum und zwischen mit Perlen besetzten Vorhängen hindurch, die wie Knochen auf dem Tisch eines Alchimisten klapperten und klackerten, bis sie eine bislang unsichtbare schmale, steile Treppe erreichten. Embra führte sie hinunter, wobei sie mehr als einmal vor Erleichterung seufzte. Craer vermutete, dass sie befürchtet hatte, dass sich magische Barrieren erheben würden, bevor sie aus dem Raum gelangten. Dann schob sie zwei nicht genau erkennbare Schatten zur Seite und stieß eine Tür auf, welche hinaus in die vor ihnen liegenden Gärten führte. Die Schulter, die sich von der Hand des Beschaffers befreite, zitterte vor Furcht und Aufregung, aber die Stimme der Herrin der Edelsteine klang ruhig und gleichmäßig, als sie sich umwandte, die beiden Männer anblickte und erklärte: »Was unser Schicksal betrifft, so hoffe ich, dass ihr einen si-
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cheren Unterschlupf kennt und einen schnellen Weg dorthin.« Ohne auf eine Antwort zu warten, hob sie die Hand zu einem hochmütigen, einer Adligen würdigem Winken, mit welchem sie die Freunde anwies voranzugehen. Craer schaute sie an, versuchte, nicht an steinerne Statuen zu denken, die nur darauf warteten, zuzuschlagen und zu zermalmen, drehte sich dann um und rannte hinüber zu den Bäumen, nachdem er sich den Sack über die Schultern geschwungen hatte, damit er in der Eile nicht darüber stürzte. Hawkril folgte ihm schwerfällig, und als sie an den Bäumen vorbeischossen, bemerkte der Beschaffer überrascht, dass die Zauberin barfüßig in Schulterhöhe neben ihm herlief, wobei ihr Haar hinter ihr herwehte und ihr Busen sich keuchend hob und senkte. Keine Wölfe kamen aus den nächtlichen Wäldern, aber nur zu rasch bemerkten sie das dumpfe Dröhnen des Bodens, welches anzeigte, dass ihnen der Steinritter auf den Fersen war. »Ich dachte, von ihm seien bloß noch Stücke übrig«, murrte Hawkril, zog sein Schwert und starrte hinüber zum Wächter der Mauer, als könne sein schierer Ärger ihn fällen. »So war das auch«, keuchte Craer. »Heilen sie wieder zusammen, Prinzessin?« »Bis jemand den Zauber bricht, welchen ich nicht anzurühren wage, sonst stünde ich auf der Stelle den Zauberern meines Vaters Auge in Auge gegenüber«, entgegnete die Zauberin leise. »Außerdem habe ich keine Macht mehr über diesen Steinritter. Ambelters Zauber liegen über und neben meinem Werk, um über irgendwelche Unabhängigkeitsbe-
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strebungen meinerseits zu wachen.« »Er traut Euch so wenig?« murmelte der Beschaffer und trat von Embra weg, um auf diese Weise den herannahenden Steinkoloss dazu zu zwingen, sich nur mit einem Ziel beschäftigen zu können. »Er traut niemandem«, antwortete Embra kaum lauter als im Flüsterton, aber so bitter wie ein winterlicher Hauch. »Er brüstet sich damit, dass derlei Schwächen nicht zu seinen Eigenschaften zählen.« »Und wie sollen wir Eurer Meinung nach dieses Ding da fällen, Prinzessin?« rief Hawkril, hob das Schwert und bewegte sich vorwärts, um die Aufmerksamkeit des Wächters auf sich zu ziehen. Seine Stimme hatte sehr ärgerlich geklungen. »Craer, Ihr rennt in seine Richtung und lenkt den Wächter auf diese Weise ab«, sagte sie und richtete sich lebhaft auf. »Hawkril, seid Ihr bereit, mich wie einen Sack Weizen über Eure Schulter zu werfen und mich in Sicherheit zu bringen? Hebt mich einfach ohne ein Wort und ohne mich zu schlagen auf. Wir haben nur diesen einen Versuch.« Der Ritter antwortete mit einem wütenden Knurren, aber er fiel zurück, als Craer seinem Blick begegnete, nickte und vorwärts stürmte. Die Steinklinge fuhr nieder, und der Beschaffer sprang in die Luft, landete auf allen vieren, warf sich zur Seite und rollte durch die Büsche, als der Wächter sich umdrehte, zur Verfolgung ansetzte und mit mehr Eile als Genauigkeit zuhackte. Hawkril baute sich hinter der Zauberin auf. Seine Augen waren schmal vor Misstrauen, und er hielt sein Schwert dicht vor ihre Brust. Er blickte sich eilig um auf der Suche nach Wölfen, Be-
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waffneten oder Zauberern, aber der größte Feind mochte dieses wunderschöne, statuenhafte Mädchen sein, welches sich direkt vor der Spitze seines Schwertes befand. Die Prinzessin Silberbaum stand mit geschlossenen Augen da und schwankte ein wenig hin und her. Aus ihrem leicht geöffneten Mund drang ein leises Gemurmel, das beinahe einem Summen glich, und als Hawkril genauer hinschaute, legte sie langsam den Kopf zurück, bis sie, hätte sie denn die Augen geöffnet, hinauf in den von Sternen durchsetzen Himmel schaute. Dann erschauerte sie, duckte sich plötzlich wie eine Frau, die eine vom Sturm gepeitschte Straße entlangeilt, und sagte rau: »Es ist vollbracht. Hawkril, steckt Euer Schwert weg.« »Das, werte Dame, ist etwas«, antwortete der Ritter, »das ich selbst entscheide. Ich begegne Zauberern, welche mir etwas zu tun befehlen, mit Misstrauen, und wenn nur die Hälfte dessen, was Ihr über Eures Vaters Zauberer erzählt habt, der Wahrheit entspricht, dann solltet Ihr das genauso halten.« Er erstarrte, als hinter ihren Schultern etwas aus der Nacht donnerte. Ein anderer Steinritter, der rasch in Richtung der Bäume schritt, hinter welchen Craer und der erste Wächter verschwunden waren. »Prinzessin Embra«, knurrte Hawkril, »falls Ihr ein falsches Spiel mit uns getrieben ...« Das erschöpfte Gesicht der Zauberin erhob sich zu seinem zornroten, und sie murmelte: »Dann tötet mich. Auf der Stelle. Das verschafft Euch vielleicht einen kurzen Augenblick der Befriedigung, bevor die Zauberer meines Vaters Euch zum Schreien bringen. Ich glaube, wir beide wollen – und müssen, bei den Göttern – Vertrauen zueinander aufbauen. Meine Macht über die Wächter auf den Mauern ist, so fürch-
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te ich, vergangen. Ich kann nur noch diesen einen beherrschen.« »Und?« bellte Hawkril. Seine Klinge war immer noch auf ihre Kehle gerichtet und zum Stoß bereit. »Ich werde ihn dazu veranlassen, den zu bekämpfen, welcher Euren – unseren – Freund jagt«, erklärte sie. Den Blick ihrer dunklen Augen unverwandt auf ihn gerichtet, erklärte sie mit einer Wut, deren Wildheit der seinen in nichts nachstand: »Hawkril, vertraut mir!« Dann bebte der Boden, und der Ritter wirbelte knurrend von ihr weg und hob sein Kriegsschwert, bereit, allem entgegenzutreten, was da kommen mochte. Er starrte geradewegs auf zwei Steinköpfe, die durch die Zweige krachten, und dann wieder auf die Zauberin. Ohne jeden Zweifel schoss ihm dabei der Gedanke durch den Sinn, ob die beiden Statuen in sich zusammenfallen würden, wenn er die Zauberin erschlug. »Wartet ab, und schaut genau hin«, schnappte Embra mit bebender Stimme. »Ihr werdet schon sehen ...« Äste brachen, und Craer Delnbein schoss aus der Nacht hervor, taumelte zwischen die beiden und keuchte: »Tut mir Leid, dass ich sie hierher zurückgelockt habe ...« Hawkril blickte ihn an und dann die Steinriesen, die sich über ihnen auftürmten. Er hob sein Schwert, das im Angesicht dieser Ungetüme mit ihren riesigen Steinklingen genauso gut aus Gras hätte bestehen können. Dann stieß er ein Keuchen aus. Der Wächter mit der von Rissen durchzogenen steinernen Haut hob seine Waffe, um Hawkril zu zerschmettern – aber der andere Ritter verpasste ihm seitlich von hinten einen
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Hieb, wobei er seine Klinge führte wie ein Holzfäller seine Axt und all die schwerfällige Kraft seiner Schultern in diesen Schlag legte. Das Steinschwert traf den erhobenen Schwertarm und durchbrach ihn. Daraufhin ertönte das Krachen zerberstenden Steins, welches die Zauberin und die beiden Männer des Greifen taub machte. Steinsplitter und kleinere Bruchsteine flogen in alle Richtungen davon, als der Angriff des Ritters diesen in seinen entwaffneten Zwilling krachen ließ. Stein kreischte auf Stein, der Boden schien zu stöhnen, und die beiden Titanen kippten langsam um und fielen unter einem solchen Poltern und Getöse, dass es quer durch die Gärten von den Mauern der nicht sichtbaren Burgmauern widerhallte, gemeinsam durch eine Gruppe von Weißastbäumen. Der Anblick bewirkte, dass Hawkril mit offenem Mund auf die Kolosse glotzte, aber die Prinzessin Silberbaum zerrte an seinem Arm und schrie ihm etwas zu, was er wegen des Rauschens in seinen Ohren jedoch nicht zu hören vermochte. Craer befand sich an ihrer Seite, und sie wies auf ihn, während sie den Ritter mit sich zog. Hawkril befreite sich aus ihrem Griff und antwortete mit einem wilden, aufgeregten Lächeln, steckte seine Klinge in die Scheide und bedeutete ihr mit einer Geste, sie solle weitergehen, so wie ein Stutzer bei Hofe einer Dame anzeigt, sie solle vor ihm den Tanzboden betreten. Embra Silberbaum verdrehte die Augen im Mondlicht, bevor sie weitertrabte. Craer lief einen halben Schritt vor ihr her. Wie ein Narr grinsend folgte Hawkril. Das Rauschen in
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seinen Ohren ließ langsam nach, bis er wieder seinen eigenen raschen Atem und das leise Rascheln ihrer durch den dunklen Garten eilenden Füße vernehmen konnte. Weder Wächter noch Wölfe kamen aus den nächtlichen Gehölzen, aber als sich der dunkle Schild der Mauern vor ihnen erhob und ihnen den Weg versperrte, schien das Gemäuer zu leben, denn die steinernen Zähne seiner Zinnen bewegten und verschoben sich. Bei dem Versuch, eilends anzuhalten und sein Schwert zu zücken, stürzte Hawkril beinahe zu Boden. Einen Augenblick später gerieten alle drei ins Wanken, als der Boden wieder bebte und ein heftig rollender Donner erscholl, der dieses Mal nicht enden wollte und vor den flüchtenden Menschen hin und her raste. Entlang der ganzen Mauer löste sich ein Ritter nach dem anderen aus den Steinen, und ein jeder erhob langsam und bedrohlich eine Klinge. »Vorhin waren da auch Hände«, murmelte Craer, der sich an die Arme erinnerte, welche nach ihm gegriffen hatten. Das hier würde alles andere als erfreulich werden ... Die Herrin der Edelsteine hob die Hände und murmelte ein paar entschiedene, sorgfältig gesprochene Worte. Ihre Augen schienen für einen Augenblick aufzublitzen, dann entstand darin ein Glühen – ein Glühen, welches aus ihr herauszubrechen und durch die Luft zu dringen schien wie eine Welle, die über einen Sandstrand wäscht. Wo dieses Glühen auf Stein traf, sei es nun auf einen massigen Ritter oder die solide Mauer, schien der Stein für einen Moment zu rauchen, um dann mit einem Brüllen auseinander zu bersten und von der Zauberin wegzuströmen, als handele
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es sich um nichts als Staub. Ein bisschen Geröll rieselte auf den Ritter und den Beschaffer nieder, trieb an ihren Knöcheln vorbei und verschwand. Die Männer glotzten auf den leeren, zertrampelten Rasen, wo sich gerade noch die Statuen befunden hatten, auf die Spalte, welche sich in der Mauer dahinter öffnete, auf das Mondlicht, welches silberne Flecken auf den Fluss malte ... und dann zurück auf ihre neu gefundene Verbündete. Die Prinzessin Embra Silberbaum hob eine Braue, als sie die Blicke der fassungslosen Männer bemerkte, und erklärte ent- schieden: »Nun müssen wir uns wirklich beeilen. Also los jetzt, ihr Faulpelze!« »So sagt mir denn, Zaubermeister, was Eurer Meinung nach Silberbaums nächster Schachzug sein sollte«, verlangte Faerod Fürst Silberbaum und hob die rabenschwarzen Augenbrauen. Er erinnerte an einen geschmeidigen, gut aussehenden Raubvogel, als er sich jetzt, ein Glas Wein in der Hand, mit beinahe seidiger Geschmeidigkeit niedersetzte und seinen ältesten Magier über die in den Tisch eingravierte Landkarte hinweg anlächelte. Das Lächeln kannte der Zauberer, aber er hielt es für alles andere als freundlich. Der fette, leicht unheimlich wirkende Ingryl Ambelter widmete sich gerade dem letzen und saftigsten Bissen seiner gespickten Trappe mit Pilzbuttersauce, aber er wusste, dass er gut daran tat, den von Zorn getriebenen Mann, in dessen Diensten er stand, nicht zu enttäuschen. Der Herr von Silberbaum konnte vor Wut eiskalt oder siedend heiß toben, aber keines von beiden war erfreulich zu beobachten, und es erschien angebracht, keine der beiden
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Gemütsverfassungen zu wecken, selbst wenn man der mächtigste Zauberer in allen Fürstentümern am Fluss sein mochte. Also wischte sich Ingryl das Kinn und die plumpen Finger mit den vielen Ringen mit allen Anzeichen der Beflissenheit ab, schob die weiten Ärmel seines Gewandes zurück und beugte sich vor, um für einen Moment den sich windenden Lauf des Silberflusses auf der Karte zu mustern, bevor er antwortete. Seine Worte mussten sowohl sicher als auch genau sein, um seinen Arbeitgeber zu beruhigen. Nur Verrückte scheuen zurück, wenn andere sie leiten wollen. »Edler Fürst«, sprach er in einem Ton, welcher seiner Meinung nach genau den angemessenen Klang zurückhaltender Erregung vermittelte, »ich glaube, wir haben eine seltene Gelegenheit ...« Quer durch den Raum erscholl ein tiefes Donnern, gefolgt von dem hohen, melodischen Klingeln fallenden Glases. Zwei Köpfe fuhren herum und beäugten die Scherben des Verräterzaubers, welche sich klirrend über den ganzen Boden verteilten. Der Kopf des am weitesten rechts befindlichen grinsenden Wasserspeiers aus Glas fehlte; irgendetwas hatte den Zauberbann auf der Außenmauer von Burg Silberbaum verletzt. Am Ende des auf einem Podium stehenden Tisches, an welchem sich der Platz des Fürsten befand, fanden sich Reihen eingelassener goldener Drachenköpfe; der Fürst griff nach zweien und zog an ihnen, noch bevor das wie ein Gong klingende Echo des zerrissenen Verräterzaubers verklungen war. Als er anschließend nach seinem Glas langte, sah das weit weniger geschmeidig aus als noch ein paar Augenblicke zuvor,
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als er es abgesetzt hatte. Ihm blieb kaum die Zeit, es zu leeren und aufzuseufzen, als sein Inhalt seine Kehle hinunterrann, als sich auch schon zwei Türen in den Wänden des Raumes öffneten. Bewaffnete Wachen eilten aus der einen herein, zwei Zauberer in voller Robe aus der anderen. Keiner der Neuankömmlinge war so töricht, mit Fragen herauszuplatzen; der Fürst hatte sie herbeigeklingelt und würde seine Befehle zur angemessenen Zeit erteilen. Er enttäuschte ihre Erwartungen nicht und ließ sie auch nicht lange warten – allerdings legten sie auch keinen besonderen Eifer an den Tag. Alle hatten sie das zerbrochene Glas bemerkt, allerdings darauf verzichtet, irgendein Gewese darum zu machen, wussten sie doch, dass ihnen eine Nacht harter Arbeit bevorstand ... und mehr als einer hatte noch Schlaf in den Augen. »Die Burgmauern sind verletzt worden, vielleicht am anderen Ende der Insel«, erklärte der Fürst knapp. »Folgt wem auch immer, der die Burg verlassen haben mag, und bringt ihn zu mir – ohne Verzögerung und so lebendig wie möglich.« Ritter beugten die Köpfe und drängten sich durch die Tür hindurch, durch welche sie hereingekommen waren. Fürst Silberbaum hob den Blick zu den drei in Roben gehüllten Männern, die sich immer noch im Zimmer befanden, und fragte ruhig: »Und auf was wartet ihr ...?« Die Worte enthielten, wie es den Anschein hatte, keine tiefere Bedeutung. Mit fliegenden Ärmeln eilten alle drei Zauberer zu ihren Bänken in verschiedenen Ecken des Raumes und schickten sich an, Zauber zu wirken.
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Es dauerte nicht lange, bis Ambelter ein Zischen ausstieß. »Dort!« Er spreizte die Finger, und sogleich erschien ein sich drehender glühenden Augapfel und trieb durch die Luft. Dieser verdunkelte sich, schwebte hoch und zerstob zu einem Nebel, welcher in einem schillernden Chaos weiter nach oben und über die Decke strömte – ein kriechender Teppich von Magie. Seine Farben blitzten auf, bildeten Spiralen und verdrehten sich plötzlich zu einem klaren und lebensechten Abbild dreier tropfnasser Gestalten, die sich an das jenseitige Ufer des Silberflusses klammerten. »Meine Tochter«, sprach der Fürst leise. »Wie aufschlussreich.« Er schaute der Reihe nach alle drei Magier an und fügte beinahe achtlos hinzu: »Ihr wisst, was ihr jetzt zu tun habt.« Der jüngste unter den Zauberern war übereifrig und töricht genug, es für angebracht zu halten, seine Gewitztheit dadurch zu beweisen, dass er laut antwortete. »Sorgt dafür, dass sie nicht verletzt wird«, murmelte Markoun Yarynd, »und bringt sie alle zurück. Der Zustand der Männer ist nicht weiter von Belang.« »Genau«, schnurrte der Baron. Die drei Magier tauschten ausdruckslose Blicke und kehrten in ihre Ecken zurück, um aufs Neue Magie zu wirken. Die Bücher – und Embras Kleider, welche darauf lagen – hatten das Bad im Fluss nicht sonderlich gut überstanden, befürchtete Craer, aber darauf schien die Prinzessin Silberbaum keinen Gedanken zu verschwenden. Auch das an ihrem Kör-
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per haftende feuchte Nachtgewand schien sie nicht weiter zu stören, ebenso wenig der lange, an ihrem Rücken klebende Schwanz, in den ihr gelöstes Haar sich verwandelt hatte. Nicht dass ihnen übermäßig viel Zeit blieb, sich mit solchen Kleinigkeiten abzugeben, während sie in der immer undurchdringlicher werdenden Dunkelheit durch ein Gewirr von Bäumen stolperten. Hawkril lief einen Schritt vor seinen Kameraden her. Plötzlich fluchte er und zog sein Schwert. Die Zweige, die sie zur Seite schoben oder zerbrachen, bewegten sich – sie wanden sich wie Schlangen und reckten sich, um sie zu erwürgen oder festzuhalten. Dann bogen sie sich um die drei Flüchtlinge und bildeten einen riesigen lebendigen Käfig. Craer zog sein Kurzschwert und schloss sich Hawkrils wildem Zuhacken an, wobei ihm echte Furcht so eisig in die Kehle stieg wie die Wasser des Silberflusses. Ein Ast schoss an seinem Kopf vorbei, und er duckte sich, um seinem zurückschwingenden Würgegriff zu entkommen. Dabei schlitzte er sich beinahe die Kehle an den speerartigen Spitzen eines anderen nach ihm greifenden Astes auf. »Bei den Klauen!« fluchte er laut und beinahe schluchzend; wie lange mochte es dauern, bis das lebendige Holz sie niederwerfen, blenden oder das Leben aus ihnen herauspressen würde? Dicht neben seinem Ohr stimmte die Herrin der Edelsteine einen gebieterischen Singsang an, und plötzlich strömte ein Glanz so braun wie Bier aus ihr heraus und in die dunklen Bäume vor ihnen. Äste erzitterten und ringelten sich zurück, schrumpften –
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nein, verwelkten, schwanden, brachen und senkten sich, baumelten leblos und ohne Gewicht herunter. Craer hackte auf die letzen beiden Zweige ein, um sich zu befreien, stolperte über einen dritten und fand sich einer langen Narbe lebloser Bäume gegenüber, einem Pfad aus Ruinen, welcher hinaus in die Nacht führte. Hawkril winkte ihm ungeduldig zu, er solle die Führung übernehmen. »Ihr kennt den Weg, Langfinger«, brummte der Ritter. »Ich bin in Silberbaum nie so ganz willkommen gewesen, oder habt Ihr das vergessen?« Craer und Embra tauschten Blicke aus. Der Beschaffer hob seinen Sack an. »Äh, wollt Ihr Eure Stiefel? Und ...« »Später«, beschied ihn die Zauberin. »Sobald wir welche Zuflucht auch immer erreicht haben, zu der Ihr uns führt. Zu viele neunmalkluge Zauberer stehen in meines Vaters Diensten, um hier herumzustehen und zu reden.« »Über wie viele dieser neunmalklugen Zauberer gebietet er eigentlich genau?« erkundigte sich Craer mit einer Spur Grimm. Bei der Dreifaltigkeit, es wäre weniger töricht gewesen, im hellen Tageslicht in die Burg Silberbaum zu marschieren und damit zu beginnen, das Tafelsilber des Fürsten einzuheimsen, als die Garderobe der Herrin der Edelsteine zu rauben! Es schien mehr als wahrscheinlich, dass sie bei Anbruch der Morgendämmerung ... Hinter ihnen schlug etwas mit riesigen Flügeln und kam zwischen den Bäumen heruntergetaucht, begleitet von lautem Knacken und Prasseln. »Bei den Hörnern! Was ist das?« keuchte Hawkril und riss das Schwert hoch.
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»Lauft!« zischte die Prinzessin Silberbaum den beiden Männern zu. »Lauft, und bleibt dabei geduckt!« Sie befolgte augenblicklich ihre eigene Empfehlung und floh an ihnen vorbei in die Nacht wie ein feuchter, barfüßiger Geist. Die beiden Freunde folgten ihr wie ein Mann, stolperten mit betäubender Macht immer wieder in Bäume, befreiten sich und hasteten weiter, ohne sich von all dem Schwanken und Taumeln über unsichtbare Wurzeln und unebenen Boden zurückhalten zu lassen. Ununterbrochenes Splittern hinter ihnen ließ darauf schließen, dass der fliegende Schrecken ihnen mit ungebrochenem Eifer folgte. »Wisst Ihr«, keuchte Craer, als er endlich die Zauberin eingeholt hatte, die sie eigentlich führen oder entführen oder jedenfalls weit weg von der Burg Silberbaum und der Reichweite des grausamen Fürsten bringen sollten, »um was es sich bei diesem Wesen handelt?« »Man nennt es einen Nachtlindwurm«, japste Embra, »heraufbeschworen von einem der Magier meines Vaters. Er wird uns in Stücke reißen, wenn er uns fängt.« Und genau in diesem Augenblick blieb Hawkril und Craer keine Zeit mehr, eine kluge Antwort zu geben, denn das Ungeheuer schien über die Fähigkeit zu verfügen, nach Belieben feste Gestalt anzunehmen oder auch nicht, tauchte jetzt zwischen den Bäumen hindurch, die es eigentlich hätten aufhalten sollen, und raste mit beängstigender Geschwindigkeit auf sie zu. Der Drache war nur noch ein paar Schritte entfernt, und er ... Sie warfen sich zur Seite und streckten verzweifelt alle viere von sich, als nur wenige Zoll hinter ihnen Zähne knirsch-
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ten, sich windende Köpfe gierig nach ihnen schnappten und – ein knorriger Baum dazwischen geriet. Der donnernde Zusammenprall hätte jedes Tier aus Fleisch und Blut umgebracht. Der Stamm des Baumes erzitterte und barst, blieb zwar zerrissen, aber immer noch aufrecht stehen, und rings umher regneten Äste nieder. Die Prinzessin Embra Silberbaum sprang in einem Salto rückwärts mitten in die Zweige, wobei sie ohne den geringsten Anflug von Würde so hart hinplumpste, dass es ihr die Luft aus den Lungen presste, sie herumgewirbelt wurde und sich schließlich benommen in sitzender Stellung mitten in einem Wirrwarr aus gesplittertem Holz wiederfand. Die Prinzessin musste feststellen, dass sie in ein einziges, offenes und vielzahniges Maul starrte, das sich nur wenige Zoll vor ihr öffnete. Gurgelnd bewegte sich der Nachtlindwurm vorwärts, um die Prinzessin zu verschlingen. »Wollt Ihr nicht etwas essen, Prinzessin?« Mressas Stimme klang beinahe wie ein Schluchzen. Ihre junge Schutzbefohlene in einem solch verzweifelten Zustand zu sehen, brach ihr beinahe noch mehr das Herz als das Böse, welches der Vater des Mädchens dessen Mutter angetan hatte. Etwas Böses, das sich auch jetzt noch ausbreiten mochte – nur ein winziges bisschen –, um auch noch die junge Prinzessin Silberbaum zu verschlingen. Das Mädchen wandte sich wütend ab. Mressa beobachtete, wie sie die Zinnen entlangwanderte wie ein schwarz gewandeter Geist, der ... in sein Verhängnis lief? Schweigend und knochenbleich wartete sie darauf, ebenso zerstört zu werden wie einst ihre Mutter. Oder würde Embra sich den Zeitpunkt ihres Todes selbst aussuchen, so wie jetzt auf die Felsen im Fluss tief unter ihr blicken, sich
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über die Brüstung schwingen und hinunterstürzen in einem kurzen, ununterbrochenen Flug, der nur ein Ende nehmen konnte? Mressa drückte das verschmähte Tablett gegen ihren üppigen Busen, beobachtete die still und unbewegt auf ihren eigenen Tod niederblickende Embra, und erschauerte. Sie wagte es nicht, zu dem Mädchen hinüberzugehen, mochte doch ihr Herannahen der Auslöser dafür sein, dass Embra schreiend allem ein Ende machte. Schreiend ... so wie ihre Mutter Tlarinda während der ganzen langen Nacht, als sie, auf einen Tisch gebunden, unter der Folter ihres fürstlichen Gemahls ihre Todespein hinausgeheult hatte. Die Schreie hatten erst kurz vor dem Morgengrauen aufgehört, als ihr verstümmelter Köper den letzen Atemzug ausstieß und der sanft lächelnde, vom Blute seiner Frau getränkte Fürst Silberbaum sich abwandte und ruhig fragte, ob das befohlene warme Bad bereitstehe. Bei der Erinnerung überlief es Mressa kalt. Dann erstarrte sie. Dort oben auf dem höchsten Turm stand eine einsame Gestalt, welche Embra beobachtete, während das Mädchen dem endlos vorbeiströmenden Silberfluss zuschaute. Ein Geier, welcher über seinem Opfer hockte, von dem er wusste, dass es ihm nicht entkommen konnte, und das kalte Gewicht seines Blickes nagelte die Dienerin wie ein Dolch fest. Mressa konnte sein kaltes Lächeln nachgrade spüren. Sie versuchte, nach Luft zu schnappen, aber ihr blieb nur noch genug Atem zum Zittern. Sie hielt den Blick auf das stille Mädchen gerichtet, welches sie fortan Prinzessin Silberbaum nennen musste, aber sie wagte es nicht, noch einmal nach oben zu schauen. Sie war hier wie festgewachsen und dazu verdammt zuzusehen, wie Embra sich für oder gegen den Tod entschied. Als er seinen Fehler bemerkt hatte, hatte er die Achseln gezuckt und
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gelächelt. Dieses Lächeln würde Mressa für den Rest ihres Lebens nicht mehr vergessen. Immer noch lächelnd hatte er so wie immer den Satteltrunk hinuntergeschüttet und war davongeritten, um den Bestand seiner Zuchtställe zu ergänzen, ohne auch nur ein Jota von seinen Plänen abzuweichen. Das war am vierten Tag nach Tlarindas Tod gewesen, die von seiner Hand gestorben war, hingeschlachtet wegen der Sünde der Treulosigkeit. Der Fürst hatte beobachtet, wie sie in einer Gasse mit einem Mann gesprochen hatte – einem Mann, dessen Anblick die Prinzessin sichtlich erfreut hatte, denn die beiden hatten sich geküsst, umarmt und gemeinsam gelacht. Der Fremde fand sich in Eisen gelegt in einer Zelle wieder, und man hatte ihm auf den Befehl des Fürsten hin die blutigen Überreste Tlarindas überbracht. Binnen einer Stunde hatte man ihn auf die Hauptstraße geschleppt und ihm Arme und Beine abgehackt, die Wunden mit Feuer versiegelt und ihn mittels der grausamen Zauber des Gadaster Mulkyn am Leben erhalten ... und dort belassen, aufdass er nackt in der Sonne liegend eines langsamen Todes starb. Bei dem Fremden hatte es sich um Tlarindas lange vermissten Bruder gehandelt. Diese Neuigkeit hatte dazu geführt, dass Faerod Silberbaum die Achseln gezuckt und gelächelt hatte. Ein Lächeln beiläufigen Bedauerns, als habe er den falschen Umhang angelegt oder eine leere Karaffe hochgehoben und nicht die volle daneben. Ein Flüchtigkeitsfehler, nicht einmal einen Fluch wert, ganz zu schweigen von Gewissensbissen oder Zweifeln. Eine wie betäubt dastehende Mressa hatte zugesehen, als man die Überreste an die Schlossschweine verfüttert hatte, womit die Sache erledigt gewesen war. Zurück blieb ein stilles, verträumtes Mädchen, das sich in mit Edel-
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steinen verzierte Gewänder hüllte und allein im Garten saß und las. Ein gebrochenes, schweigendes Mädchen, das seit dem zweifachen Tod nicht mehr gesprochen hatte und auch ihre schwarzen Trauergewänder nicht ablegte. Etwas bewegte sich schleichend über die Brüstung, und Mressa kehrte schlagartig in die Gegenwart zurück. Ein Stein war zur Seite geschwungen wie eine Lukentür, und das Mädchen hob Bücher aus einer dahinter versteckten Nische. Die Folianten wirkten wie Zauberbücher und sahen denen sehr ähnlich, welche sie zwei- oder dreimal vor dem höchstrangigen Zauberer des Fürsten hatte liegen sehen, Gadaster Mulkyn. Weiter oben bewegte sich noch etwas. Mressa zwang sich dazu hinzuschauen und sah gerade noch rechtzeitig, dass sich Gadaster dem Fürsten zugesellte. Sie starrten kalt lächelnd auf die junge Prinzessin Silberbaum nieder, die gerade voller Verwunderung die Seiten der Bücher durchblätterte. Bei den Hörnern der Herrin, sollte Mressa Kalandue die einzige Zeugin einer weiteren Bluttat werden? Eine Zunge, die Faerod in dem Moment zum Schweigen bringen würde, in dem ihm einfiel, was sie zu erzählen vermochte? Genau das war sie. Unter den Zinnen, auf welchen Embra stand, ragte ein Balkon hervor; eine runde Plattform, die aus der Mauer hervorsprang und auf der Fürst Silberbaum und seine Gemahlin an schönen Abenden gern gesessen hatten, um den Fluss zu beobachten. Der Balkon war jetzt verlassen, aber Gadaster Mulkyn wedelte mit der Hand, die Luft über dem Balkon schimmerte für einen wirbelnden Moment, und schon stand Faerod Silberbaum da und schaute auf den Silberfluss hinaus, einen Pokal in der Hand. Er lehnte sich auf die Brüstung, offenkundig ohne das Mädchen über ihm zu
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beachten. Sie bemerkte ihn und erstarrte. Mressa schaute in dem Moment zu dem hohen Turm hoch, als der Fürst – der echte Fürstzurücktrat und direkt hinter dem Zauberer Gadaster stehen blieb. Er beobachtete, wie Embra auf sein Abbild starrte und einen raschen Blick in die Runde warf – in ihren Augen zählte Mressa als Freundin oder ein loyales Möbelstück, deshalb glitt ihr Blick ohne ein Zögern über die alternde Dienerin hinweg –, um sicherzustellen, dass sie allein war. Dann wandte sie die Seiten stürmisch um, und ihr Kopf bewegte sich in wilder Hast auf und nieder. Nach einer Zeit, die ewig zu währen schien, richtete sie sich auf hob einen schlanken Arm wie ein Schwert in Richtung ihres Vaters unter ihr und sagte ein paar klare, scharfe Worte. Die Luft über dem Baron kochte und sprühte Funken, die ganze Burg bebte, und Fürst wie auch Balkon verwandelten sich in kleine, geschwärzte Bruchteile, welche in die Luft schossen und in die tief unten liegenden Stromfluten stürzten. Wachen kamen schreiend herbeigerannt, und an allen Fenstern erschienen Köpfe. Oben auf dem höchsten Turm erschien aus dem Nichts um den Fürsten und den Zauberer herum eine schimmernde Kugel. Zitternd schwebte sie in die leere Luft und senkte sich langsam zu einem Mädchen, dass die leere Stelle anstarrte, an der sich gerade noch ein Balkon befunden hatte. Mressa hörte die Worte von Gadaster und dem Baron ebenso deutlich wie Embra, und sie wirbelte herum und starrte hoch, das Gesicht so bleich wie Knochen. »Eine rasche, starke und natürliche Begabung für die Magie«, murmelte der Zauberer. Fürst Silberbaum lächelte. »Gut. So wird sie mir wenigstens nützlicher sein denn als wandelnde Ausstellung meiner Juwelen. Tut mit ihr, was Ihr wollt, Mulkyn, solange sie es nicht wagt, auch nur den geringsten Anschein
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von Ungehorsam an den Tag zu legen. Ich kann Untreue nicht ausstehen.« Er lächelte. Als sie seine letzten Wort vernahm, veränderte sich Embra Silberbaums Miene. Für einen Augenblick enthielt sie rasendere Wut, als Mressa sie je zuvor gesehen hatte: Eine verzerrte Flamme des Hasses. Und dann glätteten sich ihre Gesichtszüge – schließlich war sie eine Silberbaum – und nahmen wieder den üblichen unergründlichen Ausdruck an, und die Prinzessin Silberbaum sah ihr Verhängnis herannahen, verbarg aber ihre Gefiihle hinter einer Maske.
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Drei
Aufkeimendes Verständnis – und Schlimmeres C Von allen Bestien, welche Menschen jagen, fürchtete man keine so sehr wie den Nachtlindwurm. In Darsar lebten Furcht erregendere Ungeheuer, und manche mochten sogar noch unbarmherziger sein, aber ein glitzerndes, einem Aal gleichendes Wesen so lang wie zehn Männer, welches wie eine Riesenfledermaus durch die Luft glitt und über zwei Mäuler verfügte, von welchen jedes groß genug war, um eine ganze Familie zu verschlingen, ließ die Menschen vor Entsetzen schluchzen. In den Tälern des Silberflusses hatten schon immer Nachtlindwürmer gelebt. Wenn die Sonne strahlend hell hoch am Himmel stand, hingen sie reglos mitten in der Luft, für gewöhnlich in den Schatten von Baumdickichten, oder sie trieben über Sümpfen dahin, welche nie ein Mensch betrat. In der Abenddämmerung schwärmten sie dann aus, um Nahrung zu suchen. Eine Kuh oder einige Schafe stellten eine bessere Beute dar als ein Mensch, aber manche Nachtlindwürmer liebten die
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Jagd, und wieder andere schlugen bevorzugt bei hellem Tageslicht zu. Und es gab sogar etliche, welche die Menschen mit Vorliebe verhöhnten und verspotteten, indem sie nämlich die Fallen zerstörten, welche man für sie errichtet hatte, oder wiederholt Schläfer in ihren Betten aufschreckten – die Ungeheuer brausten durch die Fenster, warfen die Betten um und schleuderten die entsetzten Menschen in alle Richtungen durcheinander – bevor sie dann eines schrecklichen Nachts zum Töten und Fressen zurückkehrten. Einige wenige entwickelten eine Vorliebe für das Fleisch einer bestimmten Familie oder der Bewohner eines einzigen Fürstentums oder Stadt. Alle Nachtlindwürmer hassten jene am meisten, welche ihnen den größten Schaden zufügen konnten: Bogenschützen und Zauberer. Barden erzählten häufig die Geschichte von Maerdantha, die ihre ganze Familie verlor, Sohn auf Tochter auf Onkel, weil diese Zauberbanne auf dunkle fliegende Wesen legen konnten, welche ihre Schafe verschlangen. Zum Schluss erschuf sie mit Hilfe ihrer eigenen Zauberkraft die Gestalt eines Nachtlindwurms und legte sich in dieser Gestalt inmitten ihrer schnell schwindenden Herde auf die Lauer. Als der Jäger heranbrauste, kämpfte sie um ihr Leben – es gelang ihr nur deshalb, ihn zu töten, weil er sich ihr von Leidenschaft ergriffen näherte und aus diesem Grund darauf verzichtete, sie auf der Stelle zu zerfleischen. Der Körper, welchen die Diener fanden, nachdem sie ihre schlimm verletzte Herrin weggetragen hatten, maß sechs Fuß vom Ansatz der riesigen Fledermausflügeln bis zur Spitze des mit Stacheln bedeckten Schwanzes. Obwohl in Stücke gerissen und tot, wirkte der geschmeidige, zusammengekrümmte
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Körper anmutig und so tödlich, dass nur wenige es wagten, sich ihm zu nähern. Das Ungeheuer hatte zwei spitze Köpfe, und alle wiesen ein vogelschnabelartiges Maul auf so lang wie ein Mann und mit vielen scharfen Haifischzähnen. Die Augen schimmerten weiß und hatten keine Pupillen, und selbst Priester sah man bei diesem Anblick erschauern. Dieser Nachtlindwurm wirkte kleiner als die meisten seiner Art, war aber erheblich großzügiger mit Kiefern ausgestattet. Als er sich hungrig und mit weit aufgerissenen Mäulern auf Embra stürzte, schien das Biest kein bisschen von Leidenschaft öfasst zu sein. Es sei denn, seine Liebe galt dem blutüberströmten, frisch dampfenden Leichnam der Zauberin. Die Herrin der Edelsteine spuckte in eine Hand und stammelte ein Wort der Macht, von dem sie gehofft hatte, es niemals anwenden zu müssen, jedenfalls nicht bevor sie Jahre älter war als jetzt. Das Wort echote unheimlich um sie herum, während sie den Arm nach vorn stieß und den Speichel in eines der klaffenden Mäuler des Lindwurms schleuderte. Die von diesem einen Wort erzeugte Übelkeit und Schwäche brach sich in ihr Bahn, und sie stöhnte laut. Der andere Kopf des Ungeheuers schoss auf sie zu, und die dunklen Kiefer schnappten nach ihr. Embra trat ihn weg, kam auf die Beine und wand sich verzweifelt über den wirren Haufen von Ästen. Zweige kratzten brennend heiß wie Feuerzungen über ihre Haut und verscheuchten die Übelkeit. Der Nachtlindwurm begann um sich zu schlagen, als ihre Magie in ihn hineinjagte, und schwarze Windungen peitschten wild durch die Luft.
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Embra rollte sich zur Seite, wobei sie einen Arm vor ihr Gesicht hielt, und stieß das eine Wort aus, welches ihren Zauber zu einem tödlichen Ende bringen würde. Die Nacht explodierte in einem feuchten, alles zerreißenden Regen wütenden Zauberfeuers und verhexter Ungeheuer, und der von Tau bedeckte Boden erbebte. Irgendwo in der Nähe schrien Männer vor Entsetzen. Blut und Schleim klatschten auf die umstehenden Bäume und tropften durch erschauernde Blätter nach unten. Holz und Fleisch zischten gleichermaßen in dem Nachglühen des Feuerstoßes, als der einstmalige Nachtlindwurm in Form schwarzer Tropfen auf dem Gewirr von Zweigen und den drei Flüchtlingen landete. Kleine Rauchfäden erhoben sich dort, wo die Tropfen hinfielen. Die Prinzessin Silberbaum kratzte sich mit den rauchenden Überresten ihres Nachtgewandes die am ärgsten brennenden Stellen direkt über ihrem Knie. Nach Luft schnappend versuchte sie mit aller Kraft, den Inhalt ihres sich hebenden Magens unten zu behalten, was ihr auch irgendwie gelang. »Bei den Schlangen in den Schatten!« stieß sie hervor und benutzte damit erschöpft den stärksten Fluch, welchen man in den Tälern kannte. Sie riss sich so heftig von einem letzten dolchartigen Zweig los, dass dieser eine blutige Schmarre quer über ihre Rippen hinterließ. Gierig sog sie die kalte Nachtluft ein, blinzelte und stellte fest, dass sie direkt in die Augen von Hawkril Anharu blickte. Rauch stieg hier und da aus den Haaren des Schwertmeisters, wo das ätzende Sekret des Nachtlindwurms auf ihn gespritzt war, und sein nasses, rauchverschmiertes Gesicht
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drückte Ehrfurcht aus. Neben ihm kam Craer in Sicht, ebenso von den Innereien des Ungeheuers bedeckt wie seine beiden Gefährten. Er hielt Embra ein dunkles Bündel entgegen, welches sie als die Kleidung erkannte, die er auf ihr Geheiß in den Sack gesteckt hatte. »Später«, schnappte die Prinzessin und wies gebieterisch auf die versengte Schneise, welche ihr früherer Zauber durch die Bäume geschlagen hatte. Als sich keiner der Männer rührte, knurrte sie etwas Unverständliches und stolperte an ihnen vorbei. Für Helden gaben diese beiden ein Paar preiswürdige Narren ab ... »Ist etwas an dem Wort ›unverletzt‹, das sich eurem Verständnis entzieht?« fragte der Fürst Silberbaum milde und nahm den kalten, unbeteiligten Blick von der Szene, die nahe der Decke in der Luft schwebte. Drei Zauberer starrten ihn an, und auf ihre Gesichter trat Angstschweiß. »Ich ... bitte inständig um Vergebung, Fürst«, murmelte der Bannmeister Ingryl Ambelter, der diesen ganz bestimmten Ausdruck in den Augen seines Brotherren nur zu gut zu lesen Wusste. »Die Hexenkünste der Prinzessin Embra ...« »Sind mächtiger und zahlreicher, als Ihr es erwartet habt«, unterbrach ihn Fürst Faerod mit einer Stimme, die an die Schneide eines langsam und mit Bedacht geführten Schwertes gemahnte. »Sie ist meine Tochter, werte Herren Zauberer. Ich erwarte, dass ihr euch nach besten Kräften anstrengt und eure Bemühungen erheblich mehr, sagen wir Treffgenauigkeit enthalten.« Angespannte Stille antwortete ihm, und er hob die Brauen und fügte seidenglatt hinzu: »Eure Zauber werden jedes Haar
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auf ihrem Kopf beschützen, werte Herren, und jeden Zoll der Haut, welche sie so eifrig vorbeiziehenden Schwertträgern zeigt, haben wir uns da verstanden?« Wieder antworteten sie ihm mit Schweigen. Der Fürst Silberbaum neigte den Kopf und blickte wortlos von einem verschwitzten Gesicht zum nächsten, bis ihm jeder Zauberer mit einem Nicken geantwortet hatte, mochte es auch noch so widerstrebend erfolgen. Dann richtete er den Blick wieder auf die Szene von weither, welche an der Decke schwebte, ohne weiter auf das kaum hörbare Gemurmel und die Seitenblicke zu achten, mit denen ihn die drei Magier musterten, während sie sich wieder in ihre Ecken begaben, um aufs Neue Zauber zu wirken. Einer der drei Bannmeister sprach für gewöhnlich nicht viel und wurde deshalb, wie das in vielen Ländern Sitte ist, gern vergessen und in dem Lärm und Getöse seiner sprachgewaltigeren Kollegen oft übersehen. Sein Name lautete Klamantel Beirldoun, und für lange Stunden hatte er im Schweiße seines Angesichts an einem mächtigen Zauber gearbeitet, welcher seinen Mitzauberern wie auch dem Fürsten unbekannt war: Ein Fluch, der die Herrin der Edelsteine treffen sollte. Wenn ihre Zaubermacht die eigentliche Schwierigkeit darstellte – denn wie lange mochten zwei SchwarzgultVagabunden ohne sie der Magie von Silberbaum standhalten? –, dann sollte ihre Magie zerschmettert werden, bis sie wieder vor ihrem Vater im Geist und im Fleisch niederkniete. Falls dieser Tag jemals anbrach ... und das bezweifelte er stark. Bis dahin sollte der Fluch auf ihr lasten: Jedes Mal, wenn sie einen Zauber wob, würde ihr der Bann einen Teil ihrer Le-
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benskraft rauben und sie geschwächt und zum Schluss als eine Art lebendes Skelett zurücklassen, das sich nur so lange ans Leben klammern konnte, wie es keine Zauber wirkte. Klamantel lächelte langsam und kaum merklich. Dann hauchte er im Flüsterton das letzte Wort der Beschwörung. So sollte es denn geschehen. Ja, so sollte es sein. Oft vergessen. Wahrhaftig. »Silberbaum scheint mir nicht der sicherste Ort von Aglirta zu sein«, murmelte Delvin von den vielen Harfen seinem Gefährten zu und beäugte den dunklen Wald, welcher sie umgab. Nächtlicher Tau glitzerte auf dem modisch gekräuselten braunen Haar, welches die Schultern des Barden berührte, während er sprach und misstrauische Blicke in die Nacht schickte. Überhängende Zweige beschatteten die Straße, auf der die beiden Männer standen, und tauchten alles in einen Dämmer, der tief genug war, umherstreifende Bären, beliebige Mengen von Nachtkatzen und Dolche schwingende Gesetzlose zu verbergen. Die nächtlichen Straßen von Silberbaum auf dem Weg nach Sirlptar zu durcheilen, schien jetzt eine erheblich schlechtere Idee zu sein als noch gestern Mittag im vollen Licht der stechenden Sonne. »Ich gelange allmählich zu der Ansicht, dass es überhaupt keine sicheren Orte mehr in Aglirta gibt«, erwiderte Helgrym Burgmäntel ruhig. Tau glitzerte in den grauen und weißen Haaren seines kurzen Bartes, als er anhielt, um, die Hand auf dem Messer in seinem Gürtel, zu lauschen. »Halt!« Er legte die andere Hand auf Delvins Arm, und alle beiden Barden
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schwiegen. Sie hatten ein Geräusch gehört ... Da erklang es wieder: Das Rasseln einer Rüstung. Ein bis an die Zähne bewaffneter Krieger befand sich ganz in der Nähe Und kam auf sie zu. Nein, mehrere Krieger ... Helgrym hatte schon zuvor erlebt, was Krieg bedeutete. Er zerrte seinen jüngeren Gefährten zum Straßenrand und duckte sich in einen Graben, welcher stark nach verrottenden Blättern roch. »Seid ganz leise«, hauchte er in Delvins Ohr und wies in die Richtung, aus welcher die Geräusche erklungen waren. Unter den Bäumen auf der flusswärts gelegenen Seite der Straße tauchte eine Bande von Kriegern auf – sie eilten mit grimmig entschlossenen Mienen und tropfnass dahin, denn offenkundig hatten sie den Fluss durchschwommen. Während sie die Straße überquerten – nicht wenige mit gezückten Waffen –, richteten viele ihre Schnallen und schoben ihre Rüstungen zurecht. Mit Stacheln besetzte Panzerhandschuhe und Helmzierden glitzerten ... Rüstungen von hervorragender Machart und verziert mit dem Wappen von Silberbaum. Welches Ziel diese Krieger auch haben mochten, sie schienen in Eile zu sein – in Eile, zu töten. Die Herrin der Edelsteine kletterte einen schlüpfrigen Grat moosbewachsener Felsen hoch und stellte fest, dass sie schon wieder nach Atem rang. Sie hielt sich an dem nächsten Ast fest, um das Gleichgewicht zurückzuerlangen, schöpfte so viel Luft, wie sie brauchte, und blickte auf den Weg zurück. Das Mondlicht blitzte auf den Helmen und Klingen der vordersten Silberbaumsoldaten; aber dennoch war es eine
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schöne, vom Mond erhellte Nacht. Verdammt! »Unser gemeinsames Bedürfnis nach einem sicheren Unterschlupf wird allmählich recht dringlich«, knurrte Embra ihren beiden Begleitern in einer spöttischen Parodie höfischer Umgangsformen zu. »Ich trage nämlich nicht das ganze Drumherum für die Zauberschlacht um halb Aglirta bei mir, wenn ich mich schlafen lege, müsst ihr wissen!« Hawkril gab ein alarmiertes Brummen von sich, und da dies nicht der Ton war, den Embra erwartet hatte, wirbelte sie herum und stellte fest, dass der Ritter hastig von etwas zurückgetreten war, das sich von den Steinen zu erheben anschickte, welche die Gefährten gerade überklettert hatten. Etwas Geisterhaftes, das in einem Übelkeit erregenden Grün schimmerte und eine vage menschliche Form annahm, die sich streckte und gleich darauf bedrohlich über ihnen aufragte ... dies musste das Werk von Markoun sein. Ihm lag mehr daran, die Leute zu beeindrucken, als eine Aufgabe zu erledigen. Müde zerstörte Embra die sich verdickende Gestalt mit einem rasch hervorgerufenen Feuerstoß. Das kurze Auflodern der Flamme bewirkte, dass die Verfolger aufschrien und auf sie zurannten. Die Prinzessin Silberbaum schwankte wieder, starrte die Soldaten an und schüttelte den Kopf. »Ihr seid jetzt an der Reihe, mich zu retten«, murmelte sie in grimmigem Ton Hawkril zu. Seine wortlose Antwort bestand darin, dass er hilflos und mit einem Achselzucken die riesigen, leeren Hände hob. Craer schoss aus der Nacht auf den schwerfälligen Ritter zu, schlug ihm auf den Arm und zischte: »Hebt sie hoch, und
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zum Teufel mit ihrer Vornehmheit! Beeilt euch – diesen Weg entlang durch den Torbogen!« »Das muss eine Zauberin sein!« keuchte Delvin aufgeregt, als oben auf dem Hang ein Feuer kurz aufflammte. »Pst!« flüsterte Helgrym entrüstet und drückte Delvin nach unten, so dass dieser mit dem Kinn in das Grabenwasser tauchte. »Wollt Ihr, dass sie uns hören? Ich will lieber am Leben bleiben!« Er unterbrach seinen Tadel, um mit offnem Mund das anzustarren, was sich als Nächstes vor seinen Augen abspielte. Beide Barden erhoben sich gleichzeitig von den Knien, ohne es zu bemerken, um einen besseren Blick zu erhaschen. Die Silberbaum-Soldaten formierten sich unter Gedrängel und Waffengeklirr, und gleichzeitig kam eine grün leuchtende Gestalt ein Stück weiter den Abhang herunter in Sicht – und aus dem mondhellen Himmel über dem sich unheimlich aufbauenden Leuchten schwirrte ein Ungeheuer mit Fledermausflügeln, schwarzen Schuppen, zwei Köpfen und langen, bedrohlichen Klauen. Es machte Jagd auf die Zauberin und ihre beiden Gefährten, die hastig durch einen Torbogen in einer bröckeligen Steinmauer auf der Spitze des Hügels verschwanden. »Bei der Dreifaltigkeit!«, stieß Helgrym ehrfürchtig hervor. »Sie haben die von Geistern heimgesuchten Katakomben zum Ziel!« »Das Schweigende Haus?« schluckte Delvin. »Man sagt, es sei ein Langfang-Schlupfwinkel!« Er schluckte wieder, als Helgrym nickte und dann langsam sagte: »Ihr wisst, was wir tun müssen.«
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»Ja«, flüsterte Delvin noch langsamer. »Wir müssen uns anschauen, was geschieht, um später davon berichten zu können.« Sie holten tief Luft, schauten auf die dunklen Bäume von Aglirta ringsumher, als wollten sie Lebewohl sagen, und setzten sich widerstrebend in Bewegung, wobei sie das fliegende Wesen, den geisterhaften Schatten und die dahineilenden Soldaten im Auge behielten, welche alle miteinander durch den Torbogen in den ummauerten Friedhof des Schweigenden Hauses stürmten. Man erzählte sich, dort hätten sechzehn SilberbaumFürsten – wenn nicht sogar mehr – ihre letzte Ruhestätte gefunden, und niemand Geringerer als der Meister der Harfe persönlich, Inderos Sturmharfe, hatte einst Delvin bestätigt, dass dies der Wahrheit nahe kam. Man musste kein uralter Barde sein, um über den Menschen fressenden Langfang Bescheid zu wissen, der dort drinnen hauste. Genug Menschen waren ihm zum Opfer gefallen oder bei dem Versuch verschwunden, Schätze in den Gräbern lange dahingeschiedener Silberbaum-Ahnen zu finden, um auch die Ungläubigsten davon zu überzeugen, das dort drinnen ein Ungeheuer hauste, welches sich von Menschenfleisch ernährte. Obwohl die von Moos bedeckten Steine schlüpfrig waren, erschien den beiden Barden der Weg allzu kurz, und sie erreichten den zerbrochenen Eingang nur zu bald. »Werden so Barden getötet?« murmelte Delvin und hielt neben der bröckelnden Steinmauer inne. Seine Stimme hörte sich nicht gerade fest an. »Ja«, antwortete Helgrym mit einem tonlosen, müden Flüstern. »Ja. Genau so.«
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Gemeinsam traten sie durch den Torbogen in die von Gespenstern heimgesuchte Dunkelheit. Einst hatte ein Park den Vorhof des Schweigenden Hauses geziert, ausgestattet mit kleinen, förmlich angelegten Gärten. Später hatte dort eine lange Reihe von Silberbaums die unehelichen Sprösslinge der Familie, geliebte Diener und noch viel inniger geliebte Pferde und Schoßhunde begraben. Über Jahre hinweg hatte der unermüdlich vorwärts kriechende Wald den Ort erobert, und innerhalb der bröckelnden Steinmauern schien er das Mondlicht zurückzudrängen, so dass sich neigende Grabstelen und sogar Grabmäler von der Größe einer Bauernkate mit erschreckender Plötzlichkeit aus dem Dunkel ragten. »Lasst mich runter«, zischte das nasse Bündel auf den Schultern des Ritters. »Runter, verflucht noch mal! Sonst werde ich ...« Die Worte endeten in einem leisen Schrei, als etwas Ledriges quiekend durch eine ihrer durchnässten Flechten strich. »Ich habe Eure letzte Bemerkung nicht verstanden«, polterte ihr Träger und klang dabei eher ärgerlich denn belustigt. »Jetzt hört auf zu strampeln, oder mir bleibt vielleicht keine andere Wahl, als Euch auf einen Grabstein fallen zu lassen.« Seine Bürde stieß einen weiteren lauten Schrei aus, als seine Stiefel auf dem feuchten Steinboden ins Rutschen kamen und Hawkril mit einem kleinen Ruck sein Gleichgewicht wieder fand. Er hatte tatsächlich einen Fehltritt gemacht und der Dame auf seiner Schulter keineswegs eine Lektion erteilen wollen – und wenn sie zu einer anderen Ansicht gelangte, wen kümmerte das schon? Sie hatten ganz andere dunkle, be-
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drohliche Sorgen, über die sie sich Gedanken machen mussten. Hinter ihnen, den Hügel hinunter, brüllte jemand Befehle, und sie hörten das Knarren und Klappern vieler eilig dahinlaufender Männer in Rüstung. Einer kleinen Armee von laufenden Männern. Männer des Fürsten Silberbaum auf der Suche nach Opfern. Jagende Fledermäuse flitzten, leise Schreie ausstoßend, durch die nächtliche Luft. Craer bewegte sich sicheren Fußes wie ein Schatten vorwärts, aber der Ritter mit seinem nassen, zornigen Bündel sowie einem hin und her schwingenden Sack voller Juwelen, welcher ihm bei jedem Schritt gegen die Schenkel schlug, stolperte wieder und immer wieder. Und natürlich kam unvermeidlich der Augenblick, da seine Stiefel auf losen Stein traten und unter ihm wegrutschten. Von einem Moment auf den anderen waren Hawkrils Arme leer, und Edelsteine rollten unter leisem Geklirre auf der einen Seite ins Dunkel, die Prinzessin Embra mit einem erschrockenen Keuchen auf die andere. Sie landete unsanft auf einem tischförmigen Grab und prallte auf die Platte, wobei sie sich an dem verwitterten Stein Kopf und Ellbogen aufschlug. Die Flüche, welche sie ausstieß, nachdem sie wieder Atem genug geschöpft hatte, erklangen in solch rascher Folge und so hitzig, dass der Schwertmeister verschreckt in die Nacht floh. Embra Silberbaum wirbelte herum, um den Soldaten ihres Vaters ins Auge zu schauen, kämpfte sich auf ihre zerkratzten, blutigen Knie und hob beide Hände. Nun, sie sollte verflucht sein, wenn die törichten Magier nicht einen weiteren Nachtlindwurm und dazu auch noch einen Blutegelgeist heraufbe-
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schworen hatten! Der Zauber, welcher aus ihr herausheulte, zerstörte die Steine des Torbogens und trieb dessen todbringende Bruchstücke mitten durch die heranbrausende Masse des Nachtlindwurms, welcher zugrunde ging, ohne noch die Zeit für einen Schrei zu haben. Blutiger Schaum quoll aus dem zerrissenen, geköpften Leib, welcher vergeblich mit den Flügeln flatterte und sich mitten in der Luft zusammenkrampfte, bevor er zu Boden taumelte und den Blutegelgeist in Stücke zerriss, indem er in ihn hineinkrachte und ihn mit ebendem Lebenselixier überflutete, nach welchem es den Blutegelgeist so sehr verlangte. Embra beobachtete das glühende, zuckende Sterben mit weißen, vor Zorn zu einer dünnen Linie zusammengepressten Lippen. Sich zwischen dem Chaos hindurchduckend, welches sie heraufbeschworen hatte, kamen natürlich all die getreuen, entschlossenen Silberbaum-Krieger mit grimmigen Mienen und hin und her schwingenden Schwertern herangestolpert. Welche Magie auch immer röhren und blitzen mochte, es blieben doch immer die klotzköpfigen Krieger übrig, oder etwa nicht? Embra stellte plötzlich fest, dass sie zitterte. Sie fühlte sich schwach und erneut von Übelkeit geschüttelt – und sie brauchte ihre Magie viel zu schnell auf. Drei Zauberern musste sie trotzen, sie vernichten, alle ohne jeden Zweifel viel mächtiger als sie selbst ... und ganz gewiss erheblich grausamer und durchtriebener. Zeit, wieder davonzulaufen und ... Sie kletterte von der Steinplatte hinunter, rutschte auf ihren eigenen Juwelen aus und stellte fest, dass sie allein dastand. Wo befand sich nur dieser Ochse von einem Ritter? Ihre Flüche kamen ihr so schnell über die Lippen, dass sie
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nicht einmal mehr die Zeit fand, sich an seinen Namen zu erinnern, aber sein Gesicht stand ihr deutlich vor Augen, und mehr brauchte sie nicht. Die Herrin der Edelsteine spuckte einen Zauber aus, welcher Hawkril Anharu mitten in einem Schritt herumriss. Er fiel beinahe zu Boden, aber grausam wogende Kräfte zerrten brennend heiß an seinen Muskeln. Er vermochte nicht einmal zu fluchen, als ihn unsichtbare Hände dazu zwangen, sich abrupt umzudrehen. Feuer schienen in seinem Innern zu wüten, und er musste feststellen, dass er wie in seinem eigenen Körper gefangenen zurückstolperte zu der Stelle, an welcher die Zauberin stand. Embra starrte den bebenden Krieger an. Aus Hawkrils Gesicht war vor Furcht alle Farbe gewichen, und eine Wut verzerrte seine Züge, welche nur ihr eiserner Wille im Zaum zu halten vermochte. Das Zucken seiner Muskeln und sein ungelenker Schritt kündeten von seinem Kampf gegen ihre Magie. Steif streckte er einen Arm aus, und sie ließ sich von ihm packen, da sie ohne hinzuschauen wusste, wie nahe die vordersten Soldaten bereits sein mussten. Einen Augenblick darauf eilten der Butter und seine Last wieder über den Friedhof, ohne einen Gedanken an die Juwelen zu verschwenden, denn die Schritte des vordersten, kühnsten Silberbaum-Kriegers dröhnte bereits laut und ganz aus der Nähe in ihren Ohren. »Hier! Beeilt euch!« schrie ihnen Craer von weiter vorn zu, und Embra zwang ihr unwilliges Lasttier in die Richtung der Stimme. Der Beschaffer stand vor dem offen klaffenden Eingang zu einem Grab von der Größe eines Herrenhauses. Im Mondlicht erinnerte das Bauwerk an die leer starrenden Augenhöhlen eines gigantischen, halb begrabenen Schädels.
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»Das Schweigende Haus«, presste Embra zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Und das ist Eure sichere Zuflucht?« Craer nickte drängend, auf dass die Prinzessin endlich einträte. »Ihr geht vor«, antwortete sie kurz und bündig. »Ein Langzahn haust hier, und mir bleibt nicht mehr genug Zauberkraft, ihn in Stücke zu zerblasen. Zeigt ihm Eure Klinge und hofft, dass er flieht. Ich bin müde; meine Kontrolle über Groß-und-stark hier lässt allmählich nach.« Craer musterte sie mit einem gleichermaßen überraschten, alarmierten wie auch vorsichtigen Blick, bevor er mit gezücktem Dolch in die Dunkelheit sprang. Embra entschlüpfte aus Hawkrils Reichweite, bevor der wütende, heftig zitternde Ritter vorspringen und sie gegen die Türpfosten schleudern konnte. Ihres Gewichtes und eines Großteils ihrer Kontrolle ledig, schoss er in dem Moment, als sie sich von ihm löste, vorwärts. Nun, er war nicht der Einzige in dieser Nacht, der eine ganze Wagenladung Wut mit sich durch den dunklen Wald schleppte. Sie hatte ihre Wahl getroffen und die dünne Gelegenheit beim Schopfe gepackt ... wenn sie zögerte, dann erwartete sie nichts als der sichere Tod. Die Prinzessin zwang sich dazu, sich umzudrehen, obwohl die Soldaten auf sie zurannten. Während sie die Krieger anstarrte, sprach sie leise zum Licht des Mondes: »Ich weiß, dass Ihr mich hören könnt, Vater. So wisset denn dies: Ich bin es leid, benutzt zu werden. Schaut fürderhin nach mir aus – und fürchtet mein Kommen.« Sie duckte sich in dem Moment durch den Torbogen hin-
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durch, als die Soldaten ihn eben unter Geklirre erreichten. Embra erinnerte sich an den riesigen, erhabenen Raum hinter der Türschwelle. Wann immer sich etwas darinnen bewegte, leuchteten die dem Schweigenden Haus innewohnenden, schwindenden Zauberbanne auf, und in deren schwachem Licht erkannte sie die gewölbte Steindecke mit dem dicken Pelz aus Spinnweben. Auch die beiden Reihen von Statuen standen immer noch so da wie damals, als Embra sie zum ersten Mal zu Gesicht bekommen hatte, geschützt im Inneren eines Abschirmzaubers, welchen der alte Gadaster Mulkyn für die Prinzessin gewoben hatte. Steinritter, die einen sterblichen Mann um Haupteslänge überragten, standen in Reih und Glied Wache, und der kalte, in Stein gemeißelte Blick ihrer Augen schien einen zu verfolgen, ganz gleich, wo man stand oder wohin man sich bewegte. Hawkril stand mitten im Raum und kämpfte gegen Embras Zauber an. Sie trieb ihn mit einer heißen Flamme ihres Zorns vor sich her, benutzte die letzen paar Augenblicke ihres Bannes dazu, ihm einen Schlag zu verpassen wie ein Hirt, der ein dickköpfiges Tier antreibt, und tänzelte hinter ihm her. Als sich Embra einem offenen Durchgang in der gegenüberliegenden Wand näherte, ließen laute Schreie darauf schließen, wie dicht ihnen die Soldaten bereits auf den Fersen waren. Sie wusste genau, dass Messer und Schwert schon jetzt ihre Schultern küssen würden, hätten die Befehle ihres Vaters anders gelautet. Als ihr Fuß die Schwelle berührte, wirbelte sie herum und stieß einen gequälten Schrei aus. Dieses Mal schien der Zau-
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ber aus ihr herauszubrechen, und er hinterließ solch dröhnende Kopfschmerzen, dass Embra taumelte und beinahe hingefallen wäre. Sie suchte Halt an kaltem, gefühllosem Stein und beobachtete, wie die Decke des Raumes fast träge auf den vordersten heranstürmenden Krieger stürzte in einem Regen aus niederfallenden Steinen, welcher nicht enden wollte, bevor nicht das ganze Gemach samt Statuen und allem bis oben mit Trümmern gefüllt war. »Die Dreifaltigkeit möge sich vor Lachen ausschütten«, sprach sie säuerlich in den dröhnenden, staubigen Nachhall des Tumultes, »denn nun sind wir zusammen eingeschlossen: Ein hungriger Langzahn und ich, die ich nicht einmal mehr einen Zauber zur Verfügung habe, der eine Kerze entzünden könnte.« Kaum dass sie die Worte ausgesprochen hatte, schlugen mit einem lauten Knall Funken aus der Wand neben ihrem Arm, und Zunder, geschützt von einer Hand, glomm auf, knisterte und fing Feuer. Als das Flämmchen auf einen Docht übersprang, erkannte sie in dem Schein Hawkrils von kalter Wut verzerrtes Gesicht, das im aufscheinenden Licht auf sie niederblickte. Sein dunkler, lodernder Blick bohrte sich in den ihren wie zwei Dolchspitzen, während er geschickt eine zusammenfaltbare Laterne an seinem Gürtel aufschnappen ließ und den Docht benutzte, um die Kerze darin zu entzünden. Seine Hände zitterten nicht, als er die Laterne gegen Zugluft abschirmte und seinen Feuerstein wieder in einen an seinem Gürtel baumelnden Beutel steckte. Seine Stimme klang jedoch, als zücke er ein Schwert. »Ihr habt Eure Magie an mir angewendet, als sei ich ein Maultier – oder ein Sklave unter
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Eurer Peitsche. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass dies ein Teil unserer Übereinkunft gewesen wäre.« »Ihr habt mich fallen lassen!« schimpfte Embra, »und wir hatten nicht genug Zeit, um ...« »Und wird dies Eure Ausrede sein, wann immer Ihr uns herummarschieren lassen wollt wie kleine Holzmarionetten? Keine Zeit wofür? Um Euch um Hilfe zu bitten? Oder wird immer Zeit genug übrig sein, um die Gliedmaßen Eurer Sklavenpuppen zu bewegen?« »Aber ich wäre beinahe gestorben«, brauste die Zauberin auf. »Wenn Ihr nicht weggelaufen wärt, hätte ich mir wer weiß was ...« »Weglaufen ist das Allergeringste von dem, was ich tun werde, falls Ihr jemals wieder versuchen solltet, mich mit Zaubersprüchen zu versklaven, wertes Fräulein! Seid froh, dass ich Euch nicht auf der Stelle den Kiefer und die Hände breche, um Euch von Übergriffen solcher Art in der nahen Zukunft abzuhalten.« »Und wenn Ihr das tätet, wie lange würdet Ihr Eurer Ansicht nach gegen die Magier meines Vaters standhalten? Bei den Hörnern, Schwertträger sind ja so dumm! Mir scheint, sie taugen nur dafür, von jenen geritten und angeleitet zu werden, welche über genug Geschick verfügen, sie zu leiten!« Die Hand, welche ihr aufs Kinn schlug und ihr den Kopf zurückschleuderte, förderte eine Flut von Tränen zutage, und Embra wurde so fest gegen eine Mauer geschleudert, dass sie ein schmerzliches Stöhnen ausstieß. Sie fand sich auf dem Boden sitzend wieder und schmeckte Blut in ihrem Mund, während ihr Kopf brummte. Durch wässrige Tränen blickte sie zu dem Ritter auf, der mit zu-
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sammengebissenen Zähnen und zornrotem Gesicht über ihr stand. Er schien darauf zu warten, dass sie aufstand, auf dass er sie dann wieder niederschlüge. Ein Mann, welchen sie heute Nacht ein Dutzend Mal am Leben erhalten hatte, jedenfalls bis jetzt, und – zum Teufel mit ihm! Embra Prinzessin Silberbaum kämpfte sich auf die Knie, entdeckte weitere schmerzende Stellen – ein Ellbogen schien in Flammen zu stehen oder von Eis berührt zu werden – und schaute erneut und mit blitzenden Augen zu Hawkril hoch. Sie stellte fest, dass er eine Hand erhoben hatte, bereit, sie an der Kehle zu packen, und die andere schwebte über dem Griff seines Schwertes. Ihr Blick wanderte von der Waffe zu seinen von Furcht erfüllten Augen, welche den Abscheu ergänzte, der ihm ins Gesicht geschrieben stand, und neu erwachter Ärger regte sich in ihr. Ah, es ist also von Übel, Männer mittels Zauber anzutreiben, während es in Ordnung und tapfer sein soll, ihnen bestens geschärften Stahl in die Eingeweide zu rammen, was? Embra riss das Mieder ihres verdreckten Nachtgewandes auf, entblößte ihre Brüste und schnappte: »Nun gut, dann stoßt doch Euer Schwert hinein! Ich weiß, dass Ihr das wollt!« Hawkrils Gesicht wurde nachgerade schwarz vor Wut, und sein Schwert fuhr in Blitzesschnelle aus der Scheide, wobei es auf seinem Weg in die Freiheit klapperte, da seine Hand vor Zorn so heftig zitterte. Embra fühlte kalte Furcht tief in ihrer Kehle aufsteigen, als der schwerfällige Ritter seinen Stahl zum Schlag erhob, aber sie erwiderte kühn seinen Blick, welcher immer noch ihr eigenes Feuer ausspuckte, straffte sich und drängte ihm den
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Oberkörper entgegen. Das Schwert wich einen oder zwei Zoll zurück – und hielt dann an. Hawkril starrte auf ihre entblößten Kurven und dann wieder hoch in die flammenden Augen der Zauberin. Er presste die Kiefer zusammen und bewegte die Klinge ein klein wenig ... In diesem Augenblick schoss Craer zwischen den Schwertmeister und die Zauberin und zischte: »Bei der Dreifaltigkeit! Ihr liefert uns alle unserem Verhängnis aus! Nun kommt schon!« Im Vorbeilaufen stieß und drängte er Hawkrils Klinge nach oben und über Embras Kopf, dann schnappte er sich die Laterne aus den widerstandslosen Fingern des Ritters. Der Krieger drehte sich um und blickte seinen alten Freund an, und dann erklärte der Beschaffer, dessen Stimme in einem Widerstreit von Angst und Zorn schrill klang: »Ihr seid doch ein Paar von Narren! Als ob wir Zeit für einen Streit hätten! Steckt Eure Klinge weg, Hawkril! Und – steckt diese da ebenfalls weg, Prinzessin, und kommt und beeilt Euch! Oder unterbrechen die Magier Eures Vaters ihre Arbeit, um alle zur gleichen Zeit Schlaf nachzuholen? Oder habe ich ein feierliches Ritual der Silberbaums unterbrochen oder ein anderes, bei dem ein Krieger seine Initialen in eine Dame schneidet? Nun?« Durch die schiere Macht seiner Persönlichkeit, durch Spott, Ziehen, Zerren und Schmeichelei gelang es dem Beschaffer, seine Gefährten wieder in Bewegung zu setzen, aber keiner der beiden antwortete auf seinen Schwall von Unsinn. Während er plappernd um sie herumtanzte, tauschten sie düstere Blicke aus und fielen dann Schulter an Schulter in Trab.
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Embra hielt sich nicht damit auf, ihr Mieder zuzuschnüren, und Hawkril verzichtete darauf, sein Schwert in die Scheide zu stecken. Die drei hatten kaum mehr als drei Räume durchquert, in welchen sich Staub und herabgestürzte Deckenteile türmten, als ein schauriges Geheul aus den unsichtbaren, vor ihnen liegenden Gängen hallte. Der Langzahn. Embra seufzte. Craer schien den Schrei des Ungeheuers nicht gehört zu haben. Ruhig musterte er kleine, in die Steinwand eingekratzte Markierungen, wo sich der Weg teilte und in zwei anscheinend gleich aussehende Hallen führte. Nach einem Augenblick nickte er, da er seine Wahl getroffen hatte. Ohne groß nachzudenken griff sich Embra einen Stein von der Größe einer Faust aus dem Schutt auf dem Boden des Ganges. Hawkril wirbelte herum und starrte sie aus misstrauisch zusammengekniffenen Augen und mit erhobener Klinge an, aber sie warf ihm nur einen verächtlichen Blick zu und schleuderte den Stein in den Gang hinein, welchen Craer verworfen hatte. Der Brocken landete mit einem Krachen und Klappern, das sich aber augenblicklich in dem Geräusch niederfallender Steine verlor. Die von Embra ausgelöste Falle schnappte zu, und zwei rostige, aber immer noch massive Fallgitter donnerten mit einem dröhnenden Krachen von der Decke, und der Raum zwischen ihnen füllte sich schulterhoch mit losem Gestein. »Bei der Dreifaltigkeit!« sagte Delvin plötzlich und duckte sich. »Was ist das?« Ein blitzender, sich drehender Lichtfunken von der Größe
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von Helgryms Faust schoss an den beiden entsetzt dreinblickenden Barden vorbei und durch den gespaltenen Torbogen am Eingang des Schweigenden Hauses, um dann zwischen den Gräbern hindurchzufliegen wie ein kleiner, dahinrasender Stern. »Still«, meinte Helgrym leise und viel zu spät, was er auch durchaus wusste. »Das war ein Suchzauber; er kann Euch hören und sehen.« Sie beobachteten, wie das Licht an der Stelle in der an einen Totenschädel gemahnenden Vorderfront des Gebäudes verschwand, wo all die Silberbaum-Soldaten verschwunden waren, und die beiden Männer erbebten einer wie der andere. Es ist immer alles andere als angenehm, sich in der Nähe plötzlich erwachter Magie zu befinden. Mitten in einem Schritt erstarrte Embra und fuhr herum. Hawkril rempelte sie beinahe über den Haufen, so eifrig war er darauf bedacht zu sehen, was sie tat, und zur gleichen Zeit sein Schwert umzudrehen – und konnte gerade noch erkennen, dass sie irgendeinen Tand von der Schärpe ihres Nachtgewandes riss, die Faust darum schloss und ein Wort murmelte, während sie auf etwas Kleines, Blinkendes starrte, das wie ein winziger Stern hinter ihnen in der Luft schwebte. Ein Glühen erblühte zwischen ihren Fingern und erstarb dann wieder – und der kleine dahintreibende Stern explodierte in einem Lichtblitz, welcher Hawkril vor Schmerz aufbrüllen und rasch die Hände vor die Augen reißen ließ. »Wenn Ihr Euch um Eure Aufgaben kümmern würdet, werter Ritter«, sagte ihm die Herrin der Edelsteine kalt, als er vergeblich versuchte, etwas zu sehen, »dann werde ich versuchen, mich um die Magie zu kümmern. Craer, gleich brauche
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ich die Kleider.« Der Beschaffer veranlasste gerade den Schwertmeister mit aller Entschiedenheit dazu, sich hinzusetzen, indem er ihn am Ellenbogen fasste und »Runter!« murmelte. Beim Klang seines Namens blickte er auf und sah, dass das bunte seidene Nachtgewand auf Embras Schultern mit zunehmender Geschwindigkeit schrumpfte und sich schwärzlich verfärbte. Nach wenigen Augenblicken erinnerte es eher an einen Schal oder ein großes, vor Staub graues Spinnennetz denn an ein Kleidungsstück, und es löste sich in Fetzen von langen Beinen und sanften Kurven, welche – gegen die Wand sackten. Die Zauberin schien vor Schmerz zu taumeln und brach dann zusammen. »Prinzessin!« zischte Craer. »Seid Ihr verletzt?« »Der letzte Rest meiner Zauberkraft«, murmelte Embra, als er ihr auf den Boden half, »ist verschwunden. Und das ist gut so, denn das Wirken von Magie scheint mich zu töten.« Das Flackern neuer Blitze ließ sie aufblicken. Craer keuchte immer noch ob der Erklärung, welche die Herrin der Edelsteine gerade abgegeben hatte. Vor Verzweiflung stöhnend lag sie neben ihm auf den Knien, riss ihre Hand frei und keuchte: »Bleibt weg von mir! Mir steht keine Magie mehr zur Verfügung, sie zu bekämpfen, wer auch immer sie sein mögen!« Im Näherschweben verlangsamten sich die wirbelnden Schimmer und entfalteten sich zu Ringen aus silbrigen Fäden, zauberischen Tentakeln, welche sich teilten, um auf Embra Silberbaum niederzuschießen. Mit einem verzweifelten Seufzer warf sie den Kopf zurück, und in ihren Augen glitzerten Tränen – und dann unter-
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drückte sie ein Schluchzen. An der Decke über der Zauberin hing so still wie ein Schatten der Langzahn, mit einem Fell feucht glitzernd von Tau. Die mit Widerhaken gespickten haarigen Beine weit gespreizt, starrte er genau auf Embra nieder. Als sich ihre Blicke trafen, knurrte er und sprang auf sie herab, Klauen und Kiefer ausgestreckt, um sie zu töten.
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Langzahn C Silberfarbene Ranken verhüllten alles um sie herum, fielen aus den unmöglichsten Richtungen herab und bildeten ein Netz, aus welchem es kein Entkommen gab. Embra Silberbaum aber bekam nichts davon mit; denn sie war viel zu sehr damit beschäftigt, sich von der Wand abzustoßen und über die unebenen Steinplatten des Bodens zu rollen, um nicht zerdrückt zu werden. Nicht weit von all dem hielt sich ein ergriffener Craer Delnbein auf und schenkte der Welt einen ebenso leisen wie stetigen Strom von Flüchen, welche aus tiefstem Herzen kamen. Der Langzahn strich über ihre Stiefel, als die Wolfsspinne landete, und schon drang Embra auch der Geruch von feuchtem Fell in die Nase. Die junge Frau drehte sich blitzschnell zur Seite, fragte sich, ob sie ihren Dolch noch rechtzeitig in die Hand bekommen würde – und hatte schon keine Zeit mehr. Lange, behaarte Gliedmaßen schlossen sich wie Stahlzwingen um sie, legten sich hart um ihren Mund und wickelten sich um ihre Arme. Schmutzige und stinkende Borsten stellen
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sich auf und stachen ihr in die Haut. Grausam wirkende Stachel ragten wie Zähne vor ihren Augen auf, und sie hörte das Klappern der Greifgebisse an den längeren Vordergliedern. Aber keine Kinnbacken schnappten nach ihr – noch nicht. Die pelzige Spinne mit dem Wolfskopf rollte Embra auf den Bauch, verlagerte ihr Gewicht ganz auf die Beute und drückte die junge Frau so fest, dass dieser pfeifend die Luft entwich. Der arteigene Geruch des Raubinsekts, ein Gestank wie von fauligen Äpfeln oder Wein, der sich in Essig verwandelt hat, erfüllte die ganze Luft. Das Spinnenbein um ihren Mund aber wich keinen Fingerbreit, umschloss Kehle und Unterkiefer so fest, dass sie keinen Ton von sich geben konnte, und wäre es ihr noch so dringlich damit. Die anderen Beine zwangen Embras Arme immer fester zusammen, und sie entdeckte, dass deren Gelenke mit Dornen versehen waren. Die Beine endeten in Greifflächen – so ähnlich wie bei der Unterseite der Schnecken, welche die junge Frau am Flussufer beobachtet hatte. Diese Greifflächen schlossen sich mittlerweile so fest um Embras Hände, dass sie nicht einmal den kleinen Finger rühren konnte. Gleichzeitig legten sich immer mehr Fäden, dick wie Seile, um ihre Arme und sonstigen Gliedmaßen. Fast könnte man meinen, dieses Ungeheuer weiß, dass ich Zauber bewirken kann, dachte Embra. Offensichtlich setzt es alles daran, mich daran zu hindern. Dann erstarrte die junge Frau, als die ersten Zauberfäden sich auf sie legten und ein eigenartiges Prickeln durch ihren Körper ging. Dieser Vorgang setzte sich von Kopf bis Fuß
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fort, und nach einer Weile löste die Bestie zwei ihrer Spinnenbeine von ihr. Aber ganz vorsichtig und langsam wie Dolche, welche jederzeit zum Zustoßen bereit waren. Embra verdrehte die Augen so weit wie möglich nach rechts und erkannte schließlich den Grund dafür. Der immer noch blinde Ritter Hawkril musste den Langzahn gerochen oder gehört haben und hackte nun ebenso wild wie beherzt mit dem Schwert durch die Luft. Da inzwischen auch die letzten Fetzen ihres Gewands dahinschmolzen und sie hilflos gefesselt auf dem kalten Steinboden liegen musste, konnte sie jetzt zum ersten Mal das weiche Fell und das warme Gewicht der Spinne spüren. Zwischen Embra und dem tapferen Hawkril befand sich recht viel Ungeheuer – es sei denn, der Blinde wäre töricht genug, die Spinne gleich hier unmittelbar anzugehen. Noch löste der Langzahn bei seiner Beute nicht mehr als das Prickeln aus, und Embra gab sich schon der vorsichtigen Hoffnung hin, bei diesen magischen Fäden handele es sich lediglich um Spion- oder Abwehrzauber ... Erst nach einer Weile vermochte die junge Frau, sich ins Gedächtnis zurückzurufen, dass sie sich in der Gewalt einer Wolfsspinne befand, welche auch Menschenfleisch nicht verschmähte. Der Langzahn pflegte seinem Opfer Glied um Glied auszureißen und dann die einzelnen Teile eines nach dem anderen zu verschlingen. Und zu ihrer Rettung standen Embra nicht mehr zur Verfügung als ein Paar unfähiger Diebe und die verweichlichten Zauberer ihres Vaters ...
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Hawkrils Klinge war mittlerweile ein ganzes Stück näher gekommen. Der Recke schien nun nach Geräuschen von seinem Feind zu horchen, jedenfalls knurrte er nicht länger seine Wut hinaus. Embra spannte die Muskeln an, um den Rücken nach oben zu stoßen und die Spinne so abzuwerfen. Natürlich gelang ihr das nicht, aber dafür entging dem Ritter nicht, wie ihre Knie und Ellenbogen über die Fliesen schabten. Er holte weit mit seinem Schwert aus. Der Langzahn zuckte zurück, ließ die Beute aber nicht los und zerrte Embra mit jedem Klingenhieb noch ein Stück weiter zurück. Hawkril hingegen drang mit jedem Streich etwas weiter vor ... Bis etwas an der Spinne vorbeiflog, unter die Füße des Schwertmeisters rollte und ihn zu Fall brachte. Dabei flog ihm leider auch klappernd das Schwert aus der Hand. Langsam rappelte Hawkril sich wieder auf, schüttelte den Kopf, um die Benommenheit hinauszuzwingen, und fluchte leise vor sich hin. Doch an der Art, wie er den Kopf bald hierhin und bald dorthin drehte, ließ sich erkennen, dass sein Sehvermögen allmählich zurückkehrte. Die Ursache für den Sturz des Recken hockte nicht weiter als eine Armeslänge von der unglücklichen Embra entfernt und starrte die Wolfsspinne an. Craer starrte in die goldenen Augen seines Gegenübers und fragte dann zögernd: »Sarasper? Seid Ihr das wirklich?« Die Spannung in der reich verzierten Kammer löste sich spürbar. Drei Zauberer atmeten gleichzeitig erleichtert aus, sahen einander kurz an und setzten sich dann wieder hin.
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Am auf Hochglanz polierten Tisch im Mittelpunkt des Raums goss sich der ebenso dunkelhaarige wie gut aussehende Fürst Silberbaum gelassen Wein nach und zog schließlich eine Augenbraue hoch. »Nun, meine Herren?« Ingryl Ambelter brachte tatsächlich so etwas wie ein Lächeln zu Stande. »Die Schutzzauber sind bei der Herrin Embra angelangt, Euer Durchlaucht, und haben sie umhüllt.« Der Fürst nickte. »Ich bin wohl noch nicht so recht mit Eurer magischen Handschrift vertraut, Bannmeister. Beirldouns Art des Zauberns habe ich hingegen sofort wiedererkannt. Darum berichtet mir bitte in allen Einzelheiten, was Euer gemeinsamer Zauber zu leisten im Stande ist.« Der Angesprochene nickte und antwortete: »Edler Fürst, die magischen Schilde, welche inzwischen Eure Tochter umschließen, schützen sie gegen alle bekannten Banne, es sei denn, jemand verfluchte sie unmittelbar. Weiter stillen die Zauber alle Wundenblutungen. Allerdings vermögen sie Hieb- und Stichverletzungen weder zu verhindern noch zu lindern.« Faerod Silberbaum zog jetzt auch die andere Braue hoch. »Wird sie denn leiden müssen, wenn jemand sie verwundet?« »Euer Durchlaucht«, entgegnete Ingryl gedehnt, »zu den unvermeidlichen Nebenwirkungen eines Schutzzaubers gehört leider, dass der solcherart Geschützte unter andauernden Schmerzen zu leiden hat.« »Fein«, erwiderte der Fürst mit einem Lächeln, »ich möchte nicht, dass Embra das am Ende auch noch genießt.« »Ein letzter Punkt sollte vielleicht noch zur Sprache gebracht werden«, fügte Ambelter hinzu. »Jeder Magier, der sein Geld halbwegs wert ist, wird natürlich sofort erkennen,
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was mit Eurer Tochter geschehen ist. Er vermag auch, Zauber zu bewirken, die junge Dame überall aufzuspüren – oder besser gesagt, den magischen Schild, welcher sie umgibt.« Ein teuflisches Lächeln breitete sich langsam auf den Zügen des Fürsten aus. Er hob sein Glas, um den drei Zauberern zuzuprosten, und meinte dann heiter, jedoch ohne einen von ihnen anzuschauen: »Das war wohl getan. Dieses Trio – die beiden Halunken und Embra – wird fortan mein Schwert für die Gebiete darstellen, in welche vorzudringen mir unmöglich war. Diese drei Rebellen werden mir dienen, ohne die geringste Ahnung davon zu haben ... Stärkt Eure magischen Kenntnisse, meine Tochter, damit Ihr der Dolch werden könnt, welchen ich jenen Fürsten in den Rücken stoßen kann, die sich gegen mich stellen!« Craer starrte den Langzahn an, und der tat es ihm gleich. Stille lastete geradezu auf dem Haus des Schweigens, bis ein leises, wortloses Stöhnen von der jungen Frau ertönte, welcher die Last der Wolfsspinne doch immer beschwerlicher wurde. Hawkril rieb sich die immer noch brennenden Augen, bis er das Ungeheuer endlich wahrnehmen konnte. Ein Langzahn sah auf den ersten Blick wie eine riesige Spinne aus. Doch davon abweichend wies er das Fell und die starken Muskeln eines Wolfs auf. Dazu besaß dieses Tier auch den Schädel eines Raubhundes. Die Beine hingegen entsprachen denen einer Spinne, auch wenn zwei von ihnen über kleine Greifgebisse verfügten. Den anderen waren dagegen Stacheln an den Gelenken gemein.
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Während Hawkril noch hinsah, vergingen die Borsten. Diesen folgten die Gliedmaßen, zogen sich langsam und gespenstisch zurück wie Nebel vor Sonnenschein ... Und schließlich hockte nur noch ein dürres und nacktes ältliches Männlein mit traurigen Augen auf dem Rücken der jungen Frau. Der Ritter fand sein Schwert wieder und brachte es an sich. Dann wandte er sich an Craer: »Ihr habt ihn ›Sarasper‹ genannt? Ist das ein Name oder eine Bezeichnung?« Der Alte kletterte umständlich von der Fürstentochter, und die blieb keuchend auf dem Steinboden zurück. Als sie wieder zu Atem gekommen war, drehte sie den Kopf und meinte: »Ja, Craer, warum stellt Ihr uns nicht vor? Und sobald Ihr das erledigt habt, hätte ich gern meine Kleider zurück.« Der Beschaffer lächelte und nickte in die Richtung, wo sein Sack lag. »Freunde«, erklärte er nun, »ich möchte Euch Sarasper Kodelmer vorstellen, einen meiner ältesten Freunde. Vor Jahren haben wir uns aus den Augen verloren, und erst kürzlich erfuhr ich von einem anderen Freund, dass er sich hier aufhalten sollte.« »Also hat Thalver mich verraten ...« meinte der Kleine müde und rieb sich mit einer altersfleckigen Hand über das stoppelige, vorragende Kinn. »Der alte Donnerschwert ... auch keinen Deut besser als die anderen.« Seine Stimme hörte sich heiser und krächzend an, wohl weil er sie seit langem nicht mehr eingesetzt hatte. Dennoch gelang es Sarasper, seinen Worten einen bitteren Unterton zu verleihen. »Er ist auf einem Strand in Hellnarbe gestorben«, klärte Craer ihn auf. »Von drei Pfeilen durchbohrt verschied er in
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den Armen eines Freundes. Sicher hat Thalver ihm auch einige seiner Geheimnisse anvertrauen können ... damit ihm der Abschied von dieser Welt leichter fiel. Deswegen behaltet ihn nicht als allzu unehrenhaft in Erinnerung.« »Hrrrmphh!« machte der Alte, ließ den Kopf hängen, schlurfte von ihnen fort und schlich an der Wand entlang. Seine Blicke wanderten unablässig hierhin und dorthin, so als wollten sie den gesamten Raum erfassen. »Wie viel hat er Euch verraten?« wollte Sarasper dann wissen. »Nun, dass Ihr vor Jahren die echten Langzähne erschlagen hättet und seitdem in den Katakomben haustet ... Euch vor den Menschen verborgen hieltet ... und Euch tarntet als Fledermaus, Erdschlange oder gar als Langzahn aus dem Schweigenden Haus.« »Habt Ihr Euch vor allen Menschen verstecken wollen?« fragte Embra. »Oder nur vor meinem Vater?« Sie versuchte vergeblich, ihr zerzaustes Haar zu richten. »Vor allem vor Baronen, meine Teure«, antwortete der Alte kurz angebunden, bedachte sie aber doch mit einem Blick. Als das Verlangen in seinen Augen zu offensichtlich wurde, wandte er den Kopf ab. »Wer könnte denn Euer Vater sein?« fragte Sarasper dann die Wand. »Faerod Silberbaum!« teilte sie ihm etwas von oben herab mit. Das alte Männlein starrte sie argwöhnisch an, und während dessen schien ihm auf den Unterarmen Fell zu wachsen. »Ihr solltet mich aufspüren, nicht wahr, Hexe?« Hawkril hob bedrohlich sein Schwert, doch das war Sa-
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rasper nicht einmal eines Seitenblickes wert. Dafür ließ er die junge Frau nicht aus den Augen und duckte sich, als wolle er sie anspringen. Doch Embra schüttelte den Kopf, und weil sie noch lag, schabte ihr Kinn über die Fliesen. »Ganz im Gegenteil: Wir drei sind auf der Flucht vor dem Zorn meines Vaters ... oder besser gesagt vor dem seiner drei Magier!« Sarasper entspannte sich eine Kleinigkeit und schlurfte weiter die Wand entlang. »Und, Herrin des Geschmeides, wie ist es um Eure eigenen Zauberkünste bestellt?« wollte der Alte offenbar von einem anderen Wandstück erfahren. Er stieß die Worte scharf wie eine Anklage hervor. »Die haben uns hier hereingebracht«, antwortete die junge Dame knapp und bedachte dann Craer mit einem vernichtenden Blick. »Ich warte – auf meine Kleider!« Der Beschaffer reichte ihr schon Stiefel und ein Bündel Kleidungsstücke hin. Dann hielt er den Sack, aus dem beides gekommen war, wie einen Wandschirm hoch. Leider verhüllte dieser kaum etwas, und Embra bedachte ihren Wohltäter mit einem säuerlichen Blick, während sie sich aufrichtete und in die nasse Hose zwängte. Der Alte und die beiden Freunde betrachteten für eine Weile ihr Frösteln, dann entfernte sich Hawkril, um eine Kerzenlampe zu besorgen. Er stellte sie vor der Prinzessin ab, lehnte sich dann wieder an die Wand, legte das Schwert auf die Knie und ließ die ganze Zeit über den Mann nicht aus dem Auge, welcher sich ihnen bis vor kurzem noch als Wolfsspinne gezeigt hatte. Eigentlich sogar bis eben noch ... »Also haben wir es hier mit einem Alten zu tun«, brummte
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der Ritter, »welcher genug Magie beherrscht, um die Gestalt von drei verschiedenen Ungeheuern anzunehmen, vielleicht sogar von mehr ... Er verbirgt sich hinter seiner abscheulichsten Gestalt und frisst die Menschen, welche zu ihrem Unglück des Wegs gezogen kommen ... aber warum das alles?« »Weil er Heiler ist!« entfuhr es Embra, und in ihrer Aufregung über diese Erkenntnis vergaß sie, das Hemd herunterzuziehen, das sie sich gerade über den Kopf anzog. Dafür drehte sie sich zu dem Alten an der Mauer um und starrte ihn herausfordernd an. Sarasper erstarrte, wagte es aber nicht, die halb nackte Zauberin anzugaffen. Er nickte so unmerklich, dass die anderen diese Geste beinahe übersehen hätten. »Geheimnisse scheinen sich nirgends besonders lange zu halten«, erklärte er mit einem Seufzer der Decke. »Er vermag Wunden zu heilen?« fragte Hawkril. »Mit Hilfe der Zauberkunde? Und solche Fertigkeiten sollen einen Mann dazu bewegen, sich jahrelang von nichts anderem als rohem Menschenfleisch zu ernähren?« »Seit Alters her halten Barone sich ihre Heiler wie angekettete Sklaven«, erklärte die Prinzessin ihrem Hemd, in das sie sich nun schlängelte und anschließend die nassen Ärmel geradezupfte. »Damit sie auf Befehl hin heilen konnten. Wenn ein Heiler seiner Fertigkeit nachgeht, altert sein Körper und erschlafft sein Fleisch. Wenn man einem solchen Mann die Freiheit verwehrt, seine Künste nach eigenem Gutdünken einzuschränken, wird dieser schon in jungen Jahren an Leib und Seele gebrochen sterben.« Das raubte erst einmal jedem die Worte, und die drei Gefährten warfen scheele Blicke auf das Männlein, welches sich
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an die Wand drückte. »Ihr fürchtetet die ganze Zeit, von Fürst Silberbaum gefangen zu werden?« meinte Hawkril, erhielt aber keine Antwort. »Und solche Angst war gewiss nicht unbegründet«, bemerkte Embra stattdessen. Sie mühte sich gerade mit ihren Stiefeln ab und stampfte mehrmals tüchtig auf, ehe die Füße richtig darin Platz gefunden hatten. Sarasper hob den Kopf, als die Prinzessin zu ihm geschritten kam. Seinen müden alten Zügen ließ sich jedoch nicht entnehmen, was hinter seiner gerunzelten Stirn vor sich ging. »Ihr habt Euch hinter den Fallen in den Katakomben versteckt ... wann immer die Schergen meines Vaters oder irgendwelche Abenteurerbanden auf der Suche nach Schätzen hier eindrangen ...« Man sah der jungen Frau an, dass sie nun laut dachte. Wenige Schritte vor dem Alten blieb sie stehen, um gründlich nachzusinnen. »Des Nachts habt Ihr dann Jagd auf sie gemacht ... aber nur außerhalb dieser Mauern ... und stets in Gestalt einer Wolfsspinne ...« Sarasper bestätigte all ihre Vermutungen, indem er nickte. »Ich kann rohes Menschenfleisch langsam nicht mehr sehen«, erklärte er ihr schließlich, und in seiner Stimme schwang eine Bitte mit. Dann zog er eine Braue hoch, als wolle er die Prinzessin zu etwas herausfordern, ließ es dann aber bleiben und wandte sich wieder von ihr ab. »Dann gibt es nur eine Lösung für Euch!« rief Craer, als sei ihm die allerhellste Erleuchtung gekommen. »Hört auf damit, Euch zu verstecken, und lebt wieder! Einst sind wir mit Schwarzgult geritten, oder habt Ihr das schon vergessen, alter Freund?«
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Er trat auf das Männlein zu. »Und jetzt können wir Eure Heilergabe gut gebrauchen. Hawkril und die Edle bedürfen ihrer dringend. Die Prinzessin war genauso eine Gefangene des Barons wie ein angeketteter Heiler. Ihr werdet uns doch sicher beistehen, oder? Bitte ...« Lange starrte der Alte die Gefährten aus seinen tief in den Höhlen liegenden Augen an. Seine Miene blieb ausdruckslos, auch dann, als er ihnen entgegnete: »Also gut, einverstanden. Doch die Sache hat ihren Preis ...« Delvin von den vielen Harfen und Helgrym Burgmäntel hatten sich hinter eine Reihe Särge zurückgezogen, um in Ruhe darüber nachzudenken, was sie als Nächstes tun sollten. Sie hörten das Ächzen einiger Soldaten des Barons Silberbaum, und der Zugang zum Haus des Schweigens wirkte so, als läge er vollständig unter einem tüchtigen Erdrutsch verborgen. »Vermutlich hat das Geröll auch allen Raum hinter dem Tor ausgefüllt«, vermutete Helgrym grimmig. »Sonst wäre nicht so viel Zeugs nach draußen geflogen. In jungen Jahren habe ich diesen Ort schon einmal erkundet – wenn auch aus sicherer Entfernung –, und ich kann mich nicht an einen anderen Zugang erinnern ... Nur an diesen hier ... Für eine Ballade, welche später einmal an allen Lagerfeuern gesungen wird, dürfte das wohl kaum reichen, oder?« »Wie? Meint Ihr, wir sollen einfach kehrtmachen und abziehen? Nachdem wir unseren Hals dabei riskiert haben, überhaupt bis hier hinauf zugelangen?« Delvin war außer sich. Nachdem die Aufregung in ihm
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über die Erschöpfung obsiegt hatte, war er nun nicht gewillt, sich widerspruchslos in die Niederlage zu fügen. »Wisst Ihr denn vielleicht etwas Vielversprechenderes?« grummelte Helgrym. »Oder ...« Etwas Riesiges und Dunkles rauschte aus der Nacht heran und riss Delvin mit einem Ruck den Kopf ab. Der enthauptete Körper schwankte hin und her, und Blut verspritzte sich in alle Richtungen. Erst nach einem Moment ging Helgrym auf, dass er noch keine Antwort erhalten hatte. Er entdeckte, was aus seinem Gefährten geworden war, fluchte gotteslästerlich, rannte davon und wusste schon nach wenigen Schritten, dass er seinem Schicksal nicht entkommen konnte. Während Burgmäntel durch die Nacht davonsprang, ging ihm seine Lieblingsballade durch den Sinn, und er fing an, sie zu singen. Wenn er schon sterben sollte, wollte er sie wenigstens noch einmal hören. Als die dunklen Schwingen wieder heranrauschten und der Gesang mit einem Knochenknacken sein vorzeitiges Ende fand, flammten die Augen im Eingang zu einem Grabgewölbe wütend und golden auf. Finger strichen über den Rahmen einer Harfe, berührten die Saiten aber nicht, und eine leise Stimme erklärte der Nacht: »Blöde Magier! Möget Ihr alle im Sud Eurer eigenen Überheblichkeit gekocht werden! Schöner Mist! Mit diesen beiden hatte ich noch etwas vor!« Sarasper berührte einen bestimmten Stein in der Wand, und schon schwang diese zurück, um eine Nische freizulegen. Der Alte zog eine faustgroße Holzdose heraus und klappte sie an
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einer Seite auf. Helles Licht drang heraus, und dieses ging von einem Kieselstein aus. Den legte das Männlein auf den Boden und löschte dann mit zwei Fingern Hawkrils Kerze. »Zum Preis verlange ich Eure Hilfe in einer Angelegenheit«, erklärte der Alte dem schwankenden Docht und ohne einen der drei anzuschauen, »welche mir weder bei Tag noch bei Nacht Ruhe lässt.« »Worum geht’s?« rief Craer. »Um die Begleichung einer Schuld? Um einen verlorenen Gegenstand? Um Kranzgeld für ein nicht eingelöstes Eheversprechen?« »Vier Gegenstände müssen geborgen werden«, teilte der Alte ihnen kurz und bündig mit. »Die Suche nach ihnen mag länger andauern, als mir noch an Lebenszeit beschieden ist.« »Mir tut es eigentlich schon gar nicht mehr so weh«, ließ Hawkril sich vernehmen und schaute die Prinzessin aufmunternd an, welche mit bleicher und schmerzverkniffener Miene dastand. »Mir schon ... fürchte ich«, flüsterte Embra so leise, dass der Ritter sich zu ihr niederbeugen musste, um sie verstehen zu können. Die Edle hob den Kopf und forderte den Alten mit festerer Stimme auf: »Sprecht weiter, Heiler. Erzählt uns mehr von dieser Suche.« Aber Sarasper untersuchte längst eine andere Stelle an der Wand. Diesmal offenbarte eine Nische ein Gewand, das einmal sehr kostbar gewesen sein musste, inzwischen aber nur noch aus Flicken zu bestehen schien. Mit einem Achselzucken legte der Alte sich das Stück an, achtete nicht weiter auf dessen strengen Schimmelgeruch und
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klärte seinen neuen Mitstreiter auf. »Der Schutzheilige aller Heiler ist Vorvater Eiche, der mächtigste unter den Dreien. Von Zeit zu Zeit spricht er zu uns, die wir die Menschen heilen. Er tut dies jedoch nicht mit Worten, sondern in Gestalt von Gesichten, welche er uns in die Träume schickt.« Hawkril machte »Hm!«, dann erklärte er: »Ich habe auch manchmal so seltsame Träume. Die erscheinen mir so dunkel oder so hell, dass ich mich nach dem Erwachen noch genau an sie erinnern kann ... Meist geht es in ihnen um Blut und Schlachten und Freunde, welche im Kampf ihr Leben verloren haben ... Wie ist das denn bei Euch? Zeigt sich da auch das Gesicht des Alten, oder haltet Ihr es lieber so wie die Priester? Will sagen, sortiert Ihr Eure Träume aus, und diejenigen, welche Euch gefallen, erklärt Ihr zu denen, welche der Vorvater geschickt hat?« Sarasper erstarrte. Dann richtete das Männlein sich zu erstaunlicher Größe auf und stand schließlich aufrecht wie ein Fürst da. Festen Auges blickte er Hawkril an und sprach leise und sehr deutlich zu ihm. Jedes einzelne seiner Worte rollte wie ein Stein auf den jungen Mann nieder. »Würde der Vorvater sich dazu herablassen, Euch jemals eine Botschaft zu senden, würdet Ihr das sofort wissen und hättet keinen Anlass mehr für solch törichte Rede. Mit goldenem Feuer umrahmt der Vorvater seine Gesichte, und diese brennen auf immer, ohne jemals zu verlöschen. In solchen Fragen dürft Ihr mir ruhig vertrauen, Schwertmeister, so wie ich mich niemals erkühnen würde, Euch in
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Waffenfragen dreinzureden.« Hawkril nickte beschämt. »Fahrt bitte fort«, forderte er den Alten mit rauer Stimme auf. Sarasper nickte ernsthaft, als sei ihm königliche Genugtuung zuteil geworden, und erklärte: »Mein Preis mag sich hoch anhören, doch diese Angelegenheit nagt schon sehr lange an mir.« Wieder hielt er in seiner Ansprache inne, doch diesmal aus dem Grund, um die Gefährten der Reihe nach anzusehen. »Um der Wahrheit die Ehre zu geben, diese Sache sollte allen Menschen den Silberfluss hinauf und hinab schlaflose Nächte bereiten. Und die Herzen sämtlicher Krieger und Zauberer in dem Gebiet zum Rasen bringen, das einmal Aglirta war! Das Reich, welches wieder entstehen muss!« Damit verlor sich das innere Leuchten aus seinen Zügen, und er murmelte wieder so leise wie vorher. »In den letzten Jahren haben sich meine Gedanken kaum mit etwas anderem beschäftigen können. Die Visionen verfolgen mich, plagen mich, so dass ich auch wirklich nicht dazu komme, mich mit etwas anderem zu befassen. Kein Moment der Ruhe ist mir vergönnt.« Er schüttelte den Kopf, und seine Zuhörer befürchteten schon, dass er sich nun wieder teilnahmslos an die Wand lehnen würde. Doch da fuhr der Alte schon fort: »Die Weltensteine müssen gefunden werden. Dann muss man die Dwaerindim so anordnen, dass der Schlafende König erwacht ... Denn der soll eines Tages auferstehen, so verheißen es uns die alten Sagen, um den Frieden und den Wohlstand im Land wiederherzustellen!« »Zapperment und Zapperlot!« rief Hawkril verächtlich.
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»Das ist doch bloß ein altes Ammenmärchen! Eine Geschichte, um die Augen von Kindern zum Leuchten zu bringen. ›Findet die Vier Verlorenen Steine, dann steigen Burgen wieder auf, brechen Berge zusammen und kommt das Goldene Zeitalter wieder über das Land! Dann werden alle dick und rund, dann haben alle mehr, als sie jemals brauchen können, und alle gefährlichen Tiere fliehen in die Nachbarländer!‹ Das letzte Mal habe ich solchen Unsinn von einem Kindermädchen gehört!« Die Prinzessin nickte. »In meinem Mädchenzimmer in der Burg finden sich auf meinem Buchregal immer noch drei Ausgaben der Sage von den Dwaerindim. Meine Lehrer haben sie mir früher so lange vorgelesen, bis ich den Text selbst entziffern konnte. Diese Bücher sind uralt. Wenn der Schlafende König wirklich einmal gelebt haben sollte, müssen seine Gebeine längst zu Staub zerfallen sein. Verratet mir, Sarasper, wie Ihr es anfangen wolltet, einen Haufen Staub wiederzubeleben?« Als der Alte ihnen nun antwortete, klang er nicht eigentlich wütend, sondern eher überdrüssig, so wie ein Lehrer angesichts einer lernunwilligen Schülerschar. »Ich leide weder an einem zerrütteten Geist noch bin ich blauäugig wie ein Chorknabe. So kann ich Euch nur noch einmal versichern, dass ich die Wahrheit sage und nicht bloß irgendwelche alten Sagen wiedergebe. Oder haltet Ihr etwa die Schlange in den Schatten auch nur für ein altes Ammenmärchen?« »Sprecht Ihr etwa von diesem teuflischen Magier«, entgegnete Hawkril, »welcher heute nur noch von Giftmischern
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und ähnlichem Gelichter verehrt wird?« »Das war ein Zauberer –« begannen der Alte und die Prinzessin wie aus einem Munde. Dann brachen sie gleichzeitig ab und sahen einander eigenartig an. Sarasper verbeugte sich wie ein Höfling vor der Herrin und bedeutete ihr so, dass er ihr den Vortritt lassen wolle. Embra betrachtete ihn argwöhnisch, ehe sie ergeben nickte und das Wort ergriff. »Das war ein Zauberer, der etwas mit der Verzauberung der Vier Steine zu tun gehabt hat, dann aber irgendwann den Verstand verlor ... vielleicht war er auch schon vorher wahnsinnig gewesen. Jedenfalls hat er mehrere Rivalen ermordet, um so den Bann zu verstärken, welchen er auf die Dwaer legte. Irgendwann sind ihm dann die anderen Magier auf die Schliche gekommen und haben ihn zur Rede gestellt. In seiner Not hat er sich in eine Schlange verwandelt, um sich so davonstehlen zu können. Daraufhin haben die anderen ihm die Schlangenform auf Dauer verpasst. Er bewegt sich heute noch als Kriechtier fort.« »Wie, der Mann lebt noch?« entfuhr es dem Ritter. »Schwertmeister«, wandte der Heiler sich an Hawkril, »gibt es in ganz Darsar irgendetwas, woran Ihr freiwillig glaubt? Einmal abgesehen von dem Schwert in Eurer Hand und der nächsten Mahlzeit, welche den Weg in Euren Bauch finden wird? Oder besteht das Leben für Euch tatsächlich nur aus Beute, Bräuten und Bett?« »Alter Mann«, erwiderte Hawkril Anharu und sah sein Gegenüber die ganze Zeit an, »ich male mir in meiner Freizeit gern aus, was für ein besserer Ort Darsar doch wäre, wenn mehr Menschen sich eher um die mir wichtigen Dinge
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kümmerten, statt irgendwelchen Göttern hinterherzulaufen, jede Woche ein neues Königreich zu gründen und ihre Nachbarn zu erschlagen.« Er lächelte in sich hinein. »Und eines habt Ihr eben in Eurer Aufzählung vergessen: Schlaue Träume zu haben, gehört auch noch dazu.« Die Ritter, welche ihre Fackeln hoch über den Köpfen hielten, warfen Riesenschatten an die Wände. Wortlos führten sie die verhüllten Gestalten geheime Treppen hinauf in eine Kammer hoch oben in der Burg des Barons Ornentar. Teppiche bedeckten hier dicht an dicht die Wände. Die Luft flimmerte jedes Mal, wenn einer der Besucher zwei Wandteppiche auseinander schob und eintrat. Die meisten von ihnen wussten, dass es sich dabei um einen Abwehrbann gegen Spionagezauber handelte. Vielen war eine solche Vorsichtsmaßnahme hoch willkommen. Wenn Ornentars Fürstentum der Unterjochung durch Silberbaum entgehen wollte, durfte man auf gewisse Vorsorge gegen die Dunklen Drei von Faerod nicht verzichten. Keinen der Besucher überraschte es daher, Zauberstäbe in den Händen des Mannes zu erblicken, welcher sich hinter dem Baron aufgebaut hatte. Oder die vielen Ritter zu sehen, welchen eine gespannte Armbrust im Schoss lag und die auch noch ein gezücktes Schwert bereithielten. Aber schließlich waren die Besucher ja auch nicht unvorbereitet gekommen. Dunkle Taten erfordern in Planung wie in Durchführung verzweifelte Maßnahmen. Zweifelsohne standen hinter jedem Wandteppich rings im Raum Bewaffne-
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te bereit. Ritter, welche dem verzweifelten Mann dienten, der ihnen hier gegenübersaß. Alle, die hier erschienen waren, kannten den Fürsten Eldagh vom Ansehen her, und auch sein Ruf war ihnen nicht fremd. Bei dem Baron von Ornentar handelte es sich um einen übergewichtigen Mann mit steinerner Miene. Seine dunklen Augen mit den schweren Lidern blickten ebenso finster wie tückisch drein. Dieser Mann hielt sich für gerissen und geschickt, benahm sich aber eher wie die Axt im Walde. Wer Eldagh näher kannte, wusste, wie sehr dieser Fürst von seinem Machthunger zerfressen wurde. Den Zauberer hinter dem Baron kannten die Besucher hingegen nicht. Dabei hatte dieser Mann dafür gesorgt, dass jeder Magier, welcher das Land Silberbaum verließ, unter Beobachtung gestellt wurde. Darüber hinaus wurde jede Form von Spionagemagie blockiert. Wer sich auch immer hinter dieser Maske verbergen mochte, bei ihm handelte es sich gewiss um kein Werkzeug Faerods. Viel eher hatte er dem Baron so lange den Rücken gestärkt, bis dieser genug Mut gefunden hatte, sich offen gegen Silberbaum zu stellen. Viele fanden sich in diesem Raum hoch oben in der Burg ein: große und breitschultrige Kriegsmänner mit schweren Schlachtschwertern an der Seite, unter deren Mänteln und Umhängen die Kettenhemden klirrten. Daneben aber auch einige schlankere und kleinere Herren, bei denen es sich wohl um Beschaffer handeln musste. »Der Rat ist vollständig zusammengetreten«, stellte der Baron schließlich fest. »Mögen nun alle Wachen vortreten.«
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Überall gerieten die Wandteppiche in Bewegung, und Ritter traten vor, um ihre eigentlichen Posten einzunehmen. »Ihr dürft nun Platz nehmen«, meinte der Fürst huldvoll, »und wem es gefällt, der mag seine Maske abnehmen.« Schließlich haben wir uns hier alle aus demselben Grund versammelt. Deshalb sollte es innerhalb dieser vier Wände auch keinen Hader geben.« Ein geflüstertes Wort hatte sie alle ihr Ränzel packen und die Reise nach Burg Ornentar antreten lassen. Und dieses Wort lautete: Dwaer! »Die Gerüchte verbreiten sich rascher als ein Sonnenaufgang durch das ganze Gewundene Tal«, meinte der Baron nun, »und selbst in meiner eigenen Burg sind mir die wildesten Übertreibungen zu Ohren gekommen. Ihr Herren, fasst Euch nur noch ein wenig in Geduld, dann wird Urdras – ein Schreiber aus Sirlptar – das Wenige zusammenfassen, was wir mit Sicherheit darüber wissen.« Ein unscheinbarer, ruheloser und fahriger Mann mit grauem zurückgehendem Haar erhob sich von seinem Platz unweit des Barons, verbeugte sich vor der Versammlung und ließ dann die Hände in den Ärmeln verschwinden, so dass es so aussah, als würde er sich selbst umarmen. »W-Wie Ihr be-... wünscht, Herr«, begann er dann unglücklich. Schon nach wenigen Worten hielt Urdras es nicht mehr an Ort und Stelle aus und lief unruhig auf und ab. Die eckigen Bewegungen verliehen seinem Bericht eine besondere Dringlichkeit. »Vor einigen Tagen starb ein Zauberer, genauer gesagt, der Magier Yezund von Elmerna. Der hatte zu Lebzeiten be-
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hauptet, den Fundort eines der Dwaerindim entdeckt zu haben. Nein, nicht nur irgendeines Steins, sondern von Kandalath, dem Stein des Lebens. Dies sei ihm auf zweierlei Weise gelungen, berichtete er. Nämlich einmal durch seine Weitsuch-Zauber, dann durch das Studium uralter Texte und schließlich – nein, es ist also doch auf dreierlei Weise – auf Grund der Berichte, welche die Söldner mitbrachten, die er angeworben und zu bestimmten Orten geschickt hatte. Yezund behauptete nun kurz vor seinem Ableben Folgendes: dass nämlich der Stein Kandalath irgendwo in der Bibliothek eines verstorbenen Zauberers läge. Genauer gesagt in der zerstörten Stadt Indraewyn, beim Zauberer Erluth.« Der Schreiber blieb stehen, hob den Kopf und sah sich erschrocken um, als würde ihm gerade erst bewusst, dass er hier vor Publikum redete. Schweigen, so schwer wie die Wandteppiche, empfing ihn von allen Seiten. Mehrmals hüstelnd fuhr Urdras nach einem Moment fort. »Yezund hat all dies in seiner gewohnt angeberischen Weise den Magiern mitgeteilt, welche sich mit ihm im Haus der Erhobenen Hand in Sirlptar versammelt hatten. Bei dieser Einrichtung handelt es sich um einen Club, zu dem nur Magier Zutritt erhalten. Yezund war Mitglied, nahm in dem Club aber keinen besonderen Rang ein. Wie dem auch sei, seine Ausführungen wurden von Hohn und Gelächter begleitet, und im Anschluss daran entwickelten sich lebhafte wie auch hitzige Debatten.« Der Schreiber schien sich nun eher in seinem Element zu fühlen. Er legte jetzt eine Kunstpause ein, um die Spannung zu erhöhen ... bis er den brennenden Blick seines Fürsten im
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Rücken spürte und hastig fortfuhr. »Yezund verließ den Club kurz nach seinen Ausführungen und ging nach Hause. Als er die Straße der Lampen erreichte, wurde er dort von unsichtbaren Zaubern zerrissen. Vielleicht haben dieselben Magier dahinter gesteckt, welche noch in der Stunde seines Todes Yezunds Haus geplündert und in Brand gesteckt haben. Der oder die Mörder sind bis heute unbekannt, doch dürfen wir wohl davon ausgehen, dass jemand, der ebenso erbarmungslos wie zaubermächtig ist, diesen Dwaer unbedingt in seine Hände bekommen will!« Urdras verbeugte sich wieder und kehrte dann ohne weiteres Säumen auf seinen Platz zurück. Der Baron erhob nun wieder das Wort: »Habt Dank für Eure Ausführungen, Schreiber. Meine Herren, die Dringlichkeit dieser Neuigkeiten dürfte Euch gleich aufgegangen sein: Wer diesen Stein findet, kann damit die furchtbarsten Dinge anrichten. Wenn der Dwaer gar Silberbaum zufallen sollte, ist keiner von uns in ganz Aglirta seines Lebens mehr sicher. Und deswegen haben wir uns heute hier versammelt. Sprecht nun und teilt mit, was Ihr uns zu sagen habt.« Zunächst kam es in der Runde nur zu allgemeiner Unruhe, doch dann erhoben sich mindestens drei Stimmen gleichzeitig. Der Baron hob schon eine Hand, um seine Ratsmitglieder zur Ordnung zu rufen. Aber da setzte sich schon ein dunkle Stimme donnernd durch. »Ich und viele andere, welche das Schwert tragen, möchte ich meinen, kennen die Dwaerindim aus den Geschichten unserer Mütter.
