Nr. 444
Land ohne Sonne Ausgesetzt im Land der Marvinen von Hans Kneifel
Nachdem der Dimensionsfahrstuhl Atlantis-Pth...
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Nr. 444
Land ohne Sonne Ausgesetzt im Land der Marvinen von Hans Kneifel
Nachdem der Dimensionsfahrstuhl Atlantis-Pthor im Randgebiet der Schwarzen Galaxis zum Stillstand gekommen war, hatte Atlan, wie erinnerlich, die Flucht nach vorn ergriffen. Zusammen mit Thalia, der Odinstochter, flog er ins Marantroner-Revier, das von Chirmor Flog, einem Neffen des Dunklen Oheims, beherrscht wurde. Dort, von Planet zu Planet eilend und die Geheimnisse der Schwarzen Galaxis ausspähend, bestanden Atlan und seine Gefährtin so manche tödliche Gefahr gemeinsam – bis der Planet Dykoor zu Thalias Grab wurde. Nun, nach einer wahrhaft kosmisch anmutenden Odyssee, die Atlan letztlich mit seinen Freunden Razamon und Axton/Kennon zusammenführte und ihn sogar für kurze Zeit zurück nach Pthor gelangen ließ, befinden sich der Arkonide und seine Gefährten in der Gewalt von Duuhl Larx, dem Herrscher über das Rghul-Revier. Der Neffe des Dunklen Oheims scheint besondere Ziele mit seinen Gefangenen zu verfolgen. Denn eines Tages werden die Männer durch ein Gas betäubt, in ein Raumschiff verladen und an einen unbekannten Ort gebracht. Dieser Ort ist das LAND OHNE SONNE …
Land ohne Sonne
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Die Hautpersonen des Romans: Atlan, Razamon und Axton/Grizzard - Die drei Pthorer werden an einem unbekannten Ort ausgesetzt. Elcoy - Königin der Mavinen. Alzei - Leibwächterin der Königin.
1. Das Innere der Kerkerzelle wurde von düsterem Licht überflutet. Die Decke bestand aus einem Metallraster, dessen Spitzen dunkelrot glühten. Die Gefangenen waren zu müde, um sich davon sonderlich beeindrucken zu lassen. Ein Zischen ertönte aus der Wand, eine Klappe fuhr mit aufdringlichem Geräusch zur Seite. Das Licht zeigte drei Näpfe, in denen Löffel mit stumpfen Griffen staken. Atlan deutete mit dem Daumen darauf und sagte mürrisch: »Frühstück! Kann aber auch das Mittagessen sein.« »Oder das Abendessen«, murmelte Razamon und fuhr mit den Fingern durch sein schwarzes Haar. »Immerhin will uns der Neffe nicht verhungern lassen.« »Wir werden wohl noch gebraucht!« sagte Axton in Grizzards Körper. »Vermutlich. Hier, deine Ration.« Atlan verteilte die Näpfe. Lustlos fingen sie zu essen an. Sie waren bereits längere Zeit in diesem Gefängnis auf Cagendar, in das sie Duuhl Larx hatte bringen lassen. Atlan lehnte sich an die Metallwand und knurrte: »Die Chancen, von hier zu entkommen, sind mehr als dürftig, meine Freunde!« »Allerdings. Wir haben nicht einmal jemanden zu Gesicht bekommen, den wir hätten überwältigen können.« Auf der Innenseite der Zellentür gab es weder Riegel noch Schlösser. Boden und Wände bestanden aus anscheinend schweren Metallplatten. Seit dem Moment, als sich Pthor wieder in Bewegung gesetzt und Duuhl Larx das Todesurteil an Atlan und den beiden anderen verschoben hatte, hatten die Gefangenen keine einzige echte Chance ge-
sehen. Auch nicht während des Fluges mit der MARSAPIEN, und schon gar nicht auf dem Weg hierher. »Ob sie etwas Besonderes mit uns vorhaben? Kämpfe? Befragungen …?« wollte Axton/Grizzard wissen. Razamon schob die Schultern nach vorn und stellte den leeren Napf zurück in die Essensschleuse. »Jedenfalls erwartet uns ganz sicher kein heiteres Schicksal«, sagte Atlan. »Auch Larx ist von Befehlen und Anordnungen abhängig, wie wir am eigenen Leib erfahren haben.« Sie kratzten die letzten Reste des trostlos schmeckenden Nahrungsbreies aus den Näpfen und stellten sie zurück. Sofort zischte die Metallplatte wieder zurück. Razamon zog die Beine hoch und streckte sich auf der harten Pritsche aus. Er verschränkte die Arme im Nacken und brummte: »Leider haben wir keine Möglichkeiten. Nur unsere Finger und unseren Verstand. Beides reicht hier offensichtlich nicht aus.« »Wie wahr!« pflichtete ihm Axton bei. Atlan und Razamon warfen sich einen bestürzten Blick zu. Sie hatten ein feines, gefährliches Geräusch gehört. Das Geräusch wurde lauter und intensiver. Es war ein stechendes, scharfes Zischen. Atlan sagte alarmiert: »Unsichtbare Düsen! Sie fluten die Zelle mit Gas.« Die Gefangenen sprangen auf. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Sie rochen bereits das Gas. »Wir werden lautlos umgebracht!« stöhnte Razamon und sprang zur Tür. Er hämmerte mit beiden Fäusten dagegen, aber er mußte wissen, daß auch diese Geste absolut sinnlos bleiben würde. Atlan sah,
4 wie AxtonGrizzard taumelte und halb bewußtlos über die Pritsche fiel. Razamon versuchte, ebenfalls ohne Sinn, die Luft anzuhalten, aber er begann zu taumeln. Atlans Logiksektor sagte: Wenn sie euch umbringen wollten, gäbe es andere Möglichkeiten. Etwas besonderes geht hier vor. Razamon taumelte. Er versuchte, sich an der glatten Wand festzuhalten und rutschte langsam daran herunter. Atlan spürte in den Lungen das süßlich schmeckende Gas und fühlte, wie sich seine Sinne verwirrten. Auch er fing zu taumeln an und fiel schwer gegen die Wand. Das Zischen wurde zum alles überlagernden Geräusch, es schien die Zelle auszufüllen. Atlan hörte nicht einmal mehr seine eigenen qualvollen Atemzüge. Er schlug schwer auf die Pritsche. Seine Augen schlossen sich, und nach einem letzten würgenden Atemzug wurde er bewußtlos. Einige Sekunden später merkte der Arkonide, daß einige seiner Sinne wieder zu arbeiten schienen. Undeutlich hörte er, wie das Zischen leiser wurde und schließlich aufhörte. Dann breitete sich eine unheilvolle Stille aus. Atlan blieb bewegungslos liegen; als er versuchte, sich zu bewegen, mußte er merken, daß ihm weder Nerven noch Muskeln gehorchten. Er glaubte, Tritte und rauhe Kommandos zu hören, dazwischen die Klänge einer fremdartigen Musik, unterbrochen von dröhnenden Gongschlägen. Verursachte das Gas einen Rauschzustand vor dem unausweichlichen Tod? Irgend etwas raschelte. Atlan blinzelte und nahm schattenhafte Bewegungen wahr. Zum Teil spiegelten sich die Geschehnisse in den metallenen Wänden. Einige Gestalten drangen in die Zelle ein. Sie trugen irgendwelche Bündel. Wieder verschwammen Geräusche und Bewegungen vor Atlan, obwohl er sich anstrengte, die Vorgänge irgendwie festzuhalten. Er hatte starke Halluzinationen und konnte Wirklichkeit und Rausch nicht mehr voneinander trennen. Aber er merkte,
Hans Kneifel daß man sich an seinem Körper zu schaffen machte. Gestalten, die er nicht genau erkennen konnte, rissen den Gefangenen die Kleidung von den Körpern. Ihnen wurden irgendwelche alten Lumpen angezogen. Dann wurden die Körper hochgehoben und auf schwebende Bahren geworfen. Wieder verlor Atlan das Bewußtsein und tauchte in einen neuen Traum ein. Er schwitzte und fror abwechselnd und hörte Klänge und Geräusche, die es offensichtlich nicht gab. Die Bahren schwebten durch Dunkel und Helligkeit, schwebten aufwärts und abwärts und stießen hart und krachend irgendwo an. Wieder drangen unbegreifliche Geräusche auf Atlan ein. Er war noch immer nicht in der Lage, seine Muskeln zu bewegen. Er spürte, daß plötzlich eine andere Umwelt ihn umgab. Diese neue Umgebung schwankte und veränderte ihre Schwerkraftverhältnisse unausgesetzt. Ein Gleiter? Ein Transportfahrzeug? Auch der Extrasinn meldete sich nicht mehr. Eine Stimme sprach mehrmals dieselben Worte, die wie ein gewaltiges Echo in Atlans Erinnerung hallten. Ein Name tauchte in dem wilden Traum auf. Tolfex? Ehe Atlan diesen Gedanken stärker fassen konnte, verlor er wieder das Bewußtsein. Als er erneut wach wurde, wußte er nicht, ob Sekunden oder Stunden vergangen waren. Ein kalter Wind traf sein Gesicht. Tolfex, falls er dessen Stimme wirklich gehört hatte, war ein Koordinator der Ewigkeit. Das ließ schlimmste Befürchtungen zu, aber auch darin gab es nicht die geringste Sicherheit. Wieder schloß sich eine Periode an, in der die Bahre mit Atlan darauf durch ein Universum aus unbekannten Klängen, dröhnenden Geräuschen und ununterbrochen wechselnden Lichteindrücken schwebte. Eine Illusion blitzte auf: Drei Bahren schwebten durch die Schleuse eines kleinen Raumschiffs.
Land ohne Sonne
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Wenn Tolfex seine Hände im Spiel haben sollte, war einer der letzten Gedanken Atlans, dann konnte diese Irrfahrt durch einen schrecklichen Wachtraum nur bedeuten, daß man seine Freunde und ihn zu einem »Stern der Läuterung« bringen würde – ein Schicksal, dessen Schrecklichkeit jede Vorstellung überstieg. Wieder schwanden Atlans Sinne. Der letzte Gedanke, dessen er noch fähig war, schilderte ihm eine Zukunft voller Grauen und Entsetzen.
2. Das rauschende Plätschern oder Tropfen war und blieb ein eintöniges Geräusch. Es herrschte tiefes Dunkel. Nicht einmal ein Lichtschimmer traf die Stelle zwischen den Felsen. Dicke Moospolster hatten die Nässe in sich aufgesogen; das Wasser des unaufhörlichen Regens lief über die weißgewaschenen Kiesel. Der Regen schlug gegen die Flanken der Felsen, sammelte sich in schmalen Rinnsalen und lief in den groben Sand. Das Tropfen und Rauschen wurde unterbrochen. Ein langgezogenes Stöhnen ertönte, dann ein Ächzen. In der Finsternis hörte man ein Tappen und Schlurfen. Eine rauhe Stimme fragte: »Stöhnst du, Razamon? Oder ist es Atlan?« Niemand antwortete. Als sich ein Körper aufrichtete, wurde das Regenwasser aus dem Moos gepreßt und lief über das Gesicht eines der drei Wesen, die hier lagen. Ein wütender Hustenanfall war zu hören. Dann röchelte jemand: »Wo sind wir?« Es war unverkennbar die Stimme des Berserkers. Er hob einen Arm und tastete um sich. Schließlich packte er eine Hand. »Keine Ahnung, wo wir sind. Es regnet, und es ist stockdunkel.« »Habe ich dich eben berührt?« keuchte Razamon und spie aus. »Nein.« »Dann liegt Atlan neben mir. Hilf mir.
Orientiere dich an meiner Stimme, dann weißt du die Richtung.« »Verstanden – ich komme.« Razamon und Grizzard/Axton krochen aufeinander zu. Razamon trat auf Atlans linke Hand, als er sich dorthin vortastete, wo er die Stimme Grizzards gehört hatte. Atlan riß die Hand weg und fluchte. »Er ist wach!« stellte Razamon fest. »Atlan! Hörst du mich?« »Ja«, keuchte Atlan. »Wo sind wir?« »Wenn ich das wüßte«, gab Razamon zurück. Sie richteten sich auf und taumelten aufeinander zu. Nach einigen Schritten stießen sie zusammen und hielten sich aneinander fest. Zwar spürten sie die Nähe des anderen, aber sie sahen noch immer nichts. Der Regen lief durch ihr Haar, über ihr Gesicht und in den Nacken. Atlan ließ die Schulter Razamons los und sagte langsam, fast stoßweise: »Zuletzt waren wir in dieser Zelle auf Cagendar. Dann ließen sie Gas einströmen und machten uns bewußtlos. Bis zu diesem Punkt habe ich alles mitbekommen. Dann folgen in meiner Erinnerung nichts als wirre Bilder.« Grizzard meinte: »Hier riecht es ganz anders als auf Cagendar. Ich bin sicher, daß wir uns auf einem anderen Planeten befinden.« »Da wäre ich nicht so sicher«, murmelte Razamon und wischte sich das Wasser aus dem Gesicht. »Es stinkt nach verfaulten Pflanzen, das ist der Unterschied.« Sie lehnten sich gegen den nassen Felsen. In ihren Mägen erzeugte der Hunger ein nagendes Stechen. Die Schwerkraftverhältnisse ihrer neuen Umwelt schienen so gut wie identisch mit denen von Cagendar zu sein. Razamon sagte knurrend: »Immerhin wächst hier so etwas wie Moos. Das bedeutet, daß es Licht geben muß, sonst findet keine Photosynthese statt.« »Das bedeutet, daß es Nacht ist«, murmelte Atlan. »Jeder Schritt kann uns umbringen.
6 Es ist am sichersten, wenn wir hier stehenbleiben.« »Ein vernünftiger Vorschlag«, meinte Grizzard. Atlan tastete über seine Kleidung. Als seine Finger den Stoffgürtel erreichten, spürte er etwas Hartes. Er zog daran und ertastete eine Art Patrone oder Kapsel. Vorsichtig zog er sie heraus und hob sie hoch. Zwischen seinen Fingern sprang der Verschluß sirrend ab und klirrte auf den Steinen zu Atlans Füßen. »Was war das?« wollte Razamon wissen. »Einen Moment. Irgendeine Kapsel …«, sagte Atlan leise und zog aus dem Röhrchen ein Stück breites Kunststoffband hervor oder etwas, das sich unter den nassen Fingerspitzen so anfühlte. Augenblicklich erschienen darauf leuchtende Buchstaben, in Gonex geschrieben. Atlan murmelte verblüfft, während er Buchstabe um Buchstabe enträtselte: »Pthor habe ich verloren … ihr könnt euch rehabilitieren, wenn ihr Dorkh für mich gewinnt …« »Was murmelst du?« Atlan wiederholte den Text. Noch während er zum zweitenmal las, flammte der Streifen auf und zerfiel zu Asche. Auch die Patrone glühte auf, versengte die Finger des Arkoniden und zerschmolz spurlos im Moos. »Zumindest klingt es nicht wie ein Todesurteil«, stellte Razamon fest. »Ein schwacher Hoffnungsschimmer.« »Trotzdem ist es mehr als rätselhaft. Wer hat das geschrieben? Wer oder was ist Dorkh? Falls die Botschaft von Larx stammt, was erwartet er sich ausgerechnet von uns Ausgesetzten?« fragte sich Atlan laut. »Du stellst Fragen, die niemand beantworten kann«, meinte Razamon. »Niemand von uns dreien!« korrigierte Axton/Grizzard. Die Ausgesetzten tasteten um sich, lehnten sich dann nebeneinander gegen den Felsen und sagten sich, daß es tatsächlich vernünftiger war, auf den Morgen
Hans Kneifel zu warten, anstatt sich der Gefahr auszusetzen, hier abzustürzen. Nach einer Weile – es regnete ununterbrochen weiter, und die Männer froren noch mehr – sagte der Berserker grimmig: »Wir sollen also, vermutlich für Duuhl Larx, etwas erreichen. Aber wir sind für jede Art von Eroberung schlecht ausgerüstet. Wir haben keinerlei Informationen. Und darüber hinaus sind wir auch noch mitten in dieser elenden Umgebung ausgesetzt worden!« Jedes einzelne Argument war stichhaltig. Die gesamte Situation blieb völlig undurchschaubar. Atlan versuchte es mit einer Erklärung, die aber auch er selbst nicht ganz akzeptieren konnte. »Vielleicht will der Neffe, ähnlich wie Chirmor Flog, seine makabren physischen Bedürfnisse befriedigen.« »Durch uns?« fragte Grizzard verblüfft. »Möglicherweise. Es könnte durchaus sein, daß wir auf bestimmte Art beobachtet werden. Jedenfalls habe ich keine andere Erklärung anzubieten«, schloß Atlan. Sie blieben sitzen und warteten. Stundenlang regnete es weiter. Endlich, nach einer kleinen Ewigkeit, zeigte sich eine kümmerliche Helligkeit. Ein warmer Wind blies den Ausgesetzten in die Gesichter. Dann hörte der Regen auf. Als es heller wurde, sahen zwar die drei Männer ihre nächste Umgebung, aber sie sahen auch den dichten, weißen Nebel, der aus allen Richtungen herankroch. »Ein wahres Paradies!« sagte Axton und ließ seinen Blick über die Felsen, das Moos und den Kies gleiten. Mehr gab es nicht zu sehen. Keiner von ihnen erkannte, was zwei, drei Schritte vor ihnen lag. Das Trommeln und Plätschern war leiser geworden, aber jetzt hörten sie in offensichtlich größerer Entfernung ein tosendes Rauschen wie von einem starken Wind oder einer großen Wassermasse. »Vielleicht finden wir einen weniger abstoßenden Platz«, sagte Atlan. »Seid vorsichtig!« Die Helligkeit erreichte binnen weniger
Land ohne Sonne Minuten ihren Höhepunkt. Aber der Nebel lichtete sich nicht. Er dämpfte sämtliche Geräusche, als sich die Ausgesetzten entlang einer Felswand vorwärts tasteten. Die Felswand auf der rechten Seite wich schließlich zurück, links wurden die Steine und Felsbrocken kleiner, der Boden war jetzt von einzelnen, halmartigen Pflanzen durchsetzt und bestand aus Sand und nassem Lehm. Das Rauschen irgendwo weit vor ihnen wurde lauter, und Razamon rief über die Schulter: »Das Gelände scheint hier nicht ganz so gefährlich zu sein. Schöner wird es nicht.« Jede Richtung, in die sie stolperten und wanderten, war gleich gut oder gleich schlecht. Unentwegt tappten sie durch den wattigen Nebel, der zuerst nach fauligen Pflanzen stank, dann nach brennendem Horn, schließlich nach verwesendem Fisch. Obwohl die Ausgesetzten mit den Augen den Boden absuchten, fanden sie weder Spuren noch etwas Eßbares, weder einen Knüppel oder etwas Ähnliches, was sich als Waffe verwenden ließ. »Wir werden sicher irgendwann erleben, daß die Umgebung sich verändert«, rief nach etwa einer Stunde Atlan. Sie hatten sich über eine Art Savanne bewegt, stets im dicken Nebel, aber das Rauschen zu ihrer Rechten war lauter, dann wieder leiser geworden. Jetzt schienen sie sich dem Wasser wieder zu nähern. Plötzlich fauchte es direkt über ihnen in dem erstickenden Medium, und ein Schatten huschte über sie hinweg. Ein starker Luftzug traf sie, aber er riß den Nebel nicht auf. »Was war das?« rief GrizzardAxton. »Ein riesiger Vogel?« Aus dem Nebel ertönten klickende Geräusche. Es war, als ob große Steine scharf gegeneinander geschlagen würden. »Es kann ein Vogel gewesen sein«, gab Atlan zurück, bückte sich und hob zwei faustgroße Steine auf. Sie waren inzwischen sicher, daß sie sich auf einem anderen Planeten als Cagendar befanden. Larx hatte sich ihrer entledigt und
