Nr. 444
Land ohne Sonne Ausgesetzt im Land der Marvinen von Hans Kneifel
Nachdem der Dimensionsfahrstuhl Atlantis-Pth...
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Nr. 444
Land ohne Sonne Ausgesetzt im Land der Marvinen von Hans Kneifel
Nachdem der Dimensionsfahrstuhl Atlantis-Pthor im Randgebiet der Schwarzen Galaxis zum Stillstand gekommen war, hatte Atlan, wie erinnerlich, die Flucht nach vorn ergriffen. Zusammen mit Thalia, der Odinstochter, flog er ins Marantroner-Re vier, das von Chirmor Flog, einem Neffen des Dunklen Oheims, beherrscht wurde. Dort, von Planet zu Planet eilend und die Geheimnisse der Schwarzen Galaxis ausspähend, bestanden Atlan und seine Gefährtin so manche tödliche Gefahr ge meinsam – bis der Planet Dykoor zu Thalias Grab wurde. Nun, nach einer wahrhaft kosmisch anmutenden Odyssee, die Atlan letztlich mit seinen Freunden Razamon und Axton/Kennon zusammenführte und ihn sogar für kurze Zeit zurück nach Pthor gelangen ließ, befinden sich der Arkonide und seine Gefährten in der Gewalt von Duuhl Larx, dem Herrscher über das Rghul-Revier. Der Neffe des Dunklen Oheims scheint besondere Ziele mit seinen Gefangenen zu verfolgen. Denn eines Tages werden die Männer durch ein Gas betäubt, in ein Raumschiff verladen und an einen unbekannten Ort gebracht. Dieser Ort ist das LAND OHNE SONNE …
Land ohne Sonne
3
Die Hautpersonen des Romans:
Atlan, Razamon und Axton/Grizzard - Die drei Pthorer werden an einem unbekannten Ort
ausgesetzt.
Elcoy - Königin der Mavinen.
Alzei - Leibwächterin der Königin.
1. Das Innere der Kerkerzelle wurde von dü sterem Licht überflutet. Die Decke bestand aus einem Metallraster, dessen Spitzen dun kelrot glühten. Die Gefangenen waren zu müde, um sich davon sonderlich beein drucken zu lassen. Ein Zischen ertönte aus der Wand, eine Klappe fuhr mit aufdringli chem Geräusch zur Seite. Das Licht zeigte drei Näpfe, in denen Löffel mit stumpfen Griffen staken. Atlan deutete mit dem Dau men darauf und sagte mürrisch: »Frühstück! Kann aber auch das Mit tagessen sein.« »Oder das Abendessen«, murmelte Raza mon und fuhr mit den Fingern durch sein schwarzes Haar. »Immerhin will uns der Neffe nicht verhungern lassen.« »Wir werden wohl noch gebraucht!« sag te Axton in Grizzards Körper. »Vermutlich. Hier, deine Ration.« Atlan verteilte die Näpfe. Lustlos fingen sie zu essen an. Sie waren bereits längere Zeit in diesem Gefängnis auf Cagendar, in das sie Duuhl Larx hatte bringen lassen. At lan lehnte sich an die Metallwand und knurr te: »Die Chancen, von hier zu entkommen, sind mehr als dürftig, meine Freunde!« »Allerdings. Wir haben nicht einmal je manden zu Gesicht bekommen, den wir hät ten überwältigen können.« Auf der Innenseite der Zellentür gab es weder Riegel noch Schlösser. Boden und Wände bestanden aus anscheinend schweren Metallplatten. Seit dem Moment, als sich Pthor wieder in Bewegung gesetzt und Du uhl Larx das Todesurteil an Atlan und den beiden anderen verschoben hatte, hatten die Gefangenen keine einzige echte Chance ge
sehen. Auch nicht während des Fluges mit der MARSAPIEN, und schon gar nicht auf dem Weg hierher. »Ob sie etwas Besonderes mit uns vorha ben? Kämpfe? Befragungen …?« wollte Ax ton/Grizzard wissen. Razamon schob die Schultern nach vorn und stellte den leeren Napf zurück in die Es sensschleuse. »Jedenfalls erwartet uns ganz sicher kein heiteres Schicksal«, sagte Atlan. »Auch Larx ist von Befehlen und Anordnungen ab hängig, wie wir am eigenen Leib erfahren haben.« Sie kratzten die letzten Reste des trostlos schmeckenden Nahrungsbreies aus den Näp fen und stellten sie zurück. Sofort zischte die Metallplatte wieder zurück. Razamon zog die Beine hoch und streckte sich auf der har ten Pritsche aus. Er verschränkte die Arme im Nacken und brummte: »Leider haben wir keine Möglichkeiten. Nur unsere Finger und unseren Verstand. Beides reicht hier offensichtlich nicht aus.« »Wie wahr!« pflichtete ihm Axton bei. Atlan und Razamon warfen sich einen be stürzten Blick zu. Sie hatten ein feines, ge fährliches Geräusch gehört. Das Geräusch wurde lauter und intensi ver. Es war ein stechendes, scharfes Zi schen. Atlan sagte alarmiert: »Unsichtbare Düsen! Sie fluten die Zelle mit Gas.« Die Gefangenen sprangen auf. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Sie rochen bereits das Gas. »Wir werden lautlos umgebracht!« stöhn te Razamon und sprang zur Tür. Er hämmerte mit beiden Fäusten dagegen, aber er mußte wissen, daß auch diese Geste absolut sinnlos bleiben würde. Atlan sah,
4 wie AxtonGrizzard taumelte und halb be wußtlos über die Pritsche fiel. Razamon ver suchte, ebenfalls ohne Sinn, die Luft anzu halten, aber er begann zu taumeln. Atlans Logiksektor sagte: Wenn sie euch umbringen wollten, gäbe es andere Möglichkeiten. Etwas besonderes geht hier vor. Razamon taumelte. Er versuchte, sich an der glatten Wand festzuhalten und rutschte langsam daran herunter. Atlan spürte in den Lungen das süßlich schmeckende Gas und fühlte, wie sich seine Sinne verwirrten. Auch er fing zu taumeln an und fiel schwer gegen die Wand. Das Zischen wurde zum alles überlagernden Geräusch, es schien die Zelle auszufül len. Atlan hörte nicht einmal mehr seine ei genen qualvollen Atemzüge. Er schlug schwer auf die Pritsche. Seine Augen schlossen sich, und nach einem letzten wür genden Atemzug wurde er bewußtlos. Einige Sekunden später merkte der Arko nide, daß einige seiner Sinne wieder zu ar beiten schienen. Undeutlich hörte er, wie das Zischen lei ser wurde und schließlich aufhörte. Dann breitete sich eine unheilvolle Stille aus. Atlan blieb bewegungslos liegen; als er versuchte, sich zu bewegen, mußte er mer ken, daß ihm weder Nerven noch Muskeln gehorchten. Er glaubte, Tritte und rauhe Kommandos zu hören, dazwischen die Klän ge einer fremdartigen Musik, unterbrochen von dröhnenden Gongschlägen. Verursachte das Gas einen Rauschzustand vor dem un ausweichlichen Tod? Irgend etwas raschelte. Atlan blinzelte und nahm schattenhafte Bewegungen wahr. Zum Teil spiegelten sich die Geschehnisse in den metallenen Wänden. Einige Gestalten drangen in die Zelle ein. Sie trugen irgend welche Bündel. Wieder verschwammen Ge räusche und Bewegungen vor Atlan, obwohl er sich anstrengte, die Vorgänge irgendwie festzuhalten. Er hatte starke Halluzinationen und konnte Wirklichkeit und Rausch nicht mehr voneinander trennen. Aber er merkte,
Hans Kneifel daß man sich an seinem Körper zu schaffen machte. Gestalten, die er nicht genau erkennen konnte, rissen den Gefangenen die Kleidung von den Körpern. Ihnen wurden irgendwel che alten Lumpen angezogen. Dann wurden die Körper hochgehoben und auf schwebende Bahren geworfen. Wieder verlor Atlan das Bewußtsein und tauchte in einen neuen Traum ein. Er schwitzte und fror abwechselnd und hörte Klänge und Geräusche, die es offensichtlich nicht gab. Die Bahren schwebten durch Dunkel und Helligkeit, schwebten aufwärts und abwärts und stießen hart und krachend irgendwo an. Wieder drangen unbegreifliche Geräusche auf Atlan ein. Er war noch immer nicht in der Lage, seine Muskeln zu bewe gen. Er spürte, daß plötzlich eine andere Um welt ihn umgab. Diese neue Umgebung schwankte und veränderte ihre Schwerkraftverhältnisse un ausgesetzt. Ein Gleiter? Ein Transportfahr zeug? Auch der Extrasinn meldete sich nicht mehr. Eine Stimme sprach mehrmals diesel ben Worte, die wie ein gewaltiges Echo in Atlans Erinnerung hallten. Ein Name tauchte in dem wilden Traum auf. Tolfex? Ehe Atlan diesen Gedanken stärker fassen konnte, verlor er wieder das Bewußtsein. Als er erneut wach wurde, wußte er nicht, ob Sekunden oder Stunden vergangen waren. Ein kalter Wind traf sein Gesicht. Tolfex, falls er dessen Stimme wirklich gehört hatte, war ein Koordinator der Ewigkeit. Das ließ schlimmste Befürchtungen zu, aber auch darin gab es nicht die geringste Sicherheit. Wieder schloß sich eine Periode an, in der die Bahre mit Atlan darauf durch ein Uni versum aus unbekannten Klängen, dröhnen den Geräuschen und ununterbrochen wech selnden Lichteindrücken schwebte. Eine Il lusion blitzte auf: Drei Bahren schwebten durch die Schleuse eines kleinen Raum schiffs.
Land ohne Sonne
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Wenn Tolfex seine Hände im Spiel haben sollte, war einer der letzten Gedanken At lans, dann konnte diese Irrfahrt durch einen schrecklichen Wachtraum nur bedeuten, daß man seine Freunde und ihn zu einem »Stern der Läuterung« bringen würde – ein Schick sal, dessen Schrecklichkeit jede Vorstellung überstieg. Wieder schwanden Atlans Sinne. Der letzte Gedanke, dessen er noch fähig war, schilderte ihm eine Zukunft voller Grauen und Entsetzen.
2. Das rauschende Plätschern oder Tropfen war und blieb ein eintöniges Geräusch. Es herrschte tiefes Dunkel. Nicht einmal ein Lichtschimmer traf die Stelle zwischen den Felsen. Dicke Moospolster hatten die Nässe in sich aufgesogen; das Wasser des unauf hörlichen Regens lief über die weißgewa schenen Kiesel. Der Regen schlug gegen die Flanken der Felsen, sammelte sich in schma len Rinnsalen und lief in den groben Sand. Das Tropfen und Rauschen wurde unterbro chen. Ein langgezogenes Stöhnen ertönte, dann ein Ächzen. In der Finsternis hörte man ein Tappen und Schlurfen. Eine rauhe Stimme fragte: »Stöhnst du, Razamon? Oder ist es At lan?« Niemand antwortete. Als sich ein Körper aufrichtete, wurde das Regenwasser aus dem Moos gepreßt und lief über das Gesicht ei nes der drei Wesen, die hier lagen. Ein wü tender Hustenanfall war zu hören. Dann röchelte jemand: »Wo sind wir?« Es war unverkennbar die Stimme des Ber serkers. Er hob einen Arm und tastete um sich. Schließlich packte er eine Hand. »Keine Ahnung, wo wir sind. Es regnet, und es ist stockdunkel.« »Habe ich dich eben berührt?« keuchte Razamon und spie aus. »Nein.« »Dann liegt Atlan neben mir. Hilf mir.
Orientiere dich an meiner Stimme, dann weißt du die Richtung.« »Verstanden – ich komme.« Razamon und Grizzard/Axton krochen aufeinander zu. Razamon trat auf Atlans lin ke Hand, als er sich dorthin vortastete, wo er die Stimme Grizzards gehört hatte. Atlan riß die Hand weg und fluchte. »Er ist wach!« stellte Razamon fest. »Atlan! Hörst du mich?« »Ja«, keuchte Atlan. »Wo sind wir?« »Wenn ich das wüßte«, gab Razamon zu rück. Sie richteten sich auf und taumelten auf einander zu. Nach einigen Schritten stießen sie zusammen und hielten sich aneinander fest. Zwar spürten sie die Nähe des anderen, aber sie sahen noch immer nichts. Der Re gen lief durch ihr Haar, über ihr Gesicht und in den Nacken. Atlan ließ die Schulter Razamons los und sagte langsam, fast stoßweise: »Zuletzt waren wir in dieser Zelle auf Cagendar. Dann ließen sie Gas einströmen und machten uns bewußtlos. Bis zu diesem Punkt habe ich alles mitbekommen. Dann folgen in meiner Erinnerung nichts als wirre Bilder.« Grizzard meinte: »Hier riecht es ganz anders als auf Cagen dar. Ich bin sicher, daß wir uns auf einem anderen Planeten befinden.« »Da wäre ich nicht so sicher«, murmelte Razamon und wischte sich das Wasser aus dem Gesicht. »Es stinkt nach verfaulten Pflanzen, das ist der Unterschied.« Sie lehnten sich gegen den nassen Felsen. In ihren Mägen erzeugte der Hunger ein nagendes Stechen. Die Schwerkraftverhält nisse ihrer neuen Umwelt schienen so gut wie identisch mit denen von Cagendar zu sein. Razamon sagte knurrend: »Immerhin wächst hier so etwas wie Moos. Das bedeutet, daß es Licht geben muß, sonst findet keine Photosynthese statt.« »Das bedeutet, daß es Nacht ist«, murmel te Atlan. »Jeder Schritt kann uns umbringen.
6 Es ist am sichersten, wenn wir hier stehen bleiben.« »Ein vernünftiger Vorschlag«, meinte Grizzard. Atlan tastete über seine Kleidung. Als sei ne Finger den Stoffgürtel erreichten, spürte er etwas Hartes. Er zog daran und ertastete eine Art Patrone oder Kapsel. Vorsichtig zog er sie heraus und hob sie hoch. Zwi schen seinen Fingern sprang der Verschluß sirrend ab und klirrte auf den Steinen zu At lans Füßen. »Was war das?« wollte Razamon wissen. »Einen Moment. Irgendeine Kapsel …«, sagte Atlan leise und zog aus dem Röhrchen ein Stück breites Kunststoffband hervor oder etwas, das sich unter den nassen Fingerspit zen so anfühlte. Augenblicklich erschienen darauf leuchtende Buchstaben, in Gonex ge schrieben. Atlan murmelte verblüfft, während er Buchstabe um Buchstabe enträtselte: »Pthor habe ich verloren … ihr könnt euch rehabilitieren, wenn ihr Dorkh für mich gewinnt …« »Was murmelst du?« Atlan wiederholte den Text. Noch wäh rend er zum zweitenmal las, flammte der Streifen auf und zerfiel zu Asche. Auch die Patrone glühte auf, versengte die Finger des Arkoniden und zerschmolz spurlos im Moos. »Zumindest klingt es nicht wie ein Todes urteil«, stellte Razamon fest. »Ein schwa cher Hoffnungsschimmer.« »Trotzdem ist es mehr als rätselhaft. Wer hat das geschrieben? Wer oder was ist Dorkh? Falls die Botschaft von Larx stammt, was erwartet er sich ausgerechnet von uns Ausgesetzten?« fragte sich Atlan laut. »Du stellst Fragen, die niemand beant worten kann«, meinte Razamon. »Niemand von uns dreien!« korrigierte Axton/Grizzard. Die Ausgesetzten tasteten um sich, lehnten sich dann nebeneinander gegen den Felsen und sagten sich, daß es tat sächlich vernünftiger war, auf den Morgen
Hans Kneifel zu warten, anstatt sich der Gefahr auszuset zen, hier abzustürzen. Nach einer Weile – es regnete ununterbrochen weiter, und die Männer froren noch mehr – sagte der Ber serker grimmig: »Wir sollen also, vermutlich für Duuhl Larx, etwas erreichen. Aber wir sind für jede Art von Eroberung schlecht ausgerüstet. Wir haben keinerlei Informationen. Und darüber hinaus sind wir auch noch mitten in dieser elenden Umgebung ausgesetzt worden!« Jedes einzelne Argument war stichhaltig. Die gesamte Situation blieb völlig undurch schaubar. Atlan versuchte es mit einer Er klärung, die aber auch er selbst nicht ganz akzeptieren konnte. »Vielleicht will der Neffe, ähnlich wie Chirmor Flog, seine makabren physischen Bedürfnisse befriedigen.« »Durch uns?« fragte Grizzard verblüfft. »Möglicherweise. Es könnte durchaus sein, daß wir auf bestimmte Art beobachtet werden. Jedenfalls habe ich keine andere Er klärung anzubieten«, schloß Atlan. Sie blieben sitzen und warteten. Stunden lang regnete es weiter. Endlich, nach einer kleinen Ewigkeit, zeigte sich eine kümmerli che Helligkeit. Ein warmer Wind blies den Ausgesetzten in die Gesichter. Dann hörte der Regen auf. Als es heller wurde, sahen zwar die drei Männer ihre nächste Umge bung, aber sie sahen auch den dichten, wei ßen Nebel, der aus allen Richtungen her ankroch. »Ein wahres Paradies!« sagte Axton und ließ seinen Blick über die Felsen, das Moos und den Kies gleiten. Mehr gab es nicht zu sehen. Keiner von ihnen erkannte, was zwei, drei Schritte vor ihnen lag. Das Trommeln und Plätschern war leiser geworden, aber jetzt hörten sie in offensichtlich größerer Entfernung ein tosendes Rauschen wie von einem starken Wind oder einer großen Was sermasse. »Vielleicht finden wir einen weniger ab stoßenden Platz«, sagte Atlan. »Seid vor sichtig!« Die Helligkeit erreichte binnen weniger
Land ohne Sonne Minuten ihren Höhepunkt. Aber der Nebel lichtete sich nicht. Er dämpfte sämtliche Ge räusche, als sich die Ausgesetzten entlang einer Felswand vorwärts tasteten. Die Fels wand auf der rechten Seite wich schließlich zurück, links wurden die Steine und Fels brocken kleiner, der Boden war jetzt von einzelnen, halmartigen Pflanzen durchsetzt und bestand aus Sand und nassem Lehm. Das Rauschen irgendwo weit vor ihnen wur de lauter, und Razamon rief über die Schul ter: »Das Gelände scheint hier nicht ganz so gefährlich zu sein. Schöner wird es nicht.« Jede Richtung, in die sie stolperten und wanderten, war gleich gut oder gleich schlecht. Unentwegt tappten sie durch den wattigen Nebel, der zuerst nach fauligen Pflanzen stank, dann nach brennendem Horn, schließlich nach verwesendem Fisch. Obwohl die Ausgesetzten mit den Augen den Boden absuchten, fanden sie weder Spu ren noch etwas Eßbares, weder einen Knüp pel oder etwas Ähnliches, was sich als Waf fe verwenden ließ. »Wir werden sicher irgendwann erleben, daß die Umgebung sich verändert«, rief nach etwa einer Stunde Atlan. Sie hatten sich über eine Art Savanne be wegt, stets im dicken Nebel, aber das Rau schen zu ihrer Rechten war lauter, dann wie der leiser geworden. Jetzt schienen sie sich dem Wasser wieder zu nähern. Plötzlich fauchte es direkt über ihnen in dem er stickenden Medium, und ein Schatten husch te über sie hinweg. Ein starker Luftzug traf sie, aber er riß den Nebel nicht auf. »Was war das?« rief GrizzardAxton. »Ein riesiger Vogel?« Aus dem Nebel ertönten klickende Ge räusche. Es war, als ob große Steine scharf gegeneinander geschlagen würden. »Es kann ein Vogel gewesen sein«, gab Atlan zurück, bückte sich und hob zwei faustgroße Steine auf. Sie waren inzwischen sicher, daß sie sich auf einem anderen Planeten als Cagendar befanden. Larx hatte sich ihrer entledigt und
7 sie ausgesetzt. Daran bestand kein Zweifel. Sie gingen weiter, auf das Rauschen zu. Das Land senkte sich ganz leicht, und zwischen ihren Füßen entdeckten sie jetzt grüne Pflan zen, die sich dicht an den Boden duckten und dunkelgrüne Beeren trugen, so groß wie Trauben. Vorsicht. Sie können giftig sein, meldete sich Atlans Extrasinn. Nach all den Abenteuern, die der Arkoni de in den letzten Wochen erlebt hatte, schreckte ihn diese Möglichkeit nur gering fügig. Er bückte sich, riß eine Beere ab und zerbiß sie. Sie schmeckte angenehm säuer lich, und ihr Geschmack vertrieb ein wenig den Durst und den Hunger. Als sich Griz zard und Razamon neben Atlan auf den Bo den sinken ließen und ebenfalls Beeren ab rissen, sagte er halblaut: »Seid vorsichtig. Wartet noch, ehe ihr eßt. Ich versuche gerade festzustellen, ob sie uns schaden oder nicht.« Razamon kaute bereits auf einer Beere und widersprach: »Sie schmecken nicht übel, wenn man halb vor Hunger umkommt.« »Trotzdem! Wartet noch!« Wieder huschte ein Schatten über sie hin weg. Diesmal war der Luftzug stärker, und es roch nach muffigem Stoff oder stinken den Federn. Das Klicken schien von einem riesigen Schnabel zu stammen, der dicht über Grizzards Kopf aufeinanderbiß. Griz zard duckte sich und schleuderte einen Stein in die Richtung, in der der Schemen flügel schlagend verschwunden war. Ein wütender Laut erklang; ein doppeltes, stimmhaftes Fauchen. Mit einem kurzen Anflug von Galgenhu mor sagte Razamon: »Mir scheint, daß der Neffe über uns wacht. Vielleicht in Gestalt eines großen Vogels.« Aus dem Nebel kam das Schlagen schwe rer, nasser Flügel. Sie bewegten sich dicht hinter den Ausgesetzten und kurz vor ihnen. Atlan sprang auf und ließ den Rest der Bee ren fallen. Auch Razamon warf sich zur Sei
8 te, als von zwei Seiten wieder diese schauer lichen Laute zu hören waren, die jeweils mit dem Klicken der Schnäbel abschlossen. Razamon und Atlan drehten die Köpfe hin und her und versuchten, in dem Nebel etwas zu erkennen. Aber sie sahen nicht einmal einen Schatten oder eine Helligkeitsände rung in der milchigen Umgebung. »Ob sie angreifen?« fragte sich Grizzard laut. »Sehr wahrscheinlich«, sagte Atlan. Sie blieben wachsam stehen und versuch ten, ein Ziel zu erkennen. Die fliegenden Bestien kreisten im Nebel hin und her, schri en und erzeugten metallische Geräusche mit den Schnäbeln. Dann schoß ein Schatten dicht über dem Boden heran, breitete die Schwingen aus und wurde für die Dauer von einigen Sekunden deutlich sichtbar. Es war tatsächlich ein riesiger Vogel mit braunen und feuerroten Federn. Ein riesiger Kopf ra ste auf Razamon zu und zeigte einen weit aufgerissenen Hakenschnabel und zwei rie sige, von Gefieder umsäumte Augen. Raza mon sprang zur Seite, holte aus und schleu derte einen Stein nach dem Vogel. Das Ge schoß traf das Tier irgendwo an der Schul ter. Der Vogel wich zur Seite aus und schrie auf, Razamon warf einen zweiten Stein und sprang nach links in Deckung. Die riesige eulenartige Kreatur klapperte hungrig mit dem Schnabel, schwang sich dicht über At lan in die Höhe verschwand wieder im Ne bel. Der zweite Stein, mit größerer Wucht geschleudert, flog vorbei, prallte irgendwo außerhalb des Sichtbereichs auf und kollerte davon. Die nach vorn gekrümmten Krallen des Vogels, der größer schien als ein terrani scher Adler, pfiffen neben Atlans Schulter durch die Luft. Wieder schrie aus einer an deren Richtung eine andere Rieseneule. Es sind Raubvögel. Nehmt euch in acht! sagte warnend der Logiksektor. Atlan sah Razamon deutlich, und Griz zard, der keine drei Meter entfernt war, be fand sich schon in einer Zone, in der seine Umrisse verschwammen. Die Männer bück-
Hans Kneifel ten sich wieder und hoben Steine auf, wäh rend sie hinter Razamon weiterstolperten, dem Geräusch eines Flusses oder von Stromschnellen entgegen. Der zweite An griff traf Grizzard und warf ihn um. Atlans Stein schlug klatschend gegen den Kopf des Vogels. Der Vogel, der sich mit Krallen und Schnabel auf Grizzard stürzen wollte, wurde zur Seite geworfen und flatterte schreiend in die Höhe. Razamon hatte Grizzards Arm ge packt und zog den Mann über den Sand. »Wenn wir uns noch lange auf dieser Sa vanne aufhalten, erwischen sie uns noch. Wir sollten etwas Tempo zulegen«, meinte Razamon. »Meinetwegen!« knurrte Atlan. Mindestens eine weitere Stunde verging, während sie durch das triefende Land stapf ten. Dürre Pflanzen, verschiedenfarbige Moosflecken, immer wieder Steinbrocken und fahlgrüne, harte Grashalme mit lanzett förmigen Blättern, die in die Haut schnitten – das war alles, was es hier gab. Der dichte Nebel fing jetzt an, sich zu bewegen. Hier und dort wurde er dünner und ließ einige Meter mehr von der Landschaft erkennen. Die Ausgesetzten fanden nicht einmal mehr Beeren zum Essen. Nur das Rauschen und Brausen wurde lauter. Sie näherten sich also dem Wasserfall nach wie vor. Noch einige Male griffen die Eulen an. Aber jetzt waren sie nicht nur zu hören, sondern auch früher zu erkennen. Jedesmal hagelten den Raubvögeln die Steinbrocken und Kiesel entgegen und trafen meist. Die Vögel wurden rasend vor Wut, aber sie konnten keinen der Männer umwerfen oder ihm die Klauen in die Haut schlagen. »Weiter geradeaus!« keuchte Atlan. »In den Wasserfall hinein?« wollte Raza mon wissen. »Vielleicht rettet uns das vor den Vö geln!« rief Grizzard. Sie blieben dicht nebeneinander und lie fen weiter, immer der Quelle des Ge räusches entgegen. Der Nebel riß mehr und mehr auf. Hinter den treibenden Schleiern
Land ohne Sonne tauchten wie die Einzelheiten eines farb schwachen Kaleidoskops verschiedene Bil der auf: Wasser, Felsen, an denen sich gischtende Wirbel bildeten, wieder Felswän de und merkwürdige kleine Wolken, die ver schiedene Gestalten annahmen, ein Hang voll blauer Moospolster und mehrmals die Körper der riesigen Eulen. Dann riß der Nebel endgültig auf. Die Männer rutschten über eine kleine Sandfläche. Vor ihnen führte eine natürliche Treppe aus unregelmäßigen Felsbrocken ab wärts und direkt in einen breiten, schneewei ßen Wasserfall hinein. Der Fels war pech schwarz und schimmerte vor Nässe. Noch sah man keine Sonne, aber die Intensität des Lichtes war stark gestiegen. »Endlich!« Sie standen auf einer Art Kanzel und blickten auf eine Felswand, auf die gesamte Breite des Wasserfalls, auf die rollenförmi gen Wirbel an den Stellen, wo das Wasser auf verborgene Felsen auftraf und zu feinen Wolken zerstäubt wurde, darunter auf ein zelne Steine, um die das abfließende Wasser eines etwa sechzig Meter breiten Flußbetts rann. Einige Sekunden lang standen sie so und betrachteten die Aussicht, dann nahm Razamon aus dem Augenwinkel eine Bewe gung wahr. Er schrie aus Leibeskräften: »Achtung! Die Rieseneulen!« Jetzt kamen sie gleichzeitig von allen Sei ten. Es waren mindestens sieben Tiere, die sich mit ausgebreiteten Schwingen und vor gereckten Hälsen auf die Männer stürzten. Atlan und Razamon schleuderten sofort Steine nach den träge herangleitenden Vö geln. Die scharfzackigen Geschosse trafen die Wesen an den Köpfen oder an den Hälsen. Grizzard warf sich nach vorn, über schlug sich auf der Sandfläche und sprang dann über die natürliche Treppe abwärts. Als er im Winkel zwischen zwei Blöcken würfelförmige Trümmer entdeckte, blieb er stehen und schickte einen Hagel von Stein brocken nach den Eulenartigen. »Hierher! Unter den Wasserfall!« schrie Grizzard/Axton.