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Der Schreiber soll noch einmal vor uns treten und ausführen, über welche Fähigkeiten diese Steine wirklich verfügen. Wir wollen nichts von dem Unsinn hören, welchen unsere Mütter uns damals aufgetischt haben, und auch nichts von all dem Firlefanz, mit welchem die Zauberer für gewöhnlich solche Geschichten umkränzen, um uns Laien endgültig die Sinne zu verwirren!« Bei dem Sprecher handelte es sich um einen Hünen mit vielen Narben, welcher ziemlich weit hinten saß und einen grünen Umhang trug, in dem drei Schreiber von Urdas’ Sorte Platz gefunden hätten. »Bei den Klauen des Finsteren!« brüllte einer der verhüllten Zauberer. »Müssen wir jetzt endlose Erläuterungen über uns ergehen lassen, bis es auch der letzte Einfaltspinsel begriffen hat?« »Ja!« donnerte ein Krieger nicht weit von ihm und fügte dann ebenso langsam wie kalt hinzu: »Uns ›Einfaltspinseln‹ wäre das sehr angenehm.« Seine Entgegnung löste einiges Grinsen und viel Zustimmung aus, und auf ein Nicken des Barons hin erhob sich Urdras ein zweites Mal. Er zitterte jetzt jedoch so stark, dass man befürchten musste, er bekäme keinen einzigen zusammenhängenden Satz heraus. »Dieser Stein, also von ihm wird gesagt, nun, er könne Tote wieder zum Leben erwecken, also lebendig machen. Und dazu kommen noch ein paar andere ganz hübsche, äh, starke Kräfte. Jeder Dwaerindim-Stein, nein, das heißt ja schon Stein, hat besondere Fähigkeiten, und noch viel mehr, wenn man sie alle zusammen benutzt. Dazu muss man alle vier beisammen, also zusammen ha-
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ben. Und wenn man dann noch weiß, wie und worum man sie legen muss, vermag man über sie zu gebieten und kann noch so manches mehr bewirken.« »Mal abgesehen von dieser Totenerweckung, was macht einen solchen Stein wertvoller als ein Dutzend Mietzauberer?« wollte ein Krieger mit besonders tiefer Stimme wissen. Der Schreiber lächelte unsicher. »Vergeben mögen mir alle, welche hier sitzen und längst Bescheid wissen, aber zum besseren Verständnis will ich mich so einfach wie möglich ausdrücken. Zauberischer Einfallsreichtum, die Beherrschung der Magie und die Fähigkeit, Energie zu formen und zielgerichtet zu steuern, all das muss vom Magier selbst kommen. Aber die eigentliche Energie, welche allen Bannen zu Grunde liegt, kann man nur von zauberischen Gegenständen beziehen. Einfache Dinge wie Bachkiesel, aber auch entwickeltere wie die Handschuhe dort drüben ...« Alle schauten in die Richtung, in welche der Schreiber jetzt zeigte. Ein Krieger hatte seine Handschuhe ausgezogen und vor sich gelegt. Sie liefen die ganze Zeit über wie Spinnen auf ihren ausgestreckten Fingern auf und ab. Als der Kriegsmann bemerkte, dass ihm die allgemeine Aufmerksamkeit zukam, zuckte er die Achseln und meinte: »Wenn wir uns in der Nähe starker Zauberkräfte befinden, führen sie sich so auf. Hier dürften wohl die Abwehrbanne verantwortlich sein.« Urdras nickte heftig. »Ganz genau. Solche Gegenstände zeigen uns das Vorhandensein von Magie an, weil man Zauber in sie gesteckt oder auf sie gelegt hat, genau dies zu tun. Oder etwas anderes, ganz nach Wunsch. Im Lauf der Zeit
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braucht sich ihre Zauberenergie auf und ist irgendwann vollständig erschöpft. Aber wir kennen auch Gegenstände mit dauerhafter Zauberkraft. Darunter verstehen wir solche, welche länger als ein Menschenleben wirksam bleiben. Mit ihnen kann man Zauber um Zauber bewirken, ohne dass die Energie jemals nachlässt. Solche Gegenstände entstehen, indem ein anerkannter Magier sein Leben dafür opfert. Viele Zauber würden alles tun, um einen derartigen Gegenstand in die Finger zu bekommen. Bei einem Dwaer handelt es sich, wie nicht mehr schwer zu erraten sein dürfte, um ein dauerhaftes Zauberwerkzeug.« »Ihr habt gerade Geheimnisse ausgeplaudert«, meinte einer der verhüllten Magier leise, »und dafür werde ich Euch bei der ersten sich bietenden Gelegenheit töten. Schreiberling, auf der ganzen Welt findet sich kein Ort, an welchem Ihr Euch vor unseren Bannen verstecken könnt.« Mit hängendem Kopf und bleicher Miene setzte Urdras sich wieder hin, und schon im nächsten Moment brach er ohnmächtig auf dem Boden zusammen. Alle konnten deutlich erkennen, dass er sich in die Hose gemacht hatte. »Eure Zauber wirken ja wirklich schnell«, bemerkte jemand mit spöttischem Unterton. »Aber die von ihm ausgesprochenen Worte können nicht ungesagt gemacht werden«, bemerkte ein anderer Krieger. »Ich kann auch nichts Schlimmes darin erkennen, uns mit Wissen zu versorgen, welches uns im entscheidenden Fall weiterhelfen könnte.« »Indem er Euch gestärkt hat«, knurrte ein anderer Zaube-
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rer, »hat er uns geschwächt.« Der Baron schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Kein überaus lautes Geräusch, aber dennoch eines, welches für Ruhe sorgte. Dann ließ er seine Stimme vernehmen. »Kein Geheimnis währet ewiglich, außerdem sprechen wir hier über Angelegenheiten, welche weit über das kleinliche tagtägliche Machtgerangel hinausgehen. Ihr Herren, unser aller Leben ist verwirkt, wenn dieser Stein in die falschen Hände gelangt!« »Ich glaube, wir sind uns alle einig«, warf ein Kriegsmann ein, »dass es sich bei diesen falschen Händen um die von Faerod Silberbaum handelt. Aber unter uns finden sich wahrscheinlich noch keine drei, welche sich darüber einig sind, wem denn nun die richtigen Hände gehören. Oder würdet Ihr etwa mir solche moralische Festigkeit zubilligen, solange ich nicht meine Schwertspitze an Eure Kehle hielte?« Das löste allenthalben heftigste Debatten aus, und jeder versuchte, den anderen zu übertönen, bis schließlich der Baron aufsprang und in die Runde donnerte: »Schweigt endlich!« Seine Stimme löste an allen Wänden, sogar durch die Behänge hindurch, Widerhall aus. Aber alle hielten wirklich die Luft an und drehten sich zu ihm um. »Jedem hier dürfte bewusst sein«, erklärte der Fürst nun, »dass dieser Punkt derjenige sein dürfte, welcher unseren Bund zersprengen und Uneinigkeit zwischen uns schaffen dürfte. Also werden wir keine Zeit mehr mit ihm vergeuden.« Er schaute die Männer einen nach dem anderen an, ehe er fortfuhr: »Heute Abend wollen wir uns lieber über die Gefahren und die Vorzüge dieses Steins austauschen. Damit die fä-
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higsten Herren von ganz Aglirta – wir in dieser Runde hier – wissen, womit sie es zu tun haben. Wer auch immer den Dwaer schließlich in Händen halten wird, wir wollen nicht aus Unwissenheit eine Dummheit begehen. Sollten wir nicht die Unkenntnis am meisten von allem fürchten?« »Mit Ausnahme vielleicht des Ehedrachens zu Hause, welcher besser in Unkenntnis darüber gehalten wird, wann man heimkommt«, warf ein Recke ein. Zunächst schwiegen alle und überlegten, was er damit wohl gemeint haben könnte. Dann brachen jedoch alle in schallendes Gelächter aus. Der Mann hatte mit seinem Scherz die Spannung gelöst, welche sich vorher in der Kammer aufgebaut hatte. Als sich alle wieder beruhigt hatten, legte sich aufgeregte Stille über den Raum. Die Ritter und Zauberer ahnten, welche Gefahren vor ihnen lagen. »Keinem von uns ist der Ehrgeiz fremd«, erklärte der Baron nun, »doch einige von uns fürchten zu Recht das Schlimmste für sich. Dennoch fordere ich Euch auf, Magier von Ornentar, legt eure Kapuzen ab, und sprecht so offen, wie es dieser brave Schreiber hier vorhin gewagt hat. Uns bleibt wohl kaum noch ausreichend Zeit, einander mit Drohungen zu überschütten oder in Rätseln zu sprechen.« »Ihr sprecht wie stets die Wahrheit, Euer Durchlaucht«, entgegnete einer der Zauberer. »Den Verlockungen eines Dwaer kann kein Magier widerstehen. Doch geben die Zauberkundigen nicht nur und ausschließlich den Zwängen ihres Ehrgeizes nach. Viele von uns leiden an ebenso starken Ängsten, welche uns zu manchmal unsinnigen Vorsichtsmaßnahmen verleiten.« Der Mann zog vor aller Augen seine Kapuze zurück, und
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die meisten erkannten die ruhigen Gesichtszüge, welche nun sichtbar wurden, als die des Huldaerus, dem Meister der Fledermäuse. Dieser Titel erklärte sich daraus, dass er seine Zauberkräfte dazu einsetzte, Krieger mit Fledermausflügeln, mörderischen Klauen und vollkommenem Gehorsam ihm gegenüber auszustatten. Den Silberfluss hinauf und hinunter kannte und fürchtete man ihn. Ein Sänger hatte einmal auf einer Volksgerichtsverhandlung lauthals verkündet: »Das Schlimmste, was Aglirta widerfahren könnte, wäre ein Zusammengehen von Huldaerus und Silberbaum. Im ersten Jahr müsste das ganze Flusstal darunter leiden, im nächsten wäre der Rest des Landes an der Reihe.« Seitdem hatte man den Sänger nicht mehr gesehen. Der Zauberer, welcher neben ihm am Tisch saß, folgte nun seinem Beispiel. Unter dessen Kapuze kamen die feinen und leicht lächelnden Züge des Nynter von den Neun Dolchen zum Vorschein. Der Mann trug seinen Beinamen, weil er sich gern mit gef lügelten Flugdolchen umgab und sich nur unter ihrem Schutz sicher fühlte. Zu seinen weiteren Steckenpferden gehörte es, kostbare Edelsteine und hübsche Sklavinnen zu sammeln. Er hatte seine Locken honigblond gefärbt, und in seinen Augen funkelte es lustig. Natürlich fürchtete man auch Nynter, aber kaum so wie Huldaerus weit über die Grenzen der Baronie hinaus. Das hing vermutlich damit zusammen, dass er längst nicht so viel und so weit reiste wie der Herr der Fledermäuse. Ein Stück von diesen beiden entfernt offenbarte sich nun ein dritter Magier – als der abstoßend aussehende Phalagh. Er
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galt ebenfalls als großer Sammler, und seine Vorlieben erstreckten sich auf Geld und die abgeschlagenen Köpfe von Menschen, welche seinen Unwillen ausgelöst hatten. Sein immer währendes Stirnrunzeln drohte allmählich, von der hohen Stirn immer weiter zusammengedrückt zu werden. Zusammen mit seiner gedrungenen Gestalt verlieh ihm das das Aussehen eines auf Beute lauernden Geiers. »Mein lieber Huldaerus«, begann der Baron nun leutselig, »eröffnete Ihr doch bitte unsere Debatte. Wenn schon nicht mit Euren eigenen Plänen und Überlegungen, so doch mit dem einen oder anderen Punkt, über den sich in unserer Runde trefflich streiten lässt.« Der Magier nickte zum Zeichen, dass er sich diesem Wunsch gern unterzöge. »Stellt Euch doch nur einmal vor, wir könnten die größten Zauberer der Geschichte wiedererwecken und dazu bringen, für uns in die Schlacht zu ziehen.« »Wirklich? Und wie wollen wir sie im Griff behalten?« donnerte der Schwertmeister mit seiner grollenden Stimme. »Und wenn dann alles erledigt ist und ganz Darsar uns zu Füßen liegt, wer wird dann in Wahrheit wen beherrschen? Sie uns oder wir sie? Und wie könnte man im Notfall etwas töten, das nur noch aus vermoderten Gebeinen besteht? Etwa mit Magie? Na, wer wird bei dem Zweikampf wohl den Kürzeren ziehen – sie oder wir?« »Mit Hilfe des Steins könnten wir uns gegen alles schützen, was die Magier Silberbaums gegen uns schleudern!« »Am Leben bleiben, aber bis ans Ende unserer Tage ihre Sklaven sein, was? Und was sollte sie daran hindern, uns den Dwaer einfach abzunehmen? Eure Zauber etwa?« Der verhüllte Magier erstarrte vor unterdrücktem Zorn.
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Der Baron hob rasch eine Hand, um einen offenen Ausbruch von Feindseligkeiten zu verhindern. Nun fragte einer der Beschaffer: »Weiß man eigentlich irgendetwas Genaues über den Aufenthaltsort der anderen Steine? Soweit ich gehört habe, wirkt der besondere Zauber dieser Dwaerindim nur, wenn man mindestens zwei von ihnen einsetzt.« »Eure erste Frage lässt sich mit einem eindeutigen Nein beantworten«, erklärte Huldaerus. »Was Eure zweite Frage angeht, so haben wir es mit allerlei Sagen, Geschichten und uralten angeblichen Berichten zu tun, die alle auf das Wildeste fabulieren, welch ungeheuerliche Kräfte von den Steinen freigesetzt werden könnten ... Mit Gewissheit wissen wir allerdings nur dies: Die Dwaerindim wirken erst dann gemeinsam, wenn man sie in einer bestimmten Reihenfolge hinlegt. Und dazu müssen auch noch die richtigen Beschwörungen gesungen werden.« »Um welche Zauberkräfte geht es, wollen wir endlich erfahren, Mann!« grollte ein Ritter. »Oder handelt es sich dabei ebenfalls um Geheimnisse, die Laien niemals erfahren dürfen, weil man sie sonst auf der Stelle töten muss?« Huldaerus lächelte humorlos. »Wie ich bereits ausgeführt habe, besteht über diese besonderen Kräfte weitgehend Uneinigkeit. Am bekanntesten dürfte darunter wohl der Weckruf sein – schließlich weiß jedes Ammenmärchen damit zu gruseln. Wenn man alle vier Steine in einer bestimmten Ordnung anbringt, vermag man, den Schlafenden König zu wecken und herbeizurufen.« Von allen Seiten hörte man Schnauben und andere abfällige Geräusche. Aber der Erzmagier lächelte nur und meinte
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nach einer Weile: »Wenn man sie aber in einer anderen Reihenfolge hinlegt, weckt man nicht ihn, sondern seinen uralten Erzfeind, die Schlange der Schatten.« »Das ist doch wieder nur dummes Zeug von irgendwelchen fahrenden Sängern!« erregte sich ein Kriegsmann. »Zauberer, Ihr verschwendet unsere Zeit!« Der Verhüllte, welcher hinter dem Baron stand, hob beide Zauberstäbe, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen (was ihm auch sofort gelang). Dann zischte er: »Keinessswegsss! Isss habe mein halbesss Leben lang die Ssslange ssstudiert und beherrssse nun die Sssauber, mit welsssen sssisss ihre Wildheit sssteuern lässst. Sssie tötet nun nur noch diejenigen, welssse isss ihr bessstimme. Die Ssslange gibt esss wirklisss. Mindessstensss drei Ssstädte liegen heute vergesssen und zugewuchert da, weil ihre Bewohner ebenfallsss glaubten, die Ssslange sssei nur eine Erfindung, um Kinder zu ersssrecken. Oder aber sssie meinten in ihrer Verblendung, mit ihr leissst fertig werden zu können. Die Ssslange hat sssie alle vernichtet und die Bewohner verssslungen. Sssie entnimmt jedem Geissst etwasss, welsssen sssie in sssich aufnimmt! Bringt mir die Ssslange, und isss erobere Eusss mit ihr ganz Darsssar!« Ein Magier, welcher sich ebenfalls noch bedeckt hielt, klopfte nun mit seinem eigenen Zauberstab auf den Tisch und verlangte: »Das hört sich für mich wie ein Schlangendiener an! Ich will wissen, wer hier solche Rede führt!« Allgemeines zustimmendes Gemurmel folgte diesen Worten. Das erstarb jedoch gleich, als die Gestalt an der Seite des
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Barons die beiden Zauberstäbe ablegte, sich an die Kapuze griff und diese langsam zurückschob. Darunter trat kein menschliches Gesicht zutage, sondern eines, welches sich aus grüner Haut, Schuppen und Schlitzaugen zusammensetzte. Dazu kamen lange Zähne und eine gegabelte Zunge. »Mit Verlaub, meine Herren, isss bin Priester der Ssslange.« Ein verhüllter Magier meinte spöttisch: »Wirklich? Dabei gibt es doch nur die Drei Götter!« Der Schlangenkopf drehte sich in seine Richtung und verzog die dünnen Lippen zu einem Lächeln: »Dem mag ich auch gar nissst widerssspresssen. Indem isss der Ssslange diene, diene isss dem Dunklen. Einesss ssseiner Tentakel verlieh mir diessse Sssuppen und Reissszähne – und eine Ewigkeit, sssie zu benutsssen. Kann jemand von eusss das Gleissse für sssisss in Ansssprusss nehmen?« In der angespannten Stille, welche nun einsetzte, zog sich ein Augenpaar hinter einen Wandteppich zurück und verfolgte den Verlauf der Versammlung nicht mehr. Der Baron und seine Magier hätten sich sehr gewundert, hätten sie von diesem Beobachter gewusst. »Nun haben wir genug kluge Worte gewechselt«, brummte Sarasper und sah die drei Gefährten der Reihe nach an. »Wir kennen nun Eure Wünsche und meinen Preis. Ihr flieht vor einer großen Gefahr und einem mächtigen Feind, ich biete Euch einen Traum, dem Ihr in den nächsten Jahren folgen dürft. In diesem Traum bekommt Ihr eine Straße zu sehen, welche aus dem Tod und der Gewaltherrschaft führt, welche heute
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das regieren, was von Aglirta übrig geblieben ist. In diesem Land trifft man heute häufiger Verbrecher, Tyrannen und Ungeheuer an als brave Bauersleute und Handwerksgesellen. Und selbst unter Letzteren findet man kaum jemanden mit einem glücklichen Lächeln und einem Herzen ohne Furcht.« Der kleine Mann zuckte träge die Achseln. »Vielleicht schert Euch ja die Zukunft des Landes, in welchem Ihr das Licht der Welt erblickt habt, keinen Deut. Gut möglich, dass Euch allein die nächste Mahlzeit wichtig ist und Ihr ansonsten nur Eure Ruhe haben wollt. Wenn das zutreffen sollte, kann ich Euch gern den Weg nach draußen zeigen. Oder Euch auch auf einen Satz verschlingen, wenn Ihr mir dumm kommen solltet. Wahrscheinlich werde ich Euch zu guter Letzt sowieso auffressen, und sei es nur, um mein Geheimnis zu bewahren. Doch wenn sich mir durch Euch die Gelegenheit bieten sollte, dem Willen der Vorväter zu folgen, würde mir sicher das Herz übergehen und ich nicht wissen, wohin mit all meiner Güte ...« Er zuckte wieder die Achseln. »Die Entscheidung bleibt aber natürlich ganz allein Euch überlassen. Ich will Euch nicht beeinflussen.« Der Heiler schwieg und schien es auch gar nicht eilig zu haben, wieder das Wort zu ergreifen. Craer brach als Erster das Schweigen und sah den Ritter an. »Hawkril, ich habe Euch in diese Sache hineingezogen, und ...« Der Krieger winkte ab. »Ich bin festen Willens, mit Euch zu gehen, und folge Euch, wohin Eure Füße Euch auch tragen mögen. Ich glaube, dieser Heiler dort wird von wirren
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Träumen geplagt. Aber wir alle müssen irgendwelchen Zielen folgen, sonst landen wir eines Tages im Grab, ohne das Geringste geleistet oder gesehen zu haben. Mit anderen Worten, entscheidet Ihr, ich bin dabei.« Craer schüttelte langsam den Kopf: »Mir gefällt keine von den Möglichkeiten, welche uns offen stehen ...« Noch langsamer als vorhin zu seinem Freund, dem Ritter, drehte er nun den Kopf in Richtung der Prinzessin. Embra starrte alle drei an und senkte dann den Blick zu Boden, ohne sich in irgendeiner Weise geäußert zu haben. »Sprecht!« forderte Hawkril sie schließlich mit seiner Donnerstimme auf. Die junge Silberbaum hielt seinem Blick eine Weile stand, ehe sie leise begann: »Ich spüre in mir keinen Mut, Rache an meinem Vater üben zu wollen. Und sonst tut sich in mir ebenfalls nicht viel. Ich weiß auch nicht, ob ich mich je wieder an die Magie heranwagen darf, jetzt, da alle Verbindungen gekappt sind ...« Sie verzog den Mund, als wolle sie einen Soldatenfluch von sich geben, doch als sie dann weitersprach, klang sie erstaunlich ruhig. »Männer aus Schwarzgult, Ihr habt es gewagt, mir beizustehen. Und nun glaube ich, dass wir diesem einsamen kleinen Mann hier helfen müssen, dass wir den dazu nötigen Mut aufbringen müssen. Wenn wir einfach fortgingen und ihn hier zurückließen, könnte ich wohl nie wieder ruhig schlafen. Ein andere Möglichkeit bliebe uns aber nicht, denn wir würden uns ja doch nie getrauen, ihm mit der Waffe in der Hand gegenüberzutreten.
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Auch würde ich niemals Stolz darüber verspüren, ihn bekämpft zu haben. Nicht einmal dann, wenn wir durch irgendeine wunderbare Fügung der Götter den Sieg errängen! Wir müssen auch endlich damit aufhören, jeden, dem wir begegnen, als Feind anzusehen, welchen man bezwingen muss!« Sarasper kehrte ihnen unvermittelt den Rücken zu. Die anderen wussten zunächst nicht, was sie davon halten sollten. Dann sahen die drei die feuchten Stellen auf den Steinen und errieten, dass das Männlein weinte. In seiner Scham rief der Ritter frisch: »Wenn wir uns alle einig sind, gründen wir vier eine Abenteurergruppe. Dann müssen wir uns aber einen Namen ausdenken, sonst hängen die Sänger uns noch irgendeine blödsinnige Bezeichnung an. Hat einer eine pfiffige Idee?« »Aber klar doch«, riefen Craer und Embra wie aus einem Munde und mussten gleich beide grinsen. Sie sahen sich an, und aus dem Grinsen wurde ein Kichern. Das nahm immer mehr an Lautstärke zu, und bald lachten alle vier aus vollem Hals. Vier verzweifelte und ohnmächtige Gefährten ... »Dann sind wir eben die Viererbande«, schlug Sarasper fast schüchtern vor. »Zumindest so lange, bis uns eine Eingebung befällt und uns mit etwas Gescheiterem versorgt!« »So soll es sein!« rief Craer etwas zu laut und mit leisem Zögern. Dann verzog er spöttisch den Mund und erklärte der Prinzessin hochnäsig: »Ihr habt es gehört, Embra. So fang schon einmal damit an, eine große Ballade über uns zu schreiben!« »Das soll Euch noch Leid tun«, flüsterte sie ihm mit einer Stimme zu, von deren Schnurren man sich besser nicht täu-
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schen ließ, »und für Euch heißt es immer noch Edle oder Fräulein!« Alle drei Männer verzogen das Gesicht, aber als Embra dann eine Hand ausstreckte, legten die anderen gleich willig die ihre darauf. Langsam und unaufdringlich schoben sich die vier Hände zusammen. Vier Augenpaare trafen sich und teilten die gemeinsam empfundene Furcht. Nicht einem von ihnen stand der Sinn nach Jubelrufen, aber auf der anderen Seite hatte es auch keiner von ihnen besonders eilig damit, seine Hand zurückzuziehen.
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Banne und Geheimnisse C Hawkril beobachtete, wie der Heiler ihm die Hände auf die Rippen legte. Erst jetzt ging ihm auf, dass er die ganze Zeit die Luft angehalten hatte, bis er es nicht mehr aushielt. Als das eiskalte und gleichzeitig warme Prickeln sich von den Rippen ausbreitete und im ganzen Körper verteilte, atmete der Ritter lange und rasselnd aus. »Ooh-ooh!« stöhnte er in schierer Freude, als er spürte, wie aller Schmerz hinfortgefegt wurde. »Wie überaus angenehm, davon befreit zu sein.« Hawkril atmete einmal tief ein und aus, spürte wahrhaftig keinerlei Pein mehr und blickte schließlich auf den ergrauten Kopf, welcher sich gerade über ihn beugte. »Verratet mir doch einmal, wie es kommt, dass Zauberer Blitze verschleudern und ganze Burgen zum Einsturz bringen, um danach weiterzugehen, als sei nichts geschehen ... während gleichzeitig Heiler sterben, wenn sie zu viele gesund gemacht haben?« »Die Heilkraft kommt von innen«, antwortete Sarasper, ohne das Haupt zu heben. »Die Drei gewähren diese Gabe nur sehr wenigen. Magier hingegen beziehen die Energie,
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welche sie für ihr Tun benötigen, aus anderen Quellen.« »Ihr meint die Zaubergegenstände? Na ja, wer hat denn dann den ersten Gegenstand verzaubert, um sich an dessen Energie bedienen zu können?« »Oh, diese Frage kenne ich«, stöhnte Craer, der an der Wand hockte. »Priester, welche vorher noch einen ganz vernünftigen Eindruck gemacht haben, fallen bei der Beantwortung übereinander her, weil sie sich einfach nicht einig werden können. Allgemein geht man von Seiten der Priester heute davon aus, dass der erste Gegenstand von den Göttern, den Dreien, selbst angefertigt wurde. Auch viele Magier neigen zu dieser Ansicht. Andere hingegen schreiben den ersten Gegenstand einem alten Magier zu, welcher dafür sein Leben gegeben haben soll, ein Ding zu schaffen, an dessen Energie sich all seine Nachkommen bedienen sollten.« Er ließ den Blick über die der Wand und dann auf die Herrin der Edelsteine schweifen und fragte sie herausfordernd: »Oder sagen Eure Bücher vielleicht etwas anderes darüber?« Embra antwortete ihm mit einem bitteren Lächeln, das ihr aber rasch wieder verging. »Sie berichten von so vielen verschiedenen Ursachen, dass man nicht eine davon glauben kann.« Die Prinzessin lehnte den Kopf wieder an die Wand und seufzte. Craer sah sie eigentümlich an: »Seit wann fühlt Ihr Euch wie ausgelaugt?« »Das hat erst vor kurzem angefangen.« Sie schloss die Augen.
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Der Beschaffer beobachtete sie für eine Weile und raffte sich dann auf, um sich zu dem Heiler zu begeben. Dort angekommen, legte er Sarasper eine Hand auf die Schulter und deutete auf die junge Frau. Das Männlein warf einen Blick auf Embra und nickte. »Ich bin hier fast fertig. Die Organe Eures Freundes hatten ganz schön Schaden genommen. Da hättet Ihr mit Euren Arzneien gar nichts mehr bewirken können. Aber der Mann hat die körperliche Verfassung eines Pferds.« Damit wandte er sich an Hawkril und raunzte ihn an: »Ihr bleibt jetzt endlich einmal still liegen, während ich mich um die Edle kümmere. Je länger Ihr Euch nicht vom Fleck bewegt, desto gründlicher spürt der Heilzauber alle Ecken auf, in welchen es noch wehtun könnte.« Sarasper wartete eine Entgegnung gar nicht erst ab, sondern erhob sich und durchquerte in eigenartiger Schrittfolge den Raum: einerseits schwankend und steifbeinig wie jemand, der schon zu viele Jahre gesehen hat, und andererseits forsch und zielstrebig wie ein Krieger, der in der Schlacht seinen alten Feind erspäht hat. Dennoch stieß er unmittelbar neben Embra mit der Wand zusammen, schnaubte wegen der unerwarteten Schmerzen und legte dann der jungen Frau eine Hand auf die Wange. Sie öffnete die Augen, schloss sie aber gleich wieder und lehnte sich mit ihrem ganzen Gewicht an die Hand. Der Heiler befürchtete schon, sie könne eingeschlafen sein. »Zauber und Banne liegen auf ihr«, erklärte er den beiden Abenteurern. »Da frage ich mich doch, ob sie sich die selbst auferlegt hat oder ob wir es hier mit dem finsteren Treiben der Silberbaum-Magier zu tun haben.«
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»Alle meine Zauberkraft ist aufgebraucht«, flüsterte die Prinzessin an seiner Hand. »Die Gefährten haben heute Nacht die Bindungen gebrochen, welche mein Vater mir auferlegt hatte. Ich weiß allerdings nichts über deren Machart oder Wirkung.« »Hat Euer Vater jemals befohlen, Euch mit Zaubern zu versehen, welche Euch ewig jung erhalten oder etwas an Eurem Aussehen verändern sollten?« Sie lächelte matt und erwiderte, ohne die Augen zu öffnen: »Nein, alles, was Ihr vor Euch seht, stammt immer schon von mir.« »Dann muss es sich bei den von Euch festgestellten Bannen eindeutig um das Werk von Silberbaums Magierknechten handeln!« grollte der Ritter. »In diesem Fall hält mich nichts davon ab, sie zu brechen«, verkündete das Männlein. »So etwas vermögt Ihr?« rief Hawkril und richtete sich auf einen Ellenbogen auf, um nur ja nichts von dem zu verpassen, was sich gleich hier tun würde. Als der Abenteurer hinstarrte, sah er schon, wie Embra unter der Hand des Heilers mit Armen und Beinen austrat. So wie ein Pferd, das man erschreckt. Danach zitterte sie ohne Unterlass. Die Prinzessin bog den Rücken durch, und als ihre Lider hochfuhren, war darunter nur das Weiße in den Augen zu erkennen. Ein paar Momente später sackte die junge Frau schlaff wie ein leerer Sack zusammen und schloss im Fallen die Augen. Als Sarasper die Arme um Embra legte, klapperte sie mit den Zähnen. Der Heiler meinte: »Jeder kann einen Zauber brechen, wenn er nur weiß, wie das geht. Nur sich selbst von
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einem Bann zu befreien, das geht nicht.« Schweißtropfen bedeckten das Gesicht des Männleins, und seine Haut verdunkelte sich. »Soll das etwa heißen«, fragte Hawkril, »dass jeder Zauberer werden könnte, wenn er nur genug lernt?« »Fast jeder«, entgegnete das Männlein unwirsch, als die Prinzessin ihn mit ihrem Zittern gegen die Wand schleuderte. Adern traten auf seiner Stirn vor, während er mit der jungen Frau rang, um nicht die Gewalt über sie zu verlieren. »Natürlich erfordert das Erlernen der Zauberkunst mehr Geduld, als die meisten Menschen aufzubringen vermögen. Weiters bedarf es eines eisernen Willens, um eine einmal in Angriff genommene Aufgabe auch bis zu Ende durchzuführen, und eine gehörige Portion Kaltblütigkeit schadet auch nicht ... Deswegen treten Zauberer ja auch gern so großmächtig, geheimnisvoll oder finster auf. Sie möchten das Volk glauben machen, nur Auserwählte könnten Magier werden. Dann rennen ihnen auch nicht so viele verblendete Jungen und Mädchen hinterher, welche bei ihnen in die Lehre gehen wollen –« Nicht ganz freiwillig unterbrach der Heiler seine Ausführungen und stieß einen schrillen Schmerzensschrei aus, als Embras Hiebe ihn zu Boden schleuderten und er unangenehm auf dem Ellenbogen landete. Unter heftigen Flüchen rollte er sich von ihr fort. Die Prinzessin drückte sich an die Wand und schubberte ihren Rücken wie ein Hund, der sich auf einer Fußmatte wälzt. Danach lag sie ganz still da und regte sich nicht mehr. Dafür schien Sarasper das Zittern von ihr übernommen zu
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haben. Er schlang die Arme um sich, als wolle er sich festhalten. Dieser Anblick erinnerte Hawkril an verwundete Krieger, wie sie nach einer Schlacht am Lagerfeuer hockten. Bis ihm auffiel, dass der Mann sich nicht den jüngst verletzten Ellenbogen hielt. »Freund?« fragte der Ritter gleich besorgt. »Fehlt Euch etwas?« Das Männlein schwitzte aus allen Poren und wirkte tatsächlich so grau und erschöpft wie ein verwundeter Soldat. Unwillig entgegnete der Heiler: »Mir geht es ausgezeichnet. Könnte gar nicht besser sein. Ich könnte tanzen und springen vor Freude!« Sarasper erlitt unvermittelt einen Hustenanfall und kippte vornüber. Die beiden Männer sahen sich unbehaglich an, als der Heiler jetzt würgte, spuckte und stöhnte. Als der Kleine nach sehr langer Zeit aufhörte zu zittern und nicht mehr ganz so mühsam und rasselnd atmete, konnte er den Kopf wieder heben, die beiden Männer anstarren und sie anfahren: »Ihr habt nicht die geringste Vorstellung, wie ein Heiler arbeitet, nicht wahr?« Er drehte sich aber gleich zu der Prinzessin um und bekam so nicht mit, wie Hawkril und Craer schweigend den Kopf schüttelten. Das Männlein suchte Embras Gesicht ab und schien dort etwas zu entdecken, was ihm Zuversicht und Zufriedenheit gab. Dann legte er sie bequemer hin und bedeckte die Stellen wieder, wo sie sich freigestrampelt hatte. Nun gestattete er sich ein tiefes Seufzen und wandte sich wieder den beiden Männern zu.
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Hawkril bemerkte langsam: »Das hat ja ganz schön nach Arbeit ausgesehen. Jedenfalls hat sie sich nie so angestrengt, wenn sie einen Zauber wirkte ...« Er zögerte, und man merkte ihm an, dass er noch mehr auf dem Herzen hatte. Endlich getraute er sich, das zur Sprache zu bringen: »Könnte auch ich es zuwege bringen, einen Bann zu schleudern?« Er klang, als habe er noch nie so viel Mut aufbringen müssen. Sarasper drehte den Kopf in seine Richtung, ohne die Hände von den Schultern der Prinzessin zu nehmen. »Irgendwann einmal ... vielleicht ... wenn die Not groß genug ist ... Aber vorher müsst Ihr Euch von etwas Wichtigem trennen.« »Von was denn?« »Eurem gesunden Menschenverstand. Um als Zauberer einigen Erfolg zu haben, hilft Wahnsinn doch beträchtlich.« Der Ritter schnaubte verächtlich und erwiderte spöttisch: »Danke für diesen klugen Rat. Ich will versuchen, ihn zu beherzigen.« Unter den Händen des Heilers ertönte ein leises Geräusch: Embra kicherte. In der Ratskammer von Burg Silberbaum, in welcher sich die Hofmagier immer unwilliger versammelten, sahen sich Ingryl Ambelter und Klamantel Beirldoun mit großen Augen an und schüttelten den Kopf. Dann schauten sie wieder nach vorn zu dem Tisch, an welchem Faerod Silberbaum mit einem Kelch Wein in der Hand saß und Löcher in die Luft starrte. Vermutlich stand er kurz davor einzuschlafen. Markoun hatte das sicher kommen sehen und sich deswe-
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gen unter einem Vorwand in sein Gemach zurückgezogen. Von wegen, dass dringende Forschungen keinen Aufschub duldeten! Er hatte sich dort aufs Ohr gelegt und schnarchte vermutlich schon. »Euer Durchlaucht«, begann Klamantel vorsichtig, räusperte sich und wusste danach nicht so recht weiter. Sein Herr hatte sich überhaupt nicht geregt. Der Baron starrte immer noch in die Ferne und hockte wie gelähmt da. »Edler Fürst«, versuchte es nun Ingryl und trat einen Schritt auf ihn zu, »wir haben gerade beide gespürt, wie der Bann um die Prinzessin zerbrochen ist und sich dann in Luft aufgelöst hat. Damit können wir von jetzt an nicht mehr in Erfahrung bringen, wo sie sich befindet oder ob ihr, mögen die Götter sie davor bewahren, etwas zugestoßen ist.« Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, erklärte der Baron seinem Kelch: »Bei den Warzen der Gehörnten Herrin! Vernichtet sie! Werft sie und alle in den Staub, welche sich mir in den Weg stellen!« Ruckartig wie ein Falke hob er den Kopf und starrte so durchdringend wie ein Flammenschwert um sich. »Ihr werdet sie suchen und finden. Nehmt meine Tochter auf der Stelle in Gewahrsam, und haltet Euch gar nicht erst mit sanften Zaubern und anderen Wohltaten auf.« Sein Blick wurde immer lodernder, während seine Stimme den Tonfall nicht wandelte: »Ihr dürft ausdrücklich jeden Bann einsetzen, welcher die Prinzessin nicht tötet, verstümmelt oder dauerhaft entstellt ... Wenn es sein muss, legt meinetwegen den Palast Silberbaum in Schutt und Asche!«
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»Doch, es geht mir schon besser«, teilte Embra ihnen leise mit. »Ich fühle mich nur etwas leer. So, als habe etwas mich endgültig verlassen ... sei mir gewaltsam genommen worden ...« Sie zuckte die Achseln. »Ach, ich weiß auch nicht, wie ich es erklären soll. Vielleicht sollte Hawkril wirklich lernen, ein großer Magier zu werden.« Craer verdrehte die Augen. »Ich fürchte, wir können es uns nicht leisten, so viele Jahre zu warten! Aber im Ernst, wir haben hier lange genug herumgetrödelt. Unser lieber Baron wird wohl kaum dasitzen und Däumchen drehen, während wir mit seinem Töchterlein auf und davon sind.« »Wenn seine Schergen durch diese Tür dort eindringen wollen«, knurrte der Ritter, »müssen sie aber lange und tief graben.« »Auch dafür gibt es geeignete Zauber«, klärte Sarasper ihn auf. »Mit dem rechten Bann lässt sich jeder Stein in die Luft heben und wie ein Geschoß hier drinnen auf uns schleudern. Damit zerschmettern sie uns die Glieder, bis wir uns nicht mehr von der Stelle rühren können. Je nachdem, was für Zauberer Seine Durchlaucht beschäftigt ...« Er drehte sich zu der Prinzessin um und fragte sie zornig: »Welche Magier arbeiten eigentlich für Euren Vater?« »Ingryl Ambelter, der einst bei Gadaster Mulkyn lernte und der Gefährlichste von den dreien sein dürfte. Dann Klamantel Beirldoun, ein ruhiger und kalter Mann, über den ich sonst nichts weiß. Und schließlich ein ehrgeiziger Jüngling von außerhalb des Tals, der sich selbst für unwiderstehlich hält. Markoun Yarynd heißt er, und wenn ich mit ihm im selben Raum bin, zieht er mich mit seinen Blicken aus.
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Ich halte alle drei für ebenso grausam wie berechnend.« »An Gadaster kann ich mich erinnern«, meinte Sarasper, »und ich habe auch von seinem Tod gehört. Seinen Lehrlingen bin ich gelegentlich begegnet, also wohl auch Ingryl das eine oder andere Mal. Aber er hat wie die anderen keinen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Doch ich stimme Euch zu: Wenn diese Magier für Euren Vater arbeiten, müssen sie ebenso fähig wie kaltherzig sein. Auf welche Vorhaben hat der Baron sie im Besonderen angesetzt?« Embra zuckte die Achseln. »Natürlich um Mittel und Wege zu finden, ganz Aglirta unter seine Herrschaft zu zwingen. Wenn dabei der eine oder andere Bewohner von Schwarzgult oder ein des Wegs kommender Zauberer über die Klinge springt, sei’s drum ... Die drei haben auch versucht, mich in eine ›lebende Burg‹ umzuwandeln. Ich weiß nicht, ob dieser Ausdrucke Euch etwas sagt ...« »Ein Zauber, von dem Gadaster behauptet hat, ihn vervollkommnet zu haben.« Das Männlein nickte vor sich hin. »Man beginnt damit, den Betreffenden zu binden. Sobald dessen Geist nach dem Willen des Magiers umgewandelt worden ist – und das erfordert nicht nur die rechten Banne, sondern auch viel Zeit –, schneidet man dem Opfer die Arme an den Schultern ab. Die Hände dienen dann dazu, dem Zauberer alles aus der Burg zu besorgen, wonach ihn gerade verlangt, oder irgendeinen Anschlag zu verüben oder was auch immer. Danach zapft der Magier dem Opfer Blut ab, ein Vorgang, welcher sich über etliche Jahre hinzieht. Denn der Mörtel
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zwischen jedem Stein in der Burg muss mit einem oder mehreren Tropfen des Lebenssaftes bestrichen werden ...« Der kleine Mann verzog das Gesicht und wandte sich ab. »Ich habe vermutlich zu viel Schund gelesen.« Die Prinzessin nickte langsam vor sich hin, aber Hawkril bebte, ruderte mit den Armen durch die Luft, als wolle er sich eines Ansturms von teuflischen Zauberern und armlosen höheren Töchtern erwehren, und reckte schließlich sein Schwert. »Was ist mit diesem Ort hier?« verlangte der Ritter zu erfahren. »Einst war er der Sitz der Silberbaums, aber warum hat man ihn verlassen? Wieso gilt das Haus als verwunschen? Und aus welchem Grund wurde Embra so wütend, als wir hier anlangten?« Craer seufzte, und Sarasper und die junge Frau grinsten sich an. »Wo soll ich beginnen?« fragte der Heiler den Raum als Ganzes und an niemanden Besonderen gerichtet. Dann wandte er sich an die Prinzessin. »Dieses Haus gehört Eurer Familie, mein Fräulein. Also genießt Ihr auch das Vorrecht, seine Geschichte zu erzählen.« Embra schüttelte den Kopf. »Das würde Tage dauern, und so viel Zeit haben wir nicht. Also, dieses Gebäude wird das ›Schweigende Haus‹ genannt, weil seine Besitzer hier nicht leben können. Deswegen steht es auch leer, wie alle Welt glaubt. Offiziell heißt es Haus Silberbaum und war einmal der Stammsitz der gleichnamigen Barone.« Seufzend starrte die Prinzessin kurz an die Decke und fuhr dann im Stil eines Fremdenführers fort: »Erbaut im Mittelneualten Stil wurde das Haus bald als Wohnstätte aufgegeben
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und diente fortan als Grablege für die Familie. Zu jener Zeit legte der mächtige Zauberer Harabrentar zu ebendiesem Behuf einen starken Bann auf das Gemäuer. Danach soll jeder aus dem Blute derer von Silberbaum, welcher länger als einen Monat in diesem Haus lebt, sich langsam und unwiderruflich in ein ebenso gefährliches wie abstoßendes Ungeheuer verwandeln, das seine Tage von allen verfolgt im Wahnsinn beschließen wird. Dass dieser Zauber wirkt, ist im Lauf der Jahrhunderte schon mehrere Male drastisch bewiesen worden. In der Regel hat ein selbst für unsere Verhältnisse besonders selbstherrlicher Baron Silberbaum beschlossen, sich einen feuchten Kehricht um Flüche zu scheren. Oder aber ein aufrührerischer Sohn musste fliehen und hat sich in seiner Not keinen anderen Rat gewusst, als sich hier zu verbergen. Das Ungeheuer sieht ungefähr aus wie die Nachtlindwürmer, welche die Magier meines Vaters erschaffen mussten, nur dass es nicht fliegen kann.« Embra hatte sich beim Reden erhoben und stolzierte seitdem durch den Raum. Hawkril ließ sie in keinem Moment aus den Augen, hatte eine grimmige Miene aufgesetzt und das gezückte Schwert auf dem Schoß liegen. »Seitdem ist dieses Haus zu einem verwunschenen Ort geworden«, führte die Prinzessin jetzt aus. »Weder Strauchdiebe noch Wanderer wagen sich hinein wegen der Geschichten, die darüber im Umlauf sind, und wegen der Fallen. Ihr wisst schon, Falltüren, Steinschlag aus der Decke oder Wände, aus denen unerwartet Dolche fliegen ... Letztere Nettigkeiten sind jedoch erst vor wenigen Jahrhunderten hinzugefügt worden, von Baron Suldaskes Silber-
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baum, welcher vor allem verhindern wollte, dass eine verfeindete Familie das Anwesen in ihren Besitz brächte, um mitten auf unserem Land eine Art Festung zu errichten.« Ihr Blick fiel auf den Ritter. Sie lächelte schief und fuhr fort: »Bitte sehr, das war die Touristenfassung. Als junges Mädchen wollte ich diesen Ort gern genauer erkunden, aber meine Lehrer haben mir das stets verboten. Sie meinten, niemand wisse so genau, was mit dem Monat gemeint sei: ob man den an einem Stück im Haus verbringen müsse, oder ob die einzelnen Tage im Lauf der Jahre zusammengezählt würden, bis man einen Monat voll habe. Nur dass man sich in die wahnsinnige Bestie verwandle, daran könne kein Zweifel bestehen ...« »Was haben sie Euch über Spuk und ähnliches gesagt?« fragte Hawkril leise und mit großen Augen. »Treiben hier Gespenster ihr Unwesen?« Der Blick des Schwertmeisters huschte über das halbe Dutzend dunkler Gänge, welche von diesem Raum ausgingen. Man hätte meinen können, er erwarte jeden Moment, dort einen Geist zu sehen. Als nach einer Weile nichts dergleichen geschehen war, wirkte Hawkril nicht im Mindesten enttäuscht. »Sogar jede Menge«, antwortete die junge Frau, als wollte sie ihm eine Freude bereiten. »Die meisten sind harmlos und plagen einen nicht. Sie rollen höchstens mit den Augen, das ist aber auch schon alles.« »Aber es gibt auch andere«, schloss der Abenteurer messerscharf. »Eines sollte ich wohl hinzufügen, wenn Ihr gestattet, mein Fräulein«, warf Sarasper ein. »Dieses Haus steckt voller Gegenstände mit magischer Energie. Nichts Weltbewegen-
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des. Die meisten wurden vor längerem von den Silberbaums versteckt. Einige aber auch in der jüngeren Vergangenheit von mir ... Beides zu dem Zweck, diese Dinge aus der Reichweite der eher wagemutigeren Eindringlinge zu verbringen. Einige davon dürften sicher dazu angetan sein, Eure Zauberkräfte aufzufrischen ...« Embra hob sofort den Kopf. »Eine ausgezeichnete Idee. Können wir einige davon einsammeln und dann hinunter in die Katakomben steigen? Auf diesem Anwesen ruhen einige Abschirmzauber, aber die werden kaum länger den Magiern meines Vaters den Zugang ...« Der Boden hob sich, gefolgt von Rumpeln und dem Getöse von berstendem Stein. Die Bodenplatten hoben sich und rollten unter ihren Füßen davon ... wie eine Riesenwelle auf dem Meer. »... verwehren!« schloss Embra ihren Satz und schrie dann: »Wohin, Heiler?« »Keinen von diesen Gängen dort!« warnte das Männlein. »Sie sind alle ...« Der Gang hinter Craer verschwand von einem Moment auf den anderen, verging in einem Wirbel aus Wind und Trümmern. Das Tosen wurde ohrenbetäubend. Hawkril riss den Beschaffer an sich, welcher große Mühe zu haben schien, auf den Füßen zu bleiben, und trug ihn halb zu der Stelle, wo Sarasper schon damit beschäftigt war, Steine aus der Wand abzutragen. Embra starrte auf den magischen Wirbelwind und erkannte Stücke, welche einmal zu einer Säule gehört haben mussten. Diese flogen durch die Luft wie Spreu auf einem Dreschplatz.
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Noch während die Prinzessin hinsah, fiel ein weiteres Stück aus dem Gang und wurden gleich von den zauberischen Luftströmungen davongetragen. Hinter dem Wirbel bewegte sich etwas. Dahinter und darüber ... mächtige Fledermausflügel ... ein Nachtlindwurm. »Vaters Magier besitzen wirklich eine große Vorstellungskraft«, meinte die junge Frau bitter und stand wie gelähmt da, während die Kraft der Vernichtung immer näher kam. Mitten durch das Haus, welches so lange allen Stürmen widerstanden hatte, wogte das Ungeheuer schreiend und kreischend heran. »Herrin!« Saraspers Ruf drang wie aus weiter Ferne an ihr Ohr. Sie drehte langsam den Kopf in seine Richtung und sah, wie er ihr drei Metallschüsseln und ebenso viele Statuetten zuwarf. »Verteidigt Euch!« rief der Heiler ihr noch zu, dann wandte er sich schon dem nächsten Stück Wand zu. Er kümmerte sich nicht mehr um den Abschnitt, in welchem er vorhin so viele Türchen ausgebuddelt und geöffnet hatte. Die schwangen jetzt unter dem Sturm wie rasend hin und her. Jetzt öffnete Sarasper offenbar etwas Größeres, eine Pforte, wie man sie auf Burg Silberstein als Dienstbotenzugang kannte. Der Heiler warf etwas Kleines und Leuchtendes durch die Öffnung, und irgendwo in der Tiefe entstand ein großes Strahlen. »Hier hindurch!« schrie der kleine Mann, während Embra noch unbeholfen Schüsseln an sich brachte und nach den Figürchen griff, welche sich ihren Fingern immer wieder entzogen. Doch dann bäumte sich der Boden wieder auf, und alle fehlenden Gegenstände flogen auf sie zu. Die Prinzessin selbst
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jedoch wurde ebenfalls hoch geworfen und purzelte hilflos durch die Luft. Durch das wirbelnde Chaos von Wind, Staub und kleinen Steinen erblickte sie Sarasper, wie der durch die von ihm gefundene Öffnung geschleudert wurde und sich dabei Kopf und Arm anstieß. In einer dunklen Ecke flogen die Teppiche von den Wänden, stürzten sich in die wirbelnde Unordnung und begruben auf dem Weg einen laut schreienden Craer unter sich. Einen Moment später kam etwas Großes mit schweren Stiefeln über Embra, fluchte unentwegt und wurde weitergeweht. Die Prinzessin schlug derweil auf dem Boden auf und gelangte noch tiefer. Als Letztes bekam sie Hawkrils Schwert zu sehen, welches wie aus eigenem Willen auf und ab zu tanzen schien ... Dann konnte sie außer dem Riesenmaul des Nachtlindwurms nichts mehr erkennen. Die junge Frau fiel mit den Schultern voran in eine anund abschwellende Dunkelheit hinein – und landete mit einem Krachen auf spitzen und scharfen Gegenständen, welche unter ihrem Gewicht zerbrachen. Grinsende Totenschädel, gebogene Brustkörbe und Knochen, deren Zweck sich nicht auf Anhieb erkennen ließ, flogen unter Embras Landung auf und zerplatzten wie Hühnereier, gaben dabei aber kein Knacken, sondern ein eigenartiges seufzendes Geräusch von sich. Weißgrauer Staub und Splitter begleiteten die Edle auf ihrem Weg durch mehrere Schichten zerbrechender Gerippe. Dann landete sie endlich, doch noch eine ganze Weile ver-
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mochte sie nichts gegen den Niesreiz auszurichten. Durch tränende Augen sah sie Steine, welche hoch über ihr durch den Raum wirbelten. Die Prinzessin sah sich um. Sie steckte in einem sich nach unten verjüngenden Schacht fest. Die Füße befanden sich auf gleicher Höhe mit dem Gesicht, und auf ihrer Brust lagen eine metallene Schüssel und ein paar Figürchen. Es hätte schlimmer kommen können. Wenigstens hatte man auf dem Grund dieses Schachts keine Spitzen und Dornen aufgestellt. Oder vielleicht doch, und die waren schon vor langem verrostet und zusammengefallen. Nein, ihr blieb jetzt wirklich keine Zeit für müßige Überlegungen. Der Wirbelwind kam näher, und in seinem Gefolge der Nachtlindwurm. Sein langer, schlangenartiger Hals schob sich den Schacht herunter, tückische Augen starrten sie an, und ein breites Maul öffnete sich hungrig. Trotz aller Schmerzen von Beulen und Schrammen spielte Embra mit einer Statuette, starrte mit gerunzelter Stirn auf das Untier und wurde immer wütender. Sie hatte keine Banne mehr in ihrem Gedächtnis gelagert, aber mit der Hilfe eines magischen Gegenstands vermochte sie jeden Zauber zu wirken, welcher ihr in den Sinn kam. Zum Beispiel einen Feuerblitz! Als der Nachtlindwurm seine Flügel zurückschlug, damit auch für seinen zweiten Kopf Platz genug entstand, um in den Schacht hinabzustoßen, hielt die Herrin der Edelsteine das Figürchen hoch und sprach den Bann aus dem Gedächtnis. Die Statuette zerkrümelte unter ihren Fingern zu Staub, denn der Bewahrungszauber schien schon vor langem ver-
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gangen zu sein. Aber da schoss eine Stichflamme aus den Bröckchen, raste den Schacht hinauf, enthauptete den Lindwurm (erst einmal und dann zum zweiten Mal), löschte ihn damit aus und verging selbst – und das alles binnen weniger Herzschläge. Ein riesiger blutender Klumpen fiel auf die Prinzessin herab und verging in dem Moment, in welchem er nur noch einen Fingerbreit von ihren Stiefeln entfernt war. Embra atmete stoßartig die Luft aus, von der sie gar nicht wusste, dass sie die eingeatmet hatte, und schrie schon wie am Spieß. Sarasper Kodelmer krallte sich an der Wand fest, während heulende Flügel an den fadenscheinigen Kleidern zerrten, welche er schon seit undenklichen Zeiten am Leib trug. Dann flogen Steine und Staub um ihn herum auf und ab, und für einen schrecklichen Moment befürchtete er schon, der zauberische Wirbelwind käme durch die Pforte hinter ihm her. »Verschwinde!« heulte der Heiler. »Hau ab! Verzieh dich!« Er kratzte sich mit blutenden Fingern durch die Wand. Etwas später schlug der magische Sturm die Pforte mit solcher Wucht zu, dass alles um ihn herum bebte und wackelte ... Danach trat wunderbare Stille ein, nur unterbrochen von dem einen oder anderen Steinchen, das hier und da herunterfiel. Etwas später vernahm der Heiler ein Dröhnen und Tosen, aber von der geschlossenen Pforte gedämpft, und die schützte ihn jetzt auch vor allem, was die Magier des Barons zur Vernichtung der Abenteurer aussandten.
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Der Baron ... »Craer? Hawkril? Embra?« rief der kleine Mann zögernd. »Kann einer von euch mich hören?« Er erhielt keine Antwort und fühlte sich plötzlich sehr allein – Seine neuen Freunde, wie gewonnen so zerronnen. Seine Heilkünste ebenfalls verschwendet ... Des Barons Magier mussten Spionbanne eingesetzt haben, um danach die Richtung zu bestimmen, in welche sie den Sturm sandten ... Mit anderen Worten, diese drei wussten genau, wer Sarasper war, wo er sich verborgen hielt und über welche Kräfte er verfügte. Sie würden ihn jagen, bis sie ihn zur Strecke gebracht hatten. »Bei den Klauen des Dunklen!« zischte er bitter in den dunklen Gang hinein. Der Staub legte sich hier langsam. Nach all den Jahren, in welchen er sich hier verborgen und gelauert hatte, in welchen er in diesem Haus wie ein Tier gehaust hatte, war sein Geheimnis nach wenigen Stunden aufgedeckt worden. Sein Untergang, welchen er so lange gefürchtet hatte, stand unmittelbar bevor ... Hätte er doch, wäre er doch, würde er doch ... Aber es nützte ja alles nichts mehr. Am besten hätte Sarasper Embra gleich den Kopf abgerissen, als sie in dieses Haus gestürmt gekommen war. Und sich dann mit ihrem Schädel tief in die Katakomben zurückgezogen. Um ihn bis auf den nackten Knochen abzunagen. Damit nichts mehr übrig blieb, was wieder zurückgerufen werden könnte. Der Heiler schüttelte sich, sah ihre Schönheit wieder vor sich und konnte nur verächtlich von sich geben: »Des Barons
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Tochter! Sein einziges Kind! Seine Erbin! Natürlich sucht er da nach ihr. Streckt seine Fühler nach ihr aus. Und nach mir auch, weil ich ihr viel zu nahe bin ... Aber vielleicht verhält es sich ja auch ganz anders. Gut möglich, dass die Prinzessin hinter mir her ist. Waffen und Fallen gibt es hier überreichlich. Wird das Mädchen sich damit gegen ihren Vater und seine Zauberer wehren – oder wird sie mich überwältigen und als gehorsame Tochter vor den Baron zerren?« Sarasper lehnte sich gegen die Wand und steigerte sich immer mehr in solch unschöne Vorstellungen hinein. »Wer sagt mir auch, dass sie nicht längst die Buhle des Barons ist? Den Silberbaums ist alles zuzutrauen. Aber selbst, wenn sie mich nicht gefangen nehmen will, heißt das noch gar nichts. Die Magier des Barons könnten sie so behandelt haben, dass sie gar nichts von ihrem Auftrag weiß. Als Hofzauberer müssen die drei schon über einiges Können verfügen, da dürfte ihnen selbst so etwas möglich sein ... Sarasper Kodelmer, Ihr seid ein solcher Dummkopf! Da kommt ein hübsches Gesicht daherspaziert, und schon nach dem ersten Blick darauf verliert Ihr den Verstand, redet wirr und heilt sie auch noch alle! Fahr doch der Blitz drein!« Stöhnend vor Verzweiflung sank der kleine Mann an die Wand und schloss die Augen. Die Müdigkeit überwältigte ihn, denn er hatte sie alle geheilt und sich dabei verausgabt ... Was seid Ihr doch für ein verblödeter Narr? O Sarasper, wie konntet Ihr die wichtigste Lehre Eures Lebens vergessen? Der Alte sackte noch mehr zusammen und fand vor lauter Erschöpfung nicht einmal die Kraft zu weinen.
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Aber im immer noch wirbelnden Staub überkam ihn das sanfte Vergessen, noch bevor seine Wange und seine Nase sich an den kalten und geduldigen Stein schmiegten. Doch ihn erwartete kein erquickender Schlaf. Ein strahlender Morgen war angebrochen, als die Soldaten von Hellbanner kamen, um Qelder Waern zu holen. Der schmutzige Knabe, welcher auf den Namen »Sarasper« oder auf den Ruf »He, Kräuterbube« hörte, schwitzte über einem Dutzend Töpfe voll kochendem Sud. Er bemerkte die Soldaten gar nicht, bis ein langes und beflecktes Schwert durch das Gewirr von Topfketten und Feuerhaken stieß und dabei das Hemd des Knaben aufschlitzte. Vor Schreck bekam Sarasper keinen Laut heraus und fiel nach hinten, mitten hinein in die Pfütze von übergelaufenem Kräutersud. Die Klinge hatte ihm nicht nur die Schulter entblößt, sondern war auch tief in das weiche Holz von Kelders Pulverschränkchen eingedrungen. Als der Knabe auf dem Hintern landete, wurde ihm das alles bewusst, und er gab einen halb keuchenden, halb klagenden Laut von sich. Vor seinen Augen sauste der Stahl nun zurück, jetzt rot glitzernd von Blut. Erfühlte sich kalt und dunkel an, und der Junge begann darunter zu zittern ... bis sich der alte Skaunt über ihn beugte und rau flüsterte: »He, Junge! Wacht auf! Sarasper? Aufgewacht, und hoch mit Euch! Die Wölfe kommen gleich, sind bestimmt schon auf dem Weg!« Die Nacht war noch nicht mit aller Macht hereingebrochen, und der Junge stand recht benommen in Skaunts grobem Griff da. Er betrachtete eindringlich die dunklen Finger der Wolken am Westhim-
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mel, vor denen sich die Gebäude von Helltürme besonders schwarz abhoben. »Was ist denn geschehen?« fragte der Jüngling müde und mit bangem Herzen, denn er fürchtete sich vor der Antwort. »Lebt Qelder noch?« »Das weiß ich nicht, mein Junge. Sie haben ihn mitgenommen, und er hält sich zurzeit wohl in einem der Türme dort drüben auf.« Sarasper beäugte die Burg, und nach einem Moment erklärte er mit ebenso dünner wie kalter Stimme: »Gebt mir Euer Messer, Skaunt.« »Was soll das denn, Knabe? Mit meinem kleinen Messer könnt Ihr doch nicht die Rüstungen von einem halben Hundert Rittern aufschlitzen!« »Der Baron trägt seine Rüstung nur an Fest- und Feiertagen«, entgegnete der Jüngling. »Und weil er so viel frisst, passt ihm die Rüstung dann bald nicht mehr. Seine Bediensteten schnallen die Gurte und Bänder bereits so locker, dass die Platten des Panzers nicht mehr zusammenfinden. In den Lücken dazwischen müsste sich doch Platz für ein kleines Messer finden, oder?« Skaunt starrte dem Knaben ins Gesicht, atmete tief durch und legte Sarasper den abgenutzten Griff seiner Waffe in die schmutzige Hand. Bei dem Messer handelte es sich in Wahrheit um ein abgebrochenes Schwert; die Klinge war vom vielen Wetzen immer kleiner und dünner geworden. »Mögen die Drei Euch beschützen«, flüsterte der Alte kaum hörbar, »denn ich wage es nicht, Euch auf diesem Weg zu begleiten.« Der Jüngling nickte. »Euer Messer ist mir Hilfe und Begleitung genug, alter Kriegsmann.« Er legte dem Förster eine Hand auf den Arm und drückte dessen Fleisch. Als Skaunt gegangen war, stellte Samsper sich an den Glasschrank und wandte sich dem obersten Fach
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zu, wo die zehn kleinen Fläschchen mit der Säure standen. Vielleicht würde er die brauchen, um Ketten zu durchtrennen ... oder um sie einem Wächter ins Gesicht zu schütten. Qelder Waern galt als der bedeutendste Heiler im ganzen AglirtaTal. Die Menschen nahmen weite Wege in Kauf, um in den Genuss seiner Arzneien und Tinkturen zu kommen. Seit Jahren weigerte er sich schon, seine Hütte am Bach zu verlassen und an den Hof des Barons auf Helltürme zu ziehen. In Sart erzählte man sich, dass flussaufwärts einige Fürsten Heiler in Käfigen hielten und sie noch schlechter als ihre Hunde behandelten. Wenn die harte Arbeit des Heilens die Wundermänner dann so geschwächt hatte, dass sie mehr tot als lebendig aussahen und zu nichts mehr zu gebrauchen waren, wurden sie aus der Burg hinausgeworfen. Die Soldaten zogen dann durch Darsar, um einen neuen Heiler zu finden. Der junge Sarasper hatte mit eigenen Augen gesehen, wie der Baron Authlin Buntbanner seine Hunde nach einer wenig erfolgreichen Jagd gezüchtigt hatte. Heute wunderte es ihn, dass der Fürst sich so lange Zeit damit gelassen hatte, sich des Heilers zu bemächtigen, der im Grunde doch bei ihm vor der Türschwelle hauste. Das Burgtor stand offen, und der Grund dafür ließ sich leicht erraten. Ein endloser Zug von aufreizend geschminkten Damen in Gewändern, deren Röcke bis zur Hüfte geschlitzt waren, strömte nach Helltürme. Die Schönen wurden mit lauten und aufmunternden Rufen von den bereits halb entkleideten Rittern empfangen. Niemand hielt den Knaben auf, der sich unter die Frauen mischte und so tat, als gehöre er dazu. Sarasper erregte nicht das mindeste Misstrauen, obwohl er doch weder so grell geschminkt noch so übermäßig parfümiert noch so leicht bekleidet erschien wie die anderen
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Knaben im Zug ... Außerdem fand gerade der Wachwechsel statt, ein lauer Sommerabend hatte begonnen, und seit Menschengedenken hatte niemand mehr die Burg angegriffen. Um einiges schwerer fiel es Sarasper dann aber, einen unbewachten Weg nach oben zu finden. Nach einiger gründlicher Beobachtung fiel dem Knaben jedoch auf, dass die Soldaten sich nur dort aufgestellt hatten, wo die Gäste heraufkamen. Die Dienstbotenzugänge blieben unbeachtet. Ein paar Momente später fand der Jüngling sich keuchend in einer Welt voller Wandteppiche, gedämpfter Stimmen und Duftkerzen wieder – und, wie nicht anders zu erwarten, um Stunden zu spät. »Wenn ich an Eurer Stelle wäre, würde ich dort heute Abend nicht hineingehen«, warnte eine leise Stimme hinter einem Vorhang. »Zu leicht könntet Ihr mit einem Schwert im Bauch aufwachen oder neben einem Tischbein, das jemand auf Eurem Schädel zu Kleinholz verarbeitet hat.« »Aber das Schreiben, welches ich bei mir trage, ist von allerhöchster Dringlichkeit. Der Baron von Tarlagar verlangt bis morgen Abend eine Antwort darauf«, erwiderte eine zweite Stimme. »Dann wird sich Euer ungeduldiger Fürst eben ein Weilchen bezähmen müssen«, entgegnete die erste Stimme. »Oder habt Ihr etwa vorhin die Leiche in dem Sessel nicht gesehen?« »Doch, was ist dem Ärmsten widerfahren? Er sieht aus wie ein Schweinebauer oder wie ein Einsiedler aus dem tiefsten Wald, mindestens aber wie die letzten vertrockneten Äpfel nach einem langen und harten Winter. Aber ernsthaft, er erweckt ganz den Anschein, als habe ihm jemand jeden einzelnen Knochen im Leib gebrochen, vermutlich indem er ihn kreuz und quer durch die Halle geschleudert hat. War da etwa
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Magie im Spiel?« »Ja, aber die wurde keinesfalls gegen ihn eingesetzt. Bei dem Ärmsten handelt es sich um den Heiler Waern.« »Doch nicht etwa Qelder Waern? Er hat einmal die jüngste Tochter meines Herrn vom braunen Fleckfieber gerettet – ich spreche von der Jungfer Athris. Halb Tarlagar wandte sich an den Mann, wenn irgendwen in der Familie das Zipperlein plagte.« »Na, dann macht Euch mal darauf gefasst, dass Waern in Zukunft Euren Rufen nicht mehr folgen wird ...« Die erste Stimme entfernte sich, und Sarasper krabbelte auf allen vieren voran, um ihr zu folgen und auch noch den Rest mitzubekommen. »Man hat den Heiler heute Morgen hierher gebracht, damit er die Toten ins Leben zurückbringe.« »Wie? So etwas vermag ein Heiler?« »Nun, ja und nein, Ihr habt Waern doch gesehen. Unser gnädiger Herr, der Baron, hat letzte Nacht ein wenig über den Durst getrunken und irgendwann angefangen, Dinge zu sehen. Schließlich nahm er die Starkbogen-Axt von ihrem Platz über dem Kamin und hieb sich seinen Weg von einem Ende des Saals zum anderen frei.« »Bei der Schlange im Schatten! Wie viele hat er denn abgemurkst?« »So um die dreißig Bedienstete, allerdings stoßen wir immer noch auf mehr. Euch ist doch sicher nicht entgangen, wie ruhig es hier oben zugeht? Einige der Diener, welche für gewöhnlich hinter den Vorhängen in Habtachtstellung standen, haben heute Nacht eine ganz andere Stellung eingenommen, wenn Ihr versteht, was ich meine.« Die erste Stimme schwieg für einen Moment und fügte dann hinzu, als sei es ihrem Besitzer gerade erst eingefallen: »Ach ja, seine beiden Söhne hat er ebenfalls vom Leben zum Tode befördert und
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seine Gemahlin enthauptet, die Herrin Rhildra.« »Bei den Dreien! Alle drei?« »Ja, leider. Mir oblag es, unten ihren Kopf aufzusammeln. Den hatte der Baron nämlich wie einen Ball über das Balkongeländer getreten und dabei gerufen: ›Eine Schlange weniger, welche mich des Nachts heimsuchen kann!‹« Wieder ein Moment Ruhe, dann: »Ich habe das Haupt der Herrin heute Morgen hier herauf getragen. Da saß der gnädige Herr im Kreise seiner verschiedenen Lieben und weinte bitterlich. Bei den Dreien schwor er, dass es ihm Leid täte und die Schlange selbst ihre verruchte Hand im Spiel haben müsse. Er wolle auch alles tun, um seine Familie zurückzubekommen, und zwar die ganze.« Der zweite Sprecher schien etwas sagen zu wollen, aber der erste ließ ihn nicht zu Wort kommen: »Ich habe die Frau und die beiden Jungen gesehen: Sie lagen zerhackt wie Hundefutter da. Fliegen umschwirrten sie, und sie boten auch sonst keinen schönen Anblick ...« »Wie furchtbar!« »Irgendwann schlug jemand vor, den Heiler zu rufen. Der gnädige Herr sprang gleich auf, rief alle Bewaffneten zusammen, welche sich in der Burg auftreiben ließen, und befahlen ihnen zweierlei: einmal Waern herbeizuschaffen und zum Zweiten jeden zu erschlagen, der sie dabei beobachtete, wie sie den Heiler herbrächten. Die Männer haben beide Befehle befolgt.« »Und was geschah dann?« »Der Heiler sah die drei Toten und fing noch schlimmer an zu weinen als der Baron. Ich glaube, er ahnte da schon, dass diese Aufgabe ihn zugrunde richten würde. Doch in seinem Schluchzen bedauerte er vor allem das Schicksal der zwei Kinder und der Gattin. Und er schien zu befürchten, dass ihm das große Werk vielleicht nicht gelänge. Überhaupt hat Waern auf mich einen sehr mitfühlenden Ein-
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druck gemacht.« Sarasper spürte, wie sich ihm ebenfalls die Kehle zusammenzog. Aber so nahe, wie er den hohen Herren war, durfte er natürlich nicht das geringste Geräusch von sich geben. Am ganzen Leib zitternd biss er sich schließlich in die Hand, um keinen Laut von sich zu geben und möglichst auch noch das Ende der Geschichte zu hören. »Der Heiler hat den jungen Herren Dorn und den jungen Herren Brawyn ins Leben zurückgeholt. Und das meine ich im vollen Ernst, denn die beiden Prinzen waren wirklich tot gewesen. Ich selbst habe dabei mitgeholfen, sie aufzubahren ...« »Bei den Hörnern! Weiter, Mann!« »Ihre Gedärme hingen heraus, und ihre Rippen und der Brustkorb waren wie Koteletts zerteilt, aber irgendwie ist dem Heiler sein Werk geglückt. Die jungen Herren haben danach viel gehustet und hatten große Mühe, nicht immer wieder über die eigenen Füße zufallen, aber gerade eben sind sie noch hier vorbeigetaumelt.« »Und die Gemahlin? Hat Waern sich bei ihr denn keine Mühe gegeben?« »Der Heiler sah nach dieser Titanenarbeit schon reichlich mitgenommen und am Ende seiner Kräfte aus. Aber er hat sich nicht bitten lassen und sich auch der Herrin zugewandt. Ja wirklich, Waern hat alles versucht ... Aber vermutlich könnte auch der beste Heiler der Welt keinem Enthaupteten den Kopf wieder aufsetzen.« »Und über seine Bemühungen haben ihn seine Kräfte endgültig verlassen?« »Ja, so muss man es leider sagen. Waern brach zusammen, und die beiden Prinzen ergriffen ihn, zogen ihn hoch, schüttelten ihn und schrien ihn an ... Ihr Vater stand auf Armeslänge daneben, schlug sich an die Brust
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und heulte wie ein Schlosshund. Doch dann ist irgendetwas in ihm vorgegangen. Er packte den Heiler am Kragen und schleuderte ihn hin und her. Der Baron hat ihn auch angebrüllt und gegen diese und jene Wand geworfen. Er ließ nicht von ihm ab, bis dieser sich in dem bedauernswerten Zustand befand, in welchem wir ihn vorhin erblicken mussten ... Danach zog die ganze Gesellschaft nach unten. Der Baron schrie die Schreiber herbei und ließ von ihnen eine öffentliche Bekanntmachung festhalten: Jeder Verwandte, Knecht und Lehrling des Qelder Waern sei vor den gnädigen Herrn zuführen, um dann unter der Folter zu Tode gebracht zu werden. Und dies unter den Augen der beiden Prinzen ... Ich fürchte also, Ihr und die Euren werdet in Zukunft nicht mehr nach Hellbanner, sondern woandershin schicken müssen, wenn Ihr einen Heiler benötigt.« Der Schrei, welcher Sarasper nun entfuhr, ließ die beiden Männer auf der anderen Seite des Vorhangs erst erstarrten und dann gotteslästerlich fluchen. Die flinke Flucht des Knaben führte ihn zwischen verwirrten Wachen hindurch, ehe diese ihn erkennen konnten. Danach sauste er wie ein geölter Blitz die große Treppe hinunter. Aber er war immer noch vier große Sprünge vom Ausgang entfernt, als Prinz Dorns Stimme deutlich vom Balkon erklang. »Lasst die Hunde los! Jagt ihn, bis ihr ihn habt, und bringt dann seine Überreste hierher, damit er die Rache Hellbanners in all ihrer Gewaltigkeit zu schmecken bekomme. Nun sputet euch schon, ihr nichtsnutzigen Dirnensöhne!« Die Türwachen fuhren herum, um dem fliehenden Bengel den Weg versperren. Schon hatten sie ihre Schwerter gezogen und lachten
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verächtlich über sein Messerlein. Dann streckten sie die Schwertarme aus, um ihn im Lauf über die Klingen stolpern zu lassen. Sarasper schleuderte dem einen Skaunts Messer ins Gesicht und schüttete dem anderen den Inhalt einer Säureflasche in die feixenden Züge. Der Mann brauchte nur einen kurzen Moment, dann brüllte er los wie am Spieß. Saraspers alter Freund hatte die Säure dazu benutzt, Narbengewebe aufzuweichen und Warzen zu entfernen. Aber die Flüssigkeit wirkte ganz offensichtlich auch auf normaler Haut – und erst recht in Augen. Mit dem Messer hatte der Knabe nicht so viel Glück: Es verletzte den Wächter lediglich an der Nase und löste bei ihm eher Wut als Schmerzen aus. Doch flugs den Inhalt eines weiteren Säurefläschchens hinterhergeschüttet, und schon befand Sarasper sich im Freien. Er hielt nicht an und rannte immer weiter. Stunden später, die Dämmerung schickte sich schon an, die Nacht zu vertreiben, hörte er hinter sich seine Verfolger. In Ermangelung eines besseren Einfalls lief er am Sumpf entlang, um den Weg hinüber in das Fürstentum Glarond zu finden. Bislang war er jedoch lediglich auf Dornbüsche und Nesseln gestoßen, aber noch auf keinen einzigen festen Weg nach Osten ... Der Sumpf schien sich endlos weit zu erstrecken. Das Bellen und Heulen der Bluthunde kam erschreckend rasch näher und schien genau jeder Biegung und Abzweigung zu folgen, welche Sarasper genommen hatte. Endlich sah er ein, dass es keinen Zweck mehr hatte, noch länger nach einem gangbaren Weg zu suchen. Die Angst trieb ihm die Tränen in die Augen, und mit Todesverachtung sprang er in das kalte und stinkende Brackwasser. Stampfend und platschend kämpfte er sich in der ungefähren Richtung Osten voran und bemühte sich, nicht an Wasserschlangen, Schuppenhaie und anderes Getier zu denken,
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welches unter dem schwarzen blubbernden Wasser herumschwamm und lauerte ... Die Suchhunde kamen immer noch näher. Saraspers flehentliche Gebete an die Dreiheit gingen im Jagdfiebergekläffe und hungrigem Knurren unter. Irgendwie erreichte der Jüngling plötzlich eine Stelle mit baumhohem Schilf. Zwischen den Rohren spannten sich riesige Spinnennetze, und darin glitzerten die Tautropfen im ersten Sonnenlicht wie Edelsteine. Der Morgen brachte aber noch mehr, nämlich Jagdpfeile, die wie zornige Wespen durch das Schilf summten. Der vorderste Bluthund wurde in den Kopf getroffen. Sarasper machte sich im Wasser ganz klein, bis nur noch sein Kopf hinausragte, und tastete sich weiter voran, während rings um ihn herum die Pfeile schwirrten. Hund um Hund brach jaulend zusammen. »Meister der Geschosse, mehr Pfeile!« befahl jemand gut gelaunt. »Ich eile, Herr, ich eile! Euer Hochwohlgeboren ist sicher nicht entgangen, dass es sich bei diesen Kötern um die Hunde von Buntbanner handelt, oder? Sie sind hinter irgendeinem armen Teufel her, vermutlich einem Vogelfreien.« »Sei’s drum. Jeder Feind von Buntbanner ist mein Freund! Jeder mag seinen Bogen auf die Bestien richten. Je mehr Hunde von unserem liebenswürdigen Nachbarn wir abschießen, desto besser. Was fällt ihm auch ein, seine Jagdtiere auf mein Land zu treiben? Tearlith? Wo bleiben denn die neuen Pfeile?« Geduckt hockte Sarasper Kodelmer in dem von Blut besudelten Sumpfwasser, bibberte vor sich hin und schwor im Stillen der Dreifaltigkeit, niemals einem Baron, gleich welchem, zu dienen, wenn er an diesem Morgen vor den Pfeilen verschont bliebe.
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Der Verhüllte beugte sich vor: »Ssso willigt Ihr alssso ein?« Die Frau atmete bebend ein, schluchzte leise und antwortete: Ja.« »Dann kniet nieder!« Als die Schöne vor ihm kniete, zog er ihr mit einer Hand Kleid und Mieder herunter, bis ihr Oberkörper bloßgelegt war. näherte sich seine andere Hand und malte mit kalten und schleimverschmierten Fingern ein Zeichen auf ihre Brust. Kaum berührte er ihre Haut, da leuchtete der Schleim gründlich weiß. In diesem Schimmer sah die Frau, wie etwas aus dem Ärmel des Verhüllten kroch. Natürlich eine Schlange. Das Tier kroch über seine Hand auf sie zu und züngelte. »Wenn Ihr sssreit, ssseid Ihr desss Todesss!« drohte der Mann, und seine Hand schnellte vor. Die Schlange richtete sich halb auf, schnellte vor und biss die Frau in eine ihrer Brüste. Sofort überkamen sie große Schmerzen. Rasselnd und keuchend ging ihr Atem, aber es gelang ihr, nicht zu schreien. Die Schlange beobachtete die Frau, während sich das betäubende Feuer immer weiter in ihr ausbreitete. »Ssslangengift tötet alle aussser denen, welssse der Ssslange dienen«, erklärte ihr der Priester. Obwohl er den Satz wie eine Litanei aussprach, schwang doch etwas Anerkennung in seiner Stimme mit. »Erhebt Eusss, Ssswessster, und nehmt Anteil an der geheiligsssten aller Verehrungen in gansss Darsssar.« Während die Frau sich wieder aufrichtete, leuchtete der Schleim auf ihrer Brust immer heller weiß. Von überall
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strömten nun verhüllte Gestalten herbei und bildeten einen Kreis um die Neue. Die Mienen der Gläubigen mochten unter den Kapuzen verborgen liegen, aber die Frau spürte dennoch die Blicke aller auf sich lasten. »Küssst den Bewirker«, gebot nun der Schlangenpriester und streckte wieder die Hand aus. Der schuppige Schädel, welcher soeben seine Zähne in ihre Brust gebohrt hatte, schaukelte vor ihr hin und her. Mit einem Mal befiel die Jüngerin die Furcht, diese langen, gebogenen Zähne könnten ihr gleich die Augen herausoder die Kehle aufreißen ... Doch als sie allen Mut zusammennahm und die Schlange auf die schuppige Haut küsste, bewegte diese sanft das Haupt und rieb sich wie eine schnurrende Katze an den Lippen der Frau. Und während sich Schuppen und Haut berührten, erblickte die Jüngerin nicht mehr die Schlange noch den Priester vor sich, sondern ein Feld im hellen Sonnenlicht. Aus dem Gras erhob sich ein stattlicher Runenstein. Mehrere Gestalten in Gewand und Kapuze standen davor. Lebende Schlangen glitten und wanden sich an den Armen der Männer hinauf und hinab. »Sssehet dasss Grabmal der Ssslange im Hinterland von Aglirta«, murmelte die trockene Stimme des Verhüllten ihr ins Ohr. »Tag und Nacht wird esss von Ssslangenpriessstern bewacht, welssse auf den Ssseitpunkt warten, in welsssem sssie erwacht.« Die Stimme verstummte, nur um wenig später in das andere Ohr der Jüngerin zu flüstern: »Der mässstige Leib der
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Ssslange ruht unter dem Ssstein und issst weder für Ssswert noch für Sssaufel sssissstbar ... Auch sssie wartet auf ihr Erwachen, um dann dasss gesssamte königssslossse Aglirta zu verschlingen und insss Reisss der Ssslange umsssuwandeln ... Sssu jenem Ssseitpunkt sssollen nur die wahren Gläubigen die Fütterung der Gesssuppten überleben ... jene wahrhaft Bekennenden, in deren Reihen Ihr gerade aufgenommen wurdet, Ssswessster!« Die Jüngerin spürte, wie seine ziemlich menschlichen Lippen sie auf die Wange küssten, und von da an wusste sie nichts mehr. Doch die Frau schlug nicht hart auf dem Steinboden auf. Viele Hände fingen sie auf und bremsten ihren Fall. Zerschmetterte Beine rutschten unter ihr weg, und dann musste Embra feststellen, dass sie selbst hilflos zurück und nach unten glitt. Ihre linke Schulter schien die Richtung in der Finsternis vorzugeben. Nun gut, wenigstens musste sie nicht mehr ihre Stiefelspitzen über sich erblicken, und noch weiter oben im Schacht den wirbelnden Sturm. Und noch besser, es lastete nicht mehr ihr ganzes Gewicht auf ihr, worunter sie kam noch richtig hatte atmen können. Aber war jener Zustand wirklich diesem hier vorzuziehen? Was hatte sie denn schon verbrochen? Doch nicht mehr, als ihren Vater ein wenig zu belustigen und seinen Zauberern ein paar Kopfschmerzen zu verschaffen. Sie hätte den beiden Halunken aus Schwarzgult auch ein paar Edelsteine geben und ihnen den Weg von der Insel zei-
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gen können. Damit sie genauso rasch verschwänden, wie sie gekommen waren. Embra hätte die beiden auch auffordern können, sich voller Wollust mit ihr zu vergnügen ... Wie sehr sehnte sie sich jetzt danach, von jemandem einfach nur festgehalten zu werden. Aus reiner Zuneigung und nicht, um es mit ihr zu treiben. Und was dann? Wenn die zwei sie danach ermordet hätten, nur um den Baron, ihren Vater, zu ärgern. Sie hätten seine Tochter auch noch zerstückeln und die Teile einzeln in den Fluss werfen können. Ach, warum hatte die Prinzessin sich nicht schon vor Jahren selbst entleibt? Versucht hatte sie es gewiss, aber dabei war nie mehr herumgekommen, als dass sie mit dem Messer in der Hand vor dem Spiegel stand und sich dabei zusah, wie sie immer mehr ins Zittern kam. Manchmal hatte sie auch die Augen geschlossen und sich wenigstens vorgestellt, wie es wohl wäre, ihre schönen weißen Sachen mit hellem Blut zu bespritzen und dabei an die Decke zu starren, bis nur noch Dunkelheit sie umfinge. Nein, gestand des Barons Töchterlein sich ein, sie war nun einmal nicht zur Abenteurerin geschaffen. Bei den Göttern, sie hatte es ja noch nicht einmal zur Zauberin gebracht. Und jetzt auch das noch. Dank ihrer standen hier Männer kurz davor, zu Tode zu kommen. Männer, welche sie zwar hassten, aber noch mehr fürchteten, und sich allein deswegen davor zurückhielten, ihr etwas anzutun. Ach, dabei kannten diese Männer sie doch überhaupt nicht ...
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Na ja, sie wussten, dass die Prinzessin Banne verschleudern konnte, und auch, dass sie aus dem Geschlecht derer von Silberbaum stammte. Allein das bot schon ausreichend Gründe, sie zu hassen und zu fürchten, oder? Das ganze Gewundene Tal hasste und fürchtete die Silberbaums, und das mit mehr als genug Berechtigung. »Ich will aber nicht so werden wie mein Vater!« fuhr die Prinzessin die Dunkelheit an, welche sie umgab. »Nein! Nein! Nein!« So als erwöge die Dunkelheit wirklich, ihr darauf zu antworten, ertönte links von ihr ein trockenes Rattern. Ein Klacken und Klappern, als bewege sich etwas Altes und Ausgetrocknetes genau auf die Prinzessin zu. Embra tastete nach der Schüssel, welche ihr vorhin an die Wange geknallt war. Aber ihre Hände fanden vornehmlich nur leere Luft und einen Haufen Müll zwischen ihren Beinen – wobei es sich, wie eine erste Untersuchung ergab, hauptsächlich um Gebeine handelte. Sie brauchte jetzt aber dringend Zauberenergie, um Magie zu wirken. Vor allem eine Flamme, um etwas erkennen zu können. Das trockene Klappern kam immer noch näher, hörte sich jetzt schon verdammt nahe an. Die Prinzessin wühlte mit einem Mal wie eine Besessene in den Knochen, drehte sich und suchte nach einer Möglichkeit, sich aufzurichten. Dann fand ihre Hand eines der kleinen Figürchen, welches Sarasper ihr vorhin zugeworfen hatte. Erleichtert schloss sie die Finger um die beruhigenden Kurven, und so rasch sie ihren Willen darauf lenken konnte, erschuf sie ein Feuer. Das Flämmchen tanzte in den Strömungen des Schachtes
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wie von Sinnen, aber Embra bekam dennoch genug zu sehen, um laut zu kreischen.
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Sechs
Alte Flaschen und der Stein des Lebens C Embra Silberbaum stand in einer kleinen Kammer. In diese gelangte man am Grund des Schachts, wo sie gerade angekommen war. Eine Steintür von halber Mannshöhe hatte sich gleich geöffnet, um sie und einen ganzen Schwall von Gebeinen einzulassen. Bei näherem Hinsehen ähnelte die Kammer verdächtig einer Gruft. Steinerne Kästen, bei denen es sich wohl um Särge handelte, waren an allen Seiten aufgetürmt. Einige zeigten sich aufgeplatzt, andere hatten sich stellenweise verfärbt. Flecke an den Wänden und auf dem Boden verrieten der Prinzessin, dass mehrfach Wasser eingedrungen sein musste. Das Wesen, welches ihr solchen Schrecken eingejagt hatte, befand sich nur noch sieben Schritte weit von ihr entfernt. Beim Licht der Flamme besehen entpuppte es sich als das Skelett eines Menschen. Die Knochen zeigten sich altersfleckig, der Unterkiefer hing herab, als sei das Gerippe über irgendetwas höchstlich erstaunt, und die Augen, obwohl nur leere Höhlen, starrten
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unmittelbar auf Embra. Schlurfend bewegte das Skelett sich einwandfrei auf die Prinzessin zu. Als Embra einen Schritt zur Seite trat und sich auf die Lippe biss, um keinen Laut von sich zu geben, drehte das Wesen gleich den Kopf in die neue Richtung, so als habe es am leisen Rascheln der Knochensplitter unter den Füßen der jungen Frau gleich erkannt, wohin diese sich gewandt habe. Wie dem auch sei, das Skelett änderte nun seine Richtung entsprechend. Embra hob das zerbröckelnde Figürchen, wirkte mit der Kraft ihrer Ängste einen Flammenspeer und schleuderte ihn zischend auf das ausgetrocknete, braun angelaufene Knochengestell. Doch das Gerippe bewegte sich auch nach dem Einschlag weiter auf sie zu, und sein Unterkiefer klappte kurz auf und zu, so als lache es die Prinzessin lautlos aus. Embra drückte das Figürlein fester, wodurch es stärker zerbröselte, und als es kaum noch Zusammenhalt besaß, erlosch die Flamme. Finsternis umgab die junge Frau wieder, und das Gerippe schlurfte immer noch heran. Jetzt bemerkte Embra das leichte Glühen, das von den Knochen des Wesens ausging. Vielleicht hatte es sich aber auch am Lichtschein der Flamme bedient. Ebenso wirkte das Gerippe jetzt größer. Vielleicht bewegte es sich einfach nicht mehr so gebeugt, oder? Nein, es war eindeutig gewachsen. Die Prinzessin kniff die Augen zusammen. Dann bewegte sie sich rasch auf den Haufen Knochen zu, welcher gemein-
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sam mit ihr in diese Kammer gerutscht war, und sprang mitten hinein. Im selben Moment fingen ihre Hände auch schon an, darin nach den verwünschten Metallschüsseln zu tasten. Sie fand etwas, das ihr hilfreich erschien, bis sie erkannte, dass sie mitten in die Augenhöhlen eines Totenschädels gegriffen hatte ... Aber da ertönte fast unmittelbar hinter ihr ein schlurfendes Scharren. Embra packte den Schädel wieder, fuhr herum und schleuderte ihn dem Gerippe entgegen. Der Knochenmann war höchstens noch drei Schritte entfernt und streckte bereits die braunfleckigen Hände nach der Prinzessin aus. Da traf der Schädel seinen Unterkiefer und zerschmetterte ihn. Der zerbrach in mehrere Teile, und die polterten die Steinsärge hinunter auf den Boden. Das Skelett aber ließ sich davon nicht aufhalten und schlurfte weiterhin ebenso zielsicher wie beharrlich auf Embra zu. Voller Panik stieß und trat sich die junge Frau ihren Weg durch den Knochenberg, um dem unheimlichen Angreifer zu entkommen. Wenig später schon – der Dreifaltigkeit sei Dank – hörte sie vom Boden ein metallisches Klirren. Das konnte nur von einer der magischen Schüsseln stammen! Embra bückte sich, brachte das Gefäß an sich, hüpfte drei Schritte zur Seite und zurück ... und prallte gegen die kalte Steinwand. Ihre Flucht war zu Ende. Aber die Herrin der Edelsteine musste auch gar nicht mehr fort, denn diese Schüssel barg Mengen an Zauberenergie in sich. Die Prinzessin wusste zwar nicht, zu welchem Zweck diese magischen Geräte ursprünglich geschaffen worden waren,
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doch damit ließ sich ein Feuerzauber entwickeln, dem auch das hartnäckigste Gerippe kaum widerstehen dürfte. »Verbrennt!« kreischte sie dem Unhold entgegen, und in ihr kochte die Wut. Das Schicksal konnte doch wohl nicht für Embra vorgesehen haben, bis an ihr Lebensende nur davonlaufen und sich fürchten zu müssen! »Verbrennt, Elender!« Damit versetzte die Prinzessin dem Gerippe einen Feuerstoß, der es in sich hatte. Weiß glühend raste der Strahl auf die Knochen zu und loderte so heiß wie die Wut in der jungen Frau. Wie ein Speer fuhren die Flammen zwischen die braunen Knochen und trafen so hart auf, dass das Gerippe eigentlich gegen die nächste Wand hätte geschleudert werden und dort zerschellen müssen. Doch dann erstarb Embras Feuerstoß von einem Moment auf den anderen, als sie das Skelett unmittelbar über sich aufragend gewahrte. Blutrot und glänzend erschien der Prinzessin das Wesen, denn die Knochen hatte ein dichtes Geflecht von Sehnen überzogen. Auch war der Knochenmann offenbar wieder gewachsen, um mindestens eine Haupteslänge. Ebenso wuchsen die Splitter und Enden des Unterkiefers vor Embras Augen wieder zufügten sich erneut zu einer Kauleiste und entwickelten sogar kleine Auswüchse. Die Prinzessin ahnte, dass daraus Zähne entstehen würden. »Nein!« schrie die junge Frau wie von Sinnen und versuchte, ausgestreckten Händen auszuweichen. Wie konnte das möglich sein? Offenbar nährte sich das Ungeheuer an ihrer Zauberenergie! Knochenfinger zogen ihr am langen, zerzausten Haar.
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Embra presste die Schüssel an ihre Brust und kreischte, was ihre Lungenflügel hergaben. Blind vor Angst riss sie sich los und rannte einfach drauflos. Sie hielt auch nicht an, wenn sie sich an Ecken und Kanten von Steinsärgen blaue Flecke holte. Hoch über ihr heulten die von Zaubern angetriebenen Winde, und wenn sie bis auf den Grund des Schachts fuhren, wirbelten sie Staub von den Knochenbergen hoch, um sich dann stöhnend wieder zurückzuziehen. Die Prinzessin ertappte sich dabei, sich einen zweiten Nachtwurm herbeizuwünschen ... um dieses schlurfende und so schrecklich schweigende Alptraumwesen dort in so viele Knochensplitter zu zerschlagen, dass es Embra nie wieder an den Haaren ziehen oder ihr Schlimmeres antun konnte. Bei allem, was recht war, wahrscheinlich handelte es sich bei diesem Unhold um einen ihrer Vorfahren! Ihr Vater musste sie vermutlich gar nicht erst hinrichten lassen ... das erledigte einer der Urahnen für ihn, indem er der ungezogenen Tochter einfach so den Kopf abriss. »Schlange in den Schatten!« flüsterte die Prinzessin in höchster Not, als sie mit ansehen musste, wie der groß gewachsene Knochenmann jetzt mit lässigen Schritten immer noch auf sie zukam. Der Unhold hatte sich so weit entwickelt, dass er nicht mehr schlurfen musste, sondern sich gerade und aufrecht bewegen konnte. Mehr noch, er schritt daher wie ein Jäger oder Kriegsmann. Aber er hatte auch die Arme so ausgebreitet, dass die junge Frau nicht hoffen durfte, noch einmal unter ihnen wegtauchen zu können. Dann stieß sie sich zum ungezählten Mal an einem
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Steinsarg, stellte fest, dass der offen war und entdeckte in ihm keinen teuren Verblichenen. Fast hätte die Prinzessin wieder laut geschrien. Dann schloss ihr Restverstand, dass ihr unheimlicher Verfolger eben diesem Grab entstiegen sein musste. Irgendetwas hatte offenbar vor langer Zeit die Steinplatte zerschlagen, welche hier als Deckel diente. Die Teile lagen auf dem Boden verstreut ... und waren allesamt zu schwer, als dass Embra sie hätte aufheben können. Ein zweiter vorsichtiger Blick hinein hielt schon Angenehmeres für die Prinzessin bereit. In ihrer Verzweiflung wagte sie es, in den Sarg hineinzugreifen und etwas Kaltes und Festes zu fassen zu bekommen. Embra riss den Gegenstand heraus und stellte fest, dass sie einen Zauberstab gefunden hatte! Dafür war der Unhold jetzt so nahe heran, dass seine Hände sich schon anschickten, sich um Embras Hals zu legen. Die Prinzessin versuchte, mit ihrem Willen die Zauberenergie in dem Stab zu erreichen und gegen ihren Feind zu schleudern. Gut möglich, dass das Gerippe davon nur noch mehr Stärke und Festigkeit erhielt. Aber es war auch vorstellbar, dass es sich bei seinem eigenen Zauberstab anders verhielt ... und davon abgesehen blieb ihr auch keine andere Wahl mehr! Harte Knochenfinger drückten sich in Embras Kehle, gegen ihr Schlüsselbein und in ihre Schulter. Solange der Zauberstab noch nicht ihren Wünschen entsprach, blieb ihr nichts anderes übrig, als zu versuchen, sich aus diesem Griff zu winden. Aber dann wurde alles in hellstes weißes Licht getaucht! Weiße Funken sprühten wie ein Wasserfall an den Rippen
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des Ungeheuers hinab und tanzten zwischen dem Unhold und der Prinzessin auf dem Boden. Die Prinzessin verstand überhaupt nichts mehr ... nur dass sie mit ihrem Zauber gerade irgendjemanden wiedererweckte ... gleich, um wen es sich dabei handeln mochte. Der Knochenmann wuchs unaufhörlich in die Höhe und nahm ständig zu. Von seinen Knochen war schon kaum noch zu sehen, als sich überall auf ihm Fleisch ausbreitete. SeiHände wirkten beinahe schon menschenähnlich ... Die Erbin des Hauses Silberbaum wusste sich nicht mehr anders zu helfen, als in Tränen und Schluchzen auszubrechen, löste bei ihrem Gegenüber erst unbeholfenes, doch dann immer lauter werdendes Lachen aus ... so gewaltig, dass es die Gruft ausfüllte. Doch dieses Geräusch erstarb von einem Moment auf den anderen, als etwas gegen die Decke krachte ... etwas nass über den Stein mahlte. Wenig später war von dem Griff an Embras Hals nichts mehr zu spüren. Der Riese, welcher sie vorhin noch turmhoch überragt hatte, fiel nun an ihr vorbei und plumpste in den Sarg, aus dem er vor Zeiten auferstanden war. Sein Kopf hing schlaff herab. Die Prinzessin starrte in den Sarg, bemerkte das leblose Haupt, holte mit der Schüssel aus, welche sie in all dem Durcheinander nicht verloren hatte, und ließ die auf den Kopf des Unholds krachen. Die Schädelknochen zerbrachen, und Embras Hand wurde von dunkler und klebriger Flüssigkeit eingehüllt. Ein Laut des Ekels entfuhr der Prinzessin, aber sie schlug ein zweites Mal zu und zertrümmerte diesmal den Hinterkopf.
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Embra ließ damit nicht nach, bis das Haupt schon aussah wie ein aufgeschlagenes Hühnerei, von den Schultern riss, auf den Boden fiel und zwischen den untersten Särgen davonrollte. Der kopflose Körper im Sarg regte sich nicht mehr ... abgesehen höchstens davon, dass er schrumpfte. Er sackte in sich zusammen und gab dabei ein Geräusch wie enttäuschtes Stöhnen von sich ... oder wie ein Ballon, bei welchem aus mehreren Löchlein Luft entweicht. Embra starrte auf den Zauberstab, welchen sie noch immer in der Hand hielt, und schleuderte ihn entsetzt weit von sich. Er traf mit einem hellen klingelnden Geräusch auf dem Boden auf, welches in der unerwartet eingesetzten Stille doppelt laut klang. Auch der magische Sturm oben im Schacht war vergangen. Die Herrin der Edelsteine presste die Schale wieder an ihre Brust und rief: »Craer? Hawkril? Sarasper?« »Herrin?« antwortete ihr der Beschaffer und klang besorgt, so als mache er sich wirklich Sorgen um sie. »Habt Ihr Euch etwas getan?« Da konnte die Prinzessin die Tränen nicht länger zurückhalten. Sie musste erst einige Male schlucken, ehe sie antworten konnte: »Nein ... nein ... ich glaube, an mir ist noch alles heil.« Der Wald, durch welchen sie den ganzen Tag gelaufen waren, ging in einen Sumpf über, und hier trieben es die Mücken und anderen stechenden Insekten besonders arg. Die Ornentaraner schlugen sich unablässig auf Wangen, Augen und Nase, um die Plagegeister zu vertreiben. Derweil
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glitten sie in dem Schlamm und übelst stinkenden Wasser immer wieder aus. Kurzum – die Stimmung der Ornentaraner näherte sich ihrem Tiefpunkt. Die ganze Welt schien nur noch aus abstoßenden Gerüchen zu bestehen, und selbst die Schilfrohre, durch welche die Männer liefen, wiesen die Farbe des Schlamms auf. Am schlimmsten fanden sie jedoch den Gestank. Fast hätte man meinen können, alles, was jemals in Darsar gelebt hatte, sei hierher zum Sterben gekrochen ... außer natürlich den Mücken und Stechfliegen. Irgendwo voraus lag der Loaurimm-Wald, und tief in seinem endlosen und finsteren Herzen standen die Ruinen der Stadt Indraewyn. Inzwischen dürften sie vom Grün überwuchert sein. Schlingpflanzen, Unterholz, Bäume und Dornenranken hatten gewiss Straßen und Häuser unter sich begraben und alle Höhenunterschiede eingeebnet. Doch irgendwo in diesen Trümmern befand sich angeblich immer noch die Bibliothek des vor langer, langer Zeit verstorbenen Magiers Erluth. Wenn ein gewisser Magier sich nicht alles nur zusammengesponnen hatte, und wenn niemand vor ihnen darauf gestoßen war, könnte man dort den Kandaluth finden, den Stein des Lebens. Der Kandaluth gehörte zu den vier mächtigen Weltensteinen, welche man in früheren Zeiten Dwaerindim genannt hatte. In ihnen vereinte sich so viel Macht, dass man damit ganz Darsar beherrschen oder erneuern konnte ... Genügend Energie, um den Schlafenden König zu wecken ... oder die Schlange in den Schatten herbeizurufen.
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Die zwanzigköpfige Magier- und Kriegerschar, welche sich hier durch den elenden Sumpf kämpfte, verstand genug von der Zaubermacht, sonst hätten sich diese Männer ja nie auf den Weg gemacht. Deswegen hatten sie sich so weit fort von den Annehmlichkeiten Ornentars begeben. Und hier im Sumpf wurde ihnen zu ihrem Leidwesen bewusst, dass sie noch mindestens ebenso so weit von Indraewyn entfernt waren. »Verratet mir doch«, grunzte der Ritter Riwryn von den Scharfen Schneiden säuerlich, »warum Eure Zauber es vermögen, uns in die richtige Richtung zu schicken, aber offensichtlich Schwierigkeiten damit haben, uns gleich zu der Bibliothek zu befördern?« »In den alten Tagen, als Indraewyn sich noch stolz erhob und reich bevölkert war«, entgegnete der Zauberer Nynter von den Neun Dolchen ungehalten, »verstanden sich die Magier darauf, Banne zu wirken, mit welchen liebe Nachbarn daran gehindert wurden, plötzlich und uneingeladen dort aufzutauchen, wo sie nichts verloren hatten. Ein Flugzauber oder ein Bann, welcher einen von einem Moment auf den anderen an einen gewünschten Ort trägt, könnte sich da leicht als Reise ohne Wiederkehr entpuppen. Besonders bei einer so alten Stadt. Für gewöhnlich bringt einen ein solcher Abwehrzauber dazu, mitten in der Luft in Flammen aufzugehen und, immer noch mitten in der Luft, vollständig zu verbrennen. Selbstredend mit allen Reisebegleitern.« Nach dieser Auskunft fragte so bald keiner mehr etwas. In grimmigem Schweigen stampften die Schatzsucher weiter durch den Sumpf.
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»Haben die Hofzauberer Eures Vaters denn nie Schlaf nötig?« rief Craer in den Schacht hinab. Eine Kette hing dort, deren Glieder einmal so dick wie der Unterarm des Beschaffers gewesen sein mussten. Doch der Rost hatte sie so abgenagt, dass sie nur noch ein Drittel ihrer einstigen Stärke aufwiesen. »Geht mal lieber davon aus«, antwortete die Prinzessin und spuckte Eisenstaub aus. »Wenn der Baron ihnen Stockschläge angedroht hat, werden sie nicht rasten noch ruhen, bis sie uns haben.« Die Kette schlug ihr leicht erst gegen das Knie und dann gegen die Stirn. Die Prinzessin hielt sie straff, wickelte sie sich um den Bauch und stieg mit den Füßen in die Glieder, um nicht zu heftig zu schwanken und gegen die Schachtwand zu prallen, wenn Hawkril sie gleich heraufzog. Der Ritter nickte ihr kurz zu und fing dann an zu ziehen. »Ach ja?« erwiderte Craer und hielt einen langen Stock in den Schacht, welchen er wohl irgendwo gefunden hatte, um die Prinzessin davor zu bewahren, noch öfter gegen die Schachtwände zu schwingen. »Dabei dachte ich, Euer Vater hätte die Stockschläge für uns vorgesehen.« »Gilt so etwas bei euch beiden eigentlich als witzig?« rief Embra laut genug, um das Rasseln der Kette zu übertönen. »Nein«, antwortete Hawkril, »eigentlich finden wir es viel lustiger, freche und vorlaute Prinzessinnen beim Herausziehen aus einem Schacht mittendrin loszulassen und dann oben am Rand zu singen und zu tanzen.« »Ihr macht doch hoffentlich nur Spaß«, erwiderte Embra und ärgerte sich darüber, dass man das Zittern in ihrer Stimme so überdeutlich hören konnte.
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Einen Moment später legte sich ein starker Arm um ihre Hüfte und drehte sie mitten in der Luft. »Da wäre ich mir nicht zu sicher«, brummte Hawkril und schaute in ihre Augen, welche sie fest geschlossen hatte. Dann schüttelte der Krieger den Kopf, stellte die junge Frau auf die Füße und betrachtete sie mit einer Miene, als sei er sich nicht sicher, ob er das Richtige getan hatte. Als Embra neben sich Klirren und Klappern hörte, öffnete sie vorsichtig die Augen und schaute auf den Boden, wo die Kette in unterschiedlich langen Stücken dalag. Manche Glieder waren ganz zerbrochen, und überall wirbelte roter Roststaub durch die Luft. Hawkril trat ein Stück beiseite. »Was will man mehr?« meinte er mit grimmiger Befriedigung. »Wenigstens hat sie so lange gehalten, wie wir sie gebraucht haben.« Embra schüttelte sich und sah in eine andere Richtung. »Ist mit Sarasper alles in Ordnung?« »Ich habe sozusagen noch einen oder zwei Schläge auf den Kopf bekommen«, meldete sich der Heiler, der sich irgendwo hinter ihr aufhalten musste, »aber ich glaube, der dadurch entstandene Schaden wird euch nicht weiter aufhalten.« Die beiden jüngeren Männer grinsten, wohingegen die Prinzessin den Kopf schüttelte. »Wir sollten uns die Bande der Vier Idioten nennen!« erklärte sie der nächstbesten Wand, und für einen kurzen Moment hatte es den Eindruck, als nickte ein halb mit Fleisch bedeckter Totenschädel zustimmend. Natürlich, die Geister, wie hatte sie die vergessen können? Embra verschob die Schüssel, welche sie sich ins Mieder gesteckt hatte, ein Stück weit, damit sie glatter über einer ih-
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rer Brüste zu liegen kam. Danach betrachtete sie die Spur der Zerstörung, welche die Hofmagier hier hinterlassen hatten. Embra glaubte, draußen Tageslicht auszumachen. »Sind wir uns wenigstens darin einig, jetzt aufzubrechen, ehe der nächste Zauberangriff erfolgt?« fragte sie dann in die Runde. Sarasper nickte. »Ich führe uns hinunter in die Katakomben.« »Und wohin geht es danach?« »Wir reisen nach Sirlptar und reden dort mit ein paar Sängern, natürlich in Verkleidung. Ich verlasse mich da ganz auf Euch und Eure Zauberkünste, Euer Hoheit.« Nach einer Verbeugung fuhr er fort: »Die Sänger befragen wir nach den sagenhaften Stätten der Dwaerindim. Ihr erinnert euch doch hoffentlich noch an die versprochene Hilfe bei der Suche, oder?« »Bis nach Sirlptar?« fragte Hawkril. »Wie weit erstrecken sich diese Katakomben eigentlich?« Der Heiler hob den Glühstein vom Boden auf und hielt ihn wie eine Laterne hoch. »Sehr weit«, antwortete er dabei, »lasst euch einfach überraschen.« Die drei Abenteurer sahen den Alten an, und eine ganze Weile verging, ehe sich drei Schulterpaare zum Achselzucken hoben und senkten. Der kleine Zug setzte sich in Bewegung. Sarasper bildete die Spitze und hielt den Leuchtstein wie ein Priester eine Reliquie. Er führte die drei durch die Tür, durch welche er vorhin hereingekommen war, in einen Gang, welcher zwei Biegungen aufwies und schließlich vor einer bloßen Wand endete.