7 sie ausgesetzt. Daran bestand kein Zweifel. Sie gingen weiter, auf das Rauschen zu. Das Land senkte sich ganz leicht, und zwischen ihren Füßen entdeckten sie jetzt grüne Pflanzen, die sich dicht an den Boden duckten und dunkelgrüne Beeren trugen, so groß wie Trauben. Vorsicht. Sie können giftig sein, meldete sich Atlans Extrasinn. Nach all den Abenteuern, die der Arkonide in den letzten Wochen erlebt hatte, schreckte ihn diese Möglichkeit nur geringfügig. Er bückte sich, riß eine Beere ab und zerbiß sie. Sie schmeckte angenehm säuerlich, und ihr Geschmack vertrieb ein wenig den Durst und den Hunger. Als sich Grizzard und Razamon neben Atlan auf den Boden sinken ließen und ebenfalls Beeren abrissen, sagte er halblaut: »Seid vorsichtig. Wartet noch, ehe ihr eßt. Ich versuche gerade festzustellen, ob sie uns schaden oder nicht.« Razamon kaute bereits auf einer Beere und widersprach: »Sie schmecken nicht übel, wenn man halb vor Hunger umkommt.« »Trotzdem! Wartet noch!« Wieder huschte ein Schatten über sie hinweg. Diesmal war der Luftzug stärker, und es roch nach muffigem Stoff oder stinkenden Federn. Das Klicken schien von einem riesigen Schnabel zu stammen, der dicht über Grizzards Kopf aufeinanderbiß. Grizzard duckte sich und schleuderte einen Stein in die Richtung, in der der Schemen flügelschlagend verschwunden war. Ein wütender Laut erklang; ein doppeltes, stimmhaftes Fauchen. Mit einem kurzen Anflug von Galgenhumor sagte Razamon: »Mir scheint, daß der Neffe über uns wacht. Vielleicht in Gestalt eines großen Vogels.« Aus dem Nebel kam das Schlagen schwerer, nasser Flügel. Sie bewegten sich dicht hinter den Ausgesetzten und kurz vor ihnen. Atlan sprang auf und ließ den Rest der Beeren fallen. Auch Razamon warf sich zur Sei-
8 te, als von zwei Seiten wieder diese schauerlichen Laute zu hören waren, die jeweils mit dem Klicken der Schnäbel abschlossen. Razamon und Atlan drehten die Köpfe hin und her und versuchten, in dem Nebel etwas zu erkennen. Aber sie sahen nicht einmal einen Schatten oder eine Helligkeitsänderung in der milchigen Umgebung. »Ob sie angreifen?« fragte sich Grizzard laut. »Sehr wahrscheinlich«, sagte Atlan. Sie blieben wachsam stehen und versuchten, ein Ziel zu erkennen. Die fliegenden Bestien kreisten im Nebel hin und her, schrien und erzeugten metallische Geräusche mit den Schnäbeln. Dann schoß ein Schatten dicht über dem Boden heran, breitete die Schwingen aus und wurde für die Dauer von einigen Sekunden deutlich sichtbar. Es war tatsächlich ein riesiger Vogel mit braunen und feuerroten Federn. Ein riesiger Kopf raste auf Razamon zu und zeigte einen weit aufgerissenen Hakenschnabel und zwei riesige, von Gefieder umsäumte Augen. Razamon sprang zur Seite, holte aus und schleuderte einen Stein nach dem Vogel. Das Geschoß traf das Tier irgendwo an der Schulter. Der Vogel wich zur Seite aus und schrie auf, Razamon warf einen zweiten Stein und sprang nach links in Deckung. Die riesige eulenartige Kreatur klapperte hungrig mit dem Schnabel, schwang sich dicht über Atlan in die Höhe verschwand wieder im Nebel. Der zweite Stein, mit größerer Wucht geschleudert, flog vorbei, prallte irgendwo außerhalb des Sichtbereichs auf und kollerte davon. Die nach vorn gekrümmten Krallen des Vogels, der größer schien als ein terranischer Adler, pfiffen neben Atlans Schulter durch die Luft. Wieder schrie aus einer anderen Richtung eine andere Rieseneule. Es sind Raubvögel. Nehmt euch in acht! sagte warnend der Logiksektor. Atlan sah Razamon deutlich, und Grizzard, der keine drei Meter entfernt war, befand sich schon in einer Zone, in der seine Umrisse verschwammen. Die Männer bück-
Hans Kneifel ten sich wieder und hoben Steine auf, während sie hinter Razamon weiterstolperten, dem Geräusch eines Flusses oder von Stromschnellen entgegen. Der zweite Angriff traf Grizzard und warf ihn um. Atlans Stein schlug klatschend gegen den Kopf des Vogels. Der Vogel, der sich mit Krallen und Schnabel auf Grizzard stürzen wollte, wurde zur Seite geworfen und flatterte schreiend in die Höhe. Razamon hatte Grizzards Arm gepackt und zog den Mann über den Sand. »Wenn wir uns noch lange auf dieser Savanne aufhalten, erwischen sie uns noch. Wir sollten etwas Tempo zulegen«, meinte Razamon. »Meinetwegen!« knurrte Atlan. Mindestens eine weitere Stunde verging, während sie durch das triefende Land stapften. Dürre Pflanzen, verschiedenfarbige Moosflecken, immer wieder Steinbrocken und fahlgrüne, harte Grashalme mit lanzettförmigen Blättern, die in die Haut schnitten – das war alles, was es hier gab. Der dichte Nebel fing jetzt an, sich zu bewegen. Hier und dort wurde er dünner und ließ einige Meter mehr von der Landschaft erkennen. Die Ausgesetzten fanden nicht einmal mehr Beeren zum Essen. Nur das Rauschen und Brausen wurde lauter. Sie näherten sich also dem Wasserfall nach wie vor. Noch einige Male griffen die Eulen an. Aber jetzt waren sie nicht nur zu hören, sondern auch früher zu erkennen. Jedesmal hagelten den Raubvögeln die Steinbrocken und Kiesel entgegen und trafen meist. Die Vögel wurden rasend vor Wut, aber sie konnten keinen der Männer umwerfen oder ihm die Klauen in die Haut schlagen. »Weiter geradeaus!« keuchte Atlan. »In den Wasserfall hinein?« wollte Razamon wissen. »Vielleicht rettet uns das vor den Vögeln!« rief Grizzard. Sie blieben dicht nebeneinander und liefen weiter, immer der Quelle des Geräusches entgegen. Der Nebel riß mehr und mehr auf. Hinter den treibenden Schleiern
Land ohne Sonne tauchten wie die Einzelheiten eines farbschwachen Kaleidoskops verschiedene Bilder auf: Wasser, Felsen, an denen sich gischtende Wirbel bildeten, wieder Felswände und merkwürdige kleine Wolken, die verschiedene Gestalten annahmen, ein Hang voll blauer Moospolster und mehrmals die Körper der riesigen Eulen. Dann riß der Nebel endgültig auf. Die Männer rutschten über eine kleine Sandfläche. Vor ihnen führte eine natürliche Treppe aus unregelmäßigen Felsbrocken abwärts und direkt in einen breiten, schneeweißen Wasserfall hinein. Der Fels war pechschwarz und schimmerte vor Nässe. Noch sah man keine Sonne, aber die Intensität des Lichtes war stark gestiegen. »Endlich!« Sie standen auf einer Art Kanzel und blickten auf eine Felswand, auf die gesamte Breite des Wasserfalls, auf die rollenförmigen Wirbel an den Stellen, wo das Wasser auf verborgene Felsen auftraf und zu feinen Wolken zerstäubt wurde, darunter auf einzelne Steine, um die das abfließende Wasser eines etwa sechzig Meter breiten Flußbetts rann. Einige Sekunden lang standen sie so und betrachteten die Aussicht, dann nahm Razamon aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Er schrie aus Leibeskräften: »Achtung! Die Rieseneulen!« Jetzt kamen sie gleichzeitig von allen Seiten. Es waren mindestens sieben Tiere, die sich mit ausgebreiteten Schwingen und vorgereckten Hälsen auf die Männer stürzten. Atlan und Razamon schleuderten sofort Steine nach den träge herangleitenden Vögeln. Die scharfzackigen Geschosse trafen die Wesen an den Köpfen oder an den Hälsen. Grizzard warf sich nach vorn, überschlug sich auf der Sandfläche und sprang dann über die natürliche Treppe abwärts. Als er im Winkel zwischen zwei Blöcken würfelförmige Trümmer entdeckte, blieb er stehen und schickte einen Hagel von Steinbrocken nach den Eulenartigen. »Hierher! Unter den Wasserfall!« schrie Grizzard/Axton.
9 Atlan und Razamon versuchten, den Angriffen der schwebenden Wesen zu entkommen. Sie sprangen hin und her, tauchten unter den Körpern der Tiere hindurch, packten die Flügel und schwangen sich zur Seite. Sie hatten keine Zeit mehr, sich zu bücken und Steine aufzuheben. Atlan winkte Razamon, wurde von einem Vogelkörper gerammt und wirbelte auf den Rücken. »Hinunter!« schrie er. Mit einigen Sätzen verließen Razamon und Atlan die Sandfläche. Sie liefen und sprangen geduckt und im Zickzack abwärts. Die Steinbrocken, die Grizzard schleuderte, pfiffen um ihre Ohren. Wie Möwen jagten die Rieseneulen den Steinhang abwärts und schrien aufgeregt, aber das Donnern des Falles verschluckte ihre Schreie. Ein riesiger Stein, den Atlan schleuderte, brach einem Vogel das Genick und schmetterte ihn über die Felsen ins Wasser. Die Männer halfen sich gegenseitig und turnten die riesigen Stufen abwärts. Moos, Algen und Feuchtigkeit machten die Oberfläche schlüpfrig. Die Sohlen der zerrissenen Stiefel rutschten ab, jeder weitere Angriff der kreisenden Tiere warf die Männer gegen die scharfkantigen Felsen. Ein Angreifer flatterte aufgeregt über Razamon, kippte nach rechts und wurde mit dem stürzenden Wasser mitgerissen. Die Rieseneule verschwand in den Wirbeln, wurde auf die Felsen geworfen und trieb als nasses, regungsloses Bündel in den gischtenden Wellen flußabwärts. Die Männer flüchteten wieder einige Stufen abwärts, und jetzt hüllte sie bereits der Schleier des zerstäubenden Wassers ein. Grizzard schirmte die Augen mit der flachen Hand ab und tauchte in den Rand des Falles ein. Zwei Schritte, und er war verschwunden. Razamon folgte ihm, während Atlan sich herumdrehte und seinen letzten Steinbrocken nach einem der seltsamen Vogelwesen schleuderte. Er traf direkt den Schnabel des Tieres, dann fuhr Atlan herum und duckte sich unter dem nächsten Angriff. In diesem Moment sah er die Gischtwol-
10 ke, die einer riesigen Flugeule glich. Sie stieg, immer größer und deutlicher werdend, schneeweiß aus dem Wasser hervor. Und zwar genau an der Stelle, an der sich Wasser und Felsen trafen. Es sah aus, als würde der Wassernebel dadurch erzeugt und geformt, daß die Wucht das Wasser in bestimmte Richtungen aufwärts und auseinander schleuderte, nachdem es in bestimmte Aushöhlungen der Steine geprallt war. Atlan beschloß, dieses Phänomen später einer genaueren Prüfung zu unterziehen. Er duckte sich als letzter unter die Wassermassen und merkte überrascht, daß das Wasser des Flusses frisch schmeckte, aber ziemlich warm war. Er tastete rechts nach der Felswand und holte hustend Luft. Er blinzelte, wischte sich das Wasser von der Stirn und den Augen und sah, daß hinter dem Vorhang aus Wasser und Gischt im Felsen ein Sims herausgeschlagen war. Also gibt es hier Bewohner! stellte der Logiksektor fest. Razamon und Grizzard standen bereits auf dem etwa einen halben Meter breiten Sims. Atlan schwang sich darauf, lief einige Schritte und sah, daß Razamon ihm winkte. Die beiden Ausgesetzten standen vor einer dunklen Öffnung etwa in der Mitte des Wasserfalls. Razamon zeigte, während er unverständliche Worte schrie, auf den Eingang, der knapp zwei Meter hoch war. Atlan nickte. Sie tasteten sich weiter voran, durchschritten den Eingang und sahen, daß er künstlerisch bearbeitet war. Deutlich war zu erkennen, daß ein breiter Felsrahmen mit winzigen Gestalten, Ranken und Ornamenten versehen war. Es schienen meisterhafte Steinmetzarbeiten zu sein. Die Pthorer zogen sich etwa dreißig Meter tief in einen Korridor zurück, der im Zickzack verlief. Schwaches Licht fiel durch Löcher in der Decke und in den Wänden. Diese Löcher waren Enden von langen Tunneln, die irgendwo an der Oberfläche endeten. Hier war das donnernde Rauschen des Falles zu einem dumpfen Murmeln geworden. Grizzard fuhr mit der Hand über die trockenen Wände
Hans Kneifel und die Reliefbänder, von denen sie bedeckt waren. »Ich hätte nicht erwartet, daß ich hier menschenähnliche Figuren zu sehen bekomme!« sagte er verwundert. »Tatsächlich!« antwortete Razamon. »Diese Gestalten hier scheinen wirklich humanoid zu sein. Ein neues Rätsel. Und fleißige Bildhauer gab es hier.« »Möglicherweise gibt es sie noch heute«, sagte Atlan und versuchte, auf den Reliefs Einzelheiten zu erkennen. »Übrigens habe ich einen unglaublichen Effekt des Wasserfalls gesehen.« Die abenteuerlichen Überraschungen folgten einander so schnell, daß es vorläufig müßig erschien, Erklärungen zu suchen und Analysen zu treffen. Die seltsame Botschaft, der Nebel und die Eulenwesen, der Weg in den Stollen, den sie scheinbar zufällig gefunden hatten, und jetzt diese hochkünstlerischen Ranken und Gestalten. Atlan drehte sich in dem vagen Zwielicht herum und hob die Schultern. »Ich verstehe nichts«, sagte er. »In welcher Welt befinden wir uns? Irgendwann wird das alles, hoffe ich, einen Sinn ergeben.« Razamon blieb skeptisch und antwortete kurz: »Wir sind erst seit ein paar Stunden hier.« »Und überdies hungrig.« Sie verständigten sich schnell und gingen zurück auf den Sims hinter dem Wasserfall. Atlan zeigte Grizzard/Axton und Razamon, was er entdeckt zu haben glaubte. Tatsächlich sahen sie, daß aus einem bestimmten Blickwinkel immer wieder phantastische Formen und Strukturen an einigen Stellen des Falles aufstiegen, einige Sekunden lang konstant blieben und sich dann in wirbelndem Gischt auflösten. Nachdenklich starrten die Fremdlinge die Erscheinungen an. Als sich die Männer nach einer Weile wieder innerhalb des Stollens befanden, meinte Razamon: »Möglicherweise stoßen wir auf eine Gruppe hochsensibler Steinmetzen oder Mo-
Land ohne Sonne delleure. Dieser ungewöhnliche Effekt setzt voraus, daß sie die Strömung des Wassers hervorragend gut berechnet haben müssen.« »Die Reliefs scheinen dir recht zu geben«, sagte Atlan. »Bisher haben wir außer den hungrigen Eulen niemanden erlebt, den wir fragen könnten.« »Uns bleibt nichts anderes übrig, als weiter in diesen Korridor vorzustoßen. Wenn wir nur eine Waffe hätten!« rief Grizzard und wandte sich zum Gehen. Zunächst führte der Tunnel im Zickzack und in rechten Winkeln tiefer in den Berg hinter dem Wasserfall hinein. Dann führten in einigen Stufen Rampen aufwärts. Immer wieder gab es Licht und frische Luft aus den unregelmäßig verteilten Schächten, deren Ränder in die Verzierungen der Wände eingepaßt waren und außerordentlich prächtige Rahmen bildeten. Aber je tiefer die Fremden eindrangen, desto stärker stank es: faulendes Fleisch und etwas, das nach muffigem Tuch roch, waren die vorherrschenden Gerüche, die in die Nasen der Männer schlugen. Zwei Rampen höher blieben sie vor einer Art Nische stehen. Der Boden einer würfelförmigen Kammer war von Federn, einer dicken Schicht trockener und kotbedeckter Pflanzen, von bleichen Knochen und Hautfetzen und von Bruchstücken, die wie Eierschalen wirkten, ausgefüllt. In der Rückwand führte ein Loch, etwa einen Meter im Durchmesser, ins Freie. Die Wände dieses Schachtes waren glänzend und abgeschliffen, als ob sich etwas seit Jahrzehnten an ihnen entlanggeschoben hätte. Die Eulenwesen! warnte zischend der Extrasinn. Gleichzeitig drangen verschiedene Geräusche an die Ohren der Ausgesetzten. Deutlich war nur ein fernes Klirren und Knistern, alles andere ließ sich nicht deutlich unterscheiden. »Und was bedeutet das Klirren und Hämmern?« fragte Razamon kopfschüttelnd. Auch er war sicher, daß in dieser Nische sich eines der Eulenwesen aufhielt – oder
11 bis vor kurzem hier genistet hatte. Atlan hielt sich die Nase zu und ging nach einem Blick auf das ungepflegte Nest weiter. »Wir werden vermutlich gleich sehen, was es damit auf sich hat. Wo Geräusche sind, werden wir lebende Wesen finden«, sagte er. Der Tunnel bog scharf nach links ab. Unverändert war der seltsame Schmuck dieses erstaunlichen Korridorsystems. Von der Decke bis zum Boden verliefen breite Bänder aufwärts und abwärts. Zehntausende von Ornamenten griffen ineinander über und bildeten Strukturen, von denen die Augen überfordert wurden. Längst hatten es Atlan und seine Freunde aufgegeben, einzelne Gestalten oder Schilderungen erkennen zu wollen. Immerhin waren sowohl die Eulenvögel als auch menschliche Gestalten zwei der am häufigsten dargestellten Figuren. Dazu gab es Tiere, die wie höchst seltsame Katzen aussahen. Die Geräusche wurden lauter und durchdringender, und den Pthorern zog ein feiner Staubnebel entgegen, der vom Luftzug durch eine der Lichtöffnungen davongerissen wurde. »Halt!« sagte Atlan laut. »Es muß unmittelbar vor uns sein.« Sie näherten sich dem Ende des geradeaus führenden Korridors, der rechts und links zur Seite führte. Der Staub wurde dichter, und er schien zermahlener Stein zu sein oder eine Art Gips oder Zement. Atlan schob sich entlang der Wand nach links und winkte den Freunden. Nach einigen Schritten breitete sich vor ihnen ein Bild aus, das aus so vielen Einzelheiten bestand, daß sie es nicht sofort begriffen. Eine Höhle mit vielen kleinen Lichtlöchern und Pfeilern, die wie Baumstämme wirkten, weil sie ohne Kanten zwischen Boden und Decke wuchsen. Überall war Bewegung, der Lärm war betäubend geworden. Hunderte oder Tausende Hämmer schlugen auf Hunderte oder Tausende kleiner Meißel, die von kleinen Händen gehalten wurden. Die Bildhauer, gnomenhafte Wesen von weniger als einem Meter Größe, saßen auf dem
12 Boden, standen an den Wänden, hingen an Säulen oder bewegten sich auf Gestellen entlang der Wände. An zahllosen Stellen verliefen unregelmäßige Grenzen zwischen grob bearbeitetem Gestein und den wachsenden, wuchernden, fließenden Teilen der Figuren, Ornamente und Friese. Die Gnomen arbeiteten in rasender Geschwindigkeit, eine beträchtliche Hektik erfüllte die Halle oder Höhle. Niemand beachtete die drei Fremden, die vorsichtig eine kunstvoll geschwungene Rampe abwärts gingen und schweigend die Arbeiten bewunderten. Atlan kauerte sich nieder, keine zwei Meter von dem ersten Gnomen entfernt. Er starrte den braunen, staubbedeckten Winzling an, der ihn nicht bemerkte und mit einem Meißel und einem runden Hammer eine kühn geschwungene Ranke aus dem rissigen Fels herausmeißelte. Blind? fragte der Extrasinn. Und vom Lärm vermutlich taub? Die Bewegungen des Zwerges waren unglaublich schnell. Immer wieder legte er den Meißel auf den Boden und tastete mit den runden Kuppen der spinnenartigen Finger über die fertigen und unfertigen Teile seiner Schöpfung. Atlan konnte unter den dicken Strähnen des staubbedeckten und verfilzten Haares keine Ohren entdecken und keine besonderen Gehöröffnungen. Er richtete sich auf und lehnte sich erstaunt gegen die Wand. Drei Gnomen, die etliche Schritte weiter gearbeitet hatten, warfen Hammer und Meißel auf den Boden, rannten mit dicken Beinen aufeinander zu und begannen sich zu befingern. Dann liefen die drei Gnomen auf eine Gruppe aus vier anderen zu, die übereinander in den Sprossen eines Gestells saßen und gemeinsam an einer halbplastisch hervortretenden Figur arbeiteten, die wie ein gekrümmter Fisch mit Beinen und Stielaugen aussah. Wieder befingerten und betasteten sich die Winzlinge. Atlan näherte seinen Mund Razamons Ohr und sagte laut: »Das also sind die Künstler, deren Wirken