9 Atlan und Razamon versuchten, den An griffen der schwebenden Wesen zu entkom men. Sie sprangen hin und her, tauchten un ter den Körpern der Tiere hindurch, packten die Flügel und schwangen sich zur Seite. Sie hatten keine Zeit mehr, sich zu bücken und Steine aufzuheben. Atlan winkte Razamon, wurde von einem Vogelkörper gerammt und wirbelte auf den Rücken. »Hinunter!« schrie er. Mit einigen Sätzen verließen Razamon und Atlan die Sandfläche. Sie liefen und sprangen geduckt und im Zickzack abwärts. Die Steinbrocken, die Grizzard schleuderte, pfiffen um ihre Ohren. Wie Möwen jagten die Rieseneulen den Steinhang abwärts und schrien aufgeregt, aber das Donnern des Fal les verschluckte ihre Schreie. Ein riesiger Stein, den Atlan schleuderte, brach einem Vogel das Genick und schmetterte ihn über die Felsen ins Wasser. Die Männer halfen sich gegenseitig und turnten die riesigen Stufen abwärts. Moos, Algen und Feuchtigkeit machten die Ober fläche schlüpfrig. Die Sohlen der zerrissenen Stiefel rutschten ab, jeder weitere Angriff der kreisenden Tiere warf die Männer gegen die scharfkantigen Felsen. Ein Angreifer flatterte aufgeregt über Razamon, kippte nach rechts und wurde mit dem stürzenden Wasser mitgerissen. Die Rieseneule ver schwand in den Wirbeln, wurde auf die Fel sen geworfen und trieb als nasses, regungs loses Bündel in den gischtenden Wellen flußabwärts. Die Männer flüchteten wieder einige Stufen abwärts, und jetzt hüllte sie bereits der Schleier des zerstäubenden Was sers ein. Grizzard schirmte die Augen mit der fla chen Hand ab und tauchte in den Rand des Falles ein. Zwei Schritte, und er war ver schwunden. Razamon folgte ihm, während Atlan sich herumdrehte und seinen letzten Steinbrocken nach einem der seltsamen Vo gelwesen schleuderte. Er traf direkt den Schnabel des Tieres, dann fuhr Atlan herum und duckte sich unter dem nächsten Angriff. In diesem Moment sah er die Gischtwol
10 ke, die einer riesigen Flugeule glich. Sie stieg, immer größer und deutlicher werdend, schneeweiß aus dem Wasser hervor. Und zwar genau an der Stelle, an der sich Wasser und Felsen trafen. Es sah aus, als würde der Wassernebel dadurch erzeugt und geformt, daß die Wucht das Wasser in bestimmte Richtungen aufwärts und auseinander schleuderte, nachdem es in bestimmte Aus höhlungen der Steine geprallt war. Atlan beschloß, dieses Phänomen später einer genaueren Prüfung zu unterziehen. Er duckte sich als letzter unter die Was sermassen und merkte überrascht, daß das Wasser des Flusses frisch schmeckte, aber ziemlich warm war. Er tastete rechts nach der Felswand und holte hustend Luft. Er blinzelte, wischte sich das Wasser von der Stirn und den Augen und sah, daß hinter dem Vorhang aus Wasser und Gischt im Felsen ein Sims herausgeschlagen war. Also gibt es hier Bewohner! stellte der Logiksektor fest. Razamon und Grizzard standen bereits auf dem etwa einen halben Meter breiten Sims. Atlan schwang sich darauf, lief einige Schritte und sah, daß Razamon ihm winkte. Die beiden Ausgesetzten standen vor einer dunklen Öffnung etwa in der Mitte des Was serfalls. Razamon zeigte, während er unver ständliche Worte schrie, auf den Eingang, der knapp zwei Meter hoch war. Atlan nick te. Sie tasteten sich weiter voran, durch schritten den Eingang und sahen, daß er künstlerisch bearbeitet war. Deutlich war zu erkennen, daß ein breiter Felsrahmen mit winzigen Gestalten, Ranken und Ornamen ten versehen war. Es schienen meisterhafte Steinmetzarbeiten zu sein. Die Pthorer zo gen sich etwa dreißig Meter tief in einen Korridor zurück, der im Zickzack verlief. Schwaches Licht fiel durch Löcher in der Decke und in den Wänden. Diese Löcher waren Enden von langen Tunneln, die ir gendwo an der Oberfläche endeten. Hier war das donnernde Rauschen des Falles zu ei nem dumpfen Murmeln geworden. Grizzard fuhr mit der Hand über die trockenen Wände
Hans Kneifel und die Reliefbänder, von denen sie bedeckt waren. »Ich hätte nicht erwartet, daß ich hier menschenähnliche Figuren zu sehen bekom me!« sagte er verwundert. »Tatsächlich!« antwortete Razamon. »Diese Gestalten hier scheinen wirklich hu manoid zu sein. Ein neues Rätsel. Und flei ßige Bildhauer gab es hier.« »Möglicherweise gibt es sie noch heute«, sagte Atlan und versuchte, auf den Reliefs Einzelheiten zu erkennen. »Übrigens habe ich einen unglaublichen Effekt des Wasser falls gesehen.« Die abenteuerlichen Überraschungen folgten einander so schnell, daß es vorläufig müßig erschien, Erklärungen zu suchen und Analysen zu treffen. Die seltsame Botschaft, der Nebel und die Eulenwesen, der Weg in den Stollen, den sie scheinbar zufällig ge funden hatten, und jetzt diese hochkünstleri schen Ranken und Gestalten. Atlan drehte sich in dem vagen Zwielicht herum und hob die Schultern. »Ich verstehe nichts«, sagte er. »In wel cher Welt befinden wir uns? Irgendwann wird das alles, hoffe ich, einen Sinn erge ben.« Razamon blieb skeptisch und antwortete kurz: »Wir sind erst seit ein paar Stunden hier.« »Und überdies hungrig.« Sie verständigten sich schnell und gingen zurück auf den Sims hinter dem Wasserfall. Atlan zeigte Grizzard/Axton und Razamon, was er entdeckt zu haben glaubte. Tatsäch lich sahen sie, daß aus einem bestimmten Blickwinkel immer wieder phantastische Formen und Strukturen an einigen Stellen des Falles aufstiegen, einige Sekunden lang konstant blieben und sich dann in wirbelndem Gischt auflösten. Nachdenklich starrten die Fremdlinge die Erscheinungen an. Als sich die Männer nach einer Weile wieder in nerhalb des Stollens befanden, meinte Raza mon: »Möglicherweise stoßen wir auf eine Gruppe hochsensibler Steinmetzen oder Mo
Land ohne Sonne delleure. Dieser ungewöhnliche Effekt setzt voraus, daß sie die Strömung des Wassers hervorragend gut berechnet haben müssen.« »Die Reliefs scheinen dir recht zu geben«, sagte Atlan. »Bisher haben wir außer den hungrigen Eulen niemanden erlebt, den wir fragen könnten.« »Uns bleibt nichts anderes übrig, als wei ter in diesen Korridor vorzustoßen. Wenn wir nur eine Waffe hätten!« rief Grizzard und wandte sich zum Gehen. Zunächst führte der Tunnel im Zickzack und in rechten Winkeln tiefer in den Berg hinter dem Wasserfall hinein. Dann führten in einigen Stufen Rampen aufwärts. Immer wieder gab es Licht und frische Luft aus den unregelmäßig verteilten Schächten, deren Ränder in die Verzierungen der Wände ein gepaßt waren und außerordentlich prächtige Rahmen bildeten. Aber je tiefer die Fremden eindrangen, desto stärker stank es: faulendes Fleisch und etwas, das nach muffigem Tuch roch, waren die vorherrschenden Gerüche, die in die Nasen der Männer schlugen. Zwei Rampen höher blieben sie vor einer Art Nische stehen. Der Boden einer würfelförmigen Kammer war von Federn, einer dicken Schicht trockener und kotbedeckter Pflanzen, von bleichen Knochen und Hautfetzen und von Bruchstücken, die wie Eierschalen wirkten, ausgefüllt. In der Rückwand führte ein Loch, etwa einen Meter im Durchmesser, ins Freie. Die Wände dieses Schachtes waren glän zend und abgeschliffen, als ob sich etwas seit Jahrzehnten an ihnen entlanggeschoben hätte. Die Eulenwesen! warnte zischend der Ex trasinn. Gleichzeitig drangen verschiedene Ge räusche an die Ohren der Ausgesetzten. Deutlich war nur ein fernes Klirren und Kni stern, alles andere ließ sich nicht deutlich unterscheiden. »Und was bedeutet das Klirren und Häm mern?« fragte Razamon kopfschüttelnd. Auch er war sicher, daß in dieser Nische sich eines der Eulenwesen aufhielt – oder
11 bis vor kurzem hier genistet hatte. Atlan hielt sich die Nase zu und ging nach einem Blick auf das ungepflegte Nest weiter. »Wir werden vermutlich gleich sehen, was es damit auf sich hat. Wo Geräusche sind, werden wir lebende Wesen finden«, sagte er. Der Tunnel bog scharf nach links ab. Unverändert war der seltsame Schmuck dieses erstaunlichen Korridorsystems. Von der Decke bis zum Boden verliefen breite Bänder aufwärts und abwärts. Zehn tausende von Ornamenten griffen ineinander über und bildeten Strukturen, von denen die Augen überfordert wurden. Längst hatten es Atlan und seine Freunde aufgegeben, einzelne Gestalten oder Schilderungen erkennen zu wollen. Immerhin waren sowohl die Eu lenvögel als auch menschliche Gestalten zwei der am häufigsten dargestellten Figu ren. Dazu gab es Tiere, die wie höchst selt same Katzen aussahen. Die Geräusche wur den lauter und durchdringender, und den Pthorern zog ein feiner Staubnebel entgegen, der vom Luftzug durch eine der Lichtöff nungen davongerissen wurde. »Halt!« sagte Atlan laut. »Es muß unmit telbar vor uns sein.« Sie näherten sich dem Ende des geradeaus führenden Korridors, der rechts und links zur Seite führte. Der Staub wurde dichter, und er schien zermahlener Stein zu sein oder eine Art Gips oder Zement. Atlan schob sich entlang der Wand nach links und winkte den Freunden. Nach einigen Schritten breitete sich vor ihnen ein Bild aus, das aus so vielen Einzel heiten bestand, daß sie es nicht sofort begrif fen. Eine Höhle mit vielen kleinen Lichtlö chern und Pfeilern, die wie Baumstämme wirkten, weil sie ohne Kanten zwischen Bo den und Decke wuchsen. Überall war Bewe gung, der Lärm war betäubend geworden. Hunderte oder Tausende Hämmer schlugen auf Hunderte oder Tausende kleiner Meißel, die von kleinen Händen gehalten wurden. Die Bildhauer, gnomenhafte Wesen von we niger als einem Meter Größe, saßen auf dem
12 Boden, standen an den Wänden, hingen an Säulen oder bewegten sich auf Gestellen entlang der Wände. An zahllosen Stellen verliefen unregelmäßige Grenzen zwischen grob bearbeitetem Gestein und den wach senden, wuchernden, fließenden Teilen der Figuren, Ornamente und Friese. Die Gno men arbeiteten in rasender Geschwindigkeit, eine beträchtliche Hektik erfüllte die Halle oder Höhle. Niemand beachtete die drei Fremden, die vorsichtig eine kunstvoll ge schwungene Rampe abwärts gingen und schweigend die Arbeiten bewunderten. Atlan kauerte sich nieder, keine zwei Me ter von dem ersten Gnomen entfernt. Er starrte den braunen, staubbedeckten Winz ling an, der ihn nicht bemerkte und mit ei nem Meißel und einem runden Hammer eine kühn geschwungene Ranke aus dem rissigen Fels herausmeißelte. Blind? fragte der Extrasinn. Und vom Lärm vermutlich taub? Die Bewegungen des Zwerges waren un glaublich schnell. Immer wieder legte er den Meißel auf den Boden und tastete mit den runden Kuppen der spinnenartigen Finger über die fertigen und unfertigen Teile seiner Schöpfung. Atlan konnte unter den dicken Strähnen des staubbedeckten und verfilzten Haares keine Ohren entdecken und keine be sonderen Gehöröffnungen. Er richtete sich auf und lehnte sich er staunt gegen die Wand. Drei Gnomen, die etliche Schritte weiter gearbeitet hatten, warfen Hammer und Mei ßel auf den Boden, rannten mit dicken Bei nen aufeinander zu und begannen sich zu befingern. Dann liefen die drei Gnomen auf eine Gruppe aus vier anderen zu, die über einander in den Sprossen eines Gestells sa ßen und gemeinsam an einer halbplastisch hervortretenden Figur arbeiteten, die wie ein gekrümmter Fisch mit Beinen und Stielau gen aussah. Wieder befingerten und betaste ten sich die Winzlinge. Atlan näherte seinen Mund Razamons Ohr und sagte laut: »Das also sind die Künstler, deren Wirken
Hans Kneifel wir seit dem Wasserfall gesehen haben. Sie schaffen Meisterwerke, die niemals jemand wird bewundern können.« »Außer uns«, antwortete der Berserker. »Sie arbeiten wie die Rasenden und schei nen keinerlei Anleitung zu brauchen.« Die Vision eines kollektiven Bewußtseins drängte sich dem Arkoniden auf. »Sie müssen unglaublich sensible Finger haben!« stellte Axton/Grizzard fest. »Schaut dorthin! Sie verständigen sich über den Tast sinn.« Eine Rieseneule flatterte durch eine Öff nung am anderen Ende der Halle. Sie um kreiste geschickt die steinernen Säulen und landete, eine riesige Wolke von Gesteins staub aufwirbelnd, am Rand der Halle. Dort ließ sie ein schlaffes, dunkles Bündel fallen, das sie in den Krallen geschleppt hatte. Sie stolzierte entlang der Wand hin und her, öff nete den Schnabel und flatterte dann wieder davon. Nur Atlan hatte diesen Zwischenfall beobachtet, weil sich Grizzard und Razamon mit den Gnomen beschäftigten. Langsam gingen sie auf die Gruppe zu, die intensiv versuchte, sich tastend zu verständigen. Auf das Bündel, das die Rieseneule fallen gelassen hatte, stürzten sich etwa zwei Dut zend der Winzlinge. Sie hatten ihre Hämmer weggelegt und benutzten, wie Atlan mit stei gender Verblüffung mit ansehen mußte, die Meißel wie Messer oder Skalpelle. Atlan begriff, obwohl er sich weigerte, zu glauben, was er sah. Es war zumindest ab stoßend: die Zwerge zerrissen die Beute der Eule. Es war ein mittelgroßes Tier, etwa so groß wie ein kleines Reh. Die Zwerge schlangen ebenso schnell und gierig, wie sie arbeiteten, die rohen Fleischbrocken herun ter. Atlan schüttelte sich und sah im selben Augenblick, daß wie auf ein unhörbares Kommando etwa zehn Zwerge ihr Werk zeug niederlegten und von allen Seiten auf Razamon und Grizzard, dann auch auf ihn zuliefen. Im Gegensatz zu derjenigen Gruppe, die sich um die Fleischbrocken stritt, war im Verhalten dieser Gnomen noch nichts Ag
Land ohne Sonne gressives. Atlan blieb starr stehen. Auch Razamon und Grizzard begriffen, daß die Zwerge sie nicht angriffen. Die Kobolde mit ihren be haarten, runden Schädeln, die unproportio niert wie flachgedrückte Säuglingsschädel aussahen, machten sich lautlos über die drei Fremden her. Sie begannen bei den Füßen und tasteten in rasender Eile über jeden Quadratzentime ter Haut, Schuhwerk oder Kleidung. Atlan glaubte, in einem Ameisenhaufen zu stecken; bis zu den Knien wurde jedes Fleckchen Haut gekitzelt. Die Gnomen schienen tatsächlich blind und taub zu sein, ebenso stumm, trotz ihres breiten, wulstigen Mundes. Ihre Haut war unter der Staub schicht braun und runzlig, die Gelenke sa hen kugelförmig aus, und die kleinen Ärm chen starrten von harten Muskeln wie von kleinen Schlangen unter der Haut und dem Fell, das den Rücken, die Brust und den Un terleib bedeckte. Zwei Gnomen kletterten geschickt an At lan hoch. Atlan unterdrückte ein Schaudern und hielt still. Er blickte direkt in die exotischen Augen des Winzlings, der seine Schultern und den Hals abtastete. Die Augen waren groß und mandelförmig, aber statt des hellen Augapfels sah der Arkonide etwas, das ihn an ein Bündel feiner Würmer erinnerte, an eine unterseeische Pflanze oder ein Tier, das mit Tausenden winziger Fäden versuchte, die Umgebung wahrzunehmen. Die dunklen Flimmerhärchen bewegten sich unablässig in allen Richtungen, ähnlich wie die blitz schnellen Finger der Kleinen. Und die Winzlinge stanken, als kämen sie aus der Kloake! Etwa zehn Minuten lang war Atlan von einem übereinander kletternden Haufen von etwa fünfzehn Gnomen förmlich bedeckt. Dann ließen sich die letzten von seinen Ar men rutschen und untersuchten mit ihren Fingern seine Handgelenke und seine Fin ger. Abrupt hörten sie mit der Begutachtung auf, etwa gleichzeitig schien auch die Prü
13 fung der zwei anderen Eindringlinge been det zu sein. Dann erfolgte eine neue Phase der Unru he. Die Zwerge, die sich der Fremden be mächtigt hatten, rannten blitzschnell ausein ander. Sie berührten und betasteten jeden, den sie auf ihrem Weg ins Innere der Halle trafen, nur kurz und rannten weiter. Diejeni gen, die von der Neuigkeit erfuhren (daß es sich um eine Nachricht handelte und daß sie so und nicht anders übermittelt wurde, war sicher), nahmen ihre Werkzeuge und liefen zu einer großen, noch unbehandelten Wand. Wieder andere brachten die Teile transporta bler Gestelle und türmten sie auf. An drei Stellen begann mit fieberhafter Eile die Ar beit. Viel mehr Bildhauer als an allen ande ren Wänden und Säulen konzentrierten sich hier in etwa fünf Ebenen übereinander. Eine Gruppe begann, die groben Umrisse der Schuhe, Stiefel und Beine aller drei Männer zu meißeln. Diejenigen, die eine Ebene hö her auf dem Gestell saßen, hämmerten die Knie und die Schenkel. Die Beckenpartien folgten darüber, dann die Brust, schließlich die Arme und die Schultern, dann die Köpfe. Das Geräusch von etwa zweihundert Häm mern und Meißeln klang immer stärker auf und überdeckte schließlich jeden Hinter grundlärm. Und ständig kamen neue Winz linge herbei und machten sich an die Arbeit. Atlan rief: »Es ist unfaßbar. Sie modellieren uns aus Stein, obwohl sie uns nur abgetastet haben.« Grizzard sagte: »Gehen wir. Seit ich gesehen habe, wo von sie leben und essen, graut es mir.« »Die Abfälle der Eulen?« »Ja. Dort drüben …« Razamons Schritte wurden schneller. Er versuchte, zwischen den Pfeilern und den wimmelnden Gnomen einen weiteren Stol len oder Ausgang zu finden. Atlan und Griz zard folgten. Einmal hob Razamon einen Hammer auf, der zwar zwischen seinen Fin gern wie ein Spielzeug wirkte, aber eine im merhin respektable Waffe abgab. Atlan fand
14 nach einem schnellen Marsch im Zickzack ebenfalls ein solches Gerät und nahm es an sich. Sofort fühlte er sich um eine Spur si cherer. An drei anderen Stellen entstanden von anderen Gruppen freistehende Plastiken von den Fremden – sie schlugen die Umrisse aus den dicken Säulen heraus. Zwei Eulen flatterten im Rücken der Fremden in die Halle und warfen ihre tote Beute in den Staub. In einem Graben, der in einem verwirrten Mäandermuster im Hallenboden verlief, gab es Wasser. Einige Gnomen saßen dort und schliffen ihre Meißel mit Platten aus einem weißen Material, andere steckten die Köpfe in das vom Staub gefärbte Wasser und tran ken oder wuschen sich. Der Gestank füllte die Halle aus und wurde unerträglich. Plötzlich, inmitten einer großen Staub wolke, kurvte eine riesige Eule auf die Fremden zu. Das Extragehirn warnte Atlan buchstäblich im letzten Sekundenbruchteil. Er stieß Grizzard/Axton zur Seite und schwang seinen Hammer. Die Waffe traf den Flügel des Angreifers, dann den Kopf. Die Eule prallte gegen eine Säule und mähte eine Gruppe der Winzlinge um. Aber sofort richtete sie sich wieder auf und kam mit kur zen Sprüngen näher, die Schwingen ange winkelt, den Fächerschwanz nachschleifend. »Raus hier!« donnerte Razamon, riß ei nem Zwerg den Meißel aus den Fingern und warf ihn wie einen Wurfdolch nach der Eu le. Das messerscharf geschliffene Metall drang tief in den Kopf des Vogels. Blutüber strömt kippte das Tier in den Staub und schlug im Todeskampf wild um sich. »Dort sehe ich einen Ausgang!« schrie Grizzard auf und winkte. Atlan und Raza mon rannten hinter ihm her. Sie spurteten im Zickzack zwischen den Säulen entlang, sprangen über die Zwerge, die sich ihnen nicht entgegenwarfen. Aber der Kampf der Eule schien andere Exemplare angelockt zu haben. Zuerst waren es nur zwei, die sich an die Verfolgung der Fremden machten. Dann ka men drei Eulen hinzu. Eine von ihnen
Hans Kneifel schleppte noch ein katzenähnliches Tier in den Fängen, größer als ein Luchs, mit wei ßem, blutüberströmtem Fell. »Schneller! Hinter dir, Lebo!« warnte At lan und duckte sich unter einem Angriff. Er riß das Tier zu Boden und schlug den klei nen Hammer mit aller Kraft gegen den Hin terkopf des Raubvogels. Dann sprang er zur Seite und sah aus dem Augenwinkel, wie der Vogel in unvermin derter Geschwindigkeit schräg abwärts flat terte und sich den Hals in dem Wassergra ben brach. Atlan raste den Freunden nach. Das gegenüberliegende Ende der Felsenhalle kam näher. Und zu seinem Erstaunen rannte Razamon direkt auf sein eigenes Ebenbild zu, das als Seitenteil eines Ausgangs ent stand, überzeugend naturalistisch und von perfekter Lebensechtheit. Fast gleichzeitig stürmten die Pthorer in den Korridor hinein, der ihnen zumindest von den Seiten besseren Schutz gegen die Angriffe der Rieseneulen bot. Keuchend holten sie einen kleinen Vor sprung heraus, dann warfen sie sich gleich zeitig herum und stellten sich dem Kampf. Zwei Raubvögel griffen, übereinander flie gend, dicht hintereinander an. Atlan sprang der ersten Bestie mit beiden Füßen auf den Rücken, trat den Schädel gegen den Boden und riß den Kopf des Vogels aufwärts und nach hinten. Ein scharfes Knacken ertönte, das Tier unter ihm zuckte. Razamon zer trümmerte die Hirnschale des zweiten Vo gels und nickte Grizzard zu, der sich an den Flügel gehängt hatte und den Angreifer zu Boden zwang. Keuchend standen sich die Pthorer gegenüber. Razamon spie aus, dreh te sich herum und ging entschlossen weiter. »Sie sehen in uns nur Beute für die Gno men«, sagte Atlan nach einer Weile. »Irgendwie scheint eine Art Abhängigkeit oder Symbiose zwischen den Eulen und den Winzlingen zu bestehen«, schilderte Raza mon seine Eindrücke. Als er sich wieder umdrehte, keuchte er erschrocken auf und schrie: »Die Zwerge! Ein ganzes Heer verfolgt uns. Zusammen mit ihren Wächtern.«
Land ohne Sonne Schon begann er zu laufen. Der Korridor füllte sich. Die Zwerge rannten auf ihren kurzen Beinchen wie rasend den Fremden nach. »Sie merken, daß sie ihre neuen Modelle verlieren!« keuchte Grizzard. Sie stoben den Korridor weiter entlang. Die Zwerge waren nicht sonderlich schnell und würden ihnen nicht gefährlich werden. Aber die Rieseneulen holten rasch auf. Der Tunnel schien sich kilometerweit in den Berg hinein zu erstrecken und machte eine leichte Biegung nach rechts. Schweigend flüchteten die Pthorer und drehten sich im mer wieder kurz um. Unaufhaltsam kamen die Eulen näher. Es waren fünf Stück in Führung, die mit den Schnäbeln klickten und ihre klagenden Schreie ausstießen. Die Krallen waren drohend nach vorn gestreckt, als wären sie jeden Moment bereit, die Beu te zu packen. Atlan sah über die Schulter und merkte, daß die beiden ersten Eulen bis auf drei Me ter herangekommen waren. »Achtung«, keuchte er, »gleich geht es wieder los.« Die Flüchtenden spannten ihre Muskeln, legten einen kurzen Zwischenspurt ein und wirbelten dann auf ein Kommando herum. Atlan holte mit dem Hammer aus, Grizzard packte seinen Meißel, und Razamon holte mit beiden Armen aus. Der Meißel, von Grizzard wie ein Dolch benutzt, tötete die erste Eule, Atlan und Razamon rissen den zweiten Vogel an den Flügeln herunter. Der Hammer krachte dumpf auf die Schädel decke des anderen Raubvogels herunter, und als das dritte Tier sich auf Atlan stürzte, er schlug es Razamon mit einem einzigen wil den Hieb gegen die Wirbelsäule. Ein wildes Knäuel von zuckenden und flatternden Vogelkörpern, von Federn und Staub bildete sich. Der nächste Vogel ver suchte gleichzeitig, auszuweichen und anzu greifen, kam aus dem Kurs und rammte ge gen die Wand. Grizzard tötete ihn und sprang dann ein paar Meter weiter in den Gang hinein.