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Nachdem der Heiler in einer nur ihm verständlichen Reihenfolge auf einige Steine in der Nachbarwand gedrückt hatte, glitt das Hindernis beiseite und öffnete sich zu einer riesigen dunklen Höhle. Hawkril warf einen misstrauischen Blick hinein, bevor er sich durch das Loch schob. Nirgends ließen sich Griffe oder Ringe erkennen, mit deren Hilfe sich die Wand in Bewegung setzen ließ. Bevor der Krieger Sarasper tiefer hinein in das dumpf widerhallende Düster folgte, warf er zweimal einen Blick auf den Weg zurück, welchen sie gekommen waren. In der Mitte der großen Halle hinter der Schiebewand stand ein wuchtiger, aber üppig behauener steinerner Thron. Die hohe Rücklehne wies kunstvolle Verzierungen auf, und durch die dichten Schichten von Staub und Spinnweben ließen sich auf den Armlehnen faustgroße Edelsteine erkennen. »Und so brach die Viererbande zu ihrem ersten Abenteuer auf«, murmelte Craer. »Unbesungen und in völliger Finsternis.« Hawkril sah sich rasch um und erblickte Treppen, welche nach oben führten, einen Tisch in einer hinteren Ecke, eine stämmige Stützsäule, verrottende Wandbehänge, hier und da eine geschlossene Tür, eine Decke, an welcher seltsamerweise keine Ungeheuer hingen ... und endlich den steinernen Sitz. »Sieht aus wie ein Thron«, bemerkte er vorsichtig. »Richtig beobachtet«, entgegnete Embra, verschränkte die Arme vor der Brust und spazierte um das Podium herum. Craer entging nicht, wie ungewöhnlich ernst das Mädchen dreinschaute, und bemerkte leise zu dem Krieger: »Wetten,
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dass es sich dabei um einen Thron derer von Silberbaum handelt? Jahrhundertelang saßen die Herrscher dieser Familie darauf, bis Baron Brungelth Silberbaum von einer aufgebrachten Menge in Stücke gehauen wurde.« »Bitte, Craer«, ermahnte ihn die Prinzessin, »ich entdecke hier Geister, die für Euch unsichtbar sind.« »Das vermögt Ihr?« fragte Hawkril gedehnt, als wisse er nicht so recht, ob er Embra für eine Angeberin halten oder sich vor ihr fürchten sollte. »Ja«, antwortete sie nur und stampfte ohne ein weiteres Wort an den beiden vorbei. Ein Mann hockte auf dem Thron. Von seinen Armen waren nur blutige Stümpfe übrig geblieben. In seinem Schoß sammelte sich eine glänzende Masse von Innereien, das linke Bein war so sehr verdreht, dass an mehreren Stellen Knochen aus der Haut ragten, und das rechte endete vorzeitig oberhalb des Knöchels ... Nur dem Gesicht mit den edlen Zügen hatten die Männer mit den Helmen und den Plattenrüstungen nichts angetan, welche ihn jetzt mit erhobenen Waffen umringten. Dafür war das Gesicht vor Schmerzen verzerrt. Amulette am Hals des Mannes flammten auf und verloschen. Ebenso an dem Reif, welchen er auf dem Haupt trug. Als alles vergangen war, drohten auch die letzten Lebensfunken in ihm zu vergehen. »Mir ist keine Magie mehr geblieben, euch niederzustrecken«, erklärte der Sitzende unendlich müde, »und mir ist nur noch wenig Zeit beschieden. Ihr dürft die Schwerter wegstecken. Die Ringe, welche euch gefährlich hätten werden können, wurden mir mit den Händen genommen.«
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Einer der Bewaffneten trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, aber die anderen regten sich nicht und schwiegen. »Nun?« fragte Brungelth Baron Silberbaum matt. »Wo bleiben die Schmähungen? Wo das Triumphgeschrei Schwarzgults?« »Wir stammen nicht aus Schwarzgult!« erwiderte der Rastlose aufgebracht und fügte ein »Vater!« hinzu. Damit riss er sich den Helm vom Kopf und zeigte sein lockiges schwarzes Haar und Augen, welche an glimmende Kohlen des Zorns gemahnten. Brungelth legte den Kopf schief und betrachtete das wütende Gesicht vor sich. Verwirrung breitete sich auf seinen Zügen aus. »Vater, behauptet Ihr? Doch wohl nicht im leiblichen Sinne, oder? Bei Euch dürfte es sich höchstens um einen überehrgeizigen Ritter aus meiner Wache handeln ... Oder sprecht Ihr für eine Gruppe von Abenteurern von außerhalb des Tals, welche sich hier eine eigene Herrschaft einrichten wollen?« Nun nahmen alle im Kreis den Helm ab, behielten das Schwert aber in der Hand. Mochten sich ihre Züge auch alle voneinander unterscheiden, in ihren glühenden, bohrenden Blicken waren sie sich gleich. »Wir sind doch alle Eure Söhne, oder, Vater Baron Silberbaum?« höhnte ein anderer der Krieger. »Oder sagen wir besser, wir sind die Sprösslinge der Mütter, welche Ihr nicht mit bloßer Hand erwürgt habt oder von Euren Jagdhunden zu Tode hetzen ließet, als Ihr erfahren musstet, dass sie Eure Leibesfrucht in sich trugen. Wir sind diejenigen Eurer Söhne, welche ihr ganzes Leben damit verbracht haben, sich irgendwo im Tal verborgen zu halten. Die Nachkommen der Mütter, welche Todesangst befiel, wann immer sie das Wappen derer von Silberbaum erblicken mussten!« »Wir sind diejenigen, welche Euch entgangen sind«, erklärte ein anderer aus der Runde der Krieger, »obwohl man Euch doch zu Recht den gründlichsten Schlächter des Tals nennt.«
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Damit schritt er zu dem Schrank an der Wand, entnahm ihm eine Karaffe, schnippte mit dem Daumen den Glasstopfen fort und setzte das Gefäß an den Mund. »Bei allem, was recht ist, ein gutes Tröpfchen«, seufzte er danach befriedigt. »Wie süßes Feuer. Und jetzt gehört das alles uns!« »Ja, bis ihr euch darüber die Köpfe einschlagt«, flüsterte der Baron, und sein Kopf sackte nach vorn. »Ha!« erwiderte der Unruhige, welcher der Anführer zu sein schien, »dazu wird es kaum kommen. Und wenn doch, so haben wir uns wenigstens vorher an Eurem Weinkeller gütlich getan.« Der Krieger trat ebenfalls zu dem Schrank und besorgte sich eine andere Karaffe. Wie auf ein Zeichen hin kamen nun alle herbei und nahmen sich, was an Silber und Kristallglas zu finden war. »Das kann man wohl sagen«, entgegnete der Baron. »Das kann man mit Fug und Recht sagen.« Sein Kopf sank noch ein Stück weiter nach unten. Das andauernde Platschen seines Blutes auf dem Steinboden schwächte sich zu einem Tröpfeln ab. »Das muss Euer bestes Bernsteinfeuer sein, stimmt’s, Vater?« grinste ein Krieger und hielt ihm die Flasche verlockend nahe hin, obwohl der Baron doch nicht mehr danach greifen konnte. »Und wenn ich mich nicht sehr täusche, habe ich feinstes Hirschblut erwischt!« rief ein anderer und hielt die Karaffe hoch, um den Inhält im Kerzenschein funkeln zu sehen. »Wirklich ein edler Tropfen.« »Habt ihr nun alle von meinen Vorräten getrunken?« fragte der Verstümmelte auf dem Thron. Alle riefen durcheinander, doch ließ sich daraus ein Chor der Zustimmung erkennen. »Dann darf ich wohl einen Trinkspruch ausbringen«, erklärte der Baron mit nur noch schwer verständlicher Stimme. »Sobald jeder von
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euch getrunken hat, sollt ihr die Geschichte um die Geheimnisse meiner Burg hören; denn mein Ende ist nahe. Eilt euch ... Ich spüre ... wie meine Kräfte mich endgültig verlassen.« Die wenigen Nachzügler nahmen rasch einen kräftigen Schluck und schlossen sich dann wieder dem Kreis um den Thron in der Blutlache an. »Kommt ihm nicht zu nahe«, warnte einer, »er mag immer noch den einen oder anderen Zauber in der Hinterhand haben.« »Nein«, meinte ein anderer, »der nützt ihm nicht viel. Ich trage nämlich einen Magieabwehrring. Ob nun Zauberei oder nicht, er kann uns nichts mehr anhaben.« »Dazu brauche ich auch keine Magie«, erklärte Brungelth ganz gelassen, »ihr Hunde werdet mich so oder so auf dem Weg in die ewige Finsternis begleiten ... denn alle Getränke in diesem Raum sind vergiftet.« Gesichter erbleichten, Karaffen fielen zu Boden, und inmitten des Geklirrs und Fluchens bestürmten die Krieger den Thron. »Das Gegengift, alter Mann!« verlangten seine Söhne und bedrängten ihn mit ihren Schwertspitzen. »Ihr habt doch gewiss welches hier! Antwortet uns, oder verliert ein Auge!« »Nehmt das Auge nur«, entgegnete der Baron, »in Kürze habe ich ohnehin keine Verwendung mehr dafür. Das Gegengift befindet sich in meinem Schlafgemach ... aber ihr lebt nicht mehr lange genug, um bis dorthin zu gelangen. Ich musste die Mittel über viele Jahre einnehmen, ehe ich die Giftmengen vertrug, welchen ihr gerade so herzhaft zugesprochen habt. So gehabt euch wohl, ihr Bande von Trotteln. Ihr seid allesamt unwürdig, den Namen Silberbaum zu tragen, deswegen nehmt nicht meinen Segen entgegen, sondern meine Verwünschung!« Nach diesen Worten fielen ihm die Lider zu, und sein Kopf rollte zur Seite.
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Den Kriegern blieb nur wenig Zeit zu schreien und zu fluchen, denn schon fielen auch sie rings um den Thron wie die Kegel und wanden sich wie eine Gefolgschaft des Todes hilflos auf dem Boden. Embra Silberstein schüttelte sich, schlang die Arme um sich und starrte voraus, ohne etwas zu sehen. Tränen glänzten auf ihren bleichen Wangen. Dann warf die Prinzessin den Kopf in den Nacken, atmete tief und zitternd ein und richtete den Blick an die Decke. Ihre Worte klangen so leise, dass die drei anderen die Ohren spitzen mussten, um alles zu verstehen. »Ihr ändert euch niemals, nicht wahr, Haus Silberbaum? Und ihr Herren und Damen seid auch noch stolz darauf, einer wie der andere!« Die drei Männer sahen sich an. Craer streckte eine Hand aus, um sie der Gefährtin beruhigend auf die Schulter zu legen. Aber er ließ sie auf halbem Wege sinken und schwieg wie die anderen. Die Herrin der Edelsteine drehte sich zu ihnen um, sah sie vorwurfsvoll an, als seien sie für den Massentod verantwortlich, und sackte dann sichtlich zusammen. Eben war der Prinzessin nämlich klar geworden, dass die drei nichts von dem vergifteten Wein, dem verstümmelten Baron und dem allgemeinen Sterben am Thron gesehen oder gehört hatten. Seufzend wandte die junge Frau sich von ihren Gefährten ab und schluchzte leise. »Wir ziehen bald weiter, Herrin«, rief Sarasper ihr zu. Wie ein menschlicher Wirbelwind lief der Heiler an den Wänden entlang, um hier auf einen Stein zu klopfen, dort in eine Ritze zu drücken und hier zu schieben ... und es ein paar Schritte weiter noch einmal zu versuchen.
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Während die anderen zusahen, öffnete sich in den Wänden eine geheime Nische nach der anderen. Jeder entnahm der Alte bestimmte Gegenstände, während er andere keines Blickes würdigte. Auf dem Tisch in der Ecke türmten sich bald Halsketten, Kerzen, ein Kerzenlöscher, kleine metallene Schüsseln (auf deutlich erkennbar falschen Drachenpfoten angebracht), Gürtelschnallen und mindestens ein Dutzend seltsam geformter Wein- und Schnapsflaschen. »Damit auch der durstige Wanderer nicht zu kurz kommt?« fragte die Prinzessin, nahm eine der Raschen auf und starrte ungläubig auf das Etikett. Weder ihre Stimme noch ihre Hand machten einen besonders ruhigen und gefestigten Eindruck, und ihre Gesichtszüge hatten immer noch keine Farbe zurückgewonnen. »Ich würde keinem von euch raten, davon zu trinken«, entgegnete Sarasper. »Nach so langer Zeit dürfte die Flüssigkeit kaum noch bekömmlich sein. Aber einiges von der Magie darin dürfte sich gehalten haben ... hoffentlich genug, um damit einen Zauber zu wirken.« Embra ließ den Blick über das Sammelsurium auf dem Tisch wandern und verzog das Gesicht. Dann seufzte sie und begab sich mit einem schiefen Grinsen zu einem der Wandbehänge. Hier schloss die Prinzessin die Augen, schloss die Hände um den Teppichrand und zog mit aller Kraft. Wie nicht anders zu erwarten kam es zu einigem Gelärme, und dann lag Embra zusammen mit dem Behang auf dem Boden. Als die Prinzessin wieder atmen konnte, kroch sie unter dem Haufen von Staub und Stoff hervor, welcher sich auf ihr erhob. Dann riss sie ein größeres Stück aus dem Teppich und
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näherte sich damit dem Tisch. Craer und Hawkril grinsten und kicherten die ganze Zeit und stießen sich gegenseitig an. »Wäre vielleicht einer von euch so liebenswürdig, mir dabei zu helfen, dieses Bündel auf meinen Rücken zu wuchten?« fragte die junge Frau und fing an, mit spitzen Fingern Saraspers Funde auf das Stück Stoff zu legen. »Warum stopfen wir sie nicht einfach auch noch in den Sack hier«, grollte Hawkril und schwang das gute Stück von seiner Schulter. »Wenn ich schon ein Dutzend nass gewordener Zauberbücher tragen kann, werden mir ein paar zusätzliche Kerzen wohl kaum etwas ausmachen.« Embra hatte die Bücher ganz vergessen. Wie zur Erinnerung drang ihr jetzt deren Schimmelgeruch in die Nase. Dann betrachtete die Prinzessin den Sack, seufzte, nahm ein paar Kerzen und ein paar Ketten auf und hielt sie dem Kriegsmann hin. Doch statt sie ihr abzunehmen, verfärbte sich der Ritter, ließ den Sack fallen und zog sein Schwert. »Bei den Klauen des Finsteren!« keuchte er dabei. »Was um alles in der Welt ...« fragte Embra verwirrt und entdeckte dabei, dass Craer geduckt dastand und seinen Dolch gezückt hatte. Die Prinzessin drehte sich um und schaute in die Richtung, in welche die beiden starrten. Die Höhle füllte sich mit Wesen an, welche sich halb als faulender Leichnam und halb als Gerippe zeigten. In unheimlichem Schweigen schlossen sie sich zu einem Ring um die Viererbande zusammen. Drei Dutzend Geisteraugen starrten die Prinzessin an, als sie sich umdrehte und sich die Reife auf den Arm schob. »Wir müssen irgendetwas aufgeschreckt haben, Heiler«,
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erklärte die junge Frau leise. »Aber unter diesen Wesen findet sich keines, welches uns ernsthaft schaden könnte.« »Ich habe aber schon von Geistern gehört, die einem zu schaffen machen«, bemerkte Craer und das nicht unbedingt, um zu plaudern. »Das stimmt«, gab die junge Frau zu und hielt den Unterarm mit den Reifen wie einen Schild vor sich. Die Aaswesen fuhren aber erst zurück, als Embra die Metallschüssel an ihrem Busen berührte, so dass Funken auf den Schmuckstücken tanzten. »Ich bin einmal einem solchen Gespenst begegnet«, berichtete die Prinzessin. »Mein Vater hatte nämlich vor, mich abzuhärten.« »Müssen wir eigentlich noch lange bleiben?« fragte Hawkril ein wenig bang, als die Geister wieder näher rückten. »Ich halte es auch für das Beste«, stimmte der Beschaffer zu, »rasch von hier zu verschwinden. Stellt euch nur vor, die Magierschergen des Barons verfallen auf die Idee, uns irgendein Ungeheuer in diesen Raum hier zu schicken. Irgendeine Gefahr oder am Ende einen von denen da ...« Er zeigte auf die Geister. Sarasper nickte. »Genau aus dem Grund sollten wir uns beeilen.« Er warf einen Blick auf die Prinzessin und fügte dann düster hinzu: »Seit so vielen Jahren halte ich mich schon in diesem Haus auf, dass mir die Geister, welche hier überall herumschweben, mittlerweile wie alte Freunde erscheinen. Aber heute habe ich zum allerersten Mal das Gefühl, von jemandem beobachtet zu werden.« Nachdem der Heiler dies geraunt hatte, verschwand ge-
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räuschlos und von den Gefährten unbemerkt ein Auge von einem Loch in der Decke. Letzteres befand sich ziemlich genau an der Stelle, wo sich Tragsäule und Decke vereinten. Die Sonnenstrahlen drangen durch das höchste Bogenfenster auf Burg Adeln ein, und ihre Spitzen trafen den Ellbogen des Barons Adeln. Er nippte gedankenverloren an seinem Wein und stellte den Kelch dann in das Licht auf dem Tisch. Müßig beobachtete er den Widerschein auf dem Flüssigkeitsspiegel, während er sich im Geiste mit ganz anderen Dingen beschäftigte. Der Fürst dachte vornehmlich an die Folgen des Marsches von einer Gruppe Soldaten, welche von Ieirembor zurückkehrten. Ihr Weg führte sie durch das Dutzend Baronien. Niemand konnte sie aufhalten, ihnen knurrte der Magen, und sie hatten schon lange keinen Sold mehr bekommen. Der Diener, welcher schweigend und nahezu unsichtbar in einer Ecke stand, verfolgte, wie die Gesichtszüge seines Herrn an Farbe verloren und sich die Stirn in Falten legte. Eskulph Adeln hob einen Finger und strich sich damit über das Kinn. Eine zuverlässige Anzeige dafür, dass er um Entscheidungen rang und die Gedanken wie herabstürzende Falken hinter seiner Stirn rasten. »Führt den Seneschall zu uns«, befahl er schließlich dem Diener in der Ecke, »und dann zieht Euch zurück, bis er uns wieder verlässt.« Der Baron erhob sich, trat ans Fenster und schaute hinaus auf die Dächer von Adelnwasser und den vorbeiströmenden Fluss ... bis eine vertraute Stimme hinter ihm sagte: »Hier bin ich, Herr.«
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Eskulph drehte sich zu ihm um und erklärte befehlsgewohnt: »Schickt Boten zu unseren sämtlichen Agenten den Silberfluss hinauf und hinab. Sie sollen sich eilen. Ich will wissen, wer zurzeit Söldner anwirbt, wie viele er anwirbt und wie viel er ihnen zahlt.« Er ließ die Daumenkuppe von der Spitze des Zeigefingers schnellen, das Zeichen dafür, dass die Unterredung für ihn beendet war und sein Gegenüber sich zurückziehen durfte. Der Seneschall verbeugte sich und strebte der Tür zu. Doch heute hatte der Baron noch mehr von sich zu geben. »Ach, Presgur, sammelt doch bitte alle Kriegsmänner zusammen, welche Ihr innerhalb unserer Landesgrenzen antrefft. Halunken, Krüppel, Unruhestifter, gleich wen, ich will sie alle haben.« Der Seneschall wartete und atmete zweimal leise und tief durch. Als sein Herr dann immer noch nicht zum dritten Mal die Stimme erhoben hatte, verbeugte er sich noch einmal und setzte seinen Weg zur Tür fort. Adeln lauschte, wie draußen auf dem Flur die Schritte seines obersten Hofbeamten verhallten. Danach schenkte er der Decke ein Lächeln, in dem keine Wärme lag. Die Frau erhob sich von dem Bett, und im weichen Kerzenlicht wirkte ihr nackter Körper atemberaubend schön. Sie atmete bebend vor Erregung und Furcht ein. »Ich könnte es lernen, Euch Herr zu nennen«, sprach die Schöne. »Schuppen stoßen mich nicht ab, wie Ihr inzwischen festgestellt haben dürftet.« »Ssso kniet vor mir nieder«, gebot der Mann mit dem Schlangenkopf, richtete seinen Umhang an den Schultern
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und zeigte auf das Bett, »und erfahrt die Macht, welssse isss Eusss versssprosssen habe.« Eine Schlange kroch aus dem Ärmel des Mannes und glitt an seinem Arm hinab, während die Frau rasch auf die Knie fiel. »Wenn Ihr sssreit, geht Ihr ebenfallsss zugrunde«, zischte er und malte mit kaltem, glitzernden Schleim ein Zeichen auf ihre Brüste. Als die Masse gleich zu glühen begann, streckte er den Arm aus und schleuderte die Schlange auf die Frau. Das Tier hob den Kopf und biss zu. Die Frau atmete scharf ein und zitterte, als die Schlange von ihr abließ. Die Augen des Tiers funkelten, und die Frau fühlte, wie wieder das betäubende Feuer sie durchströmte. »Diesssesss Gift tötet jeden, der nissst der Ssslange dient«, erklärte der Priester. »Nun erhebt Eusss, Ssswessster, und nehmt teil am geheiligsssten Gottesssdienssst in gansss Darsssar!« Als die Frau sich erhob, leuchtete das Zeichen auf ihrer Brust blendend weiß auf. Das erregte die Schlange, und ihr erhobener, flacher Kopf schaukelte wieder hin und her. »Küsst den Bewirker«, befahl ihr der Schlangenmann. Die Frau beugte sich vor und küsste den trockenen, geschuppten Schädel, und die Schlange schmiegte sich an ihre Lippen. Kühn geworden leckte die Frau über die Schuppenhaut ... Die Schlange verließ den Arm des Mannes und kroch auf die Brust der Frau, und dann weiter auf ihre Schulter und schließlich über ihren ganzen Körper. »Ihr seid wahrhaftig gebenedeit«, erklärte ihr der Priester, aber mit einem Unterton, als sei ihm dies nicht recht. Er beobachtete, wie das Tier sich über sie bewegte, und meinte dann: »Bewegt Eusss nicht, und Ihr werdet leben!«
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»Sind das die Katakomben?« fragte Craer und betrachtete die feucht glänzenden Wände. Sie befanden sich in einem kalten Gang, in welchem es nach Erde roch und das einzige Licht aus dem Stein in der Hand des Heilers kam. Wenn Sarasper die Hand darüber schloss, wurde es auf unheimliche Weise schlagartig dunkel. Zur Antwort führte der Alte das noch einmal vor und meinte dann: »Nein, wir sind aus anderen Gründen hierher gekommen. In Sirlptar brauchen wir nämlich Geld.« »Soll das heißen, wir stehen vor den Schatzkammern der Silberbaums?« freute sich Craer schon. »Jetzt wird mir auch klar, warum sie etwas dagegen haben, dass Fremde hier herumschnüffeln.« »Wir sind schon längst an den Kellern vorbei«, warf die Prinzessin ein. »Ungefähr seit dem Moment, an welchem die Geister uns nicht mehr gefolgt sind. Außerdem sind die Kellergewölbe leer.« »Dann befinden wir uns jetzt in den Grabkammern!« entfuhr es Hawkril. »Habt Ehr etwa vor, die Toten zu berauben?« So als habe er damit einen unsichtbaren Alarm ausgelöst, tauchte in diesem Moment ein Stück voraus ein glühendes Skelett ohne Augen und in einer Rüstung auf. Es hob ein Leuchtschwert, aber Embra winkte nur gelangweilt ab. Das Gespenst sauste auf die Prinzessin zu, hatte sich aber schon aufgelöst, noch ehe es sie erreichte. »Hawkril, mir macht das nichts aus«, erklärte die junge Frau dann dem Kriegsmann. »Alle Schätze hier gehören mir ohnehin. Aus einer sadistischen Laune heraus hat mein Vater
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mir nämlich Haus Silberbaum zu meiner Volljährigkeit vermacht ... Am nämlichen Tag, als die Zauberer mir die ersten Bindungen auferlegten und mich auf die Insel wegsperrten ... Deswegen macht Euch keine Gewissensbisse, sondern seht die Sache lieber so: Ihr helft einer Silberbaum dabei, an das nötige Kleingeld zu kommen. Und das nimmt sie sich von ihren Vorfahren, die ihre Reichtümer hier für sie bereitgelegt haben.« Sarasper atmete nach solchen Worten gleich erleichtert aus. Bei Hawkril dauerte das ein wenig länger. Der Heiler nickte und erklärte: »Ich habe während meiner jahrelangen Streifzüge einiges Gold entdeckt, zum Beispiel dort drüben.« Er führte die Gesellschaft um eine Ecke herum zu einer Stelle, wo der Gang sich verbreiterte. Hier hatte man einige Särge in die Wand eingelassen. Über jedem stand eine Inschrift zusammen mit einem eingemeißelten SilberbaumWappen. An einer Seite zog sich ein Riss von der Decke über die Wand und auch über einen Sarg. Infolge davon lag der Deckel zerbrochen auf dem Boden. Dazu ein paar Knochenstückchen, ein geborstener Schädel und jede Menge Geldstücke. Hawkril hielt auf Abstand und fiel immer weiter zurück, bis das Licht in der Hand des Heilers sich so weit von ihm entfernt hatte, dass er nichts mehr sehen konnte. Da beeilte er sich lieber, zu den anderen aufzuschließen. Als er bei den Gefährten anlangte, stocherte Craer bereits mit seinem Schwert zwischen den Münzen, um festzustellen, ob hier irgendwelche Fallen angebracht waren. Oder ob sich geheime Türen öffneten und Wesen mit gefährlichen Zähnen
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und Klauen entließen. Doch nichts tat sich, und so drehte er sich über die Schulter nach Embra um. Sie nickte ihm aufmunternd zu, und so ging er in die Hocke, um das Geld einzusammeln. Hawkrils Sack füllte sich binnen kurzem zusätzlich mit über siebzig Goldstücken. Einige davon waren so alt, dass sie als Prägung noch die Axt der Handelsbaronien trugen – die Aglirta waren erst danach an die Macht gekommen. Craer konnte es nicht fassen. »Meint Ihr, das reicht, oder brauchen wir noch mehr?« Embra lächelte listig: »Ich möchte Euch ja ungern in weitere Gefahr bringen, aber nach allem, was ich gehört habe, soll Sirlptar ein teures Pflaster sein.« »Gut. Wen bitten wir als Nächsten um eine Spende?« fragte der Beschaffer und fuhr mit der Fingerspitze an den Reihen der Inschriften entlang. »Wie wäre es zum Beispiel mit dem hier – Waedrym?« »Ein Zauberer, der viel über den Tod geforscht hat«, erwiderte die Prinzessin. »Vielleicht sollten wir nicht gerade mit dem beginnen.« Die junge Frau stellte sich nun ebenfalls an die Wand und las die Inschriften. »Der hier erscheint mit wesentlich geeigneter.« »Chalance Silberbaum«, verkündete Craer den anderen mit Blick auf die Plakette. »Ist offenbar ziemlich jung gestorben, war aber ... ›königlicher Prinz‹?« Embra zuckte die Achseln. »Die Silberbaums haben sich auch früher schon als die wahren Herrscher von Aglirta gesehen.« Der Beschaffer hockte sich hin und zog an den Absätzen
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seiner Stiefel. Beide gaben unter seinen Bemühungen nach, und heraus kamen zwei kurze Messer. Die Absätze bildeten jeweils den Griff. Hawkril schnaufte belustigt, weil er so etwas nun wirklich niemals erwartet hätte. Seine Erheiterung verwandelte sich aber in blankes Staunen, als sein Gefährte auch noch einen Keil aus dem Stiefel hervorzauberte, diesen an einem der Messer befestigte und so ein Stemmeisen gewann, welches er ohne viel Federlesens zwischen die Wand und den betreffenden Sargdeckel schob. Die ganze Zeit summte er dabei ein lustiges kleines Liedchen. Der Ritter hielt sein Schwert bereit, als die drei anderen den Deckel abnahmen. Aber keine tödliche Bedrohung sprang sie aus dem offenen Sarg an. Craer warf einen Blick auf Staub und Gebeine ... und lächelte dann. In verblüffend kurzer Zeit vervielfältigte sich der Goldvorrat der Vier. Irgendwann aber hatte Hawkril genug Gespenster gesehen: mehrere Krieger mit finsteren Augen und eine Frau, welche anstelle eines Kopfes einen Flammenkranz trug. Er drängte zum Aufbruch, und Sarasper führte die Schar über verborgene Treppen weiter nach unten. Schließlich erreichten sie eine Stelle, an welcher sie aus den Wänden das Gluckern von fließendem Wasser hören konnten. »Die Unterstraßen«, erklärte der Heiler. »Ich bin schon einmal hier unten gewesen, wenn auch in einer anderen Daseinsform ... deswegen fürchte ich, mich nicht mehr allzu genau an das erinnern zu können, was uns gleich erwartet. Ich weiß eigentlich nur noch, dass es einen Weg hindurch gibt.« Ein seltsames Leuchten drang aus dem Gang vor ihnen und
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entpuppte sich beim Näherkommen als Licht von unheimlich pochenden Glühwürmchen. Ebenso trieben sich hier unten Spinnen von der Größe einer Männerhand herum. Wenn die Menschen näher kamen, huschten sie aber gleich davon. Weiter ging es eine ausgetretene Treppe hinauf und hinein in eine weitere Gräberhöhle. Hier erhob sich ein Sockel aus dem Plattenboden. Hawkril sah sich wieder argwöhnisch um. Helme und Schilde, welche man vor undenklichen Zeiten hier aufgehängt hatte, waren inzwischen zu rotbraunem Pulver und einigen traurigen Resten verkommen. Craer hingegen schien solche Vorsicht nicht zu kennen und lief gleich in den Raum hinein – bis die Prinzessin hinter ihm bemerkte: »Was du nicht willst, das dir man tu, das füg auch keinem anderen zu. Das gilt auch für Gräber und dergleichen. Ein Beschaffer sollte das eigentlich wissen.« Der gelenkige Mann bedachte sie mit einem Blick, als sei man ihm noch nie derart zu nahe getreten. »Und nach welchen Weisheiten richten silberbaumsche Zauberinnen und Prinzessinnen ihr Leben aus, mein liebes Fräulein?« gab er giftig zurück. Embra senkte betroffen den Blick. »Verzeiht, wenn ich Euch beleidigt habe, Craer, aber für mich ist das auch alles nicht leicht. Ich bin es gewohnt, in vollkommenem Luxus, aber allein zu leben, in einem goldenen Käfig sozusagen.« Sie ließ den Kopf noch tiefer hängen. »Ich kenne mich so wenig aus ... weiß ja noch nicht einmal, wie ich mich in Eurer Begleitung ›erleichtern‹ soll. Schließlich kann ich das ja nicht vor Euren Augen tun ...« Der Kriegsmann betrachtete sie für einen Moment und
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entgegnete dann: »Für uns ist das auch kein Zuckerschlecken. Wir haben Angst um Euch ... und auch vor Euch, für den Fall, dass Euer Vater uns durch Euch aufzuspüren vermag.« Die Herrin der Edelsteine drehte sich langsam um die eigene Achse, um jedem ihrer neuen Gefährten ins Gesicht sehen zu können. »Davor fürchte ich mich auch, das könnt ihr mir glauben.« Eine Weile standen die Vier nur da und schauten verlegen aneinander vorbei. Dann setzte Sarasper sich wortlos wieder in Bewegung und führte die Gruppe weiter. Der Weg führte wieder nach oben, und sie kamen an Hallen vorbei, in welchen unzählige Särge unter dicken Staubschichten und Spinnweben lagen. Endlich erreichten sie einen Ort, an dem das Licht von Saraspers Leuchtstein trübe wurde. »Was für eine eigenartige Magie«, murmelten Embra und der Heiler wie aus einem Munde. Die Prinzessin legte eine Hand auf die Reife an ihrem Ärmel. Mit einem Mal tauchten schwach schimmernde Punkte vor ihnen auf. Lichtfunken, welche in einem schweigenden Kreis glommen, der sich von einer Wand zur anderen spannte – und den Gefährten damit den Weg zu versperren schien. Im Mittelpunkt dieser Sperre erhob sich etwas Dunkles, bei dem es sich um einen weiteren Sarg oder einen ähnlichen Steinblock handeln musste. Einige Funken versammelten sich auf ihm, drehten sich und gewannen an Helligkeit. »Sollen wir umkehren?« fragte Hawkril vorsichtshalber. »Um uns an allen Silberbaums vorbeizukämpfen«, entgegnete die Prinzessin, »und gar nicht erst zu reden von den Ma-
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giern meines Vaters, welche unseren Weg mit Bannen pflastern werden? Nein, ich halte überhaupt nichts von einer Umkehr.« Die Lichtpunkte auf dem Block vereinten sich zu einer geisterhaften Erscheinung, in welcher man bei genauerem Hinsehen einen kahlköpfigen Mann mit langem Gewand erkennen konnte. Allerdings schienen seine Hände Dornen und Schuppen aufzuweisen. Das Gespenst hob beide Arme und zeichnete ein leuchtendes Zeichen in die Luft. Die junge Frau verfolgte das alles genau, dachte dann kurz nach und hob dann ebenfalls eine Hand, um ein eigenes Zeichen zu ziehen. Der Kahlköpfige zeigte daraufhin auf Embra, und schon spuckten seine Finger blauweiße Blitze, welche auf die Schöne zu rasten. Die Lichtgeschosse rasten erst auf ihre Linke zu und drehten dann zur Rechten ab. Die drei anderen Gefährten verfolgten, wie ihre Freundin das Gesicht verzog und schwankte. Ihre Züge verzerrten sich noch mehr, als sie einen der Blitze ergriff, ihn wie ein Lichtband um sich herumschwang, etwas von ihrer eigenen Energie hinzufügte (was sich an rosafarbenen Flecken im Blauweiß erkennen ließ) und das Ganze dann auf den Feind zurückschleuderte. Ein Getöse erhob sich, und danach war von dem Gespenst nur noch ein matter Schatten übrig. Embra rief rasch ihren Gefährten zu: »Hört mich, keiner von euch darf seine Waffen gegen ihn erheben. Stellt Euch weit auseinander, und ein jeder legt alle Schwerter, Dolche und sonstigen Gegenstände aus Metall vor sich auf den Boden.«
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Nun hob die Prinzessin wieder beide Arme und warf etwas anderes auf das Gespenst. Eine sanftere und leicht schimmernde Energiewoge, welche alle Lichtpünktchen von dem Block aufzusaugen schien. Die Woge fuhr durch den Geist hindurch, strebte auf die dahinter liegende Wand zu ... und als sie in Embras Hände zurückkehrte, herrschte in dieser Höhle nur noch Finsternis vor. Die junge Frau schwankte so sehr, dass man befürchten musste, sie würde jeden Moment zusammenbrechen. Doch bevor ihre Gefährten sie erreicht hatten, war die Prinzessin schon bis zu dem Steinblock gewankt und hielt sich daran fest. Vom dem Gespenst war nicht mehr das Mindeste auszumachen. Embra drehte sich zu ihren besorgten Freunden um, ohne den Stein loszulassen, und sah sie mit abgespannten Zügen an. »Der Geist wollte von mir ein Erkennungszeichen«, erklärte sie den dreien keuchend. »Offenbar habe ich das falsche gegeben. Diese Halle muss viel älter sein, als ich dachte.« Sarasper legte einen Arm um ihre Schultern. Sie wollte ihn abschütteln, kam dabei von dem Steinblock los und wäre beinahe auf dem Hintern gelandet. Als Embra sich wieder aufgerichtet hatte und erneut am Stein festhielt, zerfielen zwei ihrer Armbänder und sanken herab. Noch bevor sie den Boden berührten, war von ihnen nur noch Staub übrig. Hawkril starrte darauf und sah dann Craer und Sarasper an. »Völlig entkräftet durch Embras Magie«, sprachen dann alle drei wie aus einem Munde und schauten danach der Erbin
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des Hauses Silberbaum in die bleichen Züge. »Entkräftet durch Embras Magie«, wiederholte der Krieger. Diese Magie schien auch sie selbst aller Kräfte beraubt zu haben. Der Heiler wirkte immer noch höchst besorgt und legte ihr ein weiteres Mal den Arm um die Schultern, um sie beim Gehen zu stützen. Nach ein paar Schritten vergrub die junge Frau das Gesicht an seiner Brust und schüttelte sich. Da wussten die drei anderen, dass sie weinte. Wortlos streckte Hawkril nun eine Hand aus und hielt den leeren Handteller Sarasper entgegen. Der Heiler sah sie an, schaute dann auf die weinenden Prinzessin an seiner Schulter und richtete wieder fragend den Blick auf den Krieger. Hawkril nickte langsam, und Sarasper begriff. Er streckte dem Krieger die freie Hand entgegen und verschränkte seine Finger in die des Gefährten. Schon einen Moment später leuchtete die Haut des Heilers auf, als neue Lebensenergie in ihn strömte, als der Kriegsmann ihn mit seiner eigenen Kraft stärkte. Nach einer kurzen Weile atmeten die beiden schon schwer, aber keiner dachte auch nur im Traum daran, die Verbindung zu unterbrechen. Noch zweimal begegneten sie Geistern, welche vor ihnen den Weg kreuzten. Aber diese schleuderten ihnen keine Zauber mehr entgegen. Dafür war die immer noch matte und schwankende Herrin der Edelsteine ihnen auch zutiefst dankbar. Hundemüde und mit grimmiger Miene erreichte die Viererbande schließlich einen Raum, in welchem sich außer
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Staub gar nichts befand. Nicht einmal irgendwelche Türen oder Durchgänge zu Nachbarkammern. In ihrer Eile hatten die Gefährten nicht daran gedacht, etwas zu trinken oder Nahrungsmittel mitzunehmen. Außerdem verspürten sie größte Müdigkeit, und wenigstens dafür sollte hier Abhilfe geschaffen werden. Die völlig ermattete Prinzessin schlief auf der Stelle ein. Craer, Hawkril und Sarasper hielten sich noch lange genug aufrecht, um Wachen einzuteilen. Der Heiler war als Erster an der Reihe. Bereits nach wenigen Minuten war er von Seufzen und Schnarchen umringt, ließ sich davon aber nicht verleiten, sich zu seinen Gefährten zu setzen oder sich gar zwischen sie zu legen. Wenigstens stellte er den Leuchtstein neben sie, lief dann in der Kammer auf und ab und lauschte nach Geräuschen von den Gängen draußen. Irgendwann legte er den Kopf schief, als vernehme er ein Geräusch, welches nur er zu hören vermochte. Sarasper nickte langsam, als stimme er den Worten zu, welche in seinem Kopf gesprochen wurden. Dann wanderte sein Blick über die Schläfer und blieb an der Prinzessin hängen. Während er ihren offenen Mund und ihr schönes Gesicht betrachtete, breitete sich ein breites Grinsen auf seinen eigenen Zügen aus. Ein wahrhaft teuflisches Grinsen.
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An Fehlern herrscht kein Mangel C An der Spitze der Ornentaraner marschierten die Veteranen der Jagd – und darunter verstand man nicht nur das edle Waidwerk, sondern auch, Verbrecher und ähnliches Gelichter zur Strecke zu bringen, Raubzüge ins Feindesland und ähnliche Abenteuer. Männer wie sie erkannten ein Stück Mauerwerk gleich, sobald es vor ihnen auftauchte – selbst dann, wenn es unter einer dicken Schicht von Schlingpflanzen und Dornenbüschen verborgen lag. So hob jetzt der Recke an der Spitze eine Hand hoch und rief nach hinten: »Wie viele Ruinen sind uns in diesem Wald bekannt?« »Keine«, antworteten die beiden Magier säuerlich und ohne ihn anzusehen. Schließlich wollten sie sich nicht dabei stören lassen, die Myriaden von Mücken und anderem Stechgetier zu erschlagen. Breite Schweißbäche strömten ihnen über das Gesicht, und von ihrem Kinn tropfte es unaufhörlich. Kaum einer der
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anderen konnte sich noch daran erinnern, ob diese beiden Gesichter jemals eine freundliche Miene gezeigt hatten. »Dann haben wir Indraewyn gefunden!« erklärte der Mann an der Spitze ganz ruhig. »Oder zumindest das, was davon übrig geblieben ist.« Die anderen – bis auf die Magier – drängten sich um den Recken. Die Ornentaraner, welche nicht zu den Veteranen gehörten, verrenkten sich die Hälse, und weil sich ihren Blicken nichts wirklich Aufregendes darbot, stellte sich bei ihnen rasch Enttäuschung ein. Einer von ihnen fragte schließlich den Entdecker: »Und was macht Euch da so sicher?« Aber niemand unterzog sich der Mühe, ihm eine Antwort zu geben. Schatten zeigten sich zwischen den Bäumen, welche sich hier nicht ganz so dicht erhoben wie andernorts. Erstere konnte man durchaus für Gebäude halten. Hie und da zeigte sich im allgegenwärtigen Grün ja auch wirklich etwas Grau. Ruinenstadt blieb eben Ruinenstadt, und da bildete auch Indraewyn keine Ausnahme. Wer nach so langer Zeit immer noch eine ausgedehnte Ansammlung von Prachtbauten erwartete, welchen der Zahn der Zeit nichts anhaben konnte, sah sich jetzt vollkommen enttäuscht. Statt einer blühenden Stadt breitete sich vor den Abenteurern ein Meer von Büschen, Kletterpflanzen und Gräsern aus. Ein Vogel flog vorbei und würdigte die Ansammlung von Menschen, welche da halb verwirrt und halb sich vergeblich der Fliegen erwehrend stand, keines Blickes. Die Zauberer kramten in ihren Gürtel- oder Brusttaschen nach einer Karte, falteten sie dann jeder für sich auseinander und stolzierten hierhin und dahin, um Geländeauffälligkeiten
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mit eingezeichneten Landmarken zu vergleichen. Natürlich zeitigte das wenig Erfolg, und von ihrem Standort aus ließ sich unmöglich entscheiden, welcher dieser überwachsenen Steinhaufen die Bibliothek beherbergte. Auch wollte sich nichts entdecken lassen, was sich auf den Karten ausmachen ließ – und umgekehrt fast noch weniger. »Seid Ihr Euch auch ganz sicher, das sagenhafte Indraewyn vor Euch zu haben?« fragte der beharrliche junge Magier noch einmal. Der Krieger Riwryn bedachte ihn mit einem abfälligen Blick und entgegnete dann: »Während wir den Ort erkunden, sollten wir uns unbedingt an drei Dinge halten: Erstens, wer es für einen pfiffigen Einfall hält, sich von den anderen abzusondern und allein auf große Entdeckung zu gehen, wird aller Wahrscheinlichkeit nach seine Gefährten niemals wiedersehen und irgendwann früher oder später von diesen irgendwo aufgefunden werden. Zweitens, wir brauchen am allerdringendsten Trinkwasser. Also halten wir auch danach Ausschau. Drittens, wir suchen ebenfalls einen Unterschlupf für die Nacht, welcher sich gut verteidigen lässt. Die Auffindung irgendwelcher Bücherberge stellt für uns im Moment eine durchaus vernachlässigbare Größe dar.« »Erkunden? Was meint Ihr denn damit?« fragte einer der Zauberer in ehrlicher Verwunderung. »Wie sollen wir das denn anfangen?« »Zieht Euer Messer, Euer Schwert oder was auch immer, stellt Euch an einer hübschen Stelle im Grün auf und fangt an, die aufzuhacken und zu beseitigen«, riet ihm einer der Veteranen. »Um welche Stelle es sich dabei handelt und
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wann Ihr mit der Gärtnerarbeit beginnt, erfahrt Ihr von uns. Und nur von uns. Und Ihr sucht Euch auch kein anderes Fleckchen aus. Heute arbeitet Ihr erst einmal mit den anderen zusammen. Ich weiß, dass das für die meisten von euch eine vollkommen neue Erfahrung sein wird. Freut Euch schon drauf.« Die Magier starrten ihn an. Aber dann zogen die ersten von ihnen ihr Messer aus dem Gürtel und stellten sich zu den Rittern. Die berieten bereits miteinander, wo sie beginnen sollten – ein oder zwei größere Steinhügel kamen dafür in Frage – und ob man wirklich zuerst einen Wasserlauf oder kleinen See suchen solle, um von da aus dann auszufächern und ein Plätzchen für die Nacht zu suchen. Wo es nämlich hier Wasser gäbe, würden sich bestimmt auch Raubtiere zum Trinken einstellen. Da wäre es doch klüger, sich erst um das Lager und danach um das köstliche Nass zu kümmern. Einige Magier waren aber noch nicht ganz überzeugt. Sie liefen am Rand der überwachsenen Fläche entlang, spähten immer wieder hinein und schüttelten anschließend den Kopf. Einzelne schlossen sich dann ebenfalls den Recken an. Die Gruppe bewegte sich jetzt geschlossen in die Ruinen, schaute hierhin und dorthin und blieb im Wesentlichen zusammen. »Schaut, wohin ihr tretet«, mahnte Riwryn die Zauberer, welche zu ihnen gekommen waren. »Wir bewegen uns über Steinboden und Steinschutt. Da kann man leicht ausgleiten und sich den Knöchel brechen. Und unversehens auf eine Schlange treten.« »Schlange?« kreischte einer der Magier. »In Ornentar habt
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Ihr aber nichts von Schlangen gesagt!« Der dunkelhaarige Kriegsmann zuckte die Achseln. »Ihr habt doch in einer Kammer voll von diesem Getier gesessen«, erwiderte er trocken. »Da solltet Ihr doch eigentlich an solches Viehzeug gewöhnt sein.« Die Augen des Zauberers blitzten wütend auf, aber weil überall in der Gruppe gekichert und leise geprustet wurde, verzichtete er auf eine Antwort. »Dahinten senkt sich das Land«, vermeldete ein anderer Recke und zeigte zwischen die Bäume. »Da sollte am ehesten Wasser zu finden sein.« Ein dritter Ritter nickte: »Wir sollten uns am besten aufteil...« Ein gellender Angstschrei von rechts unterbrach ihn. »Achtet auf den Untergrund!« rief Riwryn den Magiern zu, während die Krieger ausschwärmten, um Platz zu haben, mit ihren Waffen auszuholen. Einer von den zurückgebliebenen Magiern tauchte jetzt auf der Kuppe eines grünen Hügels auf und rannte um sein Leben. Natürlich blieb er irgendwo hängen, fiel mit einem Panikschrei aufs Gesicht, rutschte ein Stück weit nach unten, drehte sich aber und krabbelte auf allen vieren weiter. Dann tauchte hinter ihm ein riesiger Bär auf, der die gelblichen Zähne fletschte. Als er die Gruppe Menschen erblickte, stieß er einen gewaltigen Siegesschrei aus, fiel auf die Vordertatzen und stürmte den Hang herab. Dass er dabei den kreischenden Magier über den Haufen rannte, brachte ihn nicht im Mindesten aus der Fassung, ja, ließ ihn nicht einmal innehalten. »Lasst den Bären in die Mitte«, befahl Riwryn. »Dann umzingeln wir ihn. Wenn er einen
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von euch angreift, weicht ihr zur Seite aus. Aber als Erstes schaut ihr immer auf den Boden, und erst als Zweites auf den Bären!« Kaum war der Warnruf des Ritters verklungen, konnte man einen anderen Krieger etwas zu laut murmeln hören: »Bei der Dreiheit, was sind Magier blöde ...« »Beim Dunklen!« erregte sich der Zauberer Huldaerus. »Hört endlich auf mit Eurem Gezeter und Geschrei. Alle auf die Seite, mir Platz gemacht!« Er zog etwas aus seinem Gürtel, hielt das hoch und sprach rasch einen Zauber. Was immer der Magier auch in die Hand genommen haben mochte, verging zu schwarzem Pulver, welches ihm zwischen den Fingern herabrieselte. Eine Brise trug den Staub davon ... Und aus seiner anderen Hand löste sich ein Blitz, welcher dem Bären mitten in die Brust fuhr. Das Prasseln von schwarzem Feuer und das Geschrei des Ungeheuers vermengten sich zu furchtbarem Gelärme. Der Bär taumelte noch ein paar Schritte weit, zuckte dann am ganzen Leib zusammen und krachte zu Boden. Sein ganzer Körper schwärzte sich, denn überall in seinem Fell züngelten Flammen. Die Kriegsmänner schauten erst genau hin und bildeten dann einen Kreis um die verendete Bestie, welcher sie dabei den Rücken zukehrten. Nun kam auch der Zauberer herangekrochen, welcher überhaupt erst den Bären angelockt hatte. Er schrie vor Begeisterung und Erleichterung, als sei er es gewesen, welcher den Riesen erlegt hatte. Der Mann krabbelte den Hang wieder hinauf, welchen er vorhin noch so wenig nachahmenswert
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hinuntergekullert war, Als der unglückliche Zauberer dastand und einen Blick auf den unzweifelhaft toten Feind warf, nutzte er die Gelegenheit, sein gelbes Gewand zu richten und von Gräsern, Erdbröckchen und anderem zu reinigen. Huldaerus und Nynter von den Neun Dolchen tauschten säuerliche Blicke aus. »Allem Anschein nach verlaufen Abenteuer nicht immer so glanzvoll«, bemerkte Ersterer, »wie es uns die Barden am Kaminfeuer Glauben machen wollen.« Der andere wollte gerade etwas ähnlich Geistreiches antworten, als neues Gebrüll ihn nicht zu Wort kommen ließ. Die beiden Magier fuhren herum und bekamen gerade noch zu sehen, wie der Gefährte der Bärin – denn eine solche hatte sie angegriffen – dem Zauberer in dem gelben Gewand mit einem einzigen Prankenhieb den Kopf vom Rumpf trennte. Na ja, ein gewisser unappetitlicher Rest blieb auf den Schultern des Mannes zurück, weil der Bär in seiner Wut schlecht gezielt hatte. Nynter zog etwas aus seinem Gürtel, blies darauf, murmelte etwas vor sich hin und warf es dann auf den Bären. Das Wurfgeschoß schrumpfte zu einem Nichts zusammen, und die beiden würdigen Altzauberer wandten sich wieder ihrem Gespräch zu. »Glanzvoll, nein, gewiss nicht«, kam Nynter nun endlich zu seiner Entgegnung, »aber mitunter doch ein wenig aufregend.« Hinter ihnen explodierte der zweite Angreifer, und seine Fetzen bedeckten die Bäume in weitem Umkreis. »Hm, heute Abend gibt es sicher Bäreneintopf!« Huldaerus leckte sich über die Lippen, und ein Krieger ganz in der Nähe beugte sich vor und übergab sich.
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Schweigende Diener geleiteten Markoun Yarynd in eine Kammer, welche er hier auf der Burg noch nie betreten hatte. Der edel getäfelte Raum erstreckte sich länglich vor ihm. An den Wänden waren Anrichten angebracht, und auf der Mittelachse befand sich ein Tisch, welcher beinahe länger als der Saal selbst wirkte. Am Ende der Tafel saß Baron Silberbaum und hatte gerade seinen Kelch gehoben. Platten mit allerlei dampfenden Speisen bedeckten vor ihm den Tisch, ein Wald von Flaschen lag wie in einem Eisgraben in seiner Reichweite, und zu seiner Rechten befand sich ein noch leeres Tranchierbrett. »Seid mir willkommen!« rief der Fürst gut gelaunt. »Setzt Euch zu mir und esst, mein Lieblingsmagier!« Markoun kannte seinen Herrn gut genug, um zu wissen, dass man bei solchen Einladungen nicht zögern durfte. »Seid bedankt, Euer Hoheit«, entgegnete er mit breitem Lächeln und ließ sich hinter dem freien Gedeck nieder. Kaum saß der Zauberer, reichte Faerod Silberbaum ihm schon eine Platte. Für eine Weile speisten die beiden schweigend, bis der Baron sich, wiederum mit erhobenem Kelch, zurücklehnte und sprach: »Ich bin sehr zufrieden mit dem Ablauf Eures Plans. Da drängt sich mir auch die Frage auf, ob Ihr Euch über ... über diese Angelegenheit mit meiner Tochter auch noch weitergehende Gedanken gemacht habt.« Bislang hatte Markoun sich lediglich von dem Gedanken treiben lassen, den Baron bei Laune zu halten und daran zu hindern, in furchtbare Wut zu geraten und die sofortige Hinrichtung seiner gesamten Umgebung zu befehlen. Um solche Einfallslosigkeit verborgen zu halten, nahm der
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Magier rasch einen Schluck Wein, lehnte sich ebenfalls zurück und antwortete dann: »Euer Hoheit, Zauberer neigen dazu, sich bei jeder Gelegenheit ihrer Lieblingstaktik zu bedienen. Was sich einmal bewährt hat, wird auch beim zweiten Mal zum Erfolg führen. Oder wie es so schön in dem Sprichwort heißt: ›Für einen Pferdezüchter sind alle Tiere Pferde.‹« Er nickte in sich hinein. Aber nur für einen Moment, denn nun wurde es höchste Zeit, den Fürsten nicht länger mit Sprüchen hinzuhalten. »Ich aber pflege Pläne erst dann zu schmieden, wenn ich mich ausreichend kundig gemacht habe. Insbesondere beschäftigt mich die Frage, wer diese beiden Männer sind, welche auf unsere schöne Insel gekommen und mit Eurer Tochter abgezogen sind. Welcher Zweck steht hinter einer solchen Entführung? Wie weit sind sie bereits gekommen, und wohin wollen sie? Solche und ähnliche Fragen möchte ich erst beantwortet sehen, ehe ich daran gehe, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, wie man am günstigsten gegen solche Leute vorgeht.« Der Baron nickte dazu. »Das hört sich weise an. Und wie stellt Ihr es denn nun an, auf solche Fragen Antworten zu erhalten?« »Indem ich die Kristallkugel befrage und ins SilberbaumHaus schaue. Nachdem meine Kollegen sich zum Schlaf zurückgezogen hatten, habe ich mir die Freiheit genommen, mir in Eurer Bibliothek anzusehen, mit welchen Schutz- und Abwehrzaubern jenes Gebäude bestückt ist. Die sind in ihrer Mehrzahl niemals verzeichnet worden, oder die entsprechenden Unterlagen sind im Lauf der vielen
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Jahre verloren gegangen. Aber einiges lässt sich doch noch finden. Da ist zum Beispiel die Rede von einem Spähzauber. Dabei handelt es sich um einen Bann, mit dem man um die Schutz- und Abwehrzauber herumkommt, ohne sie zu beschädigen oder zu beeinträchtigen, und sich alles anschauen kann, was sich gerade in dem Haus tut. Euer Einverständnis vorausgesetzt, würde ich diesen Zauber benutzen, um mehr zu erfahren. Selbstredend vermag ich ihn so einzustellen, dass wir beide zuschauen können.« »Dann nur zu, wenn ich bitten darf«, erklärte der Baron seinem jüngsten Magier, aber mit so ausgesucht freundlicher Stimme, dass es Markoun heiß und kalt den Rücken hinunterlief. Er ahnte, dass er seinem Herrn zu Willen sein musste, denn andernfalls wäre es um ihn geschehen. Der Zauberer schob zwei Teller beiseite und wirkte den Bann. Dabei ging er gründlich vor und verzichtete auf alles Schaugehabe. Ein Oval aus wirbelnden Farben erschien, schwebte einige Fingerbreit über dem Tisch und erinnerte an einen bewölkten Spiegel. Yarynd legte eine Hand darüber und eine darunter. Dann sprach er die geheimen Worte, welche er in den Unterlagen in der Bibliothek gelesen hatte. Kurz darauf verzogen sich die Nebel, und sie blickten in einen dunklen, leeren Raum. Der Boden wies einen viereckigen Schacht auf, und in einer Ecke zeigte sich eine offen stehende Tür. »Das ist der Saal innerhalb der Eingangshalle, in welchem ...« begann der Zauberer umständlich. »Meine Ritter erschlagen und zerschmettert liegen«, been-
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dete der Baron für ihn den Satz, »und jetzt weiter, bitte.« Markoun räusperte sich und erklärte: »Euer gnädiges Einverständnis vorausgesetzt, Euer Hoheit, ich bewege jetzt das Zauberauge durch die geöffnete Tür dahinten, und dann können wir feststellen, was sich dort tut. Sollte da nichts von Belang zu sehen sein, sind immer noch die Gänge vorhanden, und die nehmen wir uns dann vor.« Der Zauberer zitterte, und Silberbaum gab ihm mit einer freundlichen Geste zu verstehen, mit seinem Vorhaben zu beginnen. In diesem Moment schwebte das Gespenst eines Kriegers mit hohem Helm durch den Saal und verschwand auf der anderen Seite in der Wand. »Huch! Was ...« entfuhr es dem Magier. »Im Schweigenden Haus spukt es. Ich dachte, das sei allgemein bekannt«, winkte der Fürst ab. »Wir wollten, wenn ich mich recht erinnere, durch die offen stehende Tür dort hinten.« »Ja, natürlich, sofort«, stammelte Markoun, presste die Lippen aufeinander, damit kein weiterer Unsinn aus seinem Munde käme, und bewegte das Suchauge. Zunächst ging es um einige Biegungen und dann in einen weiteren Saal mit einer mächtigen Stützsäule in der Mitte. Dazu fand man dort einen Tisch und einen prächtigen Thron vor, welcher allerdings den Eindruck erweckte, eine ganze Horde habe mit ihren Schwertern und anderen Waffen darauf eingehackt. Noch während Fürst und Hexenmeister diesen Anblick betrachteten, öffnete sich eine Wand, und aus dieser Geheimtür trat ein Mann mit einem kurzen und ordentlich getrimmten Bart, einer insgesamt ansprechenden äußeren Er-
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scheinung und abgetragenen Stiefeln, welche ihn als Landstreicher oder Sänger auswiesen. Er hatte braunes Haar, war von mittlerem Alter und blickte ruhig und erhobenen Hauptes drein, mit anderen Worten, bei ihm handelte es sich um einen Freien und keinen Diener. »Kennt Ihr den?« wollte Silberbaum wissen. »Ich habe ihn jedenfalls noch nie gesehen.« »Ich auch nicht, Herr«, antwortete Markoun wahrheitsgemäß. Beide Beobachter verfolgten, wie der Fremde den Raum durchquerte, auf eine andere Wand zustrebte und dort einen Stein berührte. »Bewegt das Auge so, dass wir ihn weiterhin sehen können!« befahl der Baron aufgeregt. »Und natürlich näher heran, damit wir erkennen können, wie er es nun anfängt, die Wand zu öffnen!« »Natürlich, Herr! Sofort, Herr!« beeilte sich Markoun zu gehorchen, fügte dann jedoch leise hinzu: »Aber wenn er den Kopf dreht, wird er das Zauberauge sehen können ...« »Und wenn schon«, erwiderte Silberbaum geistesabwesend. Die zwei sahen gebannt zu, wie der Mann auch an der zweiten Wand eine Geheimtür öffnete. Er trat hindurch – Markoun schickte ihm rasch das Suchauge hinterher – und schloss die Tür hinter sich. Der Fremde schien nicht zu bemerken, dass er beobachtet wurde, und schritt arglos einen langen dunklen Gang entlang und dann eine kleine Treppe hinauf. Oben gelangte er in einen kleinen Raum, in welchem etwas Graues und Gewundenes in der Luft hing. »Eine Energieschleuder«, erklärte der Magier, »und zwar von der mächtigsten Sorte.«
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Der Fremde griff unbeeindruckt in die Fläche hinein, und kein Abwehrzauber strafte ihn dafür. Weder versengten Feuer oder Blitze seinen Körper noch wurde ihm der Arm abgetrennt. Der Fremde zog eine handgroße und fleckige braungraue Steinkugel heraus. Markoun spürte, wie sein Herr sich aufgeregt vorbeugte und ihn dabei offenbar unwissentlich berührte. Der Fremde schien den Stein in der Hand abzuwiegen, gelangte dann offenbar zu einem Entschluss und drehte sich um. Mit einem gehässigen Grinsen schaute er mitten in das Zauberauge. »Er hat uns entdeckt!« rief der Magier. Der Stein in der Hand des Fremden flammte auf, und die ovale Scheibe vor den beiden Männern ging in Flammen auf. Das Feuer fraß den Zauber auf und bedrohte dann auch Markoun. Der Baron stieß sich hastig nach hinten, kippte mit seinem Stuhl hintüber und kroch dann rasch unter den Tisch. Sein Lieblingszauberer schrie dabei wie am Spieß. Sein Haar hatte Feuer gefangen, und er rannte wie eine lebende Fackel auf und ab. Sein Fleisch brutzelte, seine Haare zerfielen zu Asche, eines seiner Augen zerplatzte und spritzte ihm ins Gesicht. Markoun konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten und schrie und schrie und schrie ... Silberbaum hörte in seinem Versteck, wie oben auf dem Tisch seine Flasche auf ihn zurollte. Er drehte sich, so gut es ging, um sie abzufangen, wenn sie den Rand erreichte und herunterfallen wollte.
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»Wie lange laufen wir eigentlich schon?« stöhnte Craer, während sich ein nicht näher zu bestimmendes Gerippe tiefer in die Höhle zurückzog, welche sie gerade durchquerten. Ihre Füße traten immer wieder auf etwas, das wie menschliche Gebeine aussah, und die Gefährten achteten peinlich darauf, nicht in die tintenschwarzen Pfützen zu treten, welche sich überall auf dem Steinboden gebildet hatten. »Fast einen ganzen Tag«, antworteten Sarasper und Hawkril gleichzeitig. Der hünenhafte Ritter duckte sich zum mindestens hundertsten Mal an diesem Tag, weil wieder eine Fledermaus zu nahe an seinem Gesicht vorbeiflog. Dann warf er einen raschen Seitenblick auf Embra und runzelte die Stirn. Hawkril fühlte sich schlecht und leer, weil er der Prinzessin durch den Heiler so viel von seiner Lebenskraft abgegeben hatte. Doch die junge Frau schleppte sich immer noch bleich, schweigend und mit gesenktem Haupt voran. Hatte irgendeine Form von Schwarzer Magie sie befallen und fraß sie von innen auf? Hatte das damit zu tun, dass die Gefährten die Prinzessin aus der Burg entführt hatten, an welche sie mittels Zauberkräften gebunden war? Oder litt sie, eine geborene Silberbaum, an dem Fluch des Hauses, durch dessen Untergeschosse die Vier gerade liefen? Oder hatte etwas ganz anderes sie befallen? Der Krieger legte die Stirn in noch tiefere Falten und spähte unsicher in die Finsternis zur Rechten. Von dort ertönte wieder das Rascheln und Gleiten der unheimlichen Wesen, welche großen Wert darauf zu legen schienen, un-
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sichtbar zu bleiben. Hawkril zog Feinde vor, die ihm mit Reißzähnen, Krallen oder Waffen gegenübertraten, auf welche er sich in der Hitze der Schlacht stürzen konnte ... aber nicht solche leisen Schleicher, bei denen man nicht wusste, wen man vor sich hatte, und die bestimmt mit irgendwelchen magischen Kräften im Bunde standen. Warum zerschmetterte die Dreifaltigkeit nicht alle Zauberer zu Asche, dann wäre Aglirta ein angenehmerer und glücklicherer Ort! Wieder fuhr sein Blick zu der Prinzessin hinüber. Na gut, nicht gleich alle Zauberer, eine Ausnahme durfte es ruhig geben ... Aber nein, was sponn er sich denn da zusammen. Wenn Embra die einzige Magierin der Welt wäre, zu was für einer Tyrannin würde sie sich dann entwickeln? Der Krieger stapfte weiter voran, und seine Laune verschlechterte sich mit jedem Schritt. »Was stinkt denn hier so?« rümpfte die junge Silberbaum die Nase. Ihre Stimme klang rau, weil sie die schon seit Stunden nicht mehr benutzt hatte. »Abwässer«, antwortete Craer ohne weitere Erklärung. »Wir müssen uns unmittelbar unter Adeln befinden.« »Essen!« rief der Hüne sofort, und mehrere Mägen machten sich gleich knurrend bemerkbar. Die vier Gefährten sahen sich an und grinsten. »Wir müssen uns verkleiden«, mahnte der Heiler. »Nicht sofort, aber bevor wir uns nach oben und wieder unter Menschen begeben.« »Und sobald wir wieder oben sind«, mahnte auch Craer,
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»bilden wir anderen einen Ring um den Sack, welchen Hawkril auf dem Rücken trägt. Die Bücher braucht niemand zu sehen, und von den Goldstücken können wir auch keines entbehren. Die reichen, wenn ich richtig gerechnet habe, gerade so eben als Reisekasse.« »Möge die Dreifaltigkeit uns beistehen!« rief Embra in gespieltem Erstaunen. »Er kann rechnen?« Die drei anderen sahen sich an und grinsten ... und dann noch einmal, als Hawkril der Prinzessin auf die Schulter klopfte und so tat, als würde er sie ernsthaft tadeln: »Hoheit, wenn Ihr mit uns reisen wollt, muss ich darauf bestehen, dass Ihr mir nicht meine Witze klaut!« Embra lächelte säuerlich und sang dann: »Ach ihr Hörner der Herrin, unter einen blauen Himmel mich führt, wo Luft ich atmen, Wein ich trinken und Köstliches ich speisen kann!« »Da fällt mir nur Eure Kemenate auf Burg Silberbaum ein«, schlug Craer mit Unschuldsmiene vor ... und musste feststellen, dass die junge Frau immer noch über genügend Kräfte verfügte, um ihn in die Rippen zu boxen. Sie marschierten weiter, und der Weg wurde immer feuchter – und der Gestank übelkeiterregender. Niemand mit einer Nase im Gesicht konnte jetzt noch daran zweifeln, dass sie den Abwässern sehr nahe gekommen waren. Craer gebot seinen Gefährten Halt und verkündete: »Sieht ganz so aus, als sei der gemütliche Teil der Reise gleich vorbei. Gleich stoßen wir entweder auf ein Gitter oder auf einen Abfallhaufen. Mit anderen Worten: Nach oben.« Er sah die junge Frau an: »Herrin, wenn Ihr Magie wirken wollt, dann wäre die Gelegenheit jetzt günstig.«
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»Ja, man sollte Euer Aussehen wirklich verändern«, meinte die Prinzessin frech und nahm ihre Schüssel in die Hand. Sarasper stellte sich vor die anderen und erklärte mit ernster Miene: »Mädchen, Ihr solltet nicht ganz so verdammt hübsch aussehen, und mir wäre mit etwas weniger Alter gedient. Diesen beiden Schuften da verleiht Ihr ein Bäuchlein oder so. Wenn sie dicker sind, fällt ihre Größe nicht so auf. Schließlich müssen wir mit Spionen rechnen, welchen man genau aufgetragen hat, nach wem sie Ausschau halten sollen.« Diese Worte ernüchterten sie alle. Embra stellte sich an Hawkrils Sack und holte die Fläschchen und Mittelchen heraus, welche sie für ihre Zauber benötigte. »Wisst ihr, ich mache mir nicht so sehr um die möglichen Spione in Adeln Sorgen«, erklärte die Herrin der Edelsteine, »sondern mehr um die Magier meines Vaters und deren Suchzauber. Sie wissen bestimmt, wohin die unterirdischen Gänge führen. Und wenn nicht, können sie das leicht in der Bibliothek meines Vaters nachschlagen.« Damit trat sie vor Hawkril, weil er gerade als Erster in der Reihe dastand. Leise flüsternd und mit ein wenig SchauAufwand schritt Embra die Gefährten ab. Wenn sie eines ihrer Fläschchen berührte, zersprang das in Scherben und verspritzte Essig auf das Gesicht des Betreffenden. Als die Prinzessin fertig war, zerfiel ihre Schüssel zu Rost. Sie betrachtete kurz die Trümmer und meinte dann zu dem Ritter: »Dieser Zauber verändert Euch nur in den Augen Eurer Umgebung, aber nicht wirklich. Deswegen seid gewarnt und lasst Euch nicht auf ein Abenteuer ein, denn lüsterne Hände spüren den Unterschied sofort.« »Wie?« entgegnete Hawkril. »Hattet Ihr denn solches für
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Eure Person vor?« Seine gespielte Empörung klang etwas zu laut, als habe Embra ihm mit ihren Worten doch einen Schrecken eingejagt. Die Zauberin bedachte ihn zur Antwort nur mit einem giftigen Blick. Als sie sich zum Nächsten begab, zitterte sie vor Erschöpfung, und das löste bei ihren Gefährten große Besorgnis aus. »Hoheit –« begann Craer vorsichtig, aber sie winkte so entschieden ab, als schickte sie einen Diener fort. »Mit mir ist alles in Ordnung, und gleich geht es mir bestimmt wieder besser. Ich muss nur etwas essen ...« »Ganz in der Nähe kenne ich ein Gasthaus«, lächelte der Beschaffer. »Warum wundert es mich nicht, das von Euch zu hören«, entgegnete die Prinzessin und zog eine Augenbraue hoch. »Würde es Euch sehr viel ausmachen, wenn wir uns nach einem anderen Gasthof umschauten? Am liebsten nach einem, wo ich mich nicht ausziehen und auf dem Tisch tanzen muss.« »Wie, solche Schänken soll es in Adeln geben?« rief Craer in höchstem Erstaunen, aber grinsend. »Hawkril, habt Ihr je von so etwas gehört?« »Nein«, grollte der Kriegsmann, »aber die Edle hat Recht. Wenn jemand auf meinem Tisch tanzt, nimmt er mir mit seinen Füßen viel von dem Platz, auf welchem ich meine Speisenfolge ausbreiten könnte.« »Also, Beschaffer«, forderte die Zauberin ihn auf, »könnt Ihr uns zu etwas führen, das nicht einem Sündenpfuhl gleicht?« »Herrin, Ihr beschämt mich. Glaubt Ihr denn, ich denke
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nur an das eine? Niemals besudeln solche Bilder meine reinen und gottesfürchtigen Gedanken!« »Hat er wirklich schon mal einen einzigen reinen und gottesfürchtigen Gedanken gehabt?« erkundigte sich Sarasper bei Hawkril. Der Krieger schnaubte. »Aber ja doch. Bei einer Wirtshausschlägerei hat er den einem Priester abgenommen. Dabei ist dieser Gedanke wie eine Dörrpflaume zusammengeschrumpft, und den trägt Craer jetzt immer bei sich und holt ihn gern dann heraus, wenn er junge Damen beeindrucken will. Aber bei allem, was recht ist, sehe ich richtig, wir haben ja eine junge Dame in unserer Gesellschaft!« »Aber, aber, Schwertmeister, das ist doch keine Dame, sondern eine Zauberin.« Embra verzog das Gesicht. »Ich finde das nicht komisch.« »Ach, Herrin«, versuchte Sarasper, sie aufzumuntern, »habt Ihr denn jemals etwas Komisches aus dem Munde dieser Schufte gehört? Lasst ihr Geplapper einfach von Euch abprallen, und Ihr stellt leicht fest, dass die Zeit so viel schneller vergeht.« Craer verdrehte die Augen: »Geruhen Hochwohlgeboren eins, zwei und drei gnädigst, den Weg fortzusetzen?« Nachdem alle genickt hatten, führte er sie einen glitschigen Weg hinauf – mitten hinein in unsägliche Gerüche, faulige Abfälle, menschliche Ausscheidungen und Knochen. »Sehet, meine Freunde, eine Müllkippe«, erklärte er seinen Gefährten, als handele es sich dabei um eine gefeierte Sehenswürdigkeit – nun ja, dieser Ort konnte einem schon den Atem nehmen. »Wenn ich die fünf Straßen von Adeln noch in der richti-
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gen Reihenfolge im Kopf habe«, fuhr er dann fort, »müsste unser gewünschter Gasthof rechts hinunter und dort stehen.« Der Beschaffer hatte vierzig oder mehr Straßen und Gassen in Adeln einfach unterschlagen, aber was die Schänke anging, hatte er vollkommen Recht. Im »Ring von Adeln« herrschten Hitze, Gelärme und Überfüllung. Hier roch es nach eng beieinander stehenden ungewaschenen Leibern, verschüttetem Bier und anderem, was auf dem Boden gelandet war. Die Gefährten konnten leicht einen Eindruck davon gewinnen, wie sehr ihnen der Magen knurrte, als sie nämlich mit großem Hunger vier Teller mit miserablen Fleischplätzchen und einem Matsch aus Eier-und-Gemüse-Auflauf, der in scharfer Soße ertrank, verschlangen. Das Bier roch wie Abwässer, war sehr dünn und schmeckte ziemlich sauer. Aber nach sieben Krügen bekam man das nicht mehr so sehr mit. Die Menschen drängten sich hier Schulter an Schulter, und der Lärm von ihrem Schwatzen und derben Gelächter war ohrenbetäubend. Mehrere Male wurde ein Tisch umgestoßen, und ständig flogen irgendwo die Fäuste. Die vier Gefährten blieben jedoch an ihrem Ecktisch und beschränkten sich darauf, ganz gelassen zu tun, sich aber heimlich sehr genau umzusehen und umzuhören. Die meisten Gespräche, welche sie aufschnappten, drehten sich um die Streitigkeiten zwischen den Fürsten und den Krieg, der vermutlich bald im Tal ausbrechen würde. Jemand aus Tersept habe öffentlich auf alle seine Ansprüche auf seine Burg verzichtet und sei mit einem Schiff nach Sirlptar abgefahren. An mehreren Stellen habe man Zauberer
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dabei beobachten können, wie sie Waldwege und Brunnen einer genaueren Prüfung unterzogen. Auch gab es im ganzen Tal wohl keinen Pass, über den nicht alle paar Stunden Streifen Bewaffneter ritten. Irgendwann viel später, die Gefährten hatten jeder bereits ihren achten Krug Bier vor sich, rülpste die Prinzessin hinter vorgehaltener Hand, schob das Dutzend Kupferringe – ihr Wechselgeld vom letzten Goldfalken – vor sich zu verschiedenen Mustern zusammen und fragte sich, ob sie ihr Bier austrinken und sich anschließend übergeben sollte ... oder ob sie den Krug einem ihrer Freunde hinstellen sollte, wobei ihr dann nur eine Weile schlecht sein würde ... Die dummen Ringe wollten nicht auf der Kante stehen, erkannte Embra nach dem dritten gescheiterten Versuch. Ihre Finger zitterten nur ein wenig, eigentlich sehr wenig, wenn man die Biermenge in Betracht zog, welche die junge Frau sich schon einverleibt hatte ... ... als sich unvermittelt Schweigen im Schankraum ausbreitete. Die vier Abwässerbezwinger hoben aufgeschreckt den Kopf und erblickten blank polierte Helme, welche sich durch die Menge schoben, die ihnen bereitwillig Platz machte. Kurz darauf zeigten sich darunter ebenso glänzende Brustplatten mit dem Wappen von Adeln: der Flamme und den gekreuzten goldenen Schwertern. Ein unter anderen Umständen sicher prächtiger Anblick, unter den Helmen zeigten sich schlachterprobte Gesichter mit einem breiten, aber dennoch unfreundlichen Lächeln. Zwei oder drei dieser Gepanzerten überragten sogar Hawkril. »Sehet! Brave Bürger von Adeln, welche ihre glühende
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Liebe zu unserem gnädigen Herrn dadurch beweisen, dass sie mitsamt ihren Waffen in unsere schöne Stadt gekommen sind, um zu den Soldaten zu gehen.« Dies sprach der größte unter den Kriegern in freundlichem Tonfall. Er trug einen gewaltigen Schnurrbart, welcher aber so fettig aussah wie die Schürze eines Beinhauers. »Auf, ihr jungen Burschen, und bringt die Maid dort gleich mit. Vier Goldfalken sollt ihr bekommen, und eine Kaserne, in welcher ihr die auch ausgeben könnt. Noch heute Abend sollt ihr euer neues Zuhause kennen lernen.« Die Gefährten hörten zwar das Rasseln der Handschellen in seiner Linken, aber sie konnten dennoch nicht den Blick von dem spitzen Dolch in seiner Rechten wenden. Die Werber verstanden sich offensichtlich auf ihre Arbeit. Noch ehe Craer und Hawkril blinzeln konnten, drückten sich ihnen bereits Messerspitzen in den Hals. Und hinter den Ohren warteten weitere Dolchgriffe, um ihnen, nur zur Sicherheit und nur im Bedarfsfall, ein paar Beulen am Hinterkopf zu verpassen. Doch als die Gefährten sich nicht zur Wehr setzten und die Werber trotzdem ihre Dolche weder mit der Spitze noch mit dem anderen Ende entfernten, lag der Verdacht nahe, dass sie sich mit diesen Fremden auf deren Kosten vergnügen wollten – oder ganz einfach ein hübsches Bestechungssümmchen erwarteten, um die Vier dann dennoch mit sich zu zerren. Der Anführer mit dem mächtigen Schnauzbart stank nach billigem Eintopf und schalem Bier. Diese Duftmischung konnte die Schöne überreichlich genießen, als der Soldat sich zu ihr vorbeugte, um mehr von dem zu sehen, was der Aus-
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schnitt andeutete. Sein Messer fuhr vor, entweder um die junge Frau zu durchbohren oder aber, um den Ausschnitt so weit zu vertiefen, dass keine Wünsche mehr offen blieben. Hawkril stöhnte, der Soldat hinter ihm machte sich zum Schlag bereit, und Sarasper vollführte mit einer Hand eine rasche Bewegung ... »Ihr habt euch hier versammelt«, erklärte Baron Silberbaum ohne lange Vorrede, »weil ihr meine besten Soldaten seid. Wenn ihr euch auch in der vor euch liegenden kleinen Aufgabe bewährt, dürft ihr euch Hoffnungen auf eine Beförderung, ein schönes Haus, einen Stall voller Pferde oder all das, was ihr euch sonst immer gewünscht habt, machen. Darauf gebe ich euch mein Wort.« Die beiden kräftigen Ritter gaben keinen Mucks von sich und vermieden es auch, einander anzusehen. Der Fürst gab ihnen sein Wort. Sie waren seine besten Soldaten. Und sie wussten, dass sie den Zeitpunkt nicht erleben würden, an welchem er seine Verheißung wahr machen würde ... und das ganz unabhängig davon, ob sie bei der neuen Aufgabe scheiterten oder einen Erfolg erzielten. Wenn diese verdammten Magier nicht gewesen wären, die bei allem und jedem in der Baronie mitzureden hatten (oder sich ungebeten einmischten), hätten die beiden Krieger sich nach ihrer Ankunft in Sirlptar einfach verdrücken können. Doch wenn diese dreimal verfluchten Zauberer nicht gewesen wären, hätten die beiden diese Aufgabe niemals übertragen bekommen. Die Banne, welche man ihnen gerade auferlegt hatte, prickelten unter ihrer Haut. Ein endloses, kraft-
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volles Pochen, das keinerlei Anzeichen der Ermüdung zeigte und den Soldaten wohl auch keine Gelegenheit zum Schlafen geben würde. »Daerentar Jalith und Lharondar Laernsar«, begeisterte sich Silberbaum, »diese Namen wird man im ganzen Fürstentum noch lange hören, und das wahrscheinlich jeden Tag, zumindest so lange, wie wir darauf warten, von euren Erfolgen zu vernehmen. Ihr wisst, an wen ihr euch entlang des Stroms zu wenden habt, wenn ihr einmal Hilfe benötigen solltet. Diese Leute sind auf euer Kommen vorbereitet und haben Anweisung, nichts unversucht zu lassen, um eurem Tun zum nötigen Erfolg zu verhelfen!« Daerentar und Lharondar lächelten dankbar, während sie im Stillen an die kalte Bedrohung in der Stimme des Zaubermeisters Ambelter dachten, als der ihnen Folgendes erklärt hatte: Der ihnen auferlegt Bann bewirke erst einmal gar nichts. Seine Wirkung zeige sich erst dann, wenn ein feindlicher Magier einen Bann gegen sie schleudere, welcher darauf angelegt sei, Zauber und andere Abwehren zu zerschmettern. Oder aber sie die Herrin Embra Silberbaum mit bloßer Hand berührten. Der finstere Blick, mit welchem der Zaubermeister dabei den Magier Markoun bedacht hatte, ließ keinen Zweifel daran offen, wessen Einfall die zweite Möglichkeit gewesen war. Doch da weder der Fürst noch Markoun noch die anderen Anwesenden sich anmerken ließen, ob sie die ungehaltene Miene des Zaubermeisters überhaupt wahrgenommen hatten, hielten es die beiden Krieger für klüger, ebenfalls darüber hinwegzusehen. So erfuhren sie nun aus dem Munde des
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Zaubermeisters, dass die Magier Haare von der Bürste der Prinzessin genommen hätten, um den besonderen Schutzbann mit der Edlen Embra zu verknüpfen. Stolz verwies der Redner auch darauf, dass gewisse »Haken« eingefügt seien, mit deren Hilfe man aus der Ferne Schmerzen zufügen könne – wie zum Beispiel das wirklich unangenehme Blutfeuer. Eine reine Sicherheitsmaßnahme, betonte der Zaubermeister, für den Fall, dass es sich als notwendig erweisen solle, abgekommene Ritter auf den rechten Weg zurückzuführen. Spätestens jetzt erkannten die beiden Krieger, dass der Baron weder Kosten noch Mühen gescheut hatte. »Zuerst begebt ihr euch nach Sirlptar«, erklärte Silberbaum jetzt. »Erfahrungsgemäß laufen Flüchtlinge und andere Verbrecher immer zuerst in jenes Land an der Küste. Sie scheinen sich dabei dem Glauben hinzugeben, sich im dortigen Gewimmel vor uns verbergen zu können. Aber so groß ist das Land gar nicht, wie ihr feststellen werdet. Haltet nach den Gesuchten Ausschau, sie dürfen kein Schiff besteigen, ohne dass ihr etwas davon mitbekommt!« »Vier Falken und die Kaserne? Also, ich glaube nicht, dass das reichen dürfte«, entgegnete Embra mit schnurrender Stimme und sah den Werber von unten mit großen Augen an. Der starrte wütend zurück und spähte die Maid an, ob sie irgendwo eine Waffe verborgen hielte. Aber nein, sie schüttelte nur ein paar Kupfermünzen in der Hand. Dann breitete sich unter dem verklebten Schnauzer ein lüsternes Grinsen aus. »Habe ich das richtig gehört, Mädchen? Die jungen Burschen hier haben Euch noch nicht gereicht?«
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»Seht auf meine Hand«, forderte sie ihn auf und drehte den Kopf halb weg, um nicht mitten in der Strömrichtung seines schlechten Atems zu stehen, »und sagt mir, was Ihr dort seht.« Langsam hob sie einen Finger nach dem anderen. Vier runde Geldstücke befanden sich darunter, die jedoch keineswegs aus Kupfer bestanden. Sondern aus Silber, und die Prägung zeigte Schilde mit dem Wappen des Fürstengeschlechts von Adeln. »Wir dienen bereits Eurem Herrn«, fügte die junge Frau mit einem süßen Lächeln hinzu. »In seinem Auftrag überbringen wir geheime Botschaften, und ihm flüstern wir alle in Erfahrung gebrachten Geheimnisse zu. Wenn uns jemand bei unserer Arbeit behindern sollte ... oh weia, oh weia ... Für den dürfte der Tod das Ende vieler Qualen bedeuten. Und ich kenne Seine Hoheit persönlich ... Ihr auch?« Der Werber verfärbte sich, bis seine Miene einem harten alten Käse glich. »Oh ... ähem ... arrgh ... ooh ...« »Dachte ich es mir doch«, fuhr Embra freundlich, aber mit Stahl in der Stimme fort. »Und nun trollt Euch, auf der Stelle und ohne Verzögerung. Vielleicht vergesse ich dann, Euch in meinem nächsten Bericht ziemlich weit vorn zu erwähnen.« »Ich ... äh ... nun ...« Der Mann sah sich hilflos nach allen Seiten um. Craer und Hawkril nickten nur, und Sarasper zog die Augenbrauen eine Spur hoch. »Lasst sie los, Männer!« befahl der Werber mit rauer Stimme, wandte sich rasch von dem Tisch ab und malte unmerklich mit seinem Dolchgriff ein Zeichen in die Luft. Nur Craer bekam davon etwas mit und nahm sich fest vor, sich zu gegebener Zeit dieses Zeichens zu erinnern.
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Um weniges später hatten die Männer mit den blank polierten Helmen die Gaststube verlassen, und rings um die Gefährten brach ohrenbetäubender Beifall und Jubel aus. Überall stieß man mit Krügen an, und noch viel mehr Bier tropfte und spritzte auf den schon reichlich getränkten Boden. Der Beschaffer sah die Prinzessin an und rief ihr zu: »Fein gemacht! Wenn wir mal wieder in der Gegend sind, müssen wir diese Schänke unbedingt noch einmal aufsuchen!« Ihre Hoheit aber entgegnete streng: »Erst wenn das Land wieder einen König hat!« Dann legte sie ihm eine Hand auf den Arm und schaute in seinen Krug. »Alles leer, Herrin«, belehrte er sie fröhlich, »aber wenn Ihr noch ein Bier möchtet, nur –« »Nennt mich nicht so, Tölpel!« zischte Embra ihm ins Ohr. »Und nun setzt Ihr ein Lächeln auf, lasst den Blick über die Menge schweifen und betrachtet einen Mann mit langer Nase und Kappe genauer – aber ohne ihn anzusehen!« »Gehört er zu den Männern Eures Vaters?« entgegnete Craer, noch ehe er unauffällig hinschaute. Die Prinzessin lachte zu laut und nickte lebhaft, so als habe sie gerade einen urkomischen Witz gehört. Dann erklärte sie aus dem Mundwinkel: »Er sieht uns schon die ganze Zeit merkwürdig an, so als sei er sich noch nicht recht schlüssig, ob wir diejenigen sind, nach welchen er ausschauen soll ... Jetzt öffnet mein Mieder – aber wehe, Ihr greift hinein, dann schnitze ich Euch mit meinem Messer eine neue Nase –, und schüttet mir den Inhalt meines Krugs über den Busen. Vermutlich wird der Spion mich dann nicht mehr für eine vornehme Dame halten und sich anderen zuwenden.
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Sagt Hawkril, er soll eine Schlägerei anzetteln und sich dabei den Burschen vorknöpfen. Den wirft er dann in den Fluss, soll ihn aber nicht töten. Und Obacht, soviel ich weiß, trägt der Spion eine Menge Messer bei sich.« Der Beschaffer sah sie mit belustigtem Grinsen an und meinte: »Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie gern ich Euren Vorschlag in die Tat umsetze.« »O doch«, murmelte sie, lachte dann so schrill, dass Craer zusammenfuhr, kniff ihn herzhaft in die Wange und raunte: »Das kann ich mir lebhaft vorstellen!« »Vielfinger!« grollte Hawkril, als er mit ansehen musste, wie sein Freund sich anschickte, über die Prinzessin herzufallen, »seid Ihr von Sinnen?« Er sagte nichts mehr, weil Embra ihn unter dem Tisch gegen das Schienbein trat. Einen Moment später lachte Sarasper so laut, dass es nicht unbemerkt bleiben konnte. Dabei zischte er dem Ritter zu, was er von den Anweisungen der Prinzessin belauscht hatte. Hawkrils Miene verdüsterte sich merklich, und er entgegnete: »Ich soll ihn aber nicht auch noch mit Samthandschuhen anfassen, oder?« Der Heiler verbeugte sich in großer Geste vor ihm. »Ich habe vollstes Vertrauen in Eure begnadeten Fähigkeiten, werter Freund.« »Warum wundert es mich nicht, eine solche Antwort zu bekommen?« knurrte der Schwertkämpfer. »Werft nicht gleich den Tisch um«, mahnte die Prinzessin. Als der Ritter sich erhob, wirkte er wie ein Berg auf Wanderschaft. Bevor er sich ans Werk machte, warf er ihr einen bösen Blick zu. Die Tochter des Barons lächelte dazu nur zuckersüß und
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streckte ihm die Zunge heraus. Am Ende der Nacht schienen sich die Warnungen des Heilers zu bewahrheiten. Die Gefährten hatten sich des Spions entledigt, einige Male die Kneipe gewechselt und einige Diebe eines Besseren belehrt. Als die Dämmerung den Himmel im Osten etwas heller färbte, fanden die Vier sich im Hafen wieder, genauer gesagt an den Docks, wo sie von einem Dutzend oder mehr teils schwer angetrunkener adelnanischer Soldaten erwartet wurden. »Was, meint Ihr, hat unser allzu neugieriger Freund von vorhin diesen Kriegsmännern hier erzählt, dass sie so wütend auf uns sind?« fragte Craer leise die Prinzessin. Die Soldaten rückten jetzt an und schwangen Waffen und abgebrochene Tischbeine. Vor seinen Freunden hatte Hawkril Stellung bezogen. Er brummte böse wie ein Bär und wich nur widerwillig Schritt um Schritt zurück, um auf den jeden Moment erfolgenden Angriff vorbereitet zu sein. »Sorgt Ihr nur dafür, dass ich wach und unverletzt bleibe«, flüsterte Embra zur Antwort, »sonst könnte es sein, dass unsere Tarnungen zusammenbrechen.« Damit zog sie die letzte alte Weinflasche aus Hawkrils Sack, bewegte in unglaublich schnellen und kniffligen Bewegungen die Finger darüber und verengte die Augen zu Schlitzen. Im nächsten Moment schrien die Adelnaner im Chor, weil ihre ledernen Hosen allesamt in hellen Flammen standen. Der Gestank von verbranntem Haar und der Donner von wie wahnsinnig hüpfenden Stiefeln füllten die Luft.
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Dann kam der erste Krieger auf die einzig rettende Idee und sprang, ohne sein Brüllen einzustellen, in das eiskalte Wasser des Hafens. Die anderen folgten rasch seinem Beispiel. »Dieser Spion hat uns verdammt genau beobachtet«, meinte Sarasper, als die Gefährten die Straße in Richtung »Nurweg-von-hier« hinunterliefen. »Wir sollten uns hier keinen Moment länger blicken lassen.« »Ich möchte noch ein paar Nahrungsmittel kaufen, bevor wir über das Land ziehen«, wandte Hawkril rasch ein. »Ja, und auch Wein!« rief Craer. Die Prinzessin schüttelte den Kopf. »Ihr habt doch selbst gehört, wie viel hier über einen neuen Krieg geredet wird.« Wenn sie es recht bedachten, hatte man sich in keiner Schänke über etwas anderes aufgeregt. Allgemein herrschte die Meinung vor, dass sämtliche Barone sich bereits zu dem Waffengang rüsteten. Eine bewaffnete Auseinandersetzung hing schwer in der Luft, aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt mochte niemand sagen, wann und wo die Waffen sprechen würden. »Ich möchte nicht über ein Feldlager stolpern und mich unversehens mit einigen Hundert Soldaten oder mehr herumschlagen müssen«, erklärte Embra. »Oder mir am Ende die Hände abschlagen, die Zunge herausreißen oder mir die Augen blenden lassen.« Säuerlich fügte die junge Frau hinzu: »Schließlich bin ich Zauberin, und ihr wisst ja, wie man mit feindlichen Magiern verfährt ... Vielleicht wäre es für uns am günstigsten, uns für eine Weile außerhalb von Aglirta aufzuhalten.« »Was?« erregte sich der Heiler. »Einer oder mehr Dwaerindim müssen hier sein. Im Silberbaum-Haus habe ich sie ziem-
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lich deutlich gespürt. Ihr seid es mir schuldig, denn ihr alle drei habt es mir versprochen. Ich muss die Steine möglichst bald finden und darf mich nicht von ihnen entfernen!« »Dann sollten wir uns vielleicht nach Sirlptar begeben«, schlug Craer vor und schob sich zwischen den Alten und die Junge. Er strahlte sie in seiner unwiderstehlichen Art an und fuhr fort: »Dort treffen wir auf keinen Fürsten, welcher in uns vor allem eine willkommene Verstärkung seiner Streitkräfte sieht. Dort befinden wir uns abseits von allem Kampfgeschehen, sind aber nicht völlig jenseits von gut und böse.« Der Beschaffer verzog jetzt das Gesicht zu einem listigen Grinsen. »Und wenn Embras so überaus fürsorglicher Vater uns wirklich Spione, Zauberer und Soldaten auf den Pelz schickt, werden sie uns in dem allgemeinen Gewimmel von Sirlptar niemals aufspüren!« Der Schlangenpriester grinste grimmig, als er sie keuchen hörte. Und ihm tat es die Schlange gleich, welche die Frau gebissen hatte. Die Schlangenanbeterin schwankte nach links und nach rechts, während ihr Busen besonders eindringlich glühte und mit diesem Licht den Priester, die Schlange und sich selbst von unten bestrahlte. Das Feuer brannte diesmal mit besonderer Heftigkeit durch ihr Inneres und betäubte zur gleichen Zeit ihr Fleisch. Hinter dem Priester tauchten jetzt immer mehr vermummte Gestalten auf und schlurften heran. »Diesssesss Gift tötet alle, welssse nissst der Ssslange dienen«, ließ sich der Priester wieder vernehmen. »Erhebt Eusss nun, Ssswessster, und sssliessst
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Eusss unssseren ssständig wachsssenden Reihen an! Nehmt am heiligsssten Gottesssdienssst von gansss Darsssar teil!« Die Götzendienerin wusste bereits, was von ihr verlangt wurde. Sie beugte sich vor und küsste die Schlange auf das schuppige Haupt. Das Grinsen des Priesters wurde fetter. »Die frohe Botsssaft verbreitet sssisss bereitsss«, jubilierte er, und die Schlange zeigte ihre Freude durch ein lang anhaltendes Zischen.
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Acht
Und wieder geht so ziemlich alles schief C Das finden wir nie!« stöhnte Nynter von den Neun Dolchen verzweifelt und zeigte aus dem Bogengang auf die dicht überwachsenen Steinhaufen ringsherum. Die Nacht verbarg sie nun vor den Blicken, aber trotzdem wusste jeder, dass sie hier waren. Warum auch nicht, wo die ganze Schar doch den lieben langen Tag nichts anderes getan hatte, als geduckt herumzulaufen und Ranken und Dornsträucher wegzuhacken. »Wir könnten noch hier sitzen, wenn der Winter hereinbricht, uns von einem leerem Haus zum nächsten vorkämpfen, von einer Ruine zum nächsten Schweinekoben, und hätten immer noch nicht das gefunden, was –« »O nein, so wäre es ganz und gar nicht«, wandte der Magier Phalagh mit grimmiger Miene ein. Er hielt eine Laterne hoch, und deren Licht bestrahlte seine breite Stirn. »Lange vor Wintereinbruch hätten wir schon die ersten Besucher«, erklärte sich der Mann. »Denen stünde Mord im Blick geschrieben, und sie hätten sich bis unter die Arme mit
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Zaubern und Bannen ausgestattet. Wir sind schließlich nicht die Einzigen, welche die Dwaerindim finden wollen. Die Geschichte, welche das alte Klatschmaul Yezund verbreitet hat, muss mittlerweile bis an die Ohren von halb Darsar gedrungen sein. Schaut ständig hinter Euch, sonst holt etwas Harmloses, das Ihr nach flüchtigem Blick für einen einfachen Baum haltet, aus und schlägt Euch mit einer Axt den Schädel ein. Oder schneidet Euch mit einem scharfen Schwert in zwei Teile.« »Sowohl das eine wie auch das andere ist mir schon zugestoßen«, meldete sich Huldaerus zu Wort, der Meister der Fledermäuse. Er trat aus dem Dunkel zu ihnen, hockte sich auf einen Stein und zog die Schnupfkräuterdose aus dem Gewand. »Das war beides nicht angenehm.« Die beiden anderen starrten ihn ungläubig an. Huldaerus bemerkte ihre Blicke, zuckte die Achseln und erklärte: »Gestaltwandel habe ich bei Weslyn von Baerra gelernt. Er vertrat die Ansicht, dass man den Unterricht mit körperlichen Schmerzen würzen müsse, weil der Schüler sich sonst nichts einpräge ... Eine eigenartige Ansicht, welche aber mit verblüffenden Erfolgen aufwarten kann.« Draußen in der Nacht heulte irgendwo weit fort ein Wolf. Die Zauberer spähten dorthin, sahen aber nur schwarze Bäume, welche sich vor dem Sternenhimmel abzeichneten ... Da erhielt der Wolf Antwort, und dieses Heulen erklang schon deutlich näher. Die drei Magier erstarrten, tauschten besorgte Blicke aus und seufzten im Chor. »Höchste Zeit, Wachen aufzustellen«, meinte Phalagh und
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brachte die Laterne wieder an sich. »Ich übernehme die erste Schicht.« »Ja, ganz recht, vier verschrobene Wanderer. Oder überspannte, wenn Euch das lieber ist«, wiederholte Craer, immer noch höchst freundlich. »Wir möchten den Fluss hinab, nach Sirlptar. Und das auf der Stelle und im Schutz der Dunkelheit. Die späte Stunde kann uns dabei nicht weiter beeinträchtigen.« »Das kommt ja überhaupt nicht in Frage«, gab der Bootsführer deutlich unfreundlicher zurück. Seine Augen blickten wütend aus dicken Wülsten heraus und über Hängebacken hinweg. »Ich bin überhaupt nur noch auf und bereit«, erklärte er weiter, »weil spät noch eine Fracht eintreffen soll. Meine Mannschaft hat den ganzen Tag hart geschuftet, und da müsste schon der Schlafende König höchstpersönlich erscheinen ... Mit je einem fetten Beutel Gold in der Hand auf mich zuschreiten, und –« Die Stimme des Flussschiffers erstarb, und seine Augen starrten so groß aus den Höhlen, als wollten sie herausspringen – der Beschaffer hielt ihm nämlich eine Hand, reichlich mit Goldstücken gefüllt, unter die gerötete Adlernase. Der Flusskapitän hielt sogar damit inne, sich beständig an der Unterseite seines Wanstes zu kratzen, wo gekräuseltes Haar und Hosenbänder eine unentwirrbare Verbindung eingegangen waren. »Vielleicht habt Ihr ja in mir einen Gesandten des Schlafenden Königs vor Euch ... ausgestattet mit einer der sagenhaften Geldtaschen des ehemaligen Herrschers ... um eine
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kleine, verschwiegene Bootsfahrt für vier seiner allerbesten Freunde ...« flüsterte Craer sinnlich. »Eine ruhige, romantische Bootsfahrt ... gelenkt von den besten Schiffern auf dem ganzen großen Fluss ...« Der Schiffer vergaß beinahe zu atmen, als der Beschaffer ihm eine zweite, ebenso reich mit Goldstücken gefüllte Hand hinhielt. »Und dieses kleine Entgegenkommen hier mag Euch darüber hinwegtrösten, dass Ihr in diesem Jahr kein Sterbenswörtchen zu irgendwem darüber verliert, eine solche Bootsfahrt gemacht zu haben.« Mit einem Mal konnte der Schiffsmeister noch breiter lächeln als Craer. »Wann wollten Euer Hochwohlgeboren ablegen?« Das Klappern von Pferdehufen und ein schweres Rumpeln kündigten die Ankunft einer Kutsche an. Craer schaute kurz auf das Gefährt und ließ das viele schöne Geld in seiner Gürteltasche verschwinden. »In dem Moment, in welchem die Fracht geladen ist und die Kutschleute wieder verschwunden sind, sollt Ihr jede einzelne dieser Münzen erhalten«, flüsterte der Beschaffer und verschwand in den Schatten, welche von den Bootsaufbauten geworfen wurden. Ein Mann sprang vom Kutschbock und lief nach hinten. Ein anderer stieg umständlich herunter, trat zu dem Flussschiffer, spuckte ins Hafenwasser und sprach: »Die Torfnasen habe uns wieder den falschen Wagen gegeben. Baerlus ist zurückgelaufen, um den richtigen zu besorgen, und ich habe ihn gebeten, noch vier Goldfalken mehr mitzubringen, um Euch für Eure zusätzlichen Mühen zu entschädigen.« Der Flusskapitän grunzte: »So etwas widerfährt Euch nicht
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zum ersten Mal.« Sein Blick wanderte zu den Fässern, welche aneinander gebunden hoch aufgeschichtet die Ladefläche des Wagens bedeckten. »Was sollte an denen da denn falsch sein?« wollte er wissen. »Wie man’s nimmt«, entgegnete der Fuhrmann, hängte seinen Rössern Hafersäcke um und band die Zügel an Dockringen an. »Diese Fässer hier enthalten nämlich Bier, und kein wohl duftendes Badeöl.« »Badeöl? Öl zum Baden?« entfuhr es einem ungläubigen Flussschiffer. »Wer will sich denn in etwas waschen, das klebt und stinkt?« Der Karrenlenker bedachte ihn mit einem breiten Grinsen. Dabei tat sich eine weite Öffnung in seinem bärtigen Gesicht auf und zeigte zwei nicht mehr ganz vollständige Zahnreihen. »Leute, die nicht wissen, wohin mit ihrem Geld.« »Was sind das denn für welche?« »Männer oder Frauen, die von morgens bis abends an nichts anderes als Geld denken, und am nächsten Tag wieder, und wieder ... und wenn sie genug zusammengerafft haben, drehen sie durch. Nach der ständigen Gier setzt ihr Gehirn aus, und dann kommen ihnen immer mehr komische Einfälle. Wie zum Beispiel der, allen anderen unbedingt zeigen zu müssen, wie sagenhaft reich man ist. Und wie fängt man so etwas an? Man schmeißt sein Geld zum Fenster raus und kauft damit die unsinnigsten Dinge. Sachen, die zu erweben uns anderen niemals einfallen würde ... wie zum Beispiel duftendes Badeöl.« Der Flussmeister lachte herzhaft. »Ihr habt ein freches Mundwerk, Jorl.« Der Fuhrmann stolzierte wie ein Stutzer auf und ab, blieb
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dann aber stehen und legte den Kopf schief. »Aha, das muss unser fehlender Wagen sein. Baerlus kann ganz schön laufen, wenn ich es ihm sage.« »Nur so kommt man mit Handlangern zurecht«, bestätigte der Kapitän. »Helft mir doch bitte mit den Leinen. Ja, dort oben kommen sie hin, aufs Dach. Die Frachträume sind natürlich voll, was auch sonst.« »Klar doch«, erklärte Jorl sich bereit. Erst band er die Leinen fest, dann reichte er dem Flussschiffer die großen irdenen Krüge mit dem Öl an. Dieser stapelte die amphorenartigen Gebilde so auf dem Dach, dass kaum mehr als ein halbes Dutzend von ihnen auf der Flussfahrt zerbrechen würden. Baerlus hatte auch das zusätzliche Honorar und dazu zwei Stauer mit schläfrigen Gesichtern mitgebracht. So kam es, dass die beiden Wagen in erstaunlich kurzer Zeit entladen waren und davonrumpelten. Craer wartete, bis die Fuhrwerke um eine Ecke gebogen waren und in der Dunkelheit verschwanden, ehe er seine drei Gefährten an Bord führte. Doch trotz aller Vorsichtsmaßnahmen entging dem Beschaffer, wie Jorl vom Wagen sprang und zurückschlich. Er verbarg sich hinter zwei Frachtkisten und spähte durch eine Lücke zwischen ihnen. Ja, das mussten die vier sein, nach denen er Ausschau halten sollte. Drei Männer und eine Frau mit hochmütigem Gebaren: ein kleiner und wieselflinker Mann, ein wahrer Riese mit einem Schwert und einer in den mittleren Jahren. Das entsprach zwar nicht bis aufs i-Tüpfelchen den Beschreibungen, welche er heute Morgen bekommen hatte, als der Zauberer aus dem Spiegel zu ihm sprach, aber der Fuhr-
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mann war sich dennoch ziemlich sicher. Jorl lächelte in sich hinein. Badeöl, von wegen! Baerlus hatte sich etwas dazuverdienen wollen und eine ganze Flasche billigen Parfüms über die Amphoren ausgeschüttet, welche jetzt auf dem Bootsdach lagerten. In diesen Gefäßen befand sich jedoch lediglich altes Küchen-Öl ... Was für ein Glück, dass er das Quartett entdeckt hatte, bevor das Bier auf den Kahn verladen wurde. Wäre doch jammerschade gewesen, eine so wertvolle Fracht zu verlieren ... Wenn man seinen Kopf und seine Stellung behalten wollte, sollte man schon darauf achten, dass die Kupferringe im Rollen blieben. Jorl war der Hauptlagerverwalter von Baron Silberbaum in Adeln und verantwortlich für einen Reingewinn von zwanzigtausend Goldfalken im letzten Sommer. Und schließlich wurde das Leben nicht billiger, sondern immer teurer. Ein vertrauenswürdiger Flussschiffer und sein Boot zum Beispiel wollten geschmiert werden. Aber na ja, nichts hielt ewig, und auch die schönste Übereinkunft fand irgendwann einmal ihr Ende ... Jorl lächelte wieder. Dieses kleine Wiesel von einem Beschaffer – na ja, eigentlich sah er ja mehr aus wie eine Spinne, auch seine Bewegungen entsprachen irgendwie diesem Bild – schaute sich gerade suchend um, weil er überprüfen wollte, ob niemand etwas davon bemerkt hatte, wie er und seine Gefährten das Boot bestiegen hatten, um sich aus Adeln zu schleichen. Ein schlauer Hund. Aber nicht schlau genug, um den besten Lagerverwalter des Barons zu überlisten. Jorl lächelte breit und zog sich dann
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zurück, um seine eigenen Vorkehrungen zu treffen. Die Wandbehänge in diesem Teil von Burg Silberbaum hatten Klamantel schon immer gefallen. Er winkte zu den immer während erstaunten Zentauren auf seinem Lieblingsbild, zwinkerte der offenherzigen Kurtisane auf dem nächsten Behang zu, begrüßte die Sängerin mit den Runenzeichen auf dem Oberschenkel mit dem üblichen »Hallo, Versucherin!« und setzte so den Weg zu seinen Gemächern fort, wobei er gut gelaunt vor sich hin summte. »Ein kluges Kind, unser Klamantel!« erklärte er der Tür zu seinen Räumlichkeiten, schlüpfte durch das leise Prickeln des Abwehrzaubers, mit welchem er seine Zimmer zu schützen vermochte – selbst gegen einen so mächtigen Bannmeister wie Ambelter. Das vertraute leise Klingeln verriet ihm, dass niemand versucht hatte, hier einzudringen, und solches Wissen versetzte den Jüngling in die allerbeste Stimmung. Er warf den Kopf in den Nacken und lachte laut. Immerhin war es ihm gelungen, eine Wortfolge in die Beschwörung des Abwehrzaubers einzuschmuggeln, welche es ihm allein ermöglichte – jawohl! Ihm ganz allein, nicht einmal Ingryl Ambelter –, die weiteren Spuren dessen zu verfolgen, der mit dem Schild wissentlich oder unwissentlich in Berührung gekommen war. Des klugen Klamantels schlauer Plan beinhaltete auch, dass die Abwehr bei allen Zaubern versagte, welche er selbst aussandte. So könnte der Jüngling auch über den mächtigen Zaubermeister triumphieren, wohingegen der hilflos vor ihm stünde, hockte oder gar läge?