Hans Kneifel wir seit dem Wasserfall gesehen haben. Sie schaffen Meisterwerke, die niemals jemand wird bewundern können.« »Außer uns«, antwortete der Berserker. »Sie arbeiten wie die Rasenden und scheinen keinerlei Anleitung zu brauchen.« Die Vision eines kollektiven Bewußtseins drängte sich dem Arkoniden auf. »Sie müssen unglaublich sensible Finger haben!« stellte Axton/Grizzard fest. »Schaut dorthin! Sie verständigen sich über den Tastsinn.« Eine Rieseneule flatterte durch eine Öffnung am anderen Ende der Halle. Sie umkreiste geschickt die steinernen Säulen und landete, eine riesige Wolke von Gesteinsstaub aufwirbelnd, am Rand der Halle. Dort ließ sie ein schlaffes, dunkles Bündel fallen, das sie in den Krallen geschleppt hatte. Sie stolzierte entlang der Wand hin und her, öffnete den Schnabel und flatterte dann wieder davon. Nur Atlan hatte diesen Zwischenfall beobachtet, weil sich Grizzard und Razamon mit den Gnomen beschäftigten. Langsam gingen sie auf die Gruppe zu, die intensiv versuchte, sich tastend zu verständigen. Auf das Bündel, das die Rieseneule fallen gelassen hatte, stürzten sich etwa zwei Dutzend der Winzlinge. Sie hatten ihre Hämmer weggelegt und benutzten, wie Atlan mit steigender Verblüffung mit ansehen mußte, die Meißel wie Messer oder Skalpelle. Atlan begriff, obwohl er sich weigerte, zu glauben, was er sah. Es war zumindest abstoßend: die Zwerge zerrissen die Beute der Eule. Es war ein mittelgroßes Tier, etwa so groß wie ein kleines Reh. Die Zwerge schlangen ebenso schnell und gierig, wie sie arbeiteten, die rohen Fleischbrocken herunter. Atlan schüttelte sich und sah im selben Augenblick, daß wie auf ein unhörbares Kommando etwa zehn Zwerge ihr Werkzeug niederlegten und von allen Seiten auf Razamon und Grizzard, dann auch auf ihn zuliefen. Im Gegensatz zu derjenigen Gruppe, die sich um die Fleischbrocken stritt, war im Verhalten dieser Gnomen noch nichts Ag-
Land ohne Sonne gressives. Atlan blieb starr stehen. Auch Razamon und Grizzard begriffen, daß die Zwerge sie nicht angriffen. Die Kobolde mit ihren behaarten, runden Schädeln, die unproportioniert wie flachgedrückte Säuglingsschädel aussahen, machten sich lautlos über die drei Fremden her. Sie begannen bei den Füßen und tasteten in rasender Eile über jeden Quadratzentimeter Haut, Schuhwerk oder Kleidung. Atlan glaubte, in einem Ameisenhaufen zu stecken; bis zu den Knien wurde jedes Fleckchen Haut gekitzelt. Die Gnomen schienen tatsächlich blind und taub zu sein, ebenso stumm, trotz ihres breiten, wulstigen Mundes. Ihre Haut war unter der Staubschicht braun und runzlig, die Gelenke sahen kugelförmig aus, und die kleinen Ärmchen starrten von harten Muskeln wie von kleinen Schlangen unter der Haut und dem Fell, das den Rücken, die Brust und den Unterleib bedeckte. Zwei Gnomen kletterten geschickt an Atlan hoch. Atlan unterdrückte ein Schaudern und hielt still. Er blickte direkt in die exotischen Augen des Winzlings, der seine Schultern und den Hals abtastete. Die Augen waren groß und mandelförmig, aber statt des hellen Augapfels sah der Arkonide etwas, das ihn an ein Bündel feiner Würmer erinnerte, an eine unterseeische Pflanze oder ein Tier, das mit Tausenden winziger Fäden versuchte, die Umgebung wahrzunehmen. Die dunklen Flimmerhärchen bewegten sich unablässig in allen Richtungen, ähnlich wie die blitzschnellen Finger der Kleinen. Und die Winzlinge stanken, als kämen sie aus der Kloake! Etwa zehn Minuten lang war Atlan von einem übereinander kletternden Haufen von etwa fünfzehn Gnomen förmlich bedeckt. Dann ließen sich die letzten von seinen Armen rutschen und untersuchten mit ihren Fingern seine Handgelenke und seine Finger. Abrupt hörten sie mit der Begutachtung auf, etwa gleichzeitig schien auch die Prü-
13 fung der zwei anderen Eindringlinge beendet zu sein. Dann erfolgte eine neue Phase der Unruhe. Die Zwerge, die sich der Fremden bemächtigt hatten, rannten blitzschnell auseinander. Sie berührten und betasteten jeden, den sie auf ihrem Weg ins Innere der Halle trafen, nur kurz und rannten weiter. Diejenigen, die von der Neuigkeit erfuhren (daß es sich um eine Nachricht handelte und daß sie so und nicht anders übermittelt wurde, war sicher), nahmen ihre Werkzeuge und liefen zu einer großen, noch unbehandelten Wand. Wieder andere brachten die Teile transportabler Gestelle und türmten sie auf. An drei Stellen begann mit fieberhafter Eile die Arbeit. Viel mehr Bildhauer als an allen anderen Wänden und Säulen konzentrierten sich hier in etwa fünf Ebenen übereinander. Eine Gruppe begann, die groben Umrisse der Schuhe, Stiefel und Beine aller drei Männer zu meißeln. Diejenigen, die eine Ebene höher auf dem Gestell saßen, hämmerten die Knie und die Schenkel. Die Beckenpartien folgten darüber, dann die Brust, schließlich die Arme und die Schultern, dann die Köpfe. Das Geräusch von etwa zweihundert Hämmern und Meißeln klang immer stärker auf und überdeckte schließlich jeden Hintergrundlärm. Und ständig kamen neue Winzlinge herbei und machten sich an die Arbeit. Atlan rief: »Es ist unfaßbar. Sie modellieren uns aus Stein, obwohl sie uns nur abgetastet haben.« Grizzard sagte: »Gehen wir. Seit ich gesehen habe, wovon sie leben und essen, graut es mir.« »Die Abfälle der Eulen?« »Ja. Dort drüben …« Razamons Schritte wurden schneller. Er versuchte, zwischen den Pfeilern und den wimmelnden Gnomen einen weiteren Stollen oder Ausgang zu finden. Atlan und Grizzard folgten. Einmal hob Razamon einen Hammer auf, der zwar zwischen seinen Fingern wie ein Spielzeug wirkte, aber eine immerhin respektable Waffe abgab. Atlan fand
14 nach einem schnellen Marsch im Zickzack ebenfalls ein solches Gerät und nahm es an sich. Sofort fühlte er sich um eine Spur sicherer. An drei anderen Stellen entstanden von anderen Gruppen freistehende Plastiken von den Fremden – sie schlugen die Umrisse aus den dicken Säulen heraus. Zwei Eulen flatterten im Rücken der Fremden in die Halle und warfen ihre tote Beute in den Staub. In einem Graben, der in einem verwirrten Mäandermuster im Hallenboden verlief, gab es Wasser. Einige Gnomen saßen dort und schliffen ihre Meißel mit Platten aus einem weißen Material, andere steckten die Köpfe in das vom Staub gefärbte Wasser und tranken oder wuschen sich. Der Gestank füllte die Halle aus und wurde unerträglich. Plötzlich, inmitten einer großen Staubwolke, kurvte eine riesige Eule auf die Fremden zu. Das Extragehirn warnte Atlan buchstäblich im letzten Sekundenbruchteil. Er stieß Grizzard/Axton zur Seite und schwang seinen Hammer. Die Waffe traf den Flügel des Angreifers, dann den Kopf. Die Eule prallte gegen eine Säule und mähte eine Gruppe der Winzlinge um. Aber sofort richtete sie sich wieder auf und kam mit kurzen Sprüngen näher, die Schwingen angewinkelt, den Fächerschwanz nachschleifend. »Raus hier!« donnerte Razamon, riß einem Zwerg den Meißel aus den Fingern und warf ihn wie einen Wurfdolch nach der Eule. Das messerscharf geschliffene Metall drang tief in den Kopf des Vogels. Blutüberströmt kippte das Tier in den Staub und schlug im Todeskampf wild um sich. »Dort sehe ich einen Ausgang!« schrie Grizzard auf und winkte. Atlan und Razamon rannten hinter ihm her. Sie spurteten im Zickzack zwischen den Säulen entlang, sprangen über die Zwerge, die sich ihnen nicht entgegenwarfen. Aber der Kampf der Eule schien andere Exemplare angelockt zu haben. Zuerst waren es nur zwei, die sich an die Verfolgung der Fremden machten. Dann kamen drei Eulen hinzu. Eine von ihnen
Hans Kneifel schleppte noch ein katzenähnliches Tier in den Fängen, größer als ein Luchs, mit weißem, blutüberströmtem Fell. »Schneller! Hinter dir, Lebo!« warnte Atlan und duckte sich unter einem Angriff. Er riß das Tier zu Boden und schlug den kleinen Hammer mit aller Kraft gegen den Hinterkopf des Raubvogels. Dann sprang er zur Seite und sah aus dem Augenwinkel, wie der Vogel in unverminderter Geschwindigkeit schräg abwärts flatterte und sich den Hals in dem Wassergraben brach. Atlan raste den Freunden nach. Das gegenüberliegende Ende der Felsenhalle kam näher. Und zu seinem Erstaunen rannte Razamon direkt auf sein eigenes Ebenbild zu, das als Seitenteil eines Ausgangs entstand, überzeugend naturalistisch und von perfekter Lebensechtheit. Fast gleichzeitig stürmten die Pthorer in den Korridor hinein, der ihnen zumindest von den Seiten besseren Schutz gegen die Angriffe der Rieseneulen bot. Keuchend holten sie einen kleinen Vorsprung heraus, dann warfen sie sich gleichzeitig herum und stellten sich dem Kampf. Zwei Raubvögel griffen, übereinander fliegend, dicht hintereinander an. Atlan sprang der ersten Bestie mit beiden Füßen auf den Rücken, trat den Schädel gegen den Boden und riß den Kopf des Vogels aufwärts und nach hinten. Ein scharfes Knacken ertönte, das Tier unter ihm zuckte. Razamon zertrümmerte die Hirnschale des zweiten Vogels und nickte Grizzard zu, der sich an den Flügel gehängt hatte und den Angreifer zu Boden zwang. Keuchend standen sich die Pthorer gegenüber. Razamon spie aus, drehte sich herum und ging entschlossen weiter. »Sie sehen in uns nur Beute für die Gnomen«, sagte Atlan nach einer Weile. »Irgendwie scheint eine Art Abhängigkeit oder Symbiose zwischen den Eulen und den Winzlingen zu bestehen«, schilderte Razamon seine Eindrücke. Als er sich wieder umdrehte, keuchte er erschrocken auf und schrie: »Die Zwerge! Ein ganzes Heer verfolgt uns. Zusammen mit ihren Wächtern.«
Land ohne Sonne Schon begann er zu laufen. Der Korridor füllte sich. Die Zwerge rannten auf ihren kurzen Beinchen wie rasend den Fremden nach. »Sie merken, daß sie ihre neuen Modelle verlieren!« keuchte Grizzard. Sie stoben den Korridor weiter entlang. Die Zwerge waren nicht sonderlich schnell und würden ihnen nicht gefährlich werden. Aber die Rieseneulen holten rasch auf. Der Tunnel schien sich kilometerweit in den Berg hinein zu erstrecken und machte eine leichte Biegung nach rechts. Schweigend flüchteten die Pthorer und drehten sich immer wieder kurz um. Unaufhaltsam kamen die Eulen näher. Es waren fünf Stück in Führung, die mit den Schnäbeln klickten und ihre klagenden Schreie ausstießen. Die Krallen waren drohend nach vorn gestreckt, als wären sie jeden Moment bereit, die Beute zu packen. Atlan sah über die Schulter und merkte, daß die beiden ersten Eulen bis auf drei Meter herangekommen waren. »Achtung«, keuchte er, »gleich geht es wieder los.« Die Flüchtenden spannten ihre Muskeln, legten einen kurzen Zwischenspurt ein und wirbelten dann auf ein Kommando herum. Atlan holte mit dem Hammer aus, Grizzard packte seinen Meißel, und Razamon holte mit beiden Armen aus. Der Meißel, von Grizzard wie ein Dolch benutzt, tötete die erste Eule, Atlan und Razamon rissen den zweiten Vogel an den Flügeln herunter. Der Hammer krachte dumpf auf die Schädeldecke des anderen Raubvogels herunter, und als das dritte Tier sich auf Atlan stürzte, erschlug es Razamon mit einem einzigen wilden Hieb gegen die Wirbelsäule. Ein wildes Knäuel von zuckenden und flatternden Vogelkörpern, von Federn und Staub bildete sich. Der nächste Vogel versuchte gleichzeitig, auszuweichen und anzugreifen, kam aus dem Kurs und rammte gegen die Wand. Grizzard tötete ihn und sprang dann ein paar Meter weiter in den Gang hinein.
15 »Los! Wir haben sie genügend lange aufgehalten!« rief er. Atlan kämpfte mit einer Eule. Sie hatte ihre Krallen um seinen Schenkel geschlagen und hackte nach ihm. Razamon hechtete heran, warf sich über den Vogel und hieb ihm die Hand mit dem Hammer gegen die dünnen Röhrenknochen des Halses. »Weiter!« Wieder versuchten sie, den Verfolgern zu entkommen. Die Gnomen waren inzwischen näher herangekommen. Schweigend füllten sie die gesamte Breite des Tunnels aus. Die Eulen flatterten über ihnen durch die Staubwolke und griffen die Pthorer an, als hätten sie nicht gesehen, wie die anderen Vögel starben. Atlan, Razamon und Grizzard erreichten nach einem rasend schnellen Lauf eine Art Kreuzung. Der Tunnel wurde schmaler, die überreichen Verzierungen hörten schlagartig auf. Es gab nur eine Richtung, in die sie flüchten konnten. Als sie die Rampe hinunter stolperten, sahen sie, daß sich weiter vorn der Korridor verzweigte. Sie kamen an diesen Knotenpunkt, blieben schwitzend, mit stechenden Lungen stehen und sahen sich um. Dort, wo der Tunnel abknickte, drängten sich die Winzlinge. Sie schienen vor einer unsichtbaren Grenzlinie Furcht zu haben. Auch die Raubvögel, die über ihnen schwebten, wagten sich nicht weiter vorwärts. Razamon lehnte sich gegen eine Wand und sagte keuchend: »Sie haben aufgegeben. An den Wänden sind keine Friese. Für sie ist es – vielleicht – unbekanntes Gebiet.« »Und was jetzt?« wollte Grizzard wissen. Razamon grinste kalt. »Alternativen sind nicht vorhanden. Hier entlang geht es.« Er zeigte nacheinander auf die vier Stollen, die von dem Knotenpunkt abzweigten. Hier war der Boden sauber; es lagen weder Federn noch Abfall oder Vogelkot herum. Vermutlich war das, was auf die Ausgesetzten hinter dieser magischen Grenze wartete, weniger unangenehm. Aber auch das krasse
16 Gegenteil war möglich. Es gab keine Sicherheit. »Gehen wir!« schlug Atlan vor und hob den Kopf. Er blickte zu den Gnomen und den braunroten Vögeln hinüber, die in etwa sechzig Metern Entfernung warteten. Die kleinen Bildhauer standen da, eine gewisse Furcht schien sich in ihren unschlüssigen Bewegungen auszudrücken. Über ihnen schwebten auf der Stelle vier oder fünf Eulen, aber auch sie wagten sich nicht weiter in die Felsengänge hinein. »Es bleibt uns nichts anderes übrig«, stimmte Razamon zu. »Vielleicht erfahren wir irgendwann, wo wir uns befinden.« Sie gingen langsamer in einen der Eingänge hinein. Der Boden senkte sich, die Wände drangen von den Seiten heran, und aus dem breiten Tunnel wurde ein schmaler Gang. Die Ausgesetzten konnten nicht mehr nebeneinander gehen, sondern mußten eine Reihe bilden. Aber auch hier führten Schächte und Röhren von der Oberfläche herunter, die Licht und frische Luft herunterbrachten. Etwa eine halbe Stunde lang gingen die Pthorer schweigend weiter. Dann änderte sich die Umgebung schlagartig. Aus dem kantigen Stollen wurde eine Art Pfad, der sich zwischen abgerundeten Steinen, Stalagmiten und Stalaktiten dahinwand. Der letzte Nachhall der hämmernden Geräusche hatte längst aufgehört: hier breitete sich eine erholsame Ruhe aus. Hin und wieder hörten sie das Geräusch eines einzelnen fallenden Tropfens. »Halt!« sagte Atlan plötzlich und stützte sich an einem Felsen ab. »Wir werden beobachtet.« Zwischen den braungrauen Steinen kam ein katzenartiges Wesen heran. Es war zwischen eineinhalb und zwei Meter groß und trug einen weißen, kurzen Pelz. Sekunden später erkannten sie, daß der angebliche Pelz die Haut des Wesens darstellte. Große Augen blickten sie starr an, das Wesen bewegte sich elegant und mit fließenden Bewegun-
Hans Kneifel gen, lief aber auf den Hinterbeinen – trotzdem, die Ähnlichkeit mit einer Katze oder einem Gepard war fast unheimlich. Der lange Schwanz bewegte sich wie eine Schlange. Das weiße Katzenwesen kam direkt auf sie zu und öffnete die Schnauze. »Packt sie!« sagte das Wesen in einer Sprache, die dem Pthora ähnelte.
3. Sofort meldete sich der Logiksektor. Die Wesen aus den steinernen Abbildungen der Zwerge! Atlan, Razamon und Grizzard blieben stehen und sahen sich um. Die zwei Wörter hatten unverkennbar wie eine Drohung geklungen. Etwa zwanzig der weißen Katzenwesen kamen in kurzen Sätzen näher und umringten die Gruppe der Eindringlinge. Keine der Katzen mußte sich auf die Vorderbeine niederlassen; sie gingen zwar leicht nach vorn gebeugt, aber hatten nichts an sich, was sie wie Tiere wirken ließ. Die Klauen waren fingerartig verlängert. Atlan hob langsam den rechten Arm und sagte ganz langsam in Pthora: »Wir sind keine Feinde. Wir wollen keinen Kampf.« Der Ring schloß sich enger um die Pthorer. Fauchende Laute ertönten und hallten in dem Felsenlabyrinth wider. Die hellen Katzenaugen hefteten sich zornig, wie es schien, auf die Fremden. Fast unhörbar schlichen mehrere Wesen heran, rissen die Arme der Männer auf den Rücken und fesselten sie mit kurzen, harten Seilen. »Elcoy wird entscheiden, was ihr seid.« Atlan starrte in das runde Gesicht des großen Wesens, das direkt vor ihm stand. Sie waren gleich groß, aber unter dem kurzen Fell zeichneten sich dicke Muskelpakete ab. Aber auch die kleinste Bewegung war von bestechender Eleganz. Atlan ahnte, daß es mehr Vorsicht und Mißtrauen waren, weniger Angriffslust, daß die Fremden so behandelt wurden. »Wer ist Elcoy?« fragte Razamon.