15 »Los! Wir haben sie genügend lange auf gehalten!« rief er. Atlan kämpfte mit einer Eule. Sie hatte ih re Krallen um seinen Schenkel geschlagen und hackte nach ihm. Razamon hechtete heran, warf sich über den Vogel und hieb ihm die Hand mit dem Hammer gegen die dünnen Röhrenknochen des Halses. »Weiter!« Wieder versuchten sie, den Verfolgern zu entkommen. Die Gnomen waren inzwischen näher herangekommen. Schweigend füllten sie die gesamte Breite des Tunnels aus. Die Eulen flatterten über ihnen durch die Staub wolke und griffen die Pthorer an, als hätten sie nicht gesehen, wie die anderen Vögel starben. Atlan, Razamon und Grizzard erreichten nach einem rasend schnellen Lauf eine Art Kreuzung. Der Tunnel wurde schmaler, die überreichen Verzierungen hörten schlagartig auf. Es gab nur eine Richtung, in die sie flüchten konnten. Als sie die Rampe hinun ter stolperten, sahen sie, daß sich weiter vorn der Korridor verzweigte. Sie kamen an diesen Knotenpunkt, blieben schwitzend, mit stechenden Lungen stehen und sahen sich um. Dort, wo der Tunnel abknickte, drängten sich die Winzlinge. Sie schienen vor einer unsichtbaren Grenzlinie Furcht zu haben. Auch die Raubvögel, die über ihnen schwebten, wagten sich nicht weiter vor wärts. Razamon lehnte sich gegen eine Wand und sagte keuchend: »Sie haben aufgegeben. An den Wänden sind keine Friese. Für sie ist es – vielleicht – unbekanntes Gebiet.« »Und was jetzt?« wollte Grizzard wissen. Razamon grinste kalt. »Alternativen sind nicht vorhanden. Hier entlang geht es.« Er zeigte nacheinander auf die vier Stol len, die von dem Knotenpunkt abzweigten. Hier war der Boden sauber; es lagen weder Federn noch Abfall oder Vogelkot herum. Vermutlich war das, was auf die Ausgesetz ten hinter dieser magischen Grenze wartete, weniger unangenehm. Aber auch das krasse
16 Gegenteil war möglich. Es gab keine Sicher heit. »Gehen wir!« schlug Atlan vor und hob den Kopf. Er blickte zu den Gnomen und den braun roten Vögeln hinüber, die in etwa sechzig Metern Entfernung warteten. Die kleinen Bildhauer standen da, eine gewisse Furcht schien sich in ihren unschlüssigen Bewegun gen auszudrücken. Über ihnen schwebten auf der Stelle vier oder fünf Eulen, aber auch sie wagten sich nicht weiter in die Fel sengänge hinein. »Es bleibt uns nichts anderes übrig«, stimmte Razamon zu. »Vielleicht erfahren wir irgendwann, wo wir uns befinden.« Sie gingen langsamer in einen der Eingän ge hinein. Der Boden senkte sich, die Wän de drangen von den Seiten heran, und aus dem breiten Tunnel wurde ein schmaler Gang. Die Ausgesetzten konnten nicht mehr nebeneinander gehen, sondern mußten eine Reihe bilden. Aber auch hier führten Schächte und Röhren von der Oberfläche herunter, die Licht und frische Luft herun terbrachten. Etwa eine halbe Stunde lang gingen die Pthorer schweigend weiter. Dann änderte sich die Umgebung schlagartig. Aus dem kantigen Stollen wurde eine Art Pfad, der sich zwischen abgerundeten Steinen, Stalag miten und Stalaktiten dahinwand. Der letzte Nachhall der hämmernden Geräusche hatte längst aufgehört: hier breitete sich eine er holsame Ruhe aus. Hin und wieder hörten sie das Geräusch eines einzelnen fallenden Tropfens. »Halt!« sagte Atlan plötzlich und stützte sich an einem Felsen ab. »Wir werden beob achtet.« Zwischen den braungrauen Steinen kam ein katzenartiges Wesen heran. Es war zwi schen eineinhalb und zwei Meter groß und trug einen weißen, kurzen Pelz. Sekunden später erkannten sie, daß der angebliche Pelz die Haut des Wesens darstellte. Große Au gen blickten sie starr an, das Wesen bewegte sich elegant und mit fließenden Bewegun-
Hans Kneifel gen, lief aber auf den Hinterbeinen – trotz dem, die Ähnlichkeit mit einer Katze oder einem Gepard war fast unheimlich. Der lan ge Schwanz bewegte sich wie eine Schlan ge. Das weiße Katzenwesen kam direkt auf sie zu und öffnete die Schnauze. »Packt sie!« sagte das Wesen in einer Sprache, die dem Pthora ähnelte.
3.
Sofort meldete sich der Logiksektor. Die Wesen aus den steinernen Abbildun gen der Zwerge! Atlan, Razamon und Grizzard blieben ste hen und sahen sich um. Die zwei Wörter hatten unverkennbar wie eine Drohung ge klungen. Etwa zwanzig der weißen Katzen wesen kamen in kurzen Sätzen näher und umringten die Gruppe der Eindringlinge. Keine der Katzen mußte sich auf die Vor derbeine niederlassen; sie gingen zwar leicht nach vorn gebeugt, aber hatten nichts an sich, was sie wie Tiere wirken ließ. Die Klauen waren fingerartig verlängert. Atlan hob langsam den rechten Arm und sagte ganz langsam in Pthora: »Wir sind keine Feinde. Wir wollen kei nen Kampf.« Der Ring schloß sich enger um die Ptho rer. Fauchende Laute ertönten und hallten in dem Felsenlabyrinth wider. Die hellen Kat zenaugen hefteten sich zornig, wie es schien, auf die Fremden. Fast unhörbar schlichen mehrere Wesen heran, rissen die Arme der Männer auf den Rücken und fesselten sie mit kurzen, harten Seilen. »Elcoy wird entscheiden, was ihr seid.« Atlan starrte in das runde Gesicht des großen Wesens, das direkt vor ihm stand. Sie waren gleich groß, aber unter dem kurz en Fell zeichneten sich dicke Muskelpakete ab. Aber auch die kleinste Bewegung war von bestechender Eleganz. Atlan ahnte, daß es mehr Vorsicht und Mißtrauen waren, we niger Angriffslust, daß die Fremden so be handelt wurden. »Wer ist Elcoy?« fragte Razamon.
Land ohne Sonne Auch er war darüber verblüfft, daß sich die beiden Sprachen so frappierend ähnelten. »Elcoy, derzeitige Königin der Mavinen.« »Sie scheinen weiblich zu sein. Oder ich müßte mich schon sehr irren«, setzte Axton/ Grizzard hinzu. »Und sie haben eine Köni gin.« »Wir haben Durst und Hunger«, knurrte Atlan. Eine Klaue schob sich zwischen seine zusammengeschnürten Arme und den Rücken. Er wurde vorwärts gestoßen, wie auch die beiden anderen. »Wir kommen in Frieden. Die Zwerge ha ben uns verfolgt, und wir kämpften gegen die riesigen Vögel.« »Schweigt. Die Jägerinnen bringen euch zur Königin.« Die Sprache war halb kehlig, halb fau chend und gut verständlich. Die Jägerinnen zogen und stießen die drei Fremden tiefer in das Gewirr von stehenden und hängenden Felsen hinein. Wieder öffneten sich in der Decke größere und kleinere Löcher, die Licht hereinließen. In dieser fahlen Beleuch tung schienen einzelne Steingruppen ver schiedenfarbig aufzuleuchten, aber als sie näher kamen, mußten die Eindringlinge se hen, daß es sich um Moose oder um Flech ten handelte. An jedem Felsen wuchsen die haarigen Pflanzen in einer anderen, verblüf fend stark leuchtenden Farbe. Der schmale Pfad schlängelte sich ab wärts und tiefer in das labyrinthische Gewirr aus Steinen und Öffnungen im Gestein hin ein. Hier waren die Öffnungen nicht künst lich, es gab keinerlei Zierat oder Spuren der Bearbeitung. »Woher kommt es, daß sich die beiden Sprachen so ähnlich sind? Ich habe keine Schwierigkeiten gehabt, dieses fremde Ptho ra zu verstehen«, sagte Razamon leise. Atlan hob die Schultern und gab zurück: »Ich weiß es auch nicht. Vielleicht han delt es sich um Auswanderer von Pthor?« »Oder die Pthorer sind von hier ausge wandert … was hier auch bedeuten mag!« stellte Grizzard fest. »Vielleicht erfahren wir es ebenso wie die
17 Wahrheit über die merkwürdigen Bildhauer gnomen«, sagte Razamon. Er wandte sich an eine der schweigenden Jägerinnen neben ihm. »Kennt ihr die Bildhauer?« »Die Kleinen Hämmernden? Ja. Ihr seid Spione der Bildmacher.« »Unsinn!« gab Razamon zurück. »Sie ha ben uns durch ihre Vögel beinahe umge bracht.« »Elcoy weiß es anders. Schweigt!« »Muß das sein?« erkundigte sich der Ber serker sarkastisch. Er bekam keine Antwort mehr. Alle drei Pthorer versuchten, während dieser Phase ihrer Gefangenschaft ihre Umgebung genau zu studieren. Vielleicht mußten sie auch hier versuchen, ihrem Tod durch Flucht zu ent kommen. Dieses ausgedehnte Höhlensystem schien endlos weit nach allen Richtungen in den Berg hineinzureichen. An einigen Stel len senkte sich die zerklüftete, aufgerissene und von Narben zerfressene Decke bis auf etwa zwei Meter dem ebenso unregelmäßi gen Boden entgegen, an anderen Stellen er innerte sie an einen Dom, eine Halle von ar chaischen Ausmaßen mit barbarischen De korationen. Während es den Eindringlingen bereits klargeworden war, wovon sich die Winzlinge ernährten, gab es hier nicht den geringsten Hinweis dafür, ob die Kavernen auch der Lebensraum der Katzenartigen wa ren. Inzwischen hatten die Katzenwesen die Gefangenen eine beträchtliche Wegstrecke entlanggetrieben. Das Höhlensystem schien jetzt zu Ende zu sein. Eine breite Treppe führte aufwärts. Die Fremden wurden hinaufgeschafft und traten in einen kleinen Saal ein. Der Boden war von einer Art Gras oder Moos bedeckt. Der Saal war nicht groß, und mehrere Licht schächte sorgten für eine vage Helligkeit. Direkt unterhalb einer dieser Öffnungen be fand sich eine Art Thron aus Stein, mit dunklen Fellen ausgelegt. Ein. Katzenwesen räkelte sich darin und hob, ohne große Überraschung zu zeigen,
18
Hans Kneifel
den Kopf, als man die Pthorer vor den Ses ben keine Waffen. Keiner von uns will zu sel schleppte. Mit befehlsgewohnter Stimme rück zu den Garsen. Wir sind alles andere, sagte die Königin: nur keine Spione. Als uns deine Jägerinnen »Ich habe geahnt, daß früher oder später fingen, waren wir auf der Flucht. Und was die Sprache betrifft, so kannten wir sie Kreaturen der Garsen hier eindringen wer den.« schon, ehe wir hier ausgesetzt wurden. Das Die Fremden verstanden nicht gleich je ist die Wahrheit!« des Wort, aber nach kurzer Zeit hatten sie Die Jägerinnen rührten sich nicht. Die den Sinn restlos erfaßt. Atlans Logiksektor Königin schwieg und fuhr fort, die Männer flüsterte: einer genauen Prüfung zu unterziehen. Atlan Die Garsen können nur die Bildhau starrte zurück und fühlte, wie seine Hände langsam abzusterben begannen. erzwerge sein! »Wir sind keine Kreaturen der Garsen«, »Wenn ihr keine Spione seid – was seid erklärte Razamon mit fester Stimme. »Sieh ihr wirklich?« fragte die Königin nach einer uns an. Wir sind vor ihren Vögeln geflo endlos scheinenden Weile. hen.« »Fremde von weit her. Ein Sternenschiff »Woher kommt es«, fragte die Königin setzte uns ab«, antwortete Atlan. »Glaube mißtrauisch, »daß ihr unsere Sprache es, oder glaube es nicht. Wir haben nichts sprecht?« bei uns, womit wir etwas beweisen können. »Wir haben sie nicht von den Garsen ge Nur unser Wissen und unsere Kenntnisse.« lernt«, erboste sich Grizzard. »Wie wäre es Razamon deutete mit dem Fuß auf die möglich? Die Garsen sind taub, stumm und Werkzeuge der Garsen. blind. Wir sind Ausgesetzte von fernher.« »Wir haben sie gestohlen, um uns gegen »Ihr seid Spione!« beharrte Elcoy. »Ich die fleischfressenden Raubvögel verteidigen habe die Regierung in diesen Zeiten. Spione zu können. Wären wir Spione, würden wir der Garsen leben im Reich der Mavinen keine Waffen gebraucht haben.« nicht lange.« Grizzard machte eine wichtige Bemer Etwa fünfzehn der schlanken Jägerinnen kung. standen im Halbkreis hinter den Fremden »Die Garsen würden niemals freiwillig ih und vor den runden Stufen des Thronsitzes. re kostbaren Werkzeuge weggeben. Außer dem – was sollten wir für sie ausspionie Aufmerksam blickte die Königin, es mußte sich um Elcoy handeln, die drei Ausgestoße ren?« nen an. Eine Jägerin trat vor und legte die »Geheime, nicht bekannte Zugänge zum primitiven Waffen der Männer auf die ober Mavinenreich!« ste Stufe. Die Männer schwiegen und über »Aber was, beim Oheim«, rief Atlan, legten, wie sie sich herausreden oder befrei »würden die Zwerge bei euch gewinnen können? Sie brauchen schlimmstenfalls neue en konnten. Im Moment gab es keine Mög lichkeit; Flucht bedeutete bestenfalls Selbst Wände für ihre Arbeiten!« mord. Die Königin beugte sich vor und sagte Schließlich warf Grizzard sein Haar in schließlich: den Nacken und sagte: »Daknar oder Rirkiv würden vielleicht »Königin Elcoy! Wir sind nicht länger als anders entscheiden. Ihr dürft weiterleben. zwanzig Stunden auf dieser Welt. Wir wis Meine Jägerinnen werden euch aufmerksam sen nicht einmal, wo wir sind. Wir hungern beobachten.« und haben nicht einmal einen Schluck Was »Sind wir frei?« fragte der Berserker so fort. ser zum Trinken. Die Rieseneulen griffen uns im Nebel an »Ihr dürft die Oberfläche nicht betreten!« und verfolgten uns. Wir sind hilflos und ha»Was wir dort erlebt haben«, knurrte At
Land ohne Sonne lan, »war nicht dazu angetan, uns Sehnsucht nach der Oberfläche empfinden zu lassen.« Die Königin stand auf, wobei sie sich ele gant an den Armlehnen des steinernen Ses sels hochzog. Sie glitt leichtfüßig die Stufen hinunter und blieb vor den Gefangenen ste hen. Sie winkte den Jägerinnen und sagte: »Löst die Fesseln. Gebt ihnen zu essen und zu trinken. Sie dürfen nicht an die Ober fläche und auf keinen Fall zurück zu den Garsen.« »Wir können beides gern versprechen!« meinte Axton/Grizzard. Klauen blitzten wie Messerspitzen auf. Die Schnüre wurden blitzschnell durchtrennt. Die Männer fingen an, ihre Finger und Handgelenke zu massie ren. Aber unverändert stand der Halbkreis der Jägerinnen vor dem Thron. »Wie konntest du glauben, wir wären Spione der winzigen Garsen?« fragte Atlan in einem Tonfall, von dem er hoffte, er wür de die Situation entspannen können. »Wir glaubten, daß ihr fleischgewordene Schöpfungen der Zwerge seid!« beharrte die Königin. »Das verstehe ich nicht!« Atlan erinnerte sich an die Versuche der Garsen, ihre perfekten Abbildungen in Stein zu modellieren. Vielleicht hatte eine Jägerin diese Aktion beobachtet und einen falschen Schluß gezogen. Razamon lachte hart und sagte: »Die Garsen stellen eine Reihe von Schöpfungen her, die uns gleichen. Aber diese Bilder oder Statuen sind aus Fels, aus Stein! Das ist die Wahrheit, Königin El coy!« »Die Wahrheit zeigt sich früher oder spä ter immer. Ob ich es bin, die sie erfährt, ist fraglich«, antwortete die Königin der Jäge rinnen. »Auch das verstehe ich nicht«, sagte At lan ruhig. »Du wirst es verstehen.« »Früher oder später«, sagte eine Jägerin. »Kommt jetzt.« Weitaus weniger grob führten die weißbe pelzten Katzenwesen die drei Männer nach
19 rechts. Ein schmaler Korridor öffnete sich und entließ die Ausgesetzten in eine kleine Kammer. Dort gab es Felsenbänke, dick mit Moos bewachsen, einen steinernen Tisch und Hocker aus Holz und Fellen. Die Jägerin deutete auf den Tisch und be fahl: »Ihr bleibt hier. Es wird euch etwas ge bracht werden.« »Danke«, sagte Grizzard. »Nach dem Es sen brauchen wir Informationen. Und unge störten Schlaf.« Ohne eine Antwort verschwand die Jäge rin. Die Ausgesetzten warfen sich auf das dunkle Moos und dehnten ihre Muskeln. Zwischen Decke und Wand der Kammer be fand sich zwar ein Lichtkanal, aber er war von geringem Durchmesser und ließ an sei nem anderen Ende erkennen, daß das Licht schwächer wurde. Atlan streckte sich auf dem Moos aus, schloß die Augen und holte tief Luft. Der Luftzug strich genau über sein Gesicht hin weg. Fast träumerisch sagte der Atlanter: »Zum erstenmal, seit man uns hier ausge setzt hat, haben wir etwas Ruhe. Wir sollten den Zustand genießen.« »Zweifellos ein guter Vorschlag«, ant wortete Razamon, »zumal dieser Zustand von kurzer Dauer sein wird.« Zwei Jägerinnen brachten Früchte, Was ser und eine Art Saft in Holzkrügen, steiner ne Becher, etwas, das wie Fladenbrot aussah und einige Brocken kaltes Fleisch. Schwei gend und fast gierig machten sich die Aus gesetzten über das Essen her.