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Jetzt musste er nur noch Ingryl oder den Baron selbst dazu bewegen, dem Abwehrschild zu vertrauen und für sich in Anspruch zu nehmen ... In einer Turmkammer gar nicht so weit von Klamantels Gemächern entfernt fläzte sich Ingryl Ambelter in dem Sessel, welcher für ihn das höchste Vergnügen darstellte. Er hatte es sich so bequem wie möglich gemacht, lächelte leise und las dabei mittels eines eigens entwickelten Zaubers alle noch so geheimen Gedanken des Jünglings. »Ach, was haben wir doch für einen klugen Klamantel«, äffte er den jugendlichen Magier nach und griff nach seinem Glas dunklen Eisweins. Dank seines Spionagebanns bekam er nicht nur alles mit, was der Knabe so trieb oder zu treiben beabsichtigte, sondern hatte auch die Beschwörung des Abschirmzaubers behutsam verändert. Dank dieser Bemühungen konnte er mühelos durch Abwehren schlüpfen und genauso gut wie Klamantel den Spuren aller Abwehrzauberträger folgen. Und wenn Ingryl es nur ein wenig geschickt anstellte, konnte er mit seinem Zauber alles außer Kraft setzen, was der Jüngling durch die Abschirmung zu bewirken versuchen mochte. Weiters war es dem Zaubermeister möglich, allen ihm genehmen Personen zu gestatten, unerkannt durch sämtliche Banne zu kommen, in welche Klamantel seine ganz persönliche Wortwahl eingegeben hatte oder noch eingeben würde. Darunter fielen selbstredend auch des Jünglings eigener Abwehrzauber und die Schutzvorrichtungen vor seinen Räumlichkeiten. Doch in Klamantels Gedanken zu stöbern versprach nur
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selten höchste Unterhaltung. Sein bescheidener geistiger Horizont drehte sich nur um Macht und Beherrschung und darum, Feinde zu zerschmettern und noch mehr Macht zu erlangen. Oft wurde es dem Zaubermeister richtiggehend langweilig, während er den Schemen und blutrünstigen Plänen des Jünglings folgte. Ingryl trank einen ebenso tiefen wie köstlichen Schluck von seinem Eiswein und lächelte dann grimmig. Eines Tages würde es sich bestimmt noch als notwendig erweisen, den Jüngling an die kurze Leine zu nehmen. Doch bis dahin gab es lohnendere und vor allem wichtigere Geister in Aglirta zu besuchen ... Wie zum Beispiel den von Baron Faerod Silberbaum. »Wir sind jetzt schon viel zu lange unterwegs, ohne uns geprügelt oder sonstwie unserer Haut gewehrt zu haben«, knurrte Hawkril und spähte in die gerade erwachende Welt. Hohe Klippen ragten vor ihnen auf, als das Boot die Flussbiegung hinter sich brachte, hinter welcher Adeln nicht mehr zu sehen sein würde. Noch lag dichter Nebel über dem murmelnden Wasser. Craer sah sich ständig um, als rechne er jeden Moment damit, dass ein Dutzend oder mehr Boote voller Ritter des Barons Silberbaum aus dem Dunst auftauchte. Der Fluss strömte recht flott dahin, und das Boot wurde mit erstaunlicher Geschwindigkeit davongetragen. Wenn man einmal von einem einzelnen Besatzungsmitglied absah, welches über dem Steuerruder döste, wirkte der Kahn völlig menschenleer und schien das Segeln durch die letzten Reste der Nacht selbstständig zu besorgen. »Ganz ruhig, Freund, schließlich haben wir es mit Magie
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zu tun«, meinte der Beschaffer, ohne auch nur einen Moment darin innezuhalten, sich nach allen Richtungen umzuschauen. Der Riese bedachte den Gefährten mit einem eigentümlichen Blick. »Ganz recht, Craer«, meinte er dann. »Wie ich sehe, seid Ihr genauso wachsam wie ich.« Der Mann zuckte die Achseln. »Wie bei Euch würde es auch bei mir kaum Trübsal auslösen, wenn eines nicht allzu fernen Abends sämtliche Magier in Darsar ergriffen, zu einem Paket zusammengeschnürt und in den Fluss geworfen würden ... Allerdings dürfte kein einziger Magier übersehen werden. Wenn man nur einen von ihnen nicht fasst, wird der sich zu dem nächsten Tyrannen entwickeln, welcher sich über uns alle aufschwingt. Von denen ist doch einer wie der andere, oder?« »Auf Dauer gesehen und schlussendlich, ja«, stimmte Hawkril zu. »Aber wenn man unmittelbar neben einem steht, vergisst man das vor lauter Anhimmeln mitunter.« »Ist es Euch noch nie widerfahren, dass Ihr sie anhimmelnderweise anschaut«, grinste der Beschaffer und fügte schelmisch hinzu: »Wo sie doch ungefähr Eure Größe hat?« Der Kriegsmann sah ihn finster an. »Immerhin hat sie ihre Zauberfähigkeiten noch nicht dazu missbraucht, Euch ihren Willen aufzuzwingen! Ich werde ihr nie vergessen, dass sie mich wie einen Spielzeugsoldaten auf und ab marschieren ließ. Niemals! Vielleicht kann ich ihr eines Tages vergeben, aber vertrauen wie zum Beispiel einer Schwertschwester, nein, das wird mir nie möglich sein!« »Dabei hat sie doch die Zunge einer Schwertschwester«, grinste Craer, schob die Hände in den Gürtel und hielt aus-
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nahmsweise einmal nicht Ausschau, so als betrachte er lieber etwas aus seinem Gedächtnis. »Das haben sie alle«, brummte der Ritter. »Zumindest verstehen sie sich darauf, einem das weiszumachen. Vielleicht verstehe ich mich aber auch nur gut darauf, sie wütend zu machen.« »Hawkril«, sprach der Beschaffer leise, »wir alle stecken bis zum Hals in der Sache drin. Wenn jemand Schuld daran hat, dann am ehesten ich. Und sei es vor allem aus dem Grund, weil ich mir eingebildet habe, ihre Gewänder seien über und über mit Edelsteinen behangen ... Aber jetzt reiten wir oben auf dem Sturm, und wenn wir abzuspringen versuchen, wird es uns ergehen wie diesem Greifenausbilder – hieß er nicht Landaryn? –, der mitten im Galopp von dem Hengst runterwollte.« »Und sich dabei den Hals gebrochen hat ... Ihr habt ja Recht. Aber gefallen muss mir das alles deswegen noch lange nicht. Wie sollten wir ihren Vater daran hindern, uns in diesem Moment durch sie Angriffszauber entgegenzuschleudern?« Craer zuckte noch einmal die Achseln. »Was könnte ihn davon abhalten, durch mich einen Bann auf Euch zu schicken? Oder durch Euch auf mich? Wir haben nun wirklich nicht genug Zeit, uns auch noch mit so etwas verrückt zu machen ... Die Dreifaltigkeit weiß, dass wir auch so schon mit genug Feinden fertig werden müssen, da können uns die Zauberer und ihre Banne gestohlen bleiben.« »Richtig«, gab Hawkril jetzt zu, »und ich habe die Prinzessin jetzt lange genug erleben können, um zu wissen, dass sie
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nicht heimlich Hass gegen uns pflegt und nur so tut, als sei sie unsere Gefährtin ... um uns an irgendeinen düsteren Ort zu führen und dort in irgendeinem abartigen Ritual zu opfern ... Ja, Ernbra hasst ihren Vater, und sie hat noch nicht genug Lebenserfahrung, um im Ränkeschmieden geübt zu sein oder sich als Abenteurerin bewährt zu haben. Und dennoch, Craer, irgendetwas stimmt nicht mit ihr. So etwas spüre ich immer, das steckt mir im Urin!« »Wartet hier, Anharu«, sprach der Goldene Greif und reichte dem Ritter seinen Schwertgurt mit Scheide und allem. »Ich halte das nicht für klug von Euch, Herr«, mahnte Hawkril, als er die Klinge des Barons entgegennahm und auf die Priesterin starrte, welche unten in der Senke wartete. »Sich unbewaffnet mit Dienerinnen der Götter zu treffen, hat sich noch nie als weise erwiesen, mein getreuer Schwertmann«, entgegnete Fürst Schwarzgult, und in seinen durchdringend blickenden Augen funkelte es. »Doch für Dinge wie Weisheit finde ich in diesen Zeiten weder Gelegenheit noch Verwendung. Deswegen sollte ich es noch einmal mit Kühnheit versuchen. Wartet bitte hier auf mich.« Und damit schritt der Mann, welchen Hawkril mehr liebte und bewunderte als jeden anderen, zur Senke hinunter. Unbewaffnet wie ein zahnloser Löwe begab er sich zu den Unterhandlungen mit den schwer bewaffneten Priesterinnen. Die Helme mit den langen Hörnern, welche die Gottesdienerinnen in den Händen hielten, prasselten und blitzten vor Magie, und überall an ihren schwarzen Lederrüstungen hingen Waffen und Panzerscheiben. Überflüssig zu erwähnen, dass sie alle sechs auch noch ihr Schwert blankgezogen hatten. Der hünenhafte Ritter sah seinem Herrn hinterher und schüttelte
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den Kopf. »Hier stimmt doch etwas nicht«, murmelte Hawkril, obwohl er nur zu gut wusste, worum es hier ging ... Seit über einem Sommer versuchten die Priesterinnen der Scharaden mit offenen Beschwerden und hinterlistigen Ränken den Baron dazu zu zwingen, ihnen mehr Tempelland zu überlassen, ihnen weitere Regalien zu übertragen, aus welchen sie die Einkünfte beziehen konnten, und die allgemeine Pflicht in ganz Schwarzgult einzuführen, ihre Herrin, die Gehörnte Jägerin, als oberste Gottheit anzubeten. Der Fürst hatte sich bereit erklärt, ihre erste Forderung zu erfüllen. Schon deutlich weniger willig hatte er dem ohnehin schon schwerreichen Scharaden-Kult weitere Einnahmequellen überlassen. Aber das dritte Begehren lehnte er entschieden und ein für alle Mal ab. Die Dreiheit sitze über Darsar, und nicht ein Gott oder eine Göttin dürfe an deren Stelle treten. Selbst der Dunkle habe darin mitsamt seinen Krallen, Tentakeln und anderen »Besonderheiten« seinen Platz. Nichts und niemand habe das Recht, daran etwas zu ändern. Die Priesterinnen hatten daraufhin noch mehr gezetert und gedroht, dass sie allein die Wünsche und Bedürfnisse ihrer Göttin kennten. Entweder füge sich der Baron auch in die dritte Forderung, oder er würde als Gottloser verstoßen, dem niemand mehr dienen und für den keiner die Waffe erheben dürfe. Und von keinem göttlichen Wesen würde er jemals wieder einen Segen empfangen. Der Baron hatte dazu nur gemeint, dass die Worte einer Priesterin keineswegs mit denen einer Göttin gleichzusetzen seien. Nicht weniger als ein Dutzend Priester der beiden anderen Glaubensgemeinschaften in Schwarzgult seien mit ihm darin einig, die Forderungen der Jägerin-Priesterinnen auf das Entschiedenste zurückzuweisen. Die Tempeldienerinnen hatten daraufhin auf der Unterredung in
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der Telgil-Senke bestanden, zu welcher der Baron eben auf dem Weg war – allein und unbewaffnet. Schwarzgult hatte sich gleich einverstanden erklärt ... zum Entsetzen seiner Schwertmeister und Kortaharen. Selbst die Priesterin der Gehörnten Jägerin konnten es nicht fassen, hatten sie doch fest damit gerechnet, dass er ein solches Ansinnen brüsk ablehnen würde. (Wer würde sich auch schon freiwillig in eine solche Gefahr begeben?) Dann hätten sie sich auch flussauf und flussab darüber beklagen können, dass der Baron ihren Glauben verachte, und zum Krieg gegen einen solchen Frevler aufrufen können ... Aber nichts dergleichen – jetzt marschierte dieser Löwe von einem Mann festen Schritts der offensichtlichen Gefahr entgegen und ließ seinen getreuen Hawkril in einer inneren Anspannung zurück, welche diesem schlimmer deuchte als die Minuten vor einer Schlacht. Seit sechs Tagen wurde es keinem Schwarzgulter gestattet, die Senke zu betreten. Hawkril hatte davor schon einiges auf sich genommen, um gewisse Vorbereitungen zu treffen. Doch sobald er einmal damit begonnen hatte, hatten ihm einige Höflinge bereitwillig ihre Hilfe angeboten. Natürlich hätte der Schwertmann solche Mühen für überflüssig halten können. Aber irgendein Gefühl in ihm drängte ihn dazu. Ein Baum ganz in der Nähe wippte kurz vor und zurück, ohne dass ein Wind aufgekommen gewesen wäre. Der Ritter nickte ihm unmerklich zu. Das Zeichen sagte ihm, dass die Magier und ein Priester des Vorvaters ihre Stellungen eingenommen hatten ... Während der nächsten Zeit würde sich in der Senke keine Zauberei entwickeln können, weder im Guten noch im Schlechten. Damit blieb der Baron allerdings immer noch allein und unbewaffnet im Angesicht von sechs schwer gerüsteten Priesterinnen. Hawkril sah jetzt, dass sein Herr stehen geblieben war und zu
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den Frauen sprach. Ihre gehörnten Häupter bewegten sich, ihre Leiber regten sich, und ihre Arme reckten sich. Eine ausgesuchte Unverschämtheit, dem Fürsten so offenkundig nicht zuzuhören. Stattdessen tänzelten sie näher, um den Goldenen Greifen zu umzingeln. Aber Schwarzgult lachte nur, rief ihnen etwas zu und drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um die Klinge zu gewahren, welche auf ihn zustieß. Der Fürst schlug sie beiseite und sah schon die nächste, welche nach seinem Blut dürstete. Er ergriff sie und drehte sie seiner Trägerin aus der Hand. Daraufhin hoben alle anderen gleichzeitig die Arme, um den Fürsten mit ihren Bannen zu zerschmettern. Sie sangen die magischen Worte, schrien die Worte immer wütender, schleuderten ihm alles entgegen ... Und nichts tat sich. In ihrer Verwirrung blickten die Priesterinnen so blöde drein, dass man hätte lachen mögen. Zwei der Frauen versuchten es in ihrer Verbohrtheit gleich noch einmal. Der Baron gebot ihnen etwas mit strengen Worten, woraufhin die Priesterinnen Verrat und Hinterhalt schrien; denn der Fürst trug ja noch das Schwert in der Hand, welches er der einen Jagdschwester eben entwunden hatte. Augenblicklich erhoben sich Überall in der Senke braun gewandete Unterpriesterinnen aus Büschen und Sträuchern. Die Gehörnten Oberpriesterinnen zeigten mit ihren Schwertern auf den Baron, zogen sich aus der Kampflinie zurück und überließen es den wilden Weibern, mit ihren Messern den Feind zu umzingeln und niederzumachen. Hawkril hatte schon sein Signalhorn an die Lippen gesetzt und blies lang und laut. Gleichzeitig setzte er sich in Bewegung und
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stürmte so rasch in die Senke hinunter, wie er in seinem ganzen Leben noch nicht gelaufen war. An allen Hängen sah man nun weitere Ritter mit dem Schwarzgult-Wappen auf der Brust Hänge hinuntereilen ... und mit einem Mal sahen sie sich einer Gruppe gepanzerter Priester gegenüber, welche aus Bäumen sprangen oder aus den Büschen stiegen, als welche sie sich getarnt hatten. Bei der Dreifaltigkeit! Die Priesterschaft der Scharaden konnte sich sehen lassen! Hawkril schlug dem Ersten, welcher sich ihm in den Weg stellte, das Horn ins Gesicht, streckte den Zweiten mit einem einzigen Schwerthieb nieder, rannte den Dritten einfach über den Haufen und hieb dem Vierten eine klaffende Wunde in den Hals. Dann hatte er den Ring der Gepanzerten durchbrochen, und er stellte befriedigt fest, dass es ihm überall andere Ritter gleichtaten und dem Baron zu Hilfe eilten. Aber sein Herr befand sich immer noch sechzig bis siebzig Schritte entfernt – wehrte sich inmitten eines Knäuels mordlüsterner Dolchweiber seiner Haut. Der getreue Schwertkämpfer schleuderte die Messer, welche er in langer Reihe an der Brust trug, in dieses Gewimmel von braunen Gewändern, und er sah, wie rechts und links von ihm andere Ritter das Gleiche taten. Jemand hatte daran gedacht, seinen Bogen mitzubringen, zielte auf die Priesterinnen in den gehörnten Helmen und traf mit tödlicher Sicherheit. Hawkril aber fluchte vor sich hin, weil das den Anweisungen des Barons widersprach ... Schon setzte er über einen gewappneten Priester hinweg, der ihm hier auflauerte, rief ihm über die Schulter ein »Auf später!« zu und stürmte mitten hinein in die kreischende Weiberhorde. Mit der einen Faust wehrte er Dolche ab, mit der anderen schlug er
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Priesterinnen und auch sonst jeden nieder, der ihn aufhalten wollte. Nach nur wenigen Atemzügen erreichte er den eng gezogenen Ring um seinen Herrn. Wie von Sinnen schuf er sich mit seinem Schwert durch den braunen Wall Bahn, stach mit dem Messer in der anderen nach allem, was in seine Reichweite kam, brüllte sich die Seele aus dem Leib und unternahm auch sonst alles, um die Aufmerksamkeit der Mörderinnen von dem Baron ab- und auf sich zu lenken. Doch der Fürst sank schon nieder, aus unzähligen Wunden blutend und mit etlichen Dolchen, welche aus seinem Körper ragten. Dennoch hielt Hawkril nicht damit inne, seinen Stahl wieder und wieder niedersausen zu lassen; denn er wollte sich über den Fürsten stellen und ihn so vor weiterem Schaden bewahren. Vielleicht bestand eine Chance, ihn doch noch zu retten ... Zehn oder mehr Ritter hatten das Gewimmel ebenfalls erreicht und hackten sich von allen Seiten einen Weg durch den Ring der Mörderinnen. Doch sie kamen viel zu langsam voran ... Die nächsten vier bis fünf Momente würden alles entscheiden. Hawkril spaltete ein kreischendes Gesicht, welches vor ihm auftauchte, trat einer anderen Eiferin wuchtig in den Bauch und setzte mit kühnem Sprung über das letzte Hindernis hinweg. Dann stand er breitbeinig über seinem Herrn und ließ das Schwert in weitem Bogen kreisen. Mindestens ein Gegner sank, davon getroffen, zu Boden. Rasch griff der Getreue nach dem Fläschchen an seiner Brust. Der Dreifaltigkeit sei Dank, es hing noch dort. Doch die Augen, welche zu ihm hochblickten, trübten sich bereits, und die blutverschmierten Lippen darunter verzogen sich zu einem verlegenen Lächeln: »Ihr hattet ... Recht, Hawkril, aber ... diese ... Erkenntnis ... kommt ... leider ... zu ... spät ...«
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Der Schwertkämpfer schüttelte sich, als wolle er ein Frösteln abwehren, sah sich halb verwirrt um und stellte fest, dass er sich auf einem knarrenden Kahn mitten auf dem Silberfluss befand ... und nicht inmitten eines Gemetzels und massakrierter Priesterinnen ... Manche Erinnerungen hatten auch nach vielen Jahren noch eine ganze eigene lebendige Kraft und brannten in einem. Aber was war das Leben denn mehr als ein großes Feuer von brennenden Erinnerungen? Neben ihm lächelte Craer Delnbein und zuckte die Achseln: »Natürlich stimmt hier etwas nicht, mein Freund. Der mächtigste und grausamste Fürst vom ganzen Gewundenen Fluss will unser habhaft werden und uns töten. Er hat drei ebenso teuflische wie erfahrene Magier hinter uns hergeschickt, um diese Arbeit für ihn zu erledigen. Also, da braucht man wirklich keinen Sänger oder Weisen, um einen darauf hinzuweisen, dass hier etwas nicht stimme.« »Nein, so meine ich das nicht«, beharrte der Ritter. »Silberbaum hat irgendwo eine Falle für uns ausgelegt ...« »Ich halte es für außerordentlich unwahrscheinlich, dass der Schwarze Fürst auch nur einen seiner Finsteren Magier hier in Adeln aufs Spiel setzen wird«, erwiderte der Beschaffer. »Alle Welt tuschelt sich zu, dass es Krieg geben wird. Der hiesige Baron hat genug Bogenschützen, um einen Zauberer zu erledigen ... Und wenn sich hier ein Magier Silberbaums bemerkbar machte, bliebe Adeln überhaupt keine andere Wahl, als seinem Nachbarn den Krieg zu erklären, wenn er nicht im gan-
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zen Land als Schwächling und Feigling dastehen wollte ... Und meint Ihr wirklich, Silberbaum würde zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein Krieg mit Adeln gelegen kommen?« »Nein, jetzt nicht, aber später«, brummte Hawkril zur Antwort. »Aber ich gebe Euch Recht. Jeder Fürst im Flusstal, der nicht sofort mit aller Härte gegen Störungen von außen oder feindliche Kräfte vorgeht, welche die Grenze überschreiten, lüde weitere Eindringlinge geradezu in sein Land ein ... Also wird Silberbaum die Falle erst zuschnappen lassen, wenn wir aus Adeln hinaus sind.« »Mich wundert wirklich, dass Ihr nicht viel mehr Freunde habt«, bemerkte Craer giftig, »wo Ihr doch ständig so viel gute Laune und Zuversicht verbreitet. Aber wenden wir uns lieber ...« Die ganze Welt schien in Donnergetöse unterzugehen, welches aus dem Himmel herabfiel und mitten auf dem Vorderdeck landete. Die beiden Freunde starrten mit offenem Mund auf die herumspringenden Steine, das spritzende Öl und die umhersausenden brennenden Scherben. Nach nur einem Moment erkannten sie, dass hier nicht der Himmel seine Pforten geöffnet hatte. Steine regnete es vielmehr von einer Klippe, welche über den Fluss ragte. Und mehr noch, eine ganze Wolke geballter Zerstörungskraft rumpelte von ihr heran und genau auf zwei Abenteurer zu, welche sich auf dem Vorderdeck von der Sonne verwöhnen ließen. »Sargh!« fluchte Craer und raste schon zur Heckluke. »Himmel, Sargh und Wolkenbruch!« schimpfte auch Hawkril und hätte bei seinem Mühen, unter Deck zu gelangen,
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den kleineren Mann beinahe zertrampelt. Immer dichter prasselten Steine auf das Ruderhaus und die sonstigen Deckaufbauten. Dazu vernahmen die beiden ein helleres Krachen. Die Amphoren zerplatzten unter dem Dauerbeschuss. Ein befremdlicher Geruch erfüllte wenig später die Luft, nämlich der nach altem Küchenfett. Die Luke erwies sich als verschlossen und, wie Hawkrils erstes Ziehen am Ring ergab, auch als von innen verriegelt. Der Hüne knurrte nur und zog mit beiden Händen an dem Ring, bis sein breiter Rücken knackte, die Adern an seinen Armen vorstanden und das Holz sich schon durchbog. Ja, es bog sich, zerbrach aber nicht. Rings um die beiden Abenteurer regnete es Steine, als ginge die ganze Welt unter. Die Geschosse trafen den Ritter so dicht an dicht, bis er nicht mehr an dem Ring ziehen konnte. Er plumpste nach hinten, purzelte die Treppe nach unten hinab und stöhnte vor Schmerzen. Die Steine fielen immer noch, aber nicht mehr auf das Schiff, sondern dahinter in den Fluss. Craer wagte es, den Kopf aus der Deckung zu heben und nach oben zu schauen. Auf der Klippe ließ sich niemand blicken. Sein Blick wanderte nun über das Boot. Das ganze Oberdeck sah aus, als habe man es mit Fett eingerieben. Überall Tonscherben, überall noch mehr Öl und überall noch viel mehr Steine. »Eine ganze Wagenladung«, murmelte Hawkril, kletterte an Deck zurück, stöhnte vor Schmerzen und fasste sich an den Rücken. Craer bewegte sich schon halb schlitternd und halb schlur-
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fend auf die vordere Luke zu. Als er sie erreichte, riss er sie auf und brüllte dem Bootmeister ins überraschte Gesicht: »Hoch mit Euch, auf Deck, solange Ihr noch eines besitzt! Jemand hat es gefallen, eine ganze Wagenladung Geröll auf Euren Ölamphoren auszukippen. An der nächsten Flussbiegung warten wahrscheinlich die Freunde von diesem Jemand, um brennende Fackeln auf uns zu werfen – und dann dürftet Ihr die längste Zeit ein Boot gehabt haben!« Nur der Kapitän und noch keiner aus der Mannschaft hatte es bereits an Deck geschafft, als sie die nächste Flussbiegung erreichten und schon ein Feuerregen auf das Boot niederging. Hawkril, Craer und der Kapitän fluchten viel, aber das half natürlich wenig. Sie brachten sich hinter Tauen und unter Planen in Deckung, während die Brandpfeile heranschwirrten. Hungrig bohrten sich die Spitzen in Decks und Aufbauten, schmeckten das Küchenfett und loderten gleich tosend zu mannshohen Flammen auf. Noch bevor sie die Biegung hinter sich gebracht hatten und die letzten Pfeile wirkungslos achtern in den Fluss fielen, war Craer schon die Treppe hinunter und zog einen Schiffer am Kragen seines Hemds um einem Tisch herum. Karten und Geld lagen überall darauf herum. Im Laternenlicht, das von einer Kerze stammte, deren Gehäuse an einem Pflock im Deckenbalken hing, starrten fünf Gesichter den Beschaffer an. Ihre erste Angst verwandelte sich rasch in Ärger und Überheblichkeit. »Raus an Deck mit Euch!« fuhr Craer den Großen an, welchen er immer noch am Schlafittchen hielt. »Werft alle Ölkrüge über Bord, sonst flammt das ganze Boot wie eine Pechfackel auf und wir mit ihm!«
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»Ihr Floh wollt uns etwas befehlen?« knurrte ein anderer Flussschiffer den kleinen Beschaffer an. »Das sehe ich aber nicht so.« »Ihr geht entweder nach oben und arbeitet, oder ihr bleibt hier unten, pöbelt mich an und kommt in den Flammen um«, zeigte Craer ihnen ungehalten die Möglichkeiten auf, welche ihnen blieben. »Und wenn ihr es ganz genau wissen wollte, ist es mir eigentlich egal, wofür ihr euch entscheidet. Im Moment sind nämlich Helden gefragt – weil dieses Boot geradewegs darauf zuläuft, in einen Scheiterhaufen verwandelt zu werden!« Er ließ den Mann los, und der plumpste vor lauter Überraschung mit einem Rumms auf seine Bank zurück. Der Beschaffer war schon weiter und donnerte an die Tür, hinter welcher Embra und Sarasper schliefen. Als er hörte, wie sich auf der anderen Seite etwas regte, brüllte er: »Feuer! Alles raus!« Damit machte er auf dem Absatz kehrt und stürmte zurück an Deck. Der Beschaffer lief mitten in eine Feuerwand. Die flimmernde Hitze raubte ihm den Atem, aber er erkannte Hawkril und den Kapitän, wie sie mit Bootshaken brennende Scherben und halbe Krüge über Bord stießen und, wenn nötig, auch mit dem Fuß nachhalfen. Gleichzeitig sausten weiterhin Pfeile heran, um sich in die Planken zu bohren oder weitere Tonkrüge zum Platzen zu bringen – wie eine tödliche Wolke stieg dann ein Fettregen auf, um todbringend und brennend auf das Boot herniederzuprasseln. Craer fluchte bei diesem Anblick goss sich eine Trinkschale mit Wasser über den Kopf, um sein Haar zu nässen und so
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ein wenig davor zu schützen, Feuer zu fangen. Dann kraxelte er behände zum Kabinendach hinauf, zerrte die Amphoren aus ihren schwelenden Halteseilen und schleuderte sie von Bord. Nun tauchten auch die ersten Besatzungsmitglieder an Deck auf und staunten nicht schlecht über das Feuer. Nach der ersten Schrecksekunde liefen einige geradewegs zum Geländer, um in den Fluss zu springen. Craer stellte jedoch fest, dass die Pfeile nun dichter heranflogen, um alle an Bord daran zu hindern, sich im Wasser in Sicherheit zu bringen. Einige der Flüchtenden drehten sich mehrfach getroffen um die eigene Achse und brachen zusammen. Andere taumelten mit mehreren Geschossen in der Brust zurück – aber kein Einziger schaffte es, den Fluss zu erreichen. Dazu sausten auch aus den Bäumen am Ufer ohne Unterbrechung die Brandpfeile heran. Die Flussschiffer brüllten vor Furcht, während sie mit Eimern herumsprangen oder mit Messern an den Halteseilen der Ölkrüge säbelten. Hawkril wurde von einem Pfeil in die Schulter getroffen und gegen den Mast geworfen. Er schrie noch vor Schmerzen, als Embra, dicht gefolgt von Sarasper, die Treppe hochgelaufen kam. Fassungslos starrten sie auf das, was sich ihren Augen bot. Brennende Taue schwangen durch die flirrende Luft ... Hawkril, der sich am Boden wälzte ... Craer, welcher wie ein Frosch auf dem Kabinendach herumsprang und mit Armen und Beinen flammende Fracht fortstieß; seine Brauen waren weg und die Haare auf seinen Unterarmen zu Asche verbrannt ... und von allen Seiten regnete es Pfeile.
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Embra kreischte und rannte ziellos über das Deck. Links und rechts von ihr schlugen Pfeile ein, über ihr zerplatzten weitere Amphoren. Eine scharfkantige Scherbe landete auf ihrem Kopf und prallte ab. Blut strömte gleich in mehreren Bächen ins Haar der Prinzessin. Blindlings tastete sie sich weiter durch das Tohuwabohu. Sie jammerte über ihre Schmerzen und stolperte geradewegs auf einen Zusammenstoß mit dem Mast zu. Der Heiler starrte ihr hinterher, sah die Feuersbrunst und die Pfeile und vergaß, den Mund wieder zu schließen. Dann setzte er sich in Bewegung, um der Edlen zu Hilfe zu eilen, welche gerade wie ein gefällter Baum nach hinten kippte. Doch dann explodierte das Schiff unmittelbar vor Sarasper, und er konnte die junge Frau nicht mehr sehen ... Der Wandbehang rutschte hinter Maerschee an seinen Platz zurück, und die Sänger beugten sich vor, um ihre Gespräche wieder aufzunehmen. Die hatten sie nämlich eingestellt, als die Magd zu ihnen kam, um nachzuschenken. Einer der Barden nahm eine lange, schlanke Tonpfeife aus dem Mund, welcher von einem honigfarbenen Schnurrbart umrahmt wurde, und meinte: »Ganz gleich, wie sie ums Leben gekommen sein mögen, Silberbaum hat seine Hand im Spiel gehabt. Das ist meine feste Überzeugung. Er hasst uns alle nämlich wie die Pest.« »Wie überhaupt jeden, der nicht vor ihm kuscht«, stimmte ein noch recht jung aussehender, aber weißhaariger Sänger bitter zu. »Ich musste schon einmal vor seinen Rittern davonrennen. Der Baron hatte ihnen befohlen, mich auszupeitschen, damit ich Grund für die schrillen Töne hätte, welche
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ich von mir gegeben hätte!« Die anderen grollten und schimpften über eine so schmähliche Behandlung ... aber wenn man genau hinhörte, hätte man glauben mögen, dazwischen auch einiges Kichern hinter vorgehaltener Hand zu vernehmen. Flaeros saß ganz still da und konnte es noch immer nicht fassen, in diesen Kreis als Gleicher aufgenommen worden zu sein ... dass er hier in diesem abgetrennten Raum mit einem halben Dutzend alterfahrenen Fahrenssängern zusammensitzen durfte. Außerhalb dieser reich getäfelten Wände herrschte im Schankraum des »Zum Wasserspeier« mal wieder lautes Treiben und Gezeche. Aber hier in dieser Kammer waren Männer, welche bereits in ganz Darsar aufgespielt hatten, vor dem bereits ersterbenden Kaminfeuer zusammengekommen, um zwei tote Kameraden zu beweinen. »Helgrym hat mir das Spiel auf der Fransenflöte beigebracht«, erinnerte sich einer der Trauernden, »und mich auch der alten Teschara vorgestellt.« »Bei der Herrin, was konnte sie die Laute schlagen«, meinte ein anderer. »Aber sie wurde eingesperrt, und seitdem hat man nichts mehr von ihr gesehen oder gehört, genau wie von all den anderen.« Wütendes Gemurmel antwortete ihm, dann fragte einer in die Runde: »Was mag jetzt wohl aus allen Harfen Delvins werden?« »Wenn Ihr mich fragt, die sind längst als Feuerholz verbrannt. Seine Zimmerwirtin hasste es, seine Kammer nicht weiter vermieten zu können, wenn er auf Reisen war. Ich habe gehört, dass sie jedes Mal, wenn er länger fort war, in
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sein Zimmer gegangen ist und dort aus purer Boshaftigkeit eines seiner Instrumente zerbrochen hat.« »Doch er ist niemals auf eine verzauberte Harfe gestoßen, oder?« Alle drehten sich zu dem Sprecher um, und der fügte mit leiserer Stimme und schelmisch grinsend wie jemand, der ein schlüpfriges Geheimnis auszubreiten hat, hinzu: »Dahinter ist er doch zeit seines Lebens her gewesen: Er wollte eine magische Harfe finden.« »Solche Geräte finden sich aber nicht an jedem dicken Baum«, meinte der Musiker mit der Pfeife unzufrieden. »Delvin wäre sicher besser bedient gewesen, wenn er nie etwas mit Magie zu schaffen gehabt hätte.« »Ein wahres Wort, vor allem wenn man bedenkt, wie die Zauberei ihn zugrunde gerichtet hat«, fügte ein anderer in der Runde hinzu. »Doch wer von uns kann reinen Herzens erklären, nie etwas mit Magie zu tun gehabt zu haben? Nur Dorftrotteln und Wahnsinnigen widerfährt so etwas, und die können bekanntlich keine gute Musik machen.« »Da muss ich Euch völlig Recht geben«, warf einer der Ältesten ein, »denn ich habe Euch schon singen gehört.« Die anderen pfiffen und johlten darüber, und so manche Beleidigung flog hin und her, bis jemand sich erkundigte: »Wie sind die beiden eigentlich ums Leben gekommen?« »Sie sind von einem Wesen, welches wie ein pferdegroßer Drachen ausgesehen hat, zerrissen worden«, antwortete ein Sänger, welcher bislang geschwiegen hatte. »Ein durch Zauberkraft entstandenes Ungeheuer, ausgesandt von der Dunklen Dreifaltigkeit.« »Aber wie könnte es ihnen gelingen, ein solches Untier zu erschaffen?« war es schon aus Flaeros’ Mund heraus, ehe er
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sich zurückhalten konnte. »Werden etwa Magier mit dem Wissen geboren, wie man Winde formt oder die Kräfte steuert, welche für das Wachstum verantwortlich sind, oder –« Der Jüngling verstummte, als alle ihn anstarrten. Er fühlte sich mit einem Mal wieder wie ein Außenseiter. Flaeros gab sich alle Mühe, unbeeindruckt zu wirken, doch am liebsten wäre er vor Scham im Boden versunken ... Das Schweigen um ihn herum zog sich in die Länge, bis jemand abfällig bemerkte: »Was bekommen sie heute überhaupt noch auf der Bardenschule beigebracht? In welches Ende man bei einem Jagdhorn hineinblasen muss?« »Sachte, sachte«, mahnte einer der Älteren. »Wir alle mussten von der Pike auf lernen. Warum soll der junge Mann das nicht gleich hier von uns erfahren?« Er sah Flaeros aufmunternd an. »Hört mir zu, junger Freund: Magier bewirken Zauber, indem sie gewisse Gegenstände leeren. Gelegentlich, wenn sie jemanden so sehr verfluchen wollen, dass ihnen ihr eigenes Leben dagegen unwichtig erscheint, entleeren sie sich sogar selbst. In der Regel kommt dafür jedoch ein Feind, ein Sklave oder ein wildes Tier in Frage. Und, soweit sie zur Verfügung stehen, Gegenstände, denen aus irgendwelchen Gründen bereits Zauberkraft innewohnt.« »Solche Banne sind aber längst nicht so furchtbar mächtig oder zuverlässig, wie die Magier uns gern weismachen möchten«, fügte ein anderer hinzu. »Ihr könnt sicher sein, dass Fürst Silberbaum niemals einhundert Wagenladungen dafür ausgelobt hätte, seine Tochter zu finden, wenn er das auch mit Hilfe seiner Magie haben könnte.« »Dennoch hat er drei der mächtigsten Zauberer weit und
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breit damit beauftragt, ihm seine Tochter wiederzubeschaffen«, bemerkte einer der Ältesten in der Runde. »Magie wirkt am besten auf den Gebieten, auf welchen man auch mit Gaunereien und Betrügereien zum Ziel gelangen kann. Das gibt einem doch zu denken, oder?« »Man glaubt es nicht!« rief sein Banknachbar, »da spricht er über Magie und will Antworten hören! Na, wenn das nicht der einfältigste aller Dorftrottel ist!« »Das reicht!« erklärte der Pfeifenraucher entschieden. »Die Herrin der Edelsteine hat sich also entführen lassen ... gewollt oder ungewollt? Ich habe gehört, die Prinzessin habe das Ganze selbst geplant und eine Bande den Tod verachtender Schwertschwinger beauftragt, in den Palast zu stürmen und sie zu ergreifen ... Uns allen hier käme die Belohnung des Barons sehr gelegen, müssten wir dann doch nie wieder auf Reisen gehen und irgendwelchem Pöbel vorsingen.« »Einhundert Wagenladungen Gold bietet Silberbaum demjenigen«, meinte ein anderer, »welcher ihm sein Töchterlein heil und munter zurückbringt ... Also da frage ich mich doch, wie viel mehr die Prinzessin zu zahlen bereit ist, um nie mehr auch nur in die Nähe ihres Vaters zu kommen?« »Und ich frage mich, wie viele Menschen im Flusstal dumm genug sind, nach ihr zu suchen ... und sich der Vorstellung hingeben, der Baron würde sie im Erfolgsfall lange genug am Leben lassen, um die hundert Wagenladungen Gold auszugeben.« Die anderen nickten und murmelten zustimmend, sahen sie doch zu ihrem Bedauern ein, dass sie niemals aller Sorgen verlustig gingen, wenn sie sich auf die Suche nach der Prin-
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zessin machten. »Das erste Tageslicht«, meldete einer von ihnen nach einer Weile. Flaeros war noch gar nicht aufgefallen, dass man durch die Decke den Himmel sehen konnte. Die ersten rosafarbenen Finger der Dämmerung griffen gerade in die ersterbenden Wolken der Nacht. Die Sänger schwiegen für eine Weile, um dieses Schauspiel durch die Glasscheibe im Dach zu genießen. Während es draußen immer heller wurde, glitt Maerschee wieder herein und brachte frische Gläser und eine neue Flasche. Nachdem sie sich erneut zurückgezogen hatte, summte und brummte es in der Kammer, als hielte sich hier ein Dutzend Barden auf. Einer meinte düster: »Die Herrin Silberbaum mag ja eine Ränke schmiedende Hexe sein, aber ich möchte bezweifeln, dass sie ihre eigene Entführung in die Wege geleitet hat. Wenn ihr Vater sie zurückhat, darf sie sich, wenn sie großes Glück hat, auf mehrere Runden Stockhiebe gefasst machen!« »Glaubt Ihr etwa, ein verfeindeter Baron stecke dahinter?« fragte der Pfeifenraucher. »Vielleicht mit dem Hintergedanken, Silberbaum davon abzulenken, ganz Aglirta mit Krieg zu überziehen? Damit der Betreffende selbst seinen Angriff beginnen kann?« Der Ältere zuckte nur vielsagend die Achseln und wandte sich an Flaeros. »Ihr seid so schweigsam, junger Freund. Fühlt Ihr etwa eine Ballade in Euch entstehen?« Flaeros zitterte und entgegnete leise: »Gut möglich. Ich musste an die Herrin Silberbaum denken, wie sie gefangen und verschleppt wird. Und wohin man sie entführt hat. Ganz
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allein dürfte sie sich kaum gegen alle Schrecken und Demütigungen zur Wehr setzen können, welche das Schicksal nun für sie bereithält.« Wieder drehten sich alle Köpfe nach ihm um und betrachteten ihn eigenartig. Aber die Barden machten keine beleidigenden Bemerkungen, wiegten sogar nachdenklich das Haupt und sahen den Jüngling mit ernster Achtung an. »Nun, mein Freund«, sprach der älteste Sänger, »wenn Ihr das Werk vollbracht habt, mögt Ihr es uns vortragen ... Das hilflose Fräulein weint angesichts seiner bescheidenen Mittel ... das hat etwas.« Die Explosion schickte Flammenbälle und Feuerfahnen in den Himmel hinauf. Solch garstiges Fauchen riss die Prinzessin aus ihrer Ohnmacht. Sie wurde gegen ein Bündel brennender Tücher geworfen, rollte sich ab, sprang auf und war wütend wie selten zuvor. Unter ihr rauschte das Boot weiter durch den Fluss, schüttelte sich ab und an und schien tiefer im Wasser zu liegen. Jetzt hatte Embra Anlass, der Dreifaltigkeit dafür zu danken, letzte Nacht auf den Einfall gekommen zu sein, einige der Gegenstände aus dem Schweigenden Haus Hawkrils Rucksack entnommen und in ihren eigenen Taschen verstaut zu haben. Jetzt konnte sie sich dieser Dinge bedienen und in einer Mischung aus Ärger und Umsicht einen Bann wirken. Das letzte Wort ihres Zauberspruchs bewegte die Flammen in ihrer Umgebung dazu, im gleichen Rhythmus zu flackern, aufeinander zuzustreben und sich dann wie eine einzige zu bewegen.
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Die Silberbaum-Hexe erhob sich schlank und schweigend, und dünne Rauchfäden wirbelten von ihrer verbrannten und verrußten Kleidung auf. Die Flammen vereinten sich über ihr zu einem Kranz und fauchten und brüllten unter Embras Willen immer lauter und heftiger. Kein Pfeil gelangte durch dieses Kreisen, wurde im Gegenteil abgelenkt und sauste irgendwohin. Als der Schweiß ihr über die Augen lief und sich wie ein Sturzbach von ihrem Kinn ergoss, stieß die Prinzessin den zweiten Teil des Banns aus und riss die Arme hoch. Das Deck legte sich unter ihren schweren Stiefeln in Schräglage, und gurgelnd drang überall zwischen den Planken Wasser ein und sang dazu sein eigenes Lied. Hoch stand Embra da und verfolgte mit zusammengekniffenen Augen, wie ihre Zaubermacht den sich immer noch drehenden Feuerkranz zwischen die Bäume sandte, aus welchen stetig neue Pfeile herangeflogen kamen. Die Flammen schlugen so heftig in den Wald, dass die Äste zerkrachten. Embra vernahm einen garstigen Todesschrei, und dann stieg auf dieser Seite des Flusses eine Feuerwand auf, welche sogar das Licht der Dämmerung überstrahlte. Die Hexe betrachtete grimmig ihr Werk. Schwarze Baumstämme zeigten wie düstere Finger in die ungebrochene Flammenwand. Erst nach einer Weile vermochte sie, sich von diesem Anblick zu lösen und über das schwankende Deck zu schauen. Der Kapitän taumelte gerade mit zwei Pfeilen davon, und rasch entdeckte die Prinzessin ihre Gefährten. »Volle Fahrt voraus!« befahl sie ihnen gebieterisch, als hätte sie niemals etwas anderes getan.
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Doch das letzte Wort klang schon recht schrill, denn eben langten dunkle Wasserfinger über den Rand. Dampf stieg zischend von ihnen auf. Embra starrte auf das sich rasch vermehrende Nass und fing an zu zittern. Dann flatterten ihre Lider, und sie brach in einer geschwungenen Bewegung auf den Planken zusammen. Sarasper hielt sich gerade am nächsten zu der Gefährtin auf und näherte sich ihr über das schwankende Deck. Nicht mehr nur einzelne Finger, sondern eine ganze Wasserdecke breitete sich bereits auf dem Deck aus. Dennoch rauschte das sinkende Schiff weiter durch die Fluten. Aber nicht mehr lange, dann würde der Strom es verschlungen haben... Der Heiler erreichte die junge Frau, stieß ein paar Tonscherben fort und packte Embra dann an den Schultern, um sie hochzuziehen. Er bekam sie auch in eine halb sitzende Stellung, als der nasse Boden unter ihm wegrutschte. Unverzagt rappelte der Mann sich gleich wieder auf und versuchte es von neuem. Sarasper ... rief ihn die Stimme wieder. Lauter als je zuvor während dieser Reise, wenn er allein auf Wache gestanden hatte, ertönte sie, und der Heiler erstarrte, ohne jedoch seine Hände von den Schultern der jungen Schönen zu nehmen. So ist’s recht, nur wenige Fingerbreit von ihrem Hals ... Alles in Sarasper versteinerte, und er erwiderte in Gedanken: Ihr nennt Euch Alte Eiche, aber ich spüre keinen göttlichen Donner. Was seid Ihr in Wahrheit für eine Wesenheit? WIE? IHR WAGT ES, MIR ZU TROTZEN? Die Gewalt dieser Stimme ließ Sarasper nach hinten weg-
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kippen und über Deck purzeln, während er sich die Hände auf die Ohren presste. Aber was half das schon, wenn sein ganzer Körper unter ihrem Widerhall dröhnte und bebte. »Ich ... ich ... i...« winselte der Heiler und hob eine matte Hand, als wolle er einen Feind abwehren. Doch die warme und wütende Kraft, welche durch ihn raste, fuhr ihm jetzt zum Mund hinaus und legte sich wie eine eiserne Schraubbank um seinen Nacken. Sarasper wurde es mit einem Mal sehr kalt ... Legt sie für den Augenblick am Mast ab, gebot ihm die Stimme. Saraspers Glieder bewegten sich schon, ohne dass er etwas dazukonnte, um dem Befehl zu gehorchen. Dem Heiler kam es beinahe so vor, als spräche die Stimme zu jemand anderem, welcher sich ein ganzes Stück entfernt aufhalten musste. Seht Ihr den Kielpin dort? Dreht Euch so, dass man ihn nicht erkennen kann. Und jetzt lasst ihn in Eurem Ärmel verschwinden. Das Schiff geriet jetzt ernsthaft in Schräglage. Das rechte Geländer tauchte bereits kurz unter. Der Körper eines Schiffers, welchen drei Pfeile zu Tode gebracht hatten, rollte jetzt über das Deck und kippte von Bord. Sarasper sah noch einen Mund, der für immer offen stand, dann verschwand der mit einem großen Platsch, und das Schiff ließ den Toten hinter sich zurück. Sein eigener Körper bewegte sich unter dem Befehl der merkwürdigen Wesenheit in seinem Kopf und kletterte mit einer Behändigkeit und Schnelligkeit auf die trockene Seite des Boots, welche sich der alte Mann niemals zugetraut hätte. Alte Eiche führte ihn nach achtern, wo sich Hawkril und Craer mit der widerborstigen Ruderpinne abmühten. Als der Heiler sie unhörbar erreichte, war der Beschaffer
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gerade damit zugange, ein heruntergefallenes Segel zu zerschneiden. Sarasper wartete, bis die nächste heranrollende Schifferleiche die Aufmerksamkeit der beiden Gefährten in Anspruch nahm, und schlug dann hart mit dem Kielpin zu. Craer zuckte unter dem Hieb wie eine Gliederpuppe zusammen, und für einen Moment erschien es so, als würde er mit seinem gezückten Messer herumwirbeln ... Aber dann glitt der Dolch aus seinen kraftlosen Fingern, und der Beschaffer krachte aufs Deck. Sarasper schlich schon weiter und befand sich schon hinter Hawkril an der Reling, als dieser das Messer seines Freundes über die Planken klappern hörte. »Langfinger, was treibt Ihr denn da?« schimpfte der Hüne, hielt das Ruder kurz nur mit einer Hand fest und griff mit der anderen nach dem Gürtel des Gefährten. Der Heiler sprang senkrecht hoch und umfasste den Kielpin auch noch mit beiden Händen, um den Schlag so hart wie möglich ausfallen zu lassen ... Der Ritter kippte vornüber, fiel schwer auf die Ruderpinne und versuchte, sich wieder aufzurichten. Sarasper schlug ein zweites Mal zu und traf den Schwertkrieger hinter dem Ohr. Ein dritter Hieb erwies sich auch noch als erforderlich, bis Hawkril endlich auf dem Gesicht lag. Das Ruder schwang ungebremst hin und her. Der Heiler stand über dem Gefährten und schwankte, während die Stimme von Alte Eiche immer neue Befehle donnerte ... Sarasper sollte als Erstes die Prinzessin ans Geländer binden, damit sie nicht versehentlich von Bord rutschte.
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Als Nächstes hatte er die Köpfe seiner Gefährten so lange unter Wasser zu halten, bis alles Leben aus ihnen gewichen sei. Schließlich sollte der Heiler sie in den Fluss befördern ... Und danach erwartete ihn die Aufgabe ... Sarasper flog durch die Luft und landete in einem Gewirr von Tau und Reep, als das Boot gegen scharfkantige Klippen prallte und versuchte, über diese hinwegzurutschen ... Darunter bog sich das Deck nach oben durch und zerplatzte in mannslange Splitter. Der Heiler sah, wie der Kapitän aufgespießt auf einem solchen Splitter dahing und ungläubig mit den Armen durch die Luft ruderte ... Dann schlug Sarasper mit dem Hinterkopf an etwas sehr Hartem an ... Eine tosende rote Flutwelle riss alles mit sich fort, auch den Heiler, und ergoss sich in schwärzeste Finsternis ...
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Neun
Wie man Steine jagt und Kriege beginnt C In einer großen und hohen Halle aus weißem Stein saßen zwei alte Männer in Gewändern, welche schlecht saßen, an einem Tisch und würdigten einander keines Blickes. Ihnen gegenüber stand ein kunstvoll geschnitzter Thron, dessen Rückenlehne von der flammengeflügelten Krähe des Landes Kardessa gekrönt wurde. Bald würde der Baron selbst auf diesem Sessel sitzen. Auf seinen Ruf hin hatten die beiden Alten sich trotz der ihnen ungewohnt frühen Stunde hierher begeben. Ein aufmerksamer Beobachter – wie zum Beispiel derjenige, welcher gerade die beiden Alten durch einen Spalt zwischen Behang und Wand hinter dem Thron beobachtete, ohne dass sie etwas von ihm ahnten – würde natürlich die verräterischen Anzeichen eines unterdrückten Gähnens bemerken: die Anspannung von Unterkiefer und Hals, das Blähen der Nasenlöcher ... Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne erreichten die Spitzen der hohen und schmalen Fenster im Osten und durch-
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fluteten den Saal mit unerwartetem Licht. Als handele es sich dabei um ein Zeichen, wurde der Wandbehang beiseite geschoben, und dahinter trat ein reich gewandeter Mann mit durchdringendem Blick aus schwarzen Augen, glänzendem dunklen Lockenhaar und großen roten Händen hervor, an deren Fingern viele Ringe steckten. Das rosafarbene Frühmorgenlicht wurde von dem Geschmeide zurückgeworfen, und der Baron ließ sich auf seinem Thron nieder, warf einen Blick auf die offen stehenden Türen und nickte angesichts des Zeichens des Mannes in der blitzblanken Rüstung. Der Fürst beantwortete das Zeichen, und der Hauptmann nickte und murmelte den Kortaharen hinter ihm etwas zu. Türen, welche so hoch waren, dass sie bis unter die Decke reichten, wurden nicht eben leise geschlossen. Baron Ithklammert Kardassa beugte sich vor. »Nun, Baerethos? Mir will es so erscheinen, als würdet Ihr platzen, wenn Ihr auch nur einen Moment länger schweigen müsstet. Deswegen dürft Ihr als Erster sprechen.« Der dürre Alte in der fadenscheinigen blauen und goldenen Magierrobe stammelte seinen Dank hinaus und brachte dann rasch sein Anliegen hervor: »Herr, meine Berechnungen und Nachforschungen sind abgeschlossen. Lange habe ich mit ihnen gerungen, nach den Zeichen gesucht, Weissagungen befragt und altes Schriftgut studiert. Die Botschaft hinter allem habe ich nun endlich herausgeschält, und sie wird Euch entzücken: Einer der Dwaerindim – Hilimm, genauer gesagt, der Stein der Erneuerung, muss im Daern-Graben liegen!« Der Baron zog eine Augenbraue hoch und sah den ande-
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ren Alten auffordernd an. Dieser hatte die Ausführungen seines Tischnachbarn mit eisigem Schweigen und zusammengepressten Lippen verfolgt. »Aha, also Daerns Graben«, nickte der Baron. »Hört sich ja viel sagend an.« »Dabei handelt es sich um eine Kreuzung in Felserbenyn, Euer Hoheit«, beeilte sich Baerethos hinzuzufügen, »genauer um einen Kreis von überwachsenen Felsen. Früher handelte es sich dabei um die Burg eines Zauberers. Doch die ist schon seit langer Zeit vollkommen zerfallen. Heute lassen sich dort gerne Hausierer und anderes fahrendes Volk zum Nachtlager nieder, und dann –« »Der Ort ist mir bekannt«, unterbrach der Fürst ihn, wenn auch nicht unfreundlich, und hob eine Hand, um Stille einkehren zu lassen. Dann nahm er sein Zepter in die Linke, und mit der Rechten läutete er die Glocke, welche auf dem Tisch stand. Schon nach den ersten Tönen eilte der Hauptmann in der glänzenden Rüstung herein und stellte sich, ganz Aufmerksamkeit, neben den Thron. »Befehle«, teilte Ithklammert Kardassa ihm mit, ohne ihn anzusehen. »Zwei starke Streifen unter Kriegsklinge Denetharl nach Daerns Graben aufbrechen. Dort nach einem braun und grau gefleckten Stein Ausschau halten. Glatte Kugel von ungefähr dieser Größe, mit Zeichen von einer Sonne oder einem Stern versehen.« Der Fürst hob beide Hände und hielt sie etwa vier Handbreit weit auseinander: »Männer sollen Folgendes wissen: Beim Auffinden mag Kugel aus eigener Kraft in der Luft schweben. Oder auch nicht. Sollen jeden Stein an dem Ort umdrehen und darunter schauen. Im Bedarfsfall Schaufeln
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einsetzen. Alles von der Kreuzung mitbringen, worauf Beschreibung in etwa zutrifft. Und das alles so rasch wie möglich. Männer sollen Obacht geben. Vorsicht, Zauberer streben danach, ihnen Steine abzunehmen.« Der zweite Alte am Tisch, welcher bislang geschwiegen hatte, öffnete jetzt den Mund, um etwas zu sagen, aber der strenge Blick des Fürsten hinderte ihn daran. Er errötete und senkte lieber das Haupt. Der Hauptmann streckte den rechten Arm senkrecht gerade aus und ließ ihn dann wie ein Fallbeil herabsausen – in Kardassa der militärische Gruß. Dann marschierte er rasch zur Tür hinaus. Ithklammert verzog den Mund zu etwas, das entfernt einem Lächeln glich, wandte sich an den zweiten Alten und fragte ihn sanftmütig: »Ihr seid mit den Schlussfolgerungen Eures Kollegen nicht ganz einverstanden, Ubunter?« Der Magier in dem zerknitterten rotbraunen Seidengewand warf Baerethos einen höchst verächtlichen Blick zu, setzte sich besonders gerade hin und erhob dann seine vornehme, gebildete Stimme. »Ganz und gar nicht, Euer Hoheit. Ich habe weder den Schriften des trunksüchtigen Sängers Haerlaer Glauben geschenkt, wie es der Mitzauberer an meiner Seite getan hat, noch die Unterlagen des Zauberers Jhantilar so gründlich missverstanden, wie der Herr hier, dessen Namen ich lieber nicht in den Mund nehmen möchte, sich nicht entblödet hat. Herr, mit den Worten ›der Ruheplatz des wunderbarsten Herrn, welchem zu dienen ich jemals die Freude hatte‹ ist mitnichten der Zauberer Daern, sondern die Zauberin Ska-
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laerla von Brostos gemeint. Ich habe mich nämlich bei meinen Forschungen auf den wesentlich zuverlässigeren Hathparauntus von Sirlptar verlassen.« Unbunter hatte sich so in Erregung geredet, dass er sich nun vorbeugte und beinahe sang. »Er berichtet, dass in den Tagen, bevor die Zauberin in Ungnade gefallen war, sie bestimmte Vorkehrungen traf, wusste sie doch, welches Schicksal ihr blühte. Unter anderem mauerte Skalaerla bestimmte Zaubergegenstände in einer Gruft unter der Burg Brostos ein. Dabei wurde sie jedoch heimlich von Delgaer dem Einfältigen beobachtet, dem jüngeren Bruder des damaligen Barons. Er hat –« »Ihr glaubt doch wohl nicht dem wirren Geschwätz eines Einfältigen?« platzte es aus Baerethos heraus. »Versteht Ihr so etwas unter Wissenschaft?« »Um es ein für alle Mal klar zu stellen«, erwiderte Ubunter mit schneidend scharfer Stimme, »Delgaer verdankt seinen Beinamen nicht dem Umstand, geistig zurückgeblieben zu sein, sondern der Tatsache, dass er an einem Sprechunvermögen litt. Aber darüber wollen wir nun hier keine Zeit verschwenden. Genauso wenig wie über die Frage, ob er die Wahrheit niedergeschrieben hat oder nicht; oder ob Hathparauntus ihn richtig abgeschrieben hat oder nicht! Wichtig für uns ist allein der Umstand, dass wir aus verschiedenen zuverlässigen Quellen eines ganz genau wissen: Baron Oldrus Brostos hat Delgaers Tagebücher gelesen – einige Zeit nach dem Ableben des Einfältigen – und die Gruft untersuchen lassen. Doch er schloss sie wieder, nachdem die Abwehrzauber,
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welche Skalaerlas Warnzeichen trugen, drei seiner besten Soldaten getötet hatten! Irgendetwas musste dort unten auf alle Neugierigen lauern, und das ist aller Wahrscheinlichkeit auch heute noch dort. Warum soll es sich dabei nicht um den Gegenstand handeln, welcher sich nach allem, was wir wissen, im Besitz der Hexe befunden hat? Doch genau den konnte niemand mehr auffinden, nachdem man sie in Ketten gelegt hatte und ihre Gemächer durchstöberte. Bei diesem Gegenstand handelte es sich um eine Macht, mit der die Zauberin ihre Gefangennahme hätte verhindern oder sich aus derselben hätte befreien können – wenn er ihr denn zu dem Zeitpunkt noch zugänglich gewesen wäre. Deswegen erkläre ich hier und jetzt, dass der Hilimm, der Stein der Erneuerung, in der eingemauerten Gruft unter der Burg Brostos liegt. Und dass diese Burg sich in der gleichnamigen Baronie befindet.« »Unfug!« schrie Baerethos, und im nächsten Moment machten die beiden Alten Miene, mit Fäusten aufeinander loszugehen. Der Fürst ließ noch einmal die Glocke erklingen und schlug dann seinen beiden »Forschern« mit dem Zepter einmal auf Hände und Stirn. Als sie erschrocken auf- und ihn anblickten, schaute er sie streng an. »Schweigt stille!« fügte er noch hinzu, als wenn das alles noch nicht reichen sollte. Dann stand der Hauptmann der berittenen Garde in Grundstellung da, und der Baron erteilte ihm den gleichen Befehl wie vorhin dem ersten Hauptmann, nur dass es diesmal in das Land Brostos gehen sollte. »Aber, Herr!« wandte Baerethos mit erstickter Stimme ein.
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»Thanglar Brostos wird Eure Soldaten als feindliche Eindringlinge ansehen! Und das bedeutet unweigerlich Krieg!« Der Baron lächelte nur milde. »Ja, genau das wird er tun. Ehrlich gesagt, ich verlasse mich sogar darauf.« Als der Alte ihn mit blöder Miene anstarrte und alle Farbe aus seinen Zügen wich, fügte sein Herr mit dem Anflug eines Lächelns hinzu: »Und Kardassa ist darauf vorbereitet.« Ohne innezuhalten, wandte der Baron sich weiter an Ubunter: »Ich habe einen Haufen großer Worte über das ›Erwachen uralter Mächte‹ gehört und darüber, dass diese Steine ganz Darsar retten werden oder mindestens alle Drachen vernichten, wenn man die Dwaerindim nur in der richtigen Reihenfolge hinlege ... Nun möchte ich gern etwas Einfaches und Handfestes vernehmen, am liebsten darüber, wie ich diesen Stein der Genesung oder wie auch immer in meine Hände bekommen kann und was er für mich zu leisten im Stande ist. Und das alles bitte kurz und bündig. Und in klaren und deutlichen Worten.« »Hilimm ist der Stein der Erneuerung«, entgegnete Ubunter rasch, ehe sein Banknachbar zu Wort kommen konnte. »Man muss nur einen Gegenstand daranhalten, und schon stellt er ihn wieder her. Der Hilimm flickt Brüche, vertreibt Fäulnis und erledigt Rost, ganz gleich, wie weit der schon fortgediehen sein mag. Und ...« Er beugte sich vor, als verrate er ein großes Geheimnis: »Und er vertreibt Unfruchtbarkeit, sowohl die des Bodens wie auch die des Frauenschoßes ...« Ithklammert zuckte nur die Achseln. »Nett. Nicht wahnsinnig erregend, aber nett. Ich habe ausreichend Schmiede, wel-
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che mir mehr Schwerter schmieden, als ich zerbrechen kann ...« »Euer Durchlaucht!« konnte Baerethos nicht länger an sich halten, »bei den Weltensteinen handelt es sich um wahrhaft mächtige Gebilde, und zwar bei jedem einzelnen von ihnen! Wenn ein Magier Hilimm in seinen Besitz gebracht hat, vermag er bis an sein seliges Ende alle Zauber nach Belieben zu wirken, welche er bis dahin gelernt hat. Und das ohne zusätzliches Studium der alten Schriften, ohne Opfer und Darreichungen und ohne irgendwo Zauberenergie auftreiben zu müssen! Ihr habt doch sicher schon gesehen, wie wir Riesenfeuer errichtet haben, um einem bestimmten Zauber eine Arbeitsgrundlage zu geben. Dabei ist Euch bestimmt auch nicht entgangen, dass die Bewirkung eines einzigen Banns mitunter einen mannshohen Scheiterhaufen in der Zeit von zwei Herzschlägen zu Asche niederbrennt. Mit einem Dwaerindim bestünde zu solchem Aufwand niemals mehr Anlass!« Der Fürst nickte dazu, und wieder zeigte sich das leise Lächeln auf seinen Lippen. Schließlich meinte er: »Aha, das erklärt ja einiges ...« »Wer einen Erdstein in Händen hält«, fuhr Ubunter hastig fort, »kann unbeschadet in der heißesten Sonne stehen oder auch mitten in einem Feuer, ohne dass ihm dies etwas anzuhaben vermag. Die meisten Banne lösen bei ihm nur ein Lachen aus. Wenn er Wasser oder eine andere Flüssigkeit trinkt, in welche man vorher den Dwaerindim getaucht hat, braucht er keine Angst davor zu haben, darin könnten Gift oder eine Krankheit schwimmen – beides wird ihm nämlich nichts an-
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haben.« »Und was den Hilimm angeht«, sprudelte es aus Baerethos heraus, »so verwandelt der einen Alten für einen Tag im Jahr in einen Jüngling zurück und verleiht ihm dann auch wieder die Manneskraft. Alle Steine strahlen auf Wunsch hell wie Fackeln, und wer mehrere von ihnen besitzt, vermag noch viel größere Wunder zu bewirken.« »Das hört sich für mich wie Magier-Schnickschnack an«, wandte der Fürst ungehalten ein. »Oder nach einem Gegenstand, mit welchem ihr beiden Aushilfsmagier euch den Anschein eines echten Zauberers verleihen könntet. Vermutlich seid ihr auch aus diesem Grund so versessen darauf, endlich an einen Weltenstein zu gelangen.« Die beiden Alten senkten betreten das Haupt und wagten es nicht, etwas von sich zu geben. Baerethos leckte sich über die Lippen. Der Baron dagegen lächelte und erhob sein Zepter. Das Schweigen der beiden war ihm Antwort genug. Er läutete noch einmal und erklärte den beiden Alten dabei: »Vielen Dank, meine Herren. Nun erhebt euch und begebt euch in die Küche, damit ihr euch dort stärken könnt. Kardassa braucht Zauberer, die bei Kräften sind.« Er zwinkerte und fügte hinzu: »In absehbarer Zeit könnte ich sogar Bedarf nach Magiern haben, die Scheiterhaufen bemühen.« Baerethos und Ubunter starrten den Fürsten fassungslos an, schluckten aber ihre Empörung hinunter und fragten sich insgeheim bang, ob diese Worte eine Bedrohung für ihr Leben enthielten – und das alles gemeinsam, wo sie doch sonst tunlichst darauf achteten, nur ja nicht dem anderen nachzueifern.
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Derweil kam einer der Wächter von den Türen gelaufen, um dem Klingelruf des Barons Folge zu leisten. »Man möge mich an die Tafel führen«, erklärte Ithklammert, »und richtet Roeglar aus, dass er sich mit seinen Männern bereithalten soll, so bald wie möglich aufzubrechen. Wir haben die Grenzanlagen zu überprüfen ... und es ist an der Zeit, bei einem unserer Nachbarn einen ›Vorfall‹ auszulösen ...« Der Soldat nickte und zog sich zurück. Kardassa ließ sein Zepter auf den Tisch fallen und erhob sich so unvermittelt, dass den beiden Alten nichts anderes übrig blieb, als seinem Beispiel zu folgen. Sie verbeugten sich umständlich, und Ubunter stieß in seiner Hast beinahe die Bank um. Niemand aber bemerkte das beobachtende Auge, welches sich gedankenverloren von dem Spalt zwischen Behang und Wand zurückzog, wo vorhin der Fürst gestanden hatte. Ubunters hysterische Entschuldigungen übertönten dann das leise Geräusch der Tür, welche sich zu dem Gang öffnete, durch die man zum Schlafgemach und privaten Frühstücksraum des Barons gelangte. Zwei Kaufleute mit hundemüden Gesichtern näherten sich gerade derselben Häuserecke in Adeln, als dort die ersten Sonnenstrahlen eintrafen. Sie kamen aus verschiedenen Richtungen, wenn auch aus ähnlich schmalen Gassen. Ihre staubigen Stiefel bewegten sich ohne viel Lärm auf dem vor Dreck starrenden Kopfsteinpflaster. Im Halbdunkel konnten sie einander gerade noch ausweichen, klopften sich aber mit gleichen Bewegungen die Schul-
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ter ab, fuhren mit der Hand ans Schwert und stießen denselben Fluch aus. Da standen sie sich nun gegenüber, die beiden Männer mit dem grau gewordenen Haar, ähnlichen Hosen, Westen und Langhemden, wie sie alle Händler in Darsar zu tragen pflegten. Dazu hatten sie sich mit einfachen Schwertern gegürtet, »die gut in der Hand liegen.« Ihren Mienen war abzulesen, dass sie sich auf den Umgang mit solchen Waffen verstanden. Doch dann maßen sie einander nicht mit Blicken, wie das andere in einer solchen Lage getan hätten. Vielmehr lächelte der eine den anderen, und der andere den einen an. »Ich wünsche einen sonnigen und angenehmen Morgen«, begann der Erste und sah sich dabei fahrig in der Gasse um, als traue er seiner Wettervorhersage noch nicht so ganz. »Den wünsche ich auch«, entgegnete der Zweite schon wesentlich unverkrampfter, musterte sein Gegenüber aber von Kopf bis Fuß. »Ein Tag wie geschaffen dafür, ein schönes Geschäft in Fisch zu tätigen.« »Bei der Dreifaltigkeit! Ich war gerade auf dem Weg zu den Docks, um dort nach günstigen Gelegenheiten Ausschau zu halten«, erwiderte der andere geradezu begeistert. Dann steckten sie die Köpfe zusammen, und der eine fragte den anderen: »Ist der Zeitpunkt gekommen?« Der andere antwortete kaum hörbar: »Nur noch ein wenig. Bald sollte der Wein seine Wirkung tun. Ich habe gestern Nacht alle Unterkünfte beliefert. Wartet, bis Ihr das Horn vernehmt.« So als hätte es sich bei dieser Auskunft um ein geheimes Signal gehandelt, wurde jetzt die gewiss nicht wohlriechende
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Luft in der Gasse von dem Geschmetter eines Jagdhorns zerrissen. Die beiden Männer erstarrten vor Verblüffung. »Wer war das denn –« bekam einer von ihnen noch heraus, dann tauchte aus einem Fass hinter ihnen der Seneschall von Adeln auf und ließ seinen Streitkolben mit aller Kraft herabsausen. Wie wenig Zeit und noch viel weniger Aufwand es doch bedarf, um das Gehirn von zwei Männern aus dem Schädel auf das Kopfsteinpflaster zu befördern, dachte Presgur, als er aus seinem Fass stieg. Zu seinen Füßen lagen zwei Leichen. »Seid meines Dankes gewiss, uns zu all Euren Freunden geführt zu haben, Ihr Trottel von einem Silberbaum-Fuchs«, erklärte er einem der Toten voller Befriedigung. Dann drehte er sich zu dem anderen hin und sprach: »Und wenn man schon Wein vergiften will, dann doch bitte nicht mit Mandelwurz. Die Soldaten von Adeln haben immer noch eine Zunge zum Schmecken!« Nun traten überall Männer mit gezückten Schwertern aus Hauseingängen und düsteren Ecken und strömten von links und von rechts herbei. Der Seneschall bückte sich, um dem einen silberbaumschen Spion das Jagdhorn aus dem Gürtel zu ziehen – der Mann hatte ja doch keine Verwendung mehr dafür. Dann befahl er einem der Näherkommenden: »Tragt diesen Abschaum ins Hawkroon-Haus. Unser Fürstmagier hat für die ach so gerissenen Zauberer aus Silberbaum eine unliebsame Überraschung vorbereitet. Dafür benötigt er noch etwas frisches Blut.« Das angenehme Licht eines beginnenden warmen Morgens,
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welches die Wipfel der Bäume umspielte, konnte Hawkrils Laune nicht im Mindesten bessern. Stattdessen fuhr er damit fort, Äste von den umgestürzten Stämmen zu brechen, aus denen sie wuchsen, und auf den wachsenden Haufen Feuerholz zu werfen. Die Miene des Hünen verfinsterte sich noch mehr, als er daran dachte, wie furchtbar lange das schon dauerte ... Ob ihn jemand bei dieser nicht eben leisen Arbeit hörte, störte ihn nicht im Mindesten; genauso wenig wie die Frage, ob nicht ungebetene Beobachter das Feuer entdecken könnten, welches er zu entfachen gedachte. Wenn es Hawkril nicht bald gelang, etwas Wärme in die Körper seiner Gefährten zu zwingen, konnte sich die Viererbande in die »Totenbande« umbenennen. Die drei lagen inmitten von selbst geschaffenen Pfützen in der Senke, in welche der Ritter sie geschafft hatte. Dreimal hatte er den anstrengenden Weg von den Klippen, an welchen das Schiff zerschellt war, durch den Wald zur nächsten Flussbiegung laufen müssen, bis er seine Gefährten hier beisammen hatte. Für einen vierten Gang fehlte ihm jetzt eindeutig die Kraft ... Dabei besaßen die Vier nun nicht mehr als das, was sie am Leib trugen. Als Hawkril zum letzten Mal die Schiffstrümmer verlassen hatte, hatten sich rings um den Kapitän ganze Scharen von Krähen niedergelassen. Dieser hing immer noch aufgespießt auf dem Riesensplitter und starrte mit gebrochenen Augen auf die Schwärme von Fliegen. Hawkril hatte sich rasch verdrückt, wollte er doch nicht, dass ihm die Insekten oder die Vögel bis hierher folgten.
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Der Hüne hätte schon vor Stunden völlig ermattet zusammenbrechen müssen. Aber sein eiserner Wille verlieh ihm immer noch ein Quäntchen Kraft, ermöglichte es ihm, das Holz zusammenzuschichten und gab ihm auch das Vermögen, den Feuerstein zu schlagen, um einen Funken zu bekommen. In seinem Kopf schwamm alles, als er sich bückte, um auf den Zunder zu blasen und das Feuer endlich in Gang zu bekommen. Dunkel erinnerte er sich daran, dass ihn noch an Bord etwas am Kopf getroffen hatte. Zwar klein, aber durchaus wirkungsvoll ... Sein Blick wanderte zu den drei Gefährten, und er betrachtete seinen besten und ältesten Freund. »Hätten wir nicht einfach für eine Weile auf die Hirschjagd gehen können? Musstet Ihr unbedingt zu der Zaubererprinzessin, weil die so viel Geschmeide besaß? Wohin haben ihre Edelsteine uns nun gebracht? Von einem Silberbaum-Anwesen zum nächsten, dann auf den Fluss und schließlich irgendwo ins Niemandsland!« Er wandte sich ab und wieder seinem Feuer zu. Die Funken fanden Nahrung, und nun begann die knifflige Tätigkeit, dünne und dürre Zweiglein aufzulegen. Bloß keine zu dicken, sonst würde das Feuer noch im Entstehen vergehen. Hinter dem Hünen regte sich der schwer mitgenommene Beschaffer. Seine Lider zuckten einige Momente lang, dann war Craer mit einem Mal hellwach. Aber er blieb natürlich still liegen und lauschte. Dünnes Holz knackte, Flammen fauchten leise, und dazwischen erklangen das Scharren von schweren Stiefeln und
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das langsame und tiefe Atmen, welches nur von Hawkril stammen konnte. Dazu rauschten Bäume, aber weder floss hier ein Strom, noch knarrte und stöhnte ein altes Boot, welches ihn befuhr. Wohin mochte er gelangt sein? Würde er lange genug leben, um eine Antwort zu erhalten? Und würde die ihn dann noch einen Deut scheren? Der Beschaffer betastete übervorsichtig die wunde Stelle an seinem Hinterkopf und klopfte dann sachte den Rest seines Körpers nach Verletzungen ab. Craer fand nichts wirklich Schlimmes, auch wenn ihm alles zerschunden zu sein schien. Dann schälte er sich aus dem nassen Mantel, in welchen Hawkril ihn gelegt haben musste, und richtete sich auf. Bei diesem Geräusch fuhr der Hüne herum. Craer lächelte ihm zu, was zwischen den beiden als Dank vollkommen ausreichte. Dann schüttelte er sich, um festzustellen, ob er sein Gleichgewicht halten konnte und ob seine schmerzenden Glieder ihm nicht den Gehorsam verweigerten. Nachdem er mit dem Ergebnis mehr oder weniger zufrieden sein durfte, stakste er zu seinem Freund und klopfte ihm auf die Schulter. Nun holte er seinen tropfnassen Mantel und hängte ihn in eine Lücke zwischen zwei Bäumen – nicht nur zum Trocknen, sondern auch, um das Feuer vor allzu neugierigen Blicken vom Fluss zu beschützen. Gut möglich, dass sich hier noch Spione Silberbaums herumtrieben, um nach dessen Tochter und deren Entführern zu suchen. Die Vorstellung bereitete dem Beschaffer Unbehagen. Er lauschte wieder angespannt und hörte nur das Rauschen der
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Bäume. Dann verschwand er im Wald, um sich zu erleichtern. Danach sammelte er weiteres Feuerholz und hielt sein Messer griffbereit. Sein Magen hätte bestimmt nichts gegen einen saftigen Braten einzuwenden. Als Nächster regte sich Sarasper. Er stöhnte und murmelte eine ganze Weile vor sich hin, ehe er tatsächlich erwachte. Hawkril spitzte die Ohren, aber der Heiler gab nichts von sich, was in irgendeiner Weise einen Sinn ergab. Dann richtete er sich von einem Moment auf den anderen kerzengerade auf, war hellwach und starrte den Ritter eindringlich an. Furchtbare Angst zeichnete sich auf seinen Zügen ab. Die Erinnerung an erlittene Furcht löste einen Schweißausbruch bei ihm aus. Dicke Tropfen erschienen auf seiner Stirn und rannen seine Wangen hinab. Aber als Hawkril sich vor ihn hinkniete, um ihn zu untersuchen, atmete der Heiler ruhig und tief ein, winkte den Hünen fort und erklärte ihm, dass alles in Ordnung sei. Der müde Kriegsmann warf im Lauf des sich erwärmenden Morgens noch den einen oder anderen nicht ganz überzeugten Blick auf Sarasper. Niemals war die Angst aus den Augen des Alten verschwunden. Einmal glaubte der Hüne, das Wort »überwältigt« zu vernehmen, aber der Heiler war wach und bei Bewusstsein, lief herum und grub Waldfrüchte für ein Frühstück aus Wurzeln und Pilzen aus. Als Hawkril das letzte Kleiderbündel zum Trocknen ans Feuer legte, stellte er zu seinem Schrecken fest, dass die Prinzessin immer noch nicht erwacht war. Einige Male hatte er
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sie an der Schulter gerüttelt oder gezwickt. Aber das konnte sie genauso wenig wecken wie der Lärm, den die Männer hier veranstalteten. Doch auch als sich von der Feuerstelle der Duft von bratendem Wildbret – wenn auch nur ein Hase und ein Eichhörnchen – aufstieg, rührte die junge Frau sich nicht. Die Gefährten wuschen der Tochter des Barons das Haar und schnitten die Stellen heraus, welche zu sehr von verkrustetem Blut verklebt waren – und auch all das vermochte Embra nicht aus ihrem Schlummer zu reißen. Die Männer gaben ihre Bemühungen schließlich auf, trugen die Schöne ans Feuer und drehten sie in regelmäßigen Abständen, damit sie von allen Seiten trocken würde. Danach unterhielten die drei sich darüber, was sie nun anfangen sollten. »Wir haben eine Abmachung«, erinnerte Sarasper die beiden anderen bestimmt, »insofern das zwei Männern etwas bedeutet, die in Schwarzgult gehaust haben.« Hawkrils Miene verfinsterte sich, und er entgegnete grimmig: »An Eurer Stelle würde ich versuchen, mein loses Mundwerk etwas mehr im Zaum zu halten. Dumme Vorurteile scheinen mir kaum der rechte Dank für jemanden zu sein, welcher einen vor gar nicht so langer Zeit aus dem Fluss gezogen hat!« »He, ihr beiden, zügelt euch«, versuchte Craer, die Wogen zu glätten. »Ja, Heiler, wir haben eine Abmachung getroffen, und an die werden wir uns auch halten. Aber gewiss werdet Ihr einsichtig genug sein, um zu verstehen, dass man am Leben bleiben muss, um das zu erledigen, was Vorvater Eiche von einem will.«
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Doch Sarasper sah ihn jetzt wütend an. »Eines dürfte wohl feststehen, Craer: Ihr führt etwas Schändliches im Schilde. Nur was?« Der Beschaffer sah aus, als könne er die Welt nicht mehr verstehen. »Das ist keine Hinterlist, argwöhnischer Alter, sondern eine ganz klare und vernünftige Feststellung. Keiner von uns kann es sich erlauben, sein Leben allein und ausschließlich der Suche nach den Dwaerindim zu widmen ... Wenn wir das tun, werden nämlich die Magier des Barons und alle anderen alten Feinde von uns bald auftauchen, zusammen mit sämtlichen zusätzlichen Steinesuchern. Ungefähr die Hälfte aller Magier, etliche Barden und jeder einzelne der Fürsten werden uns an gewissen Orten auflauern und Fallen stellen. Sie können sich nämlich ausrechnen, wo wir auftauchen werden. Dazu müssen sie nicht mehr tun, als verbreiten zu lassen, dass ein bestimmter Stein an dieser oder an jener Stelle verborgen liege. Und danach müssen sie dort nur noch mit ihren Freunden oder Soldaten auf uns warten. Wir würden das gewiss nicht lange durchstehen. Was glaubt Ihr denn, wie ausreichend Ihr uns heilen könntet, wenn sich nur ein Zehntel der Pfeile, welche das Schiff getroffen haben, in uns bohren ... Und es bedarf nur eines einzigen Pfeils an der falschen Stelle – einem Auge, dem Hals oder dem Herzen –, und die Gehörnte Herrin liefert Euch an den Finstern aus. Danach spielt Eure Suche nach den Steinen wahrlich keine große Rolle mehr.« »Das ist mir durchaus bewusst«, gab Sarasper leise zu. »Die Angst war es ja gerade, welche mich viel zu lange in meinem
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Versteck hielt – bis ihr aufgetaucht seid.« Er ließ den Kopf hängen, weil ihm Tränen in die Augen traten. »Hört auf damit«, befahl Hawkril ihm grimmig. »Kümmert Euch lieber um das Mädchen hier. Was fehlt ihr?« »Nichts«, antwortete Craer ihm fröhlich. »Sie schläft und lässt ihre klingenscharfe Zunge ruhen – ich halte das für einen sehr angenehmen Zustand.« Schlafende Zauberinnen lässt man ruhen, gibt Rast und Schlummer ihrem Tun – wenn es ein solches Sprichwort noch nicht gibt, müsste man es glatt einführen.« Der Heiler wie auch der Schwertkrieger verdrehten die Augen. Endlich bestand die Verbindung wieder zwischen den beiden, und Craer lächelte sie zufrieden an. Dann zuckte er die Achseln und zog das winzigste Messer, welches die beiden je bei ihm gesehen hatten, aus seinem Gürtel, nahm eine der schlaffen Hände der Prinzessin in die seine und fing an, ihr die Fingernägel zu pflegen. Dabei ließ er sich von den Gefährten nicht stören, welche ihn in einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Unglauben anstarrten. Ein heiterer und sonniger Morgen, wie er in vielen Liedern besungen wurde, beleuchtete die Ruinen von Indraewyn. Phalagh von Ornentar stolperte schläfrig aus der zerfallenden Kammer, welche er mit zwei anderen Magiern teilte, um sich zu erleichtern. Einer von den beiden schnarchte laut und unregelmäßig wie ein Wildschwein. Wenn er herausgefunden hatte, wer von ihnen das war ... Phalagh umrundete auf der Suche nach ein paar Bäumen, welche eine Bewässerung durchaus willkommen heißen wür-
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den, einen Haufen loser Steine und stand plötzlich dem Veteranen Riwryn gegenüber. Der Krieger trug immer noch seine stinkende Rüstung, welche er die ganzen letzten Tage nicht abgelegt hatte. Eine Hand ruhte auf dem Schwertgriff, und die übliche übellaunige Miene zierte seine vernarbten Züge. »Das ist heute aber mal ein besonders grimmiger Blick«, bemerkte Phalagh und fing in aller Ruhe an, einem Schössling Regen zu spenden. »Womit habe ich mir denn den verdient?« »Ich musste gerade daran denken, was für eine großartige Wache ihr Bannschleuderer aufgestellt habt«, gab Riwryn mit unüberhörbarem Spott zurück und zeigte auf die überwachsenen Felsen und die Baumreihen. »Aha«, meinte der Magier und schüttelte den Kopf, um die letzten Schlafreste aus seinem Bewusstsein zu vertreiben. Dann schaute er dorthin, wohin der Krieger zeigte. »Und was genau soll ich dort erkennen?« »Obacht, Meister«, brummte Riwryn, »fragt Euch lieber, was Ihr dort nicht erkennt.« Phalagh sah genauer hin, und ein Frösteln lief ihm den Rücken hinab: Dort hätte eigentlich ein Zauberer Wache stehen sollen – aber weit und breit ließ sich kein Magier sehen. Der Bannschmied zog die Stirn in Falten. »Nynter hatte die letzte Schicht gezogen«, erklärte er gedehnt, »und sollte sich eigentlich hier aufstellen, genauer gesagt dort hinten, bei dem vorspringenden Fels.« Beide Männer marschierten zu der angegebenen Stelle, schauten sich, dort angekommen, mit grimmiger Miene um,
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liefen um den Brocken herum, schauten in alle Ecken und Spalten, blickten dann ein Stück weiter ... und blieben beide gleichzeitig und wie vom Donner gerührt stehen. Da vorn befand sich Nynter, vor dem düsteren und türlosen Eingang eines zerfallenen Hauses. Doch bekam man von ihm nur die untere Hälfte zu sehen: von den Stiefeln bis zum Bauch stand der Körper aufrecht da, doch alles, was sich einmal darüber befunden hatte, war sauber abgebissen und gleich an Ort und Stelle verschlungen oder an einen anderen Ort getragen worden. Blut war die Beine hinabgeronnen, hatte sich an den Stiefelabsätzen gesammelt und war dort getrocknet. Einer der Flugdolche des zerteilten Zauberers zog immer noch um Bauch und Beine seine Kreise. Langsam und geduldig wie eine Schmeißfliege folgte die Klinge ihrer Bahn. Phalagh schluckte mehrmals und versuchte dann zu sprechen. Aber mehr als ein Krächzen kam dabei nicht zu Stande, und so schluckte er ein weiteres Mal. »Wer mag das getan haben?« fragte er nicht gerade einfallsreich, dafür aber umso heiserer. Der Krieger zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Wir haben diesen Ort noch nicht besonders gründlich durchsucht, was ja auch schlecht möglich war, weil gewisse Herrschaften es gar nicht abwarten konnten, irgendeinen besonderen Stein in die Hände zu bekommen ... Erinnert Ihr Euch, oder soll ich Eurem Gedächtnis noch etwas auf die Sprünge helfen?« Phalagh fuhr zornbebend zu ihm herum: »Wie könnt Ihr es wagen, in einem derart beleidigenden Tonfall mit mir zu reden?« »Aber, aber, wo werde ich denn ...« erwiderte Riwryn und
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hielt einen Dolch in der Hand. Der Magier hatte gar nicht mitbekommen, wie der Abenteurer ihn zog. »So etwas würde mir niemals einfallen.« Die Klinge tanzte zwischen den Fingern, der Stahl blitzte im Sonnenlicht, und schon verschwand das Messer wieder in seiner Scheide. »Ich brauche Euch doch noch, da werde ich Euch, einen der beiden letzten Magier, welche uns geblieben sind, doch nicht vergrätzen. Schließlich sind Zauberer ja flussauf und flussab für ihre Nützlichkeit und Wachsamkeit berühmt. Wisst Ihr, manchmal, wenn ich abends nicht einschlafen kann, stelle ich mir die Frage, was unsere Welt wohl ohne Bannschmiede anfangen möchte ...« Beider Blicke trafen sich mit einem Ingrimm, als wollten sie miteinander ringen. Dazu kam ein gewisses Messer wieder aus seiner Scheide heraus, und so kam es, dass Phalagh als Erster den Blick abwandte. Baron Silberbaum bevorzugte es, seine Magier dorthin zu schicken, wo er sie im Auge behalten konnte. Und wo sie sich gegenseitig überwachten. Seiner festen Überzeugung nach (und auch der vieler anderer) kam Zauberern nur Unsinn in den Sinn, wenn man sie sich selbst überließ. Er hatte es sich auch zur Angewohnheit gemacht, seine Magier beschäftigt zu halten – auch wenn er dabei in Kauf nehmen musste, dass sie ihn beschummelten; solange es sich dabei nur um Kleinigkeiten handelte, warum sich darüber aufregen? Und so bereitete es dem Fürsten immer wieder diebische Freude, an einem Morgen wie diesem unangemeldet in sei-
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nen Audienzsaal zu platzen und die Herrschaften dort fleißig bei der Arbeit zu sehen. Natürlich erwies es sich als unabdingbar, den Raum zu wechselnden Zeiten aufzusuchen, damit die Magier nie wissen konnten, wann ihr Herr sich zeigte, und deshalb von sich aus darauf achteten, mit der Arbeit nicht in Verzug zu geraten. Normalerweise hätte er den heutigen Morgen mit Muße und seinen sechs Kammerjungfern in seinem riesigen Bett verbracht. Aber heute befriedigte er sie und sich überaus zügig, ließ sich dann von ihnen baden und in einen seidenen Morgenmantel hüllen. Danach eilte er mit dieser kichernden Gesellschaft zum Audienzsaal, um hier sein überaus üppiges Frühstück zu genießen. Er grüßte die drei anwesenden Magier freundlich, während die Jungfern ihn kniend bedienten, doch die Herrschaften grüßten so knapp zurück, wie es die Höflichkeit gerade so eben noch zuließ. Silberbaum lächelte dünn. Die drei wirkten überaus fleißig: Markoun beschäftigte sich damit, sein unbrauchbares Auge zu heilen; vielleicht ersetzte er es aber auch nur mit einer Nachahmung seines verbliebenen gesunden. Ingryl setzte einen neuen Einfall in die Tat um, der Prinzessin auf die Spur zu kommen. Klamantel horchte wieder den Geist der Spione des Barons ab, welche sich in den anderen Fürstentümern am Fluss herumtrieben, um neueste Nachrichten zu sammeln und Verbündete bei der Stange zu halten. Von dem Trio schien Klamantel am angestrengtesten zu arbeiten. Der Bann, dessen er sich bediente, erforderte, in die
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Flamme einer Öllampe zu starren. Nur auf diese Weise, so hatten die Magier ihrem Herrn anvertraut, ließen sich die Gedanken weit entfernter Personen lesen. Deswegen fuhr Silberbaum auch heftig zusammen, als der so ruhig und gewissenhaft arbeitende Magier mit einem Mal aufsprang, von seinem Arbeitstisch zurücktaumelte, einen grässlichen Schrei ausstieß, hin und her schwankte und sich tatsächlich die Augen auszureißen schien. Stieg da nicht auch Rauch zwischen seinen Fingern auf? Alle Anwesenden hoben den Kopf, starrten den schmerzgepeinigten Magier an und erbleichten. Nur Ingryl ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Die Öllampe Klamantels schmauchte nur noch ohne Flamme. Der Baron sah streng in das gesunde Auge Markouns und fragte: »Wo hat er gerade Gedanken gelesen?« Der jüngste Zauberer warf einen flüchtigen Blick auf die Nussschalenhälften, welche Klamantel auf einer Landkarte verteilt hatte, und antwortete: »Adeln. Dort hat wohl jemand sein geistiges Eindringen mit Magie abgewehrt.« Erst jetzt schien ihm zu Bewusstsein zu kommen, was dem Älteren zugestoßen sein musste, und er fragte ihn zögernd: »Klamantel?« Zur Antwort heulte der Magier so schaurig, dass Markoun sich bebend zu ihm begab und ihm die Hände vom Gesicht zog. Der Jüngste fing an zu zittern. Klamantels Augen schienen verschwunden zu sein. Zwei dunkle Löcher zeigten sich unter seiner Stirn, und aus ihnen stiegen dünne Rauchfäden. Des Geblendeten Mundwinkel zuckten, dann überkam ihn eine neue Schmerzwoge, und er fing wieder an, wie am
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Spieß zu schreien. Die Jungfern aus dem Gefolge des Barons wimmerten um die Wette und versuchten, sich möglichst weit von dem Blindgesichtigen zu entfernen. Nur Baron Faerod setzte in aller Seelenruhe seine Mahlzeit fort. Markoun starrte erst ihn an und dann den Bannmeister Ingryl, welcher ungerührt und ohne innezuhalten an seinem Zauber weiterarbeitete. Der Jüngste schüttelte ungläubig den Kopf. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder seinem eigenen Arbeitstisch zu, atmete tief durch und griff nach dem Stück Ton, aus welchem er einen Augapfel geknetet hatte. Hinter ihm wurde das Heulen und Schluchzen lauter, und zweimal streckte Markoun schon die Hand nach einer Schriftrolle aus, um sie dann doch wieder zurückzuziehen. Endlich hielt der Jüngste es nicht länger aus. Er drehte sich um, wirkte kurz angebunden einen Schlummerzauber und trat dann rausch zu Klamantel, um dessen plötzlich erstarrten Körper aufzufangen und sanft auf den Boden zu betten. Der Rauch verzog sich nun, und Markoun erkannte, dass sein Kollege noch über Augen verfügte, wenn auch nur das Weiße darin verblieben war. Der Jüngste schüttelte sich wieder, und als er sich umdrehte, entdeckte er, dass der Fürst ihn anstarrte. Tadel lag in seinem Blick. »Verzeiht, Herr, aber bei solchem Lärm kann ich nicht arbeiten«, erklärte er sich dem Baron. Silberbaum aber zuckte die Achseln: »Anscheinend kann man das aber lernen. Seht nur ihn.« Er nickte in Richtung von Ingryl Ambelter, der ruhig und unaufgeregt zwei Goldschmiedezwingen so einstellte, dass sie
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eines von Prinzessin Embras Haaren gestrafft zwischen sich hielten. »Ich werde ihn spätestens heute Abend damit beauftragen«, sprach der Fürst, »Beirldoun Klamantels Augen wiederherzustellen.« Markoun senkte beschämt das Haupt: »Vergebung, Herr, aber ich frage mich, warum wir uns überhaupt mit Adeln befassen, wo man dort offensichtlich Gedankenlesen nicht schätzt, nicht einmal das aus der Ferne.« Hätte der Jüngste etwas weniger Ehrfurcht vor dem Baron besessen und sich weniger Gedanken ob der Kühnheit seiner Frage gemacht, wäre Markoun vielleicht endlich das Auge aufgefallen, welches durch das Loch hinter dem Fürsten spähte ... Dieses Auge hatte in den letzten Wochen sehr oft den Fürsten und seine drei Magier beobachtet ... Aber weil die Dinge sich nun einmal so verhielten, wie sie waren, bekam Markoun auch heute nichts davon mit. Silberbaum hob seinen Kelch, betrachtete ihn, als sähe er ihn zum ersten Mal in seinem Leben, trank dann aber trotzdem daraus und erklärte ihm dann: »Der starke Drang, sich laut über etwas zu wundern und sich um Dinge zu scheren, welche sie nichts angehen, scheint alle Magier in regelmäßigen Abständen zu überkommen ... Leider bilden auch die Meinigen dabei keine Ausnahme.« »Verzeiht mir, Euer Durchlaucht, ich ... ich ...« Der Baron brachte ihn mit einer erhobenen Hand zum Schweigen. »Genug damit. Ihr habt eine Frage gestellt, und deswegen sollt Ihr auch eine Antwort erhalten, welche Euch ... zumindest ein wenig enthüllt. Einen Magier dürfte es kaum überraschen zu erfahren, dass sämtliche Fürstentümer den Silberfluss hinauf und hinab sich
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zum Krieg rüsten. Ein Waffengang wird also so unvermeidlich erfolgen wie die Nacht dem Tag. Söldner fressen zu viel, und ihre Treue hat einen sehr hohen Preis. Deswegen kann kein Fürst es sich erlauben, sie länger als ein Jahr unbeschäftigt zu lassen. Deswegen wird über kurz oder lang irgendwer seine Söldner gegen ein anderes Land schicken, und dann steht binnen kurzem das ganze Tal in Flammen. Ich werde schon dafür sorgen, wenn es sonst keiner tut.« Faerod Baron Silberbaum schenkte dem Jüngsten ein eisiges Lächeln, ehe er fortfuhr: »Ihr braucht Euch nicht mit dem Wissen darum zu belasten, welcher Fürst meiner Ansicht nach was tun und was lassen wird. An einem solchen Spiel nehmen überhaupt nur diejenigen teil, welche im Tal über Landbesitz verfügen. Für Euch reicht es zu erfahren, dass solche Überlegungen im Grund müßig sind; denn seit Schwarzgult an mich gefallen ist und ich mich in der Lage sah, mir dieses Land ganz und gar einzuverleiben, haben die anderen hohen Herren im Tal schon verloren. Aglirta wird wieder auferstehen, und ich werde sein König sein. Aber wenn vorher der Krieg ausgebrochen ist, werden nicht mehr ganz so viele Menschen übrig sein, diesen schönen Tag zu begrüßen ... und selbstredend nach den Gemetzeln, welche ich dann aus strategischen Gründen durchführen lassen muss.« Markoun schien heute jedoch der Hafer zu stechen, und so konnte er wohl selbst nichts so recht dafür, als er sich fragen hörte: »Aber, Herr, gewiss wird jeder Baron mit ausreichend Rittern und Söldnern zu ähnlichen Schlussfolgerungen
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und Strategien gelangen, wie Ihr sie gerade geäußert habt ... Dabei können doch nicht alle hohen Herren Recht behalten.« Der Fürst lächelte nur dazu, und der Jüngste beeilte sich, das Schweigen zu unterbrechen. »Oder entscheidet sich alles auf dem Schlachtfeld und nach den Launen der Dreifaltigkeit?« Das Lächeln des Barons wandelte sich nicht. »Ich glaube, Ihr habt bereits einiges davon sehen können, wie ausgezeichnet sich Silberbaum auf den anstehenden Krieg vorbereitet hat. Dazu rechne ich nicht nur meine drei Magier, meine Verbündeten und mein Heer, welches größer und besser ist als jedes andere im Tal, sondern auch meine Kornspeicher.« »Gewiss, gewiss, nur was sollen Kornspeicher –« Der Baron strich seiner Lieblingsjungfer über den Kopf, während sie seine Gemächtekapsel liebkoste. »Ihr seht und erkennt doch nicht«, unterbrach er den Magier. »Dann achtet darauf, wenn wir in den Krieg ziehen: Die Soldaten von Silberbaum kämpfen genauso gut und bereitwillig mit Fackel und Ölkrug wie mit Schwert und Armbrust.« Markoun verengte die Augen. »Mit Fackeln und Öl wollen sie verbrennen und zerstören, nicht wahr? Vergebt mir noch einmal, Euer Hoheit, aber das habe ich nie so recht begriffen: Wie kann Euch ein Land etwas einbringen, welches Ihr zerstört und verheert habt? Werden die Soldaten Silberbaums, welche in der Schlacht fallen, ihr Leben nicht umsonst gelassen haben?« Faerod Baron Silberbaum lächelte auf das halbe Dutzend blonder Schöpfe hinab. Seine Jungfern überboten sich gerade darin, ihm auf besonders raffinierte Weise zu Gefallen zu sein.
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»Ein Herrscher muss stets weiter denken und schauen als diejenigen, welche er beherrscht«, antwortete er Markoun nun. »Diesem Vorbild solltet Ihr auch nacheifern, wenn aus Euch ein großer Magier werden soll. Hier und heute seht Ihr lediglich die Feuer, die Leichen und das Leid. Eure Gedanken beschäftigen allein Plünderung, Versklavung und all das Gold, welches Ihr erbeuten oder im Triumph fortführen könnt. Aber ich rate Euch dringend, Yarynd, entwickelt andere Denkweisen, und Ihr werdet einen neuen Blick auf viele Dinge gewinnen.« »Was, äh, meint Ihr mit neuen Denkweisen, Herr?« »Also gut, hört zu«, entgegnete der Fürst mit einem selbstzufriedenen Lächeln. »Mit wohl durchdachter Verheerung und Verwüstung des Feindeslandes bricht Silberbaum seinen Nachbarn das Rückgrat. Unter unseren Gegnern finden sich dann auch jene Länder, welche sich als meine offiziellen Verbündeten in Sicherheit wähnen, doch im Fortgang des Krieges als elende Verräter enttarnt werden. Sie alle werden im folgenden harten Winter vor dem Verhungern stehen. Die wenigen Überlebenden dieses Unglücks werden im darauf folgenden Frühjahr kaum ausreichend die Felder bestellen können. Sobald sie sich dann klar darüber geworden sind, dass ihnen eine magere Ernte und ein weiterer schrecklicher Winter bevorstehen, werden sie kaum dazu kommen, gegen unsere Truppen Widerstand zu leisten. Ich werde in jeder Stadt und in jedem Dorf, welche sich meinen sieggewohnten Truppen ergeben haben, ein großes Fest feiern lassen. Diejenigen, welche sich an meiner Tafel
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satt essen können, werden danach in Treue zu mir stehen. Auch im darauf folgenden Krieg, den ich führen werde, um neues Land zu erobern und meine Kornspeicher wieder zu füllen.« Markoun starrte seinen Herrn fassungslos an, und langsam wich alles Blut aus seinem Gesicht. Sein Kiefer bewegte sich, aber für einen langen Moment fiel ihm nichts ein, was er sagen konnte. Die Strategie des Barons erschien ihm so verschlagen, so widerlich gründlich durchdacht und so vollkommen menschenverachtend. »Nicht schlecht, was?« fragte der Fürst leutselig, winkte seine Jungfern fort und griff nach einer Weinkaraffe. »Ihr müsst lernen, auf solche Weise an die Dinge heranzugehen. Entsetzt Euch nicht länger wie ein Mädchen über alles, was auf den ersten Blick unschön aussehen mag. Auf lange Sicht spielen solche Schrecknisse nur eine untergeordnete Rolle.« Der Fürst nickte in Richtung Ingryl Ambelter. »Als es gegen Schwarzgult ging, hat unser Bannmeister dort den ganzen Feldzug Schritt für Schritt genau wie ich vorhergesehen.« Markoun schaute zu dem Magier und stellte fest, dass dieser in seiner Arbeit innegehalten und den Kopf gehoben hatte, um ihn anzulächeln ... Ein undurchschaubares Lächeln, das nur von den Lippen, nicht aber aus den Augen kam. Embras regloser und schweigender Körper wurde plötzlich von Krämpfen geschüttelt. Craer rief erschrocken die anderen herbei. Schon stürmten Sarasper und Hawkril vom Flussufer durch das Unterholz herbei. Der Heiler hatte dem Kriegs-
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mann unten am Strom etwas von seiner Stärke zurückgegeben. Als die beiden die Senke mit seinem verlöschenden Feuer erreichten, hatte die Prinzessin das Bewusstsein wiedererlangt und die Augen aufgeschlagen. Die eine Hand lag auf ihrer Stirne, und mit der anderen versuchte sie, den Beschaffer zu verscheuchen, der sie festhalten wollte. »Meine Augen! Craer, meine Augen!« zischte die junge Frau. »Was ist mit meinen Augen? Sie brennen so!« »Das Feuer auf dem Schiff. Könnt Ihr denn überhaupt etwas sehen?« wollte der Beschaffer wissen und hielt sie mit beiden Händen in seinem Schoss fest, weil sie immer wieder rastlos versuchte, auf die Beine zu kommen. »Ja, natürlich, schon, aber die Augen schmerzen so furchtbar! Seit gerade eben erst, wie aus dem Nichts gekommen ... Moment, ja, jetzt lässt es etwas nach ...« Hawkril wandte sich an Sarasper. »Könnt Ihr sie nicht ein bisschen heilen?« Der Alte legte die Stirn in Falten und zog die Brauen zusammen. »Wenn es nicht anders geht ... Mir kommen die Schmerzen der Prinzessin eher wie ein Fernzauber vor. Herrin, vermögt Ihr etwas zu erkennen?« Sie nahm die Hand von der Stirn und starrte ihn aus zusammengekniffenen Augen an. »Aber klar doch«, antwortete sie unwirsch. »Ob ich die Augen geöffnet oder geschlossen halte«, fuhr sie nach einem Moment fort, »ist sich gleich, sie brennen gleichermaßen furchtbar. Krötentee und Wolkenbruch! Dabei kann es sich nur um ein faules Ei handeln, welches mir die Zauberer meines Vaters ins Nest gelegt haben!« Der Hüne beugte sich über die Prinzessin, und diese hatte
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das Gefühl, ein Berg werfe seinen Schatten über sie. »Soll Sarasper versuchen, einen Abwehrbann –« »Wenn das Brennen nicht aufhört und ich es nicht mehr aushalten kann«, gab die junge Zauberin ungehalten zurück. »Und irgendwann muss ich ja auch schlafen. Aber noch braucht er nichts zu unternehmen.« Sie murmelte und knurrte Unverständliches, schüttelte sich und fragte plötzlich: »Ich war auf dem Fluss ... auf dem Schiff ... Bei der Dreifaltigkeit!« Sie schaute sich in der Runde um. »Seid ihr alle heil geblieben? Wohlauf und munter?« »So blühend, wie Ihr uns hier vor Euch seht«, antwortete Hawkril. »Aber alles andere – Schiff, Besatzung und unser Gepäck – ist untergegangen. Jetzt überlegen wir uns natürlich, wie es weitergehen soll.« »Nur weit fort«, lächelte die Prinzessin matt. Sarasper meldete sich zu Wort: »Ich befürchtete schon, in unserer begreiflichen Hast, Eurem Vater zu entkommen, würde die Suche nach den Steinen ins Hintertreffen geraten. Craer und Hawkril vertreten dagegen eine ganz andere Meinung. Ich halte es also für fair, wenn wir nun auch Eure Ansichten vernehmen.« Die Hexe wandte sich an die beiden Krieger und erklärte ihnen: »Wir sind dem Heiler etwas schuldig. Wenn wir beweisen wollen, kein so schäbiges Wesen zu besitzen wie mein Vater, müssen wir unsere Versprechen auch halten.« »Keiner von uns will ein gegebenes Wort brechen«, entgegnete Craer. »Hawkril und ich geben nur zu bedenken, dass wir uns nicht blindlings auf diese Suche begeben und alles andere links liegen lassen sollten ... Sonst kommt Euer Vater früher, als uns lieb sein dürfte,
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hinter die Sache, und braucht nur noch am Wegesrand darauf zu warten, dass wir vorbeigelaufen kommen.« Embra nickte. »Das stimmt und – Aaah!« Die drei Männer beugten sich sofort zu ihr vor und riefen wie aus einem Munde: »Herrin!« Die Prinzessin legte wieder die Hand auf die Stirne. »Nein, nein, alles in Ordnung«, beruhigte sie ihre Gefährten leise. »Ich habe nur überrascht ausgerufen, weil die Schmerzen verschwunden sind.« Die Zauberin rieb sich zur Sicherheit die Augen und erklärte dann Sarasper: »Ganz recht, da hat Magie dahinter gesteckt. Hinter ihrem Rücken tauschten die drei Gefährten besorgte Blicke aus. Noch während sie damit beschäftigt waren, sauste summend ein Pfeil aus den Bäumen heran und bohrte sich zitternd vor Craers Füßen in den Boden.
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In die Glitzernde Stadt C Bei dem Pfeil handelte es sich nicht um eine Warnung. Denn schon sauste ein ganzer Schwarm heran. Die Gefährten rannten auf der anderen Seite den Grat hinunter, um im Unterholz Deckung zu finden. Nur Embra blieb kniend zurück und übergab sich weiter. Kein einziges Geschoss fand sein Ziel, und man konnte aus dem Wald unwilliges Murren und Fluchen hören. »Dann fallen wir eben so über sie her. Die haben bestimmt etwas zu essen dabei!« »Aber nicht die Frau«, mahnte ein anderer. »Die heben wir uns als unsere Liebessklavin auf.« »Wie, bei der Heiligen Dreifaltigkeit, konntet Ihr nur so beharrlich danebenschießen?«, wollte eine dritte Stimme wissen. »Genau so wie Ihr«, erhielt er zur Antwort. Am Waldrand tauchten jetzt ein paar finstere Gesellen in bunt zusammengewürfelter Rüstung und mit allerlei Waffen auf. Alle starrten lüstern auf die Prinzessin. »Was für ein flotter Käfer!« »Obacht! Die anderen kommen zurück. Ergreift die Kleine!«
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Alle streckten die Hände nach der Zauberin aus und brachen sich die Finger an einem unsichtbaren Hindernis. Dieser hastig gewirkte Bann schirmte Embra wie ein Schild ab und hatte vorhin auch dafür gesorgt, dass alle Pfeile abgelenkt wurden. Doch dieser Zauber betrieb Raubbau an den Kräften der jungen Frau und ließ sie von Moment zu Moment mehr schwächeln. Während die Strauchdiebe neue Gelegenheit zum Fluchen erhielten, konnte die Prinzessin sich nur noch auf allen vieren halten. Als ihr Gesicht weiß wie eine Wand geworden war, verlor sie das Bewusstsein. Craer hatte gesehen, wie es den Schurken verwehrt worden war, ihre Gefährtin zu ergreifen. Er führte Hawkril in weitem Bogen um die Prinzessin und die Männer herum. Sarasper näherte sich der Gruppe von der anderen Seite. »Für Schwarzgult!« brüllte der Hüne dann und stürmte mit geschwungenem Schwert auf die Strauchdiebe zu. »He! Was soll denn das? Was wollt Ihr von –« rief einer der Halunken. Der Klingenstreich schnitt ihm den Hals auf, aber nicht ganz, so dass er noch den Schluss seiner Frage hervorbringen konnte: »– uns?« Craer rannte schon an den beiden vorbei und setzte den Strauchdieben hinterher, welche in den Wald zurückflohen. »Traut euch doch! Greift uns doch an! Traut euch doch!« Der Beschaffer stach den ersten nieder, lief um einen Baum herum, tauchte unversehens vor einem zweiten auf und gab auch dem seinen Stahl zu schmecken. »Ihr wollt euch uns in den Weg stellen, wo wir uns doch nach Glitzerstadt zu schleichen beabsichtigen?« brüllte er die
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anderen an. »Na, wartet, die Suppe werden wir euch versalzen! Das sollt ihr uns bezahlen!« Der dritte ging zu Boden und konnte nur noch mit einem Gurgeln auf die Anwürfe antworten. »Ihr seid jetzt schon alle tot!« schickte Hawkril seine eigene Drohung hinterher. Sein nächster Schwerthieb trennte einem der Schurken die Hand vom Arm und fuhr ihm auch noch in die Brust. Überall bekam man inzwischen Krachen, Fluchen und Röcheln zu hören. Der bewegliche Beschaffer sprang hierhin und dahin, schlug Köpfe ein, trat dem einen oder anderen so ans Knie, dass dieser nicht mehr laufen konnte, und tänzelte zwischen Schwertern und Hellebarden hin und her, welche nie schnell genug waren, ihm ernstlich etwas anhaben zu können. »Wer hat euch geschickt?« fragte Craer den nächsten, bohrte ihm seine Klinge in den Bauch und spießte ihn an einem Baum auf. Der Strauchdieb spuckte Blut und sackte zusammen, als der Beschaffer sein Schwert wieder herauszog. »Niemand! Niemand hat uns geschickt! Wir sind Soldaten und aus dem Krieg zurück ... und wir haben seit Tagen nichts mehr gegessen.« »Das geht uns auch so!« gab Craer ungehalten zurück. »Geht doch lieber Silberbaums Soldaten überfallen, ihr Hunde!« »Ihr wirkt ungewohnt verärgert, Freund«, bemerkte Hawkril, während er Äste und Zweige weghackte, um bessere Sicht auf die drei nächsten Gegner zu erhalten. »Fragen entgegenschleudern, Befehle geben – Ehr hört Euch ja beinahe an wie ein Schwertmeister!«
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»Nun, so fühle ich mich auch«, gab sein Freund zurück. »Kunststück, wenn man von einem Haufen Hundsfotte umringt wird. Warum konnten diese Dorftrottel nicht jemand anderen überfallen?« »Lassen wir denn irgendwen übrig, um jemand anderen überfallen zu gehen?« fragte der Hüne mit Unschuldsmiene, schleuderte einen Räuber gegen einen umgestürzten Baum und hieb einem anderen den Kopf ab. In diesem Moment hörten sie Embras Schrei. »Nein«, antwortete der Beschaffer grimmig, wirbelte herum und rannte durch den Wald zurück zum Kamm. »Nicht einen Einzigen!« Sarasper stand hinter der Prinzessin und legte ihr eine Hand auf die Wange. Krötenfett! Warum fühlte sie sich so kalt an? Er kniete sich neben sie hin und schob ihr einen Finger in den Mund. Diese Berührung ließ ihren Schild zu nichts vergehen. Der Heiler fluchte leise und gab ihr etwas von seiner eigenen Lebenskraft ab. Die Prinzessin benötigte weniger jemanden, welcher ihr die Knochen flickte oder Wunden schloss, sondern Lebensenergie. Sie bedurfte des Ersatzes für die Kräfte, welche die Zauber ihr raubten. An diese Schwächeanfälle war sie nicht gewöhnt, und dabei handelte es sich ja auch um etwas Ungewöhnliches. Sarasper vermutete, dass ein böser Zauber diese auslöste. Ja, es konnte sich nur so verhalten. Die Zauberin stöhnte unter ihm, und der Heiler fühlte sich nun selbst matt und leer. Zitternd sank er neben ihr zu Boden. Er roch den Duft ihres Haars und schalt sich dafür, so
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schlecht auf sie aufgepasst zu haben. Warum besaß er nicht mehr genügend Kraft, jetzt wieder aufzustehen? Wie brachte diese junge Frau es nur fertig, Tag für Tag solche Schwäche zu durchleiden? Da hörte er Keuchen, und kurz darauf das Stampfen schwerer Schritte. Sarasper rollte herum und gewahrte einen Strauchdieb, der mit irrem Blick und gezogenem Schwert aus dem Wald gerannt kam. »Wenn ich schon ... sterben muss ...« schnaufte er und stürmte ganz offenkundig auf den Heiler zu, »dann werde ich ... wenigstens Euch mitnehmen!« Schon sauste die Klinge todbringend auf ihn nieder. Sarasper wich aus und trat in derselben Bewegung nach dem Stahl. Die Schwertspitze ritzte dem Alten die Seite auf und krachte dann Funken sprühend auf den steinigen Boden. Sarasper heulte, als es an seinen Rippen wie Feuer brannte, aber es gelang ihm dennoch, seinen Gegner an der Schwerthand zu packen. Als der Soldat sein Schwert wieder packte und hochriss, sprang der Heiler mit, trat wie ein Esel aus und wuchtete den Mann über sich hinweg. Der Strauchdieb landete auf dem Boden und Sarasper auf ihm. Sie rollten ineinander verschlungen über die Steine, und in einiger Entfernung schrie Embra. »Krötendreck und Unkenschleim!« schnaufte der Soldat. »Wir wollten doch nur euer Essen!« »Und unser Leben gleich dazu!« entgegnete der Heiler grimmig, fand endlich den Dolchgriff an seinem Gürtel, zog die Waffe heraus und stieß sie dem Strauchdieb zielgenau ins linke Auge. »Und unser Leben gleich dazu!« wiederholte er noch einmal.
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Der Soldat erstarrte unter ihm und erschlaffte dann. Sarasper erhob sich von ihm, stellte fest, wie sehr er außer Atem war, und hörte ein neues Paar Stiefel heranstampfen. Aber deren Träger lief schneller und leichtfüßiger. »Craer?« rief der Alte. »Zu Euren Diensten«, grinste der Beschaffer. »Vor allem, wenn ich sehe, wie ausgezeichnet die Prinzessin und Ihr hier alles im Griff habt.« Der Heiler rollte sich auf den Rücken, um zu verschnaufen und in den wolkenlosen blauen Himmel zu blicken. »Delnbein, wenn Ihr und Freund Grimmtau mit der fröhlichen Metzelei im Wald fertig seid, benötige ich etwas von Eurem Blut.« »Oho! Ihr wollt also auch davon? Unsere erschlagenen Freunde hier waren nämlich ebenfalls dahinterher.« Craer hockte sich neben den Alten. »Ich kann nicht gerade sagen, dass wir sehr freigebig gewesen sind. Da Ihr jetzt also wisst, wie die Dinge stehen, sei die Frage gestattet, wozu Ihr unser Blut haben wollt.« »Um unsere erhabene Zauberin am Leben zu erhalten«, brummte der Heiler zur Antwort, ehe er das Bewusstsein verlor. »Bei der Dreifaltigkeit!« ächzte Hawkril und wurde blass. »Ich fühle mich, als hätte mir jemand die Innereien herausgerissen, bis nichts mehr in meinem Bauch übrig geblieben ist!« »So ergeht es der Herrin Silberbaum schon die ganze Zeit«, wandte Sarasper ein. »Seit sie angefangen hat, Zauber zu wirken. Und jetzt seid vernünftig, und bleibt ganz still liegen. Ganz so, wie die Prinzessin es auch tut.«
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Er schnaufte und fuhr mit der Blutentnahme fort. »Nur noch ein winziges Momentchen, dann wird Embra genug Kraft haben, um uns mit einem Sprungbann weit, weit fort von hier zu bringen. Craer befürchtet nämlich, dass die Soldaten, wenn es denn wirklich welche waren, irgendwo Freunde sitzen haben, denen wir noch nicht begegnet sind.« »Ihr versteht es doch immer wieder, Heiler, mich aufzumuntern«, grunzte der Krieger, ehe alles um ihn herum in Finsternis versank. »Ist ja nicht gerade die beste Karte«, brummte einer der Soldaten. »Ihr seid nicht zufällig draußen gewesen, um sie durch persönliche Erkundung zu verbessern, oder?« gab Riwryn giftig zurück und bedachte den Soldaten mit einem bösen Blick. Der trat vorsichtshalber einen Schritt zurück und murmelte etwas vor sich hin. Wieder schwiegen alle und starrten lieber auf die Schrammen am Schild des Mannes, welcher für ihn nie mehr Verwendung haben würde. Die Karte wirkte tatsächlich nicht sehr ausführlich und bildete darüber hinaus auch nur eine kleine Ecke von Indraewyn ab. Doch reichte sie aus, ihnen anzuzeigen, was sich unter all den Bäumen und dem Dickicht befand. Die Soldaten durften sich jetzt ziemlich sicher sein, dass in ihrer unmittelbaren Umgebung keine Ungeheuer lauerten (wie zum Beispiel ein solches, welches Nynter getötet hatte). Auch besaßen sie inzwischen die Gewissheit, dass sich hier keine Gebäude mehr erhoben, deren Erkundung sich als lohnend hätte erweisen können.