Land ohne Sonne Auch er war darüber verblüfft, daß sich die beiden Sprachen so frappierend ähnelten. »Elcoy, derzeitige Königin der Mavinen.« »Sie scheinen weiblich zu sein. Oder ich müßte mich schon sehr irren«, setzte Axton/ Grizzard hinzu. »Und sie haben eine Königin.« »Wir haben Durst und Hunger«, knurrte Atlan. Eine Klaue schob sich zwischen seine zusammengeschnürten Arme und den Rücken. Er wurde vorwärts gestoßen, wie auch die beiden anderen. »Wir kommen in Frieden. Die Zwerge haben uns verfolgt, und wir kämpften gegen die riesigen Vögel.« »Schweigt. Die Jägerinnen bringen euch zur Königin.« Die Sprache war halb kehlig, halb fauchend und gut verständlich. Die Jägerinnen zogen und stießen die drei Fremden tiefer in das Gewirr von stehenden und hängenden Felsen hinein. Wieder öffneten sich in der Decke größere und kleinere Löcher, die Licht hereinließen. In dieser fahlen Beleuchtung schienen einzelne Steingruppen verschiedenfarbig aufzuleuchten, aber als sie näher kamen, mußten die Eindringlinge sehen, daß es sich um Moose oder um Flechten handelte. An jedem Felsen wuchsen die haarigen Pflanzen in einer anderen, verblüffend stark leuchtenden Farbe. Der schmale Pfad schlängelte sich abwärts und tiefer in das labyrinthische Gewirr aus Steinen und Öffnungen im Gestein hinein. Hier waren die Öffnungen nicht künstlich, es gab keinerlei Zierat oder Spuren der Bearbeitung. »Woher kommt es, daß sich die beiden Sprachen so ähnlich sind? Ich habe keine Schwierigkeiten gehabt, dieses fremde Pthora zu verstehen«, sagte Razamon leise. Atlan hob die Schultern und gab zurück: »Ich weiß es auch nicht. Vielleicht handelt es sich um Auswanderer von Pthor?« »Oder die Pthorer sind von hier ausgewandert … was hier auch bedeuten mag!« stellte Grizzard fest. »Vielleicht erfahren wir es ebenso wie die
17 Wahrheit über die merkwürdigen Bildhauergnomen«, sagte Razamon. Er wandte sich an eine der schweigenden Jägerinnen neben ihm. »Kennt ihr die Bildhauer?« »Die Kleinen Hämmernden? Ja. Ihr seid Spione der Bildmacher.« »Unsinn!« gab Razamon zurück. »Sie haben uns durch ihre Vögel beinahe umgebracht.« »Elcoy weiß es anders. Schweigt!« »Muß das sein?« erkundigte sich der Berserker sarkastisch. Er bekam keine Antwort mehr. Alle drei Pthorer versuchten, während dieser Phase ihrer Gefangenschaft ihre Umgebung genau zu studieren. Vielleicht mußten sie auch hier versuchen, ihrem Tod durch Flucht zu entkommen. Dieses ausgedehnte Höhlensystem schien endlos weit nach allen Richtungen in den Berg hineinzureichen. An einigen Stellen senkte sich die zerklüftete, aufgerissene und von Narben zerfressene Decke bis auf etwa zwei Meter dem ebenso unregelmäßigen Boden entgegen, an anderen Stellen erinnerte sie an einen Dom, eine Halle von archaischen Ausmaßen mit barbarischen Dekorationen. Während es den Eindringlingen bereits klargeworden war, wovon sich die Winzlinge ernährten, gab es hier nicht den geringsten Hinweis dafür, ob die Kavernen auch der Lebensraum der Katzenartigen waren. Inzwischen hatten die Katzenwesen die Gefangenen eine beträchtliche Wegstrecke entlanggetrieben. Das Höhlensystem schien jetzt zu Ende zu sein. Eine breite Treppe führte aufwärts. Die Fremden wurden hinaufgeschafft und traten in einen kleinen Saal ein. Der Boden war von einer Art Gras oder Moos bedeckt. Der Saal war nicht groß, und mehrere Lichtschächte sorgten für eine vage Helligkeit. Direkt unterhalb einer dieser Öffnungen befand sich eine Art Thron aus Stein, mit dunklen Fellen ausgelegt. Ein. Katzenwesen räkelte sich darin und hob, ohne große Überraschung zu zeigen,
18 den Kopf, als man die Pthorer vor den Sessel schleppte. Mit befehlsgewohnter Stimme sagte die Königin: »Ich habe geahnt, daß früher oder später Kreaturen der Garsen hier eindringen werden.« Die Fremden verstanden nicht gleich jedes Wort, aber nach kurzer Zeit hatten sie den Sinn restlos erfaßt. Atlans Logiksektor flüsterte: Die Garsen können nur die Bildhauerzwerge sein! »Wir sind keine Kreaturen der Garsen«, erklärte Razamon mit fester Stimme. »Sieh uns an. Wir sind vor ihren Vögeln geflohen.« »Woher kommt es«, fragte die Königin mißtrauisch, »daß ihr unsere Sprache sprecht?« »Wir haben sie nicht von den Garsen gelernt«, erboste sich Grizzard. »Wie wäre es möglich? Die Garsen sind taub, stumm und blind. Wir sind Ausgesetzte von fernher.« »Ihr seid Spione!« beharrte Elcoy. »Ich habe die Regierung in diesen Zeiten. Spione der Garsen leben im Reich der Mavinen nicht lange.« Etwa fünfzehn der schlanken Jägerinnen standen im Halbkreis hinter den Fremden und vor den runden Stufen des Thronsitzes. Aufmerksam blickte die Königin, es mußte sich um Elcoy handeln, die drei Ausgestoßenen an. Eine Jägerin trat vor und legte die primitiven Waffen der Männer auf die oberste Stufe. Die Männer schwiegen und überlegten, wie sie sich herausreden oder befreien konnten. Im Moment gab es keine Möglichkeit; Flucht bedeutete bestenfalls Selbstmord. Schließlich warf Grizzard sein Haar in den Nacken und sagte: »Königin Elcoy! Wir sind nicht länger als zwanzig Stunden auf dieser Welt. Wir wissen nicht einmal, wo wir sind. Wir hungern und haben nicht einmal einen Schluck Wasser zum Trinken. Die Rieseneulen griffen uns im Nebel an und verfolgten uns. Wir sind hilflos und ha-
Hans Kneifel ben keine Waffen. Keiner von uns will zurück zu den Garsen. Wir sind alles andere, nur keine Spione. Als uns deine Jägerinnen fingen, waren wir auf der Flucht. Und was die Sprache betrifft, so kannten wir sie schon, ehe wir hier ausgesetzt wurden. Das ist die Wahrheit!« Die Jägerinnen rührten sich nicht. Die Königin schwieg und fuhr fort, die Männer einer genauen Prüfung zu unterziehen. Atlan starrte zurück und fühlte, wie seine Hände langsam abzusterben begannen. »Wenn ihr keine Spione seid – was seid ihr wirklich?« fragte die Königin nach einer endlos scheinenden Weile. »Fremde von weit her. Ein Sternenschiff setzte uns ab«, antwortete Atlan. »Glaube es, oder glaube es nicht. Wir haben nichts bei uns, womit wir etwas beweisen können. Nur unser Wissen und unsere Kenntnisse.« Razamon deutete mit dem Fuß auf die Werkzeuge der Garsen. »Wir haben sie gestohlen, um uns gegen die fleischfressenden Raubvögel verteidigen zu können. Wären wir Spione, würden wir keine Waffen gebraucht haben.« Grizzard machte eine wichtige Bemerkung. »Die Garsen würden niemals freiwillig ihre kostbaren Werkzeuge weggeben. Außerdem – was sollten wir für sie ausspionieren?« »Geheime, nicht bekannte Zugänge zum Mavinenreich!« »Aber was, beim Oheim«, rief Atlan, »würden die Zwerge bei euch gewinnen können? Sie brauchen schlimmstenfalls neue Wände für ihre Arbeiten!« Die Königin beugte sich vor und sagte schließlich: »Daknar oder Rirkiv würden vielleicht anders entscheiden. Ihr dürft weiterleben. Meine Jägerinnen werden euch aufmerksam beobachten.« »Sind wir frei?« fragte der Berserker sofort. »Ihr dürft die Oberfläche nicht betreten!« »Was wir dort erlebt haben«, knurrte At-
Land ohne Sonne lan, »war nicht dazu angetan, uns Sehnsucht nach der Oberfläche empfinden zu lassen.« Die Königin stand auf, wobei sie sich elegant an den Armlehnen des steinernen Sessels hochzog. Sie glitt leichtfüßig die Stufen hinunter und blieb vor den Gefangenen stehen. Sie winkte den Jägerinnen und sagte: »Löst die Fesseln. Gebt ihnen zu essen und zu trinken. Sie dürfen nicht an die Oberfläche und auf keinen Fall zurück zu den Garsen.« »Wir können beides gern versprechen!« meinte Axton/Grizzard. Klauen blitzten wie Messerspitzen auf. Die Schnüre wurden blitzschnell durchtrennt. Die Männer fingen an, ihre Finger und Handgelenke zu massieren. Aber unverändert stand der Halbkreis der Jägerinnen vor dem Thron. »Wie konntest du glauben, wir wären Spione der winzigen Garsen?« fragte Atlan in einem Tonfall, von dem er hoffte, er würde die Situation entspannen können. »Wir glaubten, daß ihr fleischgewordene Schöpfungen der Zwerge seid!« beharrte die Königin. »Das verstehe ich nicht!« Atlan erinnerte sich an die Versuche der Garsen, ihre perfekten Abbildungen in Stein zu modellieren. Vielleicht hatte eine Jägerin diese Aktion beobachtet und einen falschen Schluß gezogen. Razamon lachte hart und sagte: »Die Garsen stellen eine Reihe von Schöpfungen her, die uns gleichen. Aber diese Bilder oder Statuen sind aus Fels, aus Stein! Das ist die Wahrheit, Königin Elcoy!« »Die Wahrheit zeigt sich früher oder später immer. Ob ich es bin, die sie erfährt, ist fraglich«, antwortete die Königin der Jägerinnen. »Auch das verstehe ich nicht«, sagte Atlan ruhig. »Du wirst es verstehen.« »Früher oder später«, sagte eine Jägerin. »Kommt jetzt.« Weitaus weniger grob führten die weißbepelzten Katzenwesen die drei Männer nach
19 rechts. Ein schmaler Korridor öffnete sich und entließ die Ausgesetzten in eine kleine Kammer. Dort gab es Felsenbänke, dick mit Moos bewachsen, einen steinernen Tisch und Hocker aus Holz und Fellen. Die Jägerin deutete auf den Tisch und befahl: »Ihr bleibt hier. Es wird euch etwas gebracht werden.« »Danke«, sagte Grizzard. »Nach dem Essen brauchen wir Informationen. Und ungestörten Schlaf.« Ohne eine Antwort verschwand die Jägerin. Die Ausgesetzten warfen sich auf das dunkle Moos und dehnten ihre Muskeln. Zwischen Decke und Wand der Kammer befand sich zwar ein Lichtkanal, aber er war von geringem Durchmesser und ließ an seinem anderen Ende erkennen, daß das Licht schwächer wurde. Atlan streckte sich auf dem Moos aus, schloß die Augen und holte tief Luft. Der Luftzug strich genau über sein Gesicht hinweg. Fast träumerisch sagte der Atlanter: »Zum erstenmal, seit man uns hier ausgesetzt hat, haben wir etwas Ruhe. Wir sollten den Zustand genießen.« »Zweifellos ein guter Vorschlag«, antwortete Razamon, »zumal dieser Zustand von kurzer Dauer sein wird.« Zwei Jägerinnen brachten Früchte, Wasser und eine Art Saft in Holzkrügen, steinerne Becher, etwas, das wie Fladenbrot aussah und einige Brocken kaltes Fleisch. Schweigend und fast gierig machten sich die Ausgesetzten über das Essen her.
* Die Mavinen, ein Stamm von rund fünfhundert Individuen, wurden von verschiedenen Königinnen regiert. Im Augenblick waren es drei: Elcoy, Daknar und Rirkiv. Die Königinnen schienen auf merkwürdige Weise miteinander zu rivalisieren, aber ließen es wohl auf keinen ernsthaften Kampf ankommen, der die amazonisch wirkende Gemeinschaft schädigen würde. Im kleinen Staat der
20 Mavinen herrschten fast militärische Disziplin, eine wohltuende Ruhe und überzeugende Sauberkeit, und wo die Jägerinnen jagten, erfuhren die drei Fremden nicht. Noch nicht. Aber sie versorgten sich selbst durch Fragen und Beobachtungen mit Informationen. Nur die herrschende Königin befand sich unter der Planetenoberfläche in den ausgedehnten Höhlen. Im Augenblick warten die zwei Gegenköniginnen »oben«. Sie waren allein und einsam, ohne Anhang und schützende Kriegerinnengruppen. Man sprach nicht gern von Daknar und Rirkiv. Sie schienen in gewissem Sinn ausgestoßen oder so etwas wie aussätzig zu sein – nur ihre Meditationsphase lang. Dann erhielten sie auf Kosten ihrer Vorgängerinnen wieder alle ihre uneingeschränkten Rechte zurück. »Aber viele Königinnen sterben an der Oberfläche und kommen niemals zurück«, sagte die Jägerin, die das Essen gebracht hatte. Dann verließ sie die Kammer und gab keine Antwort mehr. Atlan, Razamon und Grizzard/Axton durften sich im Labyrinth der Felsen fast überall ungehindert bewegen. Nur einige Kammern und der kleine Thronsaal waren ihnen verboten worden. Etwa einen Tag nach ihrer Gefangennahme entdeckten sie in einem Winkel der größeren Höhlen ein Pelzwesen, das sich seltsam verhielt. Als die Fremden auf die alte Jägerin zugingen, verkroch sie sich noch tiefer in einen dunklen Winkel. Atlan stieß Razamon an und sagte: »Das ist etwas anderes als eine alte Jägerin.« Das Fell war fleckig und grau. An einigen Stellen war das Haar ausgegangen. Die Augen tränten und blinzelten. Dieses Wesen war nicht nur alt, sondern erschreckend abgemagert. Verglichen mit den jungen, graziösen Jägerinnen wirkte dieses Wesen auffallend männlich. Grizzard sprach es an. »Kann es sein, daß du ein männlicher Ma-
Hans Kneifel vine bist?« »Ja«, krächzte der Mavine. Schon einige Male hatten die Fremden beobachten können, daß die eine oder andere Jägerin eine alte oder zittrig wirkende Geschlechtsgenossin fütterte und vorsichtig aus dem Weg führte. »Das heißt, daß es noch andere Männer in den Höhlen gibt? Sind es nur alte Männer?« »Nein. Auch junge. Aber sehr wenige.« »Habt ihr Einfluß auf die Königin? Dürft ihr mit uns sprechen?« »Nein.« Der alte Mann machte einen niedergeschlagenen, fast bemitleidenswerten Eindruck. Er zitterte und hob immer wieder seine Klauen vor die Augen. Atlan zog Razamon zur Seite. »Die alten Männchen scheinen Drohnen und überdies unwichtig zu sein. Wir werden hier nichts erfahren.« »Nein«, sagte schrill der alte Mann. Sie nickten ihm zu und gingen schnell weg. Zweifellos verließen immer wieder einige der Katzenjägerinnen das subplanetare Reich und kamen auch wieder zurück. Das Vorhandensein von Früchten und Fleisch bewies diese Tatsache. Aber keiner der drei Ausgesetzten hatte bisher auch nur eine Spur von einem Ausgang oder einer Treppe entdecken können. Etwa eineinhalb Tage lang streiften sie durch die hundert Höhlen, Gänge und gewundenen Tunnel. Plötzlich stand eine Kriegerin vor ihnen. Sie trug keine Waffen, aber ihr Verhalten war unzweifelhaft autoritätsbewußt. »Geht zur Königin«, sagte sie. »Elcoy wartet.« »Sofort, wenn du uns führst«, erwiderte Atlan. Die große, schlanke Mavine winkte und brachte sie in den Thronsaal. Die Königin lag diesmal nicht lässig und selbstbewußt in ihrem Sitz, sondern schien nervös und angespannt. Sie kauerte auf der Vorderkante des Sessels, beugte ihren Oberkörper nach vorn und hatte die langen Beine ausgestreckt und gekreuzt. Um ihre Gelenke lagen breite Bän-
Land ohne Sonne der, die aus Pflanzenfasern, Knochenteilen und farbigen Beeren oder trockenen Früchten bestanden. Das Schweigen in dem kleinen Raum wurde fast drohend. Schließlich sagte Atlan: »Du hast uns rufen lassen. Wir sind hier.« »Das sehe ich«, gab die Königin mit ihrer kehlig schnurrenden Stimme zurück, »ich habe euch genau beobachten lassen.« »Und was hast du dabei erfahren?« erkundigte sich Razamon bedächtig. Die Mavine machte eine Bewegung, die soviel heißen mochte wie: setzt euch irgendwohin. Die Männer kauerten sich auf die unterste Stufe und versuchten sich zu entspannen. »Ihr scheint wirklich fremd auf Dorkh zu sein.« »Auf – Dorkh?« fragte Atlan gedehnt, während der Extrasinn alarmiert wisperte: Denk an die verschwundene Botschaft! »So bezeichnen wir unsere Welt, von der ihr nur wenig zu kennen scheint. Sonst würdet ihr nicht so viele Fragen stellen. Ich glaube, daß ihr nicht von den Garsen kommt.« »Das ist richtig«, sagte Razamon und hatte plötzlich wieder sein kaltes Lächeln im Gesicht. »Derjenige, von dem wir ausgesetzt wurden, befahl uns, Dorkh für ihn zu erobern.« »Wer war es?« »Wir wissen es nicht genau. Vielleicht handelt es sich um Duuhl Larx. Er ließ uns eine dürftige Botschaft zukommen. Offensichtlich erwartet er von uns ein Wunder. Falls das stimmt, hätte er uns bewaffnen und besser aufklären müssen. Du weißt, daß wir waffenlos waren.« »Es wird Waffen geben, wenn ihr sie braucht«, sagte die Königin. »Einfache, wirkungsvolle Waffen, wie sie meine Jägerinnen haben.« »Wann?« »In kurzer Zeit. Wenn meine herrscherliche Phase wieder abgelaufen ist.« »Wie?« Augenblicklich begriffen die Ausgesetz-
21 ten, daß ihre Spannung zu Recht bestand. Die Königin mußte ihren Platz mit der Nachfolgerin tauschen. Also würde sie an die Oberfläche gehen, und Daknar würde ihren Sessel einnehmen. Schweigend und konzentriert, aus schillernden Katzenaugen, starrte Elcoy die Fremden an. Seltsamerweise wirkte sie plötzlich viel klüger und älter als bei ihrem ersten Zusammentreffen. »Ihr habt verstanden?« fragte sie. »Ja. Du scheinst den Aufenthalt an der Oberfläche zu fürchten. Vermutlich aus mehreren Gründen«, sagte Atlan. Die Königin führte mit der rechten Pfote eine verwirrende Bewegung aus und erwiderte: »Ich vermute, daß meine Rivalinnen Daknar und Rirkiv für mich eine Falle vorbereitet haben. Sie wollen mich ausschalten – ich habe es euch schon angedeutet. Ich herrsche auf andere Art über diesen Stamm der Jägerinnen. Ich will auch das Gesetz abschaffen, das alle Rivalinnen während einer Regierungszeit an die Oberfläche treibt.« »Verständlich«, meinte Grizzard, »auch im Hinblick auf deine eigene Lage. Und die zweite Falle?« »Keine Falle. Es sind die Gefahren. Ihr wißt, daß meine Jägerinnen und Kriegerinnen an der Oberfläche nach Beute jagen?« »Sie sind bewaffnet!« »Ja. Aber von ihren Beutezügen kommen sie sehr oft blutig und voller Beulen zurück. Sie haben zahllose Kämpfe zu bestehen. Ab und zu fehlen auch Jägerinnen; wir sind sicher, daß sie getötet worden sind. Die Oberfläche ist voller wenig bekannter Gefahren.« »Wir wissen es«, sagte Atlan. »Und was sollen wir mit Hilfe deiner Waffen tun?« »Mich beschützen, wenn ich meine Regierungsphase beendet habe. Ich werde mit euch einen Vertrag schließen. Ich gebe euch die Freiheit, wenn ihr mich beschützt.« Sie meint es ehrlich! flüsterte der Extrasinn. Atlan drehte sich um und versuchte herauszufinden, ob die Königin belauscht worden war. Aber es war keine Jägerin zu se-
22 hen. Die Bedeutung dieses Vorschlags war den Fremden klar: Sie wurden freigelassen, bewaffnet und an die Oberfläche entlassen. Dort mußten sie warten, bis Elcoy erschien, und sie beschützen. Dabei wußten sie nicht einmal, wie es an der Oberfläche wirklich aussah. Razamon stellte sofort eine Frage. »Nun«, sagte Elcoy halblaut, »vom Wasserfall mit allen seinen Felsen erstreckt sich ein dichtes Dschungelgebiet bis zu den Grauen Bergen sehr weit im Westen. In den Bergen leben einer alten Sage nach andere Königinnen in friedlichen Mavinenreichen. Dorthin will ich mich mit eurer Hilfe durchschlagen.« »Deine Kriegerinnen – sie werden mit diesem Plan nicht einverstanden sein!« sagte Atlan überzeugt. »Sicher nicht. Aber ich kann sie so lange ablenken, wie es nötig ist. Sie gehorchen ihrer Königin aufs Wort.« Razamon und Grizzard nickten Atlan zu. Der Pthorer antwortete: »Wir werden mit dir diesen Vertrag schließen. Er enthält Nachteile und Vorteile für uns und ebenso für dich.« Für die Königin waren sie nichts anderes als Werkzeuge. Für ihre Freiheit gingen sie eine gefährliche Verpflichtung ein. Daß es nicht nur in den Nebeln vor dem Wasserfall, sondern auch im Dschungel von Dorkh höllisch riskant war, wußten sie. Wenn schon die blitzschnellen KatzenwesenJägerinnen getötet wurden, bedeutete dies, daß auch die Jägerinnen gejagt wurden. »Also!« forderte Grizzard auf. »Wann sollen wir versuchen, die Oberfläche zu erreichen?« »Ich werde euch den besten Zeitpunkt bald mitteilen.« »Und wie lange dauert deine Regierungszeit noch, Königin?« »Noch zwölf Tage. Seid auf der Hut! Auch meine Jägerinnen werden euch jagen, wenn sie erfahren, daß ihr geflohen seid. Ich werde alles tun, um euch zu helfen und die Kriegerinnen zurückzuhalten. Aber sie werden sich nicht an meinen Befehl gebunden
Hans Kneifel fühlen, wenn ich nicht mehr Königin bin.« Dann sagte Elcoy noch etwas Überraschendes: »Razamon wird erfahren, wo ihr die Waffen findet. Dir, Atlan, werde ich den Fluchtweg aus den Höhlen schildern. Und der mit dem dunkelbraunen Kopfpelz und der Vogelnase wird wissen, wo wir uns treffen.« Razamon knurrte: »Er wird nicht für uns alle schlafen, sondern auch für uns Wissen tragen. Alter Scherz zwischen uns, Königin. Nochmals: einverstanden. So und nicht anders werden wir vorgehen.« »Ich habe nicht daran gezweifelt.« »Wir dürfen gehen?« Die Königin fauchte auf. Die Bedeutung dieses emotionellen Lautes blieb unklar. Dann sagte sie: »Ruht euch aus. Bereitet euch für die Aufgabe vor.« Die Ausgesetzten standen auf und verließen den Thronsaal. Weit und breit ließ sich keine Jägerin blicken. Aber die drei Freunde wurden das Gefühl nicht los, daß man sie belauscht hatte. Sie hatten tausendmal die Erfahrung gemacht, daß ein scheinbar guter Plan durch eine winzige Panne mißriet. Und ein Fehlschlag bedeutet für sie nur eines: tödliche Gefahren auf einer Welt, die sie nicht kannten.
* In der Dunkelheit ihres offenen Raumes – es brannte nur eine winzige Lampe voller Pflanzenöl mit einem Faserdocht – fragte Grizzard: »Kannst du dir denken, Razamon, was dieses Dorkh bedeutet? Ich glaube, es ist ein Planet, den er noch nicht beherrscht.« Razamon murmelte mit seiner schlaftrunkenen Stimme: »Es kann ebensogut ein Test oder eines der makabren Spiele sein, mit denen sich die Neffen zu ergötzen pflegen.« »Ruhe!« sagte Atlan. »Wir werden es noch früh genug erfahren. Schlaft jetzt. Ich
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weiß nur, daß uns an der Oberfläche nicht nur die Jägerinnen hetzen werden und die Supereulen der Garsen, sondern daß auch alle anderen denkbaren Gefahren eines Dschungels vorhanden sein werden. Die Bewaffnung der Jägerinnen wird über Steinbeil und Pfeile oder Speere nicht hinausgehen.« »So wird es sein«, sagte Razamon grimmig. »Gute Nacht.« Atlans photographisches Gedächtnis würde ihn niemals im Stich lassen. Vor seinem inneren Auge entstand immer wieder der Plan der subplanetarischen Anlagen des Mavinenreichs. Bevor er einschlief, versuchte er herauszufinden, an welchen Stellen es Aufgänge in den Dschungel geben konnte. Denn die Früchte, die Beeren und das Fleisch kamen dorther. Die Ordnung und Disziplin der Katzenwesen verhinderten, daß er auf seinen Wanderungen wichtige Spuren gefunden hatte. Lebo Axtons Bewußtsein im Körper Grizzards hatte andere Gedanken und Überlegungen. Er befand sich anscheinend in körperlicher Sicherheit, aber dennoch war er desorientiert. Einerseits freute er sich, zusammen mit den zwei Freunden geheimnisvolle Abenteuer zu erleben, aber er sah in keinem dieser Abenteuer etwas, das ihm ein Ziel und einen klaren Weg zeigte. Er hatte kein erklärtes Ziel, kein anderes, als auch die Ereignisse auf Dorkh zu überleben. Er sehnte sich danach, die Freunde zum Treffpunkt mit Elcoy im Dschungel zu führen. Aber er kannte den Treffpunkt nicht einmal aus Schilderungen der Königin. Er hörte, daß Razamon zu schnarchen anfing und schlief endlich selbst ein.