* Die Mavinen, ein Stamm von rund fünf hundert Individuen, wurden von verschiede nen Königinnen regiert. Im Augenblick wa ren es drei: Elcoy, Daknar und Rirkiv. Die Königinnen schienen auf merkwürdige Wei se miteinander zu rivalisieren, aber ließen es wohl auf keinen ernsthaften Kampf ankom men, der die amazonisch wirkende Gemein schaft schädigen würde. Im kleinen Staat der
20 Mavinen herrschten fast militärische Diszi plin, eine wohltuende Ruhe und überzeugen de Sauberkeit, und wo die Jägerinnen jagten, erfuhren die drei Fremden nicht. Noch nicht. Aber sie versorgten sich selbst durch Fra gen und Beobachtungen mit Informationen. Nur die herrschende Königin befand sich unter der Planetenoberfläche in den ausge dehnten Höhlen. Im Augenblick warten die zwei Gegenkö niginnen »oben«. Sie waren allein und einsam, ohne An hang und schützende Kriegerinnengruppen. Man sprach nicht gern von Daknar und Rir kiv. Sie schienen in gewissem Sinn ausge stoßen oder so etwas wie aussätzig zu sein – nur ihre Meditationsphase lang. Dann erhiel ten sie auf Kosten ihrer Vorgängerinnen wieder alle ihre uneingeschränkten Rechte zurück. »Aber viele Königinnen sterben an der Oberfläche und kommen niemals zurück«, sagte die Jägerin, die das Essen gebracht hatte. Dann verließ sie die Kammer und gab keine Antwort mehr. Atlan, Razamon und Grizzard/Axton durften sich im Labyrinth der Felsen fast überall ungehindert bewegen. Nur einige Kammern und der kleine Thron saal waren ihnen verboten worden. Etwa einen Tag nach ihrer Gefangennahme ent deckten sie in einem Winkel der größeren Höhlen ein Pelzwesen, das sich seltsam ver hielt. Als die Fremden auf die alte Jägerin zugingen, verkroch sie sich noch tiefer in einen dunklen Winkel. Atlan stieß Razamon an und sagte: »Das ist etwas anderes als eine alte Jäge rin.« Das Fell war fleckig und grau. An einigen Stellen war das Haar ausgegangen. Die Au gen tränten und blinzelten. Dieses Wesen war nicht nur alt, sondern erschreckend ab gemagert. Verglichen mit den jungen, grazi ösen Jägerinnen wirkte dieses Wesen auffal lend männlich. Grizzard sprach es an. »Kann es sein, daß du ein männlicher Ma-
Hans Kneifel vine bist?« »Ja«, krächzte der Mavine. Schon einige Male hatten die Fremden be obachten können, daß die eine oder andere Jägerin eine alte oder zittrig wirkende Ge schlechtsgenossin fütterte und vorsichtig aus dem Weg führte. »Das heißt, daß es noch andere Männer in den Höhlen gibt? Sind es nur alte Männer?« »Nein. Auch junge. Aber sehr wenige.« »Habt ihr Einfluß auf die Königin? Dürft ihr mit uns sprechen?« »Nein.« Der alte Mann machte einen niederge schlagenen, fast bemitleidenswerten Ein druck. Er zitterte und hob immer wieder sei ne Klauen vor die Augen. Atlan zog Razamon zur Seite. »Die alten Männchen scheinen Drohnen und überdies unwichtig zu sein. Wir werden hier nichts erfahren.« »Nein«, sagte schrill der alte Mann. Sie nickten ihm zu und gingen schnell weg. Zweifellos verließen immer wieder ei nige der Katzenjägerinnen das subplanetare Reich und kamen auch wieder zurück. Das Vorhandensein von Früchten und Fleisch bewies diese Tatsache. Aber keiner der drei Ausgesetzten hatte bisher auch nur eine Spur von einem Ausgang oder einer Treppe ent decken können. Etwa eineinhalb Tage lang streiften sie durch die hundert Höhlen, Gän ge und gewundenen Tunnel. Plötzlich stand eine Kriegerin vor ihnen. Sie trug keine Waffen, aber ihr Verhalten war unzweifel haft autoritätsbewußt. »Geht zur Königin«, sagte sie. »Elcoy wartet.« »Sofort, wenn du uns führst«, erwiderte Atlan. Die große, schlanke Mavine winkte und brachte sie in den Thronsaal. Die Königin lag diesmal nicht lässig und selbstbewußt in ihrem Sitz, sondern schien nervös und ange spannt. Sie kauerte auf der Vorderkante des Sessels, beugte ihren Oberkörper nach vorn und hatte die langen Beine ausgestreckt und gekreuzt. Um ihre Gelenke lagen breite Bän
Land ohne Sonne der, die aus Pflanzenfasern, Knochenteilen und farbigen Beeren oder trockenen Früch ten bestanden. Das Schweigen in dem klei nen Raum wurde fast drohend. Schließlich sagte Atlan: »Du hast uns rufen lassen. Wir sind hier.« »Das sehe ich«, gab die Königin mit ihrer kehlig schnurrenden Stimme zurück, »ich habe euch genau beobachten lassen.« »Und was hast du dabei erfahren?« erkun digte sich Razamon bedächtig. Die Mavine machte eine Bewegung, die soviel heißen mochte wie: setzt euch irgend wohin. Die Männer kauerten sich auf die un terste Stufe und versuchten sich zu entspan nen. »Ihr scheint wirklich fremd auf Dorkh zu sein.« »Auf – Dorkh?« fragte Atlan gedehnt, während der Extrasinn alarmiert wisperte: Denk an die verschwundene Botschaft! »So bezeichnen wir unsere Welt, von der ihr nur wenig zu kennen scheint. Sonst wür det ihr nicht so viele Fragen stellen. Ich glaube, daß ihr nicht von den Garsen kommt.« »Das ist richtig«, sagte Razamon und hat te plötzlich wieder sein kaltes Lächeln im Gesicht. »Derjenige, von dem wir ausgesetzt wurden, befahl uns, Dorkh für ihn zu er obern.« »Wer war es?« »Wir wissen es nicht genau. Vielleicht handelt es sich um Duuhl Larx. Er ließ uns eine dürftige Botschaft zukommen. Offen sichtlich erwartet er von uns ein Wunder. Falls das stimmt, hätte er uns bewaffnen und besser aufklären müssen. Du weißt, daß wir waffenlos waren.« »Es wird Waffen geben, wenn ihr sie braucht«, sagte die Königin. »Einfache, wir kungsvolle Waffen, wie sie meine Jägerin nen haben.« »Wann?« »In kurzer Zeit. Wenn meine herrscherli che Phase wieder abgelaufen ist.« »Wie?« Augenblicklich begriffen die Ausgesetz
21 ten, daß ihre Spannung zu Recht bestand. Die Königin mußte ihren Platz mit der Nachfolgerin tauschen. Also würde sie an die Oberfläche gehen, und Daknar würde ih ren Sessel einnehmen. Schweigend und kon zentriert, aus schillernden Katzenaugen, starrte Elcoy die Fremden an. Seltsamerwei se wirkte sie plötzlich viel klüger und älter als bei ihrem ersten Zusammentreffen. »Ihr habt verstanden?« fragte sie. »Ja. Du scheinst den Aufenthalt an der Oberfläche zu fürchten. Vermutlich aus mehreren Gründen«, sagte Atlan. Die Königin führte mit der rechten Pfote eine verwirrende Bewegung aus und erwi derte: »Ich vermute, daß meine Rivalinnen Dak nar und Rirkiv für mich eine Falle vorberei tet haben. Sie wollen mich ausschalten – ich habe es euch schon angedeutet. Ich herrsche auf andere Art über diesen Stamm der Jäge rinnen. Ich will auch das Gesetz abschaffen, das alle Rivalinnen während einer Regie rungszeit an die Oberfläche treibt.« »Verständlich«, meinte Grizzard, »auch im Hinblick auf deine eigene Lage. Und die zweite Falle?« »Keine Falle. Es sind die Gefahren. Ihr wißt, daß meine Jägerinnen und Kriegerin nen an der Oberfläche nach Beute jagen?« »Sie sind bewaffnet!« »Ja. Aber von ihren Beutezügen kommen sie sehr oft blutig und voller Beulen zurück. Sie haben zahllose Kämpfe zu bestehen. Ab und zu fehlen auch Jägerinnen; wir sind si cher, daß sie getötet worden sind. Die Ober fläche ist voller wenig bekannter Gefahren.« »Wir wissen es«, sagte Atlan. »Und was sollen wir mit Hilfe deiner Waffen tun?« »Mich beschützen, wenn ich meine Re gierungsphase beendet habe. Ich werde mit euch einen Vertrag schließen. Ich gebe euch die Freiheit, wenn ihr mich beschützt.« Sie meint es ehrlich! flüsterte der Extra sinn. Atlan drehte sich um und versuchte her auszufinden, ob die Königin belauscht wor den war. Aber es war keine Jägerin zu se
22 hen. Die Bedeutung dieses Vorschlags war den Fremden klar: Sie wurden freigelassen, bewaffnet und an die Oberfläche entlassen. Dort mußten sie warten, bis Elcoy erschien, und sie beschützen. Dabei wußten sie nicht einmal, wie es an der Oberfläche wirklich aussah. Razamon stellte sofort eine Frage. »Nun«, sagte Elcoy halblaut, »vom Was serfall mit allen seinen Felsen erstreckt sich ein dichtes Dschungelgebiet bis zu den Grauen Bergen sehr weit im Westen. In den Bergen leben einer alten Sage nach andere Königinnen in friedlichen Mavinenreichen. Dorthin will ich mich mit eurer Hilfe durch schlagen.« »Deine Kriegerinnen – sie werden mit diesem Plan nicht einverstanden sein!« sagte Atlan überzeugt. »Sicher nicht. Aber ich kann sie so lange ablenken, wie es nötig ist. Sie gehorchen ih rer Königin aufs Wort.« Razamon und Grizzard nickten Atlan zu. Der Pthorer antwortete: »Wir werden mit dir diesen Vertrag schließen. Er enthält Nachteile und Vorteile für uns und ebenso für dich.« Für die Königin waren sie nichts anderes als Werkzeuge. Für ihre Freiheit gingen sie eine gefährliche Verpflichtung ein. Daß es nicht nur in den Nebeln vor dem Wasserfall, sondern auch im Dschungel von Dorkh höl lisch riskant war, wußten sie. Wenn schon die blitzschnellen KatzenwesenJägerinnen getötet wurden, bedeutete dies, daß auch die Jägerinnen gejagt wurden. »Also!« forderte Grizzard auf. »Wann sollen wir versuchen, die Oberfläche zu er reichen?« »Ich werde euch den besten Zeitpunkt bald mitteilen.« »Und wie lange dauert deine Regierungs zeit noch, Königin?« »Noch zwölf Tage. Seid auf der Hut! Auch meine Jägerinnen werden euch jagen, wenn sie erfahren, daß ihr geflohen seid. Ich werde alles tun, um euch zu helfen und die Kriegerinnen zurückzuhalten. Aber sie wer den sich nicht an meinen Befehl gebunden
Hans Kneifel fühlen, wenn ich nicht mehr Königin bin.« Dann sagte Elcoy noch etwas Überraschendes: »Razamon wird erfahren, wo ihr die Waffen findet. Dir, Atlan, werde ich den Fluchtweg aus den Höhlen schildern. Und der mit dem dunkelbraunen Kopfpelz und der Vogelnase wird wissen, wo wir uns tref fen.« Razamon knurrte: »Er wird nicht für uns alle schlafen, son dern auch für uns Wissen tragen. Alter Scherz zwischen uns, Königin. Nochmals: einverstanden. So und nicht anders werden wir vorgehen.« »Ich habe nicht daran gezweifelt.« »Wir dürfen gehen?« Die Königin fauchte auf. Die Bedeutung dieses emotionellen Lautes blieb unklar. Dann sagte sie: »Ruht euch aus. Bereitet euch für die Auf gabe vor.« Die Ausgesetzten standen auf und verlie ßen den Thronsaal. Weit und breit ließ sich keine Jägerin blicken. Aber die drei Freunde wurden das Gefühl nicht los, daß man sie belauscht hatte. Sie hatten tausendmal die Erfahrung gemacht, daß ein scheinbar guter Plan durch eine winzige Panne mißriet. Und ein Fehlschlag bedeutet für sie nur eines: tödliche Gefahren auf einer Welt, die sie nicht kannten.
* In der Dunkelheit ihres offenen Raumes – es brannte nur eine winzige Lampe voller Pflanzenöl mit einem Faserdocht – fragte Grizzard: »Kannst du dir denken, Razamon, was dieses Dorkh bedeutet? Ich glaube, es ist ein Planet, den er noch nicht beherrscht.« Razamon murmelte mit seiner schlaftrun kenen Stimme: »Es kann ebensogut ein Test oder eines der makabren Spiele sein, mit denen sich die Neffen zu ergötzen pflegen.« »Ruhe!« sagte Atlan. »Wir werden es noch früh genug erfahren. Schlaft jetzt. Ich
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weiß nur, daß uns an der Oberfläche nicht nur die Jägerinnen hetzen werden und die Supereulen der Garsen, sondern daß auch al le anderen denkbaren Gefahren eines Dschungels vorhanden sein werden. Die Be waffnung der Jägerinnen wird über Steinbeil und Pfeile oder Speere nicht hinausgehen.« »So wird es sein«, sagte Razamon grim mig. »Gute Nacht.« Atlans photographisches Gedächtnis wür de ihn niemals im Stich lassen. Vor seinem inneren Auge entstand immer wieder der Plan der subplanetarischen Anlagen des Ma vinenreichs. Bevor er einschlief, versuchte er herauszufinden, an welchen Stellen es Aufgänge in den Dschungel geben konnte. Denn die Früchte, die Beeren und das Fleisch kamen dorther. Die Ordnung und Disziplin der Katzenwesen verhinderten, daß er auf seinen Wanderungen wichtige Spuren gefunden hatte. Lebo Axtons Bewußtsein im Körper Griz zards hatte andere Gedanken und Überle gungen. Er befand sich anscheinend in kör perlicher Sicherheit, aber dennoch war er desorientiert. Einerseits freute er sich, zu sammen mit den zwei Freunden geheimnis volle Abenteuer zu erleben, aber er sah in keinem dieser Abenteuer etwas, das ihm ein Ziel und einen klaren Weg zeigte. Er hatte kein erklärtes Ziel, kein anderes, als auch die Ereignisse auf Dorkh zu überleben. Er sehnte sich danach, die Freunde zum Treff punkt mit Elcoy im Dschungel zu führen. Aber er kannte den Treffpunkt nicht einmal aus Schilderungen der Königin. Er hörte, daß Razamon zu schnarchen anfing und sch lief endlich selbst ein.
* Atlan wachte auf, hörte einige leichte Tritte und dann, wie sich Katzenpelz gegen Stein rieb. Er öffnete die Augen. Noch brannte die winzige Lampe, aber die Kam mer wurde bereits vom Licht der Außenwelt erhellt. Vor seinem Lager stand eine Jägerin und beugte sich über ihn.
Das Katzenwesen schnurrte fauchend: »Ich bin Alzei, von der Leibwache der Königin. Komm.« Sie zeigt dir den Ausgang! zischte der Lo giksektor. Atlan schwang sich von dem wei chen Lager, warf einen kurzen Blick auf sei ne Freunde und sah, daß sie noch schliefen. Wenigstens taten sie so. Er folgte der Jäge rin und fragte, als sie sich allein in einem leeren Teil des Labyrinths befanden: »Wohin bringst du mich?« »Die Jagdtrupps sind ausgeschwärmt. Es sind nur wenige Mavinen hier. Ich zeige dir den Weg in den Dschungel.« »Hat Elcoy es befohlen?« »Nichts geschieht ohne Befehl der Köni gin. Es muß schnell gehen, Fremder Atlan!« Sie hasteten zwischen den vielfarbigen Felsen hindurch und verließen bald den aus getretenen Pfad. Die Jägerin sprang mit wei ten Sätzen zwischen den Felsen und den Eingängen zu anderen Kammern hindurch. Atlan passierte einige Magazine, in denen die Früchte aufbewahrt wurden, er kam an dem unterirdischen Badesee vorbei und an Kochstellen, die ausgestorben dalagen. Bis hierher kannte er noch jeden Abschnitt der Katakomben. Mehrmals blieb die Jägerin stehen und wartete auf ihn; er hatte nicht vor, sich zu verausgaben, und achtete dar auf, daß er unbemerkt blieb. Dann ver schwand der huschende weiße Körper zwi schen zwei Wänden, die sich in einem schmalen Spalt öffneten. Stufen aus großen, flachen Steinen führten zwischen den Felsen in einer starken Krümmung aufwärts. Auch diese Stelle war Atlan noch bekannt. Schwer atmend sprang Atlan von Stein zu Stein und prallte in vollem Lauf gegen den Rücken der Jägerin. Sie fauchte zornig auf, ringelte ih ren Schwanz in die Höhe und hielt Atlan am Arm fest. Krallen bohrten sich kurz in seine Muskeln. »Es geht noch weiter!« sagte sie kurz. Atlan nickte und holte tief Luft. Die Jäge rin rannte wieder los und führte Atlan im Zickzack durch wilde Spalten, zerklüftete Steintrümmer und Löcher, die von herunter
24 gebrochenen, hausgroßen Felsbrocken gebil det wurden. Es roch feucht und moderig, aber der Luftzug wurde stärker und schnei dender. Die erwärmte Luft aus dem Laby rinth pfiff an ihnen vorbei aufwärts. Grotten, tiefe Kerben im Fels, schmale Durchschlup fe und immer wieder irgendwelche kleineren oder größeren Stufen aus Stein – Atlan und Alzei gelangten höher und höher, ohne je manden zu hören oder zu sehen. Schließlich, nach einer rasenden Kletterei von rund drei ßig Minuten Dauer, kamen sie an ein merk würdig geformtes Stück dieses Fluchtwegs. Natürlich war es eine Höhle, aber ihre Wän de bestanden aus Fels mit zahllosen Ein schüssen, waren durchzogen von vielen, sich kreuzenden Adern aus farbig leuchtenden Mineralien. Offensichtlich war weit ober halb des Ausgangs tatsächlich die Sonne aufgegangen; aus drei großen Öffnungen kam grelles Licht herunter und verwandelte die Höhle in ein zuckendes Feuerwerk aus Lichtblitzen. »Dies ist die Treppe zur Oberfläche!« sagte die Jägerin leise. »Zweihundertdreißig große Stufen.« Sie zeigte auf den mittleren Durchgang zwischen den funkelnden Halbedelsteinen und Drusen. »Ich werde ihn wiederfinden«, antwortete Atlan. »Was erwartet denjenigen, der dort oben ankommt?« »Ein tropfender, kochend heißer Wald voller Dornen, Fallen, wilder Tiere und bös artiger Insekten. Ich weiß, wovon ich spre che. Ich gehöre zu den Jagdkommandos.« »Verstanden«, sagte Atlan. »Die Flucht der Königin mit uns als Leibgarde wird ge fährlich werden?« »Das ist sicher. Schnell zurück, ehe sie uns sehen!« Die Jägerin drehte sich herum und sprang in der schnellen Eleganz einer großen Katze die natürlichen Stufen hinunter. Atlan folgte ihr und versuchte, die Geschwindigkeit zu halten. Sie schafften es, unbemerkt den Rand einer größeren Höhle zu erreichen. Das Fell der Jägerin war an einigen Stellen
Hans Kneifel schweißnaß, und Atlan keuchte und war in Schweiß gebadet. »Niemand hat uns gesehen«, stieß er her vor. »Warum wollt ihr Kriegerinnen und Jä gerinnen uns nicht gehen lassen?« »Es gibt verschiedene Gründe. Daknar würde uns hart bestrafen.« »Ich habe verstanden«, sagte der Pthorer. »Ihr seid gehorsame Untertanen!« »Es war immer so. Wir werden von vielen Seiten bedroht und angegriffen.« Langsamer bewegten sie sich durch die Teile des Labyrinths. Das unterplanetarische Reich begann langsam zu erwachen. Aber niemand schien Verdacht geschöpft zu ha ben. Als Atlan nach einem erfrischenden Bad in dem kalten Wasser des Sees in die Wohnkammer zurückkam, mußte er feststel len, daß Razamon und Grizzard/Axton fehl ten. Aber auf dem Tisch befanden sich die Bestandteile eines ungewöhnlich reichhalti gen Essens. Während sich Atlan stärkte, dachte er über den Fluchtweg nach, analysierte jeden Abschnitt und versuchte, ihre Chancen aus zurechnen. Logischerweise waren sie schlecht, wenn die Höhlen voller Jägerinnen waren. Je weniger weiße Katzenwesen sich unterhalb der Planetenkruste befanden, desto besser würde die Flucht gelingen. Elcoy ließ die Fremden frei, weil sie ihre Hilfe brauchte. Daknars Reaktion war den Jägerinnen des Stammes bekannt. Sie hatte ganz bestimmt genügend Gründe, die drei Fremden weiterhin gefangenzuhalten. So al so war die Lage. »Die Situation ist alles andere als er sprießlich!« murmelte Atlan und fragte sich, wie ihr Abenteuer enden würde.