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Was sich jedoch unter all den Steinhaufen, überwachsenen Stellen oder in den Kellern befinden mochte, konnte nicht einmal die Fantasie der Männer erfassen. »Na ja, die Karte macht aber wirklich keinen besonderen Eindruck«, beschwerte sich ein anderer der Abenteurer. »Haben wir denn nicht wenigstens –« Er konnte seinen Satz nicht zu Ende bringen, weil der Wächter draußen einen Doppelton pfiff und Riwryn den Kopf hob. »Sie sind alle zurückgekehrt«, meldete der Wächter wenig später, und die Anspannung in dem Raum löste sich etwas. Einer nach dem anderen traten die bewaffneten Krieger nun ein, um von ihrem »langen Streifzug« zu berichten. In ihrer Mitte befand sich der andere der beiden Magier, der ältere und mächtigere Huldaerus, Meister der Fledermäuse. Der Zauberer ging vor dem Schild in die Hocke und ritzte den Standort von drei »neuen« Gebäuden darauf ein. »Das waren die vielversprechendsten Bauwerke, welche wir finden konnten«, verkündete er der schweigenden Versammlung und wandte sich an den anderen Magier. »Nehmt ein paar Krieger mit und erkundet das erste Haus, nämlich dieses hier.« Er tippte mit der Messerspitze auf eine bestimmte Schildstelle. »Während Ihr hier solange gemütlich herumsitzt und Wein schlürft«, entgegnete Phalagh. Der Ältere zuckte die Achseln. »Ich habe mich gerade in Gefahr begeben«, erklärte er und winkte nach draußen zu den Ruinen. »Jetzt seid Ihr an der Reihe. Wir dürfen das Wagnis nicht eingehen, beide Magier derselben Unternehmung zuzuteilen. Denn dann stünden diese braven Schwertmänner hier am Ende ganz ohne zauberischen Beistand da – und das in
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einer ebenso abgelegenen wie gefährlichen Gegend.« »Nein«, meinte Phalagh, »diesen Preis dürfen wir wirklich nicht bezahlen.« Er sah die Soldaten der Reihe nach an und bemerkte bei etlichen, dass sie sich nur mit Mühe ein Grinsen verkneifen konnten. »Wer von euch hat den Herrn Zauberer Huldaerus zu diesen drei neuen Häusern hier begleitet?« fragte er dann. Zögernd hoben sich einige Hände, und jetzt war es an dem jüngeren Magier, breit zu grinsen. »Fein, dann kennt ihr ja den Weg und könnt mich führen.« Langes Schweigen antwortete ihm, bis sich einer der Angesprochenen in Bewegung setzte und zum Ausgang hinausschob. Einer nach dem anderen folgten ihm die restlichen Führer, und Phalagh tat so, als würde er ihre leisen Bemerkungen nicht mitbekommen. Mit einem freundlichen Lächeln verabschiedete er sich von den Zurückbleibenden und begab sich dann ebenfalls nach draußen. Als man vom Scharren ihrer Stiefel auf dem felsigen Boden nichts mehr hören konnte, hob Huldaerus leicht den Kopf von der Schildkarte und sprach zu dem nächsten Soldaten: »Nach allem, was Meister Nynter zugestoßen ist, sind wir lange nicht mehr angegriffen worden ... Das verwundert einen ja doch etwas ... Deswegen werden wir Wachen aufstellen, und zwar hier, dort und da einen Doppelposten.« »Nur noch einmal«, sprach Sarasper beruhigend und legte seine warmen Arme um die zitternde Prinzessin. »Nur noch ein einziges Mal, und dann sind wir da.«
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»Aber warum geschieht so etwas mit mir?« schluchzte Embra. »Das ist doch nicht richtig! Man könnte meinen, der Umgang mit der Magie würde mich krank machen!« Der Heiler aber zog nur ihr Hemd zurück, um ihre Schulter freizulegen. Hawkril und Craer streckten gleichzeitig eine Hand aus, um sie darauf zu legen und so die Verbindung wiederherzustellen. Die Herrin des Geschmeides beruhigte sich wieder, atmete tief ein und bewehrte sich mit einem weiteren Figürchen aus ihrem schwindenden Vorrat, mit welchem sie sich im Schweigenden Haus eingedeckt hatte. Embra murmelte etwas vor sich hin, malte mit der freien Hand ein vertracktes Zeichen in die Luft ... und schon veränderte sich die Welt rings um die Vier. Sie fanden sich auf einem felsigen Hügel wieder. Das ganze Land schien aus bebauten Feldern zu bestehen, und in der Ferne ließen sich die Mauern von Sirlptar ausmachen. »Ich kann schon die Tore erkennen«, erklärte Craer ... wenn überhaupt aus einem Grund, dann dem, die Stimmung der Prinzessin zu heben. Die Gefährten blieben weiterhin miteinander verbunden stehen und machten Embras kraftlose Versuche zunichte, sie von sich abzuschütteln. Sarasper wirkte längst am nächsten Bann und zapfte von den beiden Kriegern wie auch von sich selbst Energie ab, um damit die Zauberin zu stärken. Craer keuchte, als er unvermittelt wieder die Leere in seinem Bauch spürte. »Handelt es sich dabei vielleicht um den Fluch des Schweigenden Hauses auf das Blut derer von Silberbaum?«
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»Wohl eher eine Teufelei, welche die Magier des Barons sich ausgedacht haben«, knurrte Hawkril. Doch weder er noch sein Freund erhielten auf ihre Frage eine Antwort. Als die Prinzessin endlich von ihren Gefährten befreit war, fragte sie diese mit bleicher Miene und blutleeren Lippen: »Dieselbe Verkleidung wie in Adeln?« Dreimal bekam sie ein Nicken zur Antwort. Embra holte den vorletzten oder letzten Gegenstand aus dem verbotenen Schweigenden Haus aus ihrer Tasche und machte sich mit zitternden Fingern an die Arbeit. Zuerst legte die Zauberin Hawkril ihre Hand auf, und als die anderen zustimmend nickten, war Craer an der Reihe und schließlich Sarasper. Doch bevor sie sich selbst verwandeln konnte, fiel sie gegen den Heiler und rutschte an ihm hinab auf den Boden. Ohne einen Moment Zeit oder ein Wort zu verlieren, stellte der Ritter seinen Umhang zur Verfügung. Craer und Sarasper wickelte die Edle darin ein, um ihr Gesicht zu verbergen. Der Hüne trug sie in den Armen, und so brachen die Gefährten zur Glitzernden Stadt auf. Gelächter hallte von der Decke in der Turmkammer von Burg Silberbaum wider. »Ich vermag wieder, mit beiden Augen zu sehen«, verkündete Markoun Yarynd begeistert dem Baron. »Und mehr noch, Herr! Mittels Fernsicht habe ich gerade beobachten können, wie vier Personen nach Sirlptar gekommen sind ...« Er legte eine kleine Pause ein, um die Spannung zu erhöhen. »Und zwar ein Riese von einem Krieger, ein kleiner
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Mann und zwei andere, von welchen einer eingewickelt ist und getragen wird!« Faerod Fürst Silberbaum gestattete sich ein Lächeln. »Unsere kleine Viererbande, die Trottelschar«, spottete er. »Ingryl, verständigt sofort meine dortigen Männer. Es wird wirklich allerhöchste Zeit, diesen drei Burschen das Lebenslicht auszublasen, welche meine Tochter angeheuert hat. Ihre fürstliche Hoheit wird viel vernünftiger und zugänglicher sein, wenn sie dieser Begleitung entledigt und wieder allein ist.« »Ich habe mir bereits die Freiheit genommen, das zu veranlassen, Euer Durchlaucht«, entgegnete Ingryl und wandte sich wieder seinen Forschungen zu. »Wäre es nicht besser«, fuhr der Baron mit seidenweicher Stimme fort, »die Schild- und Lauschzauber auf meiner Tochter zu vereinen, ehe das Blut ihrer neuen Lieblingsspielzeuge in Strömen fließt? Ihr kümmert Euch doch darum, nicht wahr, Ingryl?« »Aber natürlich«, antwortete der größte aller Magier, ohne von seiner Arbeit aufzuschauen. »Klamantel hat sich große Mühe gegeben, meinen Erfolg in solchen Angelegenheiten sicherzustellen.« Nach dieser bissigen Bemerkung verfärbte sich Klamantels Gesicht, zuerst in tief rot und dann in schneeweiß. Er hatte bis gerade eben geglaubt, seine geistigen Befehle an seine eigenen Spione in Sirlptar blieben auf ewige Zeiten sein Geheimnis. Diese sollten nämlich den geheimnisvollen dritten Mann in der Viererbande ergreifen und verhören. Der vermaledeite Bannmeister musste irgendeinen kleinen Bann in die Zauber eingewoben haben, welche er gerade gewirkt hatte. Der junge Magier gab sich große Mühe, nach
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außen hin wieder gelassen auszuschauen. Er wirkte einen Zauber, welcher seine Gedanken abschirmte, erweiterte diesen über seinen ganzen Arbeitstisch... ... und wünschte sich nichts sehnlicher, als Ingryl tot zu sehen. Nachdem er sich etwas beruhigt hatte, machte er sich ernsthafte Gedanken, wie das wohl zu bewerkstelligen sein würde. Die Torwächter empfingen die drei Männer und ihr Bündel nur mit gelangweilten Blicken. Vermutlich wurden tagtäglich Dutzende von Frauen, eingewickelt in Umhänge, Teppiche oder ähnlichem, nach Sirlptar hineingetragen. Alle drei männlichen Mitglieder der Viererbande hatten diese Stadt schon bei früheren Gelegenheiten besucht und kannten seine dicht bevölkerten, engen Straßen. Geduldig schoben sie sich voran, drängten sich durch die Menge und die Schatten der allgegenwärtigen Balkone. Tausend Gerüche und noch mehr Gelärme stürmten auf sie ein, und die Glitzernde Stadt wirkte heute noch lauter und hektischer als je zuvor – wenn das überhaupt möglich war. Mehr Bewaffnete und Gerüstete als gewöhnlich – offensichtlich nicht nur Einheimische – zeigten sich hier, und die Händler schienen noch aufdringlicher ihre Waren an den Mann oder die Frau bringen zu wollen. Hawkril fiel ein Banner ins Auge, und er schüttelte den Kopf. »Pah!« machte er dann und war schon wieder dabei, den Gefährten mit seinem breiten Brustkorb eine Gasse zu bahnen. »Man sollte doch wirklich meinen, die Meisterbarden würden sich für ihre Tagung einen ruhigeren Ort aussuchen!«
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»Burg Silberbaum vielleicht?« gab Craer leise zurück. Das Gelärme in diesem Viertel war jedoch so laut, dass sein Freund nichts von der Bemerkung hörte. Ohne sich lange darüber abgesprochen zu haben, befanden die Gefährten sich auf dem Weg zu einem der ältesten und schäbigsten Gasthöfe in Sirlptar, wo aber Kriegsmänner willkommen waren. Das »Wellenfeuer« bot bewaffneten Fahrensmännern die Vorzüge reichlicher Speisen, niedriger Preise und nur seltener Überfüllung. Wer sich mit den Örtlichkeiten auskannte, wusste darüber hinaus von zahlreichen Seiten- und Hintertüren, durch welche man sich notfalls rasch verdrücken konnte. Dieser Umstand war der Tatsache zu verdanken, dass die Besitzer des Gasthofes im Lauf der Jahre reich geworden waren (nicht zuletzt auf Grund des Kaufs und Weiterverkaufs gestohlener Waren). So hatten sie erst die Nachbarhäuser links und rechts erworben, dann die Grundstücke, welche daran anschlossen, und so weiter, bis ihnen die ganze Zeile gehörte. In den oberen Geschossen hatten sie die Trennwände durchbrochen, um alle Häuser miteinander zu verbinden. Nur jeweils das Erdgeschoss all der Häuser blieb davon ausgeschlossen, weil sie die an Handwerker und Krämer vermieteten. Dennoch verfügte das Riesengebilde nur über einen »richtigen« Eingang. Als die Gefährten die ausgetretenen Stufen hinaufstiegen, meinte Sarasper plötzlich: »Ich hoffe, einer von uns hat genug Bares in der Tasche, damit wir uns ein Zimmer leisten können. In meinen Taschen finden sich zwar noch einige Gegenstände aus dem Schweigenden Haus. Doch wenn ich die
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feilbiete, muss ich so viel erklären, dass ich damit mehr Aufmerksamkeit errege, als uns lieb sein kann.« »Keine Sorge, Freund«, erwiderte Craer gut gelaunt, »um solche Fragen kümmert sich Hawkril.« Doch da blieb der Ritter von einem Moment auf den anderen stehen und starrte den Kleinen an. »Worum kümmere ich mich? Und wie stelle ich solches an?« »Auf diese Weise, bedrohlicher Riese«, antwortete der Beschaffer rasch, zog ein Goldstück aus dem Stiefel des Ritters und dann ein paar weitere aus dem Futter von dessen Handschuh. Diese reichte er nun seinem Freund. »Hätte unser freundlicher Beschaffer vielleicht auch die Liebenswürdigkeit, mich in der Frage zu erhellen, seit wann ich solche geradezu fürstlichen Reichtümer mit mir herumschleppe?« »Seit Adeln«, antwortete Craer fröhlich. »Ich konnte es nicht wagen, dieses Geld offen mit mir herumzutragen ... wenigstens nicht in der Spelunke, in welcher ich die einzelnen Münzen an mich gebracht habe. Aber da wart ja Ihr und habt wie ein Fleisch gewordener Berg neben mir gesessen und Bierkrüge so rasch geleert wie Pferde saufen.« »Und während ich meinen Durst gestillt habe«, entgegnete der Hüne, »habt Ihr in allen Schänken, welche wir je mit unserer Anwesenheit ausgezeichnet haben, die Zecher um ihre Barschaft erleichtert.« »Bitte keine Namen, Riese«, mahnte der Beschaffer, weil sie nun vor der Tür standen. »Und vergesst nicht, dass wir beiden kurz vor unserer Verlobung stehen.« »Das vergesse ich doch immer wieder«, murmelte Hawkril. »Erinnert mich doch bitte regelmäßig daran, Fürst meiner
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kühnsten Träume, ja?« »Bei den drei Göttern!« stöhnte der Heiler. »Wenn Ihr beiden etwas macht, dann aber auch richtig, was?« »Passt lieber auf«, mahnte der Hüne, »irgendwie gelingt es ihm immer wieder, die besten Zimmer zu ergattern!« Der Beschaffer lehnte bereits am Tresen, flüsterte den Bediensteten dahinter finstere Drohungen zu und warf ihnen schließlich abschätzig ein paar Geldstücke zu. Daraufhin behandelten sie Craer mit neuer Achtung, und schon hatte er sein Ziel erreicht. »Benehmt euch hochmütig und geheimnisvoll«, raunte der Kleine seinen Gefährten aus dem Mundwinkel zu. »Wir sind hoch stehende Agenten eines Barons und kümmern uns um die Sicherheit bei einem sehr, sehr diskreten Treffen in diesem Hause von gewissen Hohepriestern mit ausländischen Gesandten!« »Ihr neigt wie immer zu Untertreibungen«, meinte Hawkril. »Die einzigen Ausländer, welche wir kennen, sind doch junge Damen, welche in Schänken tanzen und sich gern des Großteils ihrer Kleidung entledigen.« »Deswegen habe ich die ja auch erwähnt«, antwortete der Kleine ungerührt. »Man kann ja schließlich nie wissen, nicht wahr?« »Hört sich so an, als hättet Ihr damit bereits den Wahlspruch eines hochherrschaftlichen Hauses erfunden«, grunzte der Riese. »Damit bliebe eigentlich nur noch die unbedeutende Frage, wie wir auf die Schnelle an eine Baronie gelangen ...« Drei Treppen führten aus dem Empfangsraum. Die im Süden des Raums wand sich an der linken Wand hoch und
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wirkte am ältesten und seltensten benutzten. Mit vier Schlüsseln in der Hand führte Craer die Gruppe dort hinauf zu einem Absatz, wo sich zwei Türen gegenüber befanden und eine weitere Stiege noch höher hinaufführte. Der Beschaffer schob einen Schlüssel in die Tür zur Rechten und grinste dabei in sich hinein. Der Schlüssel ratterte zwar im Schloss, bekam dieses aber nicht geöffnet. Achselzuckend wandte der Kleine sich dann an die gegenüberliegende Tür, welche ihrer Nummerierung nach eindeutig die des Zimmers war, das man ihnen zugeteilt hatte. »Habt Ihr jetzt ausreichend vorgeführt, was für ein famoser Tausendsassa Ihr doch seid?« knurrte Hawkril. »Wisst Ihr, dieses Bündel in meinen Armen wird nämlich im Ablauf der Zeit nicht leichter.« »Dieser Mann ist nur glücklich, wenn er sich beschweren kann«, murmelte der Beschaffer, während er rasch hintereinander durch ein Fenster nach dem anderen spähte und sämtliche Schränke und sonstigen Türen öffnete. Selbstredend immer nur mit einer Hand, denn in der anderen hielt er ja sein Schwert zum Zustoßen bereit. Endlich drehte der Kleine sich zu den anderen um, seufzte tief und meinte: »Fürs Erste dürfte uns das genügen.« »Da fällt mir aber ein Stein vom Herzen«, brummte Hawkril, »denn ich habe unser blaublütiges Bündel bereits abund ins Bett gelegt.« Bei seiner Durchsuchung war Craer wohl etwas zu hurtig vorgegangen, denn sonst wäre ihm wohl aufgefallen, wie sich die Tür des gegenüberliegenden Zimmers für einen kurzen Moment einen Fingerbreit geöffnet und jemand beobachtet hatte, wie vier Personen die Kammer betraten.
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Bei diesem Jemand handelte es sich um einen Mann mit wettergegerbten Zügen, einem ordentlich gestutzten Bart und angenehmen Zügen. Er trug die Lederkleidung, wie sie von reisenden Sängern, Landstreichern und ähnlichem Volk bevorzugt wurde. Der Fremde zog überrascht eine Augenbraue hoch, als er erkannte, wer da gegenüber einzog. Rasch schloss er die Tür wieder, und während er sie verriegelte, legte sich seine Stirn in immer tiefere Falten. Die Prinzessin Silberbaum hatte sich und ihre Begleiter mit einem üblichen Verkleidungszauber belegt, sagte der Barde sich. Ihre Gefährten sahen sie und sich allerdings in ihrer echten Gestalt, denn sie standen ja unter einem gemeinsamen Bann und wussten eigentlich gar nicht, wie sie nach außen hin auftraten. Deswegen, so schloss der Fremde, ahnten die drei Männer in der Begleitung der Fürstentochter vermutlich auch gar nicht, dass Embras Zauber versagt hatte oder unwirksam geworden war. Mit anderen Worten, jeder konnte sie in ihrer wahren Gestalt erkennen. In der Stadt Sirlptar fand sich zu vieles Gelichter, welches gar nicht zu wissen brauchte, wer da in die Glitzernde Stadt gekommen war. Der Barde hoffte für die vier Reisenden, dass ihnen keine unangenehmen Überraschungen bevorstanden. Warum wirkte der Zauber nicht? Oder nicht mehr? Einer der Männer hatte die Prinzessin in das Zimmer getragen. War Embra gerade am Schlafen gewesen, oder hatte sie unterwegs einen Unfall gehabt? Ein Schlag auf den Kopf oder eine Kampfverletzung vermochte durchaus einen Zauber aufzuheben. Und wenn man sich in der Magie nicht sonderlich aus-
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kannte, bekam man davon auch nichts mit. Der Bärtige traf eine rasche Entscheidung und setzte sich schon in Bewegung ... Hinter der gegenüberliegenden Tür überprüfte der Beschaffer, ob alle Messer noch rasch einsatzbereit waren, welche er in seinem Ärmel mitführte. Dann erklärte der Kleine: »Die Sänger tagen noch, Freund. Eure Körpergröße fällt zu sehr auf. Deswegen müsst Ihr auf dem Zimmer bleiben und auf unsere Prinzessin aufpassen. Passt auf, dass niemand ihr oder Euer Gesicht zu sehen bekommt. Jeder Baron, der auf sich hält, hat sicher seine Spione nach Sirlptar geschickt.« Der Schwertmeister nickte und knurrte enttäuscht: »Also gut, ich bleibe hier, aber dafür verlange ich etwas von Euch: Wenn Ihr hierher zurückkehrt, bringt Ihr mir mindestens einen gebratenen Kleggard und eine Flasche Wein mit!« Der Hüne ließ sich auf dem größten Stuhl im Zimmer nieder, legte sein großes Schwert vor sich auf die Knie und nickte, während die beiden Gefährten ihm alles Gewünschte versprachen. Dann musterte der Beschaffer ihn und meinte leise grinsend: »Sehr schön. Wirklich sehr beeindruckend. Aber ich fürchte, Ihr werdet Euch gleich wieder erheben müssen. Um nämlich den Riegel vorzuschieben, sobald Sarasper und ich die Kammer verlassen haben.« »Was würde ich nur ohne einen Pfiffikus wie Euch anfangen«, knurrte Hawkril wenig erheitert. Als die beiden draußen auf dem Flur standen, hörten sie, wie der Riegel vorgelegt wurde. Sie grinsten sich an, liefen die Stiege hinunter und schoben sich durch den Schankraum
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auf die Straße. »Zum ›Fenster des Blutigen Droppa‹?« fragte Craer schelmisch und bemerkte darüber den Mann nicht, welcher ihn aus einer Ecke anstarrte. Um sich dann rasch abzuwenden und in der Menge unterzutauchen. »Wenn der Laden noch steht«, entgegnete der Alte mit ebenso breitem Lächeln, »dann nichts wie hin!« Sirlptar stellte am heutigen Abend, wie auch an jedem anderen, ein einziges Gewimmel von schiebenden und stoßenden Menschen, rumpelnden Karren, Geschrei, Gebrüll, Gefluche und Gekläffe von frei herumlaufenden Hunden dar. Das alles wälzte sich durch einen Irrgarten von Straßen, Gassen und Hintergassen. Auf den Straßen war es nicht nur laut, sondern auch furchtbar dreckig. Tausend Gerüche und mehr stürmten auf den Besucher ein, und diese nahmen an Eindringlichkeit zu, je tiefer man in das Gewirr der Seitengässchen eindrang. Craer zog den Kopf ein und stürzte sich in das Getümmel. Der Heiler setzte sein ganzes Vertrauen in den Beschaffer und folgte ihm auf dem Fuße. Je näher sie dem Hafenviertel kamen, desto schmaler und schmutziger wurden die Straßen. Der Unrat, welcher alle Ecken ausfüllte, stank jetzt durchgehend nach Fäulnis und altem Fisch. Sarasper atmete erleichtert die zu lange angehaltene Luft aus, als sie in eine Gasse einbogen, welche ihm halbwegs bekannt vorkam. Tropfnasse Wäsche hing hier an Leinen. Craer verlangsamte seine Schritte. Vor ihnen drängte sich eine Schar Männer um ein offenes Fenster, an welchem auf den ersten Blick nichts Besonderes
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zu sein schien. Dieses gehörte zu einem altersschwachen Gebäude, welches schon deutlich bessere Zeiten gesehen haben musste – selbst in seiner Anfangszeit als Lagerhaus. Die Düfte jedoch, welche zusammen mit Rauchfahnen und Dampfschwaden aus diesem Fenster drangen, ließen einem das Wasser im Munde zusammenlaufen: gebratener Kleggard, Pferd am Spieß, dazu Geflügel und der für dieses Haus typische Geruch von Wildschwein, das zu lange über dem Feuer gewesen war. Beiden Männern fielen alle köstlichen Erinnerungen wieder ein, als sie sich in die Schlange vor dem »Fenster« einreihten. Auch die schartigen Töpfe klapperten wieder, und die alten Getreidesäcke waren wieder zu sehen, welche man ihrer vielen Löcher wegen aus dem Gebrauch gezogen hatte. Kunde um Kunde verließ das Fenster glücklich und beladen mit dampfendem Abendessen. Als die beiden Gefährten an der Reihe waren, bestellte Craer genug zu essen für sechs ausgehungerte Kriegsmänner und raunte dann dem Heiler zu: »Der Riese frisst für drei, und wir müssen unsere Freunde doch aufpäppeln.« Sarasper ging unter dem Berg, welchen er zu tragen hatte, sichtlich in die Knie. Der Beschaffter sah ihn nachdenklich an und meinte schließlich: »Kommt mit, ich kenne eine Abkürzung.« Sie tauchten in eine Seitengasse ein, in welcher es so finster und eng war, dass man sich in einem Tunnel wähnte. Schon nach wenigen Schritten bückte sich Craer und schnitt mit einem Messer eine Stolperschnur durch. Dazu knurrte er nach links: »Ich kenne genug Banne, um euch zu verschmoren!«
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Die Drohung schien zu wirken. Während Sarasper sich trotz seiner Last beeilte, den Anschluss an Craer nicht zu verlieren, bemerkte er Augenpaare, welche sich von einer schwarzen Öffnung entfernten. Dann duckte sich der Beschaffer und betrat einen neuen Gang. Sie schienen die Gasse nun endgültig verlassen zu haben und in das Abwässersystem der Stadt gelangt zu sein. Die beiden platschten durch Abfälle und Dreck. Dann bog der Beschaffer unvermittelt zur Seite ab. Wenn der Alte nicht gut aufgepasst hätte, wäre Craer nun endgültig für ihn verschwunden gewesen. »Nicht so schnell!« keuchte der Heiler. »Nein, wir müssen uns so beeilen!« erwiderte der Beschaffer gerade so, als würde ihm das Freude bereiten. Sie erreichten nun eine Treppe, welche einen Hügel hinaufführte, der sich aus rasch ausgehobenen Gräbern zusammenzusetzen schien. Einige von ihnen warteten offenbar noch auf ihren Inhalt. Dann ging es unter einem langen Balkon hindurch, welcher von Säulen an Ort und Stelle gehalten wurde. Dass sie nicht die Ersten in dieser Gegend waren, erkannte Sarasper daran, dass hier so mancher eine Botschaft für die Nachwelt hinterlassen hatte. »Tod allen Baronen!« und »Magier, verreckt!« kamen am häufigsten vor und waren in der Regel (aber auch in der Schreibweise regellos) mit Holzkohle auf die Säulen gekritzelt. Manche Nachrichten enthielten nicht mehr als einen Namen und dazu ein rätselhaftes Zeichen oder eine obszöne Aufforderung.
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Dem Heiler blieb nicht die Muße, alle Botschaften zu studieren, denn schon wechselte Craer ein weiteres Mal die Richtung. Nun gelangten sie in einen Tunnel, der unter dem Gebäude hindurchführte und in dem sie sich bücken mussten, um nicht mit dem Kopf anzustoßen. Kaum hatten die Gefährten ihn betreten, sauste auch schon ein Wurfpfeil heran und bohrte sich in einen hölzernen Querbalken, der schon ein wenig durchsackte. Aus allen Richtungen trippelten Ratten herbei. Gut möglich, dass an dem Wurfpfeil der eine oder andere Leckerbissen klebte. »Mein Fluch wird euch finden!« knurrte Craer, ohne im Lauf innezuhalten. Erst als der Gang zu Ende war, konnte der Alte zu ihm aufschließen, wenn auch japsend. Sie standen vor einer Grube, in welcher sich Küchenabfälle, verdorbenes Essen und menschliche Ausscheidungen ein Stelldichein gaben. Der Beschaffer würdigte die Gestalt keines Blickes, welche mit einem langen Stock in der ekelhaften Masse herumrührte und wohl darauf hoffte, das eine oder andere noch Essbare darin zu finden. Craer rannte am Rand der Grube entlang, bis er eine weitere Treppe mit glitschigen Stufen erreichte. Sarasper verdrehte die Augen, folgte ihm aber. Sie kamen an belebteren Gängen vorbei und mussten noch viel mehr Stufen hinauf oder hinunter. Die Gerüche aber erweckten bei dem Heiler den Eindruck, sich immer noch mitten in der Kanalisation zu befinden. Er hätte seinen Führer ja gern danach befragt, wenn der nur lange genug stehen geblieben wäre. Aber das Dutzend weiterer Senk- und Abfallgruben, an welchem sie vorbeika-
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men, war dem Heiler eigentlich Antwort genug. Sarasper erhielt nun öfter die Gelegenheit zum Verschnaufen, wenn sie wieder einmal wegen Gegenverkehrs von vorn oder von der Seite anhalten mussten. Gerade als der Heiler sich sagte, dass sie mittlerweile den halben Weg zum Gasthof zurückgelegt haben mussten, kamen sie zu einem Platz, auf welchem sich der Abfall türmte und wo fünf Straßen einmündeten. (Das »Wellenfeuer« erhob sich auf der meerzugewandten Seite des Höhenzuges, auf welchem man Süd-Sirlptar errichtet hatte.) Zwei Männer traten hinter Haufen verrottender Abfälle hervor, auf denen sich Ratten tummelten, als Craer und Sarasper den Platz querten. Die Männer trugen Lederpanzer unter ihren Lumpen, oft gebrauchte Messer in den Händen und ein unangenehmes Lächeln auf den Lippen. »Gebt reichlich, Freund, und Ihr sollt leben«, machte einer von den zweien Sarasper auf die Geschäftsbedingungen aufmerksam und zeigte auf den immer noch dampfenden Getreidesack, der ihr Abendessen enthielt. »Oh, Ihr wart beim ›Fenster‹«, freute sich der andere, schwang sein Messer bedrohlich und kam wie sein Kollege ohne Umschweife zur Sache: »Sack aufmachen!« Craer hob eine Hand voll schleimigen Obstes vom Boden auf und warf es dem einen der Straßenräuber wie beiläufig mitten ins Gesicht. Als der zurücktaumelte, stellte der Beschaffer ihm ein Bein, was ihn dann endgültig zu Fall brachte. Nun stürmte der andere heran, um den Beschaffer niederzustechen. Während jener Verwünschungen ausstieß, lockte
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dieser ihn zu einem Abfallhaufen. Dort umsprang Craer seinen ausgleitenden Gegner und stach immer wieder zu. Irgendwann blutete der Räuber aus einem halben Dutzend Wunden. Er sah an sich hinab und erbleichte. Der Beschaffer fand ein Eisenrohr, schwang das von unten nach oben und ließ es im Aufwärtsriss gegen den Arm seines Gegners krachen. Dessen Dolch flog im hohen Bogen davon und landete klappernd irgendwo. Doch Craer war noch nicht fertig. Während er sich um die eigene Achse drehte, sauste das Rohr auch schon wieder nach unten. Der Räuber hielt sich gerade fassungslos den tauben Arm, als das Eisenrohr ihn an der Kopfseite trat. Ohne noch einen Laut von sich zu geben, kippte der Mann vornüber aufs Gesicht. Der erste Räuber hatte sich gerade die Augen freigewischt und schimpfte wie ein Rohrspatz. Craer lächelte ihn liebenswürdig an und warnte: »Tretet zurück, Freund, und Ihr sollt leben!« Der Schurke starrte zuerst auf den grinsenden Beschaffer, dann auf die köstlich riechenden Speisen in dem Getreidesack und schließlich auf das Messer, welches sein Gegner wurfbereit in der Hand hielt. Einen Moment später war der Räuber verschwunden. »Bei der Dreifaltigkeit!« keuchte der Heiler. »Das hätte aber leicht ins Auge gehen können, oder, Craer? Craer?« Im selben Moment stieg der Beschaffer aus einem Fenster ganz in der Nähe, brachte drei Flaschen Wein mit und grinste Sarasper an. »Seht nur, was mir rein zufällig in die Hände gefallen ist! Die Menschen sind aber auch so unvorsichtig! Alles
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lassen sie stehen und kümmern sich dann nicht mehr darum.« Er betrachtete die Flaschen und fragte dann mit Unschuldsmiene: »Darf ich noch ein bisschen mit ihnen spielen?« »Aber höchstens für eine Stunde«, antwortete der Alte mit so ernster Miene, wie es ihm nur möglich war. Dann nickte er in Richtung Ausgang. »Wir müssen weiter. Trinkt nicht alles unterwegs aus, die anderen hätten sicher auch gerne Wein.« Sie hasteten durch weitere Straßen und über mehr Stufen, bis der Heiler schon glaubte, die ganze Glitzernde Stadt bestünde nur aus Treppen. Dann erreichten sie einen dieser besonderen Marktplätze, auf dem Kaufleute zusammenkommen, um überschüssige Ware umzuschlagen, wo sie Schuldscheine begleichen und ausstellen, wo sie Pläne für die Zukunft schmieden und wo sie festlegen, wie sie am schnellsten reich werden. Aufgeregtes Stimmengewirr umgab die beiden Gefährten, und sie huschten an Männern vorbei, die mit Händen und Füßen redeten. »Ich sage es Euch, wir haben bald wieder Krieg. Erst gestern noch –« »Niemals, Nolos. Selbst ein Magier vermag nicht in zwei Burgen gleichzeitig zu sein –« »Zauberer strömen aus ganz Darsar zusammen. Ich habe gehört, es zieht sie zu einer alten Ruine ein gutes Stück stromaufwärts –« »Hat bestimmt etwas mit dem Schlafenden König zu tun –« »Sie wollen sein Grabmal gefunden haben, und dort soll sich so viel Magie befinden, wie man es seit Menschengedenken –«
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»Hört mir auf mit diesem Silberbaum! Man hat mir glaubhaft versichert, dass er mittlerweile vorhabe, die Stadt selbst anzugreifen –« »Ja, ganz recht. Hier bei uns. Silberbaum wird die ganze Helderstraße abreißen, um aus den Steinen eine Burg zu bauen, welche alles andere überragt –« Hinter ein paar besonders rundlichen und bärtigen Parfümhökerern erstarrten zwei Männer in langen Mänteln, als sie die beiden Gefährten entdeckten. Sie verließen sofort die Säule, an welche sie sich bis gerade noch so bequem gelehnt hatten, und folgten dem Getreidesack mit dem leckeren Essen. Sie drückten ihre Schwerter an sich, damit deren Scheiden nicht gegen den einen oder anderen übergewichtigen Händler stießen und Geschrei auslösten. »Nein, nein, nein! So einen König kann Aglirta nicht gebrauchen! Wenn Soldaten nachts Höfe in Schutt und Asche legen und jeden in die Sklaverei stecken, der sie nur einmal scheel ansieht –« »Das fürchte ich auch! Wir enden eines Tages noch als ...« Von Burg Silberbaum hierher war es ein langer Weg gewesen, aber dennoch hatten Daerentar Jalith und Lharondar Laernsar kaum Schwierigkeiten, sich an die Befehle des Fürsten zu erinnern. Dafür sorgte auch und vor allem das Prickeln, welches sich bei jedem Schritt in ihnen bemerkbar machte. Hinzu kamen leichte Krämpfe in den Gliedern. So etwas hatten sie vorher nicht gehabt, und darum sahen sie Magier jetzt mit neuer Achtung an. Wenn man mit Bannen so etwas bewirken konnte, wunderte es einen doch nicht mehr, wenn
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es sich bei den meisten Zauberern um ausgemachte Lumpenhunde handelte! Daerantar sah sich unvermittelt nach allen Seiten um. War das etwa ... Ja, ganz recht! Er legte Lharondar eine Hand auf den Arm und ruckte unmerklich mit dem Kinn nach vorn. Schon einen Moment später bewegten sich die beiden Soldaten behutsam genug durch die Menge, um kein Aufsehen zu erregen. Sie folgten einem äußerst wendigen kleinen Beschaffer und einem alten Mann mit einem schweren Sack, der Ersterem mit sichtlicher Mühe hinterherlief ... Zwei von den Narren, deren Leben wertlos war, welche aber erst dann niedergemacht werden durften, wenn sie den Weg zur Prinzessin Silberbaum gewiesen hatten. Sie folgten den beiden die Arnstraße hinunter, dann ein Stück den Belzimurrweg hinauf, endlich durch eine schmale Seitengasse, welche nicht einmal einen eigenen Namen besaß, dafür aber in die Stammlerstraße einmündete. Und diese Seitengasse wies noch eine Besonderheit auf: Hier bemerkten die beiden besten Soldaten von Baron Silberbaum, dass auch noch andere den beiden Trotteln folgten. Na ja, wundern konnte das einen eigentlich kaum. Ob man ihre Hoheit, die Prinzessin, nun entführt hatte oder ob sie freiwillig mitgegangen war, wenn man ihrer habhaft werden könnte, besaß man ein wertvolles Faustpfand gegen ihren Vater. Und mehr noch, wenn man Embra gar auf die eigene Seite ziehen könnte ... Jeder Baron im Tal würde gern eine solche Zauberin an seinem Hof wissen ... und was für ein köstli-
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cher Spaß, die Tochter Banne gegen ihren eigenen Vater wirken zu lassen. Der Beschaffer und der Alte verlangsamten ihre Schritte, als sie den Stall des Gasthauses »Zum Wellenfeuer« erreichten. Dort drängten sich bereits drei Männer im Schatten der Anleinpfosten. Drei fahrende Sänger ... Unter ihnen auch der sattsam bekannte Rhaerandul von der Laute. Sie lauschten einem Jüngling in schwarzen Gewändern und mit ansprechenden Zügen, dessen viele Symbole auf dem Mantel ihn als mächtigen Magier auswiesen ... oder der gern bei allen Menschen einen solchen Eindruck erwecken wollte. »Wer ist das?« fragten die Soldaten einen Kaufmann, welcher des Wegs gezogen kam – und das langsam genug, um dem Gespräch auf dem Pferdehof lauschen zu können. »Ein Zauberer aus Elmerna, welcher in dem Gasthof dort abgestiegen ist«, antwortete der Händler leise und nickte leicht in Richtung des »Wellenfeuers«. Dann fügte er noch leiser hinzu: »Man nennt ihn Jaerinsturn.« Ein abschließendes Nicken verriet, dass er nun genug selbst geredet habe und gern weiter zuhören wolle. »... muss es sich dabei um einen Magier gehandelt haben, welcher im Empfangsraum des Hauses zur Erhobenen Hand gesessen hat«, erklärte Jaerinsturn gerade, »vielleicht aber auch um jemanden, welcher unter seinem Befehl stand ... Wie dem auch sei, ich war dort. Etwa dreißig von uns, vermutlich noch mehr, haben alles gehört. Yezund hat seine ganze Überzeugungskraft eingesetzt. Ich fürchte, ich bekomme die ganze Bandbreite der von ihm vorgebrachten Für und Wider nicht mehr zusammen, aber seine Schlussfolgerung ist uns allen deutlich im Gedächtnis geblie-
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ben: Kandalath, der Stein des Lebens, befindet sich inzwischen in den Trümmern der untergegangenen Stadt Indraewyn. Nachdem Yezund dies verkündet hatte, ist er verstorben. Keiner von uns ahnte auch nur, ob er irgendwelche Feinde gehabt hatte oder in irgendwelche Fehden oder Händel verwickelt war. Er hat ja eigentlich nie zu den Streitsüchtigen im Lande gehört. Yezund hat auch nie mit seinen Kräften angegeben, und er hat jedermann freundlich behandelt ... Schulden hat er auch keine gehabt, weder hier noch in Elmerna ... Ich vermute stark, dass jemand ihn aus dem Weg räumen wollte, um sich selbst des Lebenssteins zu bemächtigen. Gut möglich, dass Yezund noch ein paar Geheimnisse für sich behalten hatte, welche ihm bei der Suche gewisse Vorteile verschafft hätten. Dazu wollten seine Mörder es allem Anschein nach nicht kommen lassen ...« »Die Dwaerindim, die Macht sie haben, die Welt zu laben, aber auch, falsch angewandt, zu setzen alles in Brand«, sprach einer der Barden ein paar Zeilen aus einem alten Lied, und die anderen nickten dazu. »Ich habe noch etwas anderes gehört«, meldete sich nun ein anderer der fahrenden Sänger zu Wort; er sprach mit einer bezaubernden Stimme. »Ghonkul im Haus der Bücher drüben in der Claremmonstraße ist ein Freund von mir. Er hat mir anvertraut, dass Indraewyn nur in dreien seiner Bücher erwähnt wird, und von diesen Bänden sei lediglich einer jemals ausgeliehen worden ... aber vor zwei Tagen seien alle drei Werke gestohlen worden ...« Craer zupfte den Heiler am Arm, und die beiden schlichen
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an den vieren vorbei zum Gasthaus. Aus der Menge der Zuhörer lösten sich etliche, um den Gefährten zu folgen. »Essen«, grunzte Hawkril und entriegelte und öffnete schon die Tür, noch ehe die beiden angeklopft hatten. »Aber natürlich!« strahlte der Beschaffer, als er mit dem Alten in das Zimmer trat. »Ein wackerer Kriegsmann kann an nichts anderes denken.« »Deswegen muss ja auch einer von uns einen klaren Kopf behalten«, gab der Ritter zurück. »Soll es doch den Schlaubergern, Naseweisen und Stutzern überlassen bleiben, sich ständig ach so kluge Bemerkungen, Scherzworte und anderen Schabernack auszudenken. Aber ich kenne Euch lange genug, Craer, um zu wissen, dass Ihr dennoch ein gutes Herz besitzt – und dass Ihr noch etwas ganz anderes als nur Abendbrot mitgebracht habt.« »Genau, Freund, Nachrichten nämlich!« grinste der Kleine über beide Wangen. »Hört zu: Unten bei den Pferden steht ein Magier aus Elmerna und erzählt jedem, der des Wegs gezogen kommt – wie zum Beispiel drei fahrende Sänger –, vom Ende des Zauberers Yezund. Der soll vor seinem Tod verkündet haben, Kandalath, der Stein des Lebens, befinde sich in der untergegangenen Stadt Indraewyn! Wegen dieser Mitteilung hat man den Bannschmied ermordet. Und deswegen –« Der Hüne verschloss die Tür wieder und legte den Riegel erneut vor. So bekamen die drei Mitglieder der Viererbande, welche bei Bewusstsein und Verstand waren, auch diesmal nichts davon mit, wie sich die Tür des gegenüberliegenden Zimmers öffnete. Dahinter zeigte sich ein Mann in Ledersachen mit gewin-
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nenden Zügen, der einen kurzen und ordentlich gestutzten Bart im Gesicht trug. Dieser schritt heraus auf den Treppenabsatz, und hinter ihm sanken eigenartige Gegenstände auf den Boden seines Zimmers nieder. Bei diesen schwebenden silbrigen Kugeln handelte es sich offenbar um Zaubergegenstände. Ihre Oberflächen leuchteten in allen Farben des Regenbogens, wenn sie den Widerschein der Treppenhauslaternen zurückwarfen. Doch je tiefer die Kugeln sanken, desto mehr verloren sie an Helligkeit und Größe. Dennoch vermochte man auch bei denen, welche dem Boden am nächsten waren, noch deutlich die Bilder zu erkennen, welche sich in ihrem Innern zeigten. Bei der einen Kugel erhielt man einen ausgezeichneten Blick in das Zimmer der vier Gefährten – und wenn man sein Ohr daranhielt, vermochte man sogar Craer zu hören, wie er seine und Saraspers jüngste Abenteuer zum Besten gab. Eine andere gab die Sicht auf die untere Treppenhälfte frei. Auf dem Absatz stand der Besitzer der Kugeln ... und weiter unten näherten sich Bewaffnete den Stufen. Einige hielten ihr Schwert schon in der Hand, andere zogen es gerade. Der Mann mit dem gepflegten Bart trat bis auf die unterste Stufe, breitete die Arme aus, legte die Hände auf die beiden Geländer und versperrte den Eindringlingen so den Weg ... Einen oder zwei Momente später hörte er das Stampfen von Stiefeln. Die ersten Bewaffneten hatten genug vom Anschleichen und wollten den Rest des Wegs mit Gebrülle zurücklegen. Während die Schar nun lautstark auf die Treppe zukam, bemerkte die vordersten den Mann in Leder. Sie beäugten die Stufen, ob sich dort noch mehr Männer
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näherten, fuchtelten dann mit ihren Klingen herum und riefen grollend: »He da! Ihr! Aus dem Weg!« Aber der Bärtige lächelte nur kühl und entgegnete: »Ich fürchte, das kann ich nicht tun. Wenn ich euch einen guten Rat geben darf: Kehrt um, verlasst dieses Haus, und kehrt nie wieder zurück.« Die Bewaffneten starrten ihn erst ungläubig und dann belustigt an. Erstes wölfisches Grinsen zeigte sich in ihren Reihen, und voller Vorfreude zogen nun auch die letzten ihre Waffe. Die ersten in der Reihe schoben einander ein wenig hin und her, bis ihrer drei bequem nebeneinander auf der Stufe stehen und auch noch den Vorwitzigen vor ihnen bedrohen konnten. Der Bärtige verfolgte ihre Bemühungen mit einem geduldigen Lächeln. Einige in der Schar fragten sich schon besorgt, ob sie es hier vielleicht mit einem Zauberer zu tun hatten. Andere entschieden, bei diesem Frechling müsse es sich um einen Einfaltspinsel handeln. Wie dem auch sei, der ganze Trupp rückte mit gezücktem Schwert gegen den Feind an. Sie brachten die erste Stufe hinter sich, dann die zweite, und die in der vorderen Reihe zogen die Waffen etwas zurück, um gleich zustechen zu können. Die Hinteren hielten dagegen die Klinge über die Schultern ihrer Vordermänner. Und alle freuten sich schon darauf, den Bärtigen niederzumachen, welcher dumm genug war, sich ihnen in den Weg zu stellen. Der Gegner beugte sich jedoch auch noch zu ihnen vor, grinste breit und spuckte etwas in die Mitte der Schar. Daraus entwickelte sich eine rasch anwachsende Wolke grünen
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Dampfes. Einige schrien erschrocken, andere fingen an zu husten. Stahl klapperte gegen Holz, und Krieger taumelten durcheinander. Einer nach dem anderen drehten sie sich um die eigene Achse, gingen in die Knie und brachen zusammen. Ein paar Herzschläge später rutschten sie alle wie starre Baumstämme hinunter, und Metall schlug an Holz, Fleisch und anderes Metall. Der Bärtige sammelte in aller Ruhe Dolche und Messer ein. Wo er eine Gürtelschnalle ohne größere Mühe lösen konnte, brachte er auch die an sich – Männer, deren Hosen einfach nicht oben bleiben wollen, stürzen sich selten in eine Schlacht. Als ihm die stählerne Last auf den Armen zu schwer wurde, kippte er alles aus einem Fenster in den Hof – auf den Haufen Schmutzwäsche. Nachdem er die Krieger vollständig entwaffnet hatte, trug er die Männer ebenfalls zu dem Fenster und ließ sie ihren Waffen folgen. Damit war alles erledigt, und er sprang in ebenso großen wie lautlosen Sprüngen die Treppe zu seiner Kammer hinauf. In dem kurzen Moment zwischen dem Öffnen und Schließen seiner Zimmertür hätte ein zufälliger Beobachter auf dem Absatz erkennen können, wie sich in der Kammer einige trübe Kugeln vom Boden erhoben und dabei zunehmend heller wurden. In dem gegenüberliegenden Zimmer, dessen Tür ebenfalls verschlossen war, richtete sich eine schlaftrunkene Embra gerade in eine sitzende Stellung auf. Sie lehnte sich an ihre Kissen, und Craer kam eben zum Ende seiner Geschichte.
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»... und so darf man wohl mit Fug und Recht davon ausgehen, dass die Dreifaltigkeit uns einen der Dwaerindim überlässt. Und das so kurz nachdem wir Sarasper getroffen haben. Na, wenn das kein Zufall ist! Gibt es denn noch irgendwelche Zweifel, wie wir von nun an vorzugehen haben?« Einst hatte es eine Zeit gegeben – und die hatte bis ungefähr vor vier Tagen angehalten –, da wäre Hawkril, ohne nachzudenken, seinem Freund überallhin gefolgt, wohin der scharfe Verstand und die flinke Zunge des Beschaffers sie auch führen würde. Doch heute hielt der Hüne mitten im begeisterten Nicken inne, vergaß die Kleggardkeule in seiner Hand (erst einmal angebissen) und sah erwartungsvoll die junge Frau mit den trüben Augen und dem zerzausten Haar an, welche da in ihrem Bett saß. Die Prinzessin leckte sich über die Lippen, woraufhin alle im Raum das Reden einstellten und schwiegen. Nur langsam wurde ihr bewusst, dass die drei Männer, welche sie da anstarrten, etwas von ihr zu hören wünschten. Ein Lächeln huschte über Embras Lippen. »Einst standen mir vierzig Diener zur Verfügung«, erklärte sie mit schlafheiserer Stimme, »und heute habe ich drei Freunde. Ich glaube, Letzteres gefällt mir deutlich besser.« Sie richtete sich noch ein Stück auf und schien zunehmend zu Kräften zu kommen ... und an Abenteuerlust zu gewinnen. »Ich könnte uns alle mit einem Sprungzauber in die Nähe von Indraewyn versetzen. So ungefähr eine Meile von der Stadt entfernt.« Der Heiler zog eine Augenbraue hoch. »Wirklich? Wie
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kommt es denn, dass Ihr einen Ort tief in den LoaurimmWäldern kennt?« Die Herrin des Geschmeides betrachtete ihn mit einem Lächeln, als sei das eine wirklich zu törichte Frage gewesen. »Ihr seid ein fieser und argwöhnischer alter Trottel, Sarasper. Einer meiner Lehrer liebte es, in Wassern zu schwimmen, in welchen es wärmer und ruhiger zuging als im Silberfluss. Wir haben das Angenehme mit dem Nützlichen verbunden: Ich übte mich im Zauberspringen und versetzte uns zum Lassabra-See, den manche auch –« »Den Nebelvorhang nennen!« beendete Hawkril für sie den Satz und sorgte so dafür, dass sich drei Köpfe in seine Richtung drehten. Der Ritter zuckte entschuldigend die Achseln: »Da gibt es doch so eine alte Ballade ...« »Edle Herrin«, wandte der Heiler sich nun an die Prinzessin, »seid Ihr Euch auch wirklich sicher, solche Mühsal schon wieder auf Euch nehmen zu dürfen? Jeder Bann, welchen Ihr wirkt, scheint Euch dem Tod einen Schritt näher zu bringen ...« »Ja«, stimmte der Kleine zu, »solltet Ihr Euch nicht besser noch etwas –« Embra ließ ihn jedoch nicht ausreden, sondern hob gebieterisch eine Hand, und ihre Miene zeigte an, dass sie nun Ruhe und aufmerksame Gesichter wünschte. Nach einem längeren Blick in die Runde erklärte die Edle: »Denkt doch einmal nach, Freunde: Wie viele Zauber müsste ich wohl wirken, wenn wir zu Fuß weiterzögen und uns den ganzen langen und gewundenen Weg den Strom entlang voranzukämpfen hätten? Und das auch noch durch die Baronie Silberbaum?«
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Embra sah ihren Gefährten der Reihe nach ins Gesicht. »Bloß um kurz vor dem Ziel festzustellen, dass irgendein anderer Magier Yezunds Geschichte ebenfalls gehört hat und längst zu den Ruinen zaubergesprungen ist! Dass er dort den Lebensstein gefunden hat und mittlerweile damit beschäftigt ist, eine ganze Armee von lebenden Toten oder Ähnlichem aufzustellen!« »Beim Krötenlaich!« schimpfte Craer unvermittelt, und im selben Moment murmelte Hawkril kaum hörbar: »Bei der laichenden Unke!« Die drei Männer sahen einander an, und einen Atemzug später wirbelte in dem Raum alles umher, packte Rucksäcke wieder zusammen, schnürte Bündel und wich einander aus. Begleitet wurde dieses hektische Schaffen von den Beschwerden des Hünen, er habe erst einen Bissen von dem genießen dürfen, was ganz den Eindruck einer leckeren und ausreichenden Mahlzeit erweckt habe. So rasch würde er sich nie wieder den Bauch voll schlagen können ... Ein schriller Frauenschrei durchschnitt die Luft im »Wellenfeuer«, welcher mittendrin abbrach. Vollkommenes Schweigen folgte ihm. Leises Fußgetrappel ertönte daraufhin vor dem Raum, aus welchem der Schrei erschollen war. Jemand klopfte leise an die Tür und versuchte dann behutsam aufzusperren. Als das misslang, entstand am Schlüsselloch ein Licht ... Ein winziger Augapfel tauchte aus dem Leuchten auf, durchquerte das Schlüsselloch und sah sich in der Kammer dahinter in allen Ecke um ... bis es sich befriedigt wieder zurückzog. Nur um ein Weniges später ertönten von weiter unten
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Tumult und Getöse. Männer schrien, und Stühle fielen um, als im Schankraum alles durcheinander brüllte, für alle Fälle die Waffe zog und sich mit allem, was laufen konnte, auf den Weg zu dem Zimmer machte, aus welchem der Schrei gekommen war. Unter ihnen befanden sich auch die Männer, welche sich vor kurzem auf dem Hof inmitten schmutziger Wäsche wiedergefunden hatten und sich das nicht erklären konnten. Mit neuem Mut und deutlicher Verstärkung an der Seite stürmten sie wieder zur Treppe. Wer ihnen in den Weg geriet, gleich ob harmloser Zecher oder Kellner, wurde rücksichtslos über den Haufen gerannt. Die meisten in dieser Schar schwangen ein Schwert, aber unter ihnen befanden sich auch ein paar, welche eine Holzfälleraxt mitführten. Das müsste doch eigentlich reichen, den Widerstand auch der hartnäckigsten versperrten Tür zu brechen. Als sie die Treppe erreichten, stellten diejenigen, welche an diesem Abend schon einmal hier gewesen waren, erleichtert fest, dass sich ihnen jetzt niemand in den Weg stellte. Auch weiter oben lauerte niemand, der ihnen schon wieder Übles wollte. Oben am Absatz befanden sich zwei Zimmer, welche einander gegenüberlagen. Bei dem einen stand die Tür weit auf, und dahinter herrschten Düsternis und Leere. Bei dem anderen war die Tür versperrt. Die Bewaffneten knurrten und grunzten. Die Schwertträger machten Platz, die Axtträger rückten vor, und schon krachte Stahl auf splitterndes Holz. Wieder und wieder sausten scharfe Schneiden herab, bis erste Löcher in der Tür erschienen.
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Schon griffen ungeduldige Hände hindurch, um den Riegel auf der anderen Seite zu fassen, aus der Halterung zu ziehen und auf den Boden fallen zu lassen. Dann flog die Tür auf, und unter Siegesgeschrei stürmte die Schar Bewaffneter in die Kammer. Einer Flut gleich ergossen sie sich in jede Ecke, in den Schrank und auch in jede andere Öffnung ... Doch über den Verbleib der Vier, nach welchen sie suchten, ließ sich nicht die kleinste Spur entdecken – mochte Lharondar auch noch so sehr darüber fluchen. Dafür roch es hier gar köstlich nach gebratenem Kleggard, Geflügel und anderem. Und das Bett fühlte sich noch warm nach demjenigen an, welcher bis eben darin gelegen hatte. Dazu hing der Duft von einem Parfüm in der Luft, welches einem der aufgebrachten Krieger bekannt vorkam. Diesen Duftstoff hatte die Zaubererherrin Embra Silberbaum aufgelegt gehabt, als er ihr einmal nach einem Ritt durch den Wald auf der Silberbaum-Insel vom Pferd geholfen hatte ...
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Elf
Gedränge am Strand, Überfüllung zwischen den Ruinen C Auf Burg Silberstein erstarrten die drei Magier im selben Moment und in der gleichen Weise. »Das war sie!« zischte Markoun. »Wir haben sie gefunden, Euer Durchlaucht«, meldete Bannmeister Ambelter mit bedeutungsschwerer Stimme. »Eure Tochter hält sich in Sirlptar auf, an einem Ort, den ich noch nicht deutlich genug wiedererkannt habe ... Allem Anscheine nach ein Gasthof ... an der meereszugewandten Seite der Südschnauzen-Höhen ...« »Reist sofort dorthin!« herrschte der Fürst sie an und richtete sich kerzengerade in seinem Sitz auf. Bis gerade eben hatte er noch eher schlaff dagesessen. Jetzt flammten seine Augen mit der grellen Helligkeit von Blitzen. »Auf der Stelle ergreift ihr meine Tochter und erschlagt ihre nichtswürdigen Begleiter. Und dann bringt ihr sie auf dem schnellsten Wege zu mir zurück!« Im nächsten Moment fuhr er wie ein schwarzer Wirbelwind aus seinem Sessel, riss eine Peitsche aus ihrer Aufhän-
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gung an der Wand, stampfte durch den Raum und ließ den Ziemer durch die Luft knallen. Die drei Zauberer sahen sich an, und schon flitzten Klamantel und Markoun zu dem Tablett auf dem Tisch vor dem leeren Platz des Fürsten. Sie entfernten den gläsernen Deckel, versorgten sich mit Strähnen von Embras Haar, welches dort in einem unordentlichen Bündel lag, und machten sich genauso schnell auf den Weg nach draußen auf den Balkon. Ingryl kam ein wenig später dort an und fand nicht mehr genug Platz für sich, seine Banne zu wirken. Seine jüngeren Kollegen zauberten riesige Nachtlindwürmer herbei, setzten sich rittlings darauf und ließen sich davontragen. Nachdem die beiden sich solcherart entfernt hatten, breitete Ingryl auf dem Balkon die Arme aus und versuchte, selbst etwas zu zaubern. Doch allzu rasch waren Klamantel und Markoun flussabwärts aus seiner Sicht verschwunden. Der Bannmeister ließ die Arme sinken, kehrte zu der Anrichte mit ihrem kleinen gläsernen Wald von Karaffen zurück und goss sich in aller Gemütsruhe einen Kelch voll. »Narren«, lächelte er und trank den ersten Schluck. »Welcher Tollpatsch hat ihn vergiftet«, murmelte Ingryl einen Moment später nachdenklich und ließ die Flüssigkeit über seine angespitzte Zunge rollen. »Der brennt ja richtig im Abgang.« Er zuckte die Achseln und leerte den Kelch. Am frühen Nachmittag an den Gestaden des Sees Lassabra: Die Herrin Embra war auf die Knie gefallen, keuchte und zitterte vor Schmerzen. Die warme Sonne hatte die Nebel aufgelöst, welche hier in der Regel das ruhige Wasser ver-
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hüllten. So breitete sich der See wie ein blaues Tuch inmitten eines Waldes aus. Eines Waldes, der ganze Heerscharen von feindlich gesonnenen Zauberern vor ihren Blicken verbergen mochte. Sarasper hatte sich neben die Prinzessin gekniet und hielt umständlich ihre zuckenden Schultern. »Hat es Euch früher auch solche Pein bereitet, Magie zu bewirken? Habt Ihr Euch danach ebenso ausgelaugt gefühlt?« Tränen liefen ihr über das Gesicht, und sie schüttelte den Kopf, bis die Schmerzen sie erneut durchschüttelten. Ein blauweißes Leuchten tauchte zwischen den Fingern des Heilers auf, als er seine Lebenskraft abrief, um etwas davon in die junge Frau einfließen zu lassen. Während die Energie Sarasper verließ, fühlte er sich immer schwächer und unpässlicher. Bald zitterte er selbst so sehr, dass er die Prinzessin kaum noch festzuhalten vermochte. Noch etwas später fühlte sie sich unendlich schwer an, und er musste sie fahren lassen. Embra kippte seufzend zur Seite und hatte schon das Bewusstsein verloren. Der Heiler legte sie bequemer hin, so weit das seine kraftlosen Hände zuließen. Mit grimmiger Miene schaute er dann zu den beiden restlichen Gefährten hinüber. Craer und Hawkril leckten sich gerade die Finger ab, nachdem sie das Abendbrot aus dem »Fenster« gerade verputzt hatten. Die gesamte Mahlzeit, einschließlich der Anteile von Sarasper und Embra. Für den Augenblick fühlte sich der Heiler zu ermattet, um sich darüber zu beschweren. »Wenn das so weitergeht«, erklärte er den beiden, auch wenn sie ihn kaum hören konnten,
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»brauchen wir den Lebensstein allein zu dem Zweck, ihr jeden Tag genug Energie zukommen zu lassen, damit sie am Leben bleibt.« Aber die beiden hatten ihn vernommen. »Dann soll sie eben damit aufhören, Zauber zu wirken«, erklärte der Hüne kurz und bündig. »Auf der Stelle und ganz und gar. Zumindest so lange, wie wir nach diesem Stein suchen – insofern es sich bei ihm nicht um ein Ammenmärchen für Zaubererkinder handelt.« »Jemand hat aber fest genug daran geglaubt«, wandte der Beschaffer ein, »um einen gewissen Zauberer umzubringen und sein Haus niederzubrennen. Wohl zu dem Zweck, alle Spuren zu beseitigen.« »Sie braucht Schutz und eine sichere Unterkunft«, erklärte Sarasper und ließ den Blick über die Baumreihen am Seeufer schweifen. »Wo genau findet sich diese Bibliothek eigentlich?« »In einer verlassenen Stadt namens Indraewyn. Und die soll nur eine Meile entfernt liegen, hat Embra gesagt, bevor sie mit uns hierher gesprungen ist«, antwortete Craer. »Leider hat die Gute nicht hinzugefügt, in welche Richtung man gehen muss.« »Vermutlich dorthin, wohin sich diese Abteilung Soldaten bewegt«, warf Hawkril ein und nickte nach links. Nicht allzu weit entfernt tauchte am Seeufer eine Gruppe Gerüsteter auf. Einige trugen auch Gewänder und hatten sich einen Schild vor die Brust und einen auf den Rücken gehängt. Sie schritten durch das Schilf, und als sie der vier Gefährten ansichtig wurden, bewegten sie sich vorsichtiger. Der Hüne zog sein Schwert, und der Beschaffer drängte:
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»Wenn wir hier noch lange herumtrödeln, erreichen die da vor uns die gesuchte Stadt. Los, Leute!« »Ich wette, zwischen den Ruinen wimmelt es bereits von Magiern, welche jeden Stein umdrehen«, bemerkte Sarasper und verfolgte gelassen, wie der Kleine vor Ungeduld zu platzen drohte, »und außerdem haben wir eine Last mit uns zu tragen, an die auch gedacht werden will.« »Weckt die Zauberin auf«, entgegnete Craer mit bemühter Höflichkeit, »denn uns bleibt wirklich keine Zeit mehr. Es bedarf nur eines einzigen Magiers, der genau weiß, was er tun muss, um den Lebensstein in seine Hände zu bekommen, und dann sind wir binnen weniger Herzschläge nur noch ein paar weitere verdrehte Kadaver im Leichenberg derjenigen, welche es gewagt haben, sich ihm in den Weg zu stellen!« »Ach, um als verdrehter Leichnam zu enden, muss man nicht so lange warten«, warf Hawkril wie nebenbei ein, fuhr mit der Schnelligkeit einer zustoßenden Schlange herum und stach sein Schwert mitten in das dichteste Grün eines Krähenapfelstrauchs. Jemand schrie auf, und plötzlich wurden sämtliche Büsche lebendig. Füße stampften, Flüche ertönten, und Fellgekleidete griffen an. Hawkril sprang ein Stück weit zurück, und dunkles Blut troff von seiner Klinge. Der Heiler murmelte ein paar fremdartig klingende Worte und warf einen Gegenstand in die Luft, welchen er aus seinem Hemd gezogen hatte. Craer erkannte noch, dass es sich dabei um drei miteinander verwobene Kleinstschwerter handelte, dann verschwanden sie auch schon in aufblitzender Helligkeit.
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Der Beschaffer stürzte sich darauf mit seiner Klinge und seinem Dolch auf die Angreifer und verpasste so den Moment, in welchem das Licht drei schwebende, lange Geisterschwerter gebar. Auf den ersten Blick zählte Craer acht Fellmänner. Sie schienen nicht zu der Schar am Seeufer zu gehören. Dann fiel dem Kleinen noch etwas auf: Die Angreifer trugen zwar die groben Umhänge und Lederhosen von Waldarbeitern, aber sie stolperten und hüpften im Lauf – ganz so wie Kriegsmänner, welche den Dienst in einem Burghof gewohnt sind und nicht den unebenen Waldboden mit seinen weichen Moosen und harten Wurzeln. Mehr noch, als Saraspers Geisterschwerter auf die Männer einhackten, schlitzten sie ihnen hier und da die grobe Kleidung auf, und darunter glänzte es verdächtig nach Panzern und Rüstung. Hawkril stellte einem Feind ein Bein, stach dem nächsten sein Schwert in den Hals, tänzelte rasch zurück, hieb dem ersten, der sich noch im Sturz befand, den Kopf ab und stürmte schon auf den dritten los, um auch ihn niederzustechen. Schon früher einmal hatte der Hüne so berserkerhaft gefochten. Damals, auf den Inseln, und da war er noch viel jünger gewesen ... In jener Senke mit den verräterischen, hinterhältigen Priesterinnen ... Weiter und weiter kämpfte er sich vor, bis er endlich über dem Baron stand. Der Goldene Greif sah ihn mit brechenden Augen von unten an. Blut zeigte sich auf Ezendor Schwarzgults Lippen. »Ihr hattet ... Recht, Hawkril«, ächzte der Mann, welchen der
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Hüne mehr als sein eigenes Leben liebte, »aber für diese Erkenntnis ...ist es jetzt zu spät...« Der Ritter wollte seinen Herrn nicht länger sehen, blies kräftig ins Horn und ersparte ihm so die Mühsal des Weiterredens. Gleichzeitig zog der Krieger mit seinem Schwert einen weiten Kreis. Die Angreifer wichen tatsächlich zurück, nur ein Priester sprang ihm gegen die Knie, um ihn zu Fall zu bringen. Hawkril zerschmetterte ihm mit dem Horn die Nase und hieb das Instrument nur einen winzigen Moment später dem nächsten Vorwitzigen ins Gesicht. Das Horn würde nie mehr gebraucht werden ... Ein Singen erfüllte wenig später die Luft und verkündete den Zusammenbruch des Abwehrschilds über der Senke. Hawkril nutzte den Moment, um dem Fürsten das erste Fläschchen mit der Heilflüssigkeit an den Mund zu setzen. Dann riss er sich die Schamkapsel herunter, nahm das zweite Fläschchen und drückte es dem Baron in die Hand. Dann stellte er sich breitbeinig über seinen Herrn. Hawkril musste dafür sorgen, dass der Goldene Greif während der nächsten Minuten am Leben blieb. Bis seine Kameraden heran waren ... Oder bis die Zauber der wutschnaubenden Priesterinnen der jägerin das Leben aller auslöschten, welche sich innerhalb der Senke aufhielten. Ein Blitz schoss in den Himmel, ein Tosen erscholl, und schlaffe Leiber flogen in alle Richtungen davon. Der Hüne fluchte lange und ausgiebig. Er hatte sehr eindeutige und leicht verständliche Befehle gegeben: Sämtliche Frauen mit gehörnten Helmen waren in dem Augenblick niederzuhauen, in welchem der Abwehrschild aufgehoben wurde! Aber irgendwer hatte diesen Auftrag trotzdem nicht verstanden ...
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oder sich von den von Leder umhüllten Reizen der Hexen ablenken lassen ... oder ... Ein zweiter Blitz überschüttete Hawkril mit Blut, Erdreich und anderen Fetzen. Ein Gräben tat sich im Boden auf und bewegte sich wie von einem unsichtbaren Pflug erzeugt auf den Baron zu – konnte ihn aber nicht ganz erreichen. Die Priesterinnen scherten sich offenbar wenig darum, wie viele Mitglieder der Priesterschaft von der Heiligenjägerin bei ihren Attacken ebenfalls ums Leben kamen. Der Hüne entdeckte eine von ihnen, wie sie mitten in einem Kreis von Rittern stand. Über die ganze Entfernung starrte sie ihn aus funkelnden Augen an ... Ein weiterer Blitz zuckte auf ihn zu, und die Welt verwandelte sich in einen Ort von weißen Nebeln, Funkenregen und gedämpften Geräuschen ... Hawkril stand immer noch über seinem Herrn, und die Priesterin ragte über diesen beiden auf. Und sonst war niemand zu sehen. Von irgendwo draußen stach ein Schwert in den Nebel und löste sich dabei in dünnen Rauch auf, bis der Unbekannte den klingenlosen Schwertgriff zurückzog. Die Priesterin besaß jedoch ein vollständiges Schwert. Sie schlug damit nach Hawkril und versuchte, ihn ins Gesicht zu stechen. Der Hüne ahnte jedoch, was seine Gegnerin beabsichtigte. Statt sich wegzuducken, wehrte er ihre Klinge mit der seinen ab, zwang sie an seinem Gesicht vorbei und mit Wucht noch ein ganzes Stück weiter nach links. Die Hexe geriet aus dem Tritt und stolperte an dem Baron vorbei, welchen sie doch eigentlich mit ihrem Angriff hatte erschlagen wollen.
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Funken stoben noch von dem Aufeinanderkrachen ihres Stahls durch die Luft, und Hawkril schritt mitten hindurch, um sich dem nächsten Angriff der Priesterin zu stellen. Seine Klinge hielt die ihre auf Abstand, und beide Kämpfer kamen sich in ihrem Ringen so nahe, dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten. Schließlich zischte die Priesterin in ohnmächtigem Zorn: »Ihr steht kurz davor, Krieger, von der Herrin in die Verdammnis gestoßen zu werden! Ich muss ihr nur Euren Namen nennen. Nun tretet endlich zur Seite! Euch war es ohnehin untersagt, die Senke zu betreten!« »Wie denn das?« erwiderte der Getreue. »Mein Herr, der Baron, stimmte zu, sich allein und unbewaffnet zu Verhandlungen zu begeben. Doch als ich hier erschien, war bereits eine Schlacht im Gange, und an der nahm ich dann in der Weise teil, zu der ich ausgebildet bin. Ich stand dem Manne bei, welcher sich allein seiner Haut gegen achtzig Verräterinnen zu erwehren versuchte. Wie könnt Ihr es da wagen, von Verboten und Verdammnissen zu faseln?« »Ich muss ihr nur Euren Namen nennen!« zeterte die Hexe weiter, während die beiden sich wieder und wieder umeinander drehten, Magie mit Muskeln im Widerstreit lag und beide Klingen sich nicht voneinander lösen konnten. »Nur ein Wort, und Ihr werdet Euer weiteres Leben verfluchen!« »Die Treue erfüllt ein Leben ganz und gar, Priesterin«, gab Hawkril zurück. »Genauso, wie sein Wort zu halten oder seinen Kameraden beizustehen. Priester und Götter scheitern von Zeit zu Zeit oder lassen einen im Stich oder ergehen sich in Täuschung und Verderbtheit, aber Schwertbrüder behandeln einander niemals mit Falsch. Wir sterben lieber gemeinsam, als einen der Unseren auch nur für einen Moment hängen zu lassen!«
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Der Hüne musste brüllen, weil ihn der magische Ansturm so anstrengte. »Götter gehen unter, aber ehrliche Männer werden ewig besungen!« »Was für ein Unsinn!« zischte die Hexe, und Hawkrils Schwert explodierte in einem Funkenschauer. Ihre Klinge sauste nun heran. »Denn nur einer wahren Priesterin der Jägerin vermag niemand zu widerstehen!« Eine gepanzerte Hand legte sich unvermittelt um ihren Hals und drückte zu. »Ich finde, es reicht jetzt«, bemerkte Fürst Schwarzgult. »Auch eine wahre Priesterin der Jägerin muss ihre Grenzen erkennen.« Seine Hand schloss sich zur Faust, und die Hexe spuckte Blut. Als der Baron sie losließ, konnten ihre Beine sie nicht mehr tragen. Die Priesterin brach auf dem Boden zusammen, und Nebel und Funkenschauer vergingen gleichermaßen. Die Glieder der Sterbenden zuckten noch einmal, dann regte sie sich nicht mehr. Hawkril brachte ihr Schwert an sich, um seinen Herrn verteidigen zu können. Dann standen die beiden schweigend nebeneinander und ließen den Blick über das Schlachtfeld schweifen. Niemand war übrig geblieben, den Schwarzgult und Hawkril Anharu hätten bekämpfen können. Hie und da hob ein Ritter das Schwert zum Gruß. Die Senke schwamm im Blut der ScharadenAnhänger. Der Goldene Greif legte seinem Kämpen einen Arm um die Schulter – er musste hinaufreichen, um das zu bewerkstelligen – und sprach: »Mein bester, treuer Anharu, Euch allein verdanke ich mein Leben. Solltet Ihr jemals in ähnliche Nöte geraten, werde ich kommen, meine Schuld bei Euch zu begleichen – oder mich willig der Verdammnis jener Herrin unterwerfen, welche dieses Gewürm hier so begierig beschwor. Hawkril, dieses Ehrenwort ist bindend!«
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Seine Stimme ging in einem Krächzen unter. Er atmete mehrmals tief und meinte dann: »Und jetzt, getreuer Freund, wollen wir uns eine Tränke suchen, in welcher man über ausreichend Heilung gegen großen Durst verfügt!« »Herr«, entgegnete der Hüne, während sie über die Gefallenen und Erschlagenen kletterten, was ihnen nicht leichtfiel, spürten sie jetzt doch die vielen Wunden, welche man ihnen beigebracht hatte. »Von jeher rühmt man Eure Weisheit. Doch mit dem letzten Vorschlag habt Ihr Euch selbst übertroffen!« Auf einem späteren Schlachtfeld mangelte es zwar an Hexenpriesterinnen, doch dafür ging es dort nicht weniger blutig zu. Craer sprang gerade in die Luft, um einem Mann ins Gesicht zu treten. Dann stieß er den Taumelnden in den Wirkungsbereich von Saraspers wirbelnden Geisterklingen. Zwei falsche Waldarbeiter wehrten sich verzweifelt gegen diese gespenstischen Schwerter. Der Soldat aber, welchen Craer gerade gegen sie gestoßen hatte, besaß keine Waffe mehr und konnte somit auch nicht die Klingen abwehren. Eines der Geisterschwerter machte kurzen Prozess mit ihm. Röchelnd sank der Mann sterbend zu Boden. Das Zauberschwert aber, welches ihn niedergehauen hatte, löste sich danach in nichts auf. Ungefähr zum gleichen Zeitpunkt war der Beschaffer es leid, mit einem falschen Förster Schwerthiebe auszutauschen, welcher größer, stärker und angriffslustiger als er war. Sein Gegner schien harte Schläge mit der Rückhand zu bevorzugen, also nutzte Craer diese Vorliebe aus, um ihn in eine Falle zu locken. Der Kleine tat so, als würde er zurücktaumeln, um
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dann, als die feindliche Klinge heranrauschte, mit einem Purzelbaum unter ihr hinwegzutauchen. Unmittelbar neben seinem Gegner kam der Beschaffer wieder zu stehen und hätte ihm jetzt ohne große Mühe den Rest geben können. Aber ein anderer Feind – derjenige, welchen Hawkril vorhin fortgestoßen hatte – stand verlockend nahe und kehrte Craer auch noch den Rücken zu. Der Kleine machte einen Satz in die Luft, stieß dem Soldaten sein Messer in den Nacken und schlitzte ihm die ganze Halsseite auf. Gleichzeitig versetzte er ihm einen Stoß, welcher ihn mitten in die Bahn des Mannes brachte, der so gern aus der Rückhand schlug. Nun erwies es sich, dass der falsche Waldarbeiter noch nicht gelernt hatte, wie man Hindernisse parierte, mit denen man nicht gerechnet hatte. Craer überließ ihn seiner hilflosen Verwirrung und stürmte mit erhobenem Dolch zwei weiteren Soldaten entgegen, welche sich offenbar entschlossen hatten, ihn gemeinsam anzugehen. Rechts von dem Beschaffer umrundete Hawkril die Geisterklingen, um sich den beiden zuzuwenden, welche mit selbigen fochten. Er stach sie hierhin und dorthin, um sie von den Zauberschwertern abzulenken. Einer fiel rasch darauf herein, und der Hüne bohrte ihm sein Schwert in die Brust. Der falsche Förster röchelte, würgte, spuckte einen Schwall Blut aus und taumelte dennoch auf Hawkril zu. Sein Kamerad erkannte hingegen die Aussichtslosigkeit ihrer Lage und floh – auf den Beschaffer zu, welcher ihn nicht kommen sah. Der Hüne rief dem Gefährten eine Warnung zu. Craer trat
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geschickt beiseite, und der Soldat rannte mitten in die üble Überraschung, welche die beiden vorbereitet hatten, die gemeinsam gegen den Kleinen vorgehen wollten. Die Geisterschwerter sausten dem Mann hinterher, denn Sarasper stand nun auf, und Embra sank zu seinen Füßen zu Boden. Die zauberischen Klingen griffen die beiden verbliebenen Feinde an. Hawkril fällte den Mann, welcher von seinen eigenen Kameraden getroffen worden war, mit einem Hieb in den Rücken. Die beiden restlichen falschen Förster erkannten, dass sie sich kaum gegen eine so geballte Übermacht behaupten konnten, und zogen sich zurück. Dem Hünen stand aber nicht der Sinn nach einer langen Verfolgungsjagd durch Unterholz und um Bäume herum. Die Dreifaltigkeit allein mochte wissen, welche Fallen und Soldatenlager dieser Wald beinhalten mochte. Also schleuderte Hawkril alles, was ihm noch an Klingen geblieben war, hinter den beiden Feinden her. Nur eine fand ihr Ziel, und der Mann stürzte auch gehorsam zu Boden. Der letzte der falschen Waldarbeiter hielt keinen Moment an, um sich nach dem Schicksal seiner Kameraden zu erkundigen. Jetzt erkannte auch Craer, welche Gefahren sich aus einem entkommenen Gegner ergeben könnten. »Den kaufe ich mir!« rief er Hawkril zu und rannte schon dem Fliehenden hinterher. Noch eine ganze Weile hörten die anderen seine Schritte im raschelnden Laub. Der Soldat, welchen Hawkrils Dolch zu Boden geworfen hatte, hatte sich derweil wieder aufgerichtet. Weglaufen konnte er mit der Wunde an der Ferse nicht mehr, also entschloss er sich, sein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen
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und sich zu wehren – gegen den Hünen und das letzte Zauberschwert (auch das zweite hatte sich zwischenzeitlich aufgelöst). Geduldig drängten der Ritter und die Geisterklinge den Gegner dorthin, wohin sie ihn haben wollten. Bis Hawkril allein die Sache beenden musste, weil auch der letzte Zauberstahl sich auflöste. Als es so weit war, erbleichte der Heiler und presste sich die Hände an die Schläfen. Er taumelte, fiel auf die Knie und brach keuchend ganz zusammen. Schweiß drang ihm aus allen Poren. Gelber Nebel hatte sich nach dem Untergang der letzten Klinge über seinen Geist gelegt und verwirrte seine Gedanken. Sarasper hatte die Zauberschwerter länger erhalten und weiter fortgeschickt, als das Magier normalerweise taten ... Dennoch konnte der Mann sich nun nicht einfach seiner Erschöpfung und Benommenheit hingeben; denn noch wartete eine Aufgabe darauf, von ihm erfüllt zu werden. Auf allen vieren kroch der Heiler wie durch einen Nebel zurück zu der Stelle, an welcher Embra lag; und einige Male vergaß er unterwegs, was er dort eigentlich wollte. »Herrin!« krächzte Sarasper, als er sie unter sich spürte. »Euer Hoheit! Edle Embra, hört mich!« Stöhnend fiel er neben ihr aufs Gesicht, brachte aber immer noch die Kraft auf, eine Hand auszustrecken und der Prinzessin links und rechts auf die Wangen zu schlagen. Wann immer es ihm möglich war, rief er ihren Namen. Er musste sie unbedingt wiederbeleben, ehe er selbst das Bewusstsein verlor. Denn wenn die Soldatenabteilung vom See hier heraufkam und zwei ohnmächtige, hilflose Men-
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schen vorfand, welche man mit einem einfachen Messerstich umbringen und dann in aller Ruhe ausrauben konnte ... Von einem Hügel zwischen zwei knorrigen Baumriesen ertönte ein triumphierender Schrei – der letzte falsche Fuffziger hatte wohl gerade erkannt, dass die dritte Geisterklinge sich auf Nimmerwiedersehen verabschiedet hatte –, und im nächsten Moment drängte Hawkril seine Klinge an die seines Gegners. Der Mann kam einfach nicht mehr dazu, seine Waffe zu bewegen, denn der Hüne nutzte seine überlegene Körperkraft und seine Größe dazu, die beiden Waffen nach oben zu schieben, sich immer näher an den Feind heranzudrängen und diesen schließlich umzustoßen. Sie beide landeten hart auf dem Boden, und dem Soldaten entwich pfeifend die Luft aus der Lunge, als er das ganze Gewicht des Ritters zu spüren bekam. Der falsche Waldarbeiter wand sich schnaufend unter dem Riesen, und als er erkannte, dass ihm das wenig nutzte, versuchte er, eines seiner Messer zu erreichen. Zwei Händepaare rangen nun miteinander. Hawkril aber hatte diese Stelle mit Bedacht gewählt, bevor er seinen Gegner zu Fall brachte. Einige mit Moos überwachsene Steine lagen hier, handlich genug, um ohne Mühe aufgenommen und eingesetzt werden zu können. Während des Ringens bekam der Hüne einen davon zu fassen und ließ ihn mit furchtbarer Wucht niedersausen. Der Hieb zerquetschte seinem Feind die Finger. Die nächste Steinattacke schlug dem Soldaten die Nase ein. Ritter sind dafür bekannt, ihre Siege nicht mit Zartgefühl zu erringen. Wenn sie kämpften, ging es ihnen nicht darum,
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für den Gegner ein hübsches Sümmchen Lösegeld zu erhalten, sondern sie fochten auf Leben und Tod – und deswegen gingen sie ebenso brutal wie wirkungsvoll vor. Der Waldarbeiter zuckte und konnte nichts mehr sehen, weil ihm sein eigenes Blut über die Augen rann. Hawkril verpasste ihm sicherheitshalber eine Ohrfeige, entwand dem Mann das Schwert und nahm dann seine eigene Klinge, um diesem den Knauf an die Schläfe zu schlagen. Der Soldat verlor das Bewusstsein. Hawkril sammelte nun alle Waffen ein, die hier herumlagen, warf sich den Ohnmächtigen auf die Schulter und kehrte mit dieser Last zu Sarasper und der Prinzessin zurück. Beide lagen ebenfalls bewusstlos auf dem Boden und hatten alle viere von sich gestreckt. In seiner Sorge, den Gefährten könne etwas zugestoßen sein, ließ er den falschen Förster recht unsanft fallen und untersuchte erst Embra und dann den Heiler auf Wunden. Zu seiner großen Erleichterung konnte der Hüne feststellen, dass die beiden nur in einen tiefen Schlaf gefallen waren. »Ihr seid mir ja ein schöner Beschützer!« knurrte er den leise schnarchenden Sarasper an. Nun kümmerte sich Hawkril um seinen Gefangen und klopfte ihn erst einmal gründlich nach Waffen ab. Die Suche brachte ein Nadelmesser zu Tage, welches der Mann im Stiefel getragen hatte, und noch ein zweites, welches in der Schwertscheide verborgen war. Wenn er nicht vorher schon Zweifel an der Aufmachung gehabt hätte, wäre er spätestens jetzt argwöhnisch geworden. Wie kam ein Waldarbeiter an solche Waffen? Kopfschüttelnd zog der Hüne dem Soldaten Stiefel und
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Gürtel aus. Letzteren schlang er ihm um einen behaarten Fußknöchel, zog das andere Ende um einen Ast, fesselte auch den anderen Fuß daran und hängte den Mann so mit dem Haupt nach unten auf. Etwas fiel aus der Kleidung des Soldaten und pendelte an einer Lederschnur. Hawkril brachte die Börse an sich. Sein Gegner schien für keinen sonderlich großzügigen Herrn zu arbeiten. Er zog ihm die Schnur über den Kopf, löste sie von dem Geldsack und band dem Mann damit Daumen und Zeigefinger zusammen. Die weitere Untersuchung ergab, dass die Soldaten Lederwämse mit aufgenähten Eisenringen und dazu einige zusammengeklaute Platten von Rüstungen trugen. Das natürlich unter den elenden Kleidern von Waldarbeitern, deren wahre Besitzer sie vermutlich erschlagen hatten. Der Hüne zog dem Hängenden Hemd und Waffenrock über den Kopf. Er betrachtete ihn für einen Moment und schüttete dann den Inhalt der Börse auf einem Stein aus. »Das lohnt kaum den Aufwand«, bemerkte Craer, der eben mit einer zufriedenen Miene aus dem Wald zurückkehrte. »Ein paar Kupferstücke, ein Silberstern und, oho, ein Wappen von Kardassa. Nun, das erspart uns die Mühe, den Gefangen danach zu befragen, in wessen Auftrag er arbeitet. Diese Schar hier muss im Auftrag des Barons von Kardassa hierher marschiert sein, um den Stein für ihn zu bergen ... Ich befürchte allerdings, dass wir noch nicht alle von ihnen erwischt haben. Ein oder zwei Magier dürften sich noch hier irgendwo herumtreiben.« Hawkril sah erst den Hängenden an, dann die Prinzessin und endlich den Heiler. »Und wie geht es jetzt weiter?«
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Der Beschaffer zuckte die Achseln. »Wenn die Abteilung, welche wir vorhin gesehen haben, nicht ganz woandershin wollte, muss Indraewyn ungefähr da liegen. Ich würde vorschlagen, wir verschwinden von hier, und zwar rasch und möglichst weit weg von der Straße. Sonst kommen die fremden Soldaten noch auf den Einfall, uns zu überfallen und auszurauben. Oder uns aus einem anderen Grund zu erschlagen.« Er sah sich rasch um. »Wir laufen am besten auf der anderen Seite um den See herum, stoßen dann weiter oben auf die Straße zurück und nähern uns den Ruinen aus einer Richtung, aus welcher man uns nicht erwartet hat.« »Hört sich so an, als können man auf der Route leicht in die Irre gehen«, brummte der Hüne. »Immer noch besser, sich zu verirren, als offenen Auges in einen Hinterhalt zu laufen, in welchem es von Schwerbewaffneten wimmelt«, erwiderte der Beschaffer. »Also ich weiß, was mir lieber ist.« »Und wenn wir nun die Ruinen vollkommen verfehlen?« wandte der Hüne ein. »An ihnen vorbeilaufen und immer tiefer in den Wald hineingeraten? Nicht umsonst nennt man ihn das ›endlose Gehölz‹!« »Ach, so schlimm wird es schon nicht sein«, gab der Kleine zurück. »Wenn wir nicht jeden Tag zu weit laufen und uns in der Nacht hübsch leise verhalten, werden uns die Feuer und der Krach der anderen Gruppen hervorragend leiten und lenken. Dazu sollten wir natürlich unterwegs noch versuchen, Embra zu wecken. Und jetzt Obacht, Freunde. Wenn ich mit dem Schwert hier einen Kreis durch die Luft ziehe, bringt Ihr die anderen herbei. Zuerst die Prinzessin, und dann Sarasper.
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Aber so leise wie möglich!« Der Beschaffer bewaffnete sich mit der Klinge, welche Hawkril dem Gefangenen abgenommen hatte, und bewegte sich durch den Wald, um auf die andere Seite des Sees zu gelangen. Als Craer und Hawkril einander nur noch als kleine Pünktchen im allgegenwärtigen Grün auszumachen vermochten, wedelte der Kleine mit dem Stahl durch die Luft. Gehorsam schwang der Hüne sich die Zauberin auf die Schulter, trug sie zu dem Beschaffer und kehrte zurück, um den Heiler zu holen. Der Gefangene hing immer noch reglos vom Ast und hatte offenbar das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt. Aber die wenigen Münzen des Mannes lagen nicht mehr auf dem Felsen, wo der Hüne sie vorher ausgekippt hatte. Der Ritter grinste leise. Ohne Zweifel hatte der Beschaffer einen Moment ausgenutzt, in welchem Hawkril gerade nicht hinsah. Craer legte das Schwert so auf den Boden, dass es in die Richtung zeigte, in welche die Abteilung Soldaten sich bewegte. Dann beugte er sich über die Herrin und versuchte, sie sanft zu wecken. Der Kleine flüsterte mehrmals ihren Namen, legte ihr die kalten Münzen, welche er sich vorhin »ausgeborgt« hatte, auf Stirn, Wange und Handrücken, rieb ihr über die Handgelenke und strich ihr sanft, aber beharrlich über das Kinn. Mit gerunzelter Stirn beugte sich Hawkril jetzt über ihn, und mit einem Mal schlug die Zauberin die Augen auf. Keine Farbe fand sich in ihrem Gesicht, und sie stierte benommen in die Runde, schien ihre Gefährten nicht wiederzuerkennen. »Könnt Ihr laufen?« fragte der Beschaffer sanft.
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Die Herrin der Edelsteine sah ihn erst verständnislos an, dann breitete sich Empörung auf ihren Zügen aus. »Natürlich kann ich laufen, Craer! Ich bin nur müde und nicht betrunken oder verkrüppelt!« Wütend schob die Prinzessin seine Hände beiseite, erhob sich und lag schon auf der Nase, noch ehe sie den ersten Schritt gelaufen war. »Habt Ihr uns Ungebildeten gerade die hohe Etikette am Hof von Silberbaum vorgeführt, Euer Hoheit?« fragte Craer mit gespielter Unwissenheit, während er sie gleichzeitig hochhob, hinstellte und stütze. »Einer dieser unnachahmlichen Bewegungsabläufe, dank derer sich Blaublütige wie Ihr meilenweit über uns Gewöhnliche erhebt?« »Hütet Eure Zunge, Beschaffer!« ermahnten ihn Hawkril und die Prinzessin wie aus einem Munde. Die Blicke der beiden trafen sich unwillkürlich, und sie schauten sich ob des Umstands verwundert an, im selben Moment den gleichen Unwillen verspürt zu haben. Der Hüne grunzte etwas, wandte sich rasch ab und trat von einem Fuß auf den anderen. Embra löste sich immer noch wütend ruckartig aus dem Haltegriff des Kleinen, entfernte sich ausreichend viele Schritte von ihm, um die Fäuste in die Hüften stemmen und ihn anfunkeln zu können, und schnappte: »Natürlich kann ich laufen. Wozu also Eure dummen Spielchen, welche uns nur Zeit kosten?« Craer hob abwehrend eine Hand, und als die Prinzessin sich tatsächlich etwas beruhigte, zeigte er mit der anderen auf eine Gruppe Bäume. »Herrin, dort drüben liegt der See, an dessen Seite wir uns eine ganze Weile entlangbewegt haben. Wenn nun die Stelle, an welcher wir Euch gefunden haben,
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sich ungefähr dort befinden dürfte, in welcher Richtung wäre dann die Ruinenstadt Indraewyn zu finden?« Sie dachte nur einen kurzen Moment nach. »In dieser dort, ungefähr eine Meile weit.« Der Beschaffer nickte, ging in die Hocke und drehte das Schwert auf dem Boden in die Richtung, in welche die Prinzessin nun zeigte. Dann wandte er sich wieder an sie. »Wir beide laufen nun so weit dort entlang, wie Hawkril uns gerade noch sehen kann. Er gibt uns ständig Zeichen, uns nach links oder nach rechts zu bewegen, so dass wir nicht von der Linie abweichen, welche die Schwertspitze vorgibt. Habt Ihr das verstanden?« Als sie ihn mit trüben Augen ansah, meinte Craer: »Dann erkläre ich es Euch unterwegs noch einmal. Also, wenn wir an der Stelle anlangen, an welcher der Fleischberg uns gerade so eben noch ausmachen kann, was er uns durch Handzeichen kundtut, lege ich mein Schwert auf den Boden, damit es in die Richtung zeigt, in welche wir weitermüssen. Doch wir laufen noch nicht weiter, sondern warten, bis Hawkril den Heiler mitsamt dem Schwert zu uns getragen hat. Wenn der Gute uns dann erreicht hat, beginnt der ganze Vorgang wieder von vorn. Ich nehme das Schwert, welches der Hüne mitbringt, und lasse dafür meines liegen. Und so weiter und so fort. Auf diese Weise bewegen wir uns ohne größere Abweichungen in die gewünschte Richtung. Wir haben uns ausreichend lange am Seeufer entlang bewegt, um von der anderen Seite in die Ruinenstadt zu gelangen, und ich glaube, jetzt können wir auch nicht mehr an Indraewyn vorbeilaufen.« »Hier treiben sich wahrscheinlich nicht mehr so viele
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Feinde herum«, stimmte Embra zu. »Trotzdem sollten wir nicht darauf verzichten, Wachen aufzustellen.« Sie nickte versonnen, weil ihr gefiel, wie der Beschaffer die Dinge handhabte. »Ich befürchte auch, dass die Hälfte aller Magier von Aglirta sich bereits auf dem Weg zu dem Stein befindet oder bereits dort eingetroffen ist.« Der Kleine nickte ebenfalls langsam. »Habt Ihr irgendeine Vorstellung, was Euch befällt, wann immer Ihr Magie wirkt?« Die Prinzessin hob die schmalen Schultern. »Vielleicht lastet ja ein Fluch auf mir. Womöglich stecken die Zauberer meines Vaters dahinter.« »Würde der Fluch von Euch genommen, wenn man sie tötete?« wollte Hawkril wissen. Beide drehten sich überrascht nach dem Ritter um. Nach einem Moment antwortete die Hexe: »Ich glaube, ja. So müsste es gehen: wenn alle erschlagen sind, welche an dem Fluch beteiligt waren.« Der Hüne nickte ganz langsam, ehe er seinem Freund das Zeichen gab, in der Richtung aufzubrechen, in welche die Schwertspitze zeigte. Der Beschaffer und die Prinzessin machten sich auf den Weg durch den Wald. Sowohl diese beiden wie auch der Ritter setzten besorgte Mienen auf. Nur der Heiler nicht, aber der befand sich ja in einem anderen Bewusstseinszustand. So verging der ganze Nachmittag, indem sie sich in der von Craer ausgetüftelten Weise gruppenweise immer ein Stück voranbewegten und dann darauf warteten, dass die anderen aufschlossen. Sarasper brauchte sehr lange, bis er das Bewusstsein wiedererlangte. Danach klagte er über Kopfschmerzen und stolperte nur
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hinter den anderen her, statt rüstig auszuschreiten. Einmal hörten die Gefährten Schlachtenlärm mit Schreien, klirrenden Waffen und einer Explosion magischen Ursprungs. Doch darüber hinaus begegneten sie während der ganzen Reise keinem einzigen Lebewesen – abgesehen höchstens von einer gelegentlichen Baumkatze. Schließlich kam der Zeitpunkt, an welchem sie vom Kurs abweichen mussten, um die Stadt zu umrunden. Endlich hob die Prinzessin eine Hand, und alle blieben gehorsam stehen. »Indraewyn muss dort vorn liegen«, erklärte die Zauberin leise, »und breitet sich ungefähr von da bis dort aus.« Craer und Hawkril machten ihre Waffen bereit. Embra klopfte ihren ganzen Körper nach übrig gebliebenen Zaubergegenständen aus dem Schweigenden Haus ab, denn vermutlich würde sie in Bälde Banne bewirken müssen. »Ich hielte es für besser«, bemerkte der Heiler leise, als er neben der Herrin der Edelsteine auftauchte, »nur dann einen Zauber zu werfen, wenn wir in eine ausweglose Lage geraten sind.« Embra drehte sich zu ihm um. »Dann sorgt Ihr dafür«, gab sie gewichtig zurück, »dass wir nicht in eine solche geraten!« Er grinste und breitete die Arme aus. Beide zuckten gemeinsam die Achseln. Die Vier setzten ihren Weg fort und bewegten sich so vorsichtig wie möglich auf die Ruinen zu. Wie vorher schon lief Craer voraus und gab den Gefährten mit Handzeichen zu verstehen, wann und wie sie ihm folgen sollten. Sie waren schon eine ganze Weile unterwegs, als ein grelles Licht durch die Wipfel vor ihnen sauste. Dem folgten Schmerzensschreie, Alarmrufe und gebrüllte Befehle.
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Die Gefährten sahen einander an. Dann gab Craer das Zeichen, leise weiterzulaufen.
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Zwölf
Gar nicht so leicht – das mit der Magie C Aus dem klaren und strahlenden blauen Himmel über der Glitzernden Stadt rauschten zwei schwarze Drachenwesen mit Fledermausflügeln heran. Die schlangengleichen Ungeheuer trugen Reiter auf ihrem Rücken, und damit begann der Nachmittag, welcher in Sirlptar so bald nicht vergessen werden sollte. Die Menschen, welche zufällig nach oben blickten, schrien überrascht und zeigten aufgeregt zum Himmel. Die Älteren und die mit den langen Bärten schauten ebenfalls hinauf, hielten sich aber nicht mit Geschrei und Fragen auf, sondern flüchteten gleich in den nächsten Hauseingang oder Keller. Bei den Drachen schien es sich um Nachtlindwürmer zu handeln, wie sie in den Liedern und Sagen der Geschichtenerzähler vorkamen. Aber die Älteren und die mit den langen Bärten glaubten nicht daran, dass nun ein gutes Ende bevorstand und ein tapferer Held alle retten würde. Sie wussten, was Nachtlindwürmer in der Wirklichkeit anzurichten mochten. Und sie wussten auch, welche Art von
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Männern auf solchen Wesen zu reiten pflegte. Hörner, welche seit vielen Jahren nicht mehr geblasen worden waren, erwachten mit einem Mal zu geradezu hektischem Leben, ließen ihre Töne über die Dächer der Stadt hinweg erklingen und riefen die Bogenschützen und die Magier von Sirlptar dazu auf, sofort alles stehen und liegen zu lassen und zur Verteidigung ihres Heimatortes herbeizueilen. Die Gerufenen mussten nicht erst einen Wachturm besteigen, um herauszufinden, warum man sie rief. Über die ältesten und reichsten Straßen von Sirlptar glitten die wahrhaft beeindruckenden Untiere dahin und schwebten wie schwarze Gespenster über den Höhenzug. Derweil machten sich ihre Reiter an Haarsträhnen zu schaffen ... Doch die Zauber, welche sie damit wirkten, bescherten ihnen nicht das, was sie suchten. Während der Fahrtwind Klamantels Mähne zurückblies und seine erhitzten Wangen kühlte, beendete er seinen Bann und setzte die zusätzlich gewonnene Kraft mit der gewohnten Umsicht ein. Klamantel hatte viel Mühe auf seine Beschwörung verwendet, um die Herrin Embra gleichsam fühlen zu können – unter sich nämlich, irgendwo in dieser Stadt, diesseits oder jenseits des Flusses oder sonst wo auf dem Land, welches sich so weit erstreckte, wie sein Auge reichte. Doch der Zauber fand nichts. Markoun zeigte eine ähnlich verblüffte und auch ärgerliche Miene, als er von seinen eigenen Bannwirkungen aufschaute. Als ihre Nachtlindwürmer aneinander vorbeirasten, starrten sich die Männer in geteilter Ohnmacht und Wut an. Die Flugtiere kreisten nun höher über der Stadt, denn ihre
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Schöpfer wollten sich miteinander bereden. Beiden Zauberern war jetzt schon bewusst, dass ihre Unternehmung sich als vollkommener Fehlschlag erwiesen hatte. Die Tochter Silberbaum hielt sich weder in Sirlptar noch in der Umgebung der Stadt auf. »Unsere Wut wird nichts sein im Vergleich zum Zorn Seiner Hoheit«, bemerkte Klamantel grimmig. Der Jüngere zog die Lippen zu einem Grinsen zurück, das jedoch eher ängstlich als heiter wirkte. »Nur dann, wenn wir scheitern!« rief er. Markoun beugte sich tief über den Hals seines Ungeheuers, ließ es zum Sturzflug ansetzen und murmelte dabei Beschwörungsworte, welche seinem Kameraden nur zu vertraut waren. Winzige Flammenwirbelwinde zuckten aus den Fingerspitzen des Jüngeren und sausten wie Pfeile durch die Luft. Brennende Geschosse, deren Spitzen sich in die Giebel der Dächer vom Gasthof »Zum Wellenfeuer« bohrten. Das ganze Gebäude erbebte unter diesem Ansturm, etliche Dachschindeln flogen in die Luft, und von überall erscholl Geschrei und Gebrüll. Markoun lächelte auch jetzt, als er im Sturzflug der Bahn seiner Pfeile folgte. Ganz locker zog er seinen Lindwurm im letzten Moment wieder hoch und beugte sich dabei zur Seite, um eine Hand voll Blitze durch das zerschmetterte Dach zu schleudern. Hinter ihm explodierte beinahe das gesamte oberste Stockwerk. Klamantel sah achselzuckend zu und schickte dann einen eigenen Holzschmelzbann hinterher, damit der Gasthof noch
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rascher über den Köpfen der Menschen darin zusammenkrachte. Damit würden Markouns Flammen ins Herz des »Wellenfeuers« vordringen, statt nur auf dem Dach herumzutanzen und am Ende noch die ganze Stadt in Brand zu setzen. Bodendielen und Stützbalken schmolzen gleichermaßen dahin, alles sackte zusammen, und Schreie übertönten das Tosen der Flammen. Markoun jagte einen weiteren Feuerzauber hinein, und die Zerstörungen, welche er damit auslöste, scherten ihn nicht. Inzwischen war auch von dem zweitobersten Stockwerk nur noch ein Flammenmeer übrig. Man konnte Menschen erkennen, welche vollkommen in Feuer gehüllt hilf- und ziellos herumtaumelten und zwischen einstürzenden Böden und zusammenbrechenden Wänden verschwanden. Keiner von ihnen würde einen Weg hinaus finden. Aus darunter liegenden Fenstern wagte sich ein verzweifelter Gast nach dem anderen und sprang hinunter auf die Straße, um dort mit zerschmetterten Gliedern liegen zu bleiben. Zwischen sie drängten sich die Zecher aus dem Schankraum auf das Kopfsteinpflaster, um sich anzuschauen, was das ganze Getöse zu bedeuten habe. Die meisten hielten noch ihr Glas in der Hand. Und während alles fassungslos dastand oder -lag, brannte das »Wellenfeuer« lichterloh. Um Atem ringend zerrten Daerentar Jalith und Lharondar Laernsar an einer Tür, während sie sich bereits unter dem Angriff der Flammen schwärzte. Sie starben gemeinsam in dem hungrigen Rauch. Nur wenige Schritte von ihnen entfernt stand ein Magier, der eine Lufthülle erschaffen hatte, in welche weder Feuer noch Rauch Eingang fanden. Doch wenn man den Gesichtsausdruck des Zauberers sah, hätte er
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sich auch in der entferntesten Grafschaft befinden können ... Nur wenige Herzschläge nachdem die beiden Recken zu Boden gegangen waren, brach die Tür unter dem Ansturm der Flammen zusammen und begrub die Männer unter sich. Funken stoben hoch, und danach bekam man von Daerentar und Lharondar nichts mehr zu sehen. Bei dem Zauberer in der Lufthülle handelte es sich um Jaerinsturn von Elmerna, und er kochte so sehr vor Zorn, dass er es durchaus mit der Hitze der Feuersbrunst aufnehmen konnte. Sein Zauberbuch hielt er zwischen die Knie gepresst, und die Arme hatte er erhoben, um Tod und Vernichtung über denjenigen zu bringen, welcher ihm das hier angetan hatte. Als er nach oben schaute, bemerkte er Nachtlindwürmer, und daraufhin schickte Jaerinsturn den grimmigsten Zauber ins Firmament, welchen er auf die Schnelle zu wirken vermochte. Die Worte der Beschwörung krochen heiser über seine dünnen Lippen und von seinen zitternden Fingern ... Und eines der beiden Untiere verwandelte sich in schwarzen Rauch und schleuderte seinen Reiter hoch in den Himmel. »Zu Hilfe!« schrie Klamantel und versuchte, sich an der Luft festzuhalten, welche ihn natürlich nicht tragen konnte. »Markoun! Unternehmt etwas! Rettet mich!« Der jüngste Magier steuerte seinen Lindwurm in die Nähe des Abgeworfenen, betrachtete ihn in aller Ruhe und flog dann weiter. Klamantel konnte noch lange das kalte Lachen seines Kollegen vernehmen. Möge der Dunkle Olym ihn holen! Als das Kopfsteinpflaster immer schneller auf ihn zuraste, wünschte sich Klamantel ganz dringend, sich von hier fortzu-
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zaubern ... irgendwohin... an einen sicheren Ort ... Aber ja! Bei der Dreifaltigkeit! Natürlich! Der Magier flüsterte drei Worte, welche er schon halb vergessen hatte, und nur wenige Herzschläge bevor er aufgeschlagen wäre, veränderte sich die Welt um ihn herum. Klamantel flog fort, gelangte in völlige Finsternis, in staubige Muffigkeit. Was roch er da ... tierischen Schweiß? Er kannte den Geruch von irgendwoher, und dennoch war der ihm jetzt fremd. Dann hörte Klamantel ganz in der Nähe ein Grunzen. Er fuhr erschrocken herum und schuf sich auf magische Weise Licht. In dessen Schein erblickte er einen Keiler, der sich höchstens sechs Schritte von ihm entfernt befand und schon mit den Hufen scharrte, um seinen Feind anzugreifen. Der Magier rief in höchster Not einen Bann, welchen man im Normalfall dazu einsetzte, ein Lagerfeuer zu entzünden. Stattdessen wünschte er diesen Zauber aber dem Eber an den Hals. Zerfledderte Bücher, welche er selbst zusammengetragen hatte, flogen durch die Gegend, als Klamantel sich fortrollte. Der Keiler raste grunzend an ihm vorbei, und das Feuer explodierte am tierischen Hals. Ein Huf knallte gegen die Wand und sauste an dem verdutzten Zauberer vorbei. Staub erhob sich zum Schneiden dick, und etwas Ruhe senkte sich über Klamantels kleines Versteck. Der Magier kroch auf Händen und Füßen herum, spähte in die Dunkelheit, lauschte lange und versuchte, wieder zu Verstand zu kommen. Wann hatte er diesen kleinen Zufluchtsort eigentlich angelegt?
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Vor zwanzig Jahren ... war das wirklich schon so lange her? Lange genug jedenfalls für einen Keiler, sich ein Loch unter die Felsen zu graben, welche die Tür verschlossen hielten, und sich hier ein Lager einzurichten. Lange genug auch für die selbst verfassten Schriften des Zauberlehrlings, sich allmählich in Staub aufzulösen. Und jetzt war er zurückgekehrt und hatte gleich ein Wildschwein explodieren lassen. Er sollte sich jetzt besser auf die Suche nach dem Ausgang aus seiner kleinen Höhle machen. Und sei es nur, um festzustellen, ob draußen noch alles beim Alten geblieben war – in dem verlassenen und überwachsenen Dorf, in welchem seine Höhle einmal als Rübenkeller gedient hatte. Was war überhaupt in der Zwischenzeit aus der untergegangenen Baronie Tarlagar geworden? Das letzte Krachen des explodierten Keilers verging. Klamantel stand auf, tastete sich an den unbehauenen Steinwänden entlang und genoss den Duft von gebratenem Wildschwein. Monate mussten vergangen sein, seit er zum letzten Mal eine solche Köstlichkeit hatte zu sich nehmen können ... Der Baron ließ Wildbret mit fremdartigen süßen Soßen verfeinern ... und so, wie Klamantel Silberbaum kannte, würde es sehr, sehr lange dauern, bis gewisse Zauberer wieder so etwas Leckeres zu sich nehmen würden. Halt! Moment! War das nicht die Stelle? Die Ritze im Stein hinauf, links getastet, rechts getastet, und ja, da hing sie noch – die Schnur. Klamantel zog an dem brüchigen Lederriemen, sanft natürlich, bis der kleine Beutel in seine Hand fiel.
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Er nahm den stumpfen, im Feuer gelegenen Rubin heraus, welchen er vor so langer Zeit hier zurückgelegt hatte – vermutlich der einzige Gegenstand von Wert, den diese Höhle jemals gesehen hatte. Abgesehen natürlich von den Heilmittelchen, den stolzen Ergebnissen eines ganzen Jahres schweißtreibender Arbeit mit endlosen Fehlschlägen, ungezählten Momenten der Ratlosigkeit und wochenlangen neuen Versuchen ... Aber zurück zu dem Edelstein – seinem Kristallrubin! Klamantel fand auch das kleine Gestell dafür (von welchem er gar nicht mehr gewusst hatte, dass es überhaupt noch vorhanden war), stellte es auf den steinernen Sitz in der Ecke und legte den Rubin hinein. Der Magier hockt sich davor hin, versenkte den Blick in die rubinroten Tiefen des Steins und dachte an den brennenden Gasthof in Sirlptar ... Flammen schossen hoch, Qualm breitete sich wie eine riesige sich öffnenden Blüte über dem Höhenzug aus und hüllte auch die höchsten Türme der Glitzernden Stadt ein und dort ... in den tiefsten Tiefen des roten Kristalls das Bild, welches beständig anwuchs und größer wurde ... Der Nachtlindwurm zuckte im Todeskampf und drohte bedenklich, Markoun Yarynd aus dem Sattel zu werfen. Der Jüngste der Dunklen Drei, wie man die obersten Magier von Baron Silberbaum auch nannte, klammerte sich an durchsichtig gewordenen schwarzen Schuppen fest, um sich davor zu bewahren, den Halt zu verlieren und zu Tode zu stürzen. Mit einem lauten Knurren bekam er sich wieder etwas in
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den Griff und wagte es, sich nach hinten umzudrehen, obwohl ihm der Schweiß noch in Sturzbächen hinablief. Seine Augen wurden groß, und er bebte vor Wut und Furcht. Wenn seine Finger von den Schuppen abgerutscht wären ... Markoun schüttelte sich und bewegte das Untier herum. Der Drache musste sich zweimal über der Glitzernden Stadt um die eigene Achse drehen, ehe sein Herr und Schöpfer sich wieder in der Lage sah, Zauber zu wirken. Von einigen Stellen schoss man nutzlose Pfeile zu ihm herauf, die ihn meist um vieles verfehlten. An anderen Stellen schleuderte man einen Bann hinauf, tat dies jedoch zu unentschlossen und furchtsam, so dass dessen Zauber ein gutes Stück weiter den Himmel zerriss. Markoun zog dennoch vorsichtshalber den Kopf ein und dankte der Dreifaltigkeit, dass sich zurzeit keine Magier von Rang in der Stadt unter ihm aufzuhalten schienen. Als der Drache wieder vollkommen dem Willen seines Reiters gehorchte, ließ Markoun sich von seiner Rachsucht überwältigen und schleuderte schwarzes Feuer hinab auf den Zauberer, welcher immer noch inmitten des Gasthofes in seiner Lufthülle dastand. Nur dieser Magier dort unten hatte sich ernsthaft zur Wehr gesetzt und Klamantels wunderbaren Nachtlindwurm vom Himmel gefegt. Zu Markouns Glück hatte das zweite Geschoss des Zauberers dort unten seinen Drachen verfehlt, wenn auch nur knapp. In Silberbaum kannte man solcherart Bann nicht. Wer war der Magier, welcher sich nicht aus der Gluthölle entfernte, sondern in seiner Lufthülle verharrte?