* Atlan wachte auf, hörte einige leichte Tritte und dann, wie sich Katzenpelz gegen Stein rieb. Er öffnete die Augen. Noch brannte die winzige Lampe, aber die Kammer wurde bereits vom Licht der Außenwelt erhellt. Vor seinem Lager stand eine Jägerin und beugte sich über ihn.
Das Katzenwesen schnurrte fauchend: »Ich bin Alzei, von der Leibwache der Königin. Komm.« Sie zeigt dir den Ausgang! zischte der Logiksektor. Atlan schwang sich von dem weichen Lager, warf einen kurzen Blick auf seine Freunde und sah, daß sie noch schliefen. Wenigstens taten sie so. Er folgte der Jägerin und fragte, als sie sich allein in einem leeren Teil des Labyrinths befanden: »Wohin bringst du mich?« »Die Jagdtrupps sind ausgeschwärmt. Es sind nur wenige Mavinen hier. Ich zeige dir den Weg in den Dschungel.« »Hat Elcoy es befohlen?« »Nichts geschieht ohne Befehl der Königin. Es muß schnell gehen, Fremder Atlan!« Sie hasteten zwischen den vielfarbigen Felsen hindurch und verließen bald den ausgetretenen Pfad. Die Jägerin sprang mit weiten Sätzen zwischen den Felsen und den Eingängen zu anderen Kammern hindurch. Atlan passierte einige Magazine, in denen die Früchte aufbewahrt wurden, er kam an dem unterirdischen Badesee vorbei und an Kochstellen, die ausgestorben dalagen. Bis hierher kannte er noch jeden Abschnitt der Katakomben. Mehrmals blieb die Jägerin stehen und wartete auf ihn; er hatte nicht vor, sich zu verausgaben, und achtete darauf, daß er unbemerkt blieb. Dann verschwand der huschende weiße Körper zwischen zwei Wänden, die sich in einem schmalen Spalt öffneten. Stufen aus großen, flachen Steinen führten zwischen den Felsen in einer starken Krümmung aufwärts. Auch diese Stelle war Atlan noch bekannt. Schwer atmend sprang Atlan von Stein zu Stein und prallte in vollem Lauf gegen den Rücken der Jägerin. Sie fauchte zornig auf, ringelte ihren Schwanz in die Höhe und hielt Atlan am Arm fest. Krallen bohrten sich kurz in seine Muskeln. »Es geht noch weiter!« sagte sie kurz. Atlan nickte und holte tief Luft. Die Jägerin rannte wieder los und führte Atlan im Zickzack durch wilde Spalten, zerklüftete Steintrümmer und Löcher, die von herunter-
24 gebrochenen, hausgroßen Felsbrocken gebildet wurden. Es roch feucht und moderig, aber der Luftzug wurde stärker und schneidender. Die erwärmte Luft aus dem Labyrinth pfiff an ihnen vorbei aufwärts. Grotten, tiefe Kerben im Fels, schmale Durchschlupfe und immer wieder irgendwelche kleineren oder größeren Stufen aus Stein – Atlan und Alzei gelangten höher und höher, ohne jemanden zu hören oder zu sehen. Schließlich, nach einer rasenden Kletterei von rund dreißig Minuten Dauer, kamen sie an ein merkwürdig geformtes Stück dieses Fluchtwegs. Natürlich war es eine Höhle, aber ihre Wände bestanden aus Fels mit zahllosen Einschüssen, waren durchzogen von vielen, sich kreuzenden Adern aus farbig leuchtenden Mineralien. Offensichtlich war weit oberhalb des Ausgangs tatsächlich die Sonne aufgegangen; aus drei großen Öffnungen kam grelles Licht herunter und verwandelte die Höhle in ein zuckendes Feuerwerk aus Lichtblitzen. »Dies ist die Treppe zur Oberfläche!« sagte die Jägerin leise. »Zweihundertdreißig große Stufen.« Sie zeigte auf den mittleren Durchgang zwischen den funkelnden Halbedelsteinen und Drusen. »Ich werde ihn wiederfinden«, antwortete Atlan. »Was erwartet denjenigen, der dort oben ankommt?« »Ein tropfender, kochend heißer Wald voller Dornen, Fallen, wilder Tiere und bösartiger Insekten. Ich weiß, wovon ich spreche. Ich gehöre zu den Jagdkommandos.« »Verstanden«, sagte Atlan. »Die Flucht der Königin mit uns als Leibgarde wird gefährlich werden?« »Das ist sicher. Schnell zurück, ehe sie uns sehen!« Die Jägerin drehte sich herum und sprang in der schnellen Eleganz einer großen Katze die natürlichen Stufen hinunter. Atlan folgte ihr und versuchte, die Geschwindigkeit zu halten. Sie schafften es, unbemerkt den Rand einer größeren Höhle zu erreichen. Das Fell der Jägerin war an einigen Stellen
Hans Kneifel schweißnaß, und Atlan keuchte und war in Schweiß gebadet. »Niemand hat uns gesehen«, stieß er hervor. »Warum wollt ihr Kriegerinnen und Jägerinnen uns nicht gehen lassen?« »Es gibt verschiedene Gründe. Daknar würde uns hart bestrafen.« »Ich habe verstanden«, sagte der Pthorer. »Ihr seid gehorsame Untertanen!« »Es war immer so. Wir werden von vielen Seiten bedroht und angegriffen.« Langsamer bewegten sie sich durch die Teile des Labyrinths. Das unterplanetarische Reich begann langsam zu erwachen. Aber niemand schien Verdacht geschöpft zu haben. Als Atlan nach einem erfrischenden Bad in dem kalten Wasser des Sees in die Wohnkammer zurückkam, mußte er feststellen, daß Razamon und Grizzard/Axton fehlten. Aber auf dem Tisch befanden sich die Bestandteile eines ungewöhnlich reichhaltigen Essens. Während sich Atlan stärkte, dachte er über den Fluchtweg nach, analysierte jeden Abschnitt und versuchte, ihre Chancen auszurechnen. Logischerweise waren sie schlecht, wenn die Höhlen voller Jägerinnen waren. Je weniger weiße Katzenwesen sich unterhalb der Planetenkruste befanden, desto besser würde die Flucht gelingen. Elcoy ließ die Fremden frei, weil sie ihre Hilfe brauchte. Daknars Reaktion war den Jägerinnen des Stammes bekannt. Sie hatte ganz bestimmt genügend Gründe, die drei Fremden weiterhin gefangenzuhalten. So also war die Lage. »Die Situation ist alles andere als ersprießlich!« murmelte Atlan und fragte sich, wie ihr Abenteuer enden würde.
4. Als letzter stand der Arkonide auf, sicherte lange mit geschlossenen Augen und angespannten Sinnen in alle Richtungen und verließ dann auf Zehenspitzen die Kammer. Nichts blieb von ihnen zurück. Es war schätzungsweise eine Stunde, bevor durch die
Land ohne Sonne Licht und Luftkanäle die erste Helligkeit in die Kavernen und Höhlen geleitet wurde. Atlan tastete sich durch fast vollkommenes Dunkel. Nur an weit voneinander entfernten Punkten brannten jene winzigen Ölflämmchen und ließen die Hindernisse mehr ahnen als sehen. Atlan wußte genau, daß es möglicherweise um ihr Leben ging. Aber der Umstand, daß er in den letzten rund zwei Stunden nicht den geringsten Lärm gehört hatte, machte ihn optimistisch. Selbst wenn die Kriegerinnen Grizzard und Razamon ergriffen hätten, wäre dies nicht völlig lautlos vor sich gegangen. In fünf Tagen erst wird die Königin ausgestoßen! sagte der Logiksektor überflüssigerweise. Atlan, dem erst der zeitweilige Verlust dieses Sekundärorgans gezeigt hatte, wie hilflos er ohne Extrasinn war, ignorierte diesen Hinweis und schlich weiter. Sein Verstand, seine Imaginationskraft und die genaue Kenntnis des Weges, immer wieder gedanklich vollzogen und nachvollzogen, projizierten in der Finsternis ein durchaus brauchbares Bild der Umgebung. Es gelang Atlan, etwa eine Stunde lang die wilden Serpentinen des Weges durch die verschiedenen Höhlen des Labyrinths zurückzulegen, ohne sich die Schienbeine blutig zu schlagen oder über unsichtbare Steinbarrieren zu stolpern. Irgendwo vor ihm – hoffentlich weit vor ihm und gleichermaßen über ihm! – sollten sich Grizzard und Razamon befinden! Atlan zwang sich dazu, keine sinnlose Eile zu zeigen. Er ging weiter, tastete seinen Weg durch die Dunkelheit, berührte mit den Fingern der ausgestreckten Hände immer wieder Felsen, Steine, bestimmte Holzkonstruktionen und die Seile aus pflanzlichen Fasern, die weniger zur Sicherheit als zur Richtungsangabe entlang tiefer Spalten gespannt waren. Er roch von rechts die ätherischen Öle der Früchte und Knollen, die in den Magazinen eingelagert waren. Von links brachte ein warmer Lufthauch die Ausdünstung vieler
25 pelziger Körper heran. Jägerinnen! Kriegerinnen! Noch schliefen sie. Wieder einhundert, zweihundert Schritte! Ein mehrdimensionaler Irrgarten, in seiner Dunkelheit nur mit allen Sinnen gleichzeitig zu erfassen! Atlan bewegte sich weiter. Er stolperte, schlich, schwankte und fiel immer wieder einmal nach vorn. Dann kroch er auf allen vieren weiter. Er konzentrierte sich mit sturer Ausschließlichkeit auf das, was er vor sich ahnte, und woran er sich erinnerte. Wenn er über den Körper einer schlafenden Jägerin fiel, würde er in einer einzigen akustischen Explosion nicht nur alle Bewohnerinnen der Höhlen wecken, sondern auch sich und die Freunde gefährden. Du schaffst es ebenso wie Grizzard und Razamon! flüsterte eindringlich der Logiksektor. Wieder kamen die verschiedenen Eindrücke: rauher Fels, mit Moos bewachsene Steine, Gerüche und der Luftzug, der ihn jetzt im Nacken traf. Wieviel Zeit war inzwischen vergangen? Hatte Razamon die Waffenkammer auch gefunden? Atlan riß sich die Fingerknöchel an einem rauhen Felsband auf und roch gleichzeitig den ersten Hauch der feuchten Dschungelluft. Wieder einmal wußte er ganz genau, an welcher Stelle des langen und beschwerlichen Fluchtwegs er sich befand. Er richtete sich auf und streckte beide Arme weit aus. Seine Fingerspitzen berührten links und rechts feuchtkalten Fels. Der Spalt! Atlan tastete sich über die Steine aufwärts. Hierher reichte auch nicht mehr der letzte, unendlich vage Lichtschimmer der Öllampen. Es war vollkommen dunkel. Ob er mit offenen oder geschlossenen Augen weiterschlich, war bedeutungslos – er sah nichts mehr, und wenn er etwas sehen würde, so wäre es eine Halluzination. Wenigstens während der nächsten hundert Schritte. Atlan fing an, die Stufen zu zählen. Die dünnen und abgewetzten Sohlen der alten Stiefel, die man ihnen in der Zelle auf Cagendar
26 angezogen hatte, ließen jede Unebenheit erspüren. Nach einer kleinen Ewigkeit spürte er rechts neben sich einen Luftzug, dann preßte sich etwas Scharfes gegen seinen Hals. Jemand flüsterte: »König von Atlantis?« Es war Razamons Stimme. Atlan entspannte sich und wisperte zurück: »Ich bin es. Ist Grizzard bei dir?« »Mit gespanntem Bogen auf der anderen Seite. Alles klar?« Atlan stieß pfeifend die Luft aus und fühlte, wie ihm ein Bündel knüppelähnlicher Dinge in die Hände gedrückt wurden. »Bis jetzt ist alles klar. Ich denke nicht, daß man mich gehört hat«, antwortete er so leise wie möglich. »Und ihr?« Irgendwoher aus der Dunkelheit erklärte Grizzard: »Es gab keine Probleme, Atlan. Schnell, weiter!« Atlan schüttelte sich und wußte, daß er soeben den Spalt passiert hatte, der mit einem gigantischen, in Wirklichkeit leicht zu bewegenden Steinblock verschlossen war. Hinter diesem Spalt lagen die Waffen der Jägerinnen und Kriegerinnen. Sie holten sie hier ab, wenn sie an die Oberfläche gingen, und deponierten sie wieder, wenn sie von oben kamen. Atlan wurde den Verdacht nicht los, daß die archaischen Vorfahren der Garsen auch dieses andere unterplanetarische Labyrinth vor einigen Jahrtausenden oder weiter zurückliegenden Zeitläufen geschaffen hatten; einen Beweis gab es freilich nicht für diese Mutmaßung. Vor ihm tastete sich Lebo Axton aufwärts, hinter ihm schleppte Razamon irgendwelche Waffen mit sich. Schweigend kletterten sie entlang der Wände, schlugen mit den Zehen immer wieder schmerzhaft gegen die Vorderkanten der unechten Stufen und befanden sich schließlich in der kleinen Höhle, in der Atlan vom Glanz der Mineralienadern und der funkelnden Einschlüsse irritiert worden war. Er fragte wispernd:
Hans Kneifel »Kann einer von euch Feuer machen? Oder habt ihr so etwas wie Licht?« »Einen Moment«, sagte Razamon links hinter ihm. Zwei Sekunden später ertönte ein helles Klirren, dann gab es einige Funken, als Razamon zwei Steine oder Stein und Stahl gegeneinanderschlug. Augenblicklich hüllte wieder der funkelnde und schimmernde Lichtorkan die drei Männer ein. Jeder Lichtimpuls wurde tausendfach reflektiert, und dies in allen Farben des Spektrums. »Aus!« sagte Atlan. »Das reicht.« Razamon fragte: »Du kennst den Ausgang?« Atlan hatte sich tatsächlich hinlänglich orientieren können. Er ging geradeaus und sagte: »Hier ist er. Folgt meiner Stimme oder dem Luftzug, der von mir unterbrochen wird.« Eine Hand tastete über seinen Rücken und hakte sich schließlich im Gürtel fest. Atlan schob sich weiter. Er wußte, daß hier die Stufen nicht zahlreicher, aber viel steiler wurden und völlig systemlos nach oben führten, rechts herum oder linksherum, in heilloser Unordnung, aber immer steil der Oberfläche entgegen. Inzwischen hatte auch der Luftzug die drei Freunde erfaßt und sog sie aufwärts. Dieser Eindruck war nicht mehr als eine Illusion, aber er half ihnen. Wieder verstrich eine unbestimmte Zeit. Dann trat Grizzard auf einen Stein oder ein Stück Holz. Was immer es war, jedenfalls drehte es sich und ließ einen unsichtbaren Stapel von kugelförmigen Dingen zusammenbrechen. Vermutlich waren es große, getrocknete Kürbisse oder riesige, knochentrockene Nüsse. Diese Dinge und runde Steine, die als Warnsignal aufgebaut waren und einen großen Haufen inmitten des Fluchtwegs bildeten, klapperten und polterten übereinander und lösten sich, und dann fingen sie an, mit einem höllischen Lärm die steinernen Stufen abwärts zu rollen und zu springen. Es war ein Inferno aus hallenden, schmetternden und widerhallenden Ge-
Land ohne Sonne räuschen. Binnen Sekunden würde diese Lawine aus hohlen Körpern jede Jägerin in den Kavernen aus dem Schlaf wecken. Razamon sagte entschlossen: »Wir haben einen Vorsprung von einigen tausend Schritten. Vielleicht können wir ihn halten.« »Aber nur dann«, rief Atlan in den noch immer rasend lauten Lärm hinein, »wenn wir uns nicht eine Sekunde lang aufhalten.« Gleichzeitig setzten sie sich in Bewegung und rannten, sprangen und keuchten Grizzard hinterher, der die ineinander verschlungenen Serpentinen des Weges zur Oberfläche von Dorkh emporhastete. Die Öffnung, von der aus sie den Dschungel erreichten, konnte nicht mehr sehr weit entfernt sein. Die nächsten etwa hundert Stufen begleitete sie der Lärm der zusammengebrochenen Barriere. Er wurde immer leiser; mehr und mehr Gegenstände hatten den tiefsten Punkt der Treppe erreicht. Grizzard, Razamon und Atlan hielten an, der Berserker schlug mit Stahl und Stein Feuer und riß aus Atlans Händen eine Fackel. Augenblicklich loderte die Spitze der Fackel auf und beleuchtete knisternd die Stufen der Höhlung. Während sie von Stufe zu Stufe sprangen, schrie Grizzard: »Wir können den Gang mit Feuer sperren!« »Das sichert zumindest unseren Vorsprung!« dröhnte Razamon. Atlan rief zurück: »Wenn wir erst einmal den Dschungel erreicht haben, sind wir in Sicherheit. Die Jägerinnen sind nicht schneller als wir.« »Wir müssen erst einmal oben sein.« »Und das mitten in der Nacht …« Sie flüchteten die letzten Meter und wußten, daß sie in kurzer Zeit irgendwo im Dschungel auftauchen würden. Das zuckende Licht der Fackel wurde von der frischen, aromatisch riechenden Luft angefacht. Die Decke senkte sich bis auf knapp eineinhalb Meter, und der Korridor verwandelte sich in einen feuchten runden Tunnel, der scharf abknickte und dann plötzlich endete. Schon
27 jetzt schlugen die Laute des erwachenden Urwalds an die Ohren der Flüchtenden. Insekten, unsichtbare Tiere, schreiende und flatternde Vögel und die donnernden Schreie irgendwelcher großer Dschungelbestien vermischten sich zu einem schauerlichen Chor. Das unterplanetarische Reich der Mavinen endete zwischen den mächtigen Wurzeln eines riesigen Baumes. Die Ränder des Felsens, um den der Baum halb herumgewachsen war, wurde von den hölzernen Armen umschlungen und eingerahmt. Der Boden vor der letzten Steinplatte war festgetreten und lehmig. »In wenigen Minuten wird es hell werden!« sagte Razamon und deutete geradeaus. »Westen müßte in dieser Richtung sein.« »Zuerst einmal weg vom Ausgang!« bestimmte Atlan und schwenkte die Fackel. Die nähere Umgebung wurde erhellt. Zwischen den Wipfeln der Bäume zeigte sich grauweißer Himmel; der Sonnenaufgang stand wohl unmittelbar bevor. Grizzard machte einige Schritte geradeaus, als Atlan scharf rief: »Halt! Der Boden vor dir!« Mitten auf dem breiten Pfad, der sich zwischen einem doppelten Wall aus Ranken und langen Dornen krümmte, lagen zwei große Steine oder Felsplatten. Sie waren völlig sauber und ohne Spuren, dies hatte Atlan im Fackellicht sehen können. Sofort blieb Grizzard stehen. Atlan und Razamon verständigten sich mit kurzen Gesten, dann nahm Razamon Anlauf und sprang über die Platten hinweg. Atlan folgte auf demselben Weg, dann wagte Grizzard den Sprung und wurde von beiden aufgefangen. Atlan streckte den Fuß aus und trat vorsichtig auf die jenseitige Platte. Es knirschte, ein scharfes Knacken war unterhalb der Steine zu hören, dann klappten sie beide in der Schnittlinie nach unten. In der Grube waren zahlreiche zugespitzte Pfähle zu erkennen. »Verdammt!« sagte Grizzard und warf Atlans brennende Fackel in die Grube. »Eine Falle.«
28 »Eine Anlage«, bestätigte Razamon, »mit der die Mavinen ihr Staatsgebiet schützen. Und jetzt zu dir, Grizzard!« Razamon führte ihre Gruppe an, nachdem er die Waffen verteilt hatte. Jeder von ihnen erhielt einen Dolch aus Knochen mit Holzgriff, ein ähnlich gearbeitetes Steinbeil und einen Bogen mit einem Köcher voller kleiner, unfachmännisch hergestellter Pfeile. Grizzard antwortete: »Richtig. Ich kenne das Ziel. Elcoy hat es mir genau beschrieben. Ein einzelner Riesenbaum auf einem Hügel, neben einer überwucherten Tempelruine vor der Kulisse des dreifachen V.« »Ich bin nicht so sehr am Ziel interessiert«, sagte Atlan und duckte sich unter federnden und peitschenden Ästen, »sondern im Moment mehr am Weg dorthin.« »Es läuft darauf hinaus, daß wir geradeaus durch den Wald trampeln müssen«, sagte Grizzard. »Es gibt tausend Pfade, aber keinen geraden Weg. Wir müssen uns zuerst orientieren. Westen!« Von jedem Blatt tropfte es. Auch der Pfad, von Tieren und den Jägerinnen ausgetreten, war nichts anderes als ein schmaler Tunnel durch eine gewaltige Masse von Blättern, Dornen, Ästen und Stämmen. Aus jeder Richtung kamen die Schreie und Geräusche. Die Pthorer versuchten, so schnell wie möglich eine möglichst große Strecke zurückzulegen. Der Pfad beschrieb endlose Krümmungen, wurde schmaler und breiter, und schließlich mündete er in eine Lichtung. Sie war nicht sonderlich groß, etwa hundert Meter im Durchmesser. Das Innere war von modernden Baumstämmen, verfilzten Gewächsen und kleinen Büschen ausgefüllt. Jetzt konnten die Flüchtenden einen größeren Ausschnitt des Himmels über ihnen sehen. Er war voller tiefhängender Wolken; nur ein winziger Ausschnitt zeigte ein durchdringendes Blau und einen mächtigen Balken gelben Sonnenlichts. Atlan wischte sich Schweiß, Nadeln und Blattreste aus dem Gesicht und stieß keuchend hervor:
Hans Kneifel »Etwa vierundzwanzig Stunden langer Tag, eine gelbe Sonne und eine Anziehungskraft, die Pthor – oder der Erde – entspricht. Dorkh, was immer es sein soll, hat größte Ähnlichkeit mit bekannten Welten, nicht wahr, Razamon?« »Es ist beruhigend, daß wir uns nicht auch noch mit dreifacher Schwerkraft und anderen Widrigkeiten herumschlagen müssen. In welche Richtung, Axton?« Verzweifelt hob der Mann mit dem indianischen Profil die Arme. »Keine Ahnung. Aber dort drüben sehe ich einen großen Baum. Von dort müßten wir die drei starken Einschnitte in der Bergkette sehen können.« Sie sind hinter euch her! Atlan wußte, daß der Logiksektor recht hatte. Jeder längere Aufenthalt konnte gefährlich werden. Atlan schüttelte den Kopf und widersprach. »Westen ist dort, Grizzard. Wir müssen versuchen, so schnell wie möglich die Jagdkommandos der Mavinen abzuschütteln. Der Dschungel ist voller Wege, man muß sie nur finden. Los, Freunde.« Sie verließen den feuchten Pfad und drangen in das Gestrüpp am Rand der Lichtung ein. Unter ihren Schritten stoben aus dem Gras und den Kriechpflanzen unzählige schillernde Insekten und schwirrten hoch. Ihr zorniges Sirren und Brummen erfüllte die Luft. Ein riesiger Schatten huschte über die Lichtung. Die Männer rissen die Köpfe hoch – es war eine der eulenartigen Vögel, von denen sie gejagt worden waren. Diesmal schien der Raubvogel eine andere Beute in den Augen zu haben. Razamon schlug mit seinem Beil einen Ast zur Seite und sagte: »Hier hinein, Kameraden.« Wieder öffnete sich in dem grünen und braunen Wirrwarr ein Spalt. Die Männer, von einem riesigen Schwarm Insekten umschwirrt und verfolgt, verließen die breite Spur, die sie durch die Gewächse getreten hatten, und drangen in den Rand der Lichtung ein. Hinter ihnen peitschten die Äste gegeneinander, aber die Insekten rasten in
Land ohne Sonne den Raum zwischen den Baumstämmen hinein. Hier gab es zwischen rissigen, von Pilzen und Schwämmen bewachsenen Stämmen ungewöhnlich viel Raum. Der Boden war hoch bedeckt mit faulenden Pflanzenresten. Die Männer sprangen mit langen Sätzen durch das raschelnde Zeug. Jeder Schritt wirbelte riesige Mengen von Pilzsporen und Holzstaub hoch. Die Spuren würden nicht zu übersehen sein. Schweigend und in höchster Eile versuchten die Pthorer, die Stelle zu erreichen, an der mehr Licht zwischen den Stämmen zu sehen war. Sie verließen den stinkenden Hochwald und merkten voller Erleichterung, daß sich die Insekten in den Wolken hinter ihnen verloren hatten. Auf Atlans Schulter begann eine Beule zu wachsen; unbemerkt hatte ihn eine der riesigen Mücken gestochen. Erst jetzt schmerzte der Stich. Hinter den Bäumen, nach einer Barriere von Büschen und Sträuchern, lag im hellen Sonnenschein ein breites Bachbett. Rechts und links des schäumenden Wassers erstreckten sich unregelmäßige Flächen aus Kies und weißem Sand. Große Bäume neigten sich über den Durchlaß. »Endlich ein Stück Natur, mit dem wir etwas anfangen können!« rief Razamon und beschattete die Augen mit der Hand. Aber auch von dieser Stelle war es unmöglich, etwas vom fernen Gebirge zu erkennen. »Wie weit ist es bis zum Treffpunkt? Hat Elcoy darüber etwas gesagt?« wollte der Arkonide wissen. Grizzard riß sich die Lumpen von den Schultern und warf sich mit dem Oberkörper ins kalte Wasser. Er trank gierig und in großen Schlucken. Während er sich mit mehreren Handvoll Sand zu säubern versuchte, erwiderte er bruchstückweise: »Einige Tage … es hängt von unserer eigenen Schnelligkeit ab … die Königin sagte, daß der Dschungel voller Gefahren ist … wir sollen uns in acht nehmen … sie braucht starke und schnelle Leibwächter für ihren weiteren Weg.« »Eine außerordentlich präzise Schilde-
29 rung!« erklärte Razamon grimmig. »Bis jetzt leben wir immerhin noch. Wenn wir zwei Tage weiter gerannt sein werden, haben wir keinen Faden mehr am Leib.« Ihre Lumpen waren von den Dornen und den Ästen zerfetzt und hingen in Streifen von den Schultern. Ihre Stiefel verdienten ihren Namen nicht mehr. Wachsam sicherten Atlan und Razamon nach beiden Seiten der freien Fläche. Aber sie sahen nur einige kleine Tiere mit schwarzem Fell, die in den Lianen umherturnten. Hoch über dem Bachbett flatterte eine der bekannten Eulen. In diesem Moment schob sich wieder eine riesige Wolkenwand vor die Sonne und tauchte die Landschaft in ein diffuses Licht. »Ich löse euch ab!« sagte Grizzard, zog den Dolch hervor und betrachtete zweifelnd die Knochenschneide. Mit diesen Waffen waren sie nahezu wehrlos wie ohne Bewaffnung; sie taugten nicht viel. »Ein Wunder«, sagte Razamon, der Grizzards Skepsis sehr gut verstehen konnte, »daß überhaupt noch Jägerinnen lebend von ihren Jagden zurückkommen.« »Eigentlich erwarte ich sie jeden Moment!« rief Atlan. »Trotzdem: eine Pause muß sein.« Sie wuschen sich ausgiebig, immer abwechselnd, damit sie nicht überrascht werden konnten. Sie tranken das wunderbar frische Wasser und aßen einige derjenigen Früchte, die sie aus den Kavernen kannten. Dann bestimmten sie wieder die Richtung und gingen, etwas weniger hastig, weiter. Sie hielten sich zunächst am linken Rand des Bachbetts auf. Hier, auf dem Sand und den Kieseln kamen sie relativ schnell und ungehindert vorwärts. Sie vermieden es, deutliche Spuren zu hinterlassen und achteten darauf, daß ihre Füße ständig vom Wasser umspült wurden. Auf diese Weise wurden die tiefen Eindrücke im Sand weggewaschen. Trotzdem machten sie sich keine Illusionen – die Jägerinnen würden sie trotzdem aufspüren, wenn sie einmal die Spur aufgenommen hatten. Atlan probierte seinen Bogen mit einem
30 Schuß auf eines der namenlosen Klettertiere aus. Es war ein glatter Mißerfolg; viel taugte die schwache Waffe nicht. Der Bach wurde tiefer, die Ufer näherten sich einander. Die Männer wichen auf das rechte Ufer aus, wo es einen schmalen Tierpfad gab. Einige Minuten vergingen, und wieder nahm sie die Düsternis des Waldes auf. Nach einer Weile sagte Razamon: »Dieser Dschungel erinnert mich irgendwie an Pthor. Zugegeben, jeder Urwald ist weitestgehend gleich. Kennt man einen, kennt man fast alle. Aber dieser düstere, unheimliche Eindruck … ich bin allerdings sicher, daß wir uns keinesfalls auf Pthor befinden.« »Du phantasierst!« sagte Grizzard. »Ich glaube, die Jägerinnen haben aufgegeben.« »Das glaube ich nicht«, antwortete Atlan, und tatsächlich sah er aus dem Augenwinkel einen hellen, verwischten Fleck. Sofort streckte er die Hand aus und berührte Razamon an der Schulter. »Ja?« »Dort drüben. Ich bin sicher, ein Katzenwesen gesehen zu haben.« »Wo?« Atlan zeigte auf das gegenüberliegende Ufer. Steine, zerfallende Baumstämme und breite Vorhänge aus Lianen bildeten eine fast undurchdringliche Wand. Unaufhörlich fiel ein lautloser Regen von Blattresten, Insekten und Aststückchen ins Wasser, das jetzt schwarz und bewegungslos aussah. Riesige Blüten trieben, sich drehend und kreiselnd, an den Flüchtenden vorbei. »Wenn das stimmt …«, begann Razamon, und diesmal sahen sie alle ganz genau, daß sie verfolgt wurden. Vier schlanke Katzenwesen sprangen an einer Lücke vorbei. Für Sekundenbruchteile waren sie deutlich zu sehen. Ihre großen Augen schienen Blitze quer über das Wasser zu werfen. Einen Augenblick lang starrten sich die Männer schweigend an, dann reagierten sie fast synchron. Zuerst spurteten sie los, aber diesmal sicherten sie unaufhörlich nach allen Seiten.
Hans Kneifel Daß die Jägerinnen noch nicht angriffen, konnte nur bedeuten, daß es für einen Kampf einen besseren Platz gab – besser für die Verfolgerinnen. Es mußte irgendwo entlang dieses Baches liegen. Atlan rief auf terranisch: »Hinauf in die Bäume. Irgendwo vor uns haben sie vermutlich eine Falle aufgebaut. Sie kennen den Dschungel, wir nicht.« »Einverstanden. Aber hier …?« gab Razamon zurück. »Nein. Noch nicht.« Ihre Augen versuchten das Halbdunkel zu durchdringen und einen Baum zu finden, der ihnen bessere Chancen bot. Schließlich erkannten sie, als der Bach eine starke Krümmung beschrieb und sie freies Blickfeld hatten, einen Baumriesen mit tiefhängenden Ästen, von denen knotige Lianen ins Wasser hingen. Dieser Baum und seine Nachbarn verschränkten ihre riesigen Äste miteinander und bildeten so eine Art zweite Plattform hoch über dem Boden des Regenwalds. Als die Pthorer hinter der Kurve des Pfades aus dem Dunkel herausbrachen, hielten sie an und sprangen zur Seite. Eine schlammige Zone breitete sich zwischen den Bachufern aus. In diesem Morast stand eine Herde von rinderartigen Tieren. Es waren mächtige, kantige Leiber, über und über von zottigem Pelz und trocknendem Schlamm bedeckt. Die Tiere wälzten sich im Schlamm, rissen an den Ästen der Büsche und stießen die hochgeschwungenen Hörner gegeneinander. Große, rote Augen starrten sekundenlang die Störenfriede an. Von der Stirn bis zur Schwanzwurzel verlief über den Rücken der Tiere ein Kamm aus Horn oder Knochen, und die zackigen Wirbelfortsätze sahen gefährlich aus. Von hier aus wirkten sie wie die Schneiden von großen Sägen. »Unsere Chance!« schrie Atlan, packte eine Liane und zog sich daran hoch. Seine Hände und Füße fanden an den Knoten und Verdickungen guten Halt. Auch Razamon und Axton ergriffen die pflanzlichen Seile und zogen sich hoch. Als sie sich drei, vier
Land ohne Sonne Meter über dem Boden befanden, kam schlagartig Bewegung in die Herde. Das stärkste Tier schrie auf, riß den Kopf in die Höhe und drängte sich durch den sumpfigen Morast. Nach wenigen Metern griffen seine Hufe oder Klauen, es tauchte aus dem schwarzen Brei auf und schüttelte sich. Auch die anderen Tiere bewegten sich wütend, schrien und tappten aus dem Sumpf. Als sie sich schüttelten und einen Gegner suchten, traf ein Regen aus stinkenden, schwarzen Tropfen die Männer und hagelte prasselnd in die Gewächse am Ufer. Atlan erreichte die dicken Äste, ließ die Liane los und griff nach dem Bogen. Die Entfernung zu dem ersten Tier betrug nicht mehr als fünfzehn Meter. Atlan legte einen Pfeil ein und schoß ihn dem Leitbullen in den Hals. Das Tier schrie auf, senkte den Kopf und suchte einen Gegner. Als sich auf dem gegenüberliegenden Ufer abermals die auffallenden Körper der Jägerinnen zeigten, nahm das Tier diesen Gegner an. Es warf sich halb herum, stieß einen donnernden Schrei aus und stürmte geradeaus los. Der Bulle walzte nacheinander drei Büsche um, riß mit dem Gehörn einen Teil des Lianenvorhangs herunter und schob sich unaufhaltsam durch das träge Wasser des Dschungelflüßchens. Mit einem riesigen Satz erreichte er das andere Ufer und fuhr zwischen die erste Jagdgruppe. Der Rest der Herde verhielt sich ähnlich. Zuerst drehten und wendeten sich die Tiere, rammten einander die Hornspitzen in die Körper und stürmten dann in drei Reihen nebeneinander dem Leittier hinterher. Die Knochenkämme auf ihren Rücken teilten die zerfallenden Pflanzenteile tatsächlich wie riesige Sägen. Die trompetenden Schreie der Tiere verwandelten diesen Teil des Dschungels in ein Chaos. Andere Tiere stimmten in dieses Konzert mit ein. Aus allen Teilen des Regenwaldes ertönten Schreie, Kreischen, schrille Laute, hustende und bellende Geräusche, die den Weg der Flüchtenden von Ast zu Ast begleiteten.
31 Nach einem Weg von etwa hundert Schritten, die sie auf der höheren Ebene dieses Waldes zurückgelegt hatten, hielt Razamon an. »Wir werden unsere Verfolgerinnen davon abhalten müssen, uns bis zum Gebirge nachzurennen«, sagte er und zog Schwamm und Feuerzeug hervor. Er hatte sie in einem trockenen Stück seiner Kleidung verborgen gehabt. »Atlan, die Fackel!« Atlan protestierte nicht, aber er war skeptisch. Der Dschungel schien viel zu feucht, als daß Razamons Idee Erfolg haben konnte. Aber trotzdem wartete er, bis die Fackel lodernd brannte. Razamon grinste kalt, als er die Fackel schwang und weiter entfachte. Sie hangelten sich weiter und turnten auf einen bestimmten Platz zu, den der Berserker wohl schon vorher ins Auge gefaßt hatte. Es war ein einzelner Baum, der vor kurzer Zeit niedergebrochen sein mußte und genau über dem Bachufer hing. Seine Blätter waren gelb und sahen ausgetrocknet aus. Mit geschicktem Schwung schleuderte Razamon die Fackel in die Krone des Baumes. Sie schlug in die Blätter, versprühte einen Funkenregen, als sie gegen einen Ast schmetterte, und tatsächlich fingen einige Blätter rasend schnell Feuer. Flammen und Rauch stiegen auf. Sekunden später gab es eine Reihe von kleinen, puffenden Explosionen. Irgendwelche Früchte platzten auf und versprühten ätherische Öle. Die Flammen breiteten sich aus und fraßen sich nach den Seiten und abwärts. Dichter, grauer und weißer Rauch begann den freien Raum zwischen den grünen Mauern auszufüllen und zog abwärts. Ein Ausläufer erreichte die Stelle, an der die schlammbedeckten Bestien wüteten. In dem Durcheinander, das hinter der Kulisse der Gewächse stattfand, war nicht zu erkennen, ob die Büffelähnlichen die Katzenwesen angriffen. Aber alles war in Bewegung: Büsche brachen auseinander, die Bäume zitterten unter dem Anprall der Gehörne, und immer wieder erklang das zornige Brüllen der
32 schwarzen Riesen. Als die Tiere den Rauch in die Nüstern bekamen, verwandelte sich ihre Wut in Raserei. Sie begannen, die Ufer zu verwüsten. Die Tiere bildeten ein Rudel, und sie kämpften wie ein Rudel. Als das Chaos seinen Höhepunkt erreicht zu haben schien, brüllte Razamon: »Wir haben zumindest eine Zeitlang Ruhe. Jetzt werden die Jägerinnen wieder einmal gejagt.« »Hoffentlich hält die Entwicklung an. Weiter, Freunde!« gab Atlan laut zurück. Sie klammerten sich an den Lianen fest und kletterten auf der federnden zweiten Ebene weiter. Unter ihren Füßen bogen sich modernde Äste schwer durch, Nadeln und Blätter, die eine zusammengebackene weiße Schicht ergeben hatten, brachen knirschend auseinander. Vor den Flüchtenden schwirrten Vögel aus den Nestern, und kleine Tiere vollführten einen Höllenlärm. Vielleicht sahen die Jägerinnen die Fremden nicht mehr, aber sie konnten sie sehr gut hören. »Vergeßt nicht«, rief GrizzardAxton, »daß die Jägerinnen die Gefahren in diesem Dschungel mehr oder weniger genau kennen. Im Gegensatz zu uns! Wir haben keine Ahnung.« »Dafür haben wir uns aber recht gut aus der Schlinge gezogen«, gab Razamon zurück und turnte hinter Atlan her. Wie jeder Regenwald auf jedem Planeten troff auch dieser Dschungel vor Nässe. Die Sonnenstrahlen, die selten genug durch die Wolken drangen, fanden keinen Weg durch die dichten, grünen Baumkronen. Inzwischen hatten die drei Ausgesetzten keinen Zweifel mehr daran, daß auf dieser unbekannten Welt Dorkh auch jene physikalischen Eigenschaften herrschten, wie sie auf Pthor und der Erde zu finden waren. Jetzt, während dieses Abschnittes der wilden Flucht, dachte allerdings keiner von ihnen daran. Sie versuchten, eine möglichst große Strecke zwischen die Quelle des Lärms und sich zu bringen. Etwa eine halbe Stunde später änderte
Hans Kneifel sich wieder der Charakter der Umgebung. Die Bäume wurden niedriger. Mehr Helligkeit kam durch das Blätterdach. Die höhergelegene Ebene brach übergangslos ab; die Äste wurden dünner und waren weniger zahlreich. Atlan, Razamon und Grizzard kletterten auf den Boden hinunter und bahnten sich einen Weg durch dorniges Gestrüpp. Schließlich standen sie am Rand eines trockenen Flußbetts. Steine in allen Größen bildeten eine keilförmige Fläche. In der Mitte, zwischen den wahllos umherliegenden Brocken und dem feinen Kies, der die Zwischenräume ausfüllte, rann ein schmales Band Wasser. Verglichen mit dem Lärm des Kampfes zwischen Katzenwesen und den exotischen Dschungelrindern war es geradezu totenstill. Die Sonne verbarg sich hinter einer dichten Schicht von Hochnebel, aus dem sich einzelne Schleier lösten. Atlan orientierte sich an dem helleren Punkt hinter der grauen Schicht und sagte leise: »Wir bewegen uns noch immer in westlicher Richtung fort.« »Bleiben wir dabei. Dieses Flußbett wird uns nicht lange aufhalten.« Razamon hatte bei der wilden Kletterei seinen Bogen zerbrochen. Er blickte ihn fast angewidert an und warf die Trümmer hinter sich. Die Pfeile steckte er in Grizzards Köcher. Dann deutete er geradeaus. »Vor den Jägerinnen sind wir vermutlich erst nachts sicher«, meinte Grizzard/Axton. »Ich glaube bemerkt zu haben, daß sie nachts nicht zu jagen pflegen.« »Hoffentlich hast du recht«, antwortete Atlan. Sie sprangen aus den Büschen hervor und eilten in die Mitte der freien Fläche. Einige der Steinbrocken, von der Wucht des Wassers abgerundet und abgeschliffen, waren doppelt mannshoch. Sie gaben eine hervorragende Deckung ab. Die Geräusche des Dschungels verschluckten das Knirschen der hastigen Schritte im feinen Kies. Die Männer rannten, bis sie vor Erschöpfung taumel-