4. Als letzter stand der Arkonide auf, sicher te lange mit geschlossenen Augen und ange spannten Sinnen in alle Richtungen und ver ließ dann auf Zehenspitzen die Kammer. Nichts blieb von ihnen zurück. Es war schät zungsweise eine Stunde, bevor durch die
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Licht und Luftkanäle die erste Helligkeit in pelziger Körper heran. Jägerinnen! Kriege rinnen! Noch schliefen sie. die Kavernen und Höhlen geleitet wurde. Atlan tastete sich durch fast vollkommenes Wieder einhundert, zweihundert Schritte! Dunkel. Nur an weit voneinander entfernten Ein mehrdimensionaler Irrgarten, in sei Punkten brannten jene winzigen Ölflämm ner Dunkelheit nur mit allen Sinnen gleich chen und ließen die Hindernisse mehr ahnen zeitig zu erfassen! Atlan bewegte sich weiter. als sehen. Atlan wußte genau, daß es möglicherwei Er stolperte, schlich, schwankte und fiel se um ihr Leben ging. immer wieder einmal nach vorn. Dann kroch Aber der Umstand, daß er in den letzten er auf allen vieren weiter. Er konzentrierte rund zwei Stunden nicht den geringsten sich mit sturer Ausschließlichkeit auf das, Lärm gehört hatte, machte ihn optimistisch. was er vor sich ahnte, und woran er sich er Selbst wenn die Kriegerinnen Grizzard und innerte. Wenn er über den Körper einer Razamon ergriffen hätten, wäre dies nicht schlafenden Jägerin fiel, würde er in einer völlig lautlos vor sich gegangen. einzigen akustischen Explosion nicht nur al In fünf Tagen erst wird die Königin aus le Bewohnerinnen der Höhlen wecken, son dern auch sich und die Freunde gefährden. gestoßen! sagte der Logiksektor überflüssi gerweise. Atlan, dem erst der zeitweilige Du schaffst es ebenso wie Grizzard und Razamon! flüsterte eindringlich der Logik Verlust dieses Sekundärorgans gezeigt hatte, sektor. wie hilflos er ohne Extrasinn war, ignorierte Wieder kamen die verschiedenen Ein diesen Hinweis und schlich weiter. Sein Verstand, seine Imaginationskraft drücke: rauher Fels, mit Moos bewachsene und die genaue Kenntnis des Weges, immer Steine, Gerüche und der Luftzug, der ihn wieder gedanklich vollzogen und nachvoll jetzt im Nacken traf. Wieviel Zeit war in zogen, projizierten in der Finsternis ein zwischen vergangen? Hatte Razamon die durchaus brauchbares Bild der Umgebung. Waffenkammer auch gefunden? Atlan riß Es gelang Atlan, etwa eine Stunde lang die sich die Fingerknöchel an einem rauhen wilden Serpentinen des Weges durch die Felsband auf und roch gleichzeitig den er verschiedenen Höhlen des Labyrinths zu sten Hauch der feuchten Dschungelluft. rückzulegen, ohne sich die Schienbeine blu Wieder einmal wußte er ganz genau, an wel tig zu schlagen oder über unsichtbare Stein cher Stelle des langen und beschwerlichen barrieren zu stolpern. Fluchtwegs er sich befand. Irgendwo vor ihm – hoffentlich weit vor Er richtete sich auf und streckte beide Ar ihm und gleichermaßen über ihm! – sollten me weit aus. Seine Fingerspitzen berührten sich Grizzard und Razamon befinden! links und rechts feuchtkalten Fels. Atlan zwang sich dazu, keine sinnlose Ei Der Spalt! le zu zeigen. Atlan tastete sich über die Steine auf Er ging weiter, tastete seinen Weg durch wärts. Hierher reichte auch nicht mehr der die Dunkelheit, berührte mit den Fingern der letzte, unendlich vage Lichtschimmer der ausgestreckten Hände immer wieder Felsen, Öllampen. Es war vollkommen dunkel. Ob Steine, bestimmte Holzkonstruktionen und er mit offenen oder geschlossenen Augen die Seile aus pflanzlichen Fasern, die weni weiterschlich, war bedeutungslos – er sah ger zur Sicherheit als zur Richtungsangabe nichts mehr, und wenn er etwas sehen wür entlang tiefer Spalten gespannt waren. Er de, so wäre es eine Halluzination. Wenig roch von rechts die ätherischen Öle der stens während der nächsten hundert Schritte. Früchte und Knollen, die in den Magazinen Atlan fing an, die Stufen zu zählen. Die dün eingelagert waren. Von links brachte ein nen und abgewetzten Sohlen der alten Stie warmer Lufthauch die Ausdünstung vieler fel, die man ihnen in der Zelle auf Cagendar
26 angezogen hatte, ließen jede Unebenheit er spüren. Nach einer kleinen Ewigkeit spürte er rechts neben sich einen Luftzug, dann preßte sich etwas Scharfes gegen seinen Hals. Jemand flüsterte: »König von Atlantis?« Es war Razamons Stimme. Atlan ent spannte sich und wisperte zurück: »Ich bin es. Ist Grizzard bei dir?« »Mit gespanntem Bogen auf der anderen Seite. Alles klar?« Atlan stieß pfeifend die Luft aus und fühl te, wie ihm ein Bündel knüppelähnlicher Dinge in die Hände gedrückt wurden. »Bis jetzt ist alles klar. Ich denke nicht, daß man mich gehört hat«, antwortete er so leise wie möglich. »Und ihr?« Irgendwoher aus der Dunkelheit erklärte Grizzard: »Es gab keine Probleme, Atlan. Schnell, weiter!« Atlan schüttelte sich und wußte, daß er soeben den Spalt passiert hatte, der mit ei nem gigantischen, in Wirklichkeit leicht zu bewegenden Steinblock verschlossen war. Hinter diesem Spalt lagen die Waffen der Jägerinnen und Kriegerinnen. Sie holten sie hier ab, wenn sie an die Oberfläche gingen, und deponierten sie wieder, wenn sie von oben kamen. Atlan wurde den Verdacht nicht los, daß die archaischen Vorfahren der Garsen auch dieses andere unterplanetari sche Labyrinth vor einigen Jahrtausenden oder weiter zurückliegenden Zeitläufen ge schaffen hatten; einen Beweis gab es freilich nicht für diese Mutmaßung. Vor ihm tastete sich Lebo Axton auf wärts, hinter ihm schleppte Razamon irgend welche Waffen mit sich. Schweigend klet terten sie entlang der Wände, schlugen mit den Zehen immer wieder schmerzhaft gegen die Vorderkanten der unechten Stufen und befanden sich schließlich in der kleinen Höhle, in der Atlan vom Glanz der Minerali enadern und der funkelnden Einschlüsse irri tiert worden war. Er fragte wispernd:
Hans Kneifel »Kann einer von euch Feuer machen? Oder habt ihr so etwas wie Licht?« »Einen Moment«, sagte Razamon links hinter ihm. Zwei Sekunden später ertönte ein helles Klirren, dann gab es einige Fun ken, als Razamon zwei Steine oder Stein und Stahl gegeneinanderschlug. Augenblicklich hüllte wieder der funkelnde und schimmernde Lichtorkan die drei Männer ein. Jeder Lichtimpuls wurde tau sendfach reflektiert, und dies in allen Farben des Spektrums. »Aus!« sagte Atlan. »Das reicht.« Razamon fragte: »Du kennst den Ausgang?« Atlan hatte sich tatsächlich hinlänglich orientieren können. Er ging geradeaus und sagte: »Hier ist er. Folgt meiner Stimme oder dem Luftzug, der von mir unterbrochen wird.« Eine Hand tastete über seinen Rücken und hakte sich schließlich im Gürtel fest. Atlan schob sich weiter. Er wußte, daß hier die Stufen nicht zahlreicher, aber viel steiler wurden und völlig systemlos nach oben führten, rechts herum oder linksherum, in heilloser Unordnung, aber immer steil der Oberfläche entgegen. Inzwischen hatte auch der Luftzug die drei Freunde erfaßt und sog sie aufwärts. Dieser Eindruck war nicht mehr als eine Illusion, aber er half ihnen. Wieder verstrich eine unbestimmte Zeit. Dann trat Grizzard auf einen Stein oder ein Stück Holz. Was immer es war, jeden falls drehte es sich und ließ einen unsichtba ren Stapel von kugelförmigen Dingen zu sammenbrechen. Vermutlich waren es große, getrocknete Kürbisse oder riesige, knochentrockene Nüsse. Diese Dinge und runde Steine, die als Warnsignal aufgebaut waren und einen großen Haufen inmitten des Fluchtwegs bildeten, klapperten und polter ten übereinander und lösten sich, und dann fingen sie an, mit einem höllischen Lärm die steinernen Stufen abwärts zu rollen und zu springen. Es war ein Inferno aus hallenden, schmetternden und widerhallenden Ge
Land ohne Sonne räuschen. Binnen Sekunden würde diese La wine aus hohlen Körpern jede Jägerin in den Kavernen aus dem Schlaf wecken. Razamon sagte entschlossen: »Wir haben einen Vorsprung von einigen tausend Schritten. Vielleicht können wir ihn halten.« »Aber nur dann«, rief Atlan in den noch immer rasend lauten Lärm hinein, »wenn wir uns nicht eine Sekunde lang aufhalten.« Gleichzeitig setzten sie sich in Bewegung und rannten, sprangen und keuchten Griz zard hinterher, der die ineinander verschlun genen Serpentinen des Weges zur Oberflä che von Dorkh emporhastete. Die Öffnung, von der aus sie den Dschun gel erreichten, konnte nicht mehr sehr weit entfernt sein. Die nächsten etwa hundert Stufen begleitete sie der Lärm der zusam mengebrochenen Barriere. Er wurde immer leiser; mehr und mehr Gegenstände hatten den tiefsten Punkt der Treppe erreicht. Griz zard, Razamon und Atlan hielten an, der Berserker schlug mit Stahl und Stein Feuer und riß aus Atlans Händen eine Fackel. Au genblicklich loderte die Spitze der Fackel auf und beleuchtete knisternd die Stufen der Höhlung. Während sie von Stufe zu Stufe sprangen, schrie Grizzard: »Wir können den Gang mit Feuer sper ren!« »Das sichert zumindest unseren Vor sprung!« dröhnte Razamon. Atlan rief zurück: »Wenn wir erst einmal den Dschungel er reicht haben, sind wir in Sicherheit. Die Jä gerinnen sind nicht schneller als wir.« »Wir müssen erst einmal oben sein.« »Und das mitten in der Nacht …« Sie flüchteten die letzten Meter und wuß ten, daß sie in kurzer Zeit irgendwo im Dschungel auftauchen würden. Das zucken de Licht der Fackel wurde von der frischen, aromatisch riechenden Luft angefacht. Die Decke senkte sich bis auf knapp eineinhalb Meter, und der Korridor verwandelte sich in einen feuchten runden Tunnel, der scharf ab knickte und dann plötzlich endete. Schon
27 jetzt schlugen die Laute des erwachenden Urwalds an die Ohren der Flüchtenden. In sekten, unsichtbare Tiere, schreiende und flatternde Vögel und die donnernden Schreie irgendwelcher großer Dschungelbestien ver mischten sich zu einem schauerlichen Chor. Das unterplanetarische Reich der Mavi nen endete zwischen den mächtigen Wur zeln eines riesigen Baumes. Die Ränder des Felsens, um den der Baum halb herumge wachsen war, wurde von den hölzernen Ar men umschlungen und eingerahmt. Der Bo den vor der letzten Steinplatte war festgetre ten und lehmig. »In wenigen Minuten wird es hell wer den!« sagte Razamon und deutete geradeaus. »Westen müßte in dieser Richtung sein.« »Zuerst einmal weg vom Ausgang!« be stimmte Atlan und schwenkte die Fackel. Die nähere Umgebung wurde erhellt. Zwi schen den Wipfeln der Bäume zeigte sich grauweißer Himmel; der Sonnenaufgang stand wohl unmittelbar bevor. Grizzard machte einige Schritte geradeaus, als Atlan scharf rief: »Halt! Der Boden vor dir!« Mitten auf dem breiten Pfad, der sich zwi schen einem doppelten Wall aus Ranken und langen Dornen krümmte, lagen zwei große Steine oder Felsplatten. Sie waren völlig sauber und ohne Spuren, dies hatte Atlan im Fackellicht sehen können. Sofort blieb Grizzard stehen. Atlan und Razamon verständigten sich mit kurzen Ge sten, dann nahm Razamon Anlauf und sprang über die Platten hinweg. Atlan folgte auf demselben Weg, dann wagte Grizzard den Sprung und wurde von beiden aufgefan gen. Atlan streckte den Fuß aus und trat vor sichtig auf die jenseitige Platte. Es knirschte, ein scharfes Knacken war unterhalb der Steine zu hören, dann klappten sie beide in der Schnittlinie nach unten. In der Grube waren zahlreiche zugespitzte Pfähle zu erkennen. »Verdammt!« sagte Grizzard und warf Atlans brennende Fackel in die Grube. »Eine Falle.«
28 »Eine Anlage«, bestätigte Razamon, »mit der die Mavinen ihr Staatsgebiet schützen. Und jetzt zu dir, Grizzard!« Razamon führte ihre Gruppe an, nachdem er die Waffen verteilt hatte. Jeder von ihnen erhielt einen Dolch aus Knochen mit Holz griff, ein ähnlich gearbeitetes Steinbeil und einen Bogen mit einem Köcher voller klei ner, unfachmännisch hergestellter Pfeile. Grizzard antwortete: »Richtig. Ich kenne das Ziel. Elcoy hat es mir genau beschrieben. Ein einzelner Rie senbaum auf einem Hügel, neben einer über wucherten Tempelruine vor der Kulisse des dreifachen V.« »Ich bin nicht so sehr am Ziel interes siert«, sagte Atlan und duckte sich unter fe dernden und peitschenden Ästen, »sondern im Moment mehr am Weg dorthin.« »Es läuft darauf hinaus, daß wir gerade aus durch den Wald trampeln müssen«, sag te Grizzard. »Es gibt tausend Pfade, aber keinen geraden Weg. Wir müssen uns zuerst orientieren. Westen!« Von jedem Blatt tropfte es. Auch der Pfad, von Tieren und den Jägerinnen ausge treten, war nichts anderes als ein schmaler Tunnel durch eine gewaltige Masse von Blättern, Dornen, Ästen und Stämmen. Aus jeder Richtung kamen die Schreie und Ge räusche. Die Pthorer versuchten, so schnell wie möglich eine möglichst große Strecke zurückzulegen. Der Pfad beschrieb endlose Krümmungen, wurde schmaler und breiter, und schließlich mündete er in eine Lichtung. Sie war nicht sonderlich groß, etwa hundert Meter im Durchmesser. Das Innere war von modernden Baumstämmen, verfilzten Ge wächsen und kleinen Büschen ausgefüllt. Jetzt konnten die Flüchtenden einen größe ren Ausschnitt des Himmels über ihnen se hen. Er war voller tiefhängender Wolken; nur ein winziger Ausschnitt zeigte ein durchdringendes Blau und einen mächtigen Balken gelben Sonnenlichts. Atlan wischte sich Schweiß, Nadeln und Blattreste aus dem Gesicht und stieß keu chend hervor:
Hans Kneifel »Etwa vierundzwanzig Stunden langer Tag, eine gelbe Sonne und eine Anziehungs kraft, die Pthor – oder der Erde – entspricht. Dorkh, was immer es sein soll, hat größte Ähnlichkeit mit bekannten Welten, nicht wahr, Razamon?« »Es ist beruhigend, daß wir uns nicht auch noch mit dreifacher Schwerkraft und ande ren Widrigkeiten herumschlagen müssen. In welche Richtung, Axton?« Verzweifelt hob der Mann mit dem india nischen Profil die Arme. »Keine Ahnung. Aber dort drüben sehe ich einen großen Baum. Von dort müßten wir die drei starken Einschnitte in der Berg kette sehen können.« Sie sind hinter euch her! Atlan wußte, daß der Logiksektor recht hatte. Jeder längere Aufenthalt konnte ge fährlich werden. Atlan schüttelte den Kopf und widersprach. »Westen ist dort, Grizzard. Wir müssen versuchen, so schnell wie möglich die Jagd kommandos der Mavinen abzuschütteln. Der Dschungel ist voller Wege, man muß sie nur finden. Los, Freunde.« Sie verließen den feuchten Pfad und dran gen in das Gestrüpp am Rand der Lichtung ein. Unter ihren Schritten stoben aus dem Gras und den Kriechpflanzen unzählige schillernde Insekten und schwirrten hoch. Ihr zorniges Sirren und Brummen erfüllte die Luft. Ein riesiger Schatten huschte über die Lichtung. Die Männer rissen die Köpfe hoch – es war eine der eulenartigen Vögel, von denen sie gejagt worden waren. Diesmal schien der Raubvogel eine andere Beute in den Augen zu haben. Razamon schlug mit seinem Beil einen Ast zur Seite und sagte: »Hier hinein, Kameraden.« Wieder öffnete sich in dem grünen und braunen Wirrwarr ein Spalt. Die Männer, von einem riesigen Schwarm Insekten um schwirrt und verfolgt, verließen die breite Spur, die sie durch die Gewächse getreten hatten, und drangen in den Rand der Lich tung ein. Hinter ihnen peitschten die Äste gegeneinander, aber die Insekten rasten in
Land ohne Sonne den Raum zwischen den Baumstämmen hin ein. Hier gab es zwischen rissigen, von Pil zen und Schwämmen bewachsenen Stäm men ungewöhnlich viel Raum. Der Boden war hoch bedeckt mit faulenden Pflanzenre sten. Die Männer sprangen mit langen Sät zen durch das raschelnde Zeug. Jeder Schritt wirbelte riesige Mengen von Pilzsporen und Holzstaub hoch. Die Spuren würden nicht zu übersehen sein. Schweigend und in höchster Eile ver suchten die Pthorer, die Stelle zu erreichen, an der mehr Licht zwischen den Stämmen zu sehen war. Sie verließen den stinkenden Hochwald und merkten voller Erleichterung, daß sich die Insekten in den Wolken hinter ihnen verloren hatten. Auf Atlans Schulter begann eine Beule zu wachsen; unbemerkt hatte ihn eine der riesigen Mücken gesto chen. Erst jetzt schmerzte der Stich. Hinter den Bäumen, nach einer Barriere von Bü schen und Sträuchern, lag im hellen Sonnen schein ein breites Bachbett. Rechts und links des schäumenden Wassers erstreckten sich unregelmäßige Flächen aus Kies und wei ßem Sand. Große Bäume neigten sich über den Durchlaß. »Endlich ein Stück Natur, mit dem wir etwas anfangen können!« rief Raza mon und beschattete die Augen mit der Hand. Aber auch von dieser Stelle war es unmöglich, etwas vom fernen Gebirge zu er kennen. »Wie weit ist es bis zum Treffpunkt? Hat Elcoy darüber etwas gesagt?« wollte der Ar konide wissen. Grizzard riß sich die Lumpen von den Schultern und warf sich mit dem Oberkörper ins kalte Wasser. Er trank gierig und in großen Schlucken. Während er sich mit mehreren Handvoll Sand zu säubern ver suchte, erwiderte er bruchstückweise: »Einige Tage … es hängt von unserer ei genen Schnelligkeit ab … die Königin sagte, daß der Dschungel voller Gefahren ist … wir sollen uns in acht nehmen … sie braucht starke und schnelle Leibwächter für ihren weiteren Weg.« »Eine außerordentlich präzise Schilde
29 rung!« erklärte Razamon grimmig. »Bis jetzt leben wir immerhin noch. Wenn wir zwei Tage weiter gerannt sein werden, haben wir keinen Faden mehr am Leib.« Ihre Lumpen waren von den Dornen und den Ästen zerfetzt und hingen in Streifen von den Schultern. Ihre Stiefel verdienten ihren Namen nicht mehr. Wachsam sicher ten Atlan und Razamon nach beiden Seiten der freien Fläche. Aber sie sahen nur einige kleine Tiere mit schwarzem Fell, die in den Lianen umherturnten. Hoch über dem Bach bett flatterte eine der bekannten Eulen. In diesem Moment schob sich wieder eine rie sige Wolkenwand vor die Sonne und tauchte die Landschaft in ein diffuses Licht. »Ich löse euch ab!« sagte Grizzard, zog den Dolch hervor und betrachtete zweifelnd die Knochenschneide. Mit diesen Waffen waren sie nahezu wehrlos wie ohne Bewaff nung; sie taugten nicht viel. »Ein Wunder«, sagte Razamon, der Griz zards Skepsis sehr gut verstehen konnte, »daß überhaupt noch Jägerinnen lebend von ihren Jagden zurückkommen.« »Eigentlich erwarte ich sie jeden Mo ment!« rief Atlan. »Trotzdem: eine Pause muß sein.« Sie wuschen sich ausgiebig, immer ab wechselnd, damit sie nicht überrascht wer den konnten. Sie tranken das wunderbar fri sche Wasser und aßen einige derjenigen Früchte, die sie aus den Kavernen kannten. Dann bestimmten sie wieder die Richtung und gingen, etwas weniger hastig, weiter. Sie hielten sich zunächst am linken Rand des Bachbetts auf. Hier, auf dem Sand und den Kieseln kamen sie relativ schnell und ungehindert vorwärts. Sie vermieden es, deutliche Spuren zu hinterlassen und achte ten darauf, daß ihre Füße ständig vom Was ser umspült wurden. Auf diese Weise wur den die tiefen Eindrücke im Sand weggewa schen. Trotzdem machten sie sich keine Illu sionen – die Jägerinnen würden sie trotzdem aufspüren, wenn sie einmal die Spur aufge nommen hatten. Atlan probierte seinen Bogen mit einem
30 Schuß auf eines der namenlosen Klettertiere aus. Es war ein glatter Mißerfolg; viel taugte die schwache Waffe nicht. Der Bach wurde tiefer, die Ufer näherten sich einander. Die Männer wichen auf das rechte Ufer aus, wo es einen schmalen Tierpfad gab. Einige Mi nuten vergingen, und wieder nahm sie die Düsternis des Waldes auf. Nach einer Weile sagte Razamon: »Dieser Dschungel erinnert mich irgendwie an Pthor. Zugegeben, jeder Urwald ist weitestgehend gleich. Kennt man einen, kennt man fast alle. Aber dieser düstere, un heimliche Eindruck … ich bin allerdings si cher, daß wir uns keinesfalls auf Pthor befin den.« »Du phantasierst!« sagte Grizzard. »Ich glaube, die Jägerinnen haben aufgegeben.« »Das glaube ich nicht«, antwortete Atlan, und tatsächlich sah er aus dem Augenwinkel einen hellen, verwischten Fleck. Sofort streckte er die Hand aus und be rührte Razamon an der Schulter. »Ja?« »Dort drüben. Ich bin sicher, ein Katzen wesen gesehen zu haben.« »Wo?« Atlan zeigte auf das gegenüberliegende Ufer. Steine, zerfallende Baumstämme und breite Vorhänge aus Lianen bildeten eine fast undurchdringliche Wand. Unaufhörlich fiel ein lautloser Regen von Blattresten, In sekten und Aststückchen ins Wasser, das jetzt schwarz und bewegungslos aussah. Riesige Blüten trieben, sich drehend und kreiselnd, an den Flüchtenden vorbei. »Wenn das stimmt …«, begann Razamon, und diesmal sahen sie alle ganz genau, daß sie verfolgt wurden. Vier schlanke Katzenwesen sprangen an einer Lücke vorbei. Für Sekundenbruchteile waren sie deutlich zu sehen. Ihre großen Au gen schienen Blitze quer über das Wasser zu werfen. Einen Augenblick lang starrten sich die Männer schweigend an, dann reagierten sie fast synchron. Zuerst spurteten sie los, aber diesmal si cherten sie unaufhörlich nach allen Seiten.
Hans Kneifel Daß die Jägerinnen noch nicht angriffen, konnte nur bedeuten, daß es für einen Kampf einen besseren Platz gab – besser für die Verfolgerinnen. Es mußte irgendwo ent lang dieses Baches liegen. Atlan rief auf terranisch: »Hinauf in die Bäume. Irgendwo vor uns haben sie vermutlich eine Falle aufgebaut. Sie kennen den Dschungel, wir nicht.« »Einverstanden. Aber hier …?« gab Raza mon zurück. »Nein. Noch nicht.« Ihre Augen versuchten das Halbdunkel zu durchdringen und einen Baum zu finden, der ihnen bessere Chancen bot. Schließlich er kannten sie, als der Bach eine starke Krüm mung beschrieb und sie freies Blickfeld hat ten, einen Baumriesen mit tiefhängenden Ästen, von denen knotige Lianen ins Wasser hingen. Dieser Baum und seine Nachbarn verschränkten ihre riesigen Äste miteinander und bildeten so eine Art zweite Plattform hoch über dem Boden des Regenwalds. Als die Pthorer hinter der Kurve des Pfa des aus dem Dunkel herausbrachen, hielten sie an und sprangen zur Seite. Eine schlammige Zone breitete sich zwi schen den Bachufern aus. In diesem Morast stand eine Herde von rinderartigen Tieren. Es waren mächtige, kantige Leiber, über und über von zottigem Pelz und trocknendem Schlamm bedeckt. Die Tiere wälzten sich im Schlamm, rissen an den Ästen der Büsche und stießen die hochgeschwungenen Hörner gegeneinander. Große, rote Augen starrten sekundenlang die Störenfriede an. Von der Stirn bis zur Schwanzwurzel verlief über den Rücken der Tiere ein Kamm aus Horn oder Knochen, und die zackigen Wirbelfort sätze sahen gefährlich aus. Von hier aus wirkten sie wie die Schneiden von großen Sägen. »Unsere Chance!« schrie Atlan, packte ei ne Liane und zog sich daran hoch. Seine Hände und Füße fanden an den Knoten und Verdickungen guten Halt. Auch Razamon und Axton ergriffen die pflanzlichen Seile und zogen sich hoch. Als sie sich drei, vier
Land ohne Sonne Meter über dem Boden befanden, kam schlagartig Bewegung in die Herde. Das stärkste Tier schrie auf, riß den Kopf in die Höhe und drängte sich durch den sumpfigen Morast. Nach wenigen Metern griffen seine Hufe oder Klauen, es tauchte aus dem schwarzen Brei auf und schüttelte sich. Auch die anderen Tiere bewegten sich wü tend, schrien und tappten aus dem Sumpf. Als sie sich schüttelten und einen Gegner suchten, traf ein Regen aus stinkenden, schwarzen Tropfen die Männer und hagelte prasselnd in die Gewächse am Ufer. Atlan erreichte die dicken Äste, ließ die Liane los und griff nach dem Bogen. Die Entfernung zu dem ersten Tier betrug nicht mehr als fünfzehn Meter. Atlan legte einen Pfeil ein und schoß ihn dem Leitbullen in den Hals. Das Tier schrie auf, senkte den Kopf und suchte einen Gegner. Als sich auf dem ge genüberliegenden Ufer abermals die auffal lenden Körper der Jägerinnen zeigten, nahm das Tier diesen Gegner an. Es warf sich halb herum, stieß einen don nernden Schrei aus und stürmte geradeaus los. Der Bulle walzte nacheinander drei Bü sche um, riß mit dem Gehörn einen Teil des Lianenvorhangs herunter und schob sich un aufhaltsam durch das träge Wasser des Dschungelflüßchens. Mit einem riesigen Satz erreichte er das andere Ufer und fuhr zwischen die erste Jagdgruppe. Der Rest der Herde verhielt sich ähnlich. Zuerst drehten und wendeten sich die Tiere, rammten einander die Hornspitzen in die Körper und stürmten dann in drei Reihen ne beneinander dem Leittier hinterher. Die Knochenkämme auf ihren Rücken teilten die zerfallenden Pflanzenteile tatsächlich wie riesige Sägen. Die trompetenden Schreie der Tiere verwandelten diesen Teil des Dschun gels in ein Chaos. Andere Tiere stimmten in dieses Konzert mit ein. Aus allen Teilen des Regenwaldes ertön ten Schreie, Kreischen, schrille Laute, hu stende und bellende Geräusche, die den Weg der Flüchtenden von Ast zu Ast begleiteten.