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Hatte die ungezogene Göre des Barons sich etwa in die Obhut dieses Zauberers geflüchtet? Und hatte er sie nun versteckt oder in etwas verwandelt, in dem sie nicht mehr zu erkennen war, oder hatte er sie mit einem Sprungzauber fortgebracht? War er Embras Verbündeter, oder wollte er Baron Silberbaum anlocken, um ihn zum Kampf zu verleiten? Oder war es nur einer Laune der Dreifaltigkeit zu verdanken, dass dieser Mann sich gerade zu diesem Zeitpunkt in dem Gasthaus aufgehalten hatte? Und dann kam Markoun die Erkenntnis, welcher viel mehr Bedeutung innewohnte, als allen Antworten auf seine vielen Fragen: Im Moment spielten die Beweggründe des Fremden doch überhaupt keine Rolle, oder? Wenn Markoun es unterließ oder gar vergaß, diesem Zauberer dort unten die Schuld an Fräulein Embras Entkommen in die Schuhe zu schieben – natürlich erst, nachdem er diesen in einer ganz Sirlptar zerstörenden Schlacht besiegt hatte –, würde der Fürst seine Wut an Yarynd auslassen und ihm tüchtig das Fell gerben. Also war es doch müßig, sich weiter mit Fragen nach dem Wie und Warum des Fremden auseinander zu setzen. Wieder erschollen unten in der Stadt die Alarmhörner, und im nächsten Moment explodierte rechts neben dem Jüngsten etwas Lilafarbenes. Markoun zuckte zusammen und steuerte sein Untier rasch fort, bevor er noch getroffen wurde. Selbst der gewaltigste Schlachtbann verpuffte wirkungslos, wenn er danebenging. Dafür stand Markouns Entschluss jetzt felsenfest: Er würde diesen fremden Zauberer vernichten müssen. Dazu auch den
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Gasthof. Und einiges andere mehr. Er könnte doch zum Beispiel die Fässer mit dem Bratöl, welche er drei Straßen weiter entdeckte, über dem Gasthof schweben und dann zerplatzen lassen. Auf seinen Gedankenbefehl hin stieg der Lindwurm höher hinauf, und seine mächtigen Schwingen pflügten wie die Ruder eines Rennboots durch den Himmel. Der obsidianschwarze Rücken des Untiers bog sich unter der Anstrengung ... Aus einem der Häuser oben auf dem Höhenzug raste ein weiterer Zauber heran. Etwas Grünes zog einen Bogen am Himmel und fiel kurz vor dem Ziel nach unten. Ein paar Flügelschläge weiter versuchten die Bewohner es wieder mit Pfeil und Bogen. Ein leichter Schwenk des Drachen nach links, und die Geschosse blieben ebenso wirkungslos wie ihre Vorgänger. Markoun grinste vor Begeisterung und wachsender Kampfeslust. Er hielt sich gut fest und wirkte den Zauber, welcher die Ölfässer in die Lüfte hob. Sein Plan ging in der wünschenswertesten Weise auf, und er lenkte den Lindwurm im letzten Moment vom Ort des Geschehens weg. Hinter dem geringelten Schweif des Untiers explodierte die Luft in einem ohrenbetäubenden Knall, und eine Feuerblume breitete sich aus, an welcher die Götter selbst Gefallen gefunden hätten. So laut toste das Feuer, dass der Jüngste sein eigenes Siegesgeschrei nicht hören konnte, als er sich noch während des rasenden Fluchtritts umdrehte und die Faust reckte. Der fremde Magier, der Gasthof »Zum Wellenfeuer« und etliche ihn umgebende Gebäude im schönen Sirlptar gingen
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in der Gluthölle unter. Menschen wurden vom Flammenlohen wie Puppen in die Luft geworfen und klatschten wie faules Obst gegen Mauern. Der Lärm steigerte sich so sehr, dass alle Überlebenden in der Glitzernden Stadt erst in Stunden wieder normal würden hören können. Der Lindwurm bockte und schüttelte sich, aber Markoun hielt sich fest und sicher im Sattel. Er wollte noch abwarten, bis Rauch und Staub sich ausreichend weit verzogen hatten, dass er erkennen konnte, ob nicht doch noch irgendwelche Menschen aus den Kellern des Gasthauses krochen ... um hernach wilde Geschichten von mörderischen und Lindwurm reitenden Zauberern zum Besten zu geben! Dann sauste schon wieder etwas aus der Stadt heran und explodierte gefährlich nahe. Der Lindwurm drehte sich unter der Wucht und wäre beinahe ins Trudeln geraten. Ein zweites Geschoss flog auf Markoun zu, dann ein drittes, ein viertes und immer mehr. Man konnte den Eindruck gewinnen, in Sirlptar wimmele es plötzlich von wütenden Magiern, welche sich allesamt an dem Drachenreiter in der Luft dafür rächen wollten, dass er ihre Ruhe gestört hatte. Der Jüngste errichtete rasch einen Abwehrschirm, und schon einen halben Herzschlag später verrieten ihm große Funken, dass bereits Geschosse gegen den Zauberschild geprallt waren. Markoun machte einen bärtigen Mann aus, welcher nicht allzu weit vom Gasthof in einer Gasse stand. Ein Reisender in der farbenfrohen Tracht der Stadt Karraghas gesellte sich zu dem Bärtigen, spähte hinauf in den Himmel und beteiligte sich daran, dem Drachenreiter Geschosse entgegenzuschi-
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cken. Mehr und mehr Explosionen überspülten den Schild, und der Lindwurm zuckte und bibberte. Der Jüngste hatte mit einem Mal keine Zeit mehr, sich um die Leute unten am Boden zu kümmern. Denn ihrer wurden es stetig mehr. Alle in der Stadt schienen nur noch von dem Wunsch beseelt zu sein, dem Reiter den Garaus zu machen, und sollte es das ganze Himmelszelt kosten! Der Drache schlug aus, als die untere Hälfte des Schilds von einer grellroten Explosion getroffen wurde. Markoun entschied, dass die Rückkehr nach Silberbaum jetzt nicht nur wünschenswert, sondern dringend notwendig sei. Klamantel verfolgte in den Tiefen seines Rubins, wie der Jüngste die größte Mühe hatte, seinen schuppigen Lindwurm flussaufwärts zu lenken, um den Banngeschossen zu entkommen, welche in immer größerer Anzahl um ihn herum zerplatzten. Nie zuvor hatte der Zauberer einen solchen Massenbeschuss gesehen. Aber er hatte ja auch noch nie einen Magier wie Markoun erlebt, welcher töricht genug war, solchen Zorn herauszufordern. Kühn und dumm genug, ein belebtes Gasthaus im Herzen einer Stadt anzugreifen, in welchem es von Magiern wimmelte. Und das auch noch im hellen Tageslicht und am klaren Himmel, wo jeder einen sehen konnte. Was für ein jugendlicher Übermut, auf seinem zauberisch geschaffenen Drachen über den Himmel zu jagen, als wolle er einer schönen Maid gefallen.
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Und nun jagte Markoun davon, um der gerechten Strafe für seine Narretei zu entkommen. Angewidert wandte der ältere Zauberer sich von diesem entwürdigenden Schauspiel ab und dachte an seinen Arbeitstisch in Burg Silberbaum. Im Halbdunkel stand er da, in der Ecke die kleine Kohlenpfanne, dahinter das Regal mit den irdenen Krügen ... Und schon sah er das alles in seinem Zauberkristall vor sich. Die Bilder vom brennenden Sirlptar und den Geschossen am Himmel waren verschwunden. Klamantel drehte den Edelstein, bis sein Blick weg von dem Arbeitstisch durch die ganze Kammer wanderte. Der Baron saß an seinem gewohnten Platz an der Tafel, aber nicht allein: Ingryl Ambelter hatte sich an seiner Seite niedergelassen. Ellenbogen an Ellenbogen hockten die beiden da wie die besten Freunde. Sie hatten sogar die Köpfe zusammengesteckt, als heckten sie gerade irgendetwas aus. Drei handgroße Figürchen standen vor ihnen auf dem Tisch, kunstvoll geschnitzte Kleinstatuen. Seine Hoheit zeigte auf eines, und Ingryl nahm es in die Hand. Eine sehr lebensechte Nachbildung von Embra Silberbaum. Aus Ambelters Fingern strahlte bereits die magische Energie, als er das Figürchen auf Augenhöhe hob. Klamantel Beirldoun erhielt jetzt die Gelegenheit, einen Blick auf die beiden anderen Kleinstatuen zu werfen. Er blinzelte, glaubte, seinen Augen nicht trauen zu dürfen, und schaute noch einmal hin. Aber kein Zweifel war möglich: Bei den beiden anderen handelte es sich um Nachbildungen von Markoun Yarynd und ihm selbst!
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Eisige Furcht bemächtigte sich des Zauberers in seiner Höhle. Er spähte vorsichtig auf den Rubin und musste sich an die Wand lehnen. Schon lief ihm der Schweiß über die Schläfen. Also drohte sich die Falle bereits zu schließen. Klamantel hatte immer gewusst, dass der Fürst und auch der Bannmeister ihm aus einer Laune heraus das Ende bereiten konnten. Am besten würde er auf der Stelle möglichst weit von Aglirta fort fliehen, oder? Und wenn er zurückkehrte und so tat, als sei nichts geschehen? Würde er dann nicht geradewegs in seinen Untergang rennen? Der Magier hockte sich auf den Boden, dachte lange nach und kam doch schließlich zu dem Schluss, dass ihm keine andere Wahl blieb. Ingryl und vermutlich der Baron auch besaßen Mittel und Wege, um ihn überall mit ihrer Zauberkraft aufzuspüren und auch aus der Ferne zu quälen. Seufzend stellte Klamantel den Edelstein in sein Versteck zurück und sah sich in seinem Unterschlupf um. Die Bücher sollte er vielleicht unter ein paar Steinen begraben, damit kein neugieriger »Besucher« von ihrem Anblick angelockt wurde und auf die Idee verfiel, hier sei etwas zu holen ... Nein, in dieser Höhle gab es nichts, was der Magier unbedingt mitnehmen wollte. Und die Reste des Keilers konnte er getrost den Fliegen hinterlassen. Müde schritt Zauberer Beirldoun zum Ausgang, suchte nach einer ausreichend großen freien Stelle, um darauf einen neuen Nachtlindwurm zu erschaffen, und freute sich trotz allem darauf heimzukommen ... So bemerkte er den Mann auch nicht, der sich hinter dem
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Baum neben dem Eingang verborgen hielt. Der Beobachter trug Lederkleidung und grinste die ganze Zeit über rau, aber nachsichtig. Markoun konnte sich das triumphierende Strahlen nicht verkneifen, auch wenn er den größten Teil seiner Zauberkraft aufgebraucht hatte und sein Reitdrachen unter ihm schon fast auseinander fiel. Die Salven von Zaubergeschossen, welche ihn vorhin aus Sirlptar vertrieben hatten, flogen immer noch heran und fraßen seinen Lindwurm auf. So sah der Jüngste sich dazu gezwungen, sich ständig über dem zwar breiten, sich aber endlos windenden Strom zu halten, statt über Länder zu fliegen, welche Silberbaum und seinen Magiern nicht freundlich gesonnen waren. Außerdem – wenn es seinen Drachen endgültig erwischen sollte, war es immer noch besser, ins Wasser zu plumpsen, als auf den Felsen am Boden zu zerschellen oder sich zwischen den Bäumen den Hals zu brechen. All dem zum Trotze: Was war das für eine herrliche Schlacht gewesen! Den Gasthof hatte er Stück für Stück zerlegt und obendrein noch einem Dutzend Zauberern oder mehr den Hintern versengt! Markoun konnte gar nicht anders, als immer wieder zu grinsen – selbst dann noch, als die Schuppen des Nachtlindwurms sich plötzlich in Rauch auflösten. Einer der drei großen Magier der Baronie Silberbaum plumpste unvermittelt nach unten! Bei der Dreifaltigkeit, was war das Wasser des Silberflusses eiskalt! Keuchend und bibbernd strampelte der Jüngste zum
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nächsten Ufer. Seine Finger wurden so taub, dass es dreier Versuche bedurfte, sich an Land zu ziehen ... und tropfnass liegen zu bleiben. Dem Magier war natürlich klar, dass sein Empfang durch den Fürsten noch kälter ausfallen würde. Er spähte flussaufwärts und fand eine Stelle, welche ihm bekannt vorkam. Zuerst schüttelte er das Flusswasser von den Fingern, dann versetzte er sich mittels eines Sprungzaubers dorthin. Nur einen Herzschlag später bohrte sich dort ein Pfeil in den Boden, wo der Zauberer eben noch gestanden hatte. Der Fluch des Bogenschützen, welcher den Pfeil von der Sehne gelassen hatte, erreichte Markoun nicht mehr. Der Priester der Schlange lächelte, als die kniende Frau ächzte. »Sssolsssesss Gift tötet alle, welssse der Ssslange nissst dienen«, sprach er wieder die rituellen Worte. »Nun erhebt Eusss, Ssswessster, und vollführt den heiligsssten Dienssst in gansss Darsssar.« Fast schon gierig küsste die Gläubige das schuppige Maul der Schlange. Die spitzen und langen Zähne, welche die Frau eben noch in die Brust gebissen hatten, knabberten nun zärtlich wie ein Liebhaber an ihren Lippen. Das Kriechtier schien geradezu zu schnurren, als der Körper der Frau zuckte und schwankte ... und sich Schaum an der Stelle bildete, wo sich beider Münder trafen. Der Priester lächelte dazu ... »Bis zur Abenddämmerung dauert es nicht mehr lange«, meinte Craer, als die vier Gefährten sich in einer mit Farn bestandenen Senke aneinander drängten. Sie verhielten sich
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schon die ganze Zeit so still, dass die Vögel weder ihren Gesang einstellten noch einen Umweg um sie herum flogen. Bis jetzt hatten sie noch keine Menschen gesehen. Und auch keine Steinhäuser, in welchen sich Menschen verstecken könnten. »Haben wir uns verlaufen?« fragte Sarasper mit unheilvoll klingender Stimme. Sein Blick wanderte an der ungebrochenen Baumlinie des Loaurimm-Waldes entlang. »Man kann sich gar nicht verlaufen«, antwortete Hawkril ihm leise, »man findet sich höchstens einmal dort wieder, wohin man eigentlich gar nicht wollte.« Der Hüne zwinkerte ihm zu. »Alter Kriegsmännerwitz.« Aber der Heiler lachte nicht. »Also gut, Schlaumeier, dann verratet uns doch, in welcher Richtung Indraewyn liegt.« »Rings um uns herum«, entgegnete der Beschaffer und zeigte mit weit ausladender Geste auf den ganzen Wald. »Ihr Götter helft uns, hier ist eine Komikseuche ausgebrochen!« murmelte der Heiler. »Sagt mir doch, wo ich die Gebäude finden kann, hinter den Sieben Bergen, bei den Sieben Zwergen? Oder sind sie vielleicht in den Bäumen eingezogen?« Hawkril tippte Sarasper auf die Schulter und zeigte nach vorn. »Seht Ihr das dort? Und jenes da drüben?« Der Ritter deutete auf eine Stelle, welche wie ein Gewirr aus Reben ausschaute, und auf eine andere, welche sich dem Betrachter als umgestürzter und überwachsener Baum darstellte. »Ich sehe nur das, was man in jedem anderen Wald auch geboten bekommt«, erwiderte der Alte. »Tatsächlich? Nun, der Große und ich erblicken dort überwachsene Steinhaufen«, erklärte Craer. »Und siehe, die Ruinen von Indraewyn.«
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Sarasper schaute fassungslos in die Runde. »Wenn es sich wirklich so verhält«, meinte er dann mürrisch, »hätten wir besser haufenweise Fackeln mitgebracht. Und ein paar Hundert Bauern aus dem Umland angeheuert. Mit Hacken, Schaufeln und Piken ... Ich kann mir kaum vorstellen, dass sich ein Zauberer freiwillig dort hineinbegibt. Wenn der Dwaer wirklich da verborgen liegt, kann man ihn nicht einfach vom Boden aufheben, und das schreckt die Magier ab.« »Umso besser«, meinte Embra und schaute in den Himmel. »Bis zur Abenddämmerung dauert es nicht mehr lange.« »Womit sich wenigstens ein Kreis geschlossen hätte«, murmelte der Kleine und sagte dann laut: »Wir schlagen am besten in der Senke mit dem Bach unser Lager auf. Morgen machen wir uns dann an die Erkundung. Aber noch bleibt uns ein wenig Zeit, und bislang hat es mit uns und dem Schleichen ganz gut geklappt ...« »Ein Hoch auf die Viererbande«, meinte die Prinzessin. »Aber wozu soll uns das gute Schleichen denn jetzt nutzen?« »Um uns noch ein wenig umzuschauen«, antwortete Craer, »damit wir morgen nicht unter den Blicken eines Wächters eine offene Fläche überqueren oder durch einen Hohlweg laufen.« »Dann geht Ihr voran«, forderte der Heiler ihn auf. Der Kleine gehorchte und führte die Gruppe ein kleines Tal hinauf. Eine Anhöhe befand sich an deren Ende. Gemeinsam stiegen sie den rankenbewehrten Hang hinauf, nur um oben angekommen sofort innezuhalten. Denn hier erwartete sie eine schaurige Warnung. Jemand hatte vor ihnen einen Krieger mit dem Kopf nach unten aufgehängt. Seile spannten sich von seinen Händen und
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Füßen zu vier verschiedenen Bäumen. Irgendein Raubtier war des Wegs gekommen, hatte sich gern bedient und dem Unglücklichen den Kopf abgefressen. Hawkril schluckte. »Der falsche Waldarbeiter, welchen ich am See zurückgelassen habe ...« »Jetzt dürfen wir erst recht nicht mehr dorthin zurück«, erklärte der Beschaffer. »Auch wenn Ihr ihn am Leben gelassen habt ... was die meisten nicht tun würden. Um einen toten Gegner muss man sich keine Sorgen mehr machen.« Langsam hob der Kleine den Kopf, senkte ihn wieder, streckte sich wohlig und hockte sich ganz langsam hin, so als stehe ihm alle Zeit der Welt zur Verfügung. Während die anderen ihn verwundert anstarrten, flüsterte er, nur für sie hörbar: »Gefährten und Freunde, ich muss euch darum bitten, den Kopf nicht zur Seite zu drehen, während ihr das vernehmt, was ich euch jetzt mitteile. Hinter der nächsten Höhe habe ich vier oder fünf Steinhäuser ausgemacht. Allesamt in einem schlimmen Zustand, doch immer noch als Bauwerke zu erkennen ... Wir dürfen die Möglichkeit nicht ausschließen, dass dort ebenfalls jemand steht und beobachtet ... und uns bereits bemerkt hat. Deswegen kehrt jetzt bitte alle in die Senke mit dem Bach zurück. Auf dem schnellsten Wege, aber so leise wie nur eben möglich.« »Und Ihr?« fragte die Zauberin. »Ich werde auf jenen Baum dort klettern«, antwortete der Beschaffer, »und ein wenig Zeit vertun ... indem ich nämlich den Weg im Auge behalte, um festzustellen, ob euch jemand folgt ...
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Ein feindlicher Magier müsste gar nicht erst die Mühe auf sich nehmen, sich zu unserem Lager zu schleichen. Er brauchte nur seinem Gehör zu folgen und seine Blitze und Feuerpfeile auf das weithin rumpelnde Schnarchen von uns vieren zu schleudern.« Ihre Hoheit Silberbaum wusste nicht, was sie eher tun sollte: sich über eine solche Behauptung zu empören, oder sich vor der Vorstellung eines nächtlichen Fernbeschusses zu erschrecken. Gedankenverloren rutschte sie auf dem Hintern den Hang wieder hinunter und wartete an dessen Fuß. Hawkril folgte bald und übernahm die Führung. Er winkte den anderen zu, und die winkten zurück, um die Aufmerksamkeit eines Beobachters auf sich zu lenken. Derweil bestieg der Beschaffer den von ihm ausgewählten Baum. »Nein, mein Lieber, kein Feuer«, wiederholte der Hüne. »Schon einmal was vom Leuchtturm gehört? In diesem Wald wimmelt es von Zauberern und Priestern, von Abenteurern und Kriegern. Selbst der Blödeste unter ihnen könnte Feuerschein ausmachen!« »Aber es ist doch noch gar nicht richtig dunkel«, wandte Sarasper ein. »Ich könnte uns einen Kräutersud aufbrühen, und das Feuer hätten wir schon wieder gelöscht, noch ehe die Nacht so richtig hereingebrochen wäre.« »Darf ich Euch das Wunder des Rauchs erläutern?« knurrte der Ritter. »Das kann man nicht nur sehen, sondern auch riechen. Und ich wette, dass unsere Freunde im Wald über die eine oder andere Nase verfügen.« Für Hawkril war die Unterhaltung damit beendet, und er schaute hinüber zur Prinzessin. Nur hielt die sich nicht mehr dort auf, wo sie sich zuletzt befunden hatte. Der Hüne ließ
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den Blick wandern und schnüffelte, als nehme er einen Geruch wahr, der sonst keinem in die Nase drang. Endlich sah er Embra. »Edle Herrin! Was treibt Ihr denn da?« Die Zauberin kehrte ihnen den Rücken zu. Nach Hawkrils Frage erstarrte sie, gab aber keine Antwort, noch drehte sie sich um. Sarasper und der Kriegsmann sahen sich besorgt an. Die Miene des Hünen verfinsterte sich, und er lief ein paar Schritte auf die Zauberin zu. Auf halbem Wege blieb er stehen und legte die Hand an den Griff seines Schwertes. Nun erkannte er auch, dass sie Arme und Hände langsam bewegte ... so als zeichne sie irgendetwas in die Luft. »Embra!« rief der Ritter. »Was macht Ihr da?« Die Zauberin verweigerte weiterhin die Antwort. Dafür wirbelte plötzlich etwas in der dämmerdunklen Luft über ihr. Hawkril konnte nur hinstarren, und er vergaß, den Mund zu schließen. Dunkle Schatten, halb ausgebildete Flügel und ein Schweif drehten sich und flappten vor der Herrin der Edelsteine, überzogen sich mit Schwarz und gewannen mit jedem neuen Moment an Festigkeit. Auf diese Weise entstand über der dunkelhaarigen Prinzessin ein ausgewachsener Drache mit schwarzen Schuppen und mächtigen Muskeln. Die Tochter des Barons senkte wie zur Unterwerfung das Haupt, und das Ungeheuer flatterte mit zwei Fledermausflügeln und richtete sich zur vollen Größe auf. Seine zwei Schädel mit den gefährlich aussehenden Reißzähnen bewegten sich hin und her. Seine Krallen so lang wie
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ein Unterarm schienen die Luft selbst zerreißen zu wollen. Wie ein Baldachin breitete sich der Drache über der jungen Schönen aus, starrte dabei den Hünen an und wirkte weder ängstlich noch freundlich. Erst jetzt drehte die Prinzessin sich zu ihrem Gefährten um. Aber ihre Augen sahen nicht ihn an, sondern starrten in die Nacht, welche sich hinter Hawkril sammelte. Dabei wirkte sie unbelebt wie eine Statue, und der Geist schien aus ihr entwichen zu sein. Doch dann befahl Embra: »Nachtlindwurm – flieg!« Der nur etwa mannshohe Drachen rauschte wie ein Sturmwind durch die Senke heran – doch Hawkril war bereits darauf vorbereitet. Sein Schwert blitzte zu einem gewaltigen Schlag auf und hieb dem Ungeheuer einen der beiden kreischenden Köpfe ab. Ein schwarzer aalartiger Körper wand sich, zuckte zurück und verschwand vor diesem Gegner in die Lüfte. Blut spritzte immer noch aus dem schädellosen Hals. Sein gezackter Schwanz schlug um sich, verpasste einem Baumstamm ein Loch, dass die Splitter nur so durch die Luft flogen, und gab Hawkril damit Gelegenheit, sich mit einem kühnen Schwung vor diesem Schweif in Sicherheit zu bringen. Sarasper hingegen zog es vor, sich hinter dem übel angegangenen Baum in Deckung zu werfen. Noch immer von grässlichen Schmerzen gepeinigt warf sich der Lindwurm hierhin und dorthin, als ließe sich auf diese Weise das Leiden abschütteln. Der Hüne zog jetzt auch den Dolch, um noch bewaffnet zu sein, wenn es dem Schwanz gelingen sollte, ihm das Schwert aus der Hand zu schlagen. Dann duckte er sich noch
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einmal und rannte unter das Ungeheuer. Rasch fand er die geeignetste Stelle, um sich noch einmal erfolgreich gegen diesen Feind zu wehren. Hawkril bemerkte, wie Sarasper aufsprang und davonrannte. Aber er konnte weder sehen, bis wohin der Heiler lief, noch was die Prinzessin gerade trieb. Dann hörte er ihre murmelnde Stimme, eine Art Singsang, und wusste, dass sie wieder Zauber wirkte. Doch die Prinzessin befand sich hinter ihm, und er wagte es nicht, sich zu ihr umzudrehen, ehe er den Lindwurm erledigt hatte. Als der Drache dann in einem lang gezogenen Sturzflug erneut angriff und die Zahnreihen zum Beißen öffnete, war der Kriegsmann wieder bereit. Hawkril brachte sich unter den schuppigen Bauch seines Gegners, drehte sich dort, riss den Arm hoch, stach mit dem Messer in den Mundwinkel des Drachen und stieß den Stahl bis zum Griff hinein. Der Nachtlindwurm ergriff wieder die Flucht, um dem neuen Schmerz zu entkommen, aber Hawkril war schneller. Er sprang auf und konnte einen Arm um den kopflosen Halsstumpf legen. Sein Griff hielt, auch wenn die großen Schwingen nach ihm schlugen. Knurrend hieb der Hüne mit seiner Klinge auf den verbliebenen Drachenschädel ein, ließ sich auch nicht von der Schnauze abhalten, welche nach ihm schnappte, und hieb und schlug weiter ... Bis von dem Drachenhaupt nur noch eine formlose Ansammlung von Fetzen übrig geblieben war und Hawkril sich über den Waldboden wälzte und in Blut gebadet wurde. Ein kopfloser, zuckender Leib voller Schuppen und Blut
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hatte ihn beinahe zerdrückt. Ohne in der Lage zu sein, noch einen Laut von sich zu geben, starb der Nachtlindwurm. Hawkril arbeitete sich unter dem Kadaver hervor, erhob sich und stellte rasch fest, dass kein neues Zauberwesen ihn bedrohte. Dann ließ er seine ganze aufgestaute Wut an dem erschlagenen Drachen aus. Er schenkte seinem besiegten Gegner nichts. Als Hawkril das Untier vollkommen zerhackt hatte, hatte er sich von Kopf bis Fuß rot gefärbt, und seine Augen funkelten wie glühende Kohlen. Jetzt stampfte er zu der Prinzessin, welche ihre Zauberbemühungen eingestellt hatte. Vermutlich aus dem Grund, weil Sarasper sie auf die Knie gezwungen und ihr die Arme nach hinten gedreht hatte – und ihr die Hände jetzt hinter dem Rücken festhielt. Die Blicke des Hünen und der Prinzessin trafen sich. Er hatte noch bei keiner Frau so große und dunkle Augen gesehen. Embra schüttelte leicht den Kopf, sagte aber nichts. Die junge Frau hatte alle Farbe verloren, und Tränen waren ihr über das Gesicht gelaufen. Ihre Lippen zitterten, als der Hüne vor ihr stehen blieb. Er legte ihr eine Hand um den Hals und hob sie auf die Füße. Im Moment sah Hawkril überhaupt nicht ein, diese Frau wie eine Prinzessin zu behandeln. »Also, Mädchen, nennt mir einen Grund!« »Ich ... ich ...« krächzte die Zauberin. Dem folgte ein Schluchzer, dann schüttelte sie den Kopf und ließ wieder den Tränen freien Lauf. »Sie stand unter einem fremden Zwang«, antwortete der Heiler an ihrer Stelle. »Ein Bann, welchen zweifellos die Ma-
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gier ihres Vaters über sie gebracht haben. Unter diesem Einfluss hat sie den Lindwurm zu dem einen Zweck erschaffen, uns zu töten.« Der Hüne nickte knapp, packte Embra mit zwei Fingern am Kinn und schüttelte so lange ihren Kopf, bis der Tränenstrom versiegte und sie ihn verwirrt anstarrte. »Und was fangen wir jetzt mit Euch an, mein Fräulein Silberbaum?« fragte er sie kalt. »Können wir Euch wieder vertrauen? Haben wir Anlass, Euch jemals wieder zu trauen?« In Embras Augen standen Scham und Flehen geschrieben. Als sie ihn ansah, mischte sich noch große Erschöpfung hinzu. »Tötet mich«, flüsterte sie zuckend. »Für uns alle wäre es besser so.« Sie zitterte am ganzen Leib. »Erschlagt mich rasch, bevor sie wieder in meinen Kopf eindringen ... Zwingt mich nicht, Euch anzuflehen! Hawkril, es tut mir alles so Leid. Ich ... tötet mich! BITTE!« Dem Ritter war nicht anzumerken, was hinter seiner Stirn vor sich ging. Aber dann nickte er, atmete tief durch, schob ihren Kopf in den Nacken, damit die Kehle bloß lag, und holte mit seinem bereits von Blut verschmierten Schwert aus ... Craer blieb in seinem Baum, bis das Licht des aufgegangenen Mondes das letzte Nachglühen des vergangenen Tages überstrahlte. Bislang war niemand aus dem Wald gekommen, und aller Wahrscheinlichkeit nach würde sich auch niemand mehr dort zeigen, um hinter den Gefährten herzuschleichen. Der Beschaffer begann mit dem Abstieg, warf einen letzten Blick auf die Ruine und sah sich den ruhigen und dunklen
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Augen eines Magiers gegenüber, welcher ihn mitten aus den Trümmern beobachtete. Zumindest schätzte er den Mann als Zauberer ein. Wer sonst würde solche Gewänder tragen? Oder mitten in der Nacht solcherart Wache halten? Oder dabei siebzig Schritte hoch in der bloßen Luft stehen? Craer unterdrücke den Fluch, welcher ihm jetzt auf der Zunge lag. In neuer Hast kletterte er den Baum hinunter und suchte an der rauen Rinde nach Halt für seine Hände. Er landete etwas lauter als beabsichtigt auf dem Boden, und er lief ein Dutzend Schritte weit in die falsche Richtung, ehe er heimlich zur Senke abbog. Sollten sie alle besser gleich das Weite suchen? Aber was hätte es jetzt schon für einen Sinn, mitten in der Nacht durch den Wald zu irren? Und dabei eine Menge Lärm zu verursachen? Nein, da blieben sie doch besser, wo sie waren, und verhielten sich so leise wie möglich ... Ob Hawkril noch auf andere Gegner gestoßen war? Craer wusste, dass er sich in dieser Hinsicht vollkommen auf seinen Freund verlassen konnte. Der Hüne würde sicher gerade ... Der Ritter hielt mit der einen Hand die Fürstentochter am Hals und holte mit dem Schwert in der anderen aus. Sarasper stand daneben und schien nicht im Mindesten eingreifen zu wollen. Rings um die Gruppe lagen die Reste irgendeines offenbar erschlagenen Ungeheuers ... Und die Schwerthand seines Freundes kam herab! »Hawkril! Habt Ihr jetzt endgültig den Verstand verloren?« Craer war von dem Anblick so entsetzt, dass ihm seine guten Vorsätze entfielen. Seine Worte krachten wie ein prasselnder Kiefernstamm im Feuer über die Senke. Und einen Namen
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zu nennen war in dieser Lage auch nicht das Klügste. »Bei allem, was recht ist,« fügte er dann laut hinzu, weil er sich so sehr über sich selbst ärgerte. Der Beschaffer stampfte durch die Lindwurmreste, als seien die gar nicht vorhanden. »Steht Ihr unter einem Zauber? Senkt endlich das Schwert!« Der Ritter starrte auf seinen Freund, als sehe er ihn zum ersten Mal. Hawkril hatte den spinnenhaften Kleinen noch nie so erregt gesehen. Nicht einmal damals, als irgendein längst toter Torfkopf Craer mit dem Namen »Langfinger« belegt hatte. Selbst heute, mindestens zwanzig Sommer später, mochte der Kleine noch immer nicht so genannt werden. Der Hüne blinzelte, und die Klinge unterbrach ihre Reise. Craer trat rasch zu ihm und legte ihm die Rechte aufs Handgelenk. »Ich habe gesagt, Ihr sollt es senken!« fuhr er seinen Freund wie ein ungezogenes Kind an. Hawkril schüttelte erschrocken den Kopf und ließ die Klinge fallen. Er hob die freie Hand und wollte damit offenbar Craers Gesicht berühren. »Freund, sie hat versucht, uns zu töten ...« »Zweifellos stecken die Magier Silberbaums dahinter und haben sie zu solcher Tat gezwungen«, erwiderte der Beschaffer hart. »Und Euch fällt dazu nichts Besseres ein, als sie umzubringen? Gerade so, wie die Feinde es mit uns vorgehabt haben? Verratet mir doch, Hawkril, ob Ihr inzwischen ebenfalls in die Dienste des Barons getreten seid? Oder hat er vielleicht auch einen Bann über Euch legen lassen, damit Ihr für ihn die Schmutzarbeit erledigt? Was glaubt Ihr denn, wie lange wir ohne Embra den drei Zauberern ihres Vaters standzuhalten vermögen? Habt Dir
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Euch darüber Gedanken gemacht? Habt Ihr überhaupt nachgedacht? Oder glaubtet Ihr, sobald Ihr der Prinzessin den Kopf abgeschlagen hättet, würde Euch schon etwas Pfiffiges einfallen?« Der Kleine schrie die letzten Worte geradezu hinaus und verspuckte dabei Speichel. Vor Zorn war er weiß geworden, und seine Augen blitzten. Embra hatte die Augen immer noch geschlossen, und der Heiler stellte sich zu ihr und beobachtete sie. Die Prinzessin schluckte, wie er an ihrem Hals erkennen konnte, und dann leckte sie sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Aber darüber hinaus regte sie sich nicht und sprach auch kein Wort. »Craer ...« Der Hüne wandte sich bittend an seinen Freund. Aber der Beschaffer schob sich an ihm vorbei und legte die Hände auf Embras Ellenbogen; denn bis zu den Schultern reichten seine Arme nicht. Er zog sie herunter, damit sie sich auf den Boden setzen musste, und schleuderte seinem Freund über die Schulter ein »Idiot!« entgegen. Damit wandte der Kleine sich an den Heiler und fragte ihn freundlich: »Lieber Sarasper, würdet Ihr die Güte haben, für mich die Wache zu übernehmen? Ich möchte, dass Ihr Euch einige Schritte weit von uns entfernt, so dass unser Gelärme Eure Ohren nicht ablenkt, und dort lauscht. Vor allem in jene Richtung dort. Nicht auszuschließen, dass uns jemand gehört hat und jetzt beobachtet.« Ohne die Antwort des Alten abzuwarten, beugte er sich über die Prinzessin, bis sich ihrer beider Stirnen beinahe berührten, und fragte sanft: »Herrin? Edle Embra? Was ist denn
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geschehen?« Faerods Tochter sah ihn mit gepeinigtem Blick an und versuchte mit mahlendem Kiefer, Worte zu bilden. Doch stattdessen fing sie wieder an zu schluchzen und warf Craer die Arme um den Hals. Der Beschaffer drückte sie an sich und wartete, bis ihr Weinen nachließ. Dabei hörte er, wie Hawkril hinter ihm rastlos auf und ab schritt. Und dazu das Geräusch seiner Schwertspitze. Offenbar zog der Hüne die Klinge hinter sich her. Bis die Prinzessin sich wieder beruhigt hatte, verging einige Zeit. Stockend und schwer atmend konnte sie dann aber von dem schrecklichen Zwang berichten, der sich über sie gesenkt habe. Durch die Nebel in ihrem Bewusstsein habe sie den Bannmeister erkannt, wie er in der Lieblingskammer ihres Vaters auf Burg Silberbaum mit diesem an der Tafel saß ... Vor ihm auf dem Tisch befanden sich hölzerne Figuren, und der Baron lächelte hart und kalt, als der Zauber zu wirken begann. »Jetzt keine Tränen mehr!« unterbrach der Kleine barsch ihren arg stockenden Vortrag und sah Sarasper an, welcher gerade von seiner Erkundung zurückkehrte. »Gibt es irgendeine Möglichkeit, diesen Bann zu brechen?« fragte der Alte die junge Frau. Embra schluckte, atmete zitternd und hielt ihr Gesicht hinter strähnigen Haaren verborgen. Aber irgendwie gelang es ihr dann, die Schultern zu heben und wieder sinken zu lassen – ein Achselzucken. Die drei Männer sahen sich an, dann beugte der Heiler sich wieder über sie und versuchte über eine andere Seite,
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mehr zu erfahren: »Wenn die Holzpuppe, welche der Bannmeister benutzt, zerstört würde, was würde dann geschehen?« »J-ja, so ... so könnte es gehen«, antwortete die Prinzessin mit einem Schluckauf. »Aber nur so lange, bis Ambelter eine zweite Figur hergestellt hätte. Und die müsste er auch selbst schnitzen und mit etwas von mir verbinden ... Mit Haar von mir, das sie von meinen Haarbürsten gekämmt haben. Gut möglich, dass die drei Zauberer das schon alles für ihre vorherigen Banne aufgebraucht haben.« »Besteht eine Möglichkeit«, fuhr Sarasper fort, »die Puppe von hier aus mittels Eurer Zauberkräfte zu verbrennen? Wir würden Euch auch mit allem helfen, was wir tun können.« Die Hexe schloss die Augen und dachte nach. Dann zuckte sie heftig zusammen und antwortete schließlich leise: »Es gäbe da eine Möglichkeit, aber deren Anwendung würde ich kaum überleben ...« »Wie meint Ihr das?« »Ich müsste mich selbst in Brand stecken ... und dabei die Verbindung zu der Holzfigur in der Burg aufrechterhalten, damit sie ebenfalls verkohlt.« »Hmm ... Und wenn wir Euch im selben Moment heilten, in welchem Eure Haut Blasen würfe ... Nein, damit würden wir ja auch der Puppe helfen, nicht wahr? Oder wäre es Euch möglich, das zu verhindern?« Die junge Frau öffnete die Augen wieder, sah dem Alten mitten ins Gesicht und gestattete sich erste Hoffnung: »Nun ja, so ... so könnte es vielleicht gehen.« »Dann werden wir genau das tun«, entschied Sarasper. »Wir ziehen uns jetzt aus, wir alle, und legen sämtliche metallhaltigen Gegenstände, welche wir bei uns tragen, ein gutes
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Stück weit fort. Hawkril, das gilt auch für Eure Armschienen. Kein Metall darf mehr hier bei uns sein.« »Und warum auch die Kleider nicht?« wollte der Hüne wissen, obwohl er bereits gehorsam die Schließen der Armschienen öffnete. »Weil sie sonst zu Asche verbrennen«, antwortete Sarasper ihm, als mache er damit einen gelungenen Scherz. »Ich brauche euch beide, wenn wir unsere Herrin am Leben halten wollen. Und bitte, verstreut nicht wieder alles in der Gegend. Schichtet eure Sachen zu ordentlichen Bündeln auf. Nicht auszuschließen, dass wir Hals über Kopf von hier verschwinden müssen. Dann wollen wir doch nicht erst alles zusammenklauben müssen, oder? Und noch etwas, sobald wir angefangen haben, wird Embra vermutlich schreien wie nie zuvor. Richtet euch also darauf ein.« »Einverstanden«, sagte Craer fast schon zu schnell und drehte sich dann zu seinem Freund um. Als der nicht antwortete, sahen ihn auch Sarasper und die Baronstochter fragend an. Hawkril Anharu knurrte etwas Unverständliches, dann trat er einen Schritt vor und legte der jungen Frau eine Hand auf die Schulter. Sie legte die ihre darüber und streichelte seine Finger. Dabei musste sie sich auf die Lippen beißen, um nicht gleich wieder zu heulen. Er klopfte ihr unbeholfen auf den Rücken und zog dann seine Hand zurück. »Ich hasse Magie!« schimpfte der Hüne in den Nachthimmel, welcher sich über Darsar spannte, und starrte ihn so grimmig an, als wolle er ihn ernsthaft zu einer Antwort drängen. Ein sonderbarer Laut ertönte, und die drei Männer zuck-
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ten erschrocken zusammen. Darüber brach Embra gleichzeitig in Lachen und Tränen aus. »Das habe ich auch schon gesagt«, stammelte sie, »und zwar mehr als einmal.« Die Männer lächelten unsicher und zogen sich dann ein Stück zurück, um sich zu entkleiden. Nicht lange danach beleuchteten zuckende Flammen die Senke. Sie entstanden auf dem nackten Körper einer schönen jungen Frau. Sie bog vor Schmerzen den Rücken durch und schrie wie am Spieß. Ihre Füße lagen unter einem umgestürzten Baum, der schon rauchte, und ein alter, knochiger Mann hielt ihre Handgelenke im eisernen Griff. Seine Miene zuckte gleichermaßen unter Pein und Leid. Ein riesiger und ein kleiner Mann hielten die Arme des Alten. Auch sie zitterten und fluchten leise, aber sie ließen ihn keinen Moment los. Mehr als einmal murmelte der Kriegsmann: »Ich hasse Magie!« Aber diesmal ertönte kein eigentümlicher Laut aus den dunklen und schweigenden Baumreihen, welche die Senke umstanden. An einem glänzend polierten Tisch zuckten gepflegte Finger plötzlich heftig und flogen auseinander. Zwischen ihnen schossen Flammen hoch, und die Holzfigur unter ihnen schien kalt zu lächeln. Ohne dass Ingryl Ambelter etwas dagegen unternehmen konnte, war die Puppe schon zu Asche zerfallen. »Bei der Schlange der Schatten!« zischte der Bannmeister. »Wer hätte gedacht, dass sie über so viel Zauberkraft verfügt?« Faerod Fürst Silberbaum lächelte unmerklich und breitete
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die Arme aus: »Was habt Ihr erwartet, Ingryl, sie ist immerhin meine Tochter!«
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Langsam wird es etwas unübersichtlich C Die Türen zur Kammer schlossen sich mit dumpfem Knall unter den erfahrenen Griffen der Bewaffneten. Sie setzten ihre gewohnte teilnahmslose Miene auf, damit man ihnen nicht anmerken konnte, ob es ihnen etwas ausmachte, sich selbst ausschließen zu müssen. »Ihr bleibt einfach dort stehen«, befahl der Baron seinen zwei jüngeren Zauberern – in der gleichen sanftmütigen Art, wie er sie schon begrüßt hatte. Der Blick aus seinen Augen blieb jedoch eisig wie eh und je. Bannmeister Ingryl stand gleich hinter ihm. Zauberstäbe ragten aus seinen Ärmeln, und er trug ein leises kaltes Lächeln zur Schau. Klamantel und Markoun stellten sich auf den angewiesenen Platz und wagten es nicht, auch nur einen Mucks von sich zu geben. Sie sahen einander nicht einmal an. Der Fürst legte die Fingerspitzen wie ein Priester aneinander, der zu einem Gebet ansetzt, und erklärte mit dem Tonfall eines großen Menschenfreundes: »Als ich euch in meine
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Dienste nahm, hielt ich euch für Magier von einigen Fähigkeiten. Und mehr noch, ich glaubte, es bei euch mit Männern von Verstand und Urteilsvermögen zu tun zu haben ... Eigenschaften, wie man sie unter Magiern nur selten findet. Und wie ich jetzt erkennen muss, sind sie noch seltener als allgemein angenommen.« Er ließ sich einen Kelch reichen, trank einen winzigen Schluck und fuhr erst dann fort: »Doch trotz all meiner Gutmütigkeit habt ihr euch als ein Paar unbesonnener und zerstörerischer Narren erwiesen. Euer Weiterleben muss einer ernsthaften Betrachtung unterzogen werden, verspricht es doch, nur Schaden und überhaupt keinen Nutzen für uns zu bringen.« Der Fürst sah die beiden abwechselnd an: »Habt ihr die geringste Vorstellung davon, wie viele meiner geschäftlichen Einlagen in Sirlptar ihr verbrannt, in die Luft gejagt oder sonstwie vernichtet habt? Und das an einem einzigen Abend?« Markoun leckte sich über seine trockenen Lippen: »Herr, ich –« »Schweigt!« befahl der Fürst in einem Flüstern. »Ich will kein Wort von euch beiden hören. Vernehmt stattdessen meine Anordnungen: Ihr erlaubt euch nicht mehr den kleinsten Ungehorsam. Nicht einmal einen Hauch davon. Und ihr haltet euch auch davor zurück, irgendeine Form von Unabhängigkeit an den Tag zu legen. Weiters bleibt ihr in dieser Kammer, bis ihr ausdrücklich die Erlaubnis dazu erhaltet, sie zu verlassen. Drittens setzt ihr jede Unze Magie, über welche ihr gebietet, dazu ein, meine Tochter zurückzubringen, meinen Augapfel
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und der Mörtel meiner Burg!« »Herr!« wagte Markoun aufzubegehren. »Ich möchte nur in aller Form darauf hinwei–« »Habe ich Euch nicht gerade geboten zu schweigen, Ihr Obertrottel?« unterbrach der Baron ihn in noch immer verbindlichem Tonfall. »Sollte ich das wirklich vergessen haben? Oder stellt meine Amtsgewalt für euch eine so lächerliche Nichtigkeit dar, dass man sie getrost übergehen darf?« Der Zauberer öffnete den Mund, um zu widersprechen, erbleichte, als ihm die Worte seines Herrn so richtig zu Bewusstsein kamen, und schwieg lieber. »So gefällt es mir schon wesentlich besser«, nickte Silberbaum. »Aber ich fürchte, eine kleine Gedächtnisstütze wird sich als unabdingbar erweisen. Gegenstände, welche meinen drei getreuesten Magiern gehören, und zwar von allen dreien, liegen überall in meiner Burg verborgen. Dazu auch Fläschchen mit Blut der Betreffenden. Und zwar in solchen Mengen, dass die Herrschaften Ingryl, Markoun und Klamantel sich ganz in meiner Hand befinden. Sollte einer dieser Gegenstände mit einem Blutstropfen in Verbindung geraten, erwartet den Magier, aus dessen Besitz beides stammt, ein langsamer Untergang. Mit einem Tod voller Schmerzen, welche ihn heulen und sich winden lassen. Wenn ich es noch recht in Erinnerung habe, hat das einen zu übermütigen und dämlichen Magier einmal befallen. Ein scheußlicher Anblick. Und nun zurück an die Arbeit, meine Herren.« Das Auge, welches aus dem Schnitzwerk beobachtete, hätte die Mienen von Klamantel und Markoun, welche jetzt zu ihren Arbeitstischen zurückschlichen, vermutlich als betreten
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und furchterfüllt bezeichnet. Wenn es dann aber mitbekommen hätte, welche Blicke diese beiden in Richtung des Bannmeisters Ingryl warfen, hätte es zu einem ganz anderen Schluss kommen müssen – nämlich mordversessen. Sarasper ... Die Stimme in seinem Kopf war zurückgekehrt. Der Heiler atmete vor Schreck tief ein. Hier draußen im tiefsten Wald Wache zu halten, bedeutete vor allem, im Wachzustand endlos lange dem Tschilpen der Insekten zu lauschen. Oder besser gesagt darauf zu warten, dass diese Musik unvermittelt abbrach ... Sarasper, Ihr habt mich doch nicht etwa vergessen? Das Singen in seinem Kopf nahm einen ungeduldigen Unterton an. ›Nein, Alte Eiche‹, antwortete der Heiler. Fein, fein. Eine Aufgabe wartet nämlich auf Euch. ›Nicht zu fassen‹, lächelte Sarasper in die Nacht. Weniger Spott und mehr Ehrfurcht würden Euch viel besser zu Gesicht stehen, Sterblicher. Der Heiler breitete entschuldigend die Arme aus. ›Ich bin eben so, wie ich bin. Aber sprecht: Was kann ich für Euch tun?‹ Die Zauberin Embra Silberbaum steht unter einem Fluch. Den entfernt! ›Ohne Hilfe und Anleitung weiß ich nicht einmal, wo ich damit anfangen soll‹, dachte Sarasper. Heute Nacht könnt Ihr nicht mehr erhoffen, als einen Anfang zu setzen. Deswegen hört mir genau zu, und befolgt meine Worte. ›Befehlt, Alte Eiche, und ich gehorche‹ entgegnete der Heiler und wiederholte dann mit den Händen und seiner
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Zauberkraft, was die Stimme in seinem Kopf ihm an Bildern und Sprüchen vorführte. So vergingen Stunden, und mittlerweile lief ihm der Schweiß wie ein Wildbach in den Bergen übers Gesicht. Craer und Hawkril hielten abwechselnd Wache, und der Heiler blieb bei der Prinzessin hocken, während seine Finger ihre Stirn berührten. Ohne sich untereinander darüber abgesprochen zu haben, stand für die drei Männer fest, dass der Baronstochter eine Wachschicht nicht zuzumuten sei. Sarasper kam es so vor, dass die Zerstörung des Fluchs eigentlich gar nicht so schwer wäre. Man musste nur erst mit den Fingern die bunten Fäden der Verzauberung im Traumbewusstsein aufspüren ... Aber als er so weit war, wurde es doch ein wenig kniffliger. Die Stimme in seinem Kopf leitete ihn an, diesen Faden hierhin oder dorthin zu schieben, einen anderen zu verändern und überhaupt so viele Umwandlungen vorzunehmen, dass er sich schon vorkam wie ein Weber, welcher einen unendlich schwierigen Teppich zu knüpfen hat. Gegen Morgengrauen, während Hawkril nach einem Wesen lauschte, welches ihre Senke umschlich, aber nie wirklich näher kam, sagte sich der Heiler erschöpft, dass er den Fluch eigentlich gar nicht zerstörte. In Wahrheit verbarg er ihn nur vor dem Zugriff desjenigen, welcher ihn über die Prinzessin gebracht hatte. Gleichzeitig verankerte er den Bann noch tiefer und fester in Embras Bewusstsein und unterstellte ihn einem neuen und ganz anderen Herrn. Aber was wollte Alte Eiche mit einem Fluch anfangen, welcher einer Menschenzauberin bei jedem
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Zauber, welchen sie wirkte, ein Stück ihrer Lebenskraft nahm? Als hätte dieser Gedanke etwas ausgelöst, erschien ein Bild vor Saraspers geistigem Auge: eine Tür in einer gebogenen und zerfallenden Steinmauer. Dies ging in ein anderes Bild über, welches ein kreisrundes Gebäude mit kuppelförmigem Dach zeigte, welches zu großen Teilen von Grün überwuchert war. Die Wände ähnelten aber der im ersten Bild sehr, und das ließ nur einen Schluss zu: Bei dem Bauwerk handelte es sich um die Bibliothek des Zauberers Erluth! Sucht darin nach dem besonderen Stein. Alte Eiche zeigte ihm noch ein Bild – von einem Tunnel, welcher dunkel nach unten führte ... Sarasper purzelte ihn hinunter, konnte nicht mehr anhalten und stürzte in schwärzestes und ihn erwartendes Nichts. Die einen nannten ihn »Langfinger«, die anderen »kleiner Spinnenfürst«, und wieder andere, wenn auch weniger als in den beiden ersten Gruppen, redeten von ihm nur als »dieser Ratte«. Aber niemals vor dieser Nacht hatte jemand Craer Delnbein mit der Bezeichnung »Erretter« bedacht. Daran musste er denken, während das sonderbare Gefühl, das ihn geweckt hatte, nun rastlos und wie eine warme Brise über ihn fuhr – und den Panzer des Spottes, mit welchem er sich so gern umgab, für eine Weile durchbrach. Den neuen Titel hatte ihm eine Zauberin von Geblüt verliehen, eine Edle von Stand und solcher Schönheit, dass ihm der Mund austrocknete, wenn sein Blick auf ihr ruhte. Vor allem jetzt, da sie von aller Kleidung entblößt und mit wild
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herunterhängendem Haar dalag ... Und mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht. Er sollte seine Gedanken besser in eine andere Richtung lenken und nicht vergessen, dass er selbst ja auch keinen Fetzen Stoff am Leib trug. Er erinnerte sich an Hawkril. Als der Zorn von seinem Freund abgefallen war, hatte der den Beschaffer an sich gedrückt und ihm seinen Dank zugeflüstert. »Ich hätte sie beinahe getötet«, gestand der Hüne mit zitternder Stimme. »Der Dreifaltigkeit sei Dank, dass Ihr rechtzeitig zurückgekehrt seid!« Der Krieger hatte Craer dann losgelassen und ihn bestürzt angestarrt. Erst als die Panik in seinem Blick sich gelegt hatte, konnte er mir rauer Stimme fragen: »Wenn ich sie wirklich erschlagen hätte, was wäre dann aus uns geworden?« Der Beschaffer hatte nur die Achseln gezuckt, weil er nicht wusste, was er darauf antworten sollte. »Was hättet Ihr uns zu tun geraten?« hatte der Hüne mit immer noch betroffener Miene beharrt. Craer hatte den Mund noch einmal geöffnet und wieder geschlossen, ohne ein Wort von sich zu geben. Er hatte die Nachtnebel betrachtet, welche durch die Baumwipfel zogen, und den Kopf geschüttelt. »Die Nebel geben nie eine Antwort«, hatte er dem Ritter erklärt. »Früher nicht, heute nicht und auch in Zukunft nicht.« Zu seiner Überraschung hatten Sarasper wie auch die Prinzessin da genickt, obwohl sie eigentlich doch zu weit entfernt gewesen waren, um ihn zu verstehen. Craer starrte jetzt in den Mond und spürte, wie der alte
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düstere Albtraum in ihm aufstieg ... Und ihn übernahm: Er stand wieder in den stinkenden Docks und erlebte noch einmal den Tag, an welchem seine Jugend für immer davongeweht worden war... »Doch, doch, er hat sich gewehrt«, brummte Jack das Messer und stieß den bewusstlosen und nackten Mann mit dem Stiefel an. »Aber das hat ihm nicht viel genützt, er musste doch zu Boden. Wenn er wieder aufwacht, werdet Ihr feststellen, dass er immer noch bei Verstand ist und kaum einen Knochen gebrochen hat. Der Bursche ist Zollbeamter.« »Einer, der nur zählt und abhakt, oder auch einer, der etwas vom Fach versteht?« »Er kann lesen und schreiben. Seine Gattin übrigens auch.« »Wie? Was haben die beiden denn zum Broterwerb getan?« »Für ›Sternensegel‹ ein Lagerhaus betrieben«, antwortete Jack das Messer, und der Jüngling, welcher sich zwischen den Hölzern versteckt hatte, hörte das Kichern in seiner Stimme. »Aha«, entgegnete der Sklavenhändler, der nicht auf den Kopf gefallen war. »Doch nicht etwa jenes Lagerhaus, welches vor kurzem bis auf den Grund niedergebrannt ist, ohne dass man die Ursache dafür herausgefunden hat?« »Jetzt, wo Ihr es sagt«, meinte Jack das Messer gedehnt und wie jemand, der erst in diesem Moment hinter die Zusammenhänge kommt. »Schon möglich, dass es sich bei dem Pärchen, welches ›Sternensegel‹ übers Ohr gehauen hat, tatsächlich um Phorthas und Schierindra Delnbein handelte. Sie dürften dann ja auch etliche Wagenladungen beladen mit wertvollen Gütern fortgeschafft und dann das Feuer im Lagerhaus gelegt haben.« »Ich kann nicht offen als Käufer von Ware auftreten, nach welcher ein großes Handelskontor fahndet«, meinte der Sklavenhändler. »So
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etwas verdirbt die Preise.« »Sie können lesen und schreiben«, gab Jack das Messer zu bedenken. »Nach denen würde sich doch jeder die Finger lecken.« »Buchstaben sind heute längst keine Geheimkunst mehr«, erwiderte der Sklavenhändler und verschränkte die Arme vor der Brust. Diese erwiesen sich als dicker und haariger als Jacks Oberschenkel. »Kräftig gebaut sind sie nicht, auch nicht mehr jung und ebenfalls keine ausgesprochenen Schönheiten.« Er winkte die Frau heran, welche noch in Ketten lag. Anderenorts hätte der Sklavenhändler sie kaum herangewunken, sondern sein Kaufinteresse mit einem Tritt angezeigt. Aber bei Jack pflegte man gewisse Umgangsformen. Beide Männer wussten, dass die Lagerverwalterin wach war. Das verriet schon die Art, wie sie atmete. Aber solange die Frau nicht schrie oder einen Fluchtversuch unternahm, würden die Männer ihr das Schweigen durchgehen lassen. Und sie spürten, dass Schierindra Delnbein zu klug für solch ein sinnloses Unterfangen war. Wenn ihr bloßer Körper doch nur schon auf den ersten Blick mehr Erregung ausgelöst hätte ... Wie ihr Gatte, welcher auf den Holzbohlen lag, ruhte auch sie auf dem Rücken. Man hatte ihr die Hände unterhalb des Kinns aneinander gekettet. Sie waren unter der Sklavenkapuze nur halb zu sehen. Die Beine hatte man ihr auseinander gezogen und die Füße an einen Balken gefesselt. Der Balken, welcher unter ihren Schultern lag, war noch nicht mit dem an den Füßen verbunden. Das würde erst beim Aufbruch geschehen. Die beiden Männer betrachteten ihren knochigen Leib mit den flachen Brüsten und wussten dennoch, dass sich bald ein Käufer für sie finden würde, welcher auch genug böte, um sie mitzunehmen.
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Der Sklavenhändler hatte noch nicht abgewunken, aber Jack das Messer hatte ja auch noch keinen Preis genannt. »Das lässt sich kaum abstreiten«, kam der Hafenpirat jetzt seinem Gegenüber entgegen. »Deswegen verlange ich ja auch bloß zehn Drethar ... für jeden von beiden.« Der Sklavenhändler schnaubte, als hätte er noch nie etwas so Ungeheuerliches gehört. »Sechs Drethar für das Paar wären schon eine gelinde Unverschämtheit«, erwiderte er und gab sich Mühe, ehrlich beleidigt zu klingen. Wenn man hinter jeder Wand eines holzvertäfelten Raums einen Armbrustschützen gestellt hat und sein Gegenüber das zumindest ahnt, schafft das schon Zurückhaltung. Aber nicht bei einem gewieften Sklavenhändler. Jack das Messer hielt eine Hand hinter dem Rücken, und die spreizte jetzt einige Pinger. Die Schießscharten in der Holzwand glitten nun auf. Geräuschvoll. Der Knabe in den Balken, ein gutes Stück über den Kerzen des Kronleuchters, fing an zu zittern, allerdings geräuschlos. Der Sklavenhändler verzichtete darauf, sich umzudrehen. »Vielleicht war mein Urteil ein wenig voreilig. Ein Angebot in aller Freundschaft: Fünf Drethar für das Paar.« Der Hafenpirat zeigte den Anflug eines Lächelns. »Acht, mein Lieber, und das für jeden.« Der Sklavenhändler lächelte breit und trat wie zufällig einen Schritt in Richtung Tür. »Ich laufe vierzig Häfen an und suche mir meine Ware unter denjenigen aus, welche niemand haben will. Vielleicht wenn die beiden dort älter geworden und ihnen die Zähne ausgefallen sind, bietet Ihr sie zu einem Preis an, zu welchem ich sie mir leisten kann. Aber gut möglich, dass Ihr bis dahin einen anderen gefunden habt, der sie Euch abnimmt. Ein freundlich gemeinter Rat noch: Bietet sie nicht ›Sternensegel‹
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an. Die Herrschaften dort haben nur wenig Humor.« Jack das Messer hätte es bestimmt nicht zu mehr Macht und Einfluss als der hiesige Baron gebracht, wenn er dämlich gewesen wäre. »Vielleicht sollte ich Euch ja in einer Weise entgegenkommen, wie sie sonst überhaupt nicht klugem Geschäftsgebaren entspricht. Aber gut: Sechs Drethar für jeden.« Der Sklavenhändler, der sich noch weiter der Tür genähert hatte, blieb stehen und drehte sich um. Fast schon heiter winkte er zur nächsten Schießscharte. »Vielleicht solltet Ihr mir wirklich ein Stück entgegenkommen, und vermutlich meintet Ihr statt sechs vielmehr fünf Dretharfür jeden. Gut möglich aber auch, dass ich Euch tatsächlich sechs Drethar bezahle – wenn Ihr den Knaben noch dazu gebt.« »Welchen Knaben?« Sein Gegenüber nickte langsam. »Den Sohn der beiden. Diese kleine Spinne, welche wieselflink über die Frachtkisten krabbelt und alles für seine Eltern abzählt ...« Er lächelte breit. »In meinem Gewerbe tut man gut daran, Lagerhäuser genau zu beobachten.« Jack das Messer schüttelte unwillig den Kopf, weil er diesen Wunsch nicht erfüllen konnte: »Seit dem Feuer hat niemand mehr den Bengel gesehen.« Der Sklavenhändler zog eine Augenbraue hoch. »Ihr richtet wohl nicht oft den Blick nach oben, was?« Der Hafenpirat starrte ihn verwirrt an. »Was soll ich nicht tun?« Bis ihm die Erleuchtung kam und er die Decke absuchte. Kurz darauf sahen sich Jack das Messer und Craer Delnbein unfreiwillig in die Augen. Im nächsten Moment blitzte das Messer des Knaben auf und mähte die Dochte der Kerzen am Ständer wie Getreide nieder. In der von Flüchen erfüllten Dunkelheit, welche darauf folgte, hängte Craer sich an den Kerzenleuchter, hielt das Messer wie ein Schwert vor sich
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und ließ sich langsam nach unten hängen. Die Hand mit dem Dolch schwang hin und her und suchte nach dem Gesicht des Hafenpiraten, bis sie auf Widerstand traf, und zwar so hart, dass der Arm des Knaben sich für einen Moment taub anfühlte. Jack das Messer schrie schrill – ein Schmerzenslaut gefolgt von Gurgeln. Der Knabe ließ sich nun auf den unsichtbaren Boden fallen, landete ächzend und um Atem ringend ... und duckte sich rechtzeitig, als an allen Seiten das dumpfe Schwirren von abgefeuerten Armbrüsten ertönte. Das scharfe Knacken von Bolzen, welche in Holz fuhren oder von einer Wand abprallten, konnte das widerliche Geräusch nicht übertönen, wenn ein solches Geschoss in einen menschlichen Körper eindrang. Das Stöhnen und Schreien der Getroffenen schwoll so an, dass der wenige Lärm, welchen Craer erzeugte, nicht gehört werden konnte. Überall schimpften und fluchten Männer, rannten schwere Stiefel, wurden Türen aufgestoßen und entstand auch sonst viel Lärm. Dazu rasselte plötzlich die Kette, an welcher der Kerzenleuchter hing. Zwei Schritte oberhalb des Bodens kam der schwere Kranz zum Stehen. Jemand musste wohl den Haltepflock herausgezogen haben – vermutlich in der Hoffnung, die Kerzen so leichter wieder anzünden zu können. Aber niemand hatte wohl mit den Männern des Sklavenhändlers gerechnet, welche jetzt mit Zorn im Herzen in das Lagerhaus von Jack dem Messer stürmten und ihre Säbel herabsausen ließen. Der Knabe vernahm das Klirren von Stahl an Stahl, und dazu das Röcheln und Schreien derjenigen, welche in der Dunkelheit niedergestochen und -gehauen wurden. Hie und da stach ein Lichtstrahl wirr in die Dunkelheit, wenn sich gerade wieder jemand umständlich
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bemühte, eine Laterne zum Brennen zu bringen. In der Regel wurde diese dann gleich von einem anderen eingeschlagen. Türen von Nachbarräumen flogen auf und wurden geräuschvoll wieder geschlossen, und ein Lichtstrahl verriet Craer dreierlei: In diesem Raum stand niemand mehr, jemand, gespickt mit Armbrustbolzen, kippte gerade um, und vor ihm hing die Kette des Kerzenleuchters. Im nächsten, wieder finsteren Moment sprang der Knabe vor, fand mit seinen vor furcht zitternden Fingern die rußigen Kettenglieder und krabbelte wieselflink nach oben. Unten am Boden starben weiterhin Menschen, und er konnte nur hoffen, dass er sich zwischen den Deckenbalken verkriechen konnte, ehe er das Schicksal der anderen teilen musste ... Ein Knabe kroch in den feuchten Flussnebeln auf ein Dach, blieb dort zitternd liegen und konnte nicht weinen noch schluchzen, weil nichts mehr in ihm war. Rauchfäden trieben noch von dem zweiten Lagerhaus hoch, welches binnen zweier Tage ein Raub der Flammen wurde. Die Männer mit den Eimern hatten sich dort den Rücken wund geschuftet und waren schließlich müde abgezogen, um sich ein Bier oder mehr zu genehmigen. Oder um sich irgendwo in einer Ecke zum Schlafen zu legen, nun, da dieser Hafen nicht mehr von Jack dem Messer unsicher gemacht wurde. Craer schaute zu der Stelle, wo sich die Gebeine seiner verbrannten Eltern befinden mussten. Starr vor Entsetzen flüsterte er die Namen von Mutter und Vater ... Kurz darauf klirrten unten in einer Gasse schon wieder Schwerter. Zwei Männer schienen sich nicht darüber einig werden zu können, wer Jack dem Messer als wahrem Machthaber des Fürstentums nachfolgen sollte.
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Der Junge, welchen sie überall die Spinne nannten, lauschte ihnen mit einem Ohr, weil ihn diese Auseinandersetzung kaum scherte. Wenn das eigene Leben plötzlich in Trümmern daliegt und die Rache genommen wurde, was bleibt einem denn da noch? Zu klein, um sich mit einem Erwachsenen auf einen Kampf einlassen zu dürfen, zu schmächtig, um sich als Stauer auf den Docks zu verdingen, und zu wenig herumgekommen, um etwas anderes als das Leben im Hafen zu kennen ... Nein, hier konnte er sein Glück wahrlich nicht machen. Niemand traute ihm, der über Dächer kletterte, überall Verstecke kannte und gern Streiche ausheckte. Man würde in ihm nur einen Dieb sehen, einen Taugenichts und ein Waisenkind obendrein. Sollte er doch irgendwo verrecken, wer würde ihn schon vermissen. Craer Delnbein hob den Kopf von den Schindeln und fragte den Dunst: »Was soll ich jetzt nur mit mir anfangen?« Er wartete lange, aber der Nebel gab ihm keine Antwort. »Seht nach, Sarintha, wer da gekommen ist«, befahl der Baron, und während sie aus dem Bett stieg und ihr langes Haar über ihren nackten Körper strich, drückte er auf eine bestimmte Stelle am Bettpfosten. Einer dort entstehenden Vertiefung entnahm der Fürst einen Zauberstab. Wenn eine der anderen jungen Frauen, welche sich an diesem strahlend schönen Frühmorgen in seinem Bett räkelten, bemerkte, dass er mit dem Zauberstab auf die Tür zielte und damit notwendigerweise auch auf Sarinthas wohlgeformten Rücken, ließ sie sich davon nichts anmerken. Sie zog sich den Seidenumhang über, der kaum etwas verhüllte, tat wie ihr geheißen und verkündete: »Der Bannmeister.«
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Sie hatte eine rauchige, aber melodische Stimme, und die hatte den Baron gleich für sie eingenommen. Sie ließ jetzt die Metallscheibe vor das Guckloch zurückschnellen und wartete auf weitere Anweisungen ihres Herrn. Faerod Fürst Silberbaum zog erst eine Augenbraue hoch, ehe er unaufgeregt gebot, so als gehörten frühmorgendliche Besuche eines Magiers auf dieser Burg zu den Selbstverständlichkeiten: »Führt ihn herein, meine Liebe, und dann husch, husch mit euch allen ins Bad. Kein Getrödel und kein Lauschen hinter der Tür – außer, eine von euch ist der Ansicht, es sei ihrer Schönheit durchaus zuträglich, mit einem glühenden Brandeisen die Ohren abgetrennt zu bekommen.« Faerod erhielt nur ein spitzes Kreischen zur Antwort, nebst dem Rascheln von Decken und Kissen und dem Rauschen von nackten Füßen auf mit Fell bedecktem Boden. Sarintha war die Letzte, denn sie musste erst nach dem Besucher die Tür wieder schließen, ehe sie den anderen Gespielinnen folgen konnte. Ingryl Ambelter hätte fast den Kopf gedreht, um den davoneilenden nackten Schönen auf den blanken Hintern zu starren. Aber nur fast. Leicht zitternd behielt der Magier die Beherrschung über sich. Dem Baron blieb das nicht verborgen, und er hätte beinahe gelacht, aber eben auch nur beinahe. »Ja, bitte, Ingryl?« fragte der Fürst stattdessen, ohne sich der Mühe zu unterziehen, seine Blöße zu bedecken. Oder den Zauberstab zu verbergen, welcher weiterhin auf einem Kissen lag und sich unverrückbar auf den ersten seiner drei Hofzauberer richtete. Dieser Bannmeister wirkte heute Morgen etwas abge-
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spannt. »Herr, ich komme mit Neuigkeiten, von denen ich weiß, dass Ihr sie unbedingt rasch vernehmen wollt. Diese konnten als Folge einer nachtlangen magischen Suche gewonnen werden. Die Edle Embra und ihre Gefährten haben die Ruinen des untergegangenen Indraewyn erreicht. Zurzeit halten sie sich im Loaurimm-Wald auf. Ohne Zweifel suchen sie dort den Dwaer. Ehrgeizige Magier aus allen Ecken Aglirtas und weit entfernterer Flecken haben sich ebenfalls dort eingefunden und streben nach demselben Gewinn. Bei diesem Ort handelt es sich aber um eine Todesfalle und um eine goldene Gelegenheit, für Silberbaum unendliche magische Größe zu erwerben.« »Ihr meint, wenn es uns gelingt, den sagenhaften Stein in unseren Besitz zu bringen?« Der Älteste nickte. »Und Ihr habt bereits Vorbereitungen getroffen, genau dies zu erreichen?« Der Bannmeister ahmte den Anflug des Lächelns nach, wel- ches der Fürst so gern zeigte. »Ich würde es für einen außerordentlich klugen Schachzug von Seiner Hoheit halten, seine beiden Magier Klamantel und Markoun unverzüglich dorthin zu beordern. Versehen mit Abwehrschilden und Lauschbannen für das fürstliche Fräulein. Der erste und vordringlichste Befehl an die beiden sollte lauten, die Edle Embra zu finden und ihr beide Zauber auszuhändigen. Schließlich ist nicht auszuschließen, dass die fürstliche Tochter zwischen den Ruinen in Händel mit anderen Suchenden gerät. Wenn sie jedoch mit solchen Zaubern
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ausgestattet ist, vermögen wir alle Gefahren rechtzeitig zu erkennen und sie sicher durch alle Fährnisse zu lenken ...« »Die Überlegungen des Barons von Silberbaum decken sich in diesen Punkten mit Euren Vorschlägen«, erklärte ihm Faerod. »Sobald dies geschehen und Embra entweder in echten Ketten oder in magischen Fesseln hierher in Sicherheit zurückgeführt wurde, borge ich Euch einige meiner Liebesgespielinnen aus. Würden Euch vier reichen?« Nun warf der Oberzauberer einen raschen Blick auf den Bogengang, welcher zum Bad führte. Aber er hütete sich davor, sich irgendeine Regung anmerken zu lassen. Seine Miene blieb so starr wie die eines der fürstlichen Wachsoldaten, als er entgegnete: »Das wäre mir eine hohe Ehre, Euer Durchlaucht. Ich bitte darum.« Am Morgen kam der Tod über Indraewyn. Von dort, wo der schweigende Mann ausgebreitet auf einem von Ranken überwucherten Turm lag, vermochte er zu beobachten, wie ein herbeigezaubertes Ungeheuer mit den Fäusten Ritter zermanschte. Der Magier, welcher diesen Unhold steuerte, hockte in einem Dickicht und war so in sein Tun versunken, dass er die drei Krieger nicht bemerkte, welche sich von hinten an ihn heranschlichen und ihre Dolche gezückt hatten. An den Ecken der Stadt fanden gerade mindestens zwei Bannschlachten zwischen feindlichen Zauberern statt. Ein Stück weiter führte eine mannsgroße Eidechse mit Lederrüstung und einem Löwenhaupt eine Gruppe Krieger gegen ein paar Reihen Ritter, welche einen verängstigten Zauberer zu schützen versuchten.
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Der Schweigsame schaute zu und lauschte den Schreien und Toden, während die Sonne sich daranmachte, den Himmel zu erklimmen. Dabei konnte er wieder einmal feststellen, dass Magier eine Menge unschöner Wege kannten, jemanden zu Schaden zu bringen oder vom Leben zum Tode zu befördern. Und ebenso bewahrheitete sich die alte Weisheit, dass Ritter nichts Schöneres kannten, als über einen dieser Magier herzufallen und ihm alles heimzuzahlen, sobald der seine Zauberenergien aufgebraucht hatte. Und wehe dem Bannschmied, wenn der gerade nicht aufpasste oder sonstwie mit den Gedanken woanders weilte. Recht so, dachte der stille Beobachter, sollten sie sich doch nach Herzenslust gegenseitig erschlagen und Luthtuth die Arbeit abnehmen. Vor allem die magisch erschaffenen Ungeheuer. Wäre ihm ganz lieb, wenn die allesamt niedergemacht werden würden. Mit Leibwächtern und selbst mit schlachterprobten Rittern wurde er fertig. Nur die Magie lag dem Beschaffer, den einige unter dem Namen Luthtuth und andere als Samtfuß kannten, so gar nicht. Weder die Unholde, welche sie zu erzeugen verstand, noch diejenigen, welche mit ihren Energien wirkten. So lag der Beobachter weiter reglos auf dem Dach, und nur in seinem Innern schwelte das Feuer. Unter ihm wollte das Tohuwabohu kein Ende nehmen. Magische Geschosse rasten hin und her, und Menschen starben in Trauben. Die Toten, die Verwundeten und diejenigen, welche sich nur tot stellten, würden ihm nach Einbruch der Dunkelheit zur Beute fallen.
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»Ein äußerst beweglicher, lauernder Würger, der am liebsten von oben angreift«, so hatte ihn einer seiner Meister einst beschrieben. Damals hatte Luthtuth das als Lob aufgefasst und gelächelt. Jetzt lächelte er wieder, während sein Körper sich auf dem sich stetig wandelnden Panzer aus Fallschnüren, Würgedrähten und Kletterseilen hin und her wand. Sobald der Tag der Nacht Platz gemacht hatte, würden sie alle zu ihrem Recht kommen. Sollte man ihn vorher angreifen, würde er sich zu wehren wissen: mit einigen verzauberten Raucheiern, dem Beutel voller Dolche, welche er mit tödlicher Treffsicherheit zu werfen verstand, und mit seinem Verstand. Bei seinem gegenwärtigen Meister handelte es sich um einen stets verhüllten und geheimniskrämerischen Magier, der behauptete, aus dem fernen Renschoun zu stammen. Seine Aufgabe bestünde darin, für den Maskierten die vier Steine zu suchen und zu finden, welche man gemeinhin Dwaerindim nenne. »Denn wenn man diese«, so sein Meister, »in einem bestimmten Ritual gemeinsam einsetzt, bewirken sie, dass die Schlange der Schatten erweckt, befreit und herbeigerufen wird.« Bei dieser Schlange handele es sich um den uralten Erzfeind des Schlafenden Königs. Diese hehre Aufgabe scherte Luthtuth einen feuchten Kehrricht. Magier jagten doch ständig irgendeinem Wolkenkuckucksheim hinterher, welches jenseits ihrer Fähigkeiten und Kräfte lag. Aber solange sie vorab und pünktlich zahlten, sollten sie sich ruhig gegenseitig austricksen. Dadurch entwickelte sich Darsar für alle nicht ganz so
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Neunmalklugen zu einem friedlicheren und angenehmeren Ort. Der Beschaffer hatte auch längst einen eigenen Plan entwickelt. Er würde den Stein selbst an sich bringen, jemanden dafür bezahlen, eine genaue Kopie davon herzustellen, dann einen anderen damit beauftragen, den zweiten Stein seinem Meister auszuhändigen. Und wenn sein maskierter Zauberer sich so richtig aufregte, würde Luthtuth einige Feinde des Mannes herbeirufen, damit die alle untereinander alte Rechnungen begleichen konnten ... Der Beschaffer würde sich dann wie üblich auf die Lauer legen und alles im Blick behalten. Sobald sich dann die Gelegenheit dazu ergab, würde er die Höhle seines Meisters plündern. Und wenn die ausblieb, auch nicht schlimm, dann würde er eben weiter um das Erdenrund ziehen ... und um einen Weltenstein reicher sein! Ein schiefer Turm zu ihrer Linken brach plötzlich unter Tosen in sich zusammen. »Bei der Dreifaltigkeit«, murmelte Sarasper, »heute treibt sich hier aber verdammt viel Zauberervolk herum.« »Ich allein reiche Euch nicht?« fragte Embra Silberbaum kokett, während die vier Gefährten unter einem vorspringenden Fels lagen. »Also diesen Spruch sollte man sich merken und ihn ihr wieder vortragen, wenn sie einmal Königin Embra vom Tal ist«, murmelte Craer den beiden Männern zu. Dann deutete er nach vorn. »Könnte das dort die Spitze Eurer untergegangenen Bibliothek sein, o Alter und Weisengleicher?«
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Der Heiler blinzelte in die angegebene Richtung. »Könnte sein, o Kleiner und Furunkelgleicher. Wir sollten etwas näher heran, oder was meint Ihr?« »Etwas näher heran« bestand aus einer Reihe von Sträuchern, dem Geröll eines eingestürzten Gebäudes und einer kleinen, offenen Fläche zwischen diesem und der nächsten Ruine. Unmittelbar hinter den bröckelnden Mauern erblickte man das nahezu kreisrunde Bauwerk, welches in dieser Umgebung seltsam unbeschädigt wirkte. Craer schlich von einer halbhohen Mauer zur nächsten, bis er einen Eingang zur vermutlichen Bibliothek entdeckte. »Dort ist er, der –« »RUNTER!« schrie die Prinzessin, und der Beschaffer ließ sich, ohne auch nur einen Moment nachzudenken, auf den Bauch fallen. Etwas schwirrte in nur geringer Höhe über ihn hinweg, und er rollte sich zur Seite, bis er hinter einer festen, ehemals tragenden Wand zu liegen kam. »Wer hat es denn jetzt schon wieder auf uns abgesehen?« fragte er seinen Freund. Hawkril lag hinter einer anderen Wand auf der Seite und hob und senkte zum Achselzucken lediglich eine Schulter. »Keine Ahnung. Irgendein Magier ... sieht noch recht jung aus ... und trägt Zepter in der Hand ... lange metallene ... so wie die, mit welchen der alte Mellowran Scherbenbann immer herumgefuchtelt hat, als wir noch jung waren ...« Über dem Hünen explodierte ein Stück Mauer in purpurfarbenen Flammen. Der Ritter zuckte zusammen und raunte: »Seht Ihr, wirklich genau wie der alte Scherbenbann!«
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»Wenn Ihr es nicht so eilig damit gehabt hättet, meine besten Kriegsmänner zu braten«, erklärte Baron Silberbaum seinen beiden jüngeren Magiern, »wäre euch diese ehrenvolle Aufgabe nicht übertragen worden. Also zieht keine Schnute, sondern nehmt die Abwehrzauber auf und übergebt sie ohne Zögern meiner Tochter.« Der Fürst beugte sich auf seinem Thron vor und fügte mit seidenweicher Stimme hinzu: »Oder gibt es etwas viel, viel Wichtigeres und Dringenderes als diese Aufgabe, was ihr mir erzählen möchtet? Nur heraus damit!« Klamantel zog es vor, die altbekannte Decke dieser Kammer auf Burg Silberbaum wieder einmal zu studieren und ansonsten zu schweigen. Aber Markoun konnte sich, nachdem er einige fahrige Blicke auf seinen Magierkameraden geworfen hatte, nicht länger zurückhalten. »Herr, uns beiden behagt die Vorstellung überhaupt nicht, auf erzauberten Nachtlindwürmern in einen Hexenkessel von einander bekriegenden Zauberern fliegen zu müssen. Unser Klamantel hier hat deshalb einen viel besseren Plan entwickelt!« Der Baron zog eine Augenbraue hoch. »Tatsächlich? Und zu dessen Vorbereitung hat er seine Sprechfähigkeit opfern müssen, oder?« Klamantel senkte den Blick von der Decke, setzte eine gleichmütige Miene auf und erklärte: »Zufällig habe ich den Lassabra-See schon einmal besuchen dürfen, Herr. Ich könnte meinen verehrten Kameraden und mich also mit einem Sprungzauber dorthin versetzen. Von dort aus ist der Weg nicht mehr weit, und wir könnten uns an die Ruinen heranschleichen, um hurtig unsere ehrenvolle Aufgabe zu erfüllen.«
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Der Baron drehte leicht den Kopf, bis sein Blick den des Bannmeisters traf. Der Alte nickte unmerklich, und so streckte der Fürst eine Hand zu den beiden Jüngeren aus: »Dann verfahrt in solcher Weise. Sammelt euch, und lasst uns einen vollkommenen Sieg erfahren.« Als die beiden ihnen den Rücken zukehrten, setzte sich der Alte zu dem Baron an den Tisch und legte ein zusammengefaltetes Tuch darauf. Dieses enthielt zwei faustgroße Glaskugeln. Er zeigte sie dem Fürsten kurz und deckte sie dann gleich wieder zu. »In diesen Kugeln werden wir sehen, was sich bei unseren jungen Freunden tut«, flüsterte er. »Genau gesagt, durch ihre Gürtelschnallen.« Der Baron nickte nur und griff nach der Karaffe. Als die beiden Jüngeren verschwunden waren, breitete der Alte die Decke vor sich aus. Die beiden Kugeln leuchteten, stiegen auf und schwebten ein paar Fingerbreit über dem Tisch. In der ersten bekamen die beiden Zuschauer das Gestade eines von Wald umstandenen Sees zu sehen. Und in der zweiten einen Hagel von Pfeilen, welcher aus einem dieser Bäume heransauste. Der Fürst verkrampfte sich und beugte sich vor. Steine zerplatzten zu Staub und Rauch, und Sarasper fiel der Länge nach hin. »Hat keinen Zweck!« keuchte er den anderen zu, welche jenseits der kleinen freien Fläche in Deckung lagen. Mit diesen drei Worten brachte der Alte zum Ausdruck, dass es blanker Selbstmord wäre, die Fläche zu überqueren. »Er weiß genau, wo wir rauskommen und uns zeigen müs-
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sen«, fuhr der Heiler fort, als er wieder zu Atem gekommen war. »Solange seine Zepter nicht ihre Energie verbraucht haben, vermag er hier alles in die Luft zu jagen, was ihm beliebt. Vor allem den Boden, auf welchem wir uns bewegen müssen.« »Wie lange brauchen solche Zepter denn, bis ihre Energie aufgebraucht ist?« wollte der Beschaffer wissen. »Jahrhunderte«, erklärte ihm Embra mit dem Anflug eines Lächelns. Aus reinem Sarkasmus ahmte Craer dieses Lächeln nach und spähte dann noch einmal um die Wandecke. Schon spuckte wieder eines der Zepter los und schickte ihm eine Feuerlinie entgegen. Craer schnüffelte, zog den Kopf wieder ein, drehte sich in der Hocke zu der Prinzessin und dem Hünen um und teilte ihnen seine Beobachtung mit. »Unser Freund versteckt sich hinter dem Mauerstück zur Linken«, lautete diese. »Verfügt Ihr über so etwas wie einen Sprengzauber, Euer Hochwohlgeboren?« »Ja, tue ich«, antwortete die junge Frau. »Warum fragt Ihr?« »Weil ich möchte, dass Ihr ihm ein solches Ding verpasst, sobald ich das hier tue«, entgegnete er und richtete sich zur vollen Größe auf, »und unmittelbar, bevor ich dringend des Heilers bedarf!« Damit lief der Beschaffer geduckt auf seine Mauerlücke zu, rannte um das Ende herum, sprintete über die freie Fläche und versuchte mit aller Kraft, den Eingang zur Bibliothek zu erreichen ... Sarasper starrte dem Beschaffer erst sprachlos hinterher, schluckte dann und brüllte endlich: »Nein, nein! Kehrt sofort um, Ihr hirnloser Affenarsch von einem Geldbeutelklemmer! Kommt zurück, so geht das nicht!«
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Aber Craer schien ihn nicht hören zu können oder zu wollen. Der Heiler sprang nun selbst hoch, verließ die Mauer, hinter welcher sie Deckung gefunden hatten, und kam auf zwei Schrittlängen an den Gefährten heran. Und dann explodierte anscheinend ganz Darsar vor seinem Gesicht. Ein Zepterschuss riss Craer von den Füßen und schleuderte ihn wie eine Stoffpuppe durch die Luft.
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Wie man sich Vorrechte ausborgt C »Craer!« kreischte die Prinzessin entsetzt und sprang auf. Neben ihr traten Hawkril die Tränen aus den Augen. Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt und zitterte am ganzen Körper, als sie sich zu dem Hünen umdrehte. Doch in ebendiesem Moment setzte der Ritter sich schon in Bewegung und strebte dem Mauerende zu. »Nein!« schrie die Zauberin. »Nein, nicht Ihr auch noch!« Er zog den Kopf ein, verlangsamte seine Schritte aber nicht. In ihrer Verzweiflung warf sich die Thronerbin von Silberbaum nach vorn auf den Boden, um Hawkrils Fußgelenke zu fassen zu bekommen. Im nächsten Moment traf ein heftiger Schlag ihre Rippen, und ihr Himmel verdunkelte sich rasch, als ein schwerer Kriegsmann auf sie zufiel. Hawkril Anharu krachte schwer zu Boden und schlug mit dem Kinn auf, als wieder lilafarbenes Feuer heranraste und ein paar Handbreit vor dem Krieger den Boden verbrannte. Etwas Kleines flog aus diesem Hexenkessel heran und traf den
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Hünen an der Wange. Embra, welche unter zwei gewaltigen Schienbeinen gefangen lag und sich darunter herauszuwinden versuchte, hörte zuerst, wie Fleisch brutzelte, und dann, wie ihr Gefährte fluchte. »Hawkril!« keuchte die Prinzessin. »Hört mir zu!« Aber sie erhielt nur ein Wutschnauben zur Antwort, und dann setzten sich zwei Stiefel in Bewegung und wirbelten die Prinzessin nicht eben sanft herum, während der Kriegsmann sich auf die Knie aufrichtete. Das getan, fuhr er mit erstaunlicher Geschwindigkeit zu ihr herum, packte sie am Kragen ihres Hemds und knurrte mit blitzenden Augen: »Was denn?« Embra hatte Mühe, zu Atem zu kommen. Die Körperkraft des Hünen flößte ihr doch Achtung ein. »Wenn Ihr dort hinauslauft, kann er Euch gar nicht verfehlen!« keuchte sie. »Und wie sollte das, bittesehr, Craer helfen?« »Herrin«, gab Hawkril zurück, »Craer Delnbein ist mein ältester Freund auf dieser Welt!« »Und das bleibt er vielleicht auch«, erwiderte die Zauberin, »wenn Ihr ihn am Leben erhaltet. Zu diesem Behufe brauchen wir aber einen unbeschadeten Sarasper. Und den bekommen wir nur, wenn wir den Störenfried da vor uns ausschalten.« Sie krallte ihre schlanken Finger in seine Schultern und versuchte mit aller Kraft, ihn durchzurütteln. Aber statt seiner bewegte sie sich wie ein Blatt im Wind; Hawkril hingegen rührte sich keinen Fingerbreit. In ihrer Not schrie die Prinzessin ihm ins Gesicht: »HÖRT MIR ZU!« Der Hüne blinzelte nur und knurrte: »Sprecht.«
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»Ich möchte, dass Ihr Euch aufrichtet, aber sofort wieder in Deckung geht, sobald der Magier sein Zepter auf Euch abfeuert. Dieser winzige Moment ist wichtig für mich, um den Gegner auszumachen und meinen Zauber zu Ende zu wirken. Wenn die Dreifaltigkeit uns gnädig ist, dürfte es mir dann vielleicht gelingen, den Schild des Mannes zu zerschmettern.« »Seinen Schild? Aber das vermag doch mein Schwert viel besser –« »Nein, nicht solch einen Schild! Mein Bann prallte vorhin ab, von einem seiner Zauber, einer Abwehr. Der hat auch den Stein abgelenkt, welchen der Beschaffer eben auf ihn geworfen hat. Der Magier muss hinter einem ganzen Wall von Magie stehen.« Wieder spuckte das Zepter, und sie hörten Sarasper von irgendwo in dem Rauchvorhang schreien. Erdbröckchen und Steinchen prasselten gegen die andere Seite der Mauer, hinter welcher sie lagen. Hawkril schob den Kopf kurz um die Ecke, so als wolle er selbst den Standort ihres Feinds ausmachen, dann drehte er sich wieder zu dem edlen Fräulein um: »Dann gebt mir ein Zeichen, ich bin bereit. Sagt mir einfach Bescheid, wenn Ihr für diesen Tanz so weit seid.« Er schwang zur Unterstreichung seiner Worte das schwere Kriegsschwert. Seine Miene wirkte hart, aber noch viel mehr erzeugte der Ausdruck seiner Augen bei Embra ein Frösteln. Die junge Frau atmete tief durch. Sie drehte sich zu der gegnerischen Mauer hin, nahm einen der letzten Schnickschnack-Gegenstände in die Hand, mit welchen sie sich im Schweigenden Haus eingedeckt hatte, und flüsterte: »Los jetzt!«
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Ein paar Steine lösten sich aus dem Boden, als der Ritter sich aufrichtete und so duckte, als wolle er gleich losstürmen, wenn das Zepter abgefeuert worden war. Schon sauste der lilafarbene Strahl heran, und die Prinzessin fuhr rasch hoch, um durch Rauch und brutzelnde Luft zu spähen. Da war er! Embra stellte sich vor, dass der Mann auf der anderen Seite sie in diesem Moment ebenfalls entdeckte, und sprach die letzten Worte ihres Banns. Schwarze Blitze mit Rottönen zuckten aus der prinzesslichen Hand, jagten durch den Rauch dahin und stiegen an einer Gestalt hoch, welche mit einem Mal zitterte und schwankte. Neben der Hexe entstand eine Bewegung, dann schwirrte etwas durch die Luft, und einen Herzschlag später stand Hawkril neben ihr und verfolgte grimmig, wie sein Schwert sich überschlagend durch die mit Funken durchsetzte Luft schnitt. Die Klinge traf an eine Kehle, und ein Zepter explodierte in einem grellen Lichtblitz. Hände zuckten vergeblich, und in einem plötzlich lilafarbenen Feuerball verging auch das zweite Zepter und verstreute Trümmerstücke und Zaubererteilchen in alle Himmelsrichtungen. Hawkril wartete gar nicht erst ab, bis dieser abscheuliche Regen aufgehört hatte. Er hielt schon seinen Dolch in der Hand und wetzte um die Ecke, als das Fräulein noch bei dem Anblick eines Körpers schlucken musste, dem oberhalb der Brust alles fehlte und der jetzt gerade umkippte. Nachdem sie mehrmals tief eingeatmet hatte, folgte sie dem Hünen.
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Irgendwo voraus jammerte der Heiler leise. Die beiden entdeckten ihn, wie er ziemlich benommen durch den Qualm stolperte. Jetzt bemerkte Sarasper die Gefährten, sah sie mit den allertraurigsten Augen an und meinte: »Ich kann ihn nirgends finden.« Doch da ertönte über ihnen ein Scharren, und als Hawkril mit der Wurfhand ausholte, um das Messer zu schleudern, fielen Steine herab, und diesen folgte ein kleiner und schlaffer, aber vertrauter Körper. Der landete mitten auf dem Heiler und warf diesen zu Boden – und das kaum drei Schritte vor dem Ritter. Hawkril war mit einem mächtigen Sprung bei den beiden. Er pflückte Craer von Sarasper, als wiege der nur so viel wie eine Puppe, drehte den Beschaffer zu sich herum und blickte ihm in das zerschrammte und besinnungslose Gesicht. Dann wandte der Riese sich dem Heiler zu, betrachtete ihn wie ein Falke seine nächste Beute und wollte den Mann schon ansprechen ... als dessen Kopf zur Seite fiel, seine Augen sich nach innen drehten und sein Jammern und Stöhnen vergingen. »Beide leben noch«, teilte Hawkril Ihrer Hoheit mit. Sie stand vorgebeugt neben ihm und war von dem harten Lauf über unebenen und rauchverhangenen Boden noch ganz außer Atem. »Vielleicht nicht gerade der günstigste Moment, um durch das Portal dort zu treten.« Sie lächelte ihn aber verschlagen an. »Worauf warten wir dann noch?« Nach einem Moment der Verständnislosigkeit grinste der Hüne wölfisch zurück.
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»Bei den Hörnern!« fluchte Klamantel, setzte sich in Bewegung, lief unbeholfen wie eine schwangere Kuh, kam schon nach einer kurzen Strecke aus dem Tritt und fiel der Länge nach hin. Pfeile summten um ihn herum und landeten zum größten Teil in den Wassern des Lassabra-Sees. Markoun erstarrte, als ein Geschoss ihm den Arm aufriss und dort eine Blutlinie hinterließ. Der Zauber, an welchem er gerade wirkte, verging darauf in einem Regen von rasch erlöschenden Funken. Klamantel knurrte etwas Unverständliches, sein von Schmutz verklebtes Gesicht verzerrte sich, und er hob beide Arme, als wolle er zum Abflug ansetzen. Nun leuchteten die Finger, und Abertausende sich drehender Klingen sausten von ihnen los und jagten wie eine silberne Wolke dem tückischen Feind entgegen. Wenig später schrien ein Dutzend Bogenschützen oder mehr noch einmal auf, ehe ihr Leben sein Ende fand. Als die Zaubermesser sich allesamt in Rauch aufgelöst hatten und nur noch zuckende Leiber zwischen zerfetztem Laub herumlagen, erhob sich Klamantel zur vollen Größe. Er klopfte sich ab, warf Markoun einen abfälligen Blick zu und bemerkte: »Wie dumm, jetzt habe ich schon meinen besten Schlachtzauber hergeben müssen.« Markoun blickte von dem Fläschchen mit dem Heiltrank auf, nahm zur Sicherheit noch ein paar Tropfen zu sich und zuckte dann die Achseln. Das hätte er aber lieber unterlassen sollen, denn sofort schoss ein brennender Schmerz durch seinen verletzten Arm. »Wenigstens leben wir noch«, bemerkte der Jüngste, »und
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damit erwartet uns in Bälde das große Vergnügen, Euren zweitbesten Schlachtzauber im Einsatz zu erleben.« Klamantel verzog das Gesicht zu einem humorlosen Lächeln. »Wie schön, dass Ihr Euren Humor, oder was Ihr dafür haltet, noch nicht verloren habt. Kommt, wir wollen von diesem unfreundlichen Ufer verschwinden, ehe der nächste Angreifer kommt. Auf, hoch mit Euch!« »Ja, großer Meister«, murmelte der Jüngere säuerlich, aber so leise, dass sein Mitreisender ihn nicht verstehen konnte. So folgte er Klamantel über den mit Blut getränkten Boden. »Wer waren diese Bogner eigen... Was treibt Ihr denn da?« »Die Waffen einsammeln«, antwortete der Ältere durch zusammengepresste Lippen und zeigte alle Anzeichen größten Abscheus, als er sich der zweiten blutbesudelten Leiche zuwandte und an einer Scheide zog, über welche sich immer noch ein roter Strahl ergoss. »Wenn wir genügend Schwerter zusammenbekommen, vermögen wir beim nächsten Angriff einen WirbeltanzZauber damit zu bestücken und so eine Wand aus sich drehenden Großklingen zu erzeugen. Davon abgesehen zahlt es sich immer aus, sich das anzueignen, was man nicht borgen kann. Nun trödelt doch nicht so!« »Aber gern!« entgegnete der Jüngere mit spitzen Lippen. Er bückte sich, um eine Klinge aufzuheben, welche ihr Besitzer zur großen Erleichterung des Zauberers in seinen Todeszuckungen ein ganzes Stück weit von sich geschleudert hatte. Wenn der gute Klamantel es so furchtbar eilig hatte, wollte Markoun auch nicht säumen. Der Jüngere warf einen Blick auf den finsteren Forst voraus und erschauderte. Wenn die Dunkelheit sie erwischte, während sie hier im-
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mer noch herumstolperten und Waffen einsammelten und gute Aussicht bestand, von einem weiteren Schwall Pfeile oder einem heimtückischen Messer durchbohrt zu werden, dann war der Magier unbedingt dafür, mitten in die Ruinen zu rennen und sich einen göttlichen Abtritt um Anschleichen und Obacht zu scheren! »Schneller!« grollte der Ältere. Er befand sich schon ein ganzes Stück voraus. Markoun machte sich nicht die Mühe, ihn anzusehen oder ihm eine Antwort zu geben. Stattdessen zeigte er ihm halb verdeckt mit den Händen beleidigende Gesten. Urplötzlich wurde der obere Teil einer Wand ganz in der Nähe auseinander gerissen. Im selben Moment ertönte aus einer anderen Richtung, aber ein gutes Stück entfernt, ein kurzer, dann vorzeitig abgewürgter Schrei. Embra war ein wenig blass um die Nasenspitze geworden, als sie jetzt zu dem Ritter hinaufschaute, der sein blutiges und rußgeschwärztes Schwert in der Hand hielt und sie um mehrere Haupteslängen überragte. »Wird sicher nicht ungefährlich, oder?« fragte sie unsicher. Der Hüne schaute sich nach links und rechts um, als links von ihnen hinter einem Gebäude das typische Klirren von Stahl ertönte, mit dem aufeinander eingehauen wurde. Als dann auch noch die Wand einstürzte, deren oberen Teil es vorhin zerfetzt hatte, entgegnete der Krieger nur: »Das tut mir Leid für Euch, sehr sogar.« Aber er lächelte dabei kein bisschen und sah die Prinzessin nicht einmal an. Dafür lächelte Embra, schüttelte den Kopf und machte sich im Schutz von Hawkrils breitem Rücken an die Arbeit. Die
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Zauberin stellte zwei von den geborgenen Gegenständen aus dem Schweigenden Haus auf die Stirn der beiden vor ihr Liegenden und klatschte über jedem einmal in die Hände. Dann beugte sie sich vor, so dass sie sich auf Händen und Knien befand, und erklärte dem Hünen: »Jetzt.« Der Ritter nickte, ohne eine Miene zu verziehen, und sie spürte, wie überraschend sanfte Riesenpranken ihr das Hemd aus der Hose zogen und ihren Rücken freilegten. Nur wenige Fingerbreit von ihrer Wange stieß Hawkril sein Kriegsschwert in den Boden. Danach spürte sie, wie er sein Messer zog und ihr dann auf den Rücken tippte. »Hier?« »J-ja«, stammelte sie in Richtung Boden und biss sich vorsichtshalber schon einmal auf die Lippen. Nun spürte sie etwas Kaltes, gefolgt von einem warmen Rinnsal, und erst dann Schmerz. Wachsenden Schmerz, während Hawkril den verzauberten Talisman in den Schlitz schob, welchen er gerade geschnitten hatte. Zitternd wies Embra ihn an: »Wenn er von allein drinbleibt, tretet einen Schritt zurück.« »Wird erledigt«, meldete der Gefährte für seine Verhältnisse geradezu heiter. Sie hörte das Knarren seiner Stiefel, die sich von ihr entfernten. Die Zauberin atmete nun tief durch, spürte, wie der Schmerz wuchs, und sprach die Beschwörung. Ihr ganzer Rücken schien sich mit flüssigem Feuer zu überziehen, aber damit hatte sie schließlich gerechnet. Aus der Schweißschicht auf ihrer Haut entstand eine andere Welt, und in der erblickte sie: einen kleinen Jungen, welcher wie von Sinnen an einer Kette aus einem Raum der Finsternis und des Todes hochstieg ... Ein Rudel Kriegshunde, das heulend heranrannte ... Ihren Vater, welcher leicht belustigt auf ihren nackten und
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angeketteten Körper hinabblickte und eine Hand voll Edelsteine auf ihre Haut perlen ließ ... »Meine kleine Herrin des Geschmeides«, bemerkte er, »was soll nur aus Euch werden?« Sein tiefes Lachen überspülte sie mit ohrenbetäubender Macht, und Embra fröstelte. Kleine Schwaden von Zauberrauch stiegen unter ihren Fingern auf ... Und ihre Finger spannten sich auf zwei Stirnen, welche sich nun erhoben, bis die Besitzer aufrecht saßen und die Zauberin verwirrt anstarrten. »Löst die Verbindung bitte nicht«, flehte die Prinzessin, ergoss ihren Schmerz in sie, schickte ihn ihre Arme hinauf, bezog magische Energie aus den beiden Gegenständen und sandte auch diese in die beiden Menschen vor ihr. Nur wenige Herzschläge vergingen, da regte sich Sarasper schon unter diesem Ansturm. Er zog und zerrte daran und seufzte erleichtert und befriedigt. Kühle Heilkraft breitete sich in allen dreien aus, und dieses angenehme Gefühl steigerte sich, bis sie gemeinsam stöhnten, seufzten und erbebten. »Wenn Ihr damit fertig seid«, grollte Hawkril wie aus einer anderen Welt, obwohl er doch ganz in der Nähe stand, »sollten wir uns auf den Weg in die Bibliothek machen. Die Leute hier – gleich ob Abenteurer, Krieger und Magier – bringen sich für meinen Geschmack mit etwas zu großer Ausdauer gegenseitig um.« Als Erster sprang Craer auf. Alle Verletzungen waren von ihm gewichen, und er lachte über das ganze Gesicht. »Seit wann könnt Ihr in ganzen Sätzen reden, Gewaltiger Riesengroßer?«
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»Seit ich miterleben durfte, wie weit die Schwatzsucht Euch gebracht hat«, erwiderte der Hüne. Die anderen erhoben sich nun ebenfalls, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg zum Haus der Bücher. Der Eingang zeigte sich als Oval von der doppelten Größe des Ritters. Seine steinerne Oberfläche hatte einst ein Künstler bearbeitet und ihm ein Gesicht verliehen – vielleicht aber dort auch nur ein Bild aus dem Leben eingemeißelt; so wenig war heute noch davon zu erkennen. Wind und Wetter hatten im Lauf vieler Jahre das meiste davon abgeschliffen. Heute ließ sich beim besten Willen nicht mehr feststellen, worüber man hier in früheren Zeiten gestaunt hatte. »Sieht für meinen Geschmack aus wie ein Grabgewölbe«, brummte der Hüne. Craer zog eine Braue hoch: »Vielleicht als letzte Ruhestätte für zu viele Worte?« Ohne abzuwarten, ob der Krieger die Anspielung verstanden hatte, und ohne sich um Fallen, Hinterhalte und ähnliches zu scheren, riss er die Tür weit auf und trat beherzt ein. Die Erbauer mussten die Tür mit einer ausgeklügelten Anlage von Gegengewichten verbunden haben, denn das große Stück ließ sich ohne Mühe und dazu auch noch geräuschlos bewegen. Der Beschaffer bewegte sich geduckt in das Halbdunkel hinein. Hawkril wusste, dass die meisten aus ihrem Instinkt heraus beiseite gesprungen wären – möglichst weit fort von der sich öffnenden Tür. Also nach rechts. »Duckt euch, und begebt euch nach links«, ermahnte er den Heiler und die Hexe. »Und versucht nicht, auf eigene Faust etwas zu unternehmen.«
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Der Ritter begab sich als Letzter in die Ruine. Dabei warf er einen abschließenden Blick auf die etlichen Straßenschlachten, welche noch überall im Gange oder von neuem entbrannt waren. Hätte er noch etwas länger dort verweilt oder die Tür sich einen Moment später hinter ihm geschlossen, wären ihm gewiss die beiden Gestalten aufgefallen. Zwei Zauberer, welche durch den Schutt heraneilten, offensichtlich zu den Gefährten wollten und ihre Gewänder wie Schürzen vor sich hielten – und diese waren angefüllt mit den unterschiedlichsten Stech- und Schneidewaffen. »Schwerter sind krötenwarzenartig schwer«, schimpfte der Jüngere, nachdem er zum ungefähr dreiundsechzigsten Mal gestolpert war. »Können wir sie nicht einfach irgendwo zurücklassen? Oder einfach fallen lassen?« »Nein«, beschied Klamantel barsch und ohne den Blick von der wieder verschlossenen Tür zu wenden. »Trödelt doch nicht so!« Aber schon im nächsten Moment gab ein Stein unter seinem Fuß nach, und er fiel mit gewaltigem Gepolter auf die Nase. »Doch«, erklärte der Ältere dann aus Schaden klug geworden und richtete sich ohne Schwerter und Dolche wieder auf. Markoun konnte ihn nur anstarren, denn es hatte ihm die Sprache verschlagen. »Wir müssen uns in dem Gebäude eben leise und vorsichtig bewegen«, beschloss Klamantel. Dem Jüngeren sollte es recht sein. Er zuckte grinsend die Achseln, ließ den Saum seines Gewands los und sah, ohne
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einzugreifen, zu, wie die ganze stählerne Pracht klappernd auf dem Boden fiel. Doch nicht nur die Befreiung von dieser Last versetzte ihn in gelöste Stimmung. Denn in Gedanken stellte er sich den Älteren gefesselt vor. Besser noch, gebunden und geknebelt. Immer noch heiter schritt er zu der Ruine, ließ sich von Klamantel die Tür aufhalten und trat ein. So gelangte er in das Dunkel, in welchem eben das Fräulein Silberbaum mit ihren drei bewaffneten Begleitern verschwunden war. Während ihm dieser Gedanke durch den Kopf ging, schluckte er, blieb stehen und musste sich von Klamantel mit einem bitterbösen Blick bedenken lassen. Er lächelte verlegten, zuckte die Achseln und trat einen Schritt beiseite. Na, schon wieder bereit, großmächtiger Klamantel, tödliche Zauberkraft zu verschleudern? Wie üblich, was denn auch sonst? Ei, dann verratet mir aber vorher bitte, wie Ihr Euer Ziel erkennen wollt? »Ausschwärmen, geduckt bewegen, keinen Lärm machen und vor allem, nicht zu weit entfernen«, flüsterte Craer ihnen zu und wartete einen Moment, ob sie sich auch alle daran hielten. Ja, wirklich. Er folgte ihnen, und so gingen die vier Gefährten geräuschlos auf Erkundung. Sie schienen in so etwas wie eine riesige und finstere Höhle gelangt zu sein. Hier am Anfang durfte man sich nicht gerade aufrichten, weil man sich sonst den Kopf an der Decke anstieß. Aber tiefer hinein erhob sich der Raum zu staubigen und von Spinnweben bevölkerten Höhen. Craer hob noch einmal beide Hände, um seine Kameraden
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zur Ruhe zu ermahnen. Sie alle gaben sich redlich Mühe. Sarasper stieß sich sogar zwei Finger in die Nasenlöcher, um einen Nieser zu ersticken. Der Gestank von Staub und Moder drang einem aber auch wirklich von allen Seiten in die Nase. Wenn es hier im alten Indraewyn nicht mehrere Bibliotheken gegeben hatte, mussten sie die Büchersammlung des toten Magiers Erluth betreten haben. Die geduckten Gefährten konnten schauen, wohin sie wollten, an allen Wänden waren Bücherregale aufgestellt ... allerdings vollkommen leere. Dunkle und polierte Holzflächen, hin und wieder von einer steinernen Säule unterbrochen. Kreisförmig aufgestellte Regale, dazwischen lange, gerade Gänge, welche strahlenförmig von der Mitte des Raums gleich unter der Kuppel aus auf das halbe Dutzend Ausgänge zustrebten. Sechs Säulen aus schwach leuchtender Luft zeigten sich an der Stelle, wo sie ihren Anfang nahmen. Die Türen wirkten düster, staubig und versperrt; dennoch schienen sie auf etwas zu warten. Da fiel ein Steinchen ... ein gutes Stück weit hinter ihnen. Das Geräusch hallte im ganzen Saal wider. Sie waren also nicht allein. Vielleicht handelte es sich hierbei ja tatsächlich um ein Grabgewölbe – das der vier Gefährten nämlich. Möglicherweise stellte das ganze Gebäude eine einzige Todesfalle dar, um sie mit einem Happs zu verschlucken. Die Gefährten sahen sich an und zeigten dann auf bestimmte Stellen in der Finsternis, welche ihnen besonders bemerkenswert oder besonders unheimlich vorkamen.
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Die Leuchtsäulen wirkten zu weich, dabei konnte es sich unmöglich um Sonnenlicht handeln. Davon abgesehen war die Lichtstreuung auch zu gering. Die Säulen hätten nach außen strahlen sollen. Noch weitere Leuchtquellen ließen sich in dieser Halle ausmachen – von minderer Strahlkraft als die in der Mitte, dafür aber beweglich. Langsam und schweigend bewegten sie sich an einigen Regalreihen entlang oder hinauf... Der Beschaffer hob eine Hand, um den anderen zu bedeuten, sie sollten sich jetzt nicht fortbewegen. Dann deutete er auf Hawkril und nickte zu der Tür, durch welche sie das Gebäude betreten hatten. Hawkril verstand, er sollte sich darauf vorbereiten, dass ihnen jemand folgte. Unmittelbar darauf krabbelte der Beschaffer flink und beweglich wie eine Spinne um ein Regal herum und näherte sich einer Stelle, von welcher aus er einen besseren Blick auf die nächste Leuchterscheinung erhaschen konnte. Dabei handelte es sich offenbar um eine mannsgroße Raupe oder um eine behaarte Schlange. Auf jeden Fall zeigte sich dort ein pelziger Leib, der sich aus einzelnen Teilen zusammensetzte, ziemlich bleich aussah und an einigen Stellen rosafarbene Adern erkennen ließ, welche ihren Standort veränderten. Das Wesen machte irgendwie den Eindruck, nicht hierher zu gehören, so wie eine Made aus dem Erdreich oder eine Muschel, welche man aus ihrer Schale gezogen hatte. Craer beobachtete die Erscheinung, welche geduldig ein Bord entlangkrabbelte, keinerlei Geräusche verursachte, mit dem Kopf wackelte (na ja, jedenfalls mit dem vorderen Ende)
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und anscheinend nach etwas suchte ... Aber wonach? Fleisch? Papier? Laub? Je länger der Beschaffer das Wesen betrachtete, desto mehr erschien es ihm wie eine Raupe – allerdings als der allerungeheuerlichste Vertreter seiner Art. Craer schlich sich noch ein Stückchen näher heran, hatte dann genug gesehen, schlich sich zurück und huschte dorthin, wo er hergekommen war. Embra hätte ihn fast niedergestochen, als er lautlos und ohne Vorankündigung um die Regalecke bog. Zitternd atmete sie aus, und mit einem Grinsen klopfte er der Prinzessin auf die Schulter, um ihr auf diese Weise zu versichern, dass alles in Ordnung sei. Aber was der Beschaffer dann zu sagen hatte, zerschmetterte alle neu gewonnene innere Ruhe. »Männer in Leder bewegen sich dort oben über den Regalen«, teilte er den Gefährten mit, »und sie haben gesehen, dass ich sie beobachtet habe.« Sarasper zog sein Messer, und Embra nahm einen der verbliebenen Zaubergegenstände. Hawkril hielt ja bereits sein Schwert – das Gegenteil wäre auch ungewöhnlich gewesen – und lauschte angespannt, wobei sein Blick langsam von der Tür, durch welche sie gekommen waren, durch das Dunkel wanderte. Die Decke befand sich an den Rändern nur ein kleines Stück über den Spitzen der Bücherregale. Zur Mitte zu wölbte sie sich hingegen immer höher und bildete eine Kuppel. Die Augen der Gefährten gewöhnten sich immer besser an die Dunkelheit, und ohne dass einer ein Zeichen gab, setzten sie sich nun wieder in Bewegung. Geduckt und so leise wie
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möglich schlichen sie voran. Faustgroße Spinnen und schubkarrengroße Tausendfüßler krabbelten vor der Viererbande über den Boden, und unter den Bordbrettern, dort wo die Finsternis am dunkelsten war, beobachteten unheimliche Augenpaare. Weiße, leuchtende Augen und auch sonst nicht so wie die von Ratten oder Mäusen. Voraus zog sich ein Riss über den Boden; so breit, dass man eine Hand hineinstecken konnte. Und irgendwann hatte irgendein Wesen beim Hinein- oder Herauskriechen aus dieser Ritze eine weiße Schleimspur hinterlassen, welche inzwischen vollkommen eingetrocknet war. Auf der anderen Seite verschwand die Spur in den Regalen, unter kräftigen Spinnenweben hindurch, von denen an gewissen Stellen dicke Beutel hingen; über deren Inhalt wollten die Gefährten lieber nicht zu lange nachdenken. Einige Netze zitterten, als zöge irgendein Unsichtbarer an ihnen, oder als ob sich etwas darin verfangen hätte. Die Prinzessin entschied jetzt eindeutig, dass sie sich auf keinen Fall in dieser Bibliothek hinlegen würde, komme, was da wolle und wäre sie auch noch so müde. Schon bei dem bloßen Gedanken hatte sie das Gefühl, etwas Klebriges, Schleimiges oder mit Schuppen Versehenes krabbelte kreuz und quer über ihren Körper. Ein Seitenblick belehrte die Zauberin, dass sie nicht die Einzige mit solch unschönen Gedanken war. Und so bewegten sich die Vier, während sie nach Ledermännern, Rieseninsekten und anderen unangenehmen Zeitgenossen Ausschau hielten, immer weiter auf die Mitte des Raums zu.