Land ohne Sonne ten. Ihre Körper waren schweißbedeckt, ihr Atem ging rasselnd, und die Sohlen schmerzten, als sie einige Kilometer weiter anhielten. Ein Lauf von rund einer Stunde lag hinter ihnen. Sie lehnten sich im halben Schatten an einen Steinblock und warteten, bis sich ihr rasender Herzschlag beruhigt hatte. »Von deinem Treffpunkt ist weit und breit nichts zu sehen«, keuchte Razamon und meinte Grizzard. »Wie weit, sagtest du?« »Ich sagte, was Elcoy mir erzählte. Es hängt von unserer eigenen Schnelligkeit ab.« Razamon glitt um den Felsen herum und warf durchdringende Blicke in alle Richtungen. Die unzähligen Steine waren weiße Silhouetten vor der tiefgrünen und braunen Wand des Waldrands. Eine ideale Tarnung also für die schnellen Katzenjägerinnen. Aber der Berserker konnte keinen Verfolger entdecken. Dafür bemerkte er eine Gruppe jener riesiger Eulen, von denen sie im Nebel angegriffen worden waren. Sie kreisten hoch über dem Ausschnitt des Bachbetts, halb im Nebel versteckt. Aber keiner der Raubvögel machte Anstalten, sich auf die winzigen Gestalten hier unten zu stürzen. Razamon kam von der anderen Seite des Steines in den Schatten zurück; gleichzeitig verschwand die Sonne wieder, und das diffuse Licht herrschte erneut. »Wir sind darauf angewiesen, Elcoy zu treffen – das wißt ihr!« sagte Razamon und bückte sich nach einem schillernden Stein. »Ich weiß es«, entgegnete Atlan. »Aber ob wir Elcoy tatsächlich treffen werden, bleibt abzuwarten.« »Du meinst, sie könnte unseren Treffpunkt nicht erreichen?« wollte Grizzard wissen. »Genau das meine ich«, sagte Atlan. »Sollten wir die Jagdkommandos tatsächlich hinter uns gelassen haben?« »Ich rechne damit, daß sie nach wie vor auf unserer Spur sind«, entschied Razamon. Die Ausgesetzten gingen zum Wasserrinnsal, kühlten ihre Gesichter und tranken
33 einige Schlucke, dann folgten sie wieder dem Bachbett. Es wurde auf den nächsten zweihundert Schritten schmaler und unwegsamer, und der Lauf des Wassers begann sich in wilden Schlangenlinien durch den Dschungel zu krümmen. Als der erste umgestürzte Baum ihnen den Weg versperrte, schwangen sie sich hinauf und balancierten auf das linke Ufer hinüber. Diesmal führte wieder Razamon. Atlan hielt die primitive Axt in der rechten Hand und bemühte sich, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Plötzlich stolperte Razamon, sein Fuß brach durch die morsche Rinde und versank bis zum Knie in einer pulverigen, braunen Schicht. Ein wütendes Summen ertönte augenblicklich, und verzweifelt versuchte Razamon, den Fuß wieder herauszuziehen. Atlan spreizte die Beine und hielt ihn an den Schultern fest. Mit einem wilden Ruck kam Razamon frei, aber sein Fuß riß eine hochwirbelnde Wolke aus Holzstaub und undefinierbaren Pflanzenresten aus der Öffnung. Achtung. Die Insekten können gefährlich sein! warnte in diesem Augenblick der Logiksektor. Zugleich mit den zerfetzten Überresten des Insektenbaues schwirrten dunkle Punkte blitzschnell nach allen Seiten. Razamon wischte mit der Hand über seine Wade und sprang weiter. Hinter Atlan setzte Grizzard mit einem vorsichtigen Sprung über die Öffnung im Holz. Das Summen verstärkte sich und wurde heller und durchdringender. Atlan warf einen Blick über die Schulter; ein weiterer Teil der Rinde war zusammengebrochen und entließ Hunderte von bösartig umherschwirrenden Tieren. Sie waren halb fingergroß und hatten schimmernde Flügel. Als die Männer fast das Ende des Stammes erreicht hatten, knirschte das brüchige, ausgehöhlte Holzstück auf und zerbrach in zwei Teile. Razamon schlug wütend nach seinem Knie und schrie: »Nur im Wasser sind wir vor ihnen sicher!«
34 »Weit und breit gibt es nicht genug Wasser«, ächzte Grizzard. »Sie kommen!« Tausende der wütenden Tiere bildeten jetzt, nachdem sie in alle Richtungen auseinandergeschwirrt waren, eine kugelförmige Wolke. Das Summen änderte abermals seine Tonhöhe. Während die Flüchtenden, die vom zusammenbrechenden Stamm in morastigen Untergrund abgesprungen waren, sich einen Durchlaß zwischen Ranken, schilfähnlichen Gewächsen und tief heruntergeneigten Baumästen freischlugen, bildete sich aus der auf und abschwebenden Wolke eine Art Finger oder Spitze aus. Sie wies genau auf den Rücken Grizzards, der hinter Atlan entlangstampfte und versuchte, sich der zurückpeitschenden Pflanzen zu erwehren. Fünf Schritte später umgab die Männer wieder das Dunkel des Dschungels. Diesmal war es kein Hochwald. Der Teil des Waldes, in den sie mühsam eindrangen, bestand aus schwarzem und stinkendem Schlamm, aus eisenharten Hochwurzeln und messerscharfen Halmen von purpurner Färbung, die aus der schwarzen Oberfläche wuchsen und sich bewegten, als wären es aufgerichtete Schlangenleiber. Der Schlamm reichte den Männern bis eine Handbreit unters Knie. Sie stolperten und rutschten in wilder Panik durch die zähe Brühe. Das Summen der Insekten hatte sich jetzt, als die Vorhut durch die Blätter stieß, zu einem kreischenden Singen hochgeschraubt. Es war ein Geräusch, das die Trommelfelle marterte und in den Männern die Angst hochtrieb. Sie ahnten, daß sie verloren waren, wenn die Insekten sie erreichten. Auch der Schlamm würde keine Rettung bedeuten, selbst wenn sie sich todesmutig in die teerartig und schweflig riechende Schicht hineinstürzten. Sie hasteten geradeaus, klammerten sich an den Luftwurzeln fest, rutschten und stolperten, schnitten sich an den lanzettförmigen Halmen und waren nach wenigen Schritten bis zu den Haaren voll von der klebrigen Masse. Noch hatten die Dorkh-Wespen – oder
Hans Kneifel welcher exotischen Gattung diese sirrenden kleinen Bestien angehören mochten – Grizzard/Axton nicht erreicht. Immer wieder sah er sich um und rannte dabei mit dem Kopf gegen einen Wurzelknoten. Als er vor Schmerz und Wut zu fluchen anfangen wollte, spritzte ihm ein Fladen Schlamm ins Gesicht. Der Geruch und der Geschmack betäubten ihn fast; und jetzt hatten ihn auch die Insekten erreicht. »Helft mir … sie bringen … mich um!« schrie er gellend auf. Augenblicklich hielten Atlan und Razamon an. Sekundenlang wußten sie nicht, wie sie sich verhalten sollten. Dann schien Razamon eine rettende Idee zu haben. Er bückte sich, faßte mit beiden Händen in die schwarze Brühe und schleuderte sie in großen Fladen auf die langgezogene Formation der Insekten. Noch immer zielten sie wie eine Speerspitze nach Grizzard. Der Erfolg von Razamons Versuch war ausgezeichnet, aber nicht ausreichend. In vollem Lauf stolperte Grizzard an ihm vorbei. Diejenigen Insekten, die von dem Schlamm getroffen worden waren, fielen mit verklebten Flügeln in den Sumpf. Aber selbst als Atlan schräg hinter Razamon ebenfalls sein Beil in den Gürtel steckte und Schlamm auf die Verfolger schleuderte, blieben noch genügend übrig. Sie wichen in spiraligem Flug aus, formierten sich wieder und griffen sowohl Atlan als auch Razamon an – Grizzard schienen sie vergessen zu haben. »Schneller!« »Mehr Schlamm!« »Grizzard! Komm zurück! Hilf uns!« Sie schleuderten wie die Besessenen den zähen Schlamm um sich. Die Formation der Insekten löste sich auf, und als Grizzard heranrutschte und schweigend anfing, gezielt Fladen in die Höhe und in die Richtung der beiden anderen zu schleudern, schien das Summen und Schwirren vorübergehend leiser zu werden. Rundherum war die schwarze Oberfläche mit zappelnden und krabbelnden Körpern bedeckt, die vom Schlick begraben
Land ohne Sonne wurden, als neue Fladen herunterfielen. Fast gleichzeitig hörten die Flüchtenden auf, mit dem stinkenden Brei um sich zu werfen. Sie drehten sich um und stakten in die Richtung, in der sie irgendwo den Treffpunkt vermuteten. Hinter ihnen bildeten die Überlebenden dieses merkwürdigen Kampfes wieder eine kugelartige Formation. Aber der Schwarm war längst nicht mehr so gewaltig wie zuerst; auch das Summen klang weniger wütend und nicht so mörderisch hell. Nach etwa fünfhundert Schritten, die sie mehr rutschend als gehend hinter sich brachten, wurde die Schlammschicht flacher. Schließlich reichte sie nur noch bis zu den Knöcheln. Faulende Blätter und die Kadaver kleiner Vögel bildeten eine dicke Schicht auf dem Schlick. Dann spürten die Pthorer steinigen Boden unter den zerrissenen Sohlen. Ihre Körper waren von oben bis unten mit dem zäh haftenden Schlamm bedeckt. Das Gelände hob sich, sie krochen rutschend einen Abhang hinauf, der mit ineinander verfilzten Bodengewächsen bedeckt war. Als sie ein schmales Band oberhalb des Hanges erreicht hatten und sich aufrichteten, krachten kurz hintereinander drei gewaltige Donnerschläge. Ein Blitz spaltete eine graue Wolke, die dicht über den Baumkronen zu stehen schien. Der Blitz fuhr in einen riesigen Stamm, spaltete ihn der Länge nach und setzte ihn augenblicklich in Flammen. Das Krachen des Donners hatte die Männer halb taub gemacht. Sie hörten nicht, daß genau aus der Öffnung im Dschungel, die sie gerissen hatten, die Insekten heranschwebten. Aber einige Sekunden später sahen sie die Tiere; die Flügel der Insekten schimmerten im stechenden Licht des nächsten Blitzes silbern und farbig auf. Einige vereinzelte Regentropfen fielen und schlugen auf Köpfe und Schultern der Pthorer wie Geschosse ein. Aber der Überlebenswille zwang die Flüchtigen dazu, auf der Oberkante des Hanges weiterzurennen. Als sie wieder in ein Dickicht aus mannsgroßen Büschen hinein-
35 sprangen, begann es zu regnen. Es war kein Regen; es waren Wassermassen, die scheinbar ohne Zwischenräume aus dem Himmel herunterstürzten. Der Rauch, den ein brennendes Stück Dschungel erzeugte, kroch in dicken Schwaden über dem Boden dahin. Die Flammen, die hoch aufloderten, wurden nur langsam von den Wasserfluten gelöscht. Aber die drei Männer, die vor den Insekten flüchteten, erlebten nach dem ersten Ansturm der schweren Tropfen die Wassergüsse wie eine Erholung. Jeder weitere Schritt, den sie zwischen den wippenden und unter den Güssen zitternden Büschen und Bäumchen machten, ließ sie eine Spur sauberer werden. Das Wasser floß aus ihren Haaren, jeder Guß wusch einen Teil ihrer Körper, und die Insekten wurden von dem herunterrauschenden Regen zu Boden gehämmert. Das Geräusch der senkrecht stürzenden Flut war fast so laut wie der Donner, aber für die Männer bedeutete es vorübergehend die Rettung. Schließlich, nach einer weiteren Kletterei über einen grasbewachsenen Hang, standen sie unter einem Baum, der wie eine Halbkugel aussah, deren Schnittfläche nach oben zeigte. Auch Grizzards Bogen war zerbrochen. Die Lianenseile des Köchers hatten sich aufgelöst, die Pfeile waren verloren. Atlan besaß, wie Razamon, noch seinen Knochendolch und die Axt. Die Männer sahen sich schweigend und mit unaussprechlichem Gesichtsausdruck an. »Der Weg zum Treffpunkt der Königin ist beschwerlich«, murmelte Razamon. In seinem Gesicht zeichneten sich, deutlich durch die Bahnen des verdünnten Schlammes sichtbar, Erschöpfung und Resignation ab. »Wir überleben auch diesen verdammten Dschungel«, versuchte ihn Atlan aufzumuntern. »Bevor wir nicht das legendenhafte Reich der ›gutmütigen‹ Mavinen-Königinnen erreicht haben, werden wir nicht die geringste Information über Dorkh bekommen. Wohin sollten wir sonst?«
36 Grizzard verließ den Schutz der Zweige, stellte sich in den Regen und machte den halbherzigen Versuch, sein Gesicht und seine Arme vollends zu reinigen. Ihre Bekleidung war nur noch zur Hälfte vorhanden und zerschlissen bis zur Unkenntlichkeit. »Atlan hat recht«, rief das Bewußtsein Lebo Axtons in dem jung scheinenden Körper des Hackennasigen. »Wir müssen einfach diesen Treffpunkt finden. Wir haben in Wirklichkeit gar keine Wahl. Wer sollte sonst auf diesem schrecklichen Planeten unsere Fragen beantworten?« So und nicht anders ist die Lage, kommentierte lustlos der Logiksektor. Atlan starrte durch die Schleier des Regens hinüber zum Waldrand. Unaufhörlich blitzte und donnerte es. Der Rauch des längst ausgelöschten Feuers bildete eine kniehohe Schicht über dem Gras. Jenseits dieser halb durchsichtigen Wand aus Wasser und Rauchpartikeln zeichneten sich undeutliche Bewegungen ab. »Grizzard!« rief Atlan unterdrückt. »Deckung!« Der Mann zwischen ihm und dem Dschungelrand begriff sofort. Er ließ sich ins Gras fallen und robbte heran, während sich Atlan und Razamon hinter den dicken Stamm zurückzogen, an dem das Wasser in breiten Strömen herunterlief. »Was ist los?« fragte Razamon unschlüssig. »Die Jägerinnen?« »Es scheint so. Ich kann nicht genug erkennen.« Angespannt spähten sie zu der bezeichneten Stelle hinüber. Der Waldrand war etwa vierhundert Meter weit entfernt. Tatsächlich bewegten sich dort die Büsche. Hin und wieder riß die dichte Wand aus Regen auf, nur für Sekundenbruchteile. Die drei erschöpften Männer sahen, wie eines der schlanken Katzenwesen aus dem Schutz der Büsche hervortrat und sich wachsam umsah. Auch die Verfolgerinnen waren durch den Schlamm gewatet; anders waren ihre verschmutzten Felle nicht zu erklären. Eine zweite Jägerin, die einen Knochendolch in
Hans Kneifel den Klauen hielt, kam ins Freie und versuchte ebenfalls, die Spur zu entdecken oder einen Hinweis, in welche Richtung sich die Verfolgten gewandt hatten. Der Regen schien schwächer zu werden. Die Blitze waren weniger häufig, ebenso die krachenden Donnerschläge. Das Gewitter wanderte von diesem Teil des Dschungelgebiets nach Osten ab. Von oben senkte sich Nebel herab, dicke dampfende Wolken erhoben sich auch zwischen den Teilen des Dschungels. Sämtliche Tiere schienen sich verkrochen zu haben und schwiegen verschreckt. Eine dritte Jägerin folgte den beiden ersten nach. Sie bildeten eine Gruppe und schienen sich zu beraten. Sie sind vermutlich weniger als am Anfang der Jagd! sagte unvermittelt der Extrasinn. Das konnte bedeuten, daß zumindest ein Teil der Jagdkommandos nach der Auseinandersetzung mit den wütenden Wildrindern aufgegeben hatte. Waren sie verwundet worden? Oder sollten sie etwa eingesehen haben, daß eine weitere Verfolgung sie selbst mehr gefährdete? Es gab keine Antworten auf diese Überlegungen, sagten sich die Männer und warteten regungslos und mit vibrierenden Nerven. Schließlich standen sieben Katzenwesen im Regen. Zwei von ihnen hatten in ihrem schneeweißen Fell nicht nur schwarze, sondern auch rote Streifen von beträchtlicher Breite. Blut! Das hieß, daß sie verwundet waren. Razamon zischte: »Warten wir weiter? Oder flüchten wir? Es sind immerhin mehr als wir.« »In unserem Zustand und mit diesen vortrefflichen Waffen«, unterbrach Grizzard und hob mit einem vagen Lächeln sein schartiges Knochenmesser hoch, »haben wir gegen die Halb-Raubkatzen nicht die geringste Chance.« »Ich sehe es nicht anders!« antwortete Atlan. »Der Nebel wird dichter, scheint mir.« »Also warten wir, bis sie uns umzingelt haben«, erklärte Razamon und betrachtete
Land ohne Sonne niedergeschlagen die zahllosen kleinen Schnitte in seiner Haut. »Ich habe diese Rennerei satt. Ich sehne mich nach einem Lagerfeuer und einem Stück Fleisch, das sich darüber dreht, und nach Ruhe. Und einer guten Salbe. Ich weiß, daß ich Dorkh bereits hassen gelernt habe.« Atlan mußte wider Willen grinsen und schloß: »Auch das werden wir noch erleben – eines Tages.« Binnen weniger Minuten änderte sich die Szene abermals und auf drastische Weise. Zuerst deutete die Anführerin der sieben Jägerinnen in nördliche Richtung. Hintereinander liefen die Katzenwesen mit ihren federnden Sprüngen und den eleganten Bewegungen den Waldrand entlang und entfernten sich. Immer wieder wurde der Blick auf die weißen Mavinen von dickem Nebel unterbrochen. Ein schwacher Hoffnungsschimmer regte sich in den Männern. Die Bewegungen der Jägerinnen waren eindeutig zielbewußt und so schnell, wie man es von zähen Jägern erwarten mußte. »Sie verfolgen eine falsche Spur!« stieß Razamon hervor, als er die Gruppe lange genug beobachtet hatte. »Keine voreiligen Hoffnungen!« warnte Atlan. »Jedenfalls sieht es im Moment so aus.« Die Nebeldecke senkte sich mehr und mehr und hatte bereits die meisten Baumkronen verschluckt. Noch einmal rauschte wütend ein Regenschauer über diesen Teil des Dschungels hinweg, dann riß der Regen ab. Schlagartig wurde es drückend heiß und erstickend. Auch das Gemisch aus letztem Rauch und Dampf, das zwischen den Stämmen und Wurzeln herankroch, wurde dichter. »Gehen wir!« entschied Atlan. »Und zwar in eine ganz andere Richtung als unsere Kätzchen, die offenbar nicht müde werden.« »Dort entlang«, erklärte Grizzard, als wisse er ganz genau, wo der Baum neben dem zerfallenden Tempel stand.
37 Sie standen ächzend auf und spürten, während sie weiterhin nach Westen gingen, jeden Muskel. Das Regenwasser hatte den meisten Schlamm weggewaschen. Die unzähligen kleinen Verletzungen begannen zu schmerzen und verhinderten auch den geringsten Gedanken an Müdigkeit. Zwischen den Schulterblättern Grizzards begann die Haut rund um den Insektenstich zu schwellen und feuerrot zu werden; noch merkte er es nicht. Vor ihnen huschte, die Bäuche tief am Boden, eine kleine Herde borstiger Tiere von rechts nach links über die verwilderte Fläche. Die Tiere sahen aus, als würden sie einen vortrefflichen Braten abgeben. Augenblicklich schwang Razamon seine Axt und stürzte hinter dem schwächsten, dem letzten Tier in der Herde, zwischen die hohen Gräser. Kreischend rannten die Tiere auseinander. Die Axt beschrieb einen Halbkreis und traf mit knackendem Geräusch den Schädel des Tieres. Atlan hoffte, daß das Fleisch des Tieres eßbar sein würde. Allerdings glaubte er fest, daß sie diese Beute wieder wegwerfen mußten, denn es schien zu diesem Zeitpunkt völlig undenkbar, daß sie bis zum Anbruch der Dunkelheit einen sicheren Platz erreichen konnten. Einen Ort, an dem sie ein Feuer machen und sich ausruhen konnten. Der Dschungel, der nach einigen Schritten sich wieder erstickend dicht um sie schloß, sah keineswegs friedfertig aus. Und zweifellos waren Razamons Feuersteine so naß, daß er keinen Funken schlagen konnte. Kein Zweifel, sie drangen in eine Zone vor, in der mehr und mehr tierisches Leben herrschte. Aus dem vagen Nebel vor ihnen kam ein dröhnender, wütender Schrei wie von einem Saurier. Razamon warf sich, nachdem er die Hinterläufe mit einem Stück seiner Kleidung zusammengebunden hatte, das Tier über die Schultern. Es war etwa so groß wie eine kleine Wildsau. Ein zweiter Schrei hallte zwischen den fetten, grünen Stengeln der farnartigen Bäume auf. Vielleicht hatte das Riesentier dort das Blut des Beutetiers gero-
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chen. Atlan fand seine schlimmsten Befürchtungen halbwegs bestätigt. Trotzdem gingen sie geradeaus zwischen den nassen, klebrigen Stauden auf die Quelle des Geschreis zu.