31 Nach einem Weg von etwa hundert Schrit ten, die sie auf der höheren Ebene dieses Waldes zurückgelegt hatten, hielt Razamon an. »Wir werden unsere Verfolgerinnen da von abhalten müssen, uns bis zum Gebirge nachzurennen«, sagte er und zog Schwamm und Feuerzeug hervor. Er hatte sie in einem trockenen Stück seiner Kleidung verborgen gehabt. »Atlan, die Fackel!« Atlan protestierte nicht, aber er war skep tisch. Der Dschungel schien viel zu feucht, als daß Razamons Idee Erfolg haben konnte. Aber trotzdem wartete er, bis die Fackel lo dernd brannte. Razamon grinste kalt, als er die Fackel schwang und weiter entfachte. Sie hangelten sich weiter und turnten auf einen bestimm ten Platz zu, den der Berserker wohl schon vorher ins Auge gefaßt hatte. Es war ein einzelner Baum, der vor kurzer Zeit niedergebrochen sein mußte und genau über dem Bachufer hing. Seine Blätter wa ren gelb und sahen ausgetrocknet aus. Mit geschicktem Schwung schleuderte Razamon die Fackel in die Krone des Bau mes. Sie schlug in die Blätter, versprühte einen Funkenregen, als sie gegen einen Ast schmetterte, und tatsächlich fingen einige Blätter rasend schnell Feuer. Flammen und Rauch stiegen auf. Sekunden später gab es eine Reihe von kleinen, puffenden Explosionen. Irgendwel che Früchte platzten auf und versprühten ätherische Öle. Die Flammen breiteten sich aus und fraßen sich nach den Seiten und ab wärts. Dichter, grauer und weißer Rauch be gann den freien Raum zwischen den grünen Mauern auszufüllen und zog abwärts. Ein Ausläufer erreichte die Stelle, an der die schlammbedeckten Bestien wüteten. In dem Durcheinander, das hinter der Kulisse der Gewächse stattfand, war nicht zu erkennen, ob die Büffelähnlichen die Katzenwesen an griffen. Aber alles war in Bewegung: Bü sche brachen auseinander, die Bäume zitter ten unter dem Anprall der Gehörne, und im mer wieder erklang das zornige Brüllen der
32 schwarzen Riesen. Als die Tiere den Rauch in die Nüstern bekamen, verwandelte sich ihre Wut in Ra serei. Sie begannen, die Ufer zu verwüsten. Die Tiere bildeten ein Rudel, und sie kämpf ten wie ein Rudel. Als das Chaos seinen Hö hepunkt erreicht zu haben schien, brüllte Razamon: »Wir haben zumindest eine Zeitlang Ru he. Jetzt werden die Jägerinnen wieder ein mal gejagt.« »Hoffentlich hält die Entwicklung an. Weiter, Freunde!« gab Atlan laut zurück. Sie klammerten sich an den Lianen fest und kletterten auf der federnden zweiten Ebene weiter. Unter ihren Füßen bogen sich modernde Äste schwer durch, Nadeln und Blätter, die eine zusammengebackene weiße Schicht ergeben hatten, brachen knirschend auseinander. Vor den Flüchtenden schwirr ten Vögel aus den Nestern, und kleine Tiere vollführten einen Höllenlärm. Vielleicht sa hen die Jägerinnen die Fremden nicht mehr, aber sie konnten sie sehr gut hören. »Vergeßt nicht«, rief GrizzardAxton, »daß die Jägerinnen die Gefahren in diesem Dschungel mehr oder weniger genau ken nen. Im Gegensatz zu uns! Wir haben keine Ahnung.« »Dafür haben wir uns aber recht gut aus der Schlinge gezogen«, gab Razamon zu rück und turnte hinter Atlan her. Wie jeder Regenwald auf jedem Planeten troff auch dieser Dschungel vor Nässe. Die Sonnenstrahlen, die selten genug durch die Wolken drangen, fanden keinen Weg durch die dichten, grünen Baumkronen. Inzwi schen hatten die drei Ausgesetzten keinen Zweifel mehr daran, daß auf dieser unbe kannten Welt Dorkh auch jene physikali schen Eigenschaften herrschten, wie sie auf Pthor und der Erde zu finden waren. Jetzt, während dieses Abschnittes der wilden Flucht, dachte allerdings keiner von ihnen daran. Sie versuchten, eine möglichst große Strecke zwischen die Quelle des Lärms und sich zu bringen. Etwa eine halbe Stunde später änderte
Hans Kneifel sich wieder der Charakter der Umgebung. Die Bäume wurden niedriger. Mehr Hellig keit kam durch das Blätterdach. Die höher gelegene Ebene brach übergangslos ab; die Äste wurden dünner und waren weniger zahlreich. Atlan, Razamon und Grizzard kletterten auf den Boden hinunter und bahn ten sich einen Weg durch dorniges Ge strüpp. Schließlich standen sie am Rand eines trockenen Flußbetts. Steine in allen Größen bildeten eine keilförmige Fläche. In der Mit te, zwischen den wahllos umherliegenden Brocken und dem feinen Kies, der die Zwi schenräume ausfüllte, rann ein schmales Band Wasser. Verglichen mit dem Lärm des Kampfes zwischen Katzenwesen und den exotischen Dschungelrindern war es gerade zu totenstill. Die Sonne verbarg sich hinter einer dichten Schicht von Hochnebel, aus dem sich einzelne Schleier lösten. Atlan orientierte sich an dem helleren Punkt hinter der grauen Schicht und sagte leise: »Wir bewegen uns noch immer in westli cher Richtung fort.« »Bleiben wir dabei. Dieses Flußbett wird uns nicht lange aufhalten.« Razamon hatte bei der wilden Kletterei seinen Bogen zerbrochen. Er blickte ihn fast angewidert an und warf die Trümmer hinter sich. Die Pfeile steckte er in Grizzards Kö cher. Dann deutete er geradeaus. »Vor den Jägerinnen sind wir vermutlich erst nachts sicher«, meinte Grizzard/Axton. »Ich glaube bemerkt zu haben, daß sie nachts nicht zu jagen pflegen.« »Hoffentlich hast du recht«, antwortete Atlan. Sie sprangen aus den Büschen hervor und eilten in die Mitte der freien Fläche. Einige der Steinbrocken, von der Wucht des Was sers abgerundet und abgeschliffen, waren doppelt mannshoch. Sie gaben eine hervor ragende Deckung ab. Die Geräusche des Dschungels verschluckten das Knirschen der hastigen Schritte im feinen Kies. Die Män ner rannten, bis sie vor Erschöpfung taumel
Land ohne Sonne ten. Ihre Körper waren schweißbedeckt, ihr Atem ging rasselnd, und die Sohlen schmerzten, als sie einige Kilometer weiter anhielten. Ein Lauf von rund einer Stunde lag hinter ihnen. Sie lehnten sich im halben Schatten an einen Steinblock und warteten, bis sich ihr rasender Herzschlag beruhigt hatte. »Von deinem Treffpunkt ist weit und breit nichts zu sehen«, keuchte Razamon und meinte Grizzard. »Wie weit, sagtest du?« »Ich sagte, was Elcoy mir erzählte. Es hängt von unserer eigenen Schnelligkeit ab.« Razamon glitt um den Felsen herum und warf durchdringende Blicke in alle Richtun gen. Die unzähligen Steine waren weiße Sil houetten vor der tiefgrünen und braunen Wand des Waldrands. Eine ideale Tarnung also für die schnellen Katzenjägerinnen. Aber der Berserker konnte keinen Verfolger entdecken. Dafür bemerkte er eine Gruppe jener riesiger Eulen, von denen sie im Nebel angegriffen worden waren. Sie kreisten hoch über dem Ausschnitt des Bachbetts, halb im Nebel versteckt. Aber keiner der Raubvögel machte An stalten, sich auf die winzigen Gestalten hier unten zu stürzen. Razamon kam von der an deren Seite des Steines in den Schatten zu rück; gleichzeitig verschwand die Sonne wieder, und das diffuse Licht herrschte er neut. »Wir sind darauf angewiesen, Elcoy zu treffen – das wißt ihr!« sagte Razamon und bückte sich nach einem schillernden Stein. »Ich weiß es«, entgegnete Atlan. »Aber ob wir Elcoy tatsächlich treffen werden, bleibt abzuwarten.« »Du meinst, sie könnte unseren Treff punkt nicht erreichen?« wollte Grizzard wis sen. »Genau das meine ich«, sagte Atlan. »Sollten wir die Jagdkommandos tatsächlich hinter uns gelassen haben?« »Ich rechne damit, daß sie nach wie vor auf unserer Spur sind«, entschied Razamon. Die Ausgesetzten gingen zum Wasser rinnsal, kühlten ihre Gesichter und tranken
33 einige Schlucke, dann folgten sie wieder dem Bachbett. Es wurde auf den nächsten zweihundert Schritten schmaler und unweg samer, und der Lauf des Wassers begann sich in wilden Schlangenlinien durch den Dschungel zu krümmen. Als der erste umge stürzte Baum ihnen den Weg versperrte, schwangen sie sich hinauf und balancierten auf das linke Ufer hinüber. Diesmal führte wieder Razamon. Atlan hielt die primitive Axt in der rechten Hand und bemühte sich, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Plötzlich stolperte Razamon, sein Fuß brach durch die morsche Rinde und versank bis zum Knie in einer pulverigen, braunen Schicht. Ein wütendes Summen er tönte augenblicklich, und verzweifelt ver suchte Razamon, den Fuß wieder herauszu ziehen. Atlan spreizte die Beine und hielt ihn an den Schultern fest. Mit einem wilden Ruck kam Razamon frei, aber sein Fuß riß eine hochwirbelnde Wolke aus Holzstaub und undefinierbaren Pflanzenresten aus der Öffnung. Achtung. Die Insekten können gefährlich sein! warnte in diesem Augenblick der Lo giksektor. Zugleich mit den zerfetzten Überresten des Insektenbaues schwirrten dunkle Punkte blitzschnell nach allen Seiten. Razamon wischte mit der Hand über seine Wade und sprang weiter. Hinter Atlan setzte Grizzard mit einem vorsichtigen Sprung über die Öff nung im Holz. Das Summen verstärkte sich und wurde heller und durchdringender. At lan warf einen Blick über die Schulter; ein weiterer Teil der Rinde war zusammenge brochen und entließ Hunderte von bösartig umherschwirrenden Tieren. Sie waren halb fingergroß und hatten schimmernde Flügel. Als die Männer fast das Ende des Stammes erreicht hatten, knirschte das brüchige, aus gehöhlte Holzstück auf und zerbrach in zwei Teile. Razamon schlug wütend nach seinem Knie und schrie: »Nur im Wasser sind wir vor ihnen si cher!«
34 »Weit und breit gibt es nicht genug Was ser«, ächzte Grizzard. »Sie kommen!« Tausende der wütenden Tiere bildeten jetzt, nachdem sie in alle Richtungen ausein andergeschwirrt waren, eine kugelförmige Wolke. Das Summen änderte abermals seine Tonhöhe. Während die Flüchtenden, die vom zusammenbrechenden Stamm in mora stigen Untergrund abgesprungen waren, sich einen Durchlaß zwischen Ranken, schilfähn lichen Gewächsen und tief heruntergeneig ten Baumästen freischlugen, bildete sich aus der auf und abschwebenden Wolke eine Art Finger oder Spitze aus. Sie wies genau auf den Rücken Grizzards, der hinter Atlan ent langstampfte und versuchte, sich der zurück peitschenden Pflanzen zu erwehren. Fünf Schritte später umgab die Männer wieder das Dunkel des Dschungels. Diesmal war es kein Hochwald. Der Teil des Waldes, in den sie mühsam eindrangen, bestand aus schwarzem und stinkendem Schlamm, aus eisenharten Hochwurzeln und messerscharfen Halmen von purpurner Färbung, die aus der schwar zen Oberfläche wuchsen und sich bewegten, als wären es aufgerichtete Schlangenleiber. Der Schlamm reichte den Männern bis eine Handbreit unters Knie. Sie stolperten und rutschten in wilder Panik durch die zähe Brühe. Das Summen der Insekten hatte sich jetzt, als die Vorhut durch die Blätter stieß, zu ei nem kreischenden Singen hochgeschraubt. Es war ein Geräusch, das die Trommelfelle marterte und in den Männern die Angst hochtrieb. Sie ahnten, daß sie verloren wa ren, wenn die Insekten sie erreichten. Auch der Schlamm würde keine Rettung bedeuten, selbst wenn sie sich todesmutig in die teerar tig und schweflig riechende Schicht hinein stürzten. Sie hasteten geradeaus, klammerten sich an den Luftwurzeln fest, rutschten und stolperten, schnitten sich an den lanzettför migen Halmen und waren nach wenigen Schritten bis zu den Haaren voll von der klebrigen Masse. Noch hatten die Dorkh-Wespen – oder
Hans Kneifel welcher exotischen Gattung diese sirrenden kleinen Bestien angehören mochten – Griz zard/Axton nicht erreicht. Immer wieder sah er sich um und rannte dabei mit dem Kopf gegen einen Wurzelknoten. Als er vor Schmerz und Wut zu fluchen anfangen woll te, spritzte ihm ein Fladen Schlamm ins Ge sicht. Der Geruch und der Geschmack be täubten ihn fast; und jetzt hatten ihn auch die Insekten erreicht. »Helft mir … sie bringen … mich um!« schrie er gellend auf. Augenblicklich hielten Atlan und Raza mon an. Sekundenlang wußten sie nicht, wie sie sich verhalten sollten. Dann schien Raza mon eine rettende Idee zu haben. Er bückte sich, faßte mit beiden Händen in die schwar ze Brühe und schleuderte sie in großen Fla den auf die langgezogene Formation der In sekten. Noch immer zielten sie wie eine Speerspitze nach Grizzard. Der Erfolg von Razamons Versuch war ausgezeichnet, aber nicht ausreichend. In vollem Lauf stolperte Grizzard an ihm vorbei. Diejenigen Insekten, die von dem Schlamm getroffen worden waren, fielen mit verklebten Flügeln in den Sumpf. Aber selbst als Atlan schräg hinter Razamon ebenfalls sein Beil in den Gürtel steckte und Schlamm auf die Verfolger schleuderte, blieben noch genügend übrig. Sie wichen in spiraligem Flug aus, formierten sich wieder und griffen sowohl Atlan als auch Razamon an – Grizzard schienen sie vergessen zu ha ben. »Schneller!« »Mehr Schlamm!« »Grizzard! Komm zurück! Hilf uns!« Sie schleuderten wie die Besessenen den zähen Schlamm um sich. Die Formation der Insekten löste sich auf, und als Grizzard her anrutschte und schweigend anfing, gezielt Fladen in die Höhe und in die Richtung der beiden anderen zu schleudern, schien das Summen und Schwirren vorübergehend lei ser zu werden. Rundherum war die schwarze Oberfläche mit zappelnden und krabbelnden Körpern bedeckt, die vom Schlick begraben
Land ohne Sonne wurden, als neue Fladen herunterfielen. Fast gleichzeitig hörten die Flüchtenden auf, mit dem stinkenden Brei um sich zu werfen. Sie drehten sich um und stakten in die Richtung, in der sie irgendwo den Treff punkt vermuteten. Hinter ihnen bildeten die Überlebenden dieses merkwürdigen Kampfes wieder eine kugelartige Formation. Aber der Schwarm war längst nicht mehr so gewaltig wie zu erst; auch das Summen klang weniger wü tend und nicht so mörderisch hell. Nach etwa fünfhundert Schritten, die sie mehr rutschend als gehend hinter sich brach ten, wurde die Schlammschicht flacher. Schließlich reichte sie nur noch bis zu den Knöcheln. Faulende Blätter und die Kadaver kleiner Vögel bildeten eine dicke Schicht auf dem Schlick. Dann spürten die Pthorer steinigen Boden unter den zerrissenen Soh len. Ihre Körper waren von oben bis unten mit dem zäh haftenden Schlamm bedeckt. Das Gelände hob sich, sie krochen rut schend einen Abhang hinauf, der mit inein ander verfilzten Bodengewächsen bedeckt war. Als sie ein schmales Band oberhalb des Hanges erreicht hatten und sich aufrichteten, krachten kurz hintereinander drei gewaltige Donnerschläge. Ein Blitz spaltete eine graue Wolke, die dicht über den Baumkronen zu stehen schien. Der Blitz fuhr in einen riesi gen Stamm, spaltete ihn der Länge nach und setzte ihn augenblicklich in Flammen. Das Krachen des Donners hatte die Männer halb taub gemacht. Sie hörten nicht, daß genau aus der Öffnung im Dschungel, die sie geris sen hatten, die Insekten heranschwebten. Aber einige Sekunden später sahen sie die Tiere; die Flügel der Insekten schimmerten im stechenden Licht des nächsten Blitzes sil bern und farbig auf. Einige vereinzelte Re gentropfen fielen und schlugen auf Köpfe und Schultern der Pthorer wie Geschosse ein. Aber der Überlebenswille zwang die Flüchtigen dazu, auf der Oberkante des Han ges weiterzurennen. Als sie wieder in ein Dickicht aus mannsgroßen Büschen hinein
35 sprangen, begann es zu regnen. Es war kein Regen; es waren Wassermas sen, die scheinbar ohne Zwischenräume aus dem Himmel herunterstürzten. Der Rauch, den ein brennendes Stück Dschungel erzeugte, kroch in dicken Schwa den über dem Boden dahin. Die Flammen, die hoch aufloderten, wurden nur langsam von den Wasserfluten gelöscht. Aber die drei Männer, die vor den Insekten flüchte ten, erlebten nach dem ersten Ansturm der schweren Tropfen die Wassergüsse wie eine Erholung. Jeder weitere Schritt, den sie zwi schen den wippenden und unter den Güssen zitternden Büschen und Bäumchen machten, ließ sie eine Spur sauberer werden. Das Wasser floß aus ihren Haaren, jeder Guß wusch einen Teil ihrer Körper, und die Insekten wurden von dem herunterrauschen den Regen zu Boden gehämmert. Das Ge räusch der senkrecht stürzenden Flut war fast so laut wie der Donner, aber für die Männer bedeutete es vorübergehend die Ret tung. Schließlich, nach einer weiteren Kletterei über einen grasbewachsenen Hang, standen sie unter einem Baum, der wie eine Halbku gel aussah, deren Schnittfläche nach oben zeigte. Auch Grizzards Bogen war zerbrochen. Die Lianenseile des Köchers hatten sich auf gelöst, die Pfeile waren verloren. Atlan be saß, wie Razamon, noch seinen Knochen dolch und die Axt. Die Männer sahen sich schweigend und mit unaussprechlichem Ge sichtsausdruck an. »Der Weg zum Treffpunkt der Königin ist beschwerlich«, murmelte Razamon. In sei nem Gesicht zeichneten sich, deutlich durch die Bahnen des verdünnten Schlammes sichtbar, Erschöpfung und Resignation ab. »Wir überleben auch diesen verdammten Dschungel«, versuchte ihn Atlan aufzumun tern. »Bevor wir nicht das legendenhafte Reich der ›gutmütigen‹ Mavinen-Köni ginnen erreicht haben, werden wir nicht die geringste Information über Dorkh bekom men. Wohin sollten wir sonst?«
36 Grizzard verließ den Schutz der Zweige, stellte sich in den Regen und machte den halbherzigen Versuch, sein Gesicht und sei ne Arme vollends zu reinigen. Ihre Beklei dung war nur noch zur Hälfte vorhanden und zerschlissen bis zur Unkenntlichkeit. »Atlan hat recht«, rief das Bewußtsein Lebo Axtons in dem jung scheinenden Kör per des Hackennasigen. »Wir müssen ein fach diesen Treffpunkt finden. Wir haben in Wirklichkeit gar keine Wahl. Wer sollte sonst auf diesem schrecklichen Planeten un sere Fragen beantworten?« So und nicht anders ist die Lage, kom mentierte lustlos der Logiksektor. Atlan starrte durch die Schleier des Re gens hinüber zum Waldrand. Unaufhörlich blitzte und donnerte es. Der Rauch des längst ausgelöschten Feuers bildete eine kniehohe Schicht über dem Gras. Jenseits dieser halb durchsichtigen Wand aus Wasser und Rauchpartikeln zeichneten sich undeut liche Bewegungen ab. »Grizzard!« rief Atlan unterdrückt. »Deckung!« Der Mann zwischen ihm und dem Dschungelrand begriff sofort. Er ließ sich ins Gras fallen und robbte heran, während sich Atlan und Razamon hinter den dicken Stamm zurückzogen, an dem das Wasser in breiten Strömen herunterlief. »Was ist los?« fragte Razamon unschlüs sig. »Die Jägerinnen?« »Es scheint so. Ich kann nicht genug er kennen.« Angespannt spähten sie zu der bezeichne ten Stelle hinüber. Der Waldrand war etwa vierhundert Meter weit entfernt. Tatsächlich bewegten sich dort die Büsche. Hin und wie der riß die dichte Wand aus Regen auf, nur für Sekundenbruchteile. Die drei erschöpf ten Männer sahen, wie eines der schlanken Katzenwesen aus dem Schutz der Büsche hervortrat und sich wachsam umsah. Auch die Verfolgerinnen waren durch den Schlamm gewatet; anders waren ihre ver schmutzten Felle nicht zu erklären. Eine zweite Jägerin, die einen Knochendolch in
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den Klauen hielt, kam ins Freie und versuch te ebenfalls, die Spur zu entdecken oder einen Hinweis, in welche Richtung sich die Verfolgten gewandt hatten. Der Regen schi en schwächer zu werden. Die Blitze waren weniger häufig, ebenso die krachenden Don nerschläge. Das Gewitter wanderte von die sem Teil des Dschungelgebiets nach Osten ab. Von oben senkte sich Nebel herab, dicke dampfende Wolken erhoben sich auch zwi schen den Teilen des Dschungels. Sämtliche Tiere schienen sich verkrochen zu haben und schwiegen verschreckt. Eine dritte Jäge rin folgte den beiden ersten nach. Sie bilde ten eine Gruppe und schienen sich zu bera ten. Sie sind vermutlich weniger als am An fang der Jagd! sagte unvermittelt der Extra sinn. Das konnte bedeuten, daß zumindest ein Teil der Jagdkommandos nach der Ausein andersetzung mit den wütenden Wildrindern aufgegeben hatte. Waren sie verwundet wor den? Oder sollten sie etwa eingesehen ha ben, daß eine weitere Verfolgung sie selbst mehr gefährdete? Es gab keine Antworten auf diese Überlegungen, sagten sich die Männer und warteten regungslos und mit vi brierenden Nerven. Schließlich standen sieben Katzenwesen im Regen. Zwei von ihnen hatten in ihrem schneeweißen Fell nicht nur schwarze, son dern auch rote Streifen von beträchtlicher Breite. Blut! Das hieß, daß sie verwundet waren. Razamon zischte: »Warten wir weiter? Oder flüchten wir? Es sind immerhin mehr als wir.« »In unserem Zustand und mit diesen vor trefflichen Waffen«, unterbrach Grizzard und hob mit einem vagen Lächeln sein schartiges Knochenmesser hoch, »haben wir gegen die Halb-Raubkatzen nicht die gering ste Chance.« »Ich sehe es nicht anders!« antwortete At lan. »Der Nebel wird dichter, scheint mir.« »Also warten wir, bis sie uns umzingelt haben«, erklärte Razamon und betrachtete
Land ohne Sonne niedergeschlagen die zahllosen kleinen Schnitte in seiner Haut. »Ich habe diese Rennerei satt. Ich sehne mich nach einem Lagerfeuer und einem Stück Fleisch, das sich darüber dreht, und nach Ruhe. Und ei ner guten Salbe. Ich weiß, daß ich Dorkh be reits hassen gelernt habe.« Atlan mußte wider Willen grinsen und schloß: »Auch das werden wir noch erleben – ei nes Tages.« Binnen weniger Minuten änderte sich die Szene abermals und auf drastische Weise. Zuerst deutete die Anführerin der sieben Jä gerinnen in nördliche Richtung. Hinterein ander liefen die Katzenwesen mit ihren fe dernden Sprüngen und den eleganten Bewe gungen den Waldrand entlang und entfern ten sich. Immer wieder wurde der Blick auf die weißen Mavinen von dickem Nebel unter brochen. Ein schwacher Hoffnungsschim mer regte sich in den Männern. Die Bewe gungen der Jägerinnen waren eindeutig ziel bewußt und so schnell, wie man es von zä hen Jägern erwarten mußte. »Sie verfolgen eine falsche Spur!« stieß Razamon hervor, als er die Gruppe lange ge nug beobachtet hatte. »Keine voreiligen Hoffnungen!« warnte Atlan. »Jedenfalls sieht es im Moment so aus.« Die Nebeldecke senkte sich mehr und mehr und hatte bereits die meisten Baum kronen verschluckt. Noch einmal rauschte wütend ein Regenschauer über diesen Teil des Dschungels hinweg, dann riß der Regen ab. Schlagartig wurde es drückend heiß und erstickend. Auch das Gemisch aus letztem Rauch und Dampf, das zwischen den Stäm men und Wurzeln herankroch, wurde dich ter. »Gehen wir!« entschied Atlan. »Und zwar in eine ganz andere Richtung als unsere Kätzchen, die offenbar nicht müde werden.« »Dort entlang«, erklärte Grizzard, als wis se er ganz genau, wo der Baum neben dem zerfallenden Tempel stand.