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Diese entpuppte sich als große, freie Fläche, und die Lichtsäulen stellten hier die einzige Beleuchtung dar. In deren unheimlichem Glühen konnte man erkennen, dass das steinerne Gewölbe keine Fenster aufwies und einen vollkommenen Kreis bildete. Als die Vier näher traten, entdeckten sie im jetzt besser gewordenen Licht, dass sich über ihren Köpfen eine Galerie entlangzog. Oberhalb der Regale setzte sie sich über die gesamte Weite der Kuppelinnenseite fort. Ein Ring mit einem kunstvoll verzierten Geländer: Laub, fliegende Vögel, knurrende Löwengesichter und das Ganze untereinander verbunden mit Bändern und Schleifen. Erst der zweite Blick belehrte einen, dass das gesamte Schnitzwerk aus Stein bestand und teilweise unter dicken Staubschichten verborgen lag. Viele Türen gingen von der Galerie aus, und ein halbes Dutzend davon stand offen. Wie die Vier so dastanden, bemerkten sie auch schwächeren Lichtschein, der aus den offenen Türen drang und Wolken von sanft schwebendem Staub beleuchtete. Drei Spiraltreppen aus kunstvoll bearbeitetem Stein, welche in regelmäßigen Abständen angebracht waren, führten vom Boden zu dem oberen Gang hinauf und vereinigten sich mit dessen Geländer. Die eigentliche Mitte unter der Kuppel wies nicht mehr auf als Staub, Spinnweben, Geröll und kleine dunkle Häufchen, wo ein Vogel oder Ungeziefer sich zum Sterben hingelegt hatte und verrottet war. Dieser finstere Ort schien als riesiges Grabgewölbe zu dienen. Hier, inmitten der grüne Wildnis und oberhalb der
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Fürstentümer von Aglirta, schienen die Zauberer und ihr Gefolge zusammenzuströmen, nur um festzustellen, dass die Geheimnisse, nach welchen sie suchten, vergangen waren. Vor langer, langer Zeit schon hatte Erluths Bibliothek aufgehört zu bestehen ... »Ausgeplündert«, flüsterte Embra und sah sich mit großen Augen um. »Ich frage mich, wie viele Bände diese Halle wohl enthalten haben mag ...« Craer legte ihr eine Hand auf den Arm und sich einen Finger auf die Lippen. Und wie zur Bestätigung seiner Warnung scharrte rechts von ihnen ein Unvorsichtiger mit seinem Stiefel über Stein ... Und links klirrte unvermittelt Stahl an Stahl, ertönten Flüche, ächzte jemand, fiel etwas Schweres dumpf auf den Boden ... und dann trat wieder Stille ein. Der Beschaffer zog den Heiler und die Prinzessin zu sich heran, damit er ihnen besser etwas zuflüstern konnte. »Wir ziehen uns hinter die erste Regalreihe zurück und dann durch den nächsten Gang fort von hier. Folgt Hawkril.« Er gab seinem Freund ein Zeichen, und die vier Gefährten schlichen äußerst leise davon. Irgendwo wurde eine Tür aufgestoßen, und kurz spülte hellstes Sonnenlicht in den Raum. »Bei der Dreifal...« rief jemand so laut, dass alle anderen erschrocken zusammenfuhren. Dann hielt dem Betreffenden offenbar ein anderer eine Hand vor den Mund. Eine gut gemeinte Mahnung, die dennoch etwas zu spät erfolgte, denn schon vernahm man das Geräusch einer straff gespannten Sehne und dann eines dahinschwirrenden Pfeils. Dem folgte ein dumpfer Aufschlag. Jemand stöhnte, gab erstickte Laute von sich und fiel zu Boden. Seine Rüstung klirrte noch, als der nächste Pfeil her-
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ansauste und ebenfalls sein Ziel fand. »Sterne und Scherben!« fluchte jemand mit einer Stimme, welcher man die aus Angst geborene Wut deutlich anhörte. Dann sang er etwas vor sich hin, bei dem es sich nur um eine Beschwörung handeln konnte. Licht erblühte plötzlich hell und unerwartet inmitten der staubigen Mitte unter der Kuppel. Die Gefährten sahen einander blinzelnd an. Sie hatten gerade den Gang erreicht und konnten nun die Tür erkennen, durch welche sie nach draußen eilen wollten. Nur dass dieser Ausgang von einem verdrehten und gebeugten Baum versperrt wurde, welcher vergeblich versucht hatte, durch das Kuppeldach hindurchzuwachsen. Rings umher hatten die Wurzeln die Steinplatten in allen möglichen und unmöglichen Winkeln nach oben gedrückt. Noch während die Vier hinstarrten, krabbelte etwas mit kleinem Körper und überlangem Schwanz aus dem Licht unter ein Regal. Den nächsten Gang wählten die Vier gar nicht erst, weil sie auch hier nicht weiterkommen würden. Mehrere Regale waren hier eingebrochen und hatten eine für diese Anlage ungewohnte Unordnung an Schutt und Trümmern hinterlassen. Deckenplatten ragten aus dem Geröll und wirkten in ihrer abweichenden Farbe wie die Pocken einer ansteckenden Krankheit. Am Eingang zu diesem Weg war immer noch viel Ruß zu sehen. Offenbar hatte hier einmal ein heftiges, aber nicht allzu großes Feuer gewütet und wohl auch den Einsturz bewirkt. Hawkril und Craer sahen sich kurz an, dann führte der Beschaffer die kleine Schar auf dem Weg zum nächsten Gang
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durch die von der Mitte aus gesehen zweite Regalreihe. Hier fanden sich tatsächlich noch Bücher auf den Borden. Embra stieß einen leisen Entzückensschrei aus und wollte schon hin zu den Bänden, aber da stellte sich ihr die schmale Klinge des Beschaffers in den Weg. Noch während die Prinzessin sich über solcherart Behinderung erregte, musste sie sich zu ihrem weit größeren Ärger eingestehen, dass der Gefährte Recht hatte. Bei den Büchern handelte es sich nämlich keineswegs um solche, sondern um braune und schwarze Pilze, welche den Eindringlingen jetzt ihre Sporen entgegensandten. Eine ganze Wölke bierfarbener Winzpilze schwebte heran. Wieder gab die Herrin der Edelsteine einen Laut von sich, doch diesmal einen des Abscheus und des Widerwillens. Einen Moment später wäre sie beinahe aus dem Stand aus ihrer Unterhose gesprungen, als Hawkril ihr ohne Vorwarnung eine schwere Hand auf die Schulter legte. »Wenn Euch der Sinn nach Büchern steht«, erklärte er ihr mit seiner tiefen Stimme geradezu liebenswürdig, »dann wendet Euren Blick auf die Lichtsäulen, und zwar ein Stück hinauf.« Die Prinzessin begab sich zu einer Stelle, wo sie an dem Gewirr von Spinnweben vorbei nach oben spähen konnte. Und sie bekam ein Wunder zu schauen. Innerhalb einer jeden der zauberischen Leuchtsäulen befand sich außerhalb der Reichweite eines normal großen, auf dem Boden stehenden Menschen ein ziemlich aufgeschlagenes Buch, welches ohne sichtbare Aufhängung einfach in der Luft schwebte. »Oh!« brachte die junge Frau nur zu Stande und lief schon wie von selbst und ohne nachzudenken zu den Lichtsäulen
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zurück. Hawkrils ausgestreckte Pranke und Craers schmales Schwert erreichten die Zauberin ungefähr zum selben Zeitpunkt. Aber sie blieben nicht allein, denn ebenso rauschte etwas aus der Dunkelheit in der Mitte heran. In einem Blitz sauste eine Gestalt in wehendem Gewand an den schwebenden Büchern vorüber und landete mit einem unheimlichen, dumpfen Knall auf dem Boden. Die Baronstochter schluckte, denn mehr blieb ihr unter dem festen Griff der Schwarzgult-Abenteurer auch gar nicht übrig. Zusammen verfolgten sie, wie ein weiterer Magier in ihr Blickfeld rückte. Er summte wie eine riesige, flügellose Wespe durch die Luft, schien sich besonders für eines der Bücher zu erwärmen, drang in die Lichtsäule ein und griff danach. Aber seine Hand fuhr durch den Band hindurch. Mit tief gerunzelter Stirn starrte er auf den Wälzer und ahnte so nichts von den Armbrustbolzen, welche von drei verschiedenen Seiten aus den Regelwänden heransausten. Stöhnend zuckte der Zauberer unter jedem Treffer zusammen, riss die Arme hoch und sackte doch mit dem Körper nach unten und geriet rasch außer Sicht. »Bei der Dreifaltigkeit!« murmelte die Zauberin und schüttelte sich, als erwache sie gerade aus einem furchtbaren Traum. Zu ihrer Rechten tauchte wieder eine der leuchtenden Riesenraupen auf und kroch über die Borde. Diese erwiesen sich als weitgehend leer, wenn man vom Schimmel in den Ecken und einigen Moderhaufen absah. Dieses Wesen trug am Schädel Hörner, welche sich aber bewegten und deswegen eher die Bezeichnung Fühler verdien-
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ten. Ständig rollten sie sich zusammen und wieder auseinander. Geradezu träge kroch die Raupe Stück um Stück voran. Als sie der Menschen ansichtig wurde, hielt sie an und richtete die vordere Hälfte auf, so als wollte sie sich diese Wesen genauer anschauen. Doch ebenso rasch verlor die Raupe das Interesse an diesen wunderlichen Fremden und entfernte sich von ihnen. Die Raupe verschwand in einer unglaublich langen Prozession zwischen den Regalbrettern. Ein leuchtender Körperteil nach dem anderen rutschte außer Sicht. Die Herrin der Edelsteine schaute denn auch schon wieder auf die sonderbaren Häufchen auf den Brettern. »Ich frage mich, was da einmal geschrieben stand ...« Etwas knallte dumpf rechts von ihr, und dem folgte ein metallisches Kratzen. Den vier Gefährten blieb kaum die Zeit, sich darüber zu erschrecken, als zwei von Kopf bis Fuß gepanzerte Gestalten um ein Regalende gesprungen kamen. Beide waren mindestens so groß und breit wie Hawkril. Ihre Gesichter ließen sich unter den Kriegshelmen nicht erkennen, dafür konnte über ihre Absichten aber kein Zweifel aufkommen. Mit gezücktem Schwert stürmten sie auf die Viererbande zu, hackten und hieben durch die Luft, als gelte es, diese in dünne Wurstscheiben zu schneiden, und machten auch sonst den Eindruck, als würden sie nichts lieber tun, als die Gefährten zu tranchieren. Hawkril fasste sich als Erster, schob sich durch seine Freunde nach vorn und stellte sich den Angreifern. Er hieb die fremden Klingen mit kraftvollen Schlägen seines eigenen Schwertes beiseite, und wenige Momente später krachte,
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grunzte und klirrte es vor den drei Zurückgebliebenen, dass es seine Art hatte. Die drei Kämpfer umtanzten einander wie Gäste auf einer fröhlichen Lustbarkeit. »Aber einer tödlichen Lustbarkeit«, murmelte Sarasper und wurde im nächsten Moment von Embra umgestoßen. »Alter Mann!« fuhr sie ihn an. »Wie kann ich jemals einen Bann abschicken, wenn Ihr mir dauernd dazwischenquatscht?« Sie hätte ihm wohl gern noch mehr an den Kopf geworfen, aber nur ein schriller Schrei löste sich noch aus ihrem Mund. Denn einige Tentakel legten sich um ihren Bauch, schoben sich zwischen sie und den Heiler und hätten sich wohl Sarasper um den Hals gelegt, wenn der sie nicht mit Fausthieben abzuwehren versucht hätte. Wo immer die Tentakel ihre Haut berührten, spürten die beiden die Betäubung von Leben saugender Magie. Hinter diesen mörderischen Gliedmaßen tauchte nun auch der Verursacher eines solchen Angriffs auf: ein Jüngling mit lockigem Haar und dem Gewand eines Zauberers. An seiner Schulter befand sich das Wappen des Barons von Ornentar, und die Erregung der Jugend leuchtete in seinen braunen Augen. Aus seiner ausgestreckten Hand fuhren die Tentakel und wurden ständig durch neue Zauberenergie gestärkt. Er lachte irre, als die Tentakel sich dem Alten und der jungen Frau wie ein Wall näherten. »Sterbt, wer immer ihr auch seid, denn ihr seid des Todes!« Ein Tentakel wickelte sich um eines von Embras Handgelenken, und sie wollte sich kreischend davon entfernen. Sarasper entdeckte weitere dieser glitschigen Ranken, welche
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ihrem Gesicht und ihrem Hals zustrebten. Er zückte rasch sein Messer, stach damit auf die Tentakel ein und wünschte, er könne ... Ein Kopf rollte über das obere Ende des Bücherregals, und dem folgte ein einzelner Arm. Blut spritzte von dessen Fingerspitzen, als er langsam hin und her schwang. Als alle drei auf diese Merkwürdigkeit schauten, sprang ein flinker Schatten aus dem Schatten über der Leiche, und eine vertraute Gestalt sprang mit den Füßen voran in den Gang. Hurtig zu landen und den Jüngling in die Lockenpracht zu treten, dass dessen Kopf gegen das Regal flog, war eins. Schädelknochen knackten, Blut spritzte, und noch während der fremde Magier ganz an der Regalwand hinabgerutscht war, wurde sein Blick schon glasig. Sein Kopf hinterließ auf dem Holz eine dunkle und schmierige Spur. Craer kniete schon bei ihm und zog ein Gebinde aus dem Gürtel des Toten, welches wie eine Rebe aus Perlen aussah. Winzige Lichtpunkte waren in deren Tiefen zu erkennen. Er betrachtete das Gebilde genauer, las laut »Aleglarma« und verfolgte gebannt, wie die Lichtlein aufflammten und aufeinander zurasten. Der Beschaffer erhob sich, holte in derselben Bewegung aus und schleuderte die Perlentraube über die Köpfe von Hawkril und seiner beiden Gegner hinweg auf die freie Fläche in der Mitte des Saals. »Nein, nein! Ihr Narr!« schrie die Prinzessin. »Das wird doch ...« Die Strahlkraft der Sonne breitete sich im nächsten Moment zwischen den Lichtsäulen aus. Das ganze Gebäude erbebte, und in seinem Innern hallte es wie von einem Don-
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nerschlag wider. Die Gefährten riss es von den Füßen, und die beiden schwer gepanzerten Soldaten purzelten übereinander und rollten in die Mitte der Vier. Als das Rütteln und Schütteln verging, wälzte sich Hawkril mitten im Staub auf dem Rücken, und ein Ritter lag auf ihm. Die Zauberin schrie und eilte ihm zu Hilfe. Mit bloßen Händen zerrte sie an dem Helm des Feindes, und Craer war schon zur Stelle, um diesem sofort ein Messer in den Hals zu stoßen. Gemeinsam und schnaufend wuchteten sie den Krieger von ihrem Gefährten. Aber sie hätten sich die ganze Anstrengung sparen können. Der Feind hing schlaff in ihren Armen, und als sie ihn ein Stück angehoben hatten, entdeckten sie zweierlei: Allerlei Flüssigkeiten rannen aus dem Mann, und Hawkril hatte ihm sein Schwert durch eine Lücke in der Rüstung bis zum Griff in den Bauch gebohrt. Vermutlich steckte die Klingenspitze im Hals des Bedrängers. »Hawkril?« fragte Embra trotzdem besorgt und mit zittriger Stimme. »Ist mit Euch alles ...« »In Ordnung?« beendete der Hüne für sie den Satz. »Ich glaube schon. Die Explosion hat den Mistkerl auf mein Schwert geworfen ... und mein Handgelenk fühlt sich immer noch ganz taub an.« Ein metallisches Knirschen ertönte, die Zauberin und der Beschaffer wirbelten herum, und sie bekamen zu sehen, wie der Heiler sein Messer in den Augenschlitz des Helms vom zweiten Krieger stieß. Der lag benommen an der Seite und regte sich nicht. Danach senkte sich tiefste Stille über die Bibliothek ... welche dann vom Schnaufen und Scharren des Hünen unterbrochen wurde, welcher sich mühsam aufrichtete und dann
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seine Rippen abtastete. Die Prinzessin starrte zur Mitte des Gebäudes und trat zögerlich einen Schritt darauf zu. Und danach noch einen. »Wunder der Dreifaltigkeit!« flüsterte sie dazu begeistert und auch mit ein wenig Ehrfurcht. Halb hatte die junge Frau schon erwartet, am Treffpunkt der Gänge nur noch Asche und Rauch anzutreffen. Doch die Lichtsäulen und mit ihnen die schwebenden Bücher befanden sich noch ohne sichtbaren Schaden dort. Die Edle drehte sich um und entdeckte Craer an ihrer Seite. »Sind wir jetzt endlich allein?« fragte sie ihn mit hoffnungsfrohem Unterton. »Nein, Her..., äh, Embra«, antwortete der Beschaffer. »Der Schleicher, welchen ich vorhin ausgemacht hatte, hält sich noch hier auf, dazu mindestens ein Magier. Die beiden und vermutlich noch ein paar Gegner mehr haben sich hier irgendwo verzogen.« »Ich muss mir unbedingt diese Bücher dort genauer anschauen«, erklärte ihm die Zauberin, »Aber wie soll ich das anfangen?« »Könnt Ihr nicht mittels eines Zaubers hinauffliegen?« »Doch, natürlich, aber ich mache mir wegen der Bögen Sorgen.« »Ängstigt Euch lieber vor Pfeilen und Bolzen«, wandte Hawkril ein, »Bögen sind für sich genommen recht ungefährlich.« »Wirklich wahnsinnig komisch«, entgegnete die Prinzessin ungehalten. Sie trat noch einen Schritt vor, und dann einen weiteren. Die Gefährten versuchten diesmal nicht, sie aufzuhalten.
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»Könnt Dir Euch nicht mit einem Schild schützen?« fragte der Beschaffer. »So wie der Zauberer draußen hinter der Mauer?« Die junge Frau steckte einen Finger in den Mund. »Doch, das ginge ... aber jeder Magier könnte ihn durchdringen ...« meinte sie dann gedehnt. »Ein oder zwei Pfeile ließen sich dennoch leicht abwehren ... aber kaum ein ganzes Dutzend ... Dann erhöbe sich allerdings noch die Frage, inwieweit die Lichtsäulen einen Bann beeinträchtigen ... Einfach hineinzufliegen, erscheint mit doch etwas zu gewagt, und außerdem ...« »Tut es einfach!« drängte der Beschaffer und verdrehte die Augen. »Der beste Rat, welchen ich Euch geben kann, lautet so: Bleibt nicht stehen, schwebt nicht lange an einer Stelle. Saust hierhin und dahin. Schießt unter die Decke, und geht im nächsten Moment im Sturzflug nieder. Wenn jemand auf Euch schießt, fliegt in eine andere Richtung ...« Ein neuer Einfall kam ihm: »In dem Fall merkt Ihr Euch die Stelle, von welcher das Geschoss gekommen ist, fliegt hoch dorthin, und wir laufen los und sehen zu, was wir tun können, um den Schützen zum Schweigen zu bringen.« Embra starrte ihn an, und so etwas wie Jagdfieber trat in ihren Blick. Im nächsten Moment fuhr die Prinzessin sich mit beiden Händen ins Mieder, zog zwei zerbeulte Figürlein heraus und sang mit ihrer Hilfe dermaßen hastig Beschwörungen, als hinge ihr Leben davon ab. Ein dumpfer Aufprall aus der nächsten Regalreihe setzte Hawkril in Bewegung. Er rannte los und traf dort einen Krieger an, den ein schwerer Armbrustbolzen an ein Regalbrett genagelt hatte. Blut strömte ihm über den Rücken, und seine
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Füße zitterten unzusammenhängend. Ob der Feind sich hier schon lange verborgen hatte, oder ob er gerade erst hierher gelangt war ... Der Hüne schaute sich nach links und rechts, oben und unten um, aber von dem Schützen war nichts zu sehen. Hawkril kehrte gerade zu den anderen zurück, als die Zauberin sich vom Boden löste, in die Luft emporstieg und den Eindruck erweckte, sie liefe über die obersten Regalbretter. Doch noch höher ging ihr Flug. Sie erreichte die nach innen gewölbte Decke der Bibliothek und schwebte an ihr hinauf. Bislang hatte sich Embra weder ein Pfeil noch ein Bolzen genähert, und die drei am Boden verbliebenen Gefährten hörten von nirgendwo Geräusche – nur ihren eigenen Atem. »Ich hoffe nur, die Kleine fliegt nicht mittenmang in eine Falle«, murmelte der Kriegsmann. »Ihr habt doch gesehen, wie die Hand des Magiers durch die Bücher hindurchgefahren ist. Diese Bände sind gar nicht da!« »Das ist doch nur Bardengeschwätz, dass irgendwo jemand gewaltige Banne und noch mehr Gold aufwendet, um irgendwo Fallen aufzustellen«, entgegnete der Beschaffer. »Die Bücher schweben offen und aufgeschlagen in den Säulen. Gewiss enthalten sie Nachricht für einen Zauberer.« »Oder gleich steigen Tauben daraus hervor«, erwiderte der Hüne. »Wenn das nicht zu viel verlangt ist. Immerhin ist kein Magier sichtbar und in der Nähe.« »Ihr seid wirklich ein immer währender Born der Heiterkeit«, murmelte Craer und versuchte, Embras Tonfall zu treffen, wenn die sich über die Witze ihrer Gefährten ausließ.
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Hawkril grinste – und erstarrte im nächsten Moment, als die Prinzessin nämlich wie ein Stein aus der Kuppel fiel ... sich dann aber ebenso unvermittelt wieder fing und zu der Stelle im hinteren Teil flog, wo man Runen angebracht hatte. Embra warf einen Blick darauf, schien die Zeichen studieren zu wollen und flitzte endlich wieder davon, als sei ein Wespenschwarm hinter ihr her. Die beiden Freunde und der Alte am Boden spitzten die Ohren, um das typische Schwirren von Bolzen oder das Summen von Bogensehnen zu vernehmen. Aber nichts dergleichen, in der Bibliothek herrschte immer noch die größte Stille. Kurz darauf befand die junge Frau sich wieder in ihrer Nähe. Sie sauste zwischen den Lichtsäulen hin und her. Vor einer verlangsamte Embra ihren Flug, betrachtete kurz den Text, drehte noch eine Runde, kehrte dann zu demselben Band zurück und schoss unmittelbar darauf senkrecht nach oben. Die Männer unten sahen noch, wie sie stolz das lange Haar schüttelte, dann war sie auch schon in der Dunkelheit unter der Kuppel verschwunden. Sie nickten anerkennend, weil die junge Frau bis jetzt alles richtig gemacht hatte ... »Drauf wütete der Goldene Greif... Fauchte seinem Erzfeind entgegen ... Welcher thronte in seines Nestes Pracht ...Wo neue und starke Junge wuchsen heran ...« murmelte die Zauberin vor sich hin, während der Fahrtwind über ihre Schultern sauste. »Bei dem Erzfeind dürfte es sich um einen Silberbaum gehandelt haben«, schloss sie in Gedanken. »Und das Nest wird Haus Silberbaum gewesen sein ... zumindest wenn der Text schon ziemlich alt ist. Sollte er aus jüngeren Zeiten stammen,
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wird wahrscheinlich Burg Silberbaum gemeint sein ... Aber ich kann mir nicht helfen, mir kamen die Verse eher sehr alt vor ...« Die junge Frau nagte an ihrer Unterlippe und schoss wieder aus den höchsten Höhen hinab. Im Sturzflug wanderte ihr Blick über die Regalreihen und suchte nach Pfeilen, Männern in Rüstung und Augenpaaren, welche ihr unfreundlich entgegenstarrten. Da glaubte sie, ein gutes Stück von ihren Gefährten entfernt eine verdächtige Bewegung auszumachen. Doch als Embra noch einmal dorthin starrte, entdeckte sie nichts außer Finsternis und Schimmelsporen. Das Buch, in welchem sie vorhin gelesen hatte, zeigte sich ihr noch immer in der gewohnten Weise. Es beruhigte die Prinzessin sehr, die gleichen Zeilen wieder lesen zu können. Die junge Frau flog weiter, bremste vor dem nächsten aufgeschlagenen Band ab, überflog den Text und las leise: »Der Hort gefallener Majestät, dessen Herr und Namensgeber längst fort, mit all seinen Gütern zu einer Perle, im hurtigen Silberfluss gelegen. Einem Schildwall gleich, winters Wellen zu spalten ...« Na, das lag doch wohl auf der Hand: Bei der Perle handelte es sich um die Silberbaum-Insel und bei dem Hort gefallener Majestät wiederum um Haus Silberbaum ... Wenn diese Texte Hinweise auf den Verbleib eines Dwaer geben wollten, deutete vieles auf Haus Silberbaum als Ruhestätte hin. Sicher würde sie im dritten Buch mehr finden ... Da zerplatzte vor ihr die Welt in einem Sturzbach aus den buntesten Farben. Gleichzeitig grollte es aus der Kuppel, als tobe dort das schlimmste Unwetter. Staub regnete in Strömen, und aus den Stellen, wo die Blitze einschlugen, rasten
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der Prinzessin lange, schlangengleiche Hälse und schnappende Mäuler mit nadelscharfen Zähnen entgegen. Embra erschrak so sehr, dass ihr der Atem wegblieb und sie nicht schreien konnte. Explosionen peinigten die Luft zusätzlich, sorgten aber auch dafür, dass die Mäuler die junge Frau nicht erreichen konnten. Doch wenn eine dieser Eruptionen Embra traf, fühlte sich das so an, als hätte sie einen Faustschlag erhalten. Unter diesen Hieben purzelte sie hin und her, flog hilflos durch Lichtsäulen und aufgeschlagene Bücher hindurch und musste feststellen, dass die Schlangen noch lange nicht aufgegeben hatten. (Aber wenigstens wusste sie jetzt, dass es einen Zauberer nicht das kleinste bisschen seiner Banne kostete, durch eine Lichtsäule oder einen der Bände zu gleiten.) Die Schlangenmäuler kamen näher und näher, und die junge Frau fühlte sich langsam wieder krank ... schwach, leer und ausgelaugt ... Wann immer aber einer dieser Angreifer mit den Leuchtsäulen in Berührung kam, zerschmolz er und ging in dem Licht auf. Embra schaute sich das in Ruhe an, denn ihr unfreiwilliger Purzelflug näherte sich seinem Ende. Sie näherte sich der Kuppelwand und traf mit entgegenkommender, abgewiesener Luft zusammen. In der Kuppel hallte es immer noch wie während eines Glockengeläutes wider, aber jetzt konnte die Prinzessin neben diesem Getöse auch noch andere Geräusche heraushören: Gebrüll von Männern, Klirren von Schwertern ... da unten war ein erbittertes Gefecht im Gange. Ein Schrei ließ sich besonders deutlich vernehmen, weil er
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von anderen Stimmen aufgenommen und wiederholt wurde. Während die junge Frau versuchte, ihr Fluggleichgewicht zurückzugewinnen, hörte sie immer wieder: »Für Ornentar! Zum Sieg!« Ob es Kriegern jemals aufgefallen war, wie ewig gleich sich ihre Schlachtrufe anhörten? Die Baronstochter schüttelte den Kopf und flog durch spärlicher herabregnenden Staub nach unten. Einige Schlangenmäuler schnappten noch nach ihr, waren aber viel zu langsam, um die fliegende Zauberin zu erwischen. Embra strebte den Regalen zu, vor welchen sich Craer und Hawkril gegen schwer bewaffnete Soldaten zu behaupten versuchten. Die beiden Gefährten standen Rücken an Rücken und hackten und hieben um sich. Ganz in der Nähe hüpfte der Alte umher. Winzige Blitze zuckten zwischen seinen Fingerspitzen. Er schien einen Zauber zu wirken, welchen die Zauberin noch nicht kannte. Aber wollte er damit heilen ... oder Tod und Vernichtung bringen? Jenseits der Krieger ließen sich zwei Männer ohne Rüstung erkennen. Die in Roben Gewandeten hatten grausame Gesichter und kalte Augen. Der eine hatte die Hände gehoben, und Schweiß stand ihm auf der Stirn. Seinen zusammengebissenen Kiefern sah man an, wie sehr er alles, was in ihm steckte, in sein Werk hineinzwang. Seine Kiefer erinnerten Embra an die der Schlangenwesen. Der zweite übertraf den ersten an Jahren, und seine ganze Miene mit den wintergrauen Augenbrauen strahlte Macht aus. Als sein Blick auf die Prinzessin fiel, fingen seine Lippen an, sich zu bewegen. Rauch oder Schatten löste sich von seinen Fingerspitzen.
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Wenn sie sich von dort erhoben, dehnten sie sich aus und verwandelten sich in finstere Flugwesen, welche mit ihren Schwingen die Luft wie mit Obsidianklingen durchschnitten. Embra erkannte, dass es sich bei ihnen um Fledermäuse handelte. Die junge Frau runzelte die Stirn ... auch dann noch, als sie sich zur Seite warf, um dem zu entgehen, was der Mann mit den kalten Augen ihr noch entgegenschleudern würde. Hatte Bannmeister Ambelter – Embra schüttelte sich, als sie in ihrem Gedächtnis sein Gesicht wieder sah – nicht einmal beiläufig einen Magier erwähnt, welcher weiter flussabwärts lebte und sich selbst Herr der Fledermäuse nannte? Die Flugtiere umkreisten jetzt des Magiers Arme und auch den Kopf. Mindestens zwei Dutzend hatte der Mann mit den kalten Augen bereits erschaffen, und die Prinzessin beschloss, sich möglichst weit von diesem Zauberer zu entfernen. Vielleicht würde es nützen, die Lichtsäulen zwischen sich und den Fledermausherrn zu bringen. Sie musste es schaffen, sie würde es schaffen ... sie musste es schaffen, sie würde es schaffen ... Dann wurde sie plötzlich wie ein Blatt von einem Sturmwind gepackt. Der schleuderte sie fort, und wieder blieb ihr die Spucke weg. Gleißende Helligkeit überzog die Welt und blendete die junge Frau. Im selben Moment verschwand ihr Gehör, und das Unwetter schleuderte sie gegen vorspringenden Stein. Davon prallte sie ab und stürzte in bodenlose Leere. Hatte sie sich den Arm gebrochen? Oder den Hüftknochen? Oder war ihr Körper nur so betäubt, dass sie nichts mehr in ihren Gliedmaßen fühlte?
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Embra versuchte, den Kopf zu drehen und sich gründlich nach Verletzungen zu untersuchen. Doch sie bekam nur ein verwirrendes Gemenge aus roten Blutfäden zu sehen, welche hinter ihr herflatterten ... und auch durch ein weißes und allgegenwärtiges Glühen. Dann traf etwas mit ihr zusammen – etwas Hartes, Glattes und Festes –, und Embra glitt daran entlang, bis sie zum Stillstand kam. Auch wenn sie halb durch etwas hindurchgefahren war, fühlte die Prinzessin sich doch endlos erleichtert, doch noch die Ruhe der Schwärze zu finden ... Craer sprang aus dem Stand hoch, trat sein Gegenüber an den Nasenbügel und fand einen Moment Zeit, um nach oben und quer durch die Kuppel zu schauen, bis sein Gegner sich genug gefangen hatte, um erneut anzustürmen. Embra lag halb auf der Galeriebrüstung und drohte, den Halt zu verlieren. Blut tropfte aus ihrem offenen Mund. Ihr Kopf bewegte sich, oder schaukelte er nur hin und her ...? »Sie lebt noch!« brüllte der Beschaffer. »Unsere Gefährtin lebt!« Hawkril antwortete mit freudigem Grummeln darauf, und seine Klinge kreischte, als er sie durch eine Brustplatte bohrte. Aus dem dazugehörigen Helm ließ sich ein Ächzen vernehmen, gepanzerte Schultern sackten herab, und Hawkril bewegte sich mit dem Sterbenden. Indem er ihm das Schwert aus der Brust zog, stieß er es schon dem nächsten Gegner in die Achselhöhle – der war so unvorsichtig gewesen, an seinem Kameraden vorbeizuwollen, um den Hünen von der Seite anzugreifen. Dieser hier ächzte nicht, er schrie vor Todesschmerzen.
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Der Hüne hielt sein Schwert nun mit beiden Händen, um es nicht zu verlieren. Der erste Gegner schlug im Todeskampf wild um sich, während der zweite zurückwich. Mit einem schmatzenden Geräusch löste sich der Stahl aus seiner Achselwunde. Der zweite Krieger kam kaum zwei Schritte weit, da brach er auch schon stöhnend zusammen. Craer wehrte derweil einen Schwerthieb ab, doch der war mit solcher Wucht geführt, dass der Beschaffer auf die Knie fiel. Der Krieger aus Ornentar stellte sich siegesgewiss über ihn, so als wolle er ihn endgültig an den Boden nageln. Sarasper riss eine Hand voll Schimmelpilze aus dem nächstbesten Regal und warf die dem Angreifer ins Gesicht. Tatsächlich flogen einige davon durch die Augenschlitze. Nur einen Moment später musste der Soldat niesen, und wieder, und noch einmal. Der Alte knirschte mit den Zähnen, versuchte, sich nicht von dem Krieger kirre machen zu lassen, welcher sich mit gezücktem Schwert heranschlich, und stieß dem Nieser seinen Dolch unter den Helm, sobald der wieder niesen musste ... und beim nächsten Mal wieder. Da fauchte hinter ihm hellstes Licht, und der Heiler fuhr erschrocken herum. »Hawkril?« schrie Sarasper laut und voller Furcht und versuchte, in dem Rauch mit seinen weißen Lichtpunkten irgendetwas zu erkennen. »Ich lebe noch!« knurrte der Hüne. »Achtet Ihr lieber auf Eure Deckung!« Wieder musste der Heiler sich rasch herumdrehen, hob abwehrend den Dolch und machte sich auf einen Schlag gefasst. Doch der Krieger beachtete ihn gar nicht. Er schien
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kein anderes Ziel zu kennen, als gegen Hawkril anzutreten. Der riesige Kriegsmann grinste, winkte dem Ritter lockend zu und holte dann mit seinem Schwert aus. Wie auf ein geheimes Zeichen hin explodierte wieder die Welt hinter ihm. Den Heiler trug die Wuchtwelle hinaus aus dem Kampfgeschehen. Unterwegs riss er einen Ornentaraner von den Beinen, und gemeinsam krachten sie gegen ein Bücherregal. Das war solche Behandlung nicht gewohnt, geriet ins Schaukeln und kippte dann langsam vornüber. Doch auch andere Borde und Regale gerieten, angeschoben von der Explosion, aus dem Gleichgewicht. Donnerartiges Getöse füllte alles aus. Dazu brach oberhalb der betreffenden Regale die Decke auf, und es regnete Staub und Steine. »Silberbaum!« ertönte nun ein wilder Schlachtruf mit kaltem Triumph in der Stimme. Er schien aus dem jenseitigen Ende des allgemeinen Tumults zu kommen. Dem folgte etwas furchtbar Helles, welches lanzengleich heranflog, aber nur einen Moment lang leuchtete und dann verschwand. Seine Helligkeit brannte aber noch viel länger auf der Netzhaut der Kämpfer. Dann traf der Lichtspeer einen Krieger aus Ornentar, und der kippte wie ein gefällter Baum. Rauch quoll aus seiner Rüstung. Überall flogen nun Fledermäuse herum, und der Magier, welcher in ihrer Mitte stand, hielt nun nach der neuen Bedrohung Ausschau. Dann sprach er mit kalter Stimme ein Wort, malte vor sich ein Zeichen in die Luft, und schon verzog sich der Rauch, als schiebe ihn eine unsichtbare Hand beiseite. Darunter erwartete den Zauberer ein Anblick vollkom-
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menster Verheerung und Zerstörung. Regale und Borde lagen kreuz und quer herum, als sei ein schwerer Sturm durch ein Sägewerk gefegt. Hier und da bereicherte ein zerschmetterter oder erschlagener Menschenkörper das Bild. Auf der anderen Seite standen zwei Magier und grinsten sich eins, als sie den Zauberer mit den Fledermäusen entdeckten ... und den zweiten Zauberer, welcher sich gerade aufrappeln wollte und feststellen musste, dass seine Füße sich ganz nahe bei der Klinge des grimmig dreinblickenden Hawkril befanden. »Silberbaum?« höhnte der Herr der Fledermäuse. »Ihr zwei seht viel zu jung aus. In eurem Alter dürftet ihr in dem hinterwäldlerischen Fürstentum höchstens die schmutzigen Gewänder von richtigen Zauberern waschen!« Der ältere der beiden Magier aus Silberbaum hob empört eine Augenbraue. »Dem Meister der Fledermäuse, dem Herrn Huldaerus läuft ein sagenhafter Ruf voraus. Vor allem seine unerreichte Höflichkeit wird allerorten gerühmt. Jetzt, da ich vor ihm zu stehen die Ehre habe, darf ich beglückt erfahren, dass die Wahrheit die Sage noch übertrifft.« Er legte eine Hand an seine Schläfe: »Klamantel und Markoun aus Silberbaum, zu Diensten, Euch in die Hölle zu schicken.« »Große Worte!« grinste der Herr der Fledermäuse. »Habt ihr denn auch schon gelernt, Worten Taten folgen zu lassen?« Huldaerus hob nicht einmal die Hände, und dennoch schossen Blitze aus den Ringen an seinen Fingern, kreischten über die zerschmetterten Regale und strebten den beiden jungen Magiern zu. Doch auf halbem Weg trafen die Geschosse auf ein un-
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sichtbares Hindernis, versuchten vergeblich, dies zu überwinden, und vergingen schließlich in schwarzen Funken. Klamantel gestattete sich ein fettes Grinsen und ließ die immer noch erhobene Hand sinken. Ein Steinblock von der Größe eines ausgewachsenen Mannes löste sich nun gehorsam aus der Decke und stürzte nach einigem Reißen und Krachen auf Huldaerus hernieder. Doch in Wahrheit begrub er einen Ritter unter sich, wie an den Rüstungsteilen erkennbar wurde, welche darunter hervorragten. Der Herr der Fledermäuse tauchte hingegen an den Regalen wieder auf, genau dort, wo vorhin noch ein Krieger aus Ornentar sein Schwert geschwungen hatte. Dem alten Zauberer blieb aber kaum die Zeit, ein höhnisches Lächeln aufzusetzen, da musste er sich schon des anderen Silberbaum-Magiers erwehren. Markoun hob eine Hand, und eine Feuerkugel raste auf den Gegner zu. Huldaerus verging das Lächeln, und er duckte sich mit reichlich Hast und wenig Würde hinter das Regal. Markouns Bann explodierte mit einem Krachen, und die Flammen griffen sofort hungrig auf die vor langem aufgegebenen und trockenen Borde über. »Nicht schlecht«, bemerkte der andere Zauberer aus Ornentar, zog kurz eine Augenbraue hoch und stellte sich den beiden Silberbaumern vor: »Gestatten, Phalagh, Berufsmagier.« Hawkrils Klinge war noch flinker als die Banne von Markoun und Klamantel. Dennoch fuhr der Stahl durch den lächelnden Phalagh hindurch, und der Berufsmagier löste sich in Rauch auf. Der Ornentaraner bedachte ihn mit einem bösen Grinsen:
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»Ihr kommt später an die Reihe, dämlicher Hund.« Damit trat er durch das Regal, an welches er sich gelehnt hatte, und war nicht mehr zu sehen. Einen Moment später flog eine ganze Wand von Regalen in die Luft, und ihre Überreste regneten als Splitter herab. Klamantel hatte immer noch die Hände erhoben und spähte nach seinem Gegner. Doch der ließ nur von tiefer in den Reihen ein meckerndes Lachen vernehmen. Da der jüngere Silberbaum-Magier die Hände noch nicht sinken ließ, setzte sich der Bann fort, und eine Reihe nach der anderen zerplatzte, doch fortlaufend mit geringerer Wucht, weil die Zauberenergie mit jeder neuen Explosion etwas nachließ. Als die letzten Regale ächzend in sich zusammenbrachen, bekamen die anderen den Zauberer Huldaerus wieder zu sehen. Dieser versuchte gerade, eine Tür in einer Wand zu öffnen. Jeder hätte schwören können, dass dieses Mauerwerk vorher noch nicht da gewesen war. Die Wand umschloss einen keilförmigen Raum, wie nun ohne die Regalwände erkennbar wurde. Huldaerus drehte sich um, gewahrte die Blicke der anderen und zischte wütend etwas vor sich hin. Er berührte die Tür noch einmal, sie verschwand in einer Rauchwolke, und der Herr der Fledermäuse verschwand einfach dahinter. Als Markoun wieder die Hände erhob, kam Bewegung in Phalagh, und er rannte seinem Kollegen hinterher. »Ob es sich dabei um Erluths Zauberkammer handelt?« bemerkte Klamantel und starrte so eindringlich dorthin, als wollte er die Mauern mit seinen Blicken durchdringen.
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»Was immer sich dort auch befinden mag«, erwiderte Markoun knurrend, »Huldaerus hat sich dorthin zurückgezogen, um Zeit zu gewinnen und neue Zauber gegen uns zu wirken oder sich mit Waffen zu versorgen. Kommt, wir müssen ihm nach!« In dem Raum, in welchen sich der Herr der Fledermäuse zurückgezogen hatte, herrschten vornehmlich Staub und Dunkelheit vor. Doch wer genau hinhörte, vernahm den Widerhall von zahllosen einstmals gewirkten und längst vergessenen Bannen. Sie fingen leise an zu klirren, als der Magier aus Ornentar hereinstürmte und die Zauberechos des Bannduells ihm auf den Fersen folgten. Ja! Bei dieser Örtlichkeit musste es sich um Erluths Zauberkammer handeln. Wenn die Dreifaltigkeit sich als gnädig erweisen würde, fände sich hier womöglich ein Bann oder ein Zepter, mit welchem man diesen Silberbaum-Störenfrieden die Suppe versalzen könnte. Seine Feldermäuse quiekten um ihn herum und teilten ihm aufgeregt mit, dass der Raum leer stünde. Huldaerus ließ seine Finger wie Fackeln aufleuchten und suchte die Wände nach Runen, Lagerfächern und geheimen Öffnungen ab. Aber da war nichts ... Ruch auf die Dreifaltigkeit! War er am Ende in eine Falle gelaufen? Der Ornentaraner fuhr herum und wirkte mit zitternden Fingern den stärksten Abwehrschild, welcher ihm auf die Schnelle einfiel. In seiner Hast hätte er sich beinahe vertan. Dann verwünschte er erst recht sein Schicksal, als ein ornentaranischer Krieger mit gezücktem Schwert und wildem Blick
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hereingestürmt kam. Hinter ihm ließ sich draußen vor der Tür der ältere der beiden Silberbaum-Magier erkennen. Allem Anschein nach wob er gerade einen Vernichtungszauber. Huldaerus wappnete sich mit seinem Schild und stellte sich aufrecht und ruhig hin; denn er spürte, dass der Abwehrzauber seinen Körper von Kopf bis Fuß bedeckte. Zur Sicherheit suchte er den ganzen Bann nach Schwachstellen ab und fand nicht die geringste ... Noch während er sich in dieser Gewissheit wiegte, explodierte der Raum rundherum in einer Orgie von Gelb, Grün und Lila – ein magischer Brand, welcher sich wie eine Welle über die ganze Kammer ergoss. Der Krieger, welcher sich noch an der Wand entlangtastete, schrie gurgelnd. Er rutschte unter der Feuersbrunst zum Boden, und damit verging auch sein Schrei. Sein Fleisch und seine Knochen zerkochten und zerschmolzen zu einem roten Brei, welcher sich über den Boden ergoss und die Rüstung wie einen Schildkrötenpanzer hinter sich zurückließ. Überall verwandelten sich die Fledermäuse in formlose Gebilde und prasselten wie heftiger Regen auf den Boden, wo sie wie rohe Hühnereier aufplatzten. Zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren verspürte der Großmeister tiefe Angst. Er machte auf dem Absatz kehrt, wollte von all diesen Schrecknissen nichts mehr sehen, stürzte durch die Tür und hoffte, sein Schild würde lange genug halten, um das Fleisch fressende Feuer lange genug von ihm fern zu halten. Natürlich rannte er damit genau in die Fallen hinein, welche die Silberbaum-Magier für ihn aufgestellt hatten, und die
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beiden wussten, dass er das früher oder später tun würde. In seiner Not erschuf Huldaerus eine Fledermaus nach der anderen. Er spürte, wie sie an ihm hochkletterten, sich an seinem Hals versammelten oder an seinen Seiten vorbeistrichen. Wenn es ihn erwischte, bedurfte es nur einer einzigen seiner Fledermäuse, um durch sie wieder aufzuerstehen ... Viele lange und kalte Jahre konnten allerdings vergehen, bis er Gelegenheit erhielte, seine Rache zu nehmen. Aber dass er sich irgendwann rächen würde, daran konnte dann kein Zweifel bestehen. Der jüngere der Silberbaum-Bannschmiede konnte in seiner jugendlichen Ungeduld nicht lange genug warten. Noch ehe Huldaerus die Tür erreicht hatte, trat er schon vor. Ein roter Kranz erschien oberhalb seines Handtellers in der Luft. Aus dem roten Leuchten entstand ein Strahl, welcher die Luft selbst zu versengen schien. Der Herr der Fledermäuse lief zu schnell, als dass er diesem Strahl noch hätte ausweichen können. Also ließ er sich einfach nach vorn fallen – und ehe er auf dem Boden aufschlagen konnte, tat der sich unter ihm auf. Rotes Feuer wütete weiter über dem Magier, ohne ihm jedoch etwas anhaben zu können. Huldaerus raste längst an steinernen Hängen entlang in eine Grube hinunter. Erluth musste hier, an der Schwelle zu seiner Kammer, eine Art Falltür gebaut haben, und... Nein, keine Falle! Eine Abfallgrube – für Gebeine. Ein Massengrab für die Opfer von Zauberbannen. Der Magier purzelte durch die Reste von Gerippen und einzelne Knochen. Unter der Wucht seines Körpers lösten
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diese sich in Staub auf. Endlich kam er vor ein paar Steinen, welche aus den Grubenwänden (denn um solche handelte es sich bei den Hängen) gefallen waren, so heftig zum Halt, dass es ihm den Atem verschlug. Noch recht benommen richtete der Alte sich wieder auf, zuckte mehrmals zusammen, als es ihm hier und da wehtat, und versuchte, wieder ruhiger zu atmen. Eines wusste Huldaerus jedoch nur zu gut: Er musste so rasch wie möglich aus dieser Grube. Am besten noch bevor ihn der nächste Zauber traf. Hier unten kam er sich vor wie auf dem Boden einer Flasche. Seine Feinde mussten nur oben am Flaschenhals erscheinen, um ihm ohne viel Federlesens den Garaus zu machen. Der Magier sah sich um und erkannte, dass er nur etwa zwanzig Fuß tief gefallen war. Die Wände setzten sich aus lose aufgeschichteten und nicht mit Mörtel verbundenen Steinen zusammen, zwischen denen ein Kletterer leicht Halt fand. Der Herr der Fledermäuse schickte zwei seiner Geschöpfe aus seinem Kragen nach oben, und als denen dort nichts Verdächtiges auffiel, biss er die Zähne zusammen und folgte ihnen. Er kam gut voran, und er würde es schaffen. Jawohl, er würde rechtzeitig aus der Grube hinauskommen, und er würde ... Seine Hand fasste ziemlich weit oben auf einen kleinen und ziemlich unauffälligen Stein ... Ein Stoß Zauberenergie drang wie ein Blitz in seinen Arm ein, erfasste seinen ganzen Körper, lähmte ihn ... und Huldaerus fand sich inmitten der Knochen auf dem Grund der Grube wieder. Staub tanzte vor ihm in der Luft.
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Der Alte schüttelte den Kopf, um Klarheit in ihn zurückzuzwingen, denn er wusste nicht mehr, wo er sich befand. Was für eine gewaltige Energie ihn da gerade getroffen hatte! War so etwas denn möglich? Wie dem auch sei, diese Energie konnte er jetzt gut gebrauchen. So sehr hatte er noch nie zuvor der rohen und unverbrauchten reinen Zauberkraft bedurft. Also machte Huldaerus sich wieder an den Aufstieg, rutschte auf halbem Weg ab, blickte zufällig nach oben und entdeckte dort den jüngeren der Silberbaum-Zauberer, welcher ihm hämisch zugrinste. Der Herr der Fledermäuse knirschte vor Wut und Verzweiflung. Dann setzte er seinen Weg nach oben fort und schrie in gespieltem Entsetzen: »Es frisst mich auf! Zu Hilfe! Es hat mich erwischt! Kommt mir bloß nicht zu nahe! Rette sich, wer kann!« Markoun aber lachte nur schallend. Sei’s drum, Huldaerus hatte den kleinen sandfarbenen Stein erreicht und zog und zerrte ihn aus der Wand. Dann hielt er ihn hoch, und dem Silberbaumer verging augenblicklich das Lachen. Das reichte Huldaerus als endgültiger Beweis. Mit klopfendem Herzen machte er sich klar, dass er den Stein des Lebens zwischen den Fingern hielt! Mit erhobener Hand stieg Huldaerus auch den Rest hinauf, und ihm war nach Jubel zu Mute. Dann ließ er die Zauberenergie in sich einströmen und wirkte einen mächtigen Bann, an den er sich früher nie gewagt hatte. Der alte Mann hielt die leibhaftige Macht in der Hand. Einen der Dwaer, mit welchen sich ganz Darsar um- und neu formen ließ!
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Einen Moment später durfte Markoun Yarynd unfreiwillig an dieser Gewissheit teilhaben.
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Wenn man auf einem Stein steht C Die Feuer, welche auf den Herrn der Fledermäuse herniederregneten, hätten ihn auf der Stelle braten müssen. Die Steine, an welchen er sich festhielt, zerplatzten und zerbarsten jedenfalls unter diesem Ansturm und überschütteten ihn mit Splittern. »Zu spät, ihr Schnösel«, erklärte Huldaerus seinem Feind mit feistem Grinsen und genoss es sichtlich, im Mittelpunkt eines Feuersturms zu stehen. Während die Flammen vergingen, starrte ihr Erzeuger blöde zu ihm herab und schluckte ungläubig. Sein Kollege trat eben zu ihm, schaute in die Grube, verlor sofort seinen gelangweilten Gesichtsausdruck, zog für einen Moment die eine Augenbraue hoch ... Und beeilte sich zusammen mit Markoun, tödliche Banne in die Knochengrube zu schleudern. Huldaerus unternahm nichts, während Blitze krachten, Feuerlanzen heranrauschten und ihm Speere aus reiner Zauberenergie um die Ohren flogen.
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Im Gegenteil, der Alte lachte herzhaft ... selbst dann noch, als die Steine unter und neben ihm zerschmolzen, der Boden absackte und die Grube immer tiefer wurde. Völlig unbeeindruckt stand er da, während um ihn herum alles auseinander fiel, Feuer tosten und tödliche Gase sich zu Sturmwinden vereinigten. Und irgendwann war auch dieser Angriff vorüber. Nur der jüngere der beiden Silberbaumer beugte sich noch über den Rand. Von dem anderen war nichts mehr zu sehen. Vermutlich hatte er das Hasenpanier ergriffen. Huldaerus betrachtete den dummen Tropf, welcher vergebens auch noch seine letzten Banne aufgebraucht hatte und jetzt ziemlich ratlos dastand. Rauch kräuselte sich spiralförmig von seinen Fingern hoch. Verzweiflung trat in Markouns Blick, als ihm klar wurde, dass sein Ende unmittelbar bevorstand. Reglos schaute er zum Herrn der Fledermäuse hinab. Huldaerus schenkte ihm ein freundliches Lächeln und schickte dann Todesflammen hinauf. Zuerst noch ganz schwache, die sich dann aber rasch zu unglaublicher Heftigkeit steigerten. Das Lächeln verging ihm genauso wenig wie der Feuerstrom, bis von Markoun Yarynd nicht mehr als ein paar fettige Flecke an der Decke übrig geblieben waren, welche noch etwas nachzischten. Der Herr der Fledermäuse ließ sich Zeit und verfolgte, wie rußgeschwärzte Steine beim Abkühlen knackten. Die Schlachtgeräusche über ihm scherten ihn im Moment überhaupt nicht. Dafür freute er sich zu sehr darüber, dem Tod im letzten Moment von der Schippe gesprungen zu sein ...
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und natürlich über die unendliche Macht, welche ihm nun zu Gebote stand. Schließlich grinste er über einen neuen Einfall und brannte Stufen in den zum Teil noch glutflüssigen Stein der Grubenwände. Gut möglich, dass Ornentar nun zum mächtigsten Fürstentum im Tal wurde, sagte er sich in bester Stimmung. Verdient hätte das Land es ja. Und dazu musste er kaum mehr Mühe auf sich nehmen, als aus diesem Loch zu steigen, die übrig gebliebenen Soldaten um sich zu versammeln, und dann ... Würde er erst einmal Phalagh beseitigen. Ein unangenehmer Bursche, welcher seine neugierigen Augen überall hatte. Gewiss würde der Jüngere auch nichts unversucht lassen, dem Älteren den Stein abzuluchsen oder gar zu stehlen. Huldaerus hasste diesen Wichtigtuer und fürchtete ihn gleichzeitig. Denn schließlich musste auch er einmal schlafen ... Der Meister der Fledermäuse schuf sich aus bloßer Luft Handschuhe, damit er sich beim Aufstieg über den glühenden Stein nicht immerzu die Finger verbrannte. Nachdem er ein gutes Stück vorangekommen war, verriet ihm ein durchdringender Ledergeruch, dass er auch etwas für seine Füße unternehmen sollte. Aber wenn schon, bei der Dreifaltigkeit, er konnte mit diesem magischen Stein mehr Zauber bewirken, als ihm einfallen würden. Als er aus der Grube gestiegen war, tat er so, als sei er am Ende seiner Kräfte. Die kleine List wirkte, denn schon kam Phalagh herbeigerannt, um ihn zu stützen. Aber war das wirklich eine List gewesen? Nein, eigentlich fühlte Huldaerus sich wirklich vollkommen erschöpft. Er
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schüttelte den Kopf, als sich alles um ihn zu drehen begann. Wenn man so lange Zauber wirkte und lenkte ... Der Dwaer mochte in seiner Energie ja unerschöpflich sein, aber Huldaerus blieb es vorbehalten, aus dieser Energie etwas zu formen und zu schaffen ... Sein Kollege und Landsmann aus Ornentar beugte sich besorgt über ihn. In diesem Moment öffnete der Herr der Fledermäuse die Augen, lächelte sein Gegenüber an und sandte ihm einen Bann ins Gesicht, welcher ihm das Fleisch von den Knochen schälen würde. Dieser Zauber vernichtete sowohl denjenigen, welchen er traf, als auch den, welcher ihn gewoben hatte. Für gewöhnlich setzten ihn nur solche Magier ein, welche zum Untergang verurteilt waren und ihren Peiniger mit in den Tod nehmen wollten. Phalagh blieb nicht einmal mehr die Zeit, einen Schrei auszustoßen. Er blickte ähnlich blöde drein wie vorhin der jüngere Silberbaumer. Seine blutglänzenden Überreste purzelten noch in die Grube, als der Lebensstein damit fertig wurde, seinen zerlegten Besitzer wiederherzustellen. Huldaerus konnte nun endlich seine so oft verhinderte Rückkehr in die Bibliothek vollenden. Dort angekommen, musste er nicht lange nach seinen Soldaten Ausschau halten. Sie sammelten sich vor ihm und erwarteten seine Befehle. »Alles ausradieren«, wies er sie an und deutete in einer lässigen Geste auf die Regale. »Räuchert diesen Ort aus, und lasst nichts und niemanden am Leben.« Gehorsam drehten sie sich um und setzten sich in Bewegung, um seinen Auftrag auszuführen. Der Herr der Fledermäuse sah ihnen hinterher.
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Schöne Gedanken kamen ihm, und er lächelte in sich hinein. Wenn ich König des Tals geworden bin, wie muss es dann in meinem Reich aussehen? Das Gefecht dauerte sehr lange an, und zwei weitere Ornentaraner fielen. Der letzte nahm einen gepanzerten Riesen aus Brostos mit sich. Die beiden schnauften und grunzten in ihrer verbissenen Anstrengung, den anderen immer wieder Stahl in den Leib zu jagen. Als die Soldaten zu den Lichtsäulen zurückkehrten, in deren Mitte Huldaerus stand, waren nur noch drei von ihnen übrig. »Ist alles in dieser Halle ausgerottet?« fragte der Herr der Fledermäuse. Ein Soldat schüttelte zögernd den Kopf. Er hob einen schartigen Kampfhandschuh und zeigte in einen der Gänge. »Die Hexe lebt noch und hat sich mit ihren Gefährten zusammengetan.« »Dann bringt sie doch für mich um«, lächelte Huldaerus. »Oder veranlasst euch irgendetwas dazu, an meinen Befehlen zu zweifeln?« »Nein, Herr, niemals!« versicherten die Krieger ihm übereifrig, machten kehrt und marschierten ihrem Tod entgegen. Sie hatten bereits den halben Weg zum Feind zurückgelegt, als aus einem Regal eine Lichtklinge drang. Als die drei diese angreifen wollten, wurde ein Regal umgestoßen und zerschmetterte einen der Ornentaraner unter sich. Der schrille Todesschrei des Unglücklichen vergällte dem Herrn der Fledermäuse doch ein wenig die gute Laune. Er hob einen Holzsplitter von einem der zerfetzten Regale auf und hielt ihn an den Lebensstein.
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Dazu schloss Huldaerus die Augen und murmelte etwas vor sich hin. Als er die Augen wieder öffnete, schmolz alles Holz in diesem Teil der Bibliothek dahin, und seine beiden verbliebenen Getreuen konnten die vier Feinde nun deutlich sehen, gegen welche sie anzutreten hatten. Was für vier Jammergestalten, die sich dort auf dem nackten Boden zeigten. Bei dem einen, einem Riesen, handelte es sich wohl um einen Ritter. Er blickte ruhig drein, so als fürchte er sich nicht vor dem Kampf. Seine Schultern wirkten so breit wie ein Burgtor ... Aber die anderen: ein alter Zausel, ein kleingewachsener Mann, kaum größer als ein Kind, und eine hinkende Frau, welche reichlich benommen wirkte. Als die beiden Soldaten auf dieses letzte Aufgebot zuschritten, freute sich Huldaerus schon, hier gleich Zeuge eines Gemetzels zu werden. Leider bekam der Herr der Fledermäuse stattdessen etwas ganz anderes geboten: Als Erster landete einer seiner Soldaten auf dem Rücken. Der kleine Mann, ein Beschaffer, sprang ihm von der Seite gegen die Beine. Und der andere Krieger zog sich feige immer weiter vor der kühn und erfahren geschwungenen Klinge des Hünen zurück. Huldaerus verzog das Gesicht. Er hob den Lebensstein und wirkte einen Bann, welcher aus der Luft eine Wolke von wirbelnden Äxten erschuf und diese in das Kampfgebiet sandte. Seinen beiden Kriegern würde das dank ihrer Rüstung wenig ausmachen, aber was die vier Jammergestalten anging ...
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Er gestattete sich gerade ein schadenfreudiges Grinsen, als seine eben erzeugten Zauberwaffen kurz aufleuchteten, dann erloschen und schließlich nicht mehr zu sehen waren. Sein Bann war zunichte gemacht! Hinter den blitzenden Schwertern der Kämpfer tauchte jetzt die Frau auf. Sie wirkte überhaupt nicht mehr benommen, sondern sah ihn schnippisch an. Das Lächeln, welches sie dann aufsetzte, wirkte wie das Versprechen seines Untergangs. Huldaerus sah das junge Ding kurz von oben herab an und hob lässig den Lebensstein, damit sie erkennen konnte, wem sie da gegenübertrat. Der Dwaer gab sein Bestes, indem er auf seiner Oberfläche ein blaues Energiegewitter erzeugte. Doch einen Moment später hoben sich die Steinplatten unter seinen Füßen an, als schiebe eine Riesenfaust sie von unten hoch. Der Herr nicht nur der Fledermäuse, sondern auch des Lebenssteins landete unsanft auf seinem Hintern, und die unverschämte Hexe lachte ihn aus. Huldaerus kochte vor Zorn, und noch ehe er wieder aufgestanden war, stieß er wieder den Stein hoch und schickte diesem frechen jungen Ding eine Ladung Energieblitze entgegen, um sie Anstand zu lehren. Die Kämpfer zuckten in dem blauweißen Prasseln zusammen, und noch ehe der Alte sich und seine Dummheit verwünschen konnte, waren die Blitze auch schon erloschen. Die Krieger stöhnten und ächzten, ehe sie wieder mit ihren Schwertern aufeinander losgingen. »Bei den Hörnern der Herrin!« schimpfte Huldaerus. »Sterbt endlich, elende Zauberin!« Er griff tief hinein in die Energie des Steins und wirkte
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dann den stärksten Schlachtzauber, welcher ihm auf die Schnelle einfiel. Der würde ihm so mörderische Kopfschmerzen eintragen, dass die Barden davon singen könnten, und danach würde er bestimmt eine Woche schlafen müssen, aber wenn er damit diese ungezogene Göre zermalmen, dann unbehelligt aus Indraewyn hinausspazieren und seinen Dwaer sicher fortschaffen konnte, sollte ihm das alles recht sein. Wie ein schwarzes Gespenst der Rache stieg der Bann über ihm auf, setzte sich in Bewegung und wogte wie schwerer Seegang. Huldaerus verfolgte äußerst befriedigt, wie die junge Frau den Zauber erkannte und erbleichte. Das gefiel dem Alten. Wenn die Hexe im Moment vor ihrem Untergang begriff, was da über sie kam, stellte das zusätzliche Würze für seine Rache dar. Erst den Silberbaumer Magier, dann Phalagh und jetzt auch noch diese Hexe hier ... Hei, was würde das ein Spaß werden, das Tal hinauf und hinab einen Zauberer nach dem anderen umzubringen! Bis keiner mehr übrig wäre und in Sirlptar und dem Meer bis zu den singenden Kopfwassern im Ödland (wo immer das auch liegen mochte) nur noch der Herr der Fledermäuse sich darauf verstünde, einen Bann zu wirken! Welch herrliche Aussicht! Und danach könnte er ... Embra wehrte sich mit dem Mute der Verzweiflung, während der schleichende Tod ihr immer näher kam. Gegen diesen Bann kannte sie keinen wirksamen Gegenzauber. Einer Todeswolke konnte man nur mit dem Tod selbst begegnen – entweder dem des Opfers oder dem des Wirkers. Also blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als einen alterfah-
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renen Magier zu erschlagen, welcher über die ungeheure Macht eines Weltensteins verfügte. Die Prinzessin lächelte bitter. Eine Kleinigkeit für die Herrin der Edelsteine, oder? Sie zog sich ein Stück von den Kämpfenden zurück, um etwas Zeit zu gewinnen. Seien es auch nur ein paar Atemzüge, Hauptsache, ihr fiel ein Ausweg ein. Unbeirrbar folgte ihr die Todeswolke, ragte bald drohend über ihr auf und breitete sich noch mehr aus, um ihr Opfer ganz zu verschlingen. Embra stolperte über einen Stein, der aus der Decke gebrochen war, und wäre beinahe hingeschlagen. Und ... Moment, das war doch die Lösung, oder? Sie bückte sich, griff mit beiden Armen unter den Stein, bediente sich der Energie des letzten oder vorletzten Zaubergegenstands aus dem Schweigenden Haus, bekam den Brocken den zwölften Teil einer Fingerbreite vom Boden angehoben und keuchte einen Sprungzauber hinaus ... Im nächsten Moment schwebte sie in der Luft, und gleich unter ihren Stiefeln befand sich Huldaerus. Die Zauberin ließ den Stein los und schleuderte sich selbst höher in die Luft hinauf, um möglichst weit fortzukommen. Der Meister der Fledermäuse erhielt noch die Gelegenheit, einen Blick nach oben zu werfen, aber nicht mehr, entsetzt zu keuchen ... Dann zerschmetterte ihn der Stein am Boden und zerquetschte seinen Kopf zwischen sich und den harten Platten. Doch noch vermochte er, die Finger zu bewegen. Die Prinzessin sauste nach unten, um seine Hände zu zertreten. Ein Unterarm zerknackte unter ihren Stiefelsohlen wie Zunder, und sie sprang wieder und wieder darauf. Schließlich erstarrte auch die andere Hand, öffnete sich im Tode und ließ
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den Lebensstein los, der matt vor sich hin leuchtete. Die Todeswolke löste sich auf. Embra warf sich sofort im Hechtsprung dorthin, ächzte von der neuerlichen Anstrengung und brachte den kleinen und runden Stein an sich. Die Krieger hatten inzwischen ihren aussichtslosen Kampf gegen Hawkril und Craer eingestellt und stürmten nun lieber mit erhobenem Schwert auf die Prinzessin zu. Selbst ihre Helme schienen sie bedrohlich anzustarren und ihr einen ebenso raschen wie endgültigen Tod zu verheißen. Die Prinzessin rollte herum, kam auf die Füße, rappelte sich auf und rannte zur nächsten Treppe. Ein scharfes Sausen ertönte, als ein Schwertstreich sie nur knapp verfehlte. Dann schrie der Beschaffer, wie er es immer tat, wenn er etwas Schweres warf. Hinter ihr fluchte jemand, dann plumpste etwas schwer zu Boden, und sie erreichte die erste Stufe. Mit der Linken presste die Fürstentochter den Weltenstein an ihre Brust, und mit der Rechten hielt sie sich am Treppengeländer fest. Wie ein Sturmwind raste Embra die Stiege hinauf. Erst als sie nur noch die letzte Windung der Wendeltreppe vor sich hatte, hörte sie hinter sich das Scharren von Stiefeln – das konnte nur von einem Verfolger stammen! Endlich oben! Außer Atem erreichte sie die Galerie und sah sich einigen Türen gegenüber ... sämtlich geschlossen. Aber halt, da stand eine offen, und zu der sprintete die Hexe. Sie brauchte dringend einen oder zwei Momente der Ruhe, um wieder zu Atem zu kommen und die Energie des Steins für sich einzusetzen, ehe eine Schwertschneide ihr den Kopf vom Rumpf trennte.
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In dem Raum hinter der Tür herrschte trübes Licht, welches durch drei hohe Fenster hereinfiel. Dieses beschien ein Dutzend oder mehr zerfallender Stühle, welche man um einen langen Tisch angeordnet hatte, der schon vor langer Zeit zusammengebrochen war. Die Prinzessin fuhr herum, schloss die Tür hinter sich und musste entdecken, dass das Schloss des Riegels längst durchgerostet war. Damit bestand keine Möglichkeit mehr, diesen Raum zu versperren. Embra fluchte leise vor sich hin und lief zu den Fenstern. Ehe einer dieser Panzermänner sich über sie hermachen konnte, würde sie sich lieber aus einem der Fenster stürzen. Das ganze Gebäude erbebte, als sei es von einer Riesenfaust getroffen worden. Grollend wie Donner kam die Decke herunter. Kreischend warf sich die Zauberin aus dem nächsten Fenster, und das keinen Moment zu früh; denn schon regnete es Steine und stiegen Staubfahnen hoch. Der Dwaer ermöglichte es Embra zu fliegen und sogar auf der Stelle zu schweben. Sie schwang sich hoch, weil die Landestelle, welche sie sich vorhin ausgesucht hatte, sich mittlerweile in eine Trümmerwüste verwandelte ... Und fand sich Klamantel Beirldoun gegenüber. Der stand oben auf dem Dach eines Nachbarhauses und ließ gerade langsam die Arme sinken, nachdem er versucht hatte, die gesamte Kuppel der Erluth-Bibliothek zum Einsturz zu bringen. Der Magier wurde weiß wie eine Wand, als er den Stein in der Hand der Thronfolger in entdeckte. »Ja!« zischte Embra, als sie an ihm vorbeiflog, »fürchtet Euch nur, williger Knecht meines Vaters! Die Angst soll Euch nie mehr verlassen!«
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Die Zauberin zog in einer Steilkurve wieder hoch und suchte nach einer Stelle, von welcher aus sie damit beginnen konnte, Zauberer zu erschlagen. Das Getöse war ohrenbetäubend, und der Boden bebte unter ihren Füßen. Überall kamen schwere Brocken herunter und zerschlugen die Galerie und deren Geländer. Staubfahnen schössen wie Rauch hoch, der von einem windgepeitschten Feuer aufsteigt. Im trüben Glühen und krachenden Lärmen bemerkte niemand die drei Fledermäuse, welche sich von der Leiche des Huldaerus lösten; und auch nicht, dass ein herabfallender Stein eines dieser Tiere zurück auf den Boden zwang. Die noch nicht zerschmetterte Hand des Altmeisters zuckte noch einmal, als wolle sie etwas ergreifen, welches nur für sie wahrzunehmen war, und lag dann still da. Das Tosen ließ langsam nach, und der herumfliegende Staub fing an niederzusinken und begrub die Hand des Herrn der Fledermäuse. Bereits ein gutes Stück entfernt flatterten zwei dunkle Tiere aus Leibeskräften und strebten dem Wald zu. »Hawkril?« rief eine zu heisere Stimme, musste zum Husten innehalten und schrie dann: »Craer?« Etwas bewegte sich durch das Halbdunkel, ein huschender Schatten, welcher einem Ornentaraner den Dolch in den Hals stieß und dann so flink eine Wendeltreppe hinunterhuschte, als würde er schweben. »Hawkril?« wollte die heisere Stimme wieder wissen. »Wo steckt Ihr denn?« Der feindliche Soldat, welcher sich heimlich zu dem Rufer
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schlich und das Schwert zum tödlichen Hieb hob, kam unvermittelt ins Straucheln, verlor den Boden unter den Füßen, weil ein starker Arm ihn in den Schwitzkasten nahm und hochhob, und erstarrte dann, als eine Dolchklinge durch den Augenschlitz seines Helms kam. Der Schatten eilte schon weiter, noch bevor der Ornentaraner auf dem Boden landete. Als Hawkril einen Moment später die Stelle erreichte und nach Sarasper oder einem neuen Feind Ausschau hielt, war der Schatten längst hinter dem wirbelnden Staub verschwunden. Als Nächstes bestieg der Schatten ein Bücherregal, und diesmal konnte man ihn sogar im Leuchten der Lichtsäulen sehen. Tatsächlich entdeckte ihn jemand, wie er katzengleich über das Holz schlich und sich dem ahnungslosen Hawkril Anharu näherte. Ein Dolch blitzte auf, als der Schatten nach unten sprang, die freie Hand nach der ungeschützten Kehle des Opfers ausstreckte und den Stahl zum Zustechen erhob. Doch da erschien ein zweiter Schatten aus dem Staubregen und sprang mit dem einen Stiefel gegen den hochgerissenen Dolcharm und trat mit dem anderen gegen die dazugehörige Kopfseite. Dann rollten die beiden Schatten gemeinsam über den Boden, rangen miteinander und lösten sich voneinander. »Craer?« rief der Hüne, drehte sich um und trottete auf den ersten Schatten zu, welche er an seinem kleinen, schlanken Körper wiederzuerkennen glaubte. Doch da zeigte sich plötzlich auch noch ein zweiter Schatten, und beide gingen mit ihren Messern aufeinander los. Hawkril blieb vorsichtshalber erst einmal stehen, spähte über
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sein erhobenes Schwert und versuchte zu erkennen, wer von den beiden sein Freund sein mochte. Eine Stahlkugel flitzte an Craers Schläfe vorbei. Er duckte sich sofort zur Seite und spürte eher, als dass er es sah, wie sich eine Schnur im Gefolge der Kugel um seinen Arm wickelte. Der andere Beschaffer zog hart an dem dünnen Seil und versuchte, Craer so in seinen ausgestreckten Dolch laufen zu lassen. Der Kleine aber trat fest auf und sprang dann in die Richtung, in welche er gezogen wurde. Seinen Dolch hielt er mit beiden Händen, um die feindliche Klinge besser abwehren zu können. Gleichzeitig zog er die Beine an, um feste dorthin zu treten, wo er den Bauch seines Gegners vermutete. Aber seine Absätze trafen nur etwas, das sich mitten in der Auflösung befand. Dann vernahm Craer unweit seines Ohrs ein gehässiges Kichern, und im nächsten Moment legte sich die gewachste Schnur um seinen Hals – und wurde rasch zugezogen. Der Kleine ließ sich gleich auf den Rücken fallen und trat wild um sich. Er hoffte, seinen Gegner auf diese Weise aus dem Gleichgewicht zu bringen, ehe er selbst hilflos und würgend am Boden lag. Im Halbdunkel über ihm zeigte sich jetzt ein Riese, streckte sein Schwert aus und piekte damit den anderen Schatten. »Kleiner Tänzer«, grollte Hawkril, »wer seid Ihr?« Irgendwo aus dem Dunkel ertönte die Antwort in geradezu heiterem Tonfall: »Luthtuth werde ich gerufen, und Euer Tod ist heute gewiss!« Jemand ganz in der Nähe schnaubte, und dann ließ sich Sarasper vernehmen: »Wie oft habe ich mir solche wilden
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Sprüche schon anhören müssen? Nur Flegel äußern sich so. Nur ungehobelte Flegel! Nie vernimmt man einmal ein ›Ich muss Euch jetzt ein wenig umbringen, weil mein Herr das von mir verlangt.‹ Oder: ›Eines sollt Ihr noch wissen, Euer Tod ist sechs Goldkronen wert, und diese Summe bezahlt –‹ Aber die jungen Leute heute haben ja alle kein Benehmen mehr, kein Gefühl für Sitte und Anstand.« Luthtuth blieb ihm die Antwort nicht schuldig: »Schwatzsüchtige Plapperer bringe ich sogar umsonst um. Macht Euch also darauf gefasst, der erste zu sein!« Sarasper machte nur »Ph!«, und als der Schatten ihn ansprang, war der Heiler schon längst nicht mehr dort. Statt seiner krabbelte ein Langzahn durch den treibenden Staub. Die Gefährten hörten ihn aus einiger Entfernung rufen: »Embra? Wo seid Ihr? Wir brauchen Euch!« Wer da rief, da gab es kein Vertun, und dass der Betreffende in Nöten steckte, ließ sich ebenfalls nicht leugnen. Dabei hatte sich die Edle Silberbaum gerade so köstlich damit unterhalten, den Magier ihres Vaters zu scheuchen und zu peinigen. Seufzend ließ Embra nun davon ab und flog durch das offene Fenster in die Bibliothek zurück. Sie musste nur zweimal kurz in Gedanken die Zauberenergie des Steins anzapfen, um den Staub zu verscheuchen und in ihrer Flugbahn die schönste Beleuchtung zu schaffen. Zauber zu wirken ermüdete einen rasch, daran änderte auch die endlose Energie des Weltensteins nichts, aber wenigstens fühlte Embra sich danach nicht mehr so völlig zerschlagen wie früher, und bei der Dreifaltigkeit, so machte das Banneschmieden wirklich Spaß! Überall lagen Schutt und Geröll herum, und mittendrin
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steckten ihre drei Gefährten und ein Fremder. Sarasper befand sich auf halbem Weg eine Treppe hinauf. Bei seinem Verfolger handelte es sich um einen geduckt rennenden, schlanken Mann – nach Tracht und Gebaren ließ sich bei ihm auf einen weiteren Beschaffer schließen –, und so wie er das Messer hielt, konnte kein Zweifel daran bestehen, dass er den Heiler niederstechen wollte. »Soll ich den da für Euch vernichten?« rief die Zauberin schon von weitem und ging in eine Flugkurve. »Ihr gönnt mir aber auch nicht das kleinste Vergnügen!« beschwerte sich Craer und fügte gleich hinzu: »Na schön, meinetwegen.« Embra schüttelte den Kopf, weil er selbst in einer solchen Situation scherzen konnte, und schleuderte dem Fremden eine Salve Blitze entgegen. Doch der Schatten sprang rasend schnell über eine geborstene Theke und verschwand dahinter in einem Loch, welches sich bis in ungeahnte Tiefen erstreckte. Die Prinzessin hielt an und runzelte die Stirn. »Ich möchte eigentlich ungern dort hinunter«, verkündete sie ihren Gefährten, welche sich unter ihr versammelten. »Lasst uns doch hinauf auf die Galerie. Von dort können wir es früh genug erkennen, wenn er zurückkehrt.« »Jetzt aber mal im Ernst«, widersprach der Kleine und rieb sich den Hals. »Ihr habt doch den wertvollen Stein, hinter dem alle Welt her ist. Lasst uns also von hier verschwinden, ehe sich sämtliche Zauberer, Schurken und sonstigen Halsabschneider aus Darsar hier versammeln!« »Das tun wir bald«, versprach die Prinzessin ihm. »Vorher muss ich aber dringend noch etwas erledigen.«
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Hinter ihr stöhnten Hawkril und Craer, als ihre Gefährtin mitten zwischen die Lichtsäulen flog. Ingryl Ambelter hob den Blick von dem lebendigen Bild, welches sich in den Tiefen der Glaskugel des Barons abspielte, und hob fragend die Augenbrauen. Faerod Fürst Silberbaum lächelte. »Verrat und junge Magier gehen Hand in Hand. Wenn ich es also mit Jünglingen zu tun habe, welche sich den Zauberkünsten verschrieben haben, rechne ich mit nichts anderem. Deswegen bereitet es mir weder einen Verlust, noch verspüre ich darüber Bedauern, wenn ich einen solchen Bannschmied opfern muss. Wohlan denn, Klamantel hat den Endpunkt seiner Nützlichkeit für uns erreicht. Ihr mögt deswegen mit ihm anstellen, was Euch beliebt.« Der Alte nickte dankbar, wandte sich wieder der Kugel zu und flüsterte in das Glas: »Warum so feige, Klamantel? Beweist uns doch, wie tapfer Ihr seid.« Er bewegte flink die Finger, und der Jüngere zuckte zusammen, als er die neue Magie auf sich zukommen sah. Klamantel hatte sich gerade im Flug fort von der Bibliothek befunden. Jetzt packte ihn etwas mitten in der Luft, brachte seinen Flug zum Stillstand und drehte ihn in die entgegengesetzte Richtung. Der Magier konnte nichts dagegen tun, dem Willen des Alten so unterworfen zu sein. Unfreiwillig kehrte er zur Bibliothek zurück. Nacktes Entsetzen stand in seinem Blick geschrieben, als er durch eine Lücke in den Trümmern der eingestürzten Kuppel in das Bauwerk eindrang.
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Die Herrin der Edelsteine schwebte über den aufgeschlagenen Bänden und trug begeistert laut vor, was sie dort zu lesen bekam. »Dann aber erhob der Goldene Greif ...« verkündete sie den anderen gerade und hielt inne. Etwas Neues fiel ihr ein, sie rutschte auf ihrem Luftkissen hin und her, und ihre Stirn verzog sich von angestrengtem Nachdenken. Schließlich streckte sie die Hand mit dem Weltenstein aus, so dass dieser ins Licht einer der Leuchtsäulen geriet. Doch nichts tat sich, und nach ein paar Momenten schob Embra den Stein in die nächste Säule. Als noch immer nichts geschah, wandte sich die Prinzessin achselzuckend wieder dem Lesestoff zu. Und verlor sofort alle Farbe aus dem Gesicht. Denn dank ihrer Versuche mit dem Stein hatte sich der Text grundlegend geändert. Jetzt bekam sie dies zu lesen: Wenn Ihr der Dwaerindim zwei besitzt, der Schlafende König sich damit schon wecken ließe. Auf solche Weise Ihr müsst vorgehen: Die Steine haltet zusammen, und dazu sprecht ...« Embra las die Zeilen wieder und wieder, um sie sich fest ins Gedächtnis einzuprägen und nie wieder zu vergessen. Kaum war ihr das gelungen, da veränderte sich der Text unter ihrem Blick erneut. Nachdem die junge Zauberin einige Male geblinzelt hatte, erblickte sie vor sich wieder die alte Geschichte, welche verschlüsselte Hinweise darauf gab, wo sich die vier Dwaerindim befänden. Die meisten Hinweise vermochte eine geborene Silber-
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baum leicht zu enträtseln, aber diese wollten einfach keinen Sinn ergeben. »Alles deutet auf das Silberbaum-Haus hin«, murmelte Embra schließlich und schüttelte den Kopf. »Aber entweder habe ich irgendwo einen Fehler gemacht, oder bei diesem Text hier handelt es sich um eine plumpe Fälschung. Denn dieser Stein hier, der Lebensstein, hat sich nicht im Silberbaum-Haus gefunden, sondern in dieser Bibliothek, genauer in der Grube ...« So als hätten diese Worte etwas ausgelöst, gingen ein greller Blitz und ein gewaltiges Donnern auf die vier Gefährten nieder. Von oben zerstörte jemand Stück für Stück die Bibliothekskuppel, und immer mehr helles Sonnenlicht ergoss sich in die Halle. Trümmer regneten mörderisch herab, und Embra sauste mit einem Mal nach unten. Den Bänden in den Leuchtsäulen konnten die Steinbrocken offenkundig nichts anhaben, der Prinzessin aber schon. Erschrocken und besorgt rufend rannten die drei männlichen Gefährten los, um nach der jungen Frau zu suchen. So bekamen sie nichts davon mit, wie etwas Kleines gleich hinter ihren Stiefeln im Staub landete. Das Wesen bewegte sich wie eine Spinne und war über und über mit Blut bedeckt. Doch trotz des Krabbelns handelte es sich dabei um eine rechte Hand – genauer gesagt um die von Klamantel Beirldoun. Faerod war kein dummer Mensch, und seine Gedanken standen niemals still. Nach außen hin ließ er sich aber nur selten anmerken, was in seinem Innern vor sich ging.
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So schwieg der Baron auch jetzt schon die ganze Zeit über und gab vor, nichts von alledem mitzubekommen. Dabei wartete und beobachtete er genau. Alle drei seiner Dunklen Magier hatten nun unabhängig voneinander ihren eigenen Verrat begangen. Wie konnte Faerod sich ihren Ungehorsam am besten nutzbar machen? Eines seiner Werkzeuge war nun zerborsten. Also sollte er das nächste in Versuchung führen. »Ihr habt ihn in einen lebenden Sprengzauber verwandelt«, bemerkte der Fürst. »Haltet Ihr das nicht für eine ziemliche Verschwendung?« Ingryl Ambelter schüttelte entschieden den Kopf. »Herr, glaubt mir, wenn ich Euch versichere, dass Silberbaum sich den übergroßen Ehrgeiz dieses Mannes nicht länger leisten konnte. Markoun mag nur verblendet und übermäßig gierig gewesen sein, aber Klamantel stellte eine nicht zu unterschätzende und hochexplosive Gefahr dar. Er war es doch, welcher den Bann über Eure Tochter legte, und diesem Umstand haben wir doch den ganzen Ärger zu verdanken, welcher uns seitdem plagt. Dem edlen Fräulein blieb doch gar nichts anderes übrig, als danach aus der Burg zu fliehen. Auch wenn sie sich damit in offenen Ungehorsam zu Euch setzte und Euch nichts als Scherereien bereitet hat. Wenn man es genau bedenkt, Euer Hoheit, trägt Klamantel die Schuld an dem allen.« Der Baron verengte die Augen und fragte: »Und mein befähigter Bannmeister konnte ihn nicht schon früher aufhalten?« »Euer Durchlaucht«, entgegnete Faerods letzter, aber auch mächtigster Magier, »ich bin gerne bereit, das zu einem späte-
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ren Zeitpunkt in aller gebotenen Ausführlichkeit mit Euch zu bereden. Doch jetzt gewährt mir die Gunst, meinen Zauber gegen den Heiler zu Ende zu wirken.« »Eure ›Stimme Gottes‹?« »Ebendiese«, bestätigte Ingryl und konnte kaum noch verbergen, wie ungehalten er über die Verzögerung war. Er beugte sich nun tief über die Glaskugel, legte von jeder Hand zwei Finger darauf und murmelte leise vor sich hin. Der Fürst beobachtete ihn eine Weile, gestattete sich nur den Hauch eines Lächelns und richtete seine Aufmerksamkeit dann auf die Kugel, welche vor ihm stand. Während er in deren Tiefen spähte, beschlich ihn ein beunruhigender Gedanke: Was würde von ihm übrig bleiben, wenn sein fähiger Bannmeister dem Wunsch nachgab, das Glas seines Herrn explodieren zu lassen? In den Tiefen der Kugeln war einiges im Gange. Hawkril und Craer wuchteten in fieberhafter Eile Geröll von seiner Tochter und schleuderten die Steine so wild hinter sich, dass der Heiler sich gezwungen sah, sich den Gefährten in weitem Bogen zu nähern. Sarasper, es ist an der Zeit. Seid Ihr das, Alte Eiche? Das wisst Ihr doch, mein Lieber. Und nun tut, was ich Euch heiße: Bringt den Stein an Euch. Nehmt ihn in Eure Hand, und begebt Euch mit ihm fort. Seine Feuer sollen alle zerschmettern, welche sich Euch in den Weg zu stellen wagen. Und nun auf mit Euch! Den Stein! Ich gebiete es Euch! Sarasper fing an zu jammern und starrte mit großen Augen auf die hingestreckte Baronstochter. Craer hob den Kopf, als er die Klagelaute des Gefährten hörte, und betrachtete ihn
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argwöhnisch. Der Heiler wedelte mit den Armen, als wolle er damit diesen Blick verjagen. »Nein!« heulte er dann. »Nicht meine Freunde! Die kann ich weder betrügen noch zu Schaden bringen ...« Eine Welle von ungeahnt starkem Zwang durchwogte den Alten. Wagt es ja nicht, mir ungehorsam zu sein! Den Stein, sage ich! Ergreift ihn! Bringt ihn an Euch! Und zwar auf der Stelle! Der Heiler schüttelte sich, setzte sich dann aber in Bewegung und ächzte: »Craer! Hawkril! Haltet mich auf! Hindert mich daran, das zu tun, wozu man mich zwingt!« »Was faselt der alte Zausel denn da schon wieder?« knurrte der Hüne, während er Embras Kopf und Rücken sanft abtastete, um nach gebrochenen Knochen und Stellen zu suchen, an Welchen Blut austrat. Zu seiner übergroßen Freude blieb die Suche ohne Ergebnis. »Ich nehme an, es geht um irgendeinen Bann«, antwortete Craer und tastete das Geröll rings um die Gefährtin nach einem bestimmten Stein ab. Allerdings ließ er Sarasper dabei nicht aus den Augen. Der Alte schluchzte jetzt nur noch, und man konnte überhaupt nicht mehr verstehen, was er von sich gab. »Vermutlich steht er unter dem Zauber eines anderen«, meinte der Beschaffer, »und ich glaube, so lange Sarasper sich dagegen wehrt, vermag er keine eigenen Banne zu wirken ... aber was wird geschehen, wenn er sich nicht mehr dagegen wehrt?« Die beiden Freunde sahen sich mit ernster Miene an, und im selben Moment huschte ein Schatten mit weiten Schritten hinter und über ihnen vorbei. Fast genau über den vier A-
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benteurern blieb er auf dem Balkon stehen. »Luthruth kommt immer wieder gern zurück«, flüsterte der andere Beschaffer unhörbar und grinste sich eins. »Ob davongeflogen oder fortgeschmissen, man soll ihn nie vermissen.« Der Baron schob den Kerzenhalter über den Tisch, damit den Bannmeister ihn leicht erreichen konnte. Ingryl steckte eine Hand hinein, saugte die Hitze auf, stöhnte unter den Schmerzen an seinen Fingern – und sandte alles mitten in Sarasper hinein. »Jetzt gehört Ihr endgültig mir, Menschlein«, erklärte er leise und mit einer Stimme, die so tief und hohl wie ein frisch ausgehobenes Grab klang. Und so kam es, dass in der mit Schutt überhäuften Bibliothek des Erluth mitten in einer zerstörten Stadt, welche halb Aglirta weit von der Burg Silberbaum entfernt lag, Sarasper Kodelmer mit einem Mal aufhörte zu heulen und zu jammern. Während der Bannmeister sich vor Schmerzen krümmte, leuchteten die Augen des Heilers hell auf, und er schritt entschlossen auf die Tochter des Barons zu. Craer und Hawkril warfen sich dem Gefährten wie ein Mann entgegen, und Ingryl Ambelter ächzte: »Jetzt! Bei der Liebe der Dreifaltigkeit und bei der Liebe der Herrin für alle dunklen Ränke, säumt nicht länger!« Die Flammen unter den Fingern des Bannmeisters schossen an die Decke, und der Fürst prallte erschrocken zurück. Noch während er sich die Augen mit der Hand abschirmte, erloschen die Feuer. Ingryl wurden die Knie weich, und er fiel auf seinen Stuhl
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zurück. Er zitterte und bibberte, als könnte er beides nie mehr aufhalten. Vollkommene Erschöpfung malte sich auf den Zügen des alten Magiers ab. Und viele, viele Meilen weiter flammten die Feuer über die magische Verbindung jetzt wieder auf. Blitze fuhren aus Saraspers Körper und bedrängten den Beschaffer und den Ritter mit lilafarbenem Brand. Die beiden Freunde purzelten kopfüber durch die Luft. Hawkril hätte gern seine Pein hinausgeschrien, bekam aber nur ein Pfeifen zu Stande – mehr gab seine Lunge nicht her. Und einen Moment später landeten er und der Beschaffer mitten zwischen dem Geröll. Das lilafarbene Feuer raste weiter durch die Halle, krachte zwischen die Staubwolken, sauste die Wendeltreppen hinauf und ließ das Balkongeländer in einer Kette hochspritzender blauer Funken vergehen. Der Schattenmann hatte sich gerade dummerweise hinter dieses Geländer geduckt. Als dieses ihm unvermittelt entrissen wurde, schwankte er bedenklich, konnte sich vor Schmerzen nicht mehr gerade halten und kippte vornüber – mitten hinein in die zersplitterten Regalborde. Sarasper lief los, um den Weltenstein an sich zu bringen. Er stolperte auf dem Schutt, fiel mehrmals auf die Knie und rappelte sich trotz aller Schrammen stets gleich wieder auf. Endlich erreichte der Heiler der wackligen Beine wegen auf allen vieren die Prinzessin und streckte die Hand nach dem Dwaer aus. Da erhob sich Luthtuth aus den Regaltrümmern, schüttelte Schmerz und Demütigung ab und starrte auf die Szene mit der jungen Frau und dem alten Trottel. Dort befand sich der
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Stein, um dessentwillen er von so weit hergekommen war. Beide waren zu weit entfernt, als dass der Schattenmann noch rechtzeitig hätte dazwischengehen können. Sarasper schloss jetzt die Finger um den Dwaer, und dieser blinkte einmal, als wolle er Luthtuth verspotten. Also wandte dieser sich ab, verwandelte sich wieder in einen Schatten und sprang in die Dunkelheit. Rasch, aber nicht frei von Stolpereien eilte er aus der Halle. Wieder einmal zog er sich zurück, um auf einen besseren Zeitpunkt zu warten. Der Heiler hob den Stein, und mit ihm kam auch Embras Hand hoch und entzog ihm den Dwaer. Sarasper griff noch einmal danach, und seine Finger schlossen sich wieder um die glatte und schwere Oberfläche. Da erhielt er einen raschen und heimtückischen Schlag an die Kopfseite, flog zur Seite und verlor das Bewusstsein. Eine neue Hand umfing den Weltenstein. Diese gehörte einem bärtigen Mann in der ledernen Gewandung eines fahrenden Sängers. Er besaß ein angenehmes Gesicht, und der Dwaer tauchte es in weiches, warmes Licht. Der Mann legte den Stein zuerst auf Embra, welche sich unter dieser Berührung leicht regte; alle Schmerzlinien verschwanden aus ihrem Gesicht. Danach strich er mit dem Weltenstein über Sarasper. Darunter verging das irre Flackern in dessen weit aufgerissenen Augen. Nachdem er das erledigt hatte, legte der Bärtige den Dwaer wieder in die Hand der Prinzessin und schloss deren Finger darum. Leise schlich er davon, hielt sich aber von den Stellen fern, durch welche der Schatten-Beschaffer geflohen war.
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Schweigen lag für eine Weile über der Bibliothek, bevor die schlanke Gestalt sich unvermittelt aufrichtete. Staub und Steinchen fielen von ihr ab, und sie sah sich blinzelnd um. Die sechs Bände schwebten immer noch in aller Ruhe und Würde über der Prinzessin von Silberbaum, und ihre drei Gefährten lagen ausgestreckt zwischen den Trümmern. Noch während die Zauberin das alles in sich aufnahm, löste sich ein weiteres Stück aus der arg gebeutelten Kuppeldecke und krachte nieder. Sein donnernder Aufschlag löste mächtigen Widerhall aus. Irgendwo in den umliegenden Ruinen heulte ein Wolf, und aus verschiedenen Richtungen antworteten ihm andere graue Räuber. Die Edle Embra schüttelte sich und stand auf. Verletzungen und Erschöpfung waren wie fortgeblasen, und stattdessen spürte sie ein beharrliches Prickeln. Als sie an sich hinabschaute, entdeckte sie, dass der Stein in ihrer Hand angefangen hatte zu glühen ...
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Leben nach dem Zauber C Schrille Schrei zerrissen die Luft in der Fürstenkammer auf Burg Silberbaum. Ingryl Ambelter bog auf seinem Stuhl den Rücken durch, als Blitze aus seinem Mund und aus seinen Augen fuhren. Die Schmerzen raubten ihm schier den Verstand. Mit einem Mal stand auch sein Stuhl in Flammen, schüttelte sich und zerfiel zu Asche. Aber der Bannmeister wusste hernach nicht mehr, ob er unsanft auf dem Boden gelandet war. Er hatte auch nicht gesehen, wie sein Herr gegen einen stattlichen Schrank aus Ebenholz geschleudert wurde, mit dem Kopf anschlug und das Bewusstsein verlor. Ebenso entging dem Alten, wie die beiden Kristallkugeln zu Tropfen zerschmolzen, während sie über den Tisch rasten und gegen die Wände spritzten. Und schlussendlich entging ihm, wie sein eigener Schutzzauber das Leben der beiden Wachsoldaten nahm, welche tapfer genug waren, in der Fürstenkammer nachzusehen. Als die Blitze erloschen waren, vernahm man in dem Raum nur noch leises Summen.
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Irgendwie kam der Bannmeister wieder hoch und stolperte durch die Kammer. Er begab sich aber nicht zu einer der bewachten Türen, sondern zu der dunkelgrünen Statue einer Zauberin, welche auf ewig nach vorn starrte. Sie stand genau dort, wo eine Seitenwand auf die Außenwand traf. Ingryl flüsterte ihr ein Wort zu. Die starrende Hexe versank mitsamt ihrem Treppchen im Boden. Daraufhin schob sich der Alte durch die schmale Lücke, welche nun freigelegt war, und ächzte und schnaufte durch den engen und dunklen Gang dahinter. Mit weißem Gesicht und Schweißperlen auf der Stirn taumelte er zu dem kaltfeuchten Schrank, von dem er gehofft hatte, ihn in den nächsten Jahren nicht mehr aufsuchen zu müssen. Nie wieder würde Ingryl die Macht der Weltensteine anzweifeln oder es gar wagen, sich gegen sie zu stellen. Seine Macht über Sarasper hatte der Dwaer binnen eines Augenaufschlags zerrissen, und sein Ende dieses Bandes war mit solcher Wucht zurückgeschnellt, dass der Alte es immer noch in sich brennen spürte. Wenn er jetzt nicht bald zu dem gelangte, was in dem Schrank lag ... Das »Weinhaus zum Hohen Schwert« gehörte zu den vornehmsten Gaststätten in der Glitzernden Stadt. Wie eine Burg erhob es sich aus der Anfahrt und hatte Mauern so dick wie eine Kutsche. Diese hatte man, des Eindrucks wegen, auch mit Zinnen ausgestattet. Wer in den befestigten oberen Zimmern unterkommen wollte, musste dafür tief in die Tasche greifen. So manche Verschwörung hatte hier ihren Anfang genommen, und mehr
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als nur einen Plan zum Sturz eines Gewaltherrschers hatte man hier ausgeheckt. Kein Wunder, wenn es hier im »Obergeschoss« nicht immer nur rein friedlich zugegangen war. So manche Versammlung endete in einem Blutbad, und die Leichen ließ man später auf Nimmerwiedersehen in der Sickergrube des Hauses verschwinden. Die Falkenkammer wies weniger Platz auf als die meisten »Oberkammern«, und hier zog es wie Hechtsuppe. Trotz der dunklen und schweren Wandbehänge, welche ihre Wände bedeckten, wurde sie seltener genutzt als die Räume im Obergeschoss. Man erzählte sich, dass die Tür dieser Kammer immer offen stünde. Und das konnte kaum verwundern, denn seit Jahren schon fehlte die dicke Eichentür, welche den Zugang zu diesem Raum regelte. Die Sänger erzählten in ihren Geschichten, dass eben diese Tür von starken Winden immer weiter fortgetragen würde. Der Leichnam eines toten Königs läge darauf, festgehalten von mehreren ihn durchbohrenden Schwertern ... Deswegen wage es auch niemand, diese Tür durch eine andere zu ersetzen. Wer konnte schon vorhersagen, welche Banne auf den Betreffenden niedergingen; denn eines stand doch wohl fest: Nur Zauberkraft konnte die schwere Tür entführt haben. Aber wenn man lange genug lebte, lernte man vor allem eines: dass Barden viel erzählten, wenn die Nacht lang wurde. Zurzeit hielten sich in dem Raum ohne Tür etliche Männer in angespannter Stimmung und mit vornehmen Gewändern auf. Dazu einige Männer mit Rüstung und grimmiger Miene, die ihre Hand nie allzu weit vom Schwertgriff fort-
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bewegten. Wer sich mit so etwas auskannte, hätte schließen können, dass es sich bei Ersteren um mindere Zauberer aus ganz Aglirta und bei Letzteren um deren vom jeweiligen Fürsten gestellte Bedeckung handelte. Mehr als ein Blick huschte immer wieder zu der fehlenden Tür, so als rechne der Betreffende damit, dass dort unvermutet ein Feind auftauchen und die ganze Versammlung mit Feuer und Hokuspokus bedrohen könnte. » ... und haben sich dann auch noch auf den Weg zu dieser vergessenen Stadt im Wald gemacht?« fragte einer der Magier entrüstet. Ein anderer zuckte die Achseln. »Wer kann das wissen. Sie sind auf jeden Fall im vergangenen Monat aufgebrochen. Ich fürchte, uns allen stehen schwere Zeiten bevor.« »Ihr fürchtet dies, und Ihr fürchtet jenes«, warf ein dritter Zauberer unwirsch ein. »Andraewus, könnt Ihr eigentlich auch etwas anderes, als ständig vor Euch hin unken? Nun verratet uns doch mal, wovor Ihr Euch eigentlich so ängstigt!« »Das will ich gern«, entgegnete Andraewus. »So vernehmt dies, Ihr Herren: Schwere Zeiten sind über Aglirta gekommen. Mächtige Zauberer sind unauffindbar verschwunden, und allerorten raunt man sich finstere Gerüchte zu ... Bannschmiede würden erschlagen, in der Wildnis züchte man Drachen, um alle Menschen zu zerreißen, welche sich dorthin wagen, die uralten Schlangen der Schatten erhöben ihr grässliches Haupt ... Und der Baron Silberbaum erstrebe, sich mit gleich gesinnten Magiern zum Herrscher von ganz Aglirta aufzuschwingen. Dies wolle er erreichen, indem er die vier Weltensteine in seinen Besitz bringt, um mit ihrer Kraft alle
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Heere zu zerschmettern, welche gegen ihn ausgesandt würden.« In die Stille hinein, welche solch grimmigen Aussichten folgte, sah Andraewus den Krieger streng an, welcher ihn vorhin herausgefordert hatte. »War Euch das genau genug, Andrar, oder wollt Ihr noch mehr hören?« »Drachen sollen gezüchtet werden?« rief ein anderer. »Das würde ich mir aber zu gerne mal ansehen, wie eine Hexe so etwas anfängt. Wahrscheinlich würde sie vom Schweif eines solchen Ungeheuers in den Boden geklopft!« Jetzt machten alle in der Runde ähnliche Scherze und lachten sich eins. Aber dann sahen sie sich an, und das Lachen blieb ihnen im Halse stecken. Wieder beherrschte Furcht den Raum. »Den meisten der verehrten Anwesenden reicht es anscheinend vollkommen aus«, ließ der Kriegsmann Andrar sich wieder vernehmen, »zu reden und zu plappern, und wenn das nicht hilft, zu plappern und zu reden.« Der Soldat hütete sich diesmal aber, einen der Magier anzuschauen, weil der sich dann bestimmt wieder, wie vorhin Andraewus, in seiner Ehre gekränkt fühlen würde. »Dabei sind wir hier zusammengekommen, um einen Ausweg zu finden und uns über irgendwelche Maßnahmen, gleich welche, einig zu werden, doch ich fürchte, allein diese Aussicht birgt für einige der Anwesenden große Schrecken.« Diesmal sah der Krieger sich um, zog die buschigen Brauen hoch und fügte hinzu: »Habt ihr keine Vorschläge zu unterbreiten, ihr Zauberer des Tals? Euch ist aber doch gewiss bewusst, dass wir hier und heute Geschichte schreiben, oder?« Als er damit nur Widerspruch und Unflätigkeiten erntete,
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trat Andrar an seinen Platz an der Wand zurück. Etliche der anderen Soldaten grinsten ihm verstohlen zu. Alle wussten jetzt, dass ihnen eine ebenso lange wie laute Nacht bevorstand. »Gut gesprochen, Andrar«, lobte Ingryl Ambelter spöttisch und lehnte sich bequem in seinem Sessel zurück. Eine Kristallkugel glänzte vor ihm. Es hatte den Alten mehr als nur ein paar Zaubersprüche gekostet, sich vollständig wiederherzustellen, aber die Anstrengung hatte sich gelohnt. Der Dornenzauberstab schwebte griffbereit rechts neben dem Tisch, an dessen Fuß ein gefesselter Wächter hockte. Der Alte hatte ihm einen Kapuze über den Kopf gezogen und ihm die Brust freigelegt. Der Mann schnaufte vor Furcht. Der oberste Zauberer des Fürstentums Silberbaum beherrschte genug Banne, um jede Abwehr zu überwinden und in fast alle zaubergeschützten Kammern in Aglirta einzudringen. Mehr noch, die Götter schienen ihn endgültig wieder in ihre Gunst aufgenommen zu haben. Dank eines unglaublichen Zufalls hatten diese Feld-, Wald- und Wiesenmagier sich für ihr Geheimtreffen das »Weinhaus zum Hohen Schwert« ausgesucht! Ausgerechnet diesen Gasthof! Und dann auch noch in der Falkenkammer, wo Ingryl als junger, aber schon überaus begabter Zauberer vor langer Zeit ein Portal angelegt hatte, das ihm als Stützpunkt für seine Sprungzauber diente. Dank dieser Kammer vermochte er Sirlptar zu besuchen, wann immer es ihm beliebte. So war es dem Alten natürlich doppelt leicht gefallen, sich
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um alle Schutzmaßnahmen herumzumogeln. Ja, er brauchte jetzt nur eine Hand zu heben, um der ganzen Versammlung ihren Untergang zu bescheren. Mittlerweile war ihm klar, dass keiner der Anwesenden einen Dwaer oder auch nur einen starken Zauber mitgebracht hatte. Nicht einmal Ränke schienen untereinander geschmiedet zu werden. Der Bannmeister ahnte, dass die Sitzung über kurz oder lang ermüden würde. Deswegen war es langsam an der Zeit ... Ingryl setzte ein Lächeln auf und sagte leise: »Jetzt.« Damit bewegte er die Finger zum letzten Dreh an seinem Zauber. Eine kleine blaue Flamme entstand an der Spitze seines Dolchs vor ihm auf dem Tisch und leckte die Klinge hinauf und hinab. Der Alte nahm die Waffe in die Hand und stieß sie mit einem zufriedenen Grunzen dem Gefesselten unten am Tisch in die entblößte Brust. Der Mann zuckte und wand sich, während das Leben aus ihm wich. Ingryl zog die Klinge wieder heraus und hielt sie an den Dornenzauberstab. Die blauen Flammen sprangen sofort gierig auf den Stab über und verbrannten ihn, bis er zu schwärzester Asche verbrannt war. In der Falkenkammer entstand aus dem Nichts über dem Tisch ein Feuerbündel und raste in einer immer weiter werdenden Spirale um die Tafel herum. Die Sitzenden brüllten, sprangen auf, warfen Stühle um und bewaffneten sich mit Schwert, Messer oder Zauberzepter. Überall in dem Raum glitzerten Ringe im Kerzenschein. Blau und hungrig fuhr das Feuer über den Kreis der Magier hinweg und verbrannte einem nach dem anderen den Kopf.
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Die Krieger mussten nur noch einen Blick auf die hauptlosen, zuckenden Oberkörper werfen, welche wie die Kegel umfielen, dann reichte es ihnen und sie drängten durch den türlosen Ausgang nach draußen ... Der Bannmeister lachte befriedigt über das, was er in seiner Kugel zu sehen bekam. Ein Zauberer sollte sich nie zu sehr der Schadenfreude oder dem Eigenlob hingeben, aber hin und wieder ... Eine Tür, welche eigentlich nur er kennen und öffnen dürfte, wurde hinter ihm aufgestoßen. Der Alte nahm sofort den Dolch an sich und fuhr herum. »Legt den doch wieder hin«, erklärte Faerod Fürst Silberbaum mit seiner schrecklichen Freundlichkeit und richtete seinen blitzenden Zauberstab auf die Klinge. »Oder wollt Ihr ihn zusammen mit der Hand verlieren?« Das Lächeln gefror Ingryl auf dem Mund, und er ließ die Waffe fallen. Der Fürst warf einen flüchtigen Blick auf den erstochenen Wächter am Boden, dessen Blut sich auf den Steinplatten ausbreitete. Doch das tat Faerods kalter und ruhiger Miene keinen Abbruch. »Meine Geduld ist an ihrem Ende angelangt, Ingryl. Embra befindet sich noch immer nicht zurück in unserer Hand, und Eure Maßnahmen haben bislang wenig mehr eingebracht, als das Fürstentum zwei Magier zu kosten. Deswegen wisset, Bannmeister, Euer eigenes Leben ist ebenfalls verwirkt, wenn Ihr nicht endlich einen Weltenstein herbeischafft und mir aushändigt. Und zwar ohne Fallstricke, Falltüren oder sonstige Hinterhältigkeiten!« Schweigen beherrschte den Raum, als zwei eiskalte Augenpaare sich anstarrten. Als der Baron zu der Ansicht gelangte, sich nun ausreichend lange damit beschäftigt zu haben,
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fügte er hinzu: »Bedenkt die Fläschchen mit dem Blut. Ich muss nur eine davon zerdrücken, um Euer Herz zum Platzen zu bringen.« Ingryl nickte ernst und versprach: »Ich werde meine gegenwärtige Aufgabe bald zu ihrem krönenden Abschluss geführt haben, Herr.« Faerod schenkte ihm ein wärmeloses Lächeln, tippte sich mit dem Zauberstab wie zum Gruß an die Schläfe und verließ dann den Raum. Von seiner Erscheinung ging nicht nur königliche Anmut, sondern auch vollkommene Macht aus. Als der Baron verschwunden war, betrachtete der Alte kurz die offen gebliebene Tür, zuckte die Achseln und lächelte. Er hatte schon vor längerem dem Baron ein Schnippchen geschlagen, indem er sein Blut in dem Fläschchen gegen das eines anderen Zauberers ausgetauscht hatte, dem davon nicht das Mindeste schwante. Während Ingryl die Tür schloss, verbreiterte sich sein Grinsen. Hei, das würde ein Spaß. Er freute sich jetzt schon darauf. Embra Silberbaum legte den Stein auf ihre Knie, betrachtete dann die vielfach geborstene Kuppel über ihr und atmete tief durch. Was würde wohl geschehen, wenn sie dieses ebenso wunderbare wie tödliche Ding auf ihren Knien verlöre? Und nicht mehr über die geringste Macht verfügte, die Beulen und Schrammen zu versorgen, welche sie und ihre Gefährten davongetragen hatten? »Die Sorgen der Welt könnt Ihr später immer noch beheben, Mädchen«, grollte Hawkril, als er jetzt neben ihr auf-
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tauchte. »Kommt, wir müssen weiter. In Indraewyn wimmelt es von Wölfen auf zwei Beinen.« Die Prinzessin lächelte und nickte. Sie hatte das größte Vertrauen zu dem Ritter. Mehr noch, sie hatte ihn in ihr Herz geschlossen. Wie eigentlich alle drei Gefährten. Erst seit kurzem achtete sie diese Männer, aber das sollte der Tiefe ihrer Gefühle keinen Abbruch tun. Gemeinsam würden die Vier allem widerstehen können, was Darsar ihnen entgegenzuschleudern hatte. Die junge Frau schüttelte den Kopf, weil sie sich vor kurzem noch nicht hätte vorstellen können, jemals solche Gedanken zu hegen. Seufzend warf sie ihr Haar in den Nacken und nickte. »Ja, wir wollen aufbrechen.« Sie hätten die zerstörte Bibliothek mit ihren alten Geistern und frischen Leichen, welche nun ohne Ansehen der Person von der gleichen Staubschicht bedeckt wurden, schon viel früher verlassen sollen. Die Vier marschierten ohne ein Wort des Abschieds oder sonstigen Gruß hinaus. Craer bewegte sich wie üblich an der Spitze, hatte alles im Blick und wünschte sich nichts mehr, als den Schattenmann zu erkennen, bevor dieser sie entdeckt hatte. Hawkril hingegen lief wie gewöhnlich als Schlussmann. Er hielt sein Kriegsschwert bereit und schaute immer wieder über die Schulter, um sicherzustellen, dass ihnen niemand folgte oder sich irgendwo auf die Lauer legte, um ihnen einen letzten Angriffszauber hinterherzuschleudern. Als die Viererbande von dannen gezogen war, durfte die zerstörte Bibliothek des Erluth einen kurzen Moment der Ruhe und Stille genießen.
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Doch dann öffnete sich schon wieder eine Wand, und aus der Dunkelheit dahinter trat der Mann in der Ledertracht. Der erste Schritt führte ihn über den Schutt auf dem Boden, und beim nächsten stieg er schon durch die Luft. In aller Ruhe spazierte er hinauf zu den Bänden, welche in den Lichtschächten schwebten. Nacheinander griff er in den Schimmer hinein und blätterte sie um, bis überall etwas Neues zu lesen stand. Die Stellen aber, wo Embras Hand über eines der Bücher gefahren war, berührte er sacht. Danach las der Mann in den einzelnen Werken, stand dabei allem Anschein nach immer noch auf nicht mehr als Luft und stieg dann wieder nach unten. Die Bände blieben zurück und steckten wie weiße Vögel, welche auf ewig in der Zeit festgefroren sind, in den Lichtsäulen. Im nächsten Moment fanden sie sich auf einem mit Pech bestrichenen Schieferdach wieder. Überall waren leere Wäscheleinen aufgespannt, und ein Seevogel beäugte sie argwöhnisch, ehe er ein Stück weiter watschelte. Hier roch es würzig nach Meer, und unter dem Dach breitete sich eine nach allen Seiten hin abfallende Stadt aus. Craer schaute hierhin und dahin, und sein Blick wurde immer verkniffener. »Irgendwie kommt mir dieser Ort bekannt vor ...« Er wandte sich an Embra: »Wo sind wir herausgekommen?« »In Urngallond, genauer auf dem Dach des ›Meerblickenden Löwen‹, einem Gasthof erster Güte«, antwortete die Prinzessin. Als Hawkril fragend die Augenbrauen hochzog, fügte sie
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hinzu: »Beim Sprungzauber kann man sich an einen bekannten Ort versetzen lassen. Ich bin einmal hier abgestiegen, als mein Vater drüben in den Hallen des Geldes zu tun hatte.« »Er hat zugelassen, dass Ihr die Baronie verließet?« fragte der Heiler verwundert. Er schaute hinüber zu dem Wald der hohen Masten. Dort musste der Hafen liegen. Möwen flogen über ihn hinweg und kreischten. Das offene Meer zeigte sich wie ein graues Tuch zwischen den Landzungen, und diese wiederum schienen ein Gewand aus alten und hohen Gebäuden mit vielen Baikonen zu tragen. »Damals war ich noch ein kleines Kind«, erklärte Embra. »Zu jener Zeit konnte ich noch nicht viel mehr tun als beobachten.« »Ihr wart ja ein richtig frühreifes Kleinkind«, brummte Hawkril und zeigte mit dem Daumen auf seinen Freund. »Der da hat in seiner frühen Jugend nur gelernt, wie man anderen Leuten Dinge wegnimmt.« Sein Kopf ruckte hoch, als die Zauberin jetzt auf ihn zutrat. »Was habt Ihr vor?« »Alle Schmerzen zu heilen«, versprach sie ihm in aller Selbstverständlichkeit und hielt ihm den Weltenstein an die Wange. Seine Umrisse fingen an zu flimmern, und er schien zu schrumpfen und gleichzeitig in die Breite zu gehen. »Und Euch in einen dicken alten Kaufmann zu verwandeln.« Craer und Sarasper bekamen eine Knubbelnase, herabhängende Wangen und einen Schmollmund zu sehen, dessen Falten so wirkten, als würden sie nie mehr weggehen. Die beiden brachen schon beim zweiten Blick in Gelächter aus. »Möge euch das Lachen im Halse stecken bleiben«, grollte der
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Ritter, »denn gleich seid ihr an der Reihe.« Schon stand die junge Frau vor dem Heiler, vertrieb ihm die Rückenschmerzen und verwandelte ihn in einen Händler mit zu viel Schminke im Gesicht und wallenden rosafarbenen Seidengewändern. »Wie steht’s mit Euren Schmerzen? Sind die alle vergangen?« fragte der Alte die Junge. »Ja«, lächelte die Zauberin und winkte dann dem Beschaffer zu: »Kleiner Mann, jetzt seid Ihr dran.« »Ich erinnere mich, so etwas schon einmal aus dem Munde einer schönen Frau gehört zu haben«, entgegnete Craer mit schüchternem Augenaufschlag. »Das war, glaube ich, in Sirlptar, oder vielleicht doch in ...« »Auf jeden Fall an einem Ort, wo Ihr erst ein paar Geldstücke hinlegen musstet«, brummte der Hüne. »Und wahrscheinlich ...« Er verstummte und riss die Augen weit auf, als die Baronstochter sich umdrehte und er sie jetzt zu sehen bekam, wie er sie nie zuvor erblickt hatte – als Mann mit Koteletten und Schnurrbart, einer abgetragenen Weste, langer Hose und einem Hut mit breiter Krempe. Der lächelte den Ritter mit spöttisch heruntergezogenem Mundwinkel an. »Rundrar der Krämer verzieht sich, sobald wir in unserem Zimmer sind«, erklärte Embra entschieden und mit einer Stimme, die man durchaus für die eines Mannes halten konnte. »Und dann schickt er seine Geschäftspartnerin, um mit euch in Verhandlungen zu treten.« Die drei Gefährten johlten, was die Zauberin aber mit einem gestrengen Blick rasch wieder zum Schweigen brachte. »Wir üben doch nur schon, werte Herrin, uns wie Kauf-
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leute zu benehmen«, erklärte Craer mit breitem Lächeln. »Seht Ihr hier irgendwo eine Herrin?« erwiderte die Prinzessin ungehalten. »Ich heiße Rundrar, merkt Euch das endlich – Rundrar der Tollkühne.« Zwei der Gefährten erlitten einen Erstickungsanfall, und Hawkril schob sich die Faust in den Mund. »Also der ›Tollkühne‹, was? Dass wir nicht gleich darauf gekommen sind!« »Rundrar teilt sich stets mit seinen Geschäftspartnern ein Zimmer«, fuhr Embra mit ungerührter Miene, aber etwas grimmigem Tonfall fort. »Lasst euch also nicht einfallen, für mich ein eigenes Zimmer zu bestellen oder etwas ähnlich Törichtes zu unternehmen.« Sie seufzte übertrieben. »Aber wahrscheinlich haben mich all die Anstrengungen doch etwas ermüdet. Selbst wenn irgendein Zauberer uns in seiner Kristallkugel entdecken sollte, brauchen wir uns nicht übermäßig zu fürchten: Gedungene Mörder sind auf ihrem Weg hier herauf deutlich auszumachen.« Die drei Männer sahen sich unglücklich an, bis Craer der Prinzessin eine Hand auf den Arm legte und ihr in ernüchtertem Tonfall erklärte: »Glaubt Ihr denn, gedungene Mörder trügen ein Schellenkostüm oder ein Schild an ihrer Rüstung, das sie als solche ausweist? Liebes Fräulein, Ihr könnt uns glauben, es gehört verdammt wenig dazu, einen Menschen um die Ecke zu bringen: ein Stich aus dem Hinterhalt, ein gut gezielter Messerwurf, ein Stoß im rechten Moment oder Gift ins Getränk ...« Embra seufzte. »Ich hatte gehofft, das alles für ein paar Tage hinter mir lassen zu können ... Um diesen Stein und seine Möglichkeiten ausprobieren zu können – und ihn dann Sa-
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rasper zu überlassen.« »Ach ...« meinte der Heiler zögernd, »vielleicht wäre das kein so guter Einfall. Ihr kommt doch so hervorragend mit dem Dwaer zurecht ...« Craer stemmte die Hände in die Hüften und sah den Alten herausfordernd an. »Niemand Geringerer als ein Gott verlangt, dass Ihr Euch auf diese Suche begebt, und jetzt gelangt Ihr zu dem Schluss, dass das alles vielleicht gar keine so gute Idee sei? Gehört es zu Euren Steckenpferden, mit Göttern zu feilschen und zu schachern, oder habt Ihr Euch schon ein Grab ausgesucht und sehnt Euch jetzt danach, darinnen zu liegen?« Auch Embras Verkleidung konnte nicht verhindern, dass der Heiler jetzt ein wenig unglücklich in seiner Haut wirkte. »Es ist nur so, dass ... dass ich mir mit so viel Macht selbst nicht über den Weg traue ...« Der Ritter legte ihm eine schwere Hand auf die Schulter. »Keinem von uns gefällt das, was das Leben uns auftischt. Darüber hinaus habe ich die Erfahrung gemacht, dass einem niemand zuhört, wenn man sich mit seinen Klagen an die Dreifaltigkeit wendet. Wenn einem das nicht gefällt, was das Schicksal für einen bereithält, dann hat man halt einfach ziemliches Pech gehabt.« »Ach, meine Freunde«, seufzte Sarasper leise, »ich fühle mich nur weitaus müder, als ich mir je hätte vorstellen können. Zu lange habe ich mich versteckt, über zu vieles nachgebrütet und mich zu oft in Geduld geübt ... Lasst mir einfach noch etwas Zeit.« Der Beschaffer legte ihm die Hand auf die andere Schulter. »Das ließe sich einrichten. Mir selbst steht auch der Sinn da-
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nach, die Rettung Darsars für einen Monat oder so jemand anderem zu überlassen. Und dann irgendwohin zu gehen, wo man nicht in jedem Nachbarn an der Theke einen finsteren Magier vermuten muss, der mir ans Leben will ... oder sämtliche Folterarten an mir versuchen möchte, bloß um an einen bestimmten Stein zu kommen.« Die kleine Gruppe bewegte sich jetzt die alten und knarrenden Dachstufen hinab. Sarasper nickte mehrmals. »Sicher ist es das Beste, wenn wir uns für eine Weile bedeckt halten und mit einer Kristallkugel oder etwas Ähnlichem überwachen, was sich im Lande tut. Lassen wir noch etwas Zeit verstreichen, ehe wir mit der Suche nach dem nächsten Weltenstein beginnen.« »Was mich angeht, so wäre mir auch wohler«, schloss die Prinzessin sich an, »wenn wir Aglirta für eine Weile meiden würden. Da marschieren mir zu viele Armeen herum. Und gar nicht erst zu reden von all den Magiern, welche dort herumschwärmen wie wild geworden Bienen, deren Stock man beschädigt hat.« Danach sprach die junge Frau kein Wort mehr, bis die vier sich in ihren Räumlichkeiten eingerichtet hatten. Als die Wanne mit heißem Wasser gefüllt und mit Blütenblättern bestreut war, und als der kühle Wein gebracht worden war, zog Embra sich die Stiefel aus, ließ Kleidung und Verkleidung fallen, schnappte sich eine Flasche und fragte in die Runde: »Was ist? Worauf wartet ihr denn noch?« Die drei Männer kannten ihre Gefährtin mittlerweile gut genug, um darauf nichts zu antworten. Aber obwohl die Prinzessin splitterfasernackt war, entging keinem von ihnen, dass sie sich den Weltenstein unter den Arm geklemmt hatte.
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»Ich warte ...« Baron Ithklammert Kardassa sank in seinen reich verzierten Thron zurück und schenkte seinen beiden Beratern ein unfreundliches Lächeln. »Kann einer von euch mit einem pfiffigen Vorschlag darüber aufwarten, wo die Dwaerindim zu finden sein könnten?« Baerethos und Ubunter wanden sich unter dem kalten und scharfäugigen Blick des Fürsten. Die Nachrichten von Zaubererschlachten in der Wildnis hatten sich längst im ganzen Land verbreitet. Schlimmer noch: Die Priester der Dreifaltigkeit verkündeten talauf und talab von den Kanzeln, dass einer der Weltensteinen gefunden worden sei ... Die drei Männer, welche sich jetzt am größten Tisch in ganz Kardassa gegenübersaßen, wussten aber noch mehr – dass nämlich die beiden besten Krieger des Landes die größten Mühen auf sich genommen hatten, Magier einzustellen und an den Stellen zu suchen, welche Baerethos und Ubunter ihnen vorgegeben hatten. Doch trotz angestrengtester Suche und Grabungen hatten sich dort weder Weltensteine noch sonst etwas von Bedeutung finden lassen. Die beiden Berater starrten sich verstohlen an, fanden wenig Trost in dem, was sie dort zu sehen bekamen, und blickten rasch in eine andere Richtung. Baerethos verlegte sich darauf, sein Abbild auf der polierten Tischplatte zu bewundern; wohingegen Ubunter die ihm nächste Krähe mit Flammenkrone in Augenschein nahm, obwohl es doch in dieser Halle unzählige dieser Wappentiere von Kardassa zu bewundern gab.
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Aber keiner der beiden schielte auch nur in die Richtung der schwer gepanzerten Soldaten, welche an den Wänden aufgereiht standen. »Wie euch, meine geschätzten Berater, bekannt sein dürfte«, sprach Seine Durchlaucht nun, »habe ich unlängst einen neuen Hofzauberer für meine Baronie eingestellt. Ihr habt sicher vermutet, dass der gute Mann für mich bereits den einen oder anderen Blick in seine Kristallkugel geworfen hat, und damit liegt ihr goldrichtig. Dieser Magier hat insbesondere die anderen Gruppen von Zauberern im Auge behalten, welche nach den Dwaerindim suchen. Der Hofmagier hat bislang nicht den geringsten Hinweis darauf erhalten, dass es einem dieser Zauberer schon gelungen wäre, einen Weltenstein zu finden und an sich zu bringen. Auch sind diese Gruppen bisher noch nicht weitergezogen, um anderenorts auf mehr Glück zu hoffen. Gewiss lockt es sie nicht an die Stellen, welche ihr zu nennen beliebt habt.« Der Fürst trommelte nun leise mit den Fingerspitzen auf den Tisch. Nach einigen Momenten führte er seinen Kelch zum Mund. Dann erklärte er: »Bis zur Stunde hat die ganze Suche die Schatzkammer von Kardassa die Summe von genau zweiundsechzigtausenddreihundertundzwölf Goldtaler gekostet... Können meine beiden hoch geschätzten und noch besser entlohnten Berater mich mit irgendwelchen Vorschlägen erfreuen, wie dieser Fehlbetrag bis zum nächsten Frühjahr wieder ausgeglichen werden kann? Denn wenn bis zu diesem Zeitpunkt immer noch irgendwelche Rechnungen offen stehen sollten, werden die jämmerlichen Körper meiner beiden verehrten Berater in die
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Sklaverei verkauft. So käme dann wenigstens ein bisschen von den außenstehenden Beträgen zusammen, nicht wahr?« Ubunter und Baerethos sahen sich wieder an, konnten dem anderen immer noch wenig abgewinnen, blieben in ihrem Unglück also weiterhin allein und sanken schuldbewusst noch tiefer auf ihren Stühlen zusammen. Ithklammert Fürst Kardassa setzte den Kelch ab und befahl: »Nachdenken.« Auf sein Zeichen hin eilten zwei gepanzerte Soldaten herbei, packten die alten Berater an den Füßen und schleiften sie aus dem Saal, dem Baron aus den Augen. Die kleine Glaskugel kam aus ihrer Schachtel, drehte sich leicht und klingelte dabei leise. Ingryl lächelte das Stück an. Was für eine überaus schöne Kugel ... Und sie gehörte ihm ganz allein. Gehorsam zeigte das Glas das Bild, nach welchem ihn verlangte: Kerzenlicht beschien ein großes Bett, auf dem sich Körper bewegten und Seufzer von sich gaben. Der Bannmeister murmelte eine Beschwörung. Aus der Kugel ertönte der scharfe Knall einer Peitsche, und dem folgte ein Schluchzer. Höchste Zeit. Oh ja. Der Zeitpunkt war schon fast überschritten. Wieder knallte die Peitsche und löste einen abgehackten Schrei aus. Jämmerliche Beschwerden folgten, und Ingryl Ambelter beugte sich vor, um nur ja nicht zu verpassen, wie seine Magie wirkte. Sarintha wurde die Erste. Sie lag weinend unter der Peitsche des Barons da, und ihre Finger verkrallten sich in die
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Schlaffelle über ihrem Kopf. Mit jedem neuen Zucken ihres Körpers schob sie sich tiefer unter die Felle. Faerod Fürst Silberbaum war rundum unzufrieden. Mit Sarintha, mit dem Abgang seines Weins, mit allen Zauberern (den lebenden im Besonderen), mit seiner Tochter und auch damit, dass die Gespielin noch nicht längst in Tränen ausgebrochen war und um Gnade winselte. Also legte er die junge Frau wieder bloß und schlug rhythmisch und methodisch auf sie ein. So lange, bis Blut floss; so lange, bis Sarintha heulte; so lange, bis die anderen Bettgespielinnen furchtsam zurückwichen und ihren grausamen Herrn hassten. Wenn Sarintha in Ohnmacht gefallen war und keinen Laut mehr von sich gab, würde er sich die Nächste vornehmen. Sie ähnelte ja jetzt schon mehr einem der Fleischklumpen in der Küche als einer jungen und aufregenden Schönen, welche dazu bestimmt ist, zu erregen und Freuden zu spenden. Der Baron knurrte mittlerweile wie ein Löwe, welcher kurz davor steht, seine Beute mit einem Prankenhieb zu erschlagen. Er ähnelte kaum einem Mann, welcher sich den Freuden der Schönen hingibt. Die Fellteile, in welche sich Sarinthas Finger verkrallt hatten, fielen zerschlitzt auseinander. Eines der anderen Mädchen kratzte sich am Arm und schrie auf. Die Fingernägel hatten ihr die Haut aufgerissen und wuchsen immer noch weiter an – zu wahren Krallen! Die junge Frau sah die anderen erschrocken an. Eine von ihnen starrte mit vor Schreck geweiteten Augen auf ihre sich ausdehnenden Fingernägel. Man konnte mit bloßem Auge verfolgen, wie sie wuchsen ... wie sie jetzt schon so lang wa-
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ren wie ein Unterarm. Sarintha drehte sich jetzt zu ihrem Peiniger um und flehte um Gnade, ohne jedoch erhört zu werden. Die bluttriefende Peitsche sauste in immer gleichen Abständen auf sie herab, jetzt auf ihre Brüste und ihre Seite. Der Fürst schrie sie an, wandte sich schließlich angewidert ab und hieb ihr mit dem vergoldeten Griff seines Ziemers mehrmals ins Gesicht. Sarinthas Augen funkelten, und sie griff mit beiden Händen nach der Peitsche. Der Baron schrie vor Wut, riss ihr den Riemen aus den Händen und bemerkte kaum, wie viel von dem Leder zurückblieb. Dann prügelte er mit bloßen Fäusten auf die Brüste seiner Gespielin ein, um sie auf diese Weise in die Unterwerfung zu zwingen. Warum gab sie nicht auf? Warum wehrte sie sich noch? Warum ... Ihr erster Hieb riss ihm die hochgerissenen Arme auf. Er schrie vor unerwartetem brennenden Schmerz und presste die Gliedmaßen an seine Seiten. Während er Sarintha ungläubig anstarrte, schlitzte sie ihm mit ihrem zweiten Hieb den Bauch auf. Heulend prallte er von ihr zurück, und das Wesen, welches nur noch aus blutigen Striemen zu bestehen schien, erhob sich, schrie Wut und Schmerz hinaus und holte nach der Kehle des Fürsten aus. Verzweifelt versuchte Faerod, sie abzuwehren, und rollte über das Bett davon, aber Sarintha schien nicht mehr von ihm ablassen zu wollen. Eine ihrer Krallen schnitt ihm eine Brustwarze zusammen mit einem langen Hautstreifen ab, und mit einem Mal fingen alle anderen Frauen im Raum auch an zu kreischen und stürmten von allen Seiten mit erhobenen
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Fingernägeln gegen den Baron an. Der Fürst verfluchte sie und schickte sie erfolglos zurück. Dann fiel er aus dem Bett, konnte sich mit letzter Not wieder aufrappeln und musste sich nach allen Seiten gegen Klauen und Krallen zur Wehr setzen. Immer weiter wich er vor den Furien zurück, trat nach ihnen und schlug hart mit der Faust zu, um sie auf Abstand zu halten. Die Todesangst, welche er litt, ließ ihn auf alle Rücksicht verzichten, und er prügelte um sich wie ein Preisboxer. Tatsächlich ging mehr als eine Bettschöne zu Boden, aber ein ihm unerklärlicher Zorn trieb die anderen immer wieder von neuem an. Sie rissen und schnitten an ihrem Herrn, fetzten ihm das Fleisch von den Rippen und kappten ihm die Fingerglieder ab. Am Ende blieb dem Fürst nichts anderes übrig, als die Flucht zu ergreifen. Tretend und schlagend kämpfte er sich in Richtung Balkon vor und hinterließ eine blutige Spur. Fleisch- und Haarfetzen hatten sich aus seinem Körper gelöst, und die Frauen hieben nun nach seinen Geschlechtsteilen. Keuchend und zitternd fiel er durch die Vorhänge, rollte sich stöhnend auf dem Balkon ab, wurde immer noch von den Gespielinnen verfolgt und erreichte schließlich das Geländer. Ein tückischer Hieb riss ihm die ganze Seite auf, so dass der dazugehörige Arm alle Kraft verlor. Gleichzeitig drehte der Schlag ihn herum, und er stürzte mit einem lang gezogenen Schrei nach unten. Das kalte Wasser des Silberflusses empfing ihn mit einem
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lauten Platschen. Weiter oben schlugen die Krallen immer noch aus, nur fanden sie ihr Opfer nicht mehr. Während Ingryl Ambelter sich über seiner Kristallkugel vor Lachen ausschüttete, sanken weinende Frauen auf die Knie, rutschten in das Schlafgemach zurück, hinterließen mit ihren schwertlangen Klauen überall blutige Spuren und jammerten darüber, in welche Ungeheuer sie sich verwandelt hatten. In der Dunkelheit rollte mit dumpfem Rumpeln eine Steinwand beiseite, und ein Mann in Ledertracht trat aus dem Geheimgang. Unhörbar durchquerte er einen Säulensaal im Schweigenden Haus und strebte einer Stelle zu, an der schwaches Licht auszumachen war. Er lief eine kurze Treppe hinunter, duckte sich unter einen niedrigen Bogengang und erstarrte einen Moment später, als ihm etwas ins Gesicht schlug. Etwas mit langen Zähnen, das zischte. Der Mann stieß den Angreifer fort, griff unter sein Hemd, um den Kriegsstein herauszuziehen, und erstarrte zum zweiten Mal. Fassungslos sah er auf die Speerspitze, welche aus seinem Bauch wuchs, und brach zusammen. Im Fallen griffen seine Finger nach dem Stein, doch der herausgezogene Speer fing ihn ab. Dann ertönte von allen Seiten Zischen, und einige Dutzend Schlangen glitten heran, um sich an diesem Festmahl gütlich zu tun. Der Schlangenpriester bückte sich und nahm den Stein in die Hand. Welche Macht! Er spürte das Pochen der Energie, welche bereitstand, für ihn zu wirken ... Er warf einen Blick hinab auf die Leiche, welche halb un-
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ter sich windenden und ringelnden Leibern verborgen lag, lächelte gehässig und bemerkte: »Allem Ansssein nach können ausss Koglaur sssterben.« Damit wandte sich der Priester ab und schritt auf das Licht zu. Als er es erreichte und in die Kammer mit dem Kerzenschein trat, hielt er den Kriegsstein triumphierend hoch, und aus den Schatten ertönten Beifall und Jubel. Gestalten mit Kapuzen über den Häuptern strebten heran und versuchten, den Stein zu berühren. Der Priester lachte und stellte sich in die Mitte des Raums, dort wo die Bodenfliesen einen dunklen Stern bildeten. Er hob eine Hand, um Schweigen zu gebieten. Sie erwiesen sich als gehorsam. »Gläubige der Ssslange!« rief er ihnen mit einer Stimme zu, welche lauter und erregter klang, als sie es je von ihm gehört hatten. »Isss benötige nun eure Dienssste!« Begeisterte Zustimmung hallte von der Decke wider, und der Priester lächelte und hielt wieder die Hand hoch. Als alle wieder schwiegen, brachte er den Stein dazu, in seiner Hand wie weißes Feuer zu leuchten. »Gewaltig issst die Massst diesssesss Weltensssteinsss«, sang er, »und ssseine Kraft nun unsss dient. Dosss der Ssstein desss Lebensss befindet sisss in einer anderen Hand. Wir müsssen auch ihn besssitsssen, und wir werden ihn auch bekommen. Wenn ihr mir jetssst helft, werden wir ihn bald erringen!« Begeisterndes Gebrüll antwortete ihm, und der Schlangenpriester schrie: »Wenn Ihr der Ssslange auch in Sssukunft dienen wollt, dann entkleidet eusss, küssst eure Ssslange, und tanssst zum Lied desss Sssteinsss!«
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Der Weltenstein blitzte rubinrot auf und dröhnte dann wie eine schwere Trommel. So tief klang die Musik, dass es den Gläubigen in den Ohren kitzelte. Wieder der Blitz, gefolgt von dem Trommeln, nur diesmal etwas schneller. Rascher und rascher erfolgte die Musik des Steins, und der Oberpriester schob mit der freien Hand seine Kapuze zurück. Dann winkte er seine verdientesten Priesterinnen heran. Diese lösten sofort ihre Bänder, rissen die Roben herunter und fingen an zu tanzen. Die ganze nackte Schar bewege sich von der linken Seite des Priesters zu seiner rechten und umtanzte ihn dann im Kreis. Ihre Schlangen wanden sich immer erregter um die Arme der Frauen. Nun drängten auch die einfachen Gläubigen heran. Sie hatten sich ihre Schlangen um die Gliedmaßen gewickelt und konnten es gar nicht abwarten, sich dem irrsinnig schnellen Tanz anzuschließen. Der Stein blinkte jetzt geradezu. Bei jedem Aufblitzen zogen die Schlangen den Kopf zurück, schnellten wieder vor und versenkten die Zähne in das bloße Fleisch ihrer Träger. Die Tänzer heulten, jaulten und schluchzten. Im allerhöchsten Glück streckten sie die Hände aus, um den Dwaer zu berühren. Der Oberpriester lachte verzückt, wandte den Blick nicht für einen Moment von dem Weltenstein in seiner erhobenen Hand und spürte, wie dieser die fernsten Fernen überwand, um zu dem Lebensstein zu finden, welcher nach ihm verlangte, damit sie sich wieder vereinen durften ... Die Gläubigen sprangen nun wie von Sinnen umher und ließen sich von ihren Schlangen beißen. Das Lied des Steins nahm an Wucht zu, und die Tänzer bewegten sich noch aus-
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gelassener. Dann veränderte sich alles: Die zuckenden Glieder bewegten sich abgehackt, die Haut der Menschen verfärbte sich bernsteingelb und verdunkelte sich zu einem kräftigen Lila. Augen glitzerten golden, Schaum quoll aus den Mündern, und Schlangengift strömte durch die Adern. Nur die wachsende Kraft der Magie hielt die Gläubigen aufrecht. Irgendwo in Burg Silberbaum öffnete sich eine Tür, und ein Mann in vornehmen Gewändern betrat einen mit Blut beschmierten Raum. Eine der Frauen, die wie ein Häufchen Elend zusammengekrümmt am Fuß des Bettes lagen, hob den Kopf und starrte den Besucher aus verheulten Augen an. »Ihr natürlich«, bemerkte sie mit so viel Verachtung in der Stimme, wie sie nur aufbieten konnte. »Ich habe mir schon gedacht, dass Ihr früher oder später hier auftauchen würdet.« Ingryl Ambelter breitete mit einem Lächeln die Arme aus. »Und wie Ihr seht, habe ich Euch nicht enttäuscht.« Sein Blick wanderte durch das Gemach, betrachtete kurz die einzelnen Gesichter mit den geröteten Augen und meinte dann: »Als Bannmeister von Silberbaum und als wahrer Herrscher dieses Reiches biete ich euch nun einen Handel an.« Der Magier wartete. Die Frauen sahen ihn zwar aufmerksam an, zogen es aber vor zu schweigen. Ingryls freundliche Miene verging, bis nur noch ein mattes Lächeln übrig geblieben war. »Wenn ihr mir in allem getreulich dient«, erklärte er ihnen, »wie vormals dem Baron, so will ich euch von den lan-
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gen Krallen befreien und euch auch sonst euer normales Aussehen zurückgeben.« Sarintha ruckte hoch, stieg aus dem Bett und hob die Klauen wie Dolche. Ihre nackte Haut war über und über mit Blut bedeckt, das beileibe nicht nur von ihr stammte. Mit jedem Schritt hinterließ die junge Frau einen roten Fußabdruck auf den Fellen. »Wir sollen der Zauberei dienen, welche uns zu dem hier gemacht hat?« zischte sie und funkelte den Magier an. »Wir sollen dem Treue schwören, welchen selbst der Fürst fürchtet?« Die junge Frau warf sich mit ihren Krallen auf ihn und schrie: »Niemals!« Der Bannmeister blieb einfach stehen, auch als die Klauen auf ihn niedersausten, und verschoss dann Feuer aus den Händen. Die Furie verbrannte nur zwei Schritte vor ihm bis auf die Knochen. Was von ihr übrig geblieben war, fiel auf den Fellteppich. Ein kleines Rauchwölkchen war das Letzte, was Sarintha von sich gab. Nun lächelte Ingryl den Rest der Gespielinnen auf das Liebenswürdigste an. Das waren also die Überlebenden, und sie wussten jetzt genau, wie es sich um sie verhielt. Während sich die letzten Rauchreste Sarinthas verflüchtigten, unterbreitete der Magier den Frauen noch einmal sein Angebot. Langsam und mit gesenktem Blick trat eine schlanke Frau mit einer unglaublichen schwarzen Haarmähne vor, kniete sich vor dem Magier nieder, berührte mit der Stirn den Boden und hielt die Hände mit den langen Krallen nach hinten gestreckt, um den Mann nur ja nicht zu verletzen.
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Ingryl spürte den Druck ihrer Lippen auf seinem Stiefel und lächelte zufrieden. Nur einen Moment später kam die zweite heran und kniete sich neben die erste. Nachdem auch die dritte Schöne ihren Weg zum neuen Herrn gefunden hatte, drängten alle anderen ebenfalls vor; denn keine wollte die Letzte sein. Der Bannmeister warf den Kopf in den Nacken und lachte laut. Als die Frauen ihm reihum die Stiefel geküsst hatten, wedelte Ingryl mit dem Zeigefinger, und eine der Baronskronen Silberbaums kam von ihrem Haken am Bettpfosten herangeflogen und landete sicher auf dem Haupt des Zauberers. Während er das Krönchen zurechtrückte, leckten und küssten die Mädchen ihm erneut die Füße. Er lachte fröhlich darüber und bekam nicht mit, dass für jeden gegebenen Kuss ein Dutzend oder mehr Tränen flossen. Aber schließlich gehörte es noch nie zu den Aufgaben eines Magiers, sich um die Wünsche und Nöte von Unterlingen zu kümmern. Ingryl freute sich vielmehr darüber, dass ihm die Krone der Familie Silberbaum so gut passte. Derweil versickerten die Tränen im vom Blut getränkten Fellteppich. Das Lied des Kriegssteins ließ das Schweigende Haus von oben bis unten erbeben, und die Tänzer drehten sich immer schneller. Der Priester in ihrer Mitte spürte die ungeheure Macht und Energie, welche dunkel und unbezwinglich in ihm aufstiegen. Da kam es außerhalb des Kreises der Tänzer zu einem Lichtblitz. Mit dieser Erscheinung hatte der Schlangenpriester nicht gerechnet. Mit gerunzelter Stirn spähte er genauer hin
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... und in diesem Moment entstand ein neuer Blitz. Als auch dieses rätselhafte Leuchten verloschen war, erblickte der Priester einen kopflosen Mann, den er nicht erkannte. Dieser hüpfte und zappelte im Tanzrund, und eine Fledermaus mit zerfetzten Flügeln umkreiste ihn. Jetzt entdeckte der Priester noch mehr. Vor dem Mann mit der Fledermaus stampfte ein Soldat in Rüstung und mit dem Wappen des Fürstentums Ornentar. Sein Kopf rollte eigenartig hin und her ... der Hals war ihm aufgeschlitzt worden, und eine klaffende Wunde tat sich dort auf ... Der nächste Blitz brachte weitere Krieger, welche sich gleich den Toten und den Gläubigen mit dem Schaum vor dem Mund anschlossen. Der Schlangenpriester sah sich das Schauspiel für eine Weile an, zuckte dann die Achseln und gab sich ganz der Verzückung und Erfüllung dieses Rituals hin. Was sollte es ihn bekümmern, wenn es sich bei den Wolken von blutigen Knochen und Körperteilen, welche nun in rascher Folge den Tanzkreis auffüllten, einmal um lebende Menschen gehandelt hatte? Weder Markoun noch Klamantel hatten für sich mit einem solchen Ende gerechnet. Aber nur wenigen Sterblichen in Darsar ist es vorbehalten, Stunde und Art ihres Ablebens auszuwählen. Während immer mehr fahrende Sänger und verbrannte Zauberer den äußeren Kreis besetzten, lachte der Schlangenpriester laut und klatschte in die Hände. Schneller und schneller wogte der Tanz ... Eine kleine und durchsichtige Burg aus Flaschen und Glas-
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krügen stand auf einem Marmortisch in Urngallond. Jenseits der glänzenden Türmchen zeigte sich der Rand einer Badewanne, welche man in den Boden eingelassen hatte. Vier Köpfe lagen darauf, machten einen entspannten Eindruck und schienen auch sonst viel Spaß zu haben. »Bei den Göttern! Meine Muskeln sind so hart und verspannt wie ein Stein –« Wasser drang Craer in den Mund. Er musste husten und hätte beinahe die halb volle Weinflasche in das Badewasser fallen lassen. »Tja«, meinte Sarasper, »das schlaucht eben, wenn man mit einer Zauberin herumzieht.« »Ich hätte mir nie träumen lassen«, sprach Hawkril, »eines Tages mal zusammen mit einem adligen Fräulein in einer Wanne zu liegen, deren Inhalt zur einen Hälfte aus Wein und zur anderen aus Craers Blaseninhalt besteht. Embra, reicht mir eine neue Flasche, ja?« Aber die Zauberin antwortete weder, noch regte sie sich. »Embra? Fehlt Euch etwas?« fragte der Ritter besorgt. Die Prinzessin sah ihn kurz ernst und abweisend an, dann starrte sie wieder ins Wasser. Die drei Männer hatten sich nun alle aufgerichtet und schauten auf die Stelle – dort ließ sich ein Glühen feststellen. »Euer Hoheit?« drängte der Heiler. »Was geht dort vor? Sagt es uns!« Embras Augen kündeten von der Anspannung, unter welcher sie stand. Die Prinzessin drehte den Kopf zu ihm, und ihre langen Haare schwammen im Halbkreis hinterher ... »Zauberei«, flüsterte sie. »Etwas zieht an meinem Stein.« Noch während die junge Frau sprach, stieg der Weltenstein wie ein großer Pilz aus dem Wasser, und Tropfen perlten wie Tau von ihm ab. Je höher der Dwaer stieg, desto weißer und
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eindringlicher strahlte er. Die Prinzessin wollte ihn nicht loslassen, klammerte die Finger darum und betete zur Dreifaltigkeit. Die Männer starrten gebannt hin, als der Dwaer immer höher stieg und die Zauberin mitnahm ... bis sie mitten in der Luft hing und wie ein begossener Pudel tropfte. Ihre Füße befanden sich bereits eine Handbreit über dem Wasser – und schwebten immer noch höher und höher. Schließlich streckte Hawkril eine seiner Pranken aus, bekam umständlich, weil er sich nicht so recht getraute, einen ihrer Fußknöchel zu fassen und murmelte dabei verlegen: »Herrin? Edles Fräulein, darf ich es ... äh ... wagen ...« Die Prinzessin musste ganz schön den Hals verdrehen, um vorbei an ihrem nass glänzenden Leib den Hünen anschauen zu können. Sie musste die Arme ganz lang machen, um den Stein noch halten zu können. »Ich, äh...« begann die Zauberin und wusste offenbar am allerwenigsten, wie ihr geschah ... und der Stein leuchtete ohne Vorwarnung grell auf. Etwas Wolkiges quoll zwischen Embras schlanken Fingern hindurch, und sie glaubte schon, der Dwaer brenne. Jedenfalls löste dieser sonderbare Rauch die Wassertropfen auf ihrer Hautauf. Dann erscholl ebenso übergangslos wie vorhin ein krachendes Tosen, und der Lebensstein spuckte grüne und goldene Flammen. Die junge Frau schrie, als plötzlich die Schmerzen einsetzten. Die Männer unten sprangen auf und ab und schrien etwas, was die Prinzessin kaum verstehen konnte. Aber irgendwann fiel ihr Blick auf die Finger, welche sich
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immer noch um den Stein schlossen: Alle schwärzten sich, als verbrennten sie zu Holzkohle ...
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Kein Stein bleibt auf dem anderen C Das Brutzeln von brennendem Menschenfleisch erklang laut genug, dass selbst die drei Männer es hören konnten, welche gerade platschend und schreiend aus der Wanne stiegen, um ihrer Gefährtin zu Hilfe zu eilen, welche vom Lebensstein hängend in der Luft schwebte. »Fasst mich nicht an!« kreischte die Prinzessin, und vor lauter Pein standen ihr die Tränen in den Augen. »Bleibt weg! Fort von mir!« Flammen schossen aus den geschwärzten Fingern, und Embra konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Schließlich vermochte sie mit zitternden Lippen die Worte zu formen: »Sagt mir lieber, wo das herkommt?« Der Weltenstein hüllte noch einmal den ganzen Raum in grelles Licht, und dann bekamen die drei Gefährten am Boden neben der nackten Zauberin ein Bild zu sehen: Eine Halle, in welcher ein Mann mit Kapuze einen anderen Stein hoch in die Luft hielt, während eine ganze Menge Volk ihn umtanzte.
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Die Tänzer hinterließen einen eigenartigen Eindruck. Sie bewegten sich wie Volltrunkene: Die Köpfe schienen in ihren Bewegungen einem anderen Rhythmus zu folgen als die wirr zuckenden Gliedmaßen. Im Innenkreis hüpften vor allem Nackte herum. Als Einziges trugen sie Schlangen am Leib, welche auf ihrer Haut herumkrochen und gelegentlich zubissen. Die Tänzer an der Außenseite boten hingegen kein so einheitliches Bild und wirkten eher wie ... »Bei den süßen Küssen der Dreifaltigkeit!« keuchte Hawkril, die sind ja alle tot!« Das Lied des Steins übertönte nun jedes andere Geräusch, und der Schlangenpriester sang wortlos mit. Er kannte den Text nicht, aber die unbeschreibliche Begeisterung, welche ihn schon die ganze Zeit erfüllte, trieb ihn durch Strophe um Strophe. Dann ertönte unerwartet ein tieferes Dröhnen, und das Lied verhuschte zu Flüsterlautstärke. Über dem Kopf des Priesters explodierte der Dwaer in zunächst roten und dann schwarzen Flammen, welche auf und ab wogten, aber niemals die Finger ihres menschlichen Trägers auch nur streiften. Voller Glücksempfindungen schaute der Mann hinauf zu den Flammen und meinte ausmachen zu können, dass sie immer weiter nach außen schnellten und die Bewegungen der langsamer werdenden Tänzer durcheinander brachten ... so dass man bald glauben wollte, im Saal herrsche schwerer Seegang. Der Priester schaute genauer hin, denn er wollte ergründen, worum es sich bei diesen Veränderungen in der Runde handelte. Schon nach ein paar Momenten stellte er fest, dass
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der Stein die Tänzer verwandelte. Den Gläubigen wuchsen Schuppen, ihre Köpfe wurden flacher, lange und schmale Zungen hingen ihnen aus dem Mund, die sich auch noch gabelten, und ihre Augen wirkten dunkel und tot. Der Priester lachte begeistert und erfreute sich an der Macht, welche über sie gekommen war. Er lachte immer noch, als sich der Zauberer Jaerinsturn aus dem Kreis der Tänzer löste und hinter den Priester drängte. Sein Gesicht und seine Brust waren immer noch schwarz und blasig von dem Feuer in Sirlptar. Der Magier zog unter den Fetzen seines Umhangs eine Knochenkeule heraus und schlug dem Mann den Hinterkopf ein und das mit ungeheurer Wucht, so dass dem Priester das Gehirn zu den Nasenlöchern hinausspritzte. Mit einem schniefenden, blubbernden Seufzer brach der Schlangenpriester tot zusammen. Die Flammen vom Stein in seiner Hand verwehten wie der Rauch einer gerade gelöschten Kerze. Irgendwo am Meer in einem Küstengasthaus vergingen auch bei einem anderen Stein die Flammen, und Embra seufzte erleichtert, bevor sie mit einem großen Platschen in die Wanne zurückfiel. Ohne sich lange danach umzusehen, wie viel Wasser sie verspritzt oder wie viele Weinflaschen sie bei der Landung zertrümmert hatte, rief die Zauberin gleich die wenigen verbliebenen Kräfte des Weltensteins an, ihr die Hand und die verkohlten Finger zu heilen. Während Embra den Stein immer noch mit unglaublicher
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Entschlossenheit festhielt, stiegen die drei Männer mit ihr in die Wanne zurück, trugen sie auf den Armen und sprachen ihr gut zu. Unter Tränen gelang es der Prinzessin, zu ihnen hochzuschauen und zu lächeln. Es rummste und polterte im Schweigenden Haus, als die Tänzer einer nach dem anderen zu Boden fielen und schließlich einen Ring der Leblosigkeit bildeten. Ihre Schlangen glitten rasch von ihnen fort und verbargen sich in den Schatten. Kein einziges dieser geheimnisvollen Tiere kroch aber in die Mitte der Halle, um den Einzigen zu beißen, welcher hier noch aufrecht stand. Der tote Zauberer ließ die Hand mit der Knochenkeule sinken, welche den Schlangenpriester in eine andere Welt befördert hatte, und wandte sich ab. Während Jaerinsturn sich fortbewegte, zerschmolz sein verbranntes Gesicht zu einer formlosen Masse. Und während der alte Magier sich seinen Weg durch die toten Tänzer bahnte, nahm die formlose Masse seines Gesichts die Züge eines anderen an ... Während sie auf dem kühlen Wasser in der Wanne in Urngallond schwamm, verlor ihr Gesicht mit einem Mal alle Farbe. »Was ist mit Euch, Mädchen?« fragte Hawkril sofort und legte ihr einen seiner großen und behaarten Arme um die Schultern. Die Prinzessin sah erst ihn an und schaute dann wieder auf
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das Bild, welches immer noch vor ihnen in der Luft hing. Dann sprach die Prinzessin: »In der Bibliothek meines Vaters steht ein altes Buch, eine Geschichte aus frühesten Zeiten. Ein wunderbarer alter Band mit Schlössern und Schließen. Als kleines Mädchen war es mir immer die größte Freude, mit diesen Verschlüssen zu spielen. Aber die Geschichte, welche darin zu lesen steht ... die hat mir immer eine riesige Angst eingejagt. Besonders die eine Stelle ›Der Gesichtslose wird euch holen kommen ...‹« »Sie meint einen Koglaur«, flüsterte Sarasper den anderen zu. »Wesen, welche unter uns wandeln, Banne wirken, welche wir nicht kennen, und ständig alles beobachten ... Im Tempel von Vorvater Eiche lehrte man uns, sie zu fürchten. Denn Koglaur dienten nicht der Dreifaltigkeit und sprächen auch niemals gut und fromm von ihr, nicht einmal unter magischer Folter.« »Ja und? Was sind das denn für Wesen?« wollte Craer ungeduldig wissen. Aber Embra und Sarasper zuckten gleichzeitig die Achseln, um ihr Nichtwissen anzuzeigen. Nun schauten alle hinauf auf das Bild über ihren Köpfen und verfolgten, wie der Koglaur durch das Schweigende Haus schritt und den Raum aufsuchte, in welchem der zerschundene und von Bränden beschädigte Thron derer von Silberbaum stand. Auf diesen legte er den Kriegsstein, murmelte etwas dazu, verließ die Kammer dann durch eine Geheimtür, welche seinen Zuschauern unbekannt gewesen war, und schien sich nicht weiter um den Dwaer kümmern zu wollen. Der Heiler räusperte sich: »Diesen Weltenstein müssen wir
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sofort an uns bringen, unbedingt ...« Aber da flimmerte schon die Luft neben dem Thron, und heraus trat Ingryl Ambelter – mit der Krone der Silberbaum auf dem Haupt. Er streckte einen Finger aus, und zwischen ihm und dem Weltenstein zuckten Blitze hin und her. Als diese Energieströme erloschen, schüttelte der Bannschmied den Kopf, steckte den Stein ein und erklärte dem Raum: »Ihr Zuschauer seid dämliche Narren!« Damit verließ der das Gemach so, wie er gekommen war, durch flimmernde Luft nämlich. Damit erlosch das Bild, und die Vier rieben sich verwundert die Augen. »Wohin mag er verschwunden sein?« fragte Sarasper, und die Antwort schien ihn wirklich zu interessieren. Embra schloss die Augen, und der Stein in ihrer Hand glühte einmal auf. Als sie die Augen wieder öffnete, konnte sie dem Heiler weiterhelfen. »Er befindet sich wieder auf Burg Silberbaum.« Craer fasste die Gefährtin am Arm: »Der Dwaer kann die Spur von Menschen aufnehmen? Das hieße ja, dass wir ...« »Nein«, schüttelte die Prinzessin den Kopf. »Ich habe lediglich von dem Weltenstein verlangt, meine eigenen Wahrnehmungen zu verstärken. In der ›Lebenden Burg‹ Silberbaum hat man mir das beigebracht. Ich vermag durch die Steine in diesem Gemäuer zu er spüren, was ich suche. Und in gewissem, wenn auch recht bescheidenem Maße kann ich sogar das eine oder andere auf unserem Stammsitz beeinflussen.« Die junge Frau seufzte wieder und ließ sich ins Wasser zurücksinken, bis nur noch ihr Kopf darüber hinausragte.
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»Einer von euch, gleich wer, möge mir noch eine Flasche reichen«, bat die Prinzessin müde, »und dann ziehen wir uns alle an und packen. Wenn wir diesen Bannmeister nicht so rasch wie möglich vernichten, wird er uns den Garaus machen, und zwar noch heute Nacht, sobald wir eingeschlafen sind.« Die drei setzten sich in Bewegung, um ihrer Aufforderung Folge zu leisten. Als der Weinkellner später am Abend vor der verschlossenen Zimmertür seinen Gong ertönten ließ und dann mit seinem Allesschlüssel aufsperrte, um das Leergut einzusammeln und als Schlummertrunk heißen Nusswein zu reichen, staunte er nicht schlecht, die Palast-Suite leer vorzufinden. Nur eine Wanne mit kaltem Wasser, einen Wald leerer Flaschen und ein paar Hand voll Geldstücke auf den unbenutzten Betten fand der Kellner hier vor. Die Viererbande fand sich plötzlich in einem Raum wieder, welcher Craer und Hawkril nicht ganz unbekannt war und zahlreiche Gewänder enthielt. Durch hauchdünne Vorhänge erblickten sie in der Nachbarkammer warmes Licht, das sich bewegte. Drei Glaslampen, welche man zu einer Art Leuchtblume zusammengestellt hatte, schwebten über den Schultern eines Mannes, welcher an einem Tisch saß und in einem alten Buch las. »Ingryl Ambelter ist der Bannmeister meines Vaters«, flüsterte Embra ihren Gefährten zu, »und vermutlich der mächtigste Magier in ganz Aglirta. Verhaltet euch also sehr, sehr leise.«
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»Was hat er denn in dem Raum dort verloren?« fragte der Beschaffer. »Da gab’s immer schon das beste Licht«, antwortete die Prinzessin. »Ich selbst habe die Kammer öfters benutzt, um mich schön zu machen, wisst ihr?« Die Zauberin nahm nun alle drei Gefährten in ihre Arme und erklärte ihnen: »Haltet euch jetzt bereit. Sobald Ingryl Ambelter anfängt, Banne zu schleudern, müsst ihr mich anfassen und dürft mich nicht mehr loslassen. Nur so kann ich den Weltenstein dazu bringen, uns alle zu beschützen.« Nun hob die Zauberin die Hände und schleuderte Ingryl einen Blitz entgegen, und einen Moment später den nächsten. Als deren Fauchen Ingryls Aufmerksamkeit erregte und er den Kopf hob, schleuderte Craer mit aller Kraft ein Messer auf das Gesicht des Bannmeisters. Ingryl hob aber nur zwei Finger zum Gruß und lächelte dazu frostkalt. Die beiden Blitze und der Dolch prallten gegen einen unsichtbaren Schutzschild. Als die Blitze sofort die Rückreise zur Viererbande antraten, schrie Embra: »Vergesst es nicht! Haltet euch an mir fest!« Die Energiestöße zerplatzten vor ihnen, hüllten alle Vier ein und verzogen sich. Nur ein Gefühl der Taubheit blieb bei den Gefährten zurück. Doch der Bannmeister hielt schon den nächsten Zauber für sie bereit. Das erkannten sie daran, dass sich sein Lächeln verbreiterte. Vor ihnen verdunkelte sich die Luft, und halb sichtbare Mäuler mit langen Reißzähnen schnappten nach ihnen. Craer duckte sich unwillkürlich, als eines dieser Ungeheuer ihm zu nahe kam. Rasch legte er aber wieder eine Hand auf Embras Ärmel,
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als diese einen Warnruf ausstieß und die Mäuler sich wie Verhungernde auf den Beschaffer stürzten. In ihrer Gier durchschwärmten die Bestien einander. Die Prinzessin winkte einmal mit dem ausgestreckten Arm, und von den halb durchsichtigen Wesen ließ sich überhaupt nichts mehr erkennen. Eine Woge aus weißem Licht hatte sie wie Sterne in dem Universum zwischen Embra und Ingryl verglühen lassen. Ambelter hielt den Kriegsstein an seine Brust gepresst. Buch und Lektüre schien er bereits vergessen zu haben, als er sich vom Tisch entfernte und mit der freien Hand nach seinem Zepter suchte. Embras Lippen verwandelten sich in schmale Striche. Sie verband sich mit dem Lebensstein und erinnerte sich an ihre Jahre der Zaubererausbildung, um ihre Verknüpfung mit der Lebenden Burg wiederherzustellen ... Ihre Gedanken und ihr Wille bewegten sich bald wieder über die von früher vertrauten Verbindungen und halb schlafenden magischen Stolpersteine ... Als Ingryl sein Zepter hob, löste sich eine ganze Reihe bemalter Kacheln aus der Decke und regnete auf den Bannmeister herab. Die meisten trafen seinen Arm mit dem Zepter, bis er ihn sinken lassen musste. »Ihr müsst näher heran, Mädchen!« dröhnte der Hüne ihr ins Ohr. »Nur so können wir mit unseren Waffen etwas gegen ihn ausrichten. Schreitet mit uns auf ihn zu, während Ihr Eure Zauber gegen ihn wirkt.« Damit trat Hawkril einen Schritt vor, und Embra folgte ihm leise nickend, um die Verbindung zu ihm nicht abbrechen zu lassen. Craer und Sarasper beeilten sich, zu den bei-
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den aufzuschließen. Und so bewegten sich die Gefährten wie eine betrunkene Schildkröte voran und näherten sich durch einen Sturm von Bannen dem Zaubermeister entgegen. Wandteppiche flogen Ingryl um die Ohren, Kacheln regneten ununterbrochen auf ihn und drohten, ihm das Zepter aus der Hand zu schlagen, und echte Zauber prasselten zwischen den beiden Weltensteinen hin und her. Die Männer der Viererbande hackten mit ihren Schwertern und anderen Klingen nach dem Gegner, und die Energieblitze rauschten umso lauter in ihren Ohren. Der Bannmeister zog sich langsam zurück, verschwand durch einen Türvorhang, durch einen anderen Raum und durch den Ausgang am gegenüberliegenden Ende. Er eilte an der Gartenseite von Embras Gemächern entlang zu den Räumlichkeiten mit Ausblick auf den Strom. Als Ingryl mit dem dunklen und polierten Tisch zusammenstieß, an welchem ihr Vater und sie sich immer getroffen hatten, lächelte der Bannmeister kurz in sich hinein. Die Prinzessin fragte sich, welche Teufelei ihm gerade in den Sinn gekommen sein mochte. Einen Moment später erhielt die junge Frau die Antwort, aber da war es fast schon zu spät. Auf dem Tischchen befand sich nämlich ein weiteres Zepter. Ingryl machte sich gar nicht erst die Mühe, nach dem zweiten Zauberstab zu greifen. Stattdessen tippte er lediglich mit dem ersten Zepter darauf, ließ sich von dem Sturm von Kacheln und Teppichen nicht beeindrucken, mit welchem Embra ihn immer noch behelligte, und wirkte seine Magie. Der Kriegsstein flammte auf und schützte seinen Herrn vor
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allen Unbilden – und einen Moment später explodierte die ganze Burg Silberbaum. Der Knall traf ihre Ohren wie eine Serie von Hammerschlägen. Für einige Momente wurden sie taub und verfolgten den weiteren Gang der Geschehnisse wie durch einen friedlichen Vorhang. Dem folgte blendende Helligkeit, ein unfreiwilliger Flug durch die Luft, der noch unwillkommenere Zusammenstoß mit harten Dingen, der Absturz und ein Begräbnis unter Schutt und Geröll. Die Explosion von zwei Zeptern, von denen er einen auch noch in der Hand hielt, hätte Ingryl eigentlich zerreißen müssen. Doch nichts da, stattdessen zerfetzte sie Embras Privatgemächer. Die vier Gefährten flogen die Strecke von einer Zimmerlänge gemeinsam und wurden dann von der Wucht der Sprengung auseinander getrieben. Verzweifelt versuchte die Prinzessin, Trümmer und Schutt beisammenzuhalten, um damit den obersten Magier ihres Vaters zu bewerfen. Doch rasch wie eine zuschnappende Schlange wob Ingryl einen Abwehrzauber. Dann ging der Bannmeister zum Gegenangriff über. In seinen Handflächen flammte das lilafarbene Feuer auf, welches Fleisch und Knochen in Schleim verwandelt. Das richtete er auf den einzigen Gefährten, welcher noch auf seinen Beinen stand. Hawkril war gerade wieder hochgekommen und stürmte nun noch halb benommen mit seinen Waffen auf den Magier los. Embra benutzte verzweifelt den Lebensstein, um einen
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Sprungzauber um den Hünen zu weben. Der verdutzte Hawkril verschwand plötzlich aus der Kammer, in welcher er sich gerade noch befunden hatte, und fand sich auf dem Balkon eines benachbarten Raums wieder. Gerade noch rechtzeitig, bevor Ingryls tödliche Strahlen den Ritter für immer vom Antlitz der Welt hätten tilgen können. Doch da flitzte schon etwas Neues durch die Kammer, jemand, der über Schutt und Stein sprang und hüpfte: Craer Delnbein mit einem Messer quer im Mund und blanker Mordlust in den Augen. Er hatte mit ansehen müssen, wie sein bester Freund den Zauberer angegriffen hatte und urplötzlich verschwunden war. Das schrie nach Rache! Ingryl befreite sich gerade aus dem Schutt, unter welchem die Prinzessin ihn halb begraben hatte. Mehr Macht besaß die junge Frau nicht in diesem Raum. Je mehr von dem Gemäuer zerstört wurde, desto geringer wurde Embras Zugriff darauf. Kaum wieder freigekommen, sandte der Bannmeister seinen Feuerfaust-Zauber ab. Der Beschaffer duckte sich darunter hinweg, drehte sich um die eigene Achse, trat einen Stuhl in die Luft, welcher mit den Feuern zusammenstieß und sie endgültig ablenkte ... dann schlug er einen Purzelbaum und landete mit den Füßen genau in Ingryls Unterleib. Der Bannmeister flog krachend durch den großen ovalen Standspiegel von Fräulein Silberbaum. Dank der vielen scharfen Splitter verlor Ambelter eine Menge Blut. Dann traf ihn auch noch der schwere Rahmen.
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Er kam mit dem einen Arm so schwer auf, dass ihm der Kriegsstein aus der Hand flog. Craer sauste schon darauf zu. Doch Ingryl musste sich gar nicht erst wieder aufrichten, um die andere Hand auszustrecken und die magischen Worte zu ächzen, welche den Beschaffer mit einem Flammennetz überzogen. Craer schrie auf und kippte um. Der Bannmeister lachte laut, stieß den Spiegelrahmen beiseite, erhob sich und zielte mit der Hetzten Feuerfaust auf den Beschaffer, um ihm endgültig den Rest zu geben. Embra vereinigte die Energie des Weltensteins und ihre wenige verbliebene Macht über die Burg. Der furchtbar mitgenommene Teppich, auf welchem sich sowohl der Bannmeister als auch der Beschaffer befanden, schnellte plötzlich wie ein Sprungtuch nach oben und schleuderte beide Männer hoch in die Luft. Die Flammen streiften Craer nur und schlugen mit all ihrer Wucht in eine der Wände ein. Denn den Bannmeister hatte es von den Füßen gerissen, und fluchend landete er auf dem Bauch. So wie die Prinzessin eben dem Ritter beigestanden hatte, half sie jetzt auch dem Beschaffer, indem sie den Verwundeten per Zauberkraft hinaus auf den Balkon beförderte. Dann erscholl ein Begeisterungsschrei, und der mächtige Zauberer und die pfiffige Prinzessin fuhren herum. Sarasper Kodelmer war ein Stück weiter entfernt zu sehen, wie er den Kriegsstein mit beiden Händen hochhielt. Wut zeichnete sich auf seinen Zügen ab, als er den Bannmeister erkannte. Doch dann erstarrte der Alte mitten in der Bewegung ... Sarasper, hier spricht Alte Eiche, und ich gebiete über Euch. Des-
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wegen verlange ich von Euch, zuerst dieses Fräulein dort zu vernichten, und dann die beiden Männer auf dem Balkon. Setzt dazu die ganze Kraft des Weltensteins ein. Ich, Alte Eiche, befehle Euch das! Und jetzt feuert die Energie ab! Ingryl Ambelter lag auf dem Teppich und ließ sich nichts davon anmerken, dass er mit seiner Gottesstimme zu dem Alten sprach. Er zwang den Heiler dazu, sich zu drehen, bis dieser ihm den Rücken zukehrte, und verschoss dann ein Dutzend Feuerspeere auf die Baronstochter. Embra konnte sich nur mit ihrem Dwaer vor so vielen Lanzen schützen. Während sie den Schild gegen die Feuergeschosse aufbaute, drehte sich Sarasper, und der Stein in seinen Händen spuckte rotes und schwarzes Feuer auf sie. In höchster Not ließ die Prinzessin den Schild fahren und nutzte dessen Energie dazu, sich selbst und den Heiler hinaus auf den Balkon zu schaffen. Sarasper, der sofort weiterfeuerte, stellte sie ans Geländer, so dass die Energie seines Steins hinaus ins Flusstal flog und unter den Gefährten keinen Schaden anrichtete. Das Energiefeuer zerschmolz Felsen, Häuser, Säulen, Möbel und überhaupt alles, worauf es traf. Und das schneller, als man hinsehen konnte. Embra stockte der Atem. Was in ganz Darsar vermochte solcher Macht zu widerstehen? Während sich der Strahl immer weiter durch das Flusstal bohrte, erschien Ingryl und wirkte gleich einen neuen Zauber, einen einfachen kleinen Kniff, welcher wenig Aufwand erforderte. Dabei handelte es sich um eine Schlinge aus reiner Zauberenergie, welche nur wenige Momente Bestand hatte – gerade
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ausreichend, um sich einem lästigen Krieger um die Beine zu legen und ihn zu Fall zu bringen ... oder einem alten Heiler, der die stärkste Waffe in ganz Darsar in den Händen hielt. Während Sarasper also fiel, drehte sich die Waffe mit ihm, und der Strahl fuhr in einen der Burgtürme. Dieser explodierte, und Steinbrocken stürzten herab. Der Bannmeister war aber noch nicht fertig mit seinem Schlingenzauber. So drehte er den Heiler um die eigene Achse, bis der Energiestrahl aus dem Weltenstein den Balkon zerschnitt und ihn somit von den Gefährten und auch von der Burg selbst trennte. Als die Balkonhälfte in die Tiefe sauste und die Trümmer des zerschmetterten Turms hinterherpurzelten, ließ die Lebende Burg Embra an ihrer Pein teilhaben, und die junge Frau wusste nicht, wie ihr geschah. Die Prinzessin kreischte ihre Schmerzen hinaus, bewahrte sich in deren Toben nur einen Rest ihres Zauberverstands und nutzte den und die Energie des Lebenssteins in ihren blutenden Händen, um die Turmtrümmer abzufangen und in ihre zerstörten Privatgemächer zu schicken. Denn dort befand sich noch der Bannmeister. Dem kam es erst jetzt in den Sinn, sich aufzurichten und den Teppich zu verlassen ... und, als er die Brocken kommen sah, zum nächsten Ausgang zu eilen. Da landeten die Trümmer auch schon krachend und donnernd. Wie eine steinerne Sturzflut ergossen sie sich über die Kammern und den Teppich. Ingryls Todesschreie währten nicht lange; denn zwei Brocken zerquetschten ihn ganz und gar. Die Trümmer schienen ein Eigenleben entwickelt zu haben und rollten durch die
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ganze Burg, so als wollten sie sich die Gärten auf der anderen Seite anschauen. Ob sie dort anlangten, wusste niemand zu sagen, denn Embra zitterte am ganzen Leib und kreischte so gellend, dass ihr Schrei von einem Ende der Silberbaum-Insel zum anderen und zurück rollte. Zusammen mit dem Balkon, den Gefährten, mittlerweile zwei Dwaerindim und noch so manchem anderen Burgteil sauste die Prinzessin in die Tiefe, dem Wasser entgegen. Der Silberstrom nahm alles in sich auf. Doch bis auf ein kurzes Strahlen unter der Wasseroberfläche zeigte sich den Wachsoldaten nichts, welche am anderen Ende der Burg auf die Wehrgänge rannten, um festzustellen, was denn das ganze Getöse zu bedeuten habe. Das rasch dahinfließende Wasser wurde nur von den weiterhin hineinstürzenden Trümmern in Unordnung gebracht, von den Menschen aber war nichts mehr zu sehen. Er hatte die Stimme schon einmal gehört, wie sie aus der Dunkelheit zu ihm drang. »Flaeros Delkamper«, begrüßte sie ihn freundlich. »Tretet ein, trinkt einen Humpen oder zwei, und redet mit einem alten Löwen.« Flaeros aus Ragalar strahlte befriedigt, als den drei eingebildeten fahrenden Sängern, welche er schon den ganzen Abend zu beeindrucken versuchte, die Spucke wegblieb. Einer von ihnen fragte geradezu ehrfurchtsvoll: »Ihr kennt Inderos Sturmharfe?« Der so Bewunderte nickte großzügig und schwebte schon zu dem Tisch, an welchem Sturmharfe saß. »Aber selbstverständlich«, gab er den dreien noch mit, »ihr etwa nicht?«
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Aus der Dunkelheit ertönte ein Kichern. »Eure Klinge ist genauso scharf wie Eure Zunge, junger Mann. Doch nun berichtet mir, was man sich in Sirlptar über die Schlacht um Burg Silberbaum erzählt.« Flaeros ließ sich an dem Tisch nieder. »Seid meines Dankes gewiss, Herr, dass Ihr mir solche Ehre erweist. Und natürlich für diesen Humpen hier.« Er verstand die Geste der abwinkenden Hand seines Gegenübers richtig und kam der Aufforderung nach. »Herr, in der Stadt spricht man von nichts anderem. Der Frauenturm liegt, wenn ich es recht im Gedächtnis behalten habe, offen da, und die Sterne der Nacht können ungehindert hineinscheinen. Die ganze Seite der Burg ist aufgerissen und zerschmettert. Allgemein herrscht die Ansicht vor, der Baron sei bei dieser Verheerung ums Leben gekommen. Vielleicht habe der Strom seine Leiche davongetragen, vielleicht liege sie aber noch irgendwo unter den Trümmern verborgen. Ebenso weiß auch niemand, was aus den Dunklen Drei, seinen drei Hofmagiern geworden ist. Aber das alles dürfte Euch ja hinreichend bekannt sein, Herr. Verzeiht mir bitte, ich wollte Euch nicht damit langweilen.« Der Alte mit der Löwenmähne lachte. »Nur die Ruhe, junger Freund. Wenn Euch nicht eine schöne Dame oder die Herausforderung zu einem Zweikampf erwarten, besteht überhaupt kein Grund zur Eile. Wenn aber doch, so will ich Euch nicht von Euren Pflichten abhalten.« »Nein, nein«, entgegnete Flaeros und lächelte verlegen, »nichts dergleichen. Wenn ich etwas fahrig wirke, so liegt das allein an der Aufregung; denn die ganze Geschichte ist unge-
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heuer aufregend. Denkt Euch nur: Einige Flussschiffer wollen die Herrin der Edelsteine gesehen haben!« »Tatsächlich?« fragte Sturmharfe sofort. »Aber ja doch! Die Herrin Embra Silberbaum. Man will sie dabei beobachtet haben, wie sie einen Turm ihrer Burg zerstört hat. Und auch, wie der Balkon, auf welchem sie zusammen mit einigen anderen gestanden hat, abgebrochen und in den Strom gestürzt ist. Seit jenem Tag hat man weder sie noch ihre geheimnisvollen Gefährten noch ihren Vater noch seine drei Hofmagier gesehen!« »Die Prinzessin lebt aber noch«, entgegnete der alte Fahrensmann leise und schien für einen Moment vergessen zu haben, dass er nicht mehr allein an diesem Tisch saß. »Wenn sie gestorben wäre, hätte ich das gemerkt.« Schon einige Male war sich Flaeros Delkamper wie ein Zaunpfahl vorgekommen, der einfach nur dastand, während wichtige Persönlichkeiten an ihm vorbeihasteten, bevor er ihre Namen erfragen oder den Grund für ihre Eile erfahren konnte. Deswegen fasste er sich jetzt ein Herz, hielt sich an dem kühlen Ton seines schweren Humpens fest und fragte: »Wie meint Ihr das?« »Was?« Der junge Mann vermochte hernach nicht mehr zu sagen, wie es ihm in jenem Moment gelungen war, genug Mut zusammenzubringen, um die nächste Frage zu stellen. Er wusste nur noch, dass ihn quer über den Tisch ein Auge anschaute – so wie das eines Raubvogels, der sich seiner Beute sehr sicher ist.
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»Wie meint Ihr das, wenn Ihr sagt, Ihr hättet es gemerkt, wenn die edle Herrin gestorben wäre?« brachte Flaeros hervor. Der Raubvogelblick verschwand, und Sturmharfe antwortete: »Ich gehörte zu den vier gewöhnlichen Bürgern, welche für einen Zauber benötigt wurden, den man über Embra Silberbaum legte, als sie noch ein kleines Mädchen war. Die Zauberer ihres Vaters nannten uns ›Anker‹. Später habe ich erfahren, dass der Zauber etwas mit dem Gemäuer der Burg zu tun hatte. Durch ihren Stein konnte man Verbindung mit uns aufnehmen. Die Magier nannten das ›Lebende Burg‹. Mir ist es leider nie gelungen, jemanden dazu zu bringen, mir das genauer zu erklären. Oder mir wenigstens zu versichern, dass der Bann wirklich so heiße und auch eine entsprechende Bedeutung habe. Aber vermutlich hat es mir immer nur an der nötigen Barschaft gemangelt. Wenn ich Risten und Säcke voller Geld auf den Tisch gelegt hätte, wäre man mir bestimmt die Antwort nicht lange schuldig geblieben.« Flaeros nickte, die beiden prosteten sich zu, und dann schwiegen sie. Der junge Sänger sah sich um, machte aber an den anderen Tischen nur wenige Gäste aus. Keiner war ihnen so nahe gekommen, dass er sie belauschen konnte ... obwohl die drei eingebildeten Barden zu gern auch hier gesessen hätten, wie man ihnen leicht von den Gesichtern ablesen konnte. »Äh, Flaeros«, meinte Sturmharfe jetzt und klang ebenso zögerlich wie der Jüngling vorhin, »habt Ihr eigentlich jemals die Geschichte vernommen, warum aus Schwarzgult und Sil-
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berbaum, welche immer schon Widersacher gewesen waren, in ihren letzten Jahren regelrechte Todfeinde geworden sind?« »Nein«, antwortete der junge Mann gleich neugierig und fügte eifrig hinzu: »Bitte, so erzählt sie mir doch. Sie gehört zu den Sagen, von welchen alle glauben, jedermann kenne sie, und deswegen verliere man besser kein Wort darüber.« »Also gut«, erklärte der Alte hinter seinem Krug. »Vergebt mir bitte, wenn mir zurzeit nicht der Sinn nach all den großen Worten und geschickten Wendungen steht. Viel lieber will ich Euch alles so einfach wie möglich berichten: Also gebt Acht – der Mann, welchen sie den Goldenen Greifen nannten, hatte Reichtümer und gutes Aussehen mit auf den Weg bekommen, und so manche junge Dame machte ihm schöne Augen. Um es kurz zu machen, er zeugte Embra. Als Faerod dahinter kam, erschlug er sein Weib, hielt seine falsche Tochter wie eine Gefangene und erklärte Baron Schwarzgult den Krieg.« »Bei der Dreifaltigkeit!« entfuhr es Flaeros ergriffen. »So viel Hader und Blutvergießen zwischen zwei Fürsten, nur weil ein Adliger und eine Adlige ihre Fleischeslust nicht zu zügeln vermochten?« Nach solchen Worten konnte nur Schweigen einsetzen. Und dieses kam dem Jüngling bald sehr lang und umfassend vor. Er musste immer häufiger schlucken, weil er sich bang fragte, ob er unter Umständen den großen Inderos Sturmharfe beleidigt haben könnte. Der Humpen seines Gegenübers landete nun schwer auf dem Tisch und hörte sich leer an. Ein Umstand, welcher Flaeros’ Ängste nur noch beflügelte.
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Wie erstarrt saß der junge Sänger da, während sich eine große Hand auf die Krugöffnung schob und dem wieder ein längeres Schweigen folgte. Schließlich hörte er den Alten flüstern und leise sagen: »Sie war aber auch wirklich eine Schönheit.« Nach dieser Feststellung erhob sich der alte Löwe, bewegte sich wie ein alter Kriegsmann oder Tänzer, winkte dem Jüngling zum Abschied zu und verschwand durch den dunklen Schankraum. Flaeros’ Hand, welche er zum Gruß erhoben hatte, fiel schlaff herab. Er erhob sich ebenfalls und erstarrte mitten in der Bewegung, als der alte Sänger zur Tür hinaustrat und dabei ein Sonnenstrahl sein Gesicht beleuchtete. Bei Inderos Sturmharfe handelte es sich in Wahrheit um Baron Schwarzgult! Himmel und Hölle! Wenn er das anderen erzählte! Aus dem Augenwinkel nahm er ein Gesicht wahr, welches ihn höchst eindringlich betrachtete, so als habe jede der wenigen Falten, jede Hautunreinheit und jedes vorwitzige Haar eine eigene Geschichte zu erzählen. Flaeros hatte noch nie einen Beobachter gesehen, aber irgendetwas an diesem Mann war ihm unheimlich. Er schluckte noch einmal und setzte sich rasch wieder hin. Wann immer der Jüngling heimlich noch einmal hinschaute, wusste er nie so recht zu sagen, was ihn an dem Fremden eigentlich so störte ... Der Mann besaß ein Dutzendgesicht, trug die Tracht eines Försters, hatte seinen Bart ordentlich getrimmt und schenkte der Welt gern sein Lächeln. Und dennoch hätte Flaeros in seiner Hast, den Humpen
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vors Gesicht zu bringen, diesen beinahe umgestoßen. Dann bemühte er sich, jung und unerfahren auszusehen, bis ihm einfiel, dass er ja genau das war ... Obwohl, er musste anmerken, dass er nun schon etwas mehr wusste als noch vor einer Stunde ... Aber vielleicht wäre es seinem Leben doch förderlicher, zumindest nach außen den Eindruck zu erwecken, so rein gar nichts zu wissen. Der Jüngling gab sich jetzt also Mühe, wie ein Trottel auszusehen. Als begabter Barde durfte ihm so etwas eigentlich keine Mühe bereiten. Schließlich äffte er oft genug Höflinge nach, und die schauten den lieben langen Tag gelangweilt und vertrottelt drein. Das Murmeln, welches sie so lange beruhigt hatte, verwandelte sich mit einem Mal in das flüssige Gurgeln von Wasser. Sofort erinnerte sie sich wieder an die furchtbaren Schmerzen und bekam eine Riesenangst. »Nein!« schrie sie in die endlose Finsternis hinein. »Ich kann sie nicht retten! Ich habe sie doch alle so gern und kann keinen von ihnen retten!« Mit einem schrillen Kreischen schoss sie hoch und saß aufrecht da. Sie sah sich um, konnte aber nichts erkennen, weil sie noch im Schlaf die Augen geschlossen hatte. Ein Mann beobachtete das und runzelte die Stirn. Das erste Stöhnen der jungen Frau hatte ihn geweckt. Seit Tagen lag er schon neben ihr auf den Decken und wartete auf ein Lebenszeichen von ihr. »Ist sie wach?« fragte eine Stimme aufgeregt quer durch die Höhle am Flussufer. Aber der kräftige Mann, welcher neben
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der Frau kniete, winkte entschieden ab, und so schwieg der Frager. »Herrin«, begann der Kniende nun mit einer tief dröhnenden Stimme. »Mädchen, kommt zu uns zurück. Wir sind alle hier ... Ihr habt jeden von uns gerettet!« Die aufrecht sitzende junge Frau, welche, ohne etwas erkennen zu können, immer noch nach vorn starrte, fing jetzt an zu zittern. Zum ersten Mal seit Tagen lockerten sich die Finger, welche den Dwaer die ganze Zeit über krampfhaft festgehalten hatten. Der Weltenstein rollte aus ihrer Hand. Hawkril fing ihn rasch, ehe er in den Fluss rollen konnte, und wog ihn nachdenklich in der Hand. Embra seufzte kaum hörbar, und fast wäre dem Hünen der Stein entfallen, weil er die zusammensackende Prinzessin sofort auffangen wollte. Vorsichtig ließ der Ritter sie auf die Decken hinabgleiten. Dann warf er einen Blick durch die Höhle auf die beiden anderen Männer, welche sich leise unterhielten, und zuckte die Achseln. Wenn sie lieber quasseln wollten, als die Fortschritte der jungen Hexe mitzubekommen ... Der Hüne beugte sich über die Schlafende und küsste sie auf die blutleeren Lippen. Im ersten Moment blieb ihr Mund leblos, doch dann presste sie ihre Lippen auf die seinen und drängte sich auch noch gegen ihn, als sei sie zu allem bereit. Schlanke Finger strichen über sein stoppeliges Kinn, klopften ihm dann sacht auf die Wange und schoben ihn schließlich sanft fort. Aber ein Lächeln blieb auf dem Mund der Prinzessin zurück, als ihr Kopf zur Seite rollte und sie wieder fest schlief. Doch erlebte sie jetzt erholsamen Schlaf, der ihre Kräfte zurückbringen würde. Das Lächeln stand ihr gut, und
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auch die Finger blieben entspannt. Es schien ihr nicht mehr das allergrößte Bedürfnis zu sein, den Lebensstein festzuhalten, mit welchem man die Welt ummodeln könnte. Plötzlich wurde sich Hawkril bewusst, welche Macht in seinem Schoss ruhte. Er nahm den Stein in die Hand, widerstand dem Drang, ihn ins Wasser zu werfen, und betrachtete ihn. Etwas schien sich von dem Stein auf ihn zu übertragen. Energie durchströmte ihn, wisperte ihm etwas zu und ließ ihn unendliche, erregende Macht spüren ... »Nein!« zischte er wie ein ungezogenes Kind. Hawkril hielt den Stein von sich und erklärte ihm: »Ich habe mein Schwert und meine Körperkräfte, und mehr brauche ich nicht. Sollen doch die Neunmalklugen mit dir spielen ... und in den Energieflammen umkommen!« Der Stein schien ihm nun etwas ins Ohr zu flüstern. Zuerst einschmeichelnd und beruhigend, dann aber leiernd und wie ein Gebet... oder wie eine Kriegstrommel, welche die Scharen in die Schlacht treibt. Hawkril beugte sich bald über den Stein, um mehr davon mitzubekommen. »Freund? Was treibt Ihr da?« rief Craer mit schneidender Stimme. In einer einzigen fließenden Bewegung kam er auf die Füße und lief durch die Höhle zu dem Hünen. Auch Sarasper beobachtete den Ritter nun mit sichtlicher Besorgnis. Der Hüne drehte sich vorsichtig um und sah die beiden Gefährten wie ein Kind mit schlechtem Gewissen an. »Nichts«, entgegnete er. »Gar nichts.« Und dann, Craer war noch sechs Schritte entfernt und damit zu weit weg, um eingreifen zu können, nahm Hawkril
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den zweiten Stein in die andere Hand. Er setzte beide wie ein Kind zusammen, das mit Bausteinen spielt. Der Heiler hatte den zweiten Dwaer, den Kriegsstein, nach dem Aufstehen auf seiner Decke zurückgelassen. Die Dwaerindim sangen jetzt gemeinsam, und ein Strahlen umgab sie. »Hawkril!« rief der Beschaffer erschrocken. Der Hüne presste den Stein, welchen Embra so lange mitgeführt hatte, an seine Brust, damit kein anderer an ihn herankonnte. »Sarasper!« rief der Beschaffer über seine Schulter. »Wir brauchen hier vielleicht einen Zauber.« Das Strahlen wuchs zu Manneshöhe an und leuchtete in verschiedenen Farben. Vor allem an den Rändern kam es dem Betrachter so vor, als bewegten sich hier wie in einem vornehmen Gewand goldene und silberne Fäden. Embra gab in ihrem Schlaf ein unverständliches Geräusch von sich, das jedoch nichts Angenehmes auszudrücken schien. Und endlich verwandelte sich das Strahlen in ein Bild, welches mitten in der Luft entstand ... wie damals, als die Prinzessin ihnen etwas hatte zeigen wollen. Doch jetzt war darauf ein Mann zu sehen, den niemand von ihnen jemals zuvor gesehen hatte. Ein Recke in schwarzer Rüstung, deren Ränder in Silber gefasst waren. Er saß in einem Raum mit gewölbter Decke auf einem Thron aus Flammen, und sein Kopf war nach vorn auf die Brust gefallen. Der Fremde schlief eindeutig, und bei ihm handelte es sich um ... »Der Schlafende König!« entfuhr es dem Heiler. »Bei den Göttern, Ihr habt Recht!« rief der Beschaffer. »Das ist der König!« »Er lebt also und ist kein Geschwätz der fahrenden Sän-
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ger«, fügte Hawkril mit bebender Stimme hinzu. Sein Herz schlug schneller und füllte sich mit der Hoffnung, auch all die anderen Dinge möchten wahr sein, welche man ihm in seiner Kindheit erzählt hatte ... dass zum Beispiel auch die Dreifaltigkeit für Darsar sorgte und es behütete ... »Schaerith Melbratha Immuae Krontor«, rief Embra von den Decken, und ihre Worte hallten durch die Höhle wider. »Erhebt Euch, Kelgrael! Erwacht, Schneestern! Kehrt auf Euren Thron zurück, denn Aglirta bedarf dringend Eurer! Schaerith Melbratha Immuae Krontor!« Ihr Ruf pflanzte sich wie Donnergrollen durch die Höhle fort, und der Schlafende auf dem Thron öffnete die Augen. Seine Pupillen ähnelten Flammen, und er sah auch sonst genau so aus, wie man ihn in den Sagen beschrieb. »Der König! Heil dem König!« riefen die Gefährten wie aus einem Munde. Jetzt schien der Herrscher sie zu bemerken und lächelte ... bevor das Bild verging. »Er verschwindet!« rief Hawkril verzweifelt. »Was sollen wir nur tun?« »Kniet vor ihm nieder!« murmelte Embra verschlafen hinter ihnen. »Und dann zieht aus und findet ihn!« »Aber wo sollen wir ihn finden?« schrie Craer, denn eben vergingen König und Bild endgültig. »Ich kenne den Raum mit der gewölbten Decke«, ließ sich unvermittelt Sarasper vernehmen. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. »Er befindet sich im Silberbaum-Haus. Embra darf nicht mit uns hineinkommen, sonst ist ihr der Untergang gewiss; denn so will es der Fluch des Schweigenden Hauses.« »Und woher wollt Ihr das plötzlich wissen?« fragte Hawkril
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ehrlich erstaunt. »Baron Schwarzgult hat einmal etwas in der Art erwähnt«, entgegnete der Heiler langsam. »Damals habe ich es nicht verstanden ... und erst eben hat sich mir der Sinn offenbart.« »Huch!« machte in diesem Moment die Prinzessin, und die drei Männer fuhren herum und nahmen ihre Waffen in die Hand. Die Zauberin stand da, streckte eine Hand nach dem Kriegsstein aus, und ihre Finger griffen hindurch, als handele es sich bei dem Dwaer nur um ein Trugbild. Matte Lichtblitze pochten in seinem Innern, und nach jedem Aufleuchten verging etwas mehr von seiner Festigkeit. »Was geht denn hier vor?« wollte der Beschaffer wissen und holte vorsichtshalber mit seinem Dolch aus. »Embra, alles in Ordnung mit Euch?« »Der Dwaer führt sich selbst fort«, antwortete die Zauberin igsam. »Genau so, wie es in den alten Schriften steht. Der Kriegsstein begibt sich an einen anderen Ort...« »Alte Schriften? Was denn für alte Schriften?« rief Craer in chster Erregung. »Kennt denn hier jeder außer mir die ganze Sage?« Als der zweite Weltenstein sich wenig später zur Gänze von diesem Ort gelöst hatte, legte Hawkril seinem Freund eine seiner Pranken auf die Schulter. Alle starrten jetzt auf den Lebensstein. Embra presste ihn mit beiden Händen gegen die Brust, so als befürchte sie, er würde sich gleich ebenfalls auflösen. »Uns alle beschleicht ab und an das Gefühl, völlig ahnungslos zu sein, alter Langfinger«, tröstete der Hüne ihn mit rauer Stimme. »Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als wei-
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terzugehen und weiterzumachen. Im Moment zum Beispiel wartet ein König auf uns ... Denkt daran, dass es nicht jedem Aglirtaner vergönnt ist, als Erster einen König zu begrüßen, der seit über tausend Jahren schläft!« Beschämt stand der Beschaffer da, blinzelte und fragte demütig: »Ich Unwürdiger soll ihn begrüßen?« »Nun, ich dachte, jemand wie Ihr könnte es gar nicht abwarten, ihm als Erster in die Taschen zu greifen«, antwortete Hawkril mit gespielter ernster Miene. »Schließlich seid Ihr von uns beiden der Beschaffer, oder etwa nicht?« Und zum ersten – und vielleicht auch einzigen – Mal in seinem Leben wusste Craer Delnbein nicht, was er entgegnen sollte. Raurdro Muthtathen hatte nie viel für diesen schlammigen kleinen Flecken am Ende seiner Flussweide übrig gehabt. Er konnte einfach nicht begreifen, warum diese Stelle sich einfach nicht trockenlegen lassen wollte. Zu beiden Seiten des Felds verlief ein Bach, der alle Feuchtigkeit hätte aufnehmen können, und weit und breit stand auch kein Baum, welcher in seinen Wurzeln Wasser hätte speichern können. Und heute stand er wieder vor einem kompletten Rätsel, als er mit seiner Hacke hineinstieß und Tang herauszog. Seine Miene wurde fast so finster wie das dunkle Wasser vor ihm. Dann fiel sein Blick auf den runden und griffigen Stein, der vor ihm in der Luft auftauchte, kurz aufleuchtete und darauf mitten in das Wasserloch fiel ... und Platsch machte. Raurdro bückte sich, um ihn aus der Pfütze zu fischen und über die Schulter auf den Steinhaufen zu werfen. Dabei
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schaute der Landmann zum Himmel, konnte aber keinen Vogel entdecken, welcher ihn vorhin hatte fallen lassen. Er behielt den Findling in der Hand. War denn heute die ganze Welt verrückt geworden? Der Stein fühlte sich warm an und ließ seinen Handteller prickeln. Fast hätte man meinen können, der Stein lebe. Aber das war natürlich blanker Unsinn. Und dennoch pulsierte der Findling, als durchströme ihn Energie. Der erstaunte Bauer betrachtete ihn von allen Seiten, und sein Verstand riet ihm dringend, den Stein sofort und mit aller Kraft fortzuwerfen, ehe ... Hinter ihm flimmerte die Luft, verfestigte sich und spuckte eine grauhaarige Frau in einem weinroten Gewand aus. Ihre gespaltene Zunge richtete sich wie ein Pfeil auf den Rücken des Landmanns, und sie hob beide Arme. Ihr lautes Zischen bewegte Muthtathen dazu, sich langsam umzudrehen, und kaum war dies geschehen, biss ihn eine Schlange mit breitem Maul in Nase und Wange. Schon schleuderte die Schlangenpriesterin das nächste Tier auf ihn, und dieses versenkte seine Zähne in das Handgelenk, zwischen dessen Fingern sich der Stein befand. Raurdro röchelte, erstarrte, prallte einen Schritt zurück – den letzten seines Lebens – und brach zusammen. Noch ehe er den Boden erreichte, riss ihm die Priesterin mit der Geschwindigkeit einer Hutschlange den Kriegsstein aus der Hand. »Ssseid innigssst bedankt, guter toter Mann«, zischte sie. Die Luft flimmerte wieder, nahm sie auf und trug sie fort. Ihre Schlangen schlüpften rasch hinter ihr her in den Strahlenkranz.
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Schließlich wollten sie nicht auf dieser Weide im schönen Lande Ornentar zurückbleiben, über welche jetzt ein Wind fegte, der aus dem Nichts gekommen sein musste. Die Brise spielte mit dem Haar des Landmanns, dessen Gesicht blau und rot angelaufen war. Schaum stand ihm vor dem Mund, und er starrte mit gebrochenen Augen in den blauen und wolkenlosen Himmel...
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Epilog C Sonnenlicht glänzte auf dem Wappenrock, welcher mit einer eigenen leuchtenden Sonne aufwarten konnte – denn dies war das Zeichen des Auferstandenen Herrschers von Aglirta! Der Träger dieses Wappens war ein wahrer Hüne, und das hätte man auch gleich bewundern können, wenn er nicht auf dem Rücken eines Rosses gesessen hätte – und dieses Tier wies ebenfalls beachtliche Körpermaße auf. Ja, es konnte durchaus als das größte Pferd gelten, welches dieser Friedhof hier seit vielen Jahrhunderten erblickt hatte. Der Reiter trug einen Hut mit einer prachtvollen Feder, schwere und reich verzierte Handschuhe, wie man sie sonst nur bei einem Baron erblickte, und eine Miene der Unnahbarkeit und Wichtigkeit. Seine Augen verrieten aber, dass Ärger und Verdruss seine Stimmung regierten. »Man missachtet keinen Ruf vom Auferstandenen König von Aglirta!« erklärte er sehr ernst und sehr ungehalten. Der Alte aber, welcher vor dem Schweigenden Haus stand, blinzelte nur und zeigte sich nicht im Mindesten von seinem Gegenüber beeindruckt. Dann meinte er: »Ich missachte den Ruf nicht, ich weigere
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mich, ihm zu folgen.« Damit wandte er sich ab. Doch bevor der Alte ins Haus zurückkehrte, blickte er über die Schulter und fügte hinzu: »Das ist ein feiner Unterschied, auch wenn Ihr vermutlich noch zu jung seid, den zu begreifen.« Damit setzte er sich endgültig in Bewegung. Nach ein paar Momenten erklärte er noch, diesmal jedoch ohne sich umzudrehen: »Euer Wappenrock weist rechts einen Riss auf, falls Euch das noch nicht aufgefallen sein sollte.« Der Herold lief dunkelrot an und schnaubte: »Ich, äh, Moment ... Bürger Sarasper! Der König ruft Euch an seinen Hof!« Nun blieb der Mann stehen, drehte sich mit allen Anzeichen der Unwilligkeit um und knurrte: »Ich mag ja in Euren Augen ein alter Tattergreis sein, aber – und dafür sei der Dreifaltigkeit gedankt – mit meinen Ohren ist noch alles in bester Ordnung. Deswegen dürft Ihr es mir ruhig glauben, wenn ich Euch versichere, dass Ich Euch schon beim ersten Mal gehört habe. Ihr habt mir die Botschaft nun überbracht, und was mich betrifft, dürft Ihr Euch jetzt gern zurückziehen. Offenbar seid Ihr sogar noch zu jung, um versteckte Hinweise zu verstehen.« Doch da flimmerte die Luft vor Sarasper und versperrte ihm den Weg zurück ins Schweigende Haus. Blinkende Lichtlein zeigten sich in dieser Fläche, schwirrten wie fliegende Sterne umeinander und fügten sich zu einer schlanken Gestalt ... Diese war ganz in Schwarz gekleidet, und von den schmalen Schultern fiel ein Umhang aus Edelsteinen. Der Herold saß mit offenem Mund im Sattel, als er schließlich die Herrin des Geschmeides erkannte, welche sich
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da dem alten Starrkopf in den Weg gestellt hatte und ihn anlächelte. Dann schaute das Fräulein zu dem Herold, schenkte ihm ein breites Lächeln und bedeutete ihm höflich, aber bestimmt, dass er sich entfernen dürfe. Ohne noch ein Wort zu verlieren verneigte er sich kurz vor ihr, wendete sein Ross und ritt den Weg zurück, welchen er gekommen war. Ganz gewiss gehörte es nicht zum Aufgabenbereich eines Herolds – nicht einmal von dem eines Auferstandenen Königs – sich mit einer Zauberin, welche mit allen äußeren Anzeichen ihrer Macht erschienen war, ein Wortgefecht zu liefern. »Embra«, brummte der Heiler und betrachtete sie mit mehr Wohlwollen und Freundschaft, als seiner Stimme zu entnehmen waren (und als er selbst unter der Folter zugegeben hätte). Dann meinte er: »Ist Euch auch so unwohl bei der Vorstellung, vor den Flussthron zu treten, wie mir?« »Selbstredend«, antwortete das neue Oberhaupt des Hauses Silberbaum. »Deswegen begeben wir uns auch gemeinsam dorthin. Der eine kann den anderen mitziehen, und umgekehrt. Ich möchte nicht vor aller Welt als die böse Baronesse Silberbaum erscheinen, welcher niemand trauen kann. Alle verbliebenen Anhänger meines Vaters nennen mich eine Verräterin, und den anderen Baronen und Fürsten juckt es in den Fingern, ein paar alte Rechnungen mit mir als Erste des Hauses Silberbaum zu begleichen – am liebsten in klirrendem Stahl.« Die Edle lächelte und strich dem Alten über das unordent-
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liche Haar. »Und warum zögert Ihr, dem Ruf des Königs zu folgen?« Der Alte sah sie ernst an. »Für meinen Geschmack halten sich an seinem Hofe zu viele Soldaten auf. Die meisten Fürsten wollen einen Heiler für sich allein. Wenn nötig, verschaffen sie sich den auch mit Waffengewalt. Ich weiß nicht, ob dieser König es ebenso zu halten beabsichtigt.« Embra schürzte die Lippen und nickte langsam. »Ich glaube zwar nicht, dass er so etwas beabsichtigt, aber man kann ja nie wissen, und hernach ist es zu spät.« Sarasper nickte entschieden und klopfte mit der flachen Hand auf die efeubewachsene Hauswand. »Dahinter kenne ich mich wenigstens aus und kann mich in Geheimgängen und an dunklen Stellen verstecken, welche ein anderer niemals findet.« Der Heiler nickte in Richtung Strom: »Dort drüben hingegen ...« Im Wasser zeigte sich eine Insel, und die hatte früher, so lange Sarasper zurückdenken konnte, Burg Silberbaum geheißen. Doch als noch ein König über Aglirta geherrscht hatte, hatte man sie unter dem Namen Treibschaum-Insel gekannt. So hieß sie auch heute wieder, seit der Auferstandene König hier seinen Hof eingerichtet hatte. Hunderte Lampen wurden dort jeden Abend in der Dämmerung angezündet. Und zu jeder Tags- und Nachtzeit fuhren dort Boote und Kähne auf und ab. Sarasper verwies darauf, um seiner alten Gefährtin klar zu machen, dass man von jener Insel kaum entfliehen konnte. Wenn König Schneestern von ihm verlangen sollte zu blei-
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ben, hatte der Heiler wohl keine andere Wahl. Als die Baronin verständnisvoll nickte, fragte der Alte: »Wo habt Dir denn die ganze Zeit über gesteckt, und was habt Ihr mit Eurer Zeit angefangen. Ist von Eurer Burg noch genug übrig geblieben, um dort länger zu verweilen?« Er nickte wieder in Richtung der Insel, auf deren anderer Seite sich die Burg Silberbaum befand. »Oder erschien es Euch ratsamer, Euch nicht so nah bei Seiner Majestät aufzuhalten?« Embra grinste breit. »Im Garten finden sich hier und da Möglichkeiten, ganz kommod unterzukommen. Ich hatte das Glück, mich zu der abgeschiedensten Stelle dort zurückziehen zu können. Und was den Hof angeht, nun, so erstaunte es mich doch sehr, wie viele Fürsten und sonstige hohe Herren aus dem Nichts aufgetaucht sind, um Ländereien von mir zu verlangen oder mich ganz von meinem Grund und Boden zu vertreiben ... alle natürlich mit hieb- und stichfesten Rechtsansprüchen, nicht wahr?« Die Prinzessin lehnte sich an den mit Moos bewachsenen Grabstein eines längst verblichenen Vorfahren und fügte nüchtern hinzu: »Ich habe ihnen allen gesagt, sie sollten doch damit zum König gehen und dem ihren Fall vortragen. Falls mir aber in der Zwischenzeit irgendetwas zustoßen sollte, würden die wandelnden Statuen erwachen und die ganze Insel auseinander reißen, mit Burg und König, mit Mann und Ross und Wagen – und dann gäbe es niemanden mehr, welcher diese Ungeheuer aufhalten könnte.« Sarasper lachte so laut, dass er einen Hustenanfall erlitt und zu ersticken drohte. Er schnaufte immer noch und musste
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sich an der Wand abstützen, als eine altvertraute Stimme plötzlich fragte: »Störe ich vielleicht bei einem privaten Tetea-tete, oder darf ich mich in die Tanzkarte des verehrten Fräuleins eintragen?« »Craer!« rief Embra, und das Krächzen des Heilers folgte auf dem Fuße: »Der kleine Dieb! Seid uns herzlich willkommen!« »Ich bin gleich mitgekommen!« dröhnte Hawkril und trat um die Ecke des Schweigenden Hauses. Im nächsten Moment hatte er die Baronin schon gepackt, hochgerissen und an sich gedrückt. Dabei schnurrte er wie eine Raubkatze im Stimmbruch. »Lasst mich sofort wieder herunter, Ihr grober Bär!« rief die junge Frau fröhlich und wunderte sich, zwischen Tränen der Freude und abgepressten Atemwegen ihre Stimme wiedergefunden zu haben. Dann klopften sich die drei Männer reihum auf die Schultern und frotzelten sich herzlich an. Embra verteilte ihrerseits Klapse, stieß auf warme Lippen, welche die ihren suchten, und stellte fest, dass die noch immer gut schmeckten. Es wurde sogar ein ziemlich langer Kuss, und auch wenn sie einige Male stöhnte, konnte sie ihren Mund nicht von dem des Hünen lösen. Erst ein Chor von vereintem Räuspern brachte sie in die Wirklichkeit und zu der Erkenntnis zurück, dass Craer und Sarasper ja auch hier waren. »Schau sich einmal einer den Beschaffer an!« rief die Hexe dann ohne das geringste Schamgefühl, »kommt ganz in Seide und Pelz daher. Ist bei Euch plötzlich der Reichtum ausgebrochen?« Der Kleine zeigte nach unten auf den Fluss. »Es geht an
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den Hof. Zum König. Und dort halten sich in der Regel die hübschesten Damen auf, welche belustigt werden wollen. Außerdem musste ich feststellen, dass ich in einem Kleid längst nicht mehr so gut aussehe.« »Sollen wir gleich aufbrechen?« drängte Hawkril und deutete ebenfalls zum Wasser. »Der Herold gab mir zu verstehen, dass dort ein Boot auf uns warte.« »So, so«, bemerkte der Alte. »Hat er auch versprochen, dass dieses Boot uns wieder zurückbringt, und zwar dann, wenn wir es wünschen?« »Nein, Ihr argwöhnischer Brüter«, antwortete der Beschaffer anstelle seines Freundes, »das hat er nicht. Bei der Liebe der Dreifaltigkeit, ich beschwöre Euch, Sarasper, vergesst wenigstens für eine Nacht Euer angeborenes Misstrauen! Aglirta hat wieder einen König, und das hat es nicht ganz unmaßgeblich uns zu verdanken. Meint Ihr etwa, Seine Hoheit beabsichtige, uns zum Dank dafür die Kehle durchschneiden?« »Ihr erwartet wohl, einen Adelstitel zu erhalten«, bemerkte der Heiler grimmig und betrachtete den Beschaffer von Kopf bis Fuß. »Für Hawkril etwa auch?« »Wenn Ihr mich so fragt, ja«, antwortete Craer in aller Offenheit. »Für uns alle einen kleinen Titel, zusammen mit einer eigenen Burg und einem ausreichend großen Stück Land, um ein wenig auf die Jagd zu gehen, sich in verschiedenen Wirtshäusern voll laufen zu lassen und, verzeiht bitte, Herrin, den Dorfschönen nachzustellen.« »Euer Durchlaucht Delnbein«, näselte Sarasper vornehm, »würdet Ihr wohl die Güte haben, Euren rechten Ärmel zu entblößen?«
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Der Kleine lächelte hochmütig und kam der Bitte nach. Zwei Messer steckten dort in einer Doppelscheide. Wer Craer kannte, wusste, dass er sie binnen eines Augenaufschlags ziehen und werfen konnte. Der Heiler nickte, lächelte aber nicht. »Und jetzt bitte den anderen, wenn Euch das nicht zu viel ausmacht?« Der Beschaffer führte das andere Dolchpaar am linken Unterarm vor. Ohne dazu aufgefordert worden zu sein, zeigte er den Gefährten auch die Messer, welche in seinen Stiefeln steckten, und ebenso den Dolch an seinem Gürtel. Keiner der anderen zweifelte nur für einen Moment daran, dass sie damit noch lange nicht alles gesehen hatten. Überall dort, wo sich eine Klinge am oder im Körper unterbringen ließe, würde sich bei dem Beschaffer auch eine finden. »Ihr scheint ja wirklich das allergrößte Vertrauen in die neue Majestät zu haben«, bemerkte Sarasper in gespielter Unschuld. »Ein Adelstitel für uns alle, was?« »Freund«, klärte ihn Craer in ungebrochen heiterer Stimmung auf, »ich habe gesagt, ich rechne mit einer Erhebung in den Adelsstand. Ich habe nicht gesagt, dass ich meinen Verstand im Pfandhaus abgegeben hätte.« »Ach«, meinte der Alte, »dieser Eindruck hatte sich mir doch tatsächlich irgendwie aufgedrängt. Seltsam, dass er so gar nicht vergehen will.« »Ich sehe, zwischen uns hat sich nichts geändert«, lachte der Hüne. »Sollen wir jetzt zum Boot hinunter?« Diesmal zögerte niemand, und gemeinsam setzten sich die Vier in Bewegung. »Verlasst uns nun«, gebot der Auferstandene König mit einer
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gebieterischen Stimme, welche auch noch den hintersten Winkel des Raums ausfüllte. Höflinge, Fanfarenbläser und Wächter schreckten gleichermaßen auf. »Aber, Euer Majestät«, widersprach der Haushofmeister, welcher etliche, aber nicht alle von Craers Messern gefunden hatte. »Diese Personen hier kommen bewaffnet an den Hof. Nicht nur mit Klingen, sondern auch mit Zaubern. Und wer weiß, was sie –« »Ich würde es doch höchstlich bedauern«, entgegnete König Schneestern ruhig, »wenn ich mich zu einem so frühen Zeitpunkt der Wiederaufnahme meiner Herrschaft bereits daran gewöhnen müsste, meine Befehle zu wiederholen.« Aber seine Augen funkelten, und er schritt auf den Mann zu, der plötzlich erbleichte. Der Saal leerte sich zusehends, und die Höflinge bewiesen dabei eher Eile als Würde. Der Haushofmeister sah sich plötzlich allein, stieß einen spitzen Schrei aus und lief den anderen hinterher. Die Gefährten hielten es für ratsamer, sich erst einmal nichts anmerken zu lassen. Der König tauschte Blicke mit Craer und Hawkril aus und ruckte dann in Richtung der Türen. Die beiden machten sich gleich auf den Weg, um sicherzustellen, dass die bekannten Ausgänge geschlossen waren und nicht allzu viele auf der anderen Seite lauschten. Derweil trat die Zauberin vor und teilte dem König leise mit: »Euer Majestät, hinter jenem Wandteppich dort befindet sich ein geheimer Zugang, und über uns sind mehrere Gucklöcher angebracht, durch welche man alles sehen und belauschen kann. Darf ich vorschlagen, dass wir den Weg hinter dem Thron
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benutzen und uns in eine Kammer zurückziehen, in welcher man sich, so viel ich weiß, einigermaßen ungestört unterhalten kann?« Die Mundwinkel des Auferstandenen zuckten, aber noch beherrschte er sich. »Wird man dann nicht die halbe Burg abreißen, um mich zu finden und festzustellen, ob ich unbeschadet bin?« »Damit wären die Höflinge und alles andere Volk hier doch für eine Weile beschäftigt«, entgegnete Sarasper. Nun konnte der Herrscher nicht länger an sich halten und lachte laut. Als er sich wieder beruhigt hatte, wandte er sich an die Baronin: »Ich weiß, dass ich Euch vertrauen darf. Führt uns also zu dieser verborgenen Kammer.« Embra verneigte sich vor ihm und führte die kleine Schar an. Der Raum erwies sich als mit reich verzierten Wandtäfelungen geschmückt und so klein, dass der hier aufgestellte Tisch nebst den bequemen Stühlen allen Platz einzunehmen schienen. Angenehm überrascht sah der König sich hier um, und die Zauberin meinte grinsend: »Wie Eurer königlichen Aufmerksamkeit sicher nicht entgangen ist, hat die Familie Silberbaum in Eurer Burg ein paar kleine Veränderungen vornehmen lassen. Ich hoffe aber, dass diese hier Eure königliche Zustimmung findet.« »Das tut sie in der Tat, Herrin«, erwiderte er. Damit wandte die Baronin sich zur Seite und drückte auf ein bestimmtes Holz in der Wandvertäfelung. Ein Stück derselben rollte zur Seite und offenbarte ein großes Fenster, durch welches man einen herrlichen Ausblick auf eine prächtige Allee erhielt, welche zu den königlichen Gärten führte.
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Bei so viel Grün und Schönheit konnte Seine Majestät nicht anders, als einen überraschten Ausruf von sich zu geben. Er beugte sich vor, um die Aussicht zu genießen, und stützte sich mit den Händen auf den Tisch. Die Zauberin ließ sich derweil auf einem Stuhl nieder und legte die Füße auf den Tisch. Ihre drei Gefährten beobachteten sie und folgten dann ihrem Beispiel, ohne sich jedoch so hinzufläzen wie die junge Frau. Als der König sich fürs Erste satt gesehen hatte und sich wieder umdrehte, schien es ihn nicht zu verwundern, die Vier schon sitzend vorzufinden, obwohl er selbst doch noch stand. Stattdessen sah Schneestern sie der Reihe nach an und erklärte dann: »Seid meines Dankes gewiss. Weder Aglirta noch ich können euch das je gutmachen, was ihr für uns getan habt. Gern hätte ich euch mit Titeln und Lehen überschüttet, auf dass ihr euch für den Rest eures Lebens eine verdiente gute Zeit hättet machen können. Und noch lieber hätte ich mindestens einen Monat nur mit euch verbracht, um von euch alles über mein neues altes Königreich zu erfahren ... Aber das verbietet sich leider von selbst, denn keinem von uns ist ein freier Monat gegönnt.« »Oh«, machte Craer. »Dann erwartet uns wohl statt großer Ehrungen eine neue Aufgabe?« Seine Majestät nickte und fügte dann hinzu: »Schlechte Zeiten für Feierlichkeiten.« Schneestern lief nun in dem kleinen Raum auf und ab und blickte dabei an die Decke, wo er aber nicht Schatten und dunkle Vertäfelungen sah, sondern Dinge aus seiner Erinnerung.
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»Vor zwei Nächten habe ich von den beiden noch fehlenden Steinen geträumt«, erklärte der König nun. »Dann sollen wir also ausziehen, sie Euch zu finden?« vermutete Craer. »Ein neuer Auftrag für die Getreuen des Herrschers.« Aber der Auferstandene König schüttelte den Kopf und sah die Vier mit düsteren Augen an. »Der Traum hat sich leider verändert, meine Freunde.« Er wirkte mit einem Mal größer und ragte wie ein Turm vor ihnen auf. »Die Bürger jubeln darüber, dass ihr König wieder eingesetzt ist, und die Barone schließen sich ihrer Begeisterung an. Aber keiner der Fürsten hat noch Freude im Blick, wenn er hier am Hof erscheint. Jeder einzelne Baron hat seine engsten Vertrauten hierher geschickt, die überall herumwühlen, ihre Nasen überall hineinstecken und nur ihrem Fürsten Auskunft geben. Offenbar suchen sie nach Möglichkeiten, den Flussthron zu schwächen oder, wahlweise, mich von ihm zu stürzen, damit ihr Herr darauf Platz nehmen kann. Ich befinde mich hier in einem Gefängnis aus Gold und Seide. Allein stehe ich einem Rudel Wölfen gegenüber. Der Flussthron wird mir genommen, wenn ich mich länger als zwanzig Tage von ihm entferne. Mir steht auch noch keine eigene Armee zur Verfügung. Alles, was ich habe, ist der Heerbann, und den müssen die Fürsten stellen. Selbstredend halten die Soldaten zuerst ihrem jeweiligen Herrn und erst dann mir die Treue. Wie ihr eben selbst miterleben konntet, sehe ich mich von schönrednerischen Menschen umgeben, welche alles von mir fern und mich selbst in einer Art Unmündigkeit halten. Dabei
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kenne ich diese Männer und Frauen nicht einmal, welche sich hier eingeschmeichelt haben und sich anmaßen, in meinem Namen zu sprechen. Aus all diesen Gründen darf ich es eben nicht wagen, diese Insel zu verlassen, um das zu tun, was in diesem Reich dringend erledigt werden muss.« Der Beschaffer zog die Brauen hoch: »Und wovon im Besonderen sprecht Ihr da?« »Findet die Unfreunde, welche nicht hier sind«, antwortete Embra an seiner Stelle. »Diejenigen, welche sich verborgen halten, darauf warten, dass ihre Zeit kommt und bis dahin am Ausbau ihrer eigenen Macht wirken ... weil sie mittlerweile die anderen Dwaer in Händen halten.« Der König nickte langsam. »Ihr habt mich befreit, auch wenn ihr nicht wusstet, warum ich schon so lange schlief ...« Schneestern beugte sich zu ihnen vor und fragte leise: »Was hat man Euch darüber erzählt, was geschehen würde, wenn ich erst einmal erwacht wäre?« »Na ja«, antwortete der Heiler und fuhr dann mit der näselnden Stimme eines Geschichtenerzählers fort: »Und siehe, der König wird erwachen, um zu bringen dem Land den ewigen Frieden und immer währenden Reichtum.« Seine Majestät nickte. »Aber gerade das ist niemals meine Aufgabe gewesen. Zu einer Zeit, als das Reich stark und einig gewesen ist und eines Oberherrschers nicht bedurfte, habe ich mich schlafen gelegt, um erst dann wieder aufzuerstehen, wenn ich gebraucht würde, um den schlimmsten Feind von Aglirta zu bekämpfen ... Indem ihr nun mich aus dem Schlaf gezogen habt, habt ihr auch einen anderen erweckt!«
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»O nein!« keuchte Embra. »Die Dreifaltigkeit stehe uns bei, nur das nicht!« Aber Schneestern nickte schon grimmig. »Ihr habt auch meinen Feind aus dem Schlaf gerissen. Und damit anderen das Zeichen gegeben, welche Aglirta ebenfalls nicht freundlich gesonnen sind. Einige der Weltensteine sind damit in die falschen Hände geraten.« Noch während der König dies verkündete, blitzte der Stein auf, welchen die Zauberin im Mieder trug, und beleuchtete ihren Hals unheimlich von unten. Während die junge Frau unbehaglich nach unten spähte, erklärte der Heiler: »Jemand versucht, mit einem anderen Dwaer Verbindung zu diesem hier aufzunehmen.« Die Herrin der Edelsteine nickte und legte eine Hand um ihren Weltenstein. Damit erlosch das Leuchten, und die Kammer wirkte mit einem Mal finster. »Mein Vater lebt noch, daran besteht nun für mich kein Zweifel mehr«, murmelte die Baronstochter. »Und es würde mich auch nur in Maßen überraschen, dem einen oder anderen von seinen Hofmagiern wiederzubegegnen.« »Ich habe Euch vorhin nicht gemeint, Herrin«, erklärte der König, »und ich habe keinen Anlass, an Eurer Treue zu zweifeln. Aglirta hat viele Feinde, und nicht alle von ihnen sind auf den Plan getreten, als ich zum ersten Mal meinen Thron verlassen habe. Doch in der Zwischenzeit haben sie Geschmack am Zustand des verwaisten Throns und der Gesetzlosigkeit gefunden. Sie rotten sich überall zusammen ... das Wolfsrudel vereint sich, um uns zu umkreisen.« Etwas Dunkles und Flinkes flatterte in diesem Moment
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draußen am Fenster vorbei. Die fünf Menschen in der Kammer fuhren erschrocken zusammen und griffen nach ihren Waffen. Das Wesen schaute zu ihnen herein, und sie erblickten eine Fledermaus mit roten Augen. Dann flatterte diese weiter, zog eine weite Kurve und war endlich aus ihrer Sicht entschwunden. »Das war kein harmloses Tier«, knurrte Hawkril. Die vier Gefährten sahen sich besorgt an und zogen endgültig ihre Klingen. »Ist euch schon einmal aufgefallen, dass das Werk von Helden niemals beendet ist?« fragte Craer bitter. »Bis dass der Tod das für sie erledigt«, entgegnete der Heiler leise. »Ich frage mich, wie viele Spione der Barone schon darauf warten, dass wir endlich diesen Raum verlassen.« Seine Majestät nickte grimmig und band den Beutel auf, welchen er an seiner Hüfte trug. »Euer Durchlaucht Embra Baronin Silberbaum, ich habe hier alles mitgebracht, was Ihr benötigt, um einen Zauber zu wirken, welcher Euch alle an einen anderen Ort befördert, ohne von diesen Spionen gesehen zu werden.« »Euer Majestät ist zu gütig«, verneigte sich die Zauberin. Schneestern seufzte. »Das ist nur eine kleine Wiedergutmachung für all das Gute, welches ihr bewirkt habt. Außer euch scheine ich im ganzen Tal keine Freunde zu haben.« »Vielen Dank, Herr«, entgegnete sie rasch und sah ihn bittend an. »Euer Hoheit, hoffentlich habt Ihr niemals Grund, an uns zu zweifeln.« »Im Namen meines Geschlechts, derer von Kelgrael, hoffe ich«, entgegnete der König, »euch eines Tages alle zu Herren
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und Herrinnen von Aglirta ernennen zu können. Ich wünsche mir das so sehr wie mein dringendstes Erflehen, dass nämlich die Götter Aglirta für uns alle beschützen und bewahren, so dass wir im Alter die Früchte unserer Arbeit genießen können.« »Hört sich für mich wie aus einem frommen Kindermärchen an«, grummelte der Hüne, nickte aber Seiner Majestät ergeben zu. »Ganz recht«, entgegnete der König und stellte vor ihnen Geldbeutel auf den Tisch, in denen die Münzen klingelten. »Deshalb zieht aus, erfüllt euren Auftrag, und erzählt mir danach eine Geschichte, welche auch für Erwachsene von Nutz und Frommen ist!«
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Glossar
Aglirta: sagenumwobenes untergegangenes Königreich. Sein Herrscher, der von einem Zauber umfangene Schlafende König, kann nur mit Hilfe der Weltensteine erweckt werden, um seinem Land in der Stunde höchster Bedrohung beizustehen und es zu neuem Glanz zu führen. Baerethos: Zauberer im Dienst des Fürsten Ithklammert. Craer Delnbein: Vogelfreier, ehemals Beschaffer – also Kundschafter und Dieb – im Dienste des Goldenen Greifen, Freund des Hawkril, Mitglied der Viererbande. Delvin von den vielen Harfen: Barde, welcher zu viel Neugier an den Tag legt. Dwaer: einer der Vier Weltensteine. Dwaerindim: die geheimnisvollen verschollenen Vier Weltensteine, welche den Schlafenden König erwecken können und ungeahnte Zauberkräfte besitzen. Embra Prinzessin Silberbaum: Zauberin, entflohene Tochter des Faerod Silberbaum, Mitglied der Viererbande. Erluth: Zauberer.
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Ezendor Fürst Schwarzgult: vor seinem Tod Hauptwidersacher des Faerod Silberbaum. Faerod Fürst Silberbaum: skrupelloser Baron, welcher durch den Einsatz übler Machenschaften beinahe das gesamte Land ohne König beherrscht. Vater von Embra. Flaeros Delkamper: Möchtegernbarde. Gadaster Mulkyn: oberster Bannmeister im Dienst von Faerod Silberbaum, weilt angeblich nicht mehr unter den Lebenden. Goldener Greif: Bezeichnung für Ezendor Fürst Schwarzgult. Hawkril Anharu: einst Ritter und Schwertmeister im Dienst des Goldenen Greifen, inzwischen vogelfrei, bester Freund von Craer Delnbein, Mitglied der Viererbande. Helgrym Burgmäntel: Barde, welchem seine Neugierde zum Verhängnis wird. Huldaerus, Herr der Fledermäuse: Zauberer auf der Suche nach den Dwaerindim. Ingryl Ambelter: Zauberer im Dienst des Faerod Silberbaum. Inderos Sturmharfe: Meisterbarde. Ithklammert: Fürst von Kardassa.
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Kelgrael: aus diesem Hause stammt der Schlafende König. Klamantel Beirldoun: Zauberer im Dienst des Faerod Silberbaum. Koglaur: gespenstische Gestaltwandler, welche aus eigenen Gründen über Aglirta wachen. Land ohne König: Bezeichnung für das von politischen Ränken geschüttelte Gebiet, auf dem sich einst das Königreich Aglirta befand. Luihtuth: unheimlicher Beschaffer, welcher hinter den Dwaerindim herjagt und auf seine Chance wartet. Markoun Yarynd: Zauberer im Dienste des Fürsten Silberbaum. Nynter von den Neun Dolchen: Zauberer. Phalagh von Ornentar: Zauberer. Qelder Waern: Heiler, welchen ein schreckliches Schicksal ereilt. Priester der Schlange: unheimlicher Anführer eines Schlangenkultes. Sarasper Kodelmer: Heiler, der auch die Gestalt der schrecklichen Langzahn-Wolfsspinne annehmen kann, Mitglied der Viererbande.
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Schlafender König: sagenumwobener Herrscher, welcher dem Land Aglirta in der Stunde der höchsten Not zu Hilfe kommt, falls es mittels der Dwaerindim gelingt, ihn aus einem Zauberbann zu erwecken. Tlarinda: Embras Mutter, Gemahlin des Faerod Silberbaum, von diesem auf bestialische Weise ermordet.
Die wichtigsten Baronien auf dem Gebiet des ehemaligen Königreiches Aglirta: Baronie Brostos Baronie Maerlin Baronie Silberbaum Baronie Tarlagar Baronie von Loushoond Baronie Schwarzgult (inzwischen von Faerod Silberbaum erobert)
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