37 Sie standen ächzend auf und spürten, während sie weiterhin nach Westen gingen, jeden Muskel. Das Regenwasser hatte den meisten Schlamm weggewaschen. Die un zähligen kleinen Verletzungen begannen zu schmerzen und verhinderten auch den ge ringsten Gedanken an Müdigkeit. Zwischen den Schulterblättern Grizzards begann die Haut rund um den Insektenstich zu schwel len und feuerrot zu werden; noch merkte er es nicht. Vor ihnen huschte, die Bäuche tief am Boden, eine kleine Herde borstiger Tiere von rechts nach links über die verwilderte Fläche. Die Tiere sahen aus, als würden sie einen vortrefflichen Braten abgeben. Augenblick lich schwang Razamon seine Axt und stürzte hinter dem schwächsten, dem letzten Tier in der Herde, zwischen die hohen Gräser. Krei schend rannten die Tiere auseinander. Die Axt beschrieb einen Halbkreis und traf mit knackendem Geräusch den Schädel des Tie res. Atlan hoffte, daß das Fleisch des Tieres eßbar sein würde. Allerdings glaubte er fest, daß sie diese Beute wieder wegwerfen muß ten, denn es schien zu diesem Zeitpunkt völ lig undenkbar, daß sie bis zum Anbruch der Dunkelheit einen sicheren Platz erreichen konnten. Einen Ort, an dem sie ein Feuer machen und sich ausruhen konnten. Der Dschungel, der nach einigen Schritten sich wieder erstickend dicht um sie schloß, sah keineswegs friedfertig aus. Und zweifel los waren Razamons Feuersteine so naß, daß er keinen Funken schlagen konnte. Kein Zweifel, sie drangen in eine Zone vor, in der mehr und mehr tierisches Leben herrschte. Aus dem vagen Nebel vor ihnen kam ein dröhnender, wütender Schrei wie von einem Saurier. Razamon warf sich, nachdem er die Hin terläufe mit einem Stück seiner Kleidung zu sammengebunden hatte, das Tier über die Schultern. Es war etwa so groß wie eine kleine Wildsau. Ein zweiter Schrei hallte zwischen den fetten, grünen Stengeln der farnartigen Bäume auf. Vielleicht hatte das Riesentier dort das Blut des Beutetiers gero
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chen. Atlan fand seine schlimmsten Be fürchtungen halbwegs bestätigt. Trotzdem gingen sie geradeaus zwischen den nassen, klebrigen Stauden auf die Quelle des Ge schreis zu.
5. Sie waren vor dem Morgengrauen aufge brochen. Jetzt war es Mittag und der höchste Stand der herunterstechenden Sonne. Sie war nicht völlig unsichtbar; direkt über den Köpfen der Pthorer zeichnete sich in dem dicken Nebel ein hellerer Kreis ab. Bisher hatte es nicht die geringsten Anzeichen da für gegeben, daß innerhalb des Dschungels oder auch nur bestimmter Gebiete intelligen te Wesen herrschten und ihre Spuren hinter lassen hatten. Der Regenwald und seine überwucherten Gebiete waren Niemands land, bevölkert von Tieren und Gefahren. Die Männer, die als Leibwache von Elcoy auftreten sollten, blieben stehen, als der nächste Schrei erscholl. Er kam von rechts und von oben. Entweder hatte ihn ein flie gendes Wesen ausgestoßen oder eines, das im Wipfel eines Baumes hauste. Gleichzei tig merkten Atlan und Razamon, daß ihre Füße nicht mehr von Gräsern, Ranken oder Buschwerk gehemmt wurden. Sie sahen nach unten. Hier gab es nichts anderes als schmale Grasstreifen, die zwischen überra schend flachen Steinen wuchsen. Das Mu ster der dunklen Streifen konnte zufällig und natürlich sein, aber Razamon brachte hervor: »Es wirkt auf mich, als wäre es ein uraltes Pflaster. Nicht anders.« »Du kannst Recht haben«, antwortete At lan. »Warten wir ab, wohin uns dieser leich te Fluchtweg bringt.« Die Sicht betrug nicht weiter als zwanzig Meter. Manchmal riß der Nebel stellenweise auf, dann erkannten die Männer, was vor ih nen lag. Die weiße, feuchtwarme Umgebung erstickte alle Geräusche bis auf dieses Brül len. Es war, als habe ein Raubtier seine drei fache Beute gewittert. »Wenigstens hält der Nebel unsere Ver-
folger in gewisser Entfernung«, meinte Griz zard schließlich. »Sie sehen uns ebensowenig wie wir sie. Ich schlage vor, wir umgehen diesen Schrei hals links.« »Wir sind schon dabei!« Das Brüllen kam von rechts, aber aus ver schiedenen Standorten. Einmal höher zwi schen den Bäumen, dann wieder anschei nend dicht über dem Boden. Die Pthorer wi chen bis zum Rand des Waldes aus, blieben aber auf den weißen Steinen, deren Oberflä che unglaublich verwittert und rundgekerbt war. Für die geschundenen Füße waren die nächsten zweihundert Schritt eine wahre Er holung. Dann drangen durch die wabernde Wand vor ihnen plätschernde Geräusche, als ob Wellen an ein Ufer schlügen. »Wasser?« brummte Atlan. »Ein Bad? Ruhe? Einen Schluck frisches Wasser?« »Durchaus vorstellbar«, antwortete Raza mon. »Sehen wir weiter.« Vorsichtig tappten sie weiter. Nach weni gen Schritten wurde das Geräusch lauter und eindeutiger. Dann schälte sich aus dem Ne bel eine Kante aus großen Steinquadern her aus. Der Fels sah aus, als sei er vor undenk bar langer Zeit bearbeitet worden. Jetzt wa ren alle seine Kanten und Ecken stark abge rundet. Dunkelgrünes Wasser, von Blättern und Blüten bedeckt, schlug in beachtlichen Wellen gegen die Steine und warf jedesmal einige Handvoll dieses Grünzeugs auf die Steinoberfläche. Es lag bereits eine dicke, ringförmige Schicht darauf. »Ein See, von einer Art Kai abgeschlos sen«, erklärte Razamon und verließ seinen Platz. Er lief zum Ufer hinüber. Je näher er der steinernen Kante kam, desto weiter sah er in die Mitte des Sees hinein. Atlan und Axton/Grizzard folgten etwas langsamer und zuckten wieder zusammen, als direkt über ihren Köpfen der nächste Schrei ertönte. Sie konnten etwa fünfzig Meter der Kante überblicken. Sie bildete einen Teil eines Kreises, und wenn dies das Ufer des Sees war, dann hatte die Wasserfläche einen Durchmesser von mindestens einem Kilo
Land ohne Sonne meter. »Aber was erzeugt die Wellen? Einen Sturm müßten wir doch merken!« sagte At lan und drehte den Kopf. Er sah nichts, aber das Gefühl, wieder einmal mehr oder weni ger hilflos einer Gefahr ausgesetzt zu sein, wurde schlagartig stärker. »Vielleicht ein …«, begann Grizzard, als sich ein riesiger Schatten über ihnen beweg te. Sie nahmen es nur indirekt wahr; etwas Dunkles, das plötzlich durch die milchige Masse des Nebels stieß. Die Männer reagierten instinktiv und schnell. Von rechts oben näherte sich eine dunkle, fauchende Masse, und sie warfen sich augenblicklich nach links, rollten sich am Steinboden ab und sprangen wieder auf die Füße. Neben ihnen schlug schwer und mit einem unbeschreiblichen Geräusch ein riesiger, kantiger Schädel auf die Steine. Es gab knirschende und knisternde Geräusch, als ob trockenes Holz brechen würde. Große, seltsam funkelnde Augen starrten einen Sekundenbruchteil die rennenden Männer an, dann bewegte sich der lange Hals wieder und hob den Reptilschädel von den Steinen und dem Moos. Der Schädel maß von der Stirn bis zu den gekrümmten, gelben Zähnen etwa drei Meter und war nicht viel schmaler als zwei. Wieder stieß das Tier ein heiseres, grol lendes Brüllen aus. Schleimtropfen und Wasser, vermischt mit einem stinkenden Hauch, fuhren hinter den Männern her. Der Kopf und der Hals, dessen Mitte und Ende im Nebel verschwanden, bewegten sich wie eine riesige, schwarzschillernde Schlange. Die Haut war von großen, flachen Schuppen bedeckt, deren Ränder scharfgeschliffen aussahen und von silbergrauer Farbe waren. Mit beängstigender Geschwindigkeit zischte der Kopf dicht über den Steinen da hin und näherte sich dem mittleren der drei rennenden Männer. Es war Atlan. Das Kinn des Tiergiganten, dessen Körper unsichtbar war, ratterte über die Felsen und riß das Moos und Gras aus den Ritzen. Wieder schrie der Riese wütend, riß den Rachen auf,
39 der schließlich einen Winkel von fast fünf undvierzig Grad bildete. Atlan drehte den Kopf nur halb, wechselte in rasendem Lauf seine Richtung und zerrte Grizzard mit sich. Sein Ziel war der Wald; die Baumstämme würden einen gewissen Schutz bieten. Jetzt wußten sie, warum der Schrei über ihnen aus wechselnden Richtungen gekommen war, und sie wußten auch, wer das Wasser des Teiches bewegte. Es war dieser schwarze Koloß. »In den Dschungel zurück, Razamon!« schrie der Arkonide. Grizzard lief etwas schneller, Atlan wich nach links aus, und Razamon setzte in mäch tigen Sprüngen entlang des Seeufers. Das blutende Beutetier schlug hin und her und immer wieder zwischen die Schulterblätter des Berserkers. Drei verschiedene Ziele boten sich an. Das machte den Riesen unschlüssig. Der Kopf hielt in seiner rasenden Bewegung in ne und pendelte suchend hin und her. Die Strecke, die der Kopf von einem Ende zum anderen zurücklegte, betrug mindestens dreißig große Schritte. Die hornigen oder knöchernen Schuppen zwischen den Augen klapperten. Aus der Kehle des Raubtiers, das Atlan an die Schreckechsen von Planetenvorzeiten erin nerte, drang ein tiefes Brummen, das den Boden zu erschüttern schien. Razamon wur de schneller, dann schlug er einen Haken und rannte hinter Grizzard und Atlan her. Keuchend schossen die beiden ersten zwi schen den Stämmen hindurch. Razamon folgte an einer anderen Stelle nach. Dann war die Verwirrtheit des DorkhSauriers vorbei. Das Tier ruhte mit seinem mächtigen Leib höchstwahrscheinlich in der Mitte des Sees beziehungsweise in der Nähe dieses Ufers und kontrollierte die Straße aus flachen Steinen. Der Schädel vollzog die Bewegung Razamons nach, schoß über die gesamte Breite des Streifens nach links und schlug wie ein gewaltiger Hammer zwischen zwei mächtige Stämme. Der Raum zwischen den Bäumen war geringer als die Breite des
40 Schädels. Die Rinde platzte in großen Plat ten ab und staubte um die Augen des Riesen. Ein dumpfes Zittern fuhr durch die Bäume, breite Splitter lösten sich aus dem hellen Holz, als die Bestie den Kopf schüttelte, hin und her drehte und mit einem wütenden Ruck wieder zurückzog. »Dein Badesee«, keuchte Razamon und sah kopfschüttelnd zu, wie sich der Hals abermals bog, »gefällt mir nicht, Atlan.« Die Pthorer zogen sich Schritt um Schritt tiefer in den Wald zurück. Wieder kam der furchtbare Kopf mit einem lauten Schrei auf die Stelle zu, an der die Bäume noch immer schwankten. »Duuhl Larx hat tatsächlich einen schö nen Platz für uns ausgesucht. Und ausge rechnet Dorkh mit diesen Gefahren sollen wir für ihn erobern.« »Inzwischen hat uns schon längst der Pla net erobert«, sagte Grizzard. »Das Biest gibt nicht auf.« »Es ist ebenso hungrig wie wir!« rief Raz amon und schwenkte sein Beutetier, das er verblüffenderweise noch nicht verloren hat te. Wieder erfolgte ein Stoß, der eine Gruppe Baumstämme beben und zittern ließ. Der Kopf, an beiden Seiten verwundet und mit Blut bedeckt, rammte an einer anderen Stel le zwischen den Stämmen hindurch, schürfte über den Boden und näherte sich wie eine Maschine den Pthorern. Sie sprangen, jetzt allerdings langsamer, im Zickzack zwischen anderen Baumstämmen aus der Richtung heraus, aus der die Bestie drohte. In den Ästen flüchteten Vögel und andere Tiere, die bisher unsichtbar und unhörbar gewesen waren, wild schreiend aus ihren Nestern oder von ihren Jagdplätzen. »Der Riese scheint nur im See leben zu können«, rief Atlan und sprang über mo dernde Holzstämme hinter dem Berserker nach. »Sein Körper ist vermutlich zu groß und würde zusammensinken«, gab Axton/ Grizzard zurück. Zunächst schien es, als ob der Kopf und
Hans Kneifel der Schlangenhals die dreifache Beute noch erreichen könnten. In einigen Windungen folgte der Rachen der Spur der Pthorer und bewegte sich hin und her. Der Hals drückte die Bäume, an die er sich rechts und links preßte, zur Seite. Das Holz ächzte, Wurzeln knirschten, und Äste brachen aus den Kro nen. Wieder ließ ein Schrei zwischen den Bäumen vielfältige Echos zurückschallen. Dann hielt das riesige Tier an. Die Zunge rollte sich auf und schnellte wieder vor. Holzsplitter steckten zwischen den Zähnen. Der Kopf schüttelte sich wieder unschlüssig, die gepanzerten Lider klappten über den Augen auf und zu. Dann krachten wieder die Bäume, deren Rinde abgerissen wurde, und einige dünnere Gewächse wur den mit einem einzigen Ruck abgebrochen und fielen langsam um, mit den Kronen im Geäst der anderen Bäume verhakt. Der mus kulöse Hals zog den Kopf langsam zurück in die Richtung des Sees, über dem der Nebel alle Einzelheiten verhüllte und verdeckte. Die Flüchtenden wurden wieder langsa mer und versuchten, festzustellen, in welche Richtung sie jetzt flüchteten. Nach einem Marsch, der ihnen wieder einmal endlos lang erschien, konnten sie diesen Teil des gräßlichen Dschungels verlassen. Aber noch immer herrschte nur der Nebel. Außerdem sank die Sonne dem Horizont entgegen; es wurde dunkler. Sie befanden sich, nach al lem, was sie erkennen konnten, am Rand ei ner savannenähnlichen Zone, die von hohem Gras bewachsen war, aus dem sich nur ver einzelte Büsche und Bäume erhoben, die wie aufgespannte Schirme aussahen. Direkt vor ihnen brach übergangslos ein winziger Tafelberg aus dem Boden; das genaue Ab bild einer riesigen Steinmasse mit steilen Hängen und einem abgeschliffenen Plateau. »Das wäre kein übler Rastplatz!« schlug Grizzard vor. »Von unten sind wir, falls wir hinaufklettern können, gut geschützt.« »Dort, wo wir hinaufklettern können«, schränkte Razamon mißtrauisch ein und ging trotzdem auf die Steinmasse zu, »klettern auch Raubtiere hinauf.«
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»Und auf der flachen Platte greifen uns umgeben, an einer Seite stieg die Wand fast die braunen Rieseneulen an – oder andere senkrecht hoch. Raubvögel«, schloß Atlan. Von Minute zu Minute schwand die ste Der Stein wirkt verwittert. Sucht euch ei chende Helligkeit der Sonne. Der gesamte Himmel war von einer einzigen hochliegen ne Höhle! sagte der Logiksektor. Sie gingen vorsichtig näher. Ihre einzige den Wolkenschicht bedeckt, nur im Westen gab es einen breiten, offenen Streifen. Er wirkliche Waffe war die Flucht, denn mit den Steinbeilen konnten sie sich bestenfalls war eisig blau. Die Männer sahen sich zwi schen den Felsen um, fanden die Reste um gegen winzige Angreifer wehren. Atlans Augen glitten über den zerklüfteten Hang gestürzter Bäume und eine Menge Spuren. des kleinen Tafelbergs und suchten nach ei Vom Hang floß ein winziges Rinnsal eiskal ten Wassers. nem Loch, einem überhängenden Stück oder einer Möglichkeit, sich für die Nacht zu ver »Das ist genau der Platz, den wir brau bergen. Ganz plötzlich kam jetzt Bewegung chen!« bestimmte Razamon. »Man sieht un in die Nebelschwaden. Sie rissen auf und ser Feuer nicht, und der schmale Eingang ist wurden in immer größerer Menge von einem sogar gegen die Katzenjägerinnen leicht zu verteidigen.« westlichen Wind davongetrieben, der den Männern in die Gesichter blies. Die Sonne Grizzard versprach: »Ich hole einige von den Früchten, die kam für längere Abschnitte durch die Wol auch diese merkwürdigen Affen nicht um ken und brannte hart auf den Schenkeln der brachten. Sie werden uns ebenfalls keine Flüchtenden. Die Körper warfen lange Magenschmerzen verursachen.« Schatten. »Wir wandern noch immer in die »Recht so«, schaltete sich Atlan ein. richtige Richtung«, sagte Grizzard. »Aber gib acht. Wir müssen daran denken, »Erstaunlich, nach diesem Irrlauf.« »Es spricht für unsere Fähigkeiten, in der daß wir wahrscheinlich noch immer gejagt Wildnis zu überleben«, antwortete Raza werden.« mon. »Keine Sorge.« Sie sahen immer mehr von ihrer Umge Grizzard schwang beinahe heiter seine bung. Die Bäume wurden zahlreicher; die Axt und rannte in die Richtung der Baum Savanne schien nicht ganz so unwirtlich und gruppe davon. Razamon ließ sein Beutetier gefährlich zu sein wie der Dschungel. In ei fallen, und Atlan machte sich daran, nach nigen nahen Bäumen turnten affenähnliche dem er sich die gesamte Umgebung angese Tiere herum und fraßen große, rote Früchte, hen hatte, Holz zu sammeln und drei Plätze die voller Saft schienen. Die Pthorer sahen für die Nacht zu richten. Der Berserker deutlich, wie lange Tropfenbahnen aus den schaffte es selbst mit dem stumpfen Kno aufgebrochenen Schalen rannen. chendolch, das Tier aus der Decke zu schla Nahrung! wisperte der Extrasinn. gen, aufzubrechen und auszunehmen. Sorg Noch hundert Schritte, und sie hatten den fältig spießte er die Teile an sauber zuge steilen Hang erreicht. Jetzt sahen sie, daß spitzte Äste. zwischen dem Felsabsturz und der Weite des Sie waren viel zu erschöpft, um lange mit Geländes einzelne riesige Steinbrocken la einander zu sprechen. Einmal ging Atlan zu gen, vor Ewigkeiten abgesplittert und herun dem Rinnsal und trank mit gierigen tergefallen. Unschlüssig wanderten sie hin Schlucken. Sie hatten nicht einmal ein und her und entdeckten schließlich, während Trinkgefäß. Razamon kauerte vor dem spitz die Sonne mit ihrem unteren Rand die Wip kegeligen Holzstoß und schlug Feuer. Im fel des Dschungels berührte, einen kleinen, mer wieder versuchte er, das trockene Moos geschützten Platz. Er war von allen Seiten anzublasen. Schließlich leckten kleine Flam von drei und vierfach mannshohen Felsen men in die Höhe. Atlan rollte zwei große
42 Felsen vor den Spalt in der nahezu runden Masse der Felsen. Von den moosbedeckten Flanken verdampfte der Niederschlag des langen Nebels, der sicher morgen früh hier wieder herrschen würde. Ein hallendes Ge schrei bewies, daß Grizzard/xton die Pflan zenfresser aus dem Baum vertrieben hatte. Kurze Zeit später kam er mit etwa zwanzig Früchten zurück. Er hatte sie säuberlich an einer Liane aufgefädelt und legte sie auf den Stein neben das Feuer, das mit dünner Rauchsäule zu brennen begann. »Immerhin haben wir einen ganzen Tag im Dschungel überlebt«, stellte er zufrieden fest. »Übrigens: der Baum ist leicht zu be steigen. Ich werde morgen im ersten Licht versuchen, unser erstes Ziel zu finden.« »Wir sollten erst einmal diese Nacht über stehen«, gab Atlan brummig zurück. »Es wird nicht leicht sein.« »Pessimist!« Die Flammen erfaßten tatsächlich endlich die größeren Holzstücke. Mit einem zufrie denen Grinsen in seinem schmutzigen, zer furchten Gesicht stand Razamon auf und steckte das kostbare Feuerwerkzeug ein. »Wir werden nicht verhungern!« stellte er fest und kratzte eine Handvoll Sand aus dem Boden. Er ging hinüber zu dem Miniaturwasser fall und säuberte sich, so gut es ging. Inzwi schen bereitete Grizzard die Früchte zu; er entfernte die Schalen an einer Stelle, trank einen Schluck der milchigen, angenehm säu erlich schmeckenden Flüssigkeit und stellte die Frucht aufrecht zurück. »Wie lange dauert es, bis man merkt, daß man vergiftet wurde?« erkundigte er sich und sah Atlan erwartungsvoll an. Der Arko nide wußte, daß ihn der Zellaktivator vor dem Tode bewahren würde, und antwortete zurückhaltend: »Das ist ganz unterschiedlich. Tue nicht so, als ob du es nicht wüßtest, Lebo Axton!« Grizzard grinste nur und arbeitete weiter. Die Sonne versank, die Schatten ver schmolzen mit der Dunkelheit. Die Flam men des Lagerfeuers wurden kleiner, die
Hans Kneifel Menge weißer und roter Glut vergrößerte sich. Von allen Seiten bogen sich die Hölzer der Glut entgegen. Der Saft und das Fett der Bratenstücke tropften zischend und rau chend in die Glut. Ein Geruch breitete sich aus, der den erschöpften Männern das Was ser im Mund zusammenlaufen ließ. Inzwi schen waren sie, so gut es ging, sauber und erfrischt. Trotzdem beherrschte sie eine blei erne Müdigkeit. Sie schwiegen, nur ab und zu stand einer von ihnen von den Stein blöcken auf und spähte in die Finsternis. Ein einzelner Stern, dann mehrere, blinkten am Firmament. Es dauerte lange, bis sich die Augen an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Rundherum herrschte ein scheinbarer Friede. Das Tropfen und Plätschern des Wassers, das Knacken des Holzes und das Zischen des Fettes, hin und wieder ein Windstoß, der die Blätter rascheln und die Gräser knistern ließ, dann und wann ferne und leise Stim men von Tieren. In der Ferne schrie der Gi gant, der im ummauerten See hauste. »Nichts. Alles ist ruhig«, sagte Razamon, der als letzter wieder zum Feuer zurückkam. »Wer hat die erste Wache? Losen wir aus?« »Die gerechteste Möglichkeit«, bestätigte Grizzard. »Zuerst losen wir, wer den ersten Brocken bekommt. Schon gar, Razamon?« Razamon hatte das unglaubliche Kunst stück fertiggebracht, auch ohne Salz, nur mit einigen Samenteilen von unbekannten, aber wohlriechenden Pflanzen die Fleischstücke saftig, mit brauner Kruste und wohl schmeckend zu machen. Auf seine Frage, ob er etwas von der Frucht spürte, verneinte Grizzard. »Also dann!« sagte Atlan und spießte einen Fleischbrocken auf die Spitze seines Knochendolches. »Auf einen ungestörten Schlaf, einen vollen Magen und einen erleb nisarmen Tag.« Mit Heißhunger aßen sie das Fleisch, tranken den Saft der harten Früchte und aßen deren Fleisch. Zuerst blieben sie vor sichtig, aber als sich keinerlei der befürchte
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ten Gefühle der Übelkeit einstellten, aßen sie ruhig weiter. Razamon hob eine der geköpften, nußarti gen Früchte hoch und schwenkte sie. Er gähnte ausdauernd und murmelte: »Auf ein baldiges Treffen mit Elcoy. Sie kennt und weiß sicherlich mehr vom Dschungel als wir.« »Darauf«, sagte der Arkonide und angelte ein neues Fleischstück vom Feuer, »daß ich nicht die erste Wache habe.« Sie waren so müde, daß sie nicht einmal lachen konnten. Bis auf einen kleinen Rest aßen sie das Fleisch auf und ließen noch ein paar der Früchte übrig. Die harten Schalen ergaben eine intensive Glut, in die sich un aufhörlich Schwärme von kleinen und ein zelne, wild flatternde Exemplare von großen Insekten stürzten. Dann schnitzte Razamon drei verschieden lange Stäbe, und Grizzard verbarg sie in der Hand. Atlan zog das kürzeste der drei Stäbchen. Er konnte sich nicht einmal darüber ärgern. Als das Feuer etwas heruntergebrannt war und die beiden Männer sich auf ihrer Unter lage aus Laub, Moos und losem Sand aus streckten, kletterte er auf einen der Fels blöcke hinauf, suchte sich eine bequeme Stelle und lehnte sich mit dem Rücken ge gen den feuchten Stein. Hinter ihm war nur ein schwacher Halb kreis von vager Helligkeit als das Zeichen, daß sich hier die drei Ausgesetzten verbar gen. Mit brennenden Augen versuchte Atlan, die Dunkelheit zu durchdringen. Etwa vier Stunden lang mußte er hier ge gen den Schlaf und die Erschöpfung an kämpfen.
6. Razamon rüttelte ihn an der Schulter und weckte ihn. Ob er tatsächlich etwa acht Stunden geschlafen hatte, konnte Atlan nicht sagen. Ihm kam es vor, als sei er eben einge schlafen. Der erste Blick in das Gesicht des Kampfgefährten beruhigte ihn, ehe er an
Überfall oder Angriff denken konnte. »Es ist hell. Die Tiere schreien. Wir ha ben diese Nacht überlebt«, sagte Razamon ruhig. Er hatte die letzte Wache gehabt. At lan richtete sich auf und massierte seinen Nacken. Ihm war, als habe er auf spitzem Schotter gelegen. »Unglaublich«, murmelte er und gähnte. »Keine Mavinen-Kommandos?« »Absolut nichts. Nur Tiere, so groß wie Löwen, die fast außerhalb des Gesichtsfelds zu sehen waren. Du kannst, solange es noch keinen Nebel gibt, deinen Rundblick genie ßen, Grizzard.« Grizzard sägte einer Frucht die Schale auf und trank den Saft bis zum letzten Tropfen. Er stand auf und half Atlan auf die Beine. »Ich gehe schon.« Ein für Dorkh offensichtlich völlig unge wohnter Anblick – jedenfalls für die Männer von Pthor – bot sich ihnen. Der intensiv blaue Himmel war völlig frei; es gab nicht die Spur einer Wolke. Die Sonne verbarg sich noch hinter dem Dschungel. Aber die Steppe zwischen Waldrand und Tafelberg war lichterfüllt. Kleine Tiere mit nassen Fel len rannten durch die hohen Gräser. Die Spur, die von den Flüchtenden gezogen wor den war, existierte nicht mehr; die Halme hatten sich wieder aufgerichtet. Über dem Gras sahen sie den Oberkörper Grizzards. Der Körper, der einen fremden Intellekt und ein anderes Ich trug, bewegte sich auf die untersten Äste eines der Bäume zu. Dann sahen sie, wie er sich hochzog und zu klettern anfing. »Essen wir«, sagte Atlan. »Vielleicht müssen wir heute etwas weniger oft rennen und flüchten.« »Einverstanden.« Sie ließen Grizzard ein Drittel der Vorräte übrig, nahmen ihre Waffen auf und gingen ihm entgegen. Er befand sich noch immer in der Krone des Baumes und scheuchte einen Schwarm Vögel auf, der die Bäume umkrei ste und umflatterte. Aus dem dichten Gras, das den freien Raum zwischen den Buschinseln und Baum
44 gruppen ausfüllte, stiegen Myriaden Insek ten auf. Sie schienen, wenigstens bis jetzt, zwar lästig, aber nicht bösartig oder wütend zu sein und bildeten dichte Wolken um die Schultern und Köpfe der Männer. »Ich nehme an«, meinte Atlan zögernd und sicherte nach allen Seiten, »daß wir bald den Rand des Gebirges oder den Treffpunkt erreichen. Nach allem, was wir darüber wis sen, liegt er nicht weit vom Ausgang aus dem Höhlensystem entfernt. Elcoy sagte ja, daß es von unserer eigenen Tüchtigkeit ab hängt, wie lange wir dazu brauchen wer den.« Razamon lachte kehlig und wurde schlag artig wieder ernst. »Ich rechne auch nicht damit, daß wir noch lange brauchen. Immerhin sind wir ge stern seit Sonnenaufgang ununterbrochen gerannt. Vielleicht noch heute und morgen, dann sollten wir Elcoy treffen. Was mich viel mehr beunruhigt, ist der Umstand, daß wir über Waffen verfügen, um einen Hasen, und zwar einen lahmen, zu erlegen – nicht mehr. Irgendwie müssen wir uns besser aus rüsten. Und unsere Lumpen werden späte stens heute abend restlos zerschlissen sein.« »Wir sind einer Meinung«, gab Atlan zu rück. »Aber wir werden uns bestenfalls einen Umhang aus Blättern machen können. Wie willst du Leder oder Ähnliches finden und verarbeiten?« Razamon wußte, daß Atlan recht hatte. Er schwieg und dachte nach. Inzwischen waren sie unter den letzten Zweigen der großen, untersten Äste des ersten Baumes angelangt. Die geflüchteten Tiere, affenähnlich, mit ge gabelten Greifschwänzen und sechs überlan gen Armen, kamen langsam, neugierig ge worden, an ihre Stammplätze zurück. Raza mon schrie in die Baumkrone hinauf: »Geht es dir gut dort oben? Bessere Sicht? Hast du den Treffpunkt ausmachen können?« »Ja!« »Müssen wir noch lange warten, oder pflückst du unseren Reisevorrat?« »Ich komme schon.«
Hans Kneifel Mehrere Bündel der nahrhaften Früchte fielen krachend durch Blätter und polterten über Äste. Atlan und Razamon klaubten sie auf und hängten sie sich an die Gürtel und über die Schultern. Dann turnte Grizzard ge schickt abwärts und sprang federnd neben ihnen zwischen den Wurzeln zu Boden. »Und …?« fragte Atlan. Grizzard hob die Schultern und erwiderte: »In einer beträchtlichen Entfernung gibt es eine niedrige Bergkette. Sie kann ebenso gut dreißig Kilometer entfernt sein oder dop pelt so viel. Es hängt von den Luftverhält nissen ab. Aber die Steppe geht nach etwa fünfundzwanzig Kilometern in ein niedriges Hügelgebiet über.« »In dem sich auch ›unser‹ Hügel befin det?« Grizzard nickte und köpfte eine Frucht. Er trank in langen Schlucken und wischte mit dem Handrücken über den Mund. »Ich bin ganz sicher. Dahinter, deutlich im Sonnenlicht zu sehen, gibt es die erwähn ten deutlichen Einschnitte in der Bergkette. Es ist ein einzelner Hügel, offensichtlich be waldet. Der riesige Baum sieht aus wie eine Kugel auf einer Säule. Er ist ein Zeichen, das man weithin sieht. Von einer Ruine oder einem Tempel oder irgendeinem anderen Bauwerk habe ich nichts gesehen. Das war's, Freunde – danke, daß du den letzten Braten nicht selbst verschlungen hast, Razzie!« Razamon grinste säuerlich. »Ich höre diesen Kosenamen höchst un gern«, murmelte er. »Können wir gehen? Vielleicht schaffen wir es heute noch?« »Worauf warten wir?« Der Himmel bewölkte sich zusehends, aber noch war kein Nebel aufgekommen. Die Strahlen der aufgehenden Sonne stachen in den Nacken und brannten auf Rücken und Schultern. Die drei Männer gingen hinter einander und warfen einen einzigen langen, sechsarmigen Schatten. Noch herrschte die Kühle des Morgens. Und noch immer um tanzten riesige Mückenschwärme die Köpfe. Obwohl das Gras stellenweise mannshoch war, kamen sie einigermaßen schnell vor
Land ohne Sonne wärts. Im Moment führte Razamon. Er hatte sich mit einem Ast bewaffnet und schlug da mit die Gräser zur Seite; er befürchtete, daß sich Schlangen oder giftige kleine Tiere zwi schen den Halmen verbargen. Tautropfen glänzten und funkelten an den Spitzen der grünen und braunen Halme. Im Sonnenlicht flirrten sie wie Edelsteine. Wie der waren die Flüchtenden nach hundert Schritten naß und begannen im ersten Mor genwind zu frösteln. Sie kamen rechts an dem Tafelberg vorbei, in dessen Schutz sie geschlafen hatten. Er war nicht länger als tausend Meter, und nach Westen fiel er ter rassenförmig ab. Gruppen großer Bäume wechselten entlang des Weges mit halbku geligen, aneinandergeduckten Büschen ab. Aus den Büschen erhoben sich große Vögel mit sichelförmigen Schwingen, die keine Ähnlichkeit mit den Rieseneulen hatten. Sie kümmerten sich nicht um die drei Wanderer und strichen nach Norden ab. Etwa drei Stunden lang bahnten sich die Männer ihren Weg nach Westen durch das Gras, die zähen Ranken darunter und ent lang jener dunklen Buschinseln. Sie spra chen kaum miteinander – einerseits waren sie noch zu erschöpft und nicht genug aus geruht, andererseits beschäftigte sie der Ver such voranzukommen viel zu sehr. In dieser Zeit bedeckte sich der Himmel wieder fast vollständig. Zunächst zog von Westen eine Kette Wolken herauf, verband sich mitein ander und bildete einen hochliegenden Ne bel. Er senkte sich mehr und mehr und ver hüllte wieder die Sonne. Als sich die Män ner umdrehten, konnten sie weder den Dschungelrand noch den Tafelberg erken nen, auch die Bergkette war längst ver schwunden und ebenso der einsame Baum auf dem Hügel. Sie orientierten sich jetzt wieder an ihrer eigenen Spur und versuch ten, sie so gerade wie möglich zu halten. Trotzdem hatte der Nebel noch nicht den Boden erreicht. Einzelne Windstöße fuhren über die Sa vanne dahin, bewegten die Gräser in langen Wellen und bewegten den Nebel.
45 Im Gegensatz zum Dschungel schien die Savanne eine Zone relativer Ruhe zu sein. Insekten, kleine und große Vögel flatterten und schwebten durch die Luft, hin und wie der zog vor oder hinter den Männern eine kleine Herde Tiere durch das Gras, langsam äsend, nicht angreifend und von keinem an deren Tier angegriffen. Die Gräser wurden, nachdem die Pthorer noch etwa eine Stunde in gutem Tempo zu rückgelegt hatten, härter und niedriger. Unter den zerschlissenen Sohlen war jetzt kein Erdreich mehr. Kleine Steine mischten sich unter den trockenen Lehm. Dann breite te sich ein ausgesprochen flaches Flußbett vor den Wanderern aus, übersät von großen weißen Kieseln, von einzelnen Holzstücken, die Regen und Sonne weiß gebleicht hatten, Teilen von Skeletten und riesigen Schädeln mit Gehörn oder mächtigen Gebissen. Der nächste Windstoß trug in dem Moment, als Razamon das Flußbett betrat, einen seltsa men Gegenstand herbei. Er sah aus wie ein riesiges Tuch von silbergrauer Farbe, an den Rändern zerfasert und ausgebeult. Der Fet zen rollte sich in der Luft zusammen, über schlug sich, breitete sich wieder aus und se gelte in wellenförmigen Bewegungen lang sam herunter in die flache Kiesebene. »Das sollten wir uns genauer ansehen!« rief Atlan von hinten. Razamon lief bereits neugierig darauf zu. Ein neuer Windstoß hob das Ding halb hoch und erzeugte Luft blasen darunter. »Woher kommt es? Was hat das zu be deuten?« fragte sich Grizzard laut. »Irgendwie paßt das nicht zu dieser Land schaft.« »Es kommt aus Westen«, rief Razamon. »Es sieht aus wie Stoff. Ich ahne, daß wir vielleicht unser Bekleidungsproblem lösen können, Atlan.« Sie erreichten den Fleck. Er entpuppte sich als Material, das wie ein dicker Stoff wirkte. Die eine Seite war genarbt wie Le der, die andere stumpf, aber weich wie eine Art Wildleder oder hochwertiges Kunstle der. Eine gewisse Zellenstruktur war unver
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kennbar. Die Männer zerrten daran, versuch er vor uns haben. Machen wir die Dinger so ten es mit den Spitzen der Messer zu zertei hoch und dauerhaft wie möglich; es wird un len; das weiche Material ließ sich eine Klei ser Vorteil sein.« nigkeit verformen, konnte aber nicht zerstört Sie schnitten halbe Stiefel aus, die bis an werden. die Knie reichten, klebten die beiden Hälften Wenn es künstlich ist, hilft vielleicht Hit zusammen und schnitten mehrere Sohlen ze. Feuer! meldete sich der Logiksektor. aus, die einerseits an die unten offenen Röh Fast gleichzeitig wechselten die Männer ren, andererseits mehrfach übereinander ge lange Blicke. Sie hatten möglicherweise die klebt wurden. Das Material erkaltete schnell richtige Idee. und wurde in der Nähe der Flammen geglät »Ich werde ein Feuerchen machen«, tet und schmorend geformt. Als Atlan in das schlug Razamon vor. »Ich glaube nicht, daß erste Paar hineinschlüpfte und Probeschritte es auf Dorkh Kunststoffe gibt. Aber mögli machte, lachte er breit. cherweise können wir mit Hitze etwas errei »Es war buchstäblich ein Geschenk des chen.« Himmels«, rief er. »Ausgezeichnet. Und da »Ich hatte dieselbe Idee«, sagte Atlan. es durch den Nebel geflogen kam, ist es si »An die Arbeit. Ich hole Holz.« cher auch wasserfest.« Binnen kurzer Zeit brannte ein kleines Am frühen Nachmittag, dem Stand der Feuer. Als sie ein brennendes Scheit an den durch den Nebel scheinenden Sonne nach zu Rand des Materials heranbrachten und dicht urteilen, waren sie fertig und neu ausgerü über die Oberfläche fuhren, ließ sich der stet. Als letztes schnitten sie drei breite Stoff entlang einer schmorenden Naht zer Stoffstreifen, die zusammengerollt Gürtel reißen und verformen. ergaben, in denen man Kleinigkeiten einrol Razamon nickte und sagte: len konnte. Sie verknoteten die Gürtel, »Wir sollten es versuchen! Schließlich steckten Messer, Feuerwerkzeug und Beile wollen wir keinen Schönheitspreis mit unse hinein und warfen die Reste der letzten rer neuen Kleidung gewinnen.« Früchte weg. Zuerst »schnitten« sie einen Poncho her »Weiter zu Elcoys Baum!« sagte Atlan. aus, ein kreisförmiges Stück Stoff mit einem »Wir haben wieder einmal Glück gehabt.« Loch für den Kopf im Zentrum, das gering Die Kleidung schützte sie viel besser. Die dicken Sohlen federten und schluckten die fügig umgeformt wurde, so daß es längere meisten Unebenheiten des steinigen Bodens, Ärmel hatte. Als sich Grizzard den Poncho über den Kopf zog, sahen sie, daß ihr Ver als sie das Flußbett überquerten. Wieder zog fahren funktionierte: das Kleidungsstück vor ihnen ein Gewitter auf. Blitze schlugen hing locker, war nicht schwer und trug sich irgendwo dort ein, wo die Ebene in die er angenehm. Sie arbeiteten weiter, und mit je sten Hügel überging. Die Sicht dorthin war von den dichten Wänden des Regens ver der Minute bekamen sie mehr Erfahrung. Die Ponchos für Atlan und Razamon waren sperrt. vergleichsweise sogar leichter und besser. Am frühen Nachmittag kletterte Grizzard Dann wagten sie sich an die Hosen, die wieder auf einen Baum und warf Früchte ein wenig unförmig ausfielen. Das rätselhaf herunter, von denen sie wußten, daß sie un te Material ließ sich mit Hilfe von mehr Hit giftig und nahrhaft waren. Gewitter und Re ze sogar zusammenkleben. Die meiste Ar gen kamen näher, die ersten Nebelschleier beit verursachten, als sie sich umgezogen tauchten wie aus dem Nichts auf und verdü und ihre alten Lumpen ins Feuer geworfen sterten die Landschaft, die sich wieder zu hatten, die Stiefel. ändern begann. Aus der Savanne wurde »Wir sind alle sicher«, meinte Razamon, während der nächsten Stunde ein Gebiet, das sich aus kleinen Tälern, sanften Hängen und »daß wir noch einige Märsche und Abenteu-
Land ohne Sonne Mischwald zusammensetzte, dessen Bäume sich unter der Gewalt des Regensturmes bo gen und schüttelten. Vornübergebeugt kämpften sich Grizzard, Razamon und Atlan durch die wütend prasselnden Schauer. Der Wind trug über ihren Köpfen wieder einen solchen Fetzen lederartiger Folie vorbei, knäuelte ihn zusammen und riß ihn weiter nach Osten. Blind und halb durchnäßt stolperten sie weiter. Blitze schlugen rund um sie ein und der Donner machte sie halb taub. Die strah lende Helligkeit zeigte ihnen jedesmal einen anderen Ausschnitt der Umgebung. Schließ lich glaubten sie, direkt vor ihnen, nicht mehr als zwei oder drei Kilometer entfernt, den charakteristischen Baum erkannt zu ha ben. Sie waren halb blind darauf zugerannt. »Wir haben es gleich geschafft!« brüllte Atlan. »In den Ruinen sind wir vor dem Re gen sicher.« Sie stapften durch einen Hohlweg, der von stürzenden Wassermassen geschaffen worden war. Eine Lichtung schloß sich an, voller Tierknochen und von Spuren aufge wühlt und zerstampft. Dann ging es einige hundert Schritt durch einen triefenden Wald, dessen Boden völlig frei war von größeren Gewächsen. Nur ekelerregende giftgelbe Pilze wuchsen hier, mit schleimigen Fäden, in denen sich Insekten gefangen hatten. Eine Barriere aus niedrigen Büschen folgte, deren Blätter scharf wie Messer waren. Schließlich traten die Bäume auseinander, und im Schein des nächsten Blitzes sahen sie einen Hang, an dessen oberem Ende der Riesen baum stand. Daneben glänzten im Regen Steinquadern, in deren Ritzen kleine Sträu cher wuchsen. Eine kaum mehr kenntliche Treppe oder Rampe wand sich den Hang hoch. Zögernd betraten sie die erste der ge borstenen, überwucherten Stufen. Das näch ste Aufflackern zeigte ihnen zwei weiße Ma vinen-Katzenwesen, die zwischen Steinen und kantigen Säulen hin und her huschten wie hungrige Raubtiere. »Elcoy und Alzei!« sagte Razamon ent schlossen. »Wir haben es geschafft.«
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Langsam gingen sie die Treppe aufwärts. Sie hielten die Steinäxte in den Händen und waren noch immer nicht sicher, ob sie nicht in eine Falle der Jagdkommandos liefen. Plötzlich, als die Jägerinnen die Männer sa hen, stürzten sie hinaus in den wütenden Re gen und begannen, mit beiden Armen wie wild zu winken. Noch zwanzig Stufen, und schließlich standen sich die beiden Gruppen gegenüber. Elcoy sagte erleichtert, soweit dies die Flüchtenden feststellen konnten: »Ich bin froh, daß ihr gekommen seid. Ich habe tausend Ängste ausgestanden. Wenn nicht Alzei mich beschützt hätte, würde mich der Blutdschungel verschlungen ha ben!« Atlans Extrasinn flüsterte stechend: Blutdschungel? Denke an Pthor, Arkoni de! Razamon beherrschte dieselbe Überle gung. Die Schrecken des so genannten Blutdschungels auf Pthor standen denen von Dorkh in nichts nach. Nach einem prüfenden Blick auf die bis zur Unkenntlichkeit über wucherten und zusammengebrochenen Mau ern, Türme, Säulen und Traversen traten die drei Ausgesetzten in den Schutz des großen Baumes. Der Wind tobte und zerrte an ih nen. »Auch uns hätte der Blutdschungel mehr mals fast getötet. Wir haben überlebt. Wir sind auch den Mavinen entkommen«, sagte er. »Und als Gegenleistung für unsere Dien ste als Leibwache verlangen wir, daß du uns alles, aber auch alles berichtest, was du über Dorkh weißt, Exkönigin Elcoy!« Die Mavine stimmte zu. Sowohl ihre Leibwache als auch die Zeitkönigin trugen die deutlichen Spuren der Kämpfe und eines Gewaltmarsches. »Auf dem Weg nach Tarthor, der Verän derlichen Stadt der Snorv-Geister, werde ich euch alles sagen. Diese Nacht sollten wir im Schutz der alten Mauern schlafen und uns vorbereiten. Wir haben Essen herbeige schafft. Meine … die Mavinen-Jägerinnen jagen nachts nicht, und überdies kontrollie
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ren sie nur zwei Tagesmärsche im Durchmesser das Land.« Elcoy deutete auf die Ruine, und die Ausgesetzten folgten ihnen. Falls Tolfex, der Koordinator der Ewigkeit, sie tatsächlich auf einen Stern der Läuterung gebracht haben sollte, hatten sie erst einen Bruchteil der
Wunder, Abenteuer und Schrecken miter lebt. Atlan schüttelte sich, als er daran dachte.
ENDE
Weiter geht es in Atlan Band 445 von König von Atlantis mit:
Der Dschungel von Dorkh
von Hans Kneifel