5. Sie waren vor dem Morgengrauen aufgebrochen. Jetzt war es Mittag und der höchste Stand der herunterstechenden Sonne. Sie war nicht völlig unsichtbar; direkt über den Köpfen der Pthorer zeichnete sich in dem dicken Nebel ein hellerer Kreis ab. Bisher hatte es nicht die geringsten Anzeichen dafür gegeben, daß innerhalb des Dschungels oder auch nur bestimmter Gebiete intelligente Wesen herrschten und ihre Spuren hinterlassen hatten. Der Regenwald und seine überwucherten Gebiete waren Niemandsland, bevölkert von Tieren und Gefahren. Die Männer, die als Leibwache von Elcoy auftreten sollten, blieben stehen, als der nächste Schrei erscholl. Er kam von rechts und von oben. Entweder hatte ihn ein fliegendes Wesen ausgestoßen oder eines, das im Wipfel eines Baumes hauste. Gleichzeitig merkten Atlan und Razamon, daß ihre Füße nicht mehr von Gräsern, Ranken oder Buschwerk gehemmt wurden. Sie sahen nach unten. Hier gab es nichts anderes als schmale Grasstreifen, die zwischen überraschend flachen Steinen wuchsen. Das Muster der dunklen Streifen konnte zufällig und natürlich sein, aber Razamon brachte hervor: »Es wirkt auf mich, als wäre es ein uraltes Pflaster. Nicht anders.« »Du kannst Recht haben«, antwortete Atlan. »Warten wir ab, wohin uns dieser leichte Fluchtweg bringt.« Die Sicht betrug nicht weiter als zwanzig Meter. Manchmal riß der Nebel stellenweise auf, dann erkannten die Männer, was vor ihnen lag. Die weiße, feuchtwarme Umgebung erstickte alle Geräusche bis auf dieses Brüllen. Es war, als habe ein Raubtier seine dreifache Beute gewittert. »Wenigstens hält der Nebel unsere Ver-
folger in gewisser Entfernung«, meinte Grizzard schließlich. »Sie sehen uns ebensowenig wie wir sie. Ich schlage vor, wir umgehen diesen Schreihals links.« »Wir sind schon dabei!« Das Brüllen kam von rechts, aber aus verschiedenen Standorten. Einmal höher zwischen den Bäumen, dann wieder anscheinend dicht über dem Boden. Die Pthorer wichen bis zum Rand des Waldes aus, blieben aber auf den weißen Steinen, deren Oberfläche unglaublich verwittert und rundgekerbt war. Für die geschundenen Füße waren die nächsten zweihundert Schritt eine wahre Erholung. Dann drangen durch die wabernde Wand vor ihnen plätschernde Geräusche, als ob Wellen an ein Ufer schlügen. »Wasser?« brummte Atlan. »Ein Bad? Ruhe? Einen Schluck frisches Wasser?« »Durchaus vorstellbar«, antwortete Razamon. »Sehen wir weiter.« Vorsichtig tappten sie weiter. Nach wenigen Schritten wurde das Geräusch lauter und eindeutiger. Dann schälte sich aus dem Nebel eine Kante aus großen Steinquadern heraus. Der Fels sah aus, als sei er vor undenkbar langer Zeit bearbeitet worden. Jetzt waren alle seine Kanten und Ecken stark abgerundet. Dunkelgrünes Wasser, von Blättern und Blüten bedeckt, schlug in beachtlichen Wellen gegen die Steine und warf jedesmal einige Handvoll dieses Grünzeugs auf die Steinoberfläche. Es lag bereits eine dicke, ringförmige Schicht darauf. »Ein See, von einer Art Kai abgeschlossen«, erklärte Razamon und verließ seinen Platz. Er lief zum Ufer hinüber. Je näher er der steinernen Kante kam, desto weiter sah er in die Mitte des Sees hinein. Atlan und Axton/Grizzard folgten etwas langsamer und zuckten wieder zusammen, als direkt über ihren Köpfen der nächste Schrei ertönte. Sie konnten etwa fünfzig Meter der Kante überblicken. Sie bildete einen Teil eines Kreises, und wenn dies das Ufer des Sees war, dann hatte die Wasserfläche einen Durchmesser von mindestens einem Kilo-
Land ohne Sonne meter. »Aber was erzeugt die Wellen? Einen Sturm müßten wir doch merken!« sagte Atlan und drehte den Kopf. Er sah nichts, aber das Gefühl, wieder einmal mehr oder weniger hilflos einer Gefahr ausgesetzt zu sein, wurde schlagartig stärker. »Vielleicht ein …«, begann Grizzard, als sich ein riesiger Schatten über ihnen bewegte. Sie nahmen es nur indirekt wahr; etwas Dunkles, das plötzlich durch die milchige Masse des Nebels stieß. Die Männer reagierten instinktiv und schnell. Von rechts oben näherte sich eine dunkle, fauchende Masse, und sie warfen sich augenblicklich nach links, rollten sich am Steinboden ab und sprangen wieder auf die Füße. Neben ihnen schlug schwer und mit einem unbeschreiblichen Geräusch ein riesiger, kantiger Schädel auf die Steine. Es gab knirschende und knisternde Geräusch, als ob trockenes Holz brechen würde. Große, seltsam funkelnde Augen starrten einen Sekundenbruchteil die rennenden Männer an, dann bewegte sich der lange Hals wieder und hob den Reptilschädel von den Steinen und dem Moos. Der Schädel maß von der Stirn bis zu den gekrümmten, gelben Zähnen etwa drei Meter und war nicht viel schmaler als zwei. Wieder stieß das Tier ein heiseres, grollendes Brüllen aus. Schleimtropfen und Wasser, vermischt mit einem stinkenden Hauch, fuhren hinter den Männern her. Der Kopf und der Hals, dessen Mitte und Ende im Nebel verschwanden, bewegten sich wie eine riesige, schwarzschillernde Schlange. Die Haut war von großen, flachen Schuppen bedeckt, deren Ränder scharfgeschliffen aussahen und von silbergrauer Farbe waren. Mit beängstigender Geschwindigkeit zischte der Kopf dicht über den Steinen dahin und näherte sich dem mittleren der drei rennenden Männer. Es war Atlan. Das Kinn des Tiergiganten, dessen Körper unsichtbar war, ratterte über die Felsen und riß das Moos und Gras aus den Ritzen. Wieder schrie der Riese wütend, riß den Rachen auf,
39 der schließlich einen Winkel von fast fünfundvierzig Grad bildete. Atlan drehte den Kopf nur halb, wechselte in rasendem Lauf seine Richtung und zerrte Grizzard mit sich. Sein Ziel war der Wald; die Baumstämme würden einen gewissen Schutz bieten. Jetzt wußten sie, warum der Schrei über ihnen aus wechselnden Richtungen gekommen war, und sie wußten auch, wer das Wasser des Teiches bewegte. Es war dieser schwarze Koloß. »In den Dschungel zurück, Razamon!« schrie der Arkonide. Grizzard lief etwas schneller, Atlan wich nach links aus, und Razamon setzte in mächtigen Sprüngen entlang des Seeufers. Das blutende Beutetier schlug hin und her und immer wieder zwischen die Schulterblätter des Berserkers. Drei verschiedene Ziele boten sich an. Das machte den Riesen unschlüssig. Der Kopf hielt in seiner rasenden Bewegung inne und pendelte suchend hin und her. Die Strecke, die der Kopf von einem Ende zum anderen zurücklegte, betrug mindestens dreißig große Schritte. Die hornigen oder knöchernen Schuppen zwischen den Augen klapperten. Aus der Kehle des Raubtiers, das Atlan an die Schreckechsen von Planetenvorzeiten erinnerte, drang ein tiefes Brummen, das den Boden zu erschüttern schien. Razamon wurde schneller, dann schlug er einen Haken und rannte hinter Grizzard und Atlan her. Keuchend schossen die beiden ersten zwischen den Stämmen hindurch. Razamon folgte an einer anderen Stelle nach. Dann war die Verwirrtheit des DorkhSauriers vorbei. Das Tier ruhte mit seinem mächtigen Leib höchstwahrscheinlich in der Mitte des Sees beziehungsweise in der Nähe dieses Ufers und kontrollierte die Straße aus flachen Steinen. Der Schädel vollzog die Bewegung Razamons nach, schoß über die gesamte Breite des Streifens nach links und schlug wie ein gewaltiger Hammer zwischen zwei mächtige Stämme. Der Raum zwischen den Bäumen war geringer als die Breite des
40 Schädels. Die Rinde platzte in großen Platten ab und staubte um die Augen des Riesen. Ein dumpfes Zittern fuhr durch die Bäume, breite Splitter lösten sich aus dem hellen Holz, als die Bestie den Kopf schüttelte, hin und her drehte und mit einem wütenden Ruck wieder zurückzog. »Dein Badesee«, keuchte Razamon und sah kopfschüttelnd zu, wie sich der Hals abermals bog, »gefällt mir nicht, Atlan.« Die Pthorer zogen sich Schritt um Schritt tiefer in den Wald zurück. Wieder kam der furchtbare Kopf mit einem lauten Schrei auf die Stelle zu, an der die Bäume noch immer schwankten. »Duuhl Larx hat tatsächlich einen schönen Platz für uns ausgesucht. Und ausgerechnet Dorkh mit diesen Gefahren sollen wir für ihn erobern.« »Inzwischen hat uns schon längst der Planet erobert«, sagte Grizzard. »Das Biest gibt nicht auf.« »Es ist ebenso hungrig wie wir!« rief Razamon und schwenkte sein Beutetier, das er verblüffenderweise noch nicht verloren hatte. Wieder erfolgte ein Stoß, der eine Gruppe Baumstämme beben und zittern ließ. Der Kopf, an beiden Seiten verwundet und mit Blut bedeckt, rammte an einer anderen Stelle zwischen den Stämmen hindurch, schürfte über den Boden und näherte sich wie eine Maschine den Pthorern. Sie sprangen, jetzt allerdings langsamer, im Zickzack zwischen anderen Baumstämmen aus der Richtung heraus, aus der die Bestie drohte. In den Ästen flüchteten Vögel und andere Tiere, die bisher unsichtbar und unhörbar gewesen waren, wild schreiend aus ihren Nestern oder von ihren Jagdplätzen. »Der Riese scheint nur im See leben zu können«, rief Atlan und sprang über modernde Holzstämme hinter dem Berserker nach. »Sein Körper ist vermutlich zu groß und würde zusammensinken«, gab Axton/ Grizzard zurück. Zunächst schien es, als ob der Kopf und
Hans Kneifel der Schlangenhals die dreifache Beute noch erreichen könnten. In einigen Windungen folgte der Rachen der Spur der Pthorer und bewegte sich hin und her. Der Hals drückte die Bäume, an die er sich rechts und links preßte, zur Seite. Das Holz ächzte, Wurzeln knirschten, und Äste brachen aus den Kronen. Wieder ließ ein Schrei zwischen den Bäumen vielfältige Echos zurückschallen. Dann hielt das riesige Tier an. Die Zunge rollte sich auf und schnellte wieder vor. Holzsplitter steckten zwischen den Zähnen. Der Kopf schüttelte sich wieder unschlüssig, die gepanzerten Lider klappten über den Augen auf und zu. Dann krachten wieder die Bäume, deren Rinde abgerissen wurde, und einige dünnere Gewächse wurden mit einem einzigen Ruck abgebrochen und fielen langsam um, mit den Kronen im Geäst der anderen Bäume verhakt. Der muskulöse Hals zog den Kopf langsam zurück in die Richtung des Sees, über dem der Nebel alle Einzelheiten verhüllte und verdeckte. Die Flüchtenden wurden wieder langsamer und versuchten, festzustellen, in welche Richtung sie jetzt flüchteten. Nach einem Marsch, der ihnen wieder einmal endlos lang erschien, konnten sie diesen Teil des gräßlichen Dschungels verlassen. Aber noch immer herrschte nur der Nebel. Außerdem sank die Sonne dem Horizont entgegen; es wurde dunkler. Sie befanden sich, nach allem, was sie erkennen konnten, am Rand einer savannenähnlichen Zone, die von hohem Gras bewachsen war, aus dem sich nur vereinzelte Büsche und Bäume erhoben, die wie aufgespannte Schirme aussahen. Direkt vor ihnen brach übergangslos ein winziger Tafelberg aus dem Boden; das genaue Abbild einer riesigen Steinmasse mit steilen Hängen und einem abgeschliffenen Plateau. »Das wäre kein übler Rastplatz!« schlug Grizzard vor. »Von unten sind wir, falls wir hinaufklettern können, gut geschützt.« »Dort, wo wir hinaufklettern können«, schränkte Razamon mißtrauisch ein und ging trotzdem auf die Steinmasse zu, »klettern auch Raubtiere hinauf.«
Land ohne Sonne »Und auf der flachen Platte greifen uns die braunen Rieseneulen an – oder andere Raubvögel«, schloß Atlan. Der Stein wirkt verwittert. Sucht euch eine Höhle! sagte der Logiksektor. Sie gingen vorsichtig näher. Ihre einzige wirkliche Waffe war die Flucht, denn mit den Steinbeilen konnten sie sich bestenfalls gegen winzige Angreifer wehren. Atlans Augen glitten über den zerklüfteten Hang des kleinen Tafelbergs und suchten nach einem Loch, einem überhängenden Stück oder einer Möglichkeit, sich für die Nacht zu verbergen. Ganz plötzlich kam jetzt Bewegung in die Nebelschwaden. Sie rissen auf und wurden in immer größerer Menge von einem westlichen Wind davongetrieben, der den Männern in die Gesichter blies. Die Sonne kam für längere Abschnitte durch die Wolken und brannte hart auf den Schenkeln der Flüchtenden. Die Körper warfen lange Schatten. »Wir wandern noch immer in die richtige Richtung«, sagte Grizzard. »Erstaunlich, nach diesem Irrlauf.« »Es spricht für unsere Fähigkeiten, in der Wildnis zu überleben«, antwortete Razamon. Sie sahen immer mehr von ihrer Umgebung. Die Bäume wurden zahlreicher; die Savanne schien nicht ganz so unwirtlich und gefährlich zu sein wie der Dschungel. In einigen nahen Bäumen turnten affenähnliche Tiere herum und fraßen große, rote Früchte, die voller Saft schienen. Die Pthorer sahen deutlich, wie lange Tropfenbahnen aus den aufgebrochenen Schalen rannen. Nahrung! wisperte der Extrasinn. Noch hundert Schritte, und sie hatten den steilen Hang erreicht. Jetzt sahen sie, daß zwischen dem Felsabsturz und der Weite des Geländes einzelne riesige Steinbrocken lagen, vor Ewigkeiten abgesplittert und heruntergefallen. Unschlüssig wanderten sie hin und her und entdeckten schließlich, während die Sonne mit ihrem unteren Rand die Wipfel des Dschungels berührte, einen kleinen, geschützten Platz. Er war von allen Seiten von drei und vierfach mannshohen Felsen
41 umgeben, an einer Seite stieg die Wand fast senkrecht hoch. Von Minute zu Minute schwand die stechende Helligkeit der Sonne. Der gesamte Himmel war von einer einzigen hochliegenden Wolkenschicht bedeckt, nur im Westen gab es einen breiten, offenen Streifen. Er war eisig blau. Die Männer sahen sich zwischen den Felsen um, fanden die Reste umgestürzter Bäume und eine Menge Spuren. Vom Hang floß ein winziges Rinnsal eiskalten Wassers. »Das ist genau der Platz, den wir brauchen!« bestimmte Razamon. »Man sieht unser Feuer nicht, und der schmale Eingang ist sogar gegen die Katzenjägerinnen leicht zu verteidigen.« Grizzard versprach: »Ich hole einige von den Früchten, die auch diese merkwürdigen Affen nicht umbrachten. Sie werden uns ebenfalls keine Magenschmerzen verursachen.« »Recht so«, schaltete sich Atlan ein. »Aber gib acht. Wir müssen daran denken, daß wir wahrscheinlich noch immer gejagt werden.« »Keine Sorge.« Grizzard schwang beinahe heiter seine Axt und rannte in die Richtung der Baumgruppe davon. Razamon ließ sein Beutetier fallen, und Atlan machte sich daran, nachdem er sich die gesamte Umgebung angesehen hatte, Holz zu sammeln und drei Plätze für die Nacht zu richten. Der Berserker schaffte es selbst mit dem stumpfen Knochendolch, das Tier aus der Decke zu schlagen, aufzubrechen und auszunehmen. Sorgfältig spießte er die Teile an sauber zugespitzte Äste. Sie waren viel zu erschöpft, um lange miteinander zu sprechen. Einmal ging Atlan zu dem Rinnsal und trank mit gierigen Schlucken. Sie hatten nicht einmal ein Trinkgefäß. Razamon kauerte vor dem spitzkegeligen Holzstoß und schlug Feuer. Immer wieder versuchte er, das trockene Moos anzublasen. Schließlich leckten kleine Flammen in die Höhe. Atlan rollte zwei große
42 Felsen vor den Spalt in der nahezu runden Masse der Felsen. Von den moosbedeckten Flanken verdampfte der Niederschlag des langen Nebels, der sicher morgen früh hier wieder herrschen würde. Ein hallendes Geschrei bewies, daß Grizzard/xton die Pflanzenfresser aus dem Baum vertrieben hatte. Kurze Zeit später kam er mit etwa zwanzig Früchten zurück. Er hatte sie säuberlich an einer Liane aufgefädelt und legte sie auf den Stein neben das Feuer, das mit dünner Rauchsäule zu brennen begann. »Immerhin haben wir einen ganzen Tag im Dschungel überlebt«, stellte er zufrieden fest. »Übrigens: der Baum ist leicht zu besteigen. Ich werde morgen im ersten Licht versuchen, unser erstes Ziel zu finden.« »Wir sollten erst einmal diese Nacht überstehen«, gab Atlan brummig zurück. »Es wird nicht leicht sein.« »Pessimist!« Die Flammen erfaßten tatsächlich endlich die größeren Holzstücke. Mit einem zufriedenen Grinsen in seinem schmutzigen, zerfurchten Gesicht stand Razamon auf und steckte das kostbare Feuerwerkzeug ein. »Wir werden nicht verhungern!« stellte er fest und kratzte eine Handvoll Sand aus dem Boden. Er ging hinüber zu dem Miniaturwasserfall und säuberte sich, so gut es ging. Inzwischen bereitete Grizzard die Früchte zu; er entfernte die Schalen an einer Stelle, trank einen Schluck der milchigen, angenehm säuerlich schmeckenden Flüssigkeit und stellte die Frucht aufrecht zurück. »Wie lange dauert es, bis man merkt, daß man vergiftet wurde?« erkundigte er sich und sah Atlan erwartungsvoll an. Der Arkonide wußte, daß ihn der Zellaktivator vor dem Tode bewahren würde, und antwortete zurückhaltend: »Das ist ganz unterschiedlich. Tue nicht so, als ob du es nicht wüßtest, Lebo Axton!« Grizzard grinste nur und arbeitete weiter. Die Sonne versank, die Schatten verschmolzen mit der Dunkelheit. Die Flammen des Lagerfeuers wurden kleiner, die
Hans Kneifel Menge weißer und roter Glut vergrößerte sich. Von allen Seiten bogen sich die Hölzer der Glut entgegen. Der Saft und das Fett der Bratenstücke tropften zischend und rauchend in die Glut. Ein Geruch breitete sich aus, der den erschöpften Männern das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Inzwischen waren sie, so gut es ging, sauber und erfrischt. Trotzdem beherrschte sie eine bleierne Müdigkeit. Sie schwiegen, nur ab und zu stand einer von ihnen von den Steinblöcken auf und spähte in die Finsternis. Ein einzelner Stern, dann mehrere, blinkten am Firmament. Es dauerte lange, bis sich die Augen an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Rundherum herrschte ein scheinbarer Friede. Das Tropfen und Plätschern des Wassers, das Knacken des Holzes und das Zischen des Fettes, hin und wieder ein Windstoß, der die Blätter rascheln und die Gräser knistern ließ, dann und wann ferne und leise Stimmen von Tieren. In der Ferne schrie der Gigant, der im ummauerten See hauste. »Nichts. Alles ist ruhig«, sagte Razamon, der als letzter wieder zum Feuer zurückkam. »Wer hat die erste Wache? Losen wir aus?« »Die gerechteste Möglichkeit«, bestätigte Grizzard. »Zuerst losen wir, wer den ersten Brocken bekommt. Schon gar, Razamon?« Razamon hatte das unglaubliche Kunststück fertiggebracht, auch ohne Salz, nur mit einigen Samenteilen von unbekannten, aber wohlriechenden Pflanzen die Fleischstücke saftig, mit brauner Kruste und wohlschmeckend zu machen. Auf seine Frage, ob er etwas von der Frucht spürte, verneinte Grizzard. »Also dann!« sagte Atlan und spießte einen Fleischbrocken auf die Spitze seines Knochendolches. »Auf einen ungestörten Schlaf, einen vollen Magen und einen erlebnisarmen Tag.« Mit Heißhunger aßen sie das Fleisch, tranken den Saft der harten Früchte und aßen deren Fleisch. Zuerst blieben sie vorsichtig, aber als sich keinerlei der befürchte-
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ten Gefühle der Übelkeit einstellten, aßen sie ruhig weiter. Razamon hob eine der geköpften, nußartigen Früchte hoch und schwenkte sie. Er gähnte ausdauernd und murmelte: »Auf ein baldiges Treffen mit Elcoy. Sie kennt und weiß sicherlich mehr vom Dschungel als wir.« »Darauf«, sagte der Arkonide und angelte ein neues Fleischstück vom Feuer, »daß ich nicht die erste Wache habe.« Sie waren so müde, daß sie nicht einmal lachen konnten. Bis auf einen kleinen Rest aßen sie das Fleisch auf und ließen noch ein paar der Früchte übrig. Die harten Schalen ergaben eine intensive Glut, in die sich unaufhörlich Schwärme von kleinen und einzelne, wild flatternde Exemplare von großen Insekten stürzten. Dann schnitzte Razamon drei verschieden lange Stäbe, und Grizzard verbarg sie in der Hand. Atlan zog das kürzeste der drei Stäbchen. Er konnte sich nicht einmal darüber ärgern. Als das Feuer etwas heruntergebrannt war und die beiden Männer sich auf ihrer Unterlage aus Laub, Moos und losem Sand ausstreckten, kletterte er auf einen der Felsblöcke hinauf, suchte sich eine bequeme Stelle und lehnte sich mit dem Rücken gegen den feuchten Stein. Hinter ihm war nur ein schwacher Halbkreis von vager Helligkeit als das Zeichen, daß sich hier die drei Ausgesetzten verbargen. Mit brennenden Augen versuchte Atlan, die Dunkelheit zu durchdringen. Etwa vier Stunden lang mußte er hier gegen den Schlaf und die Erschöpfung ankämpfen.
6. Razamon rüttelte ihn an der Schulter und weckte ihn. Ob er tatsächlich etwa acht Stunden geschlafen hatte, konnte Atlan nicht sagen. Ihm kam es vor, als sei er eben eingeschlafen. Der erste Blick in das Gesicht des Kampfgefährten beruhigte ihn, ehe er an
Überfall oder Angriff denken konnte. »Es ist hell. Die Tiere schreien. Wir haben diese Nacht überlebt«, sagte Razamon ruhig. Er hatte die letzte Wache gehabt. Atlan richtete sich auf und massierte seinen Nacken. Ihm war, als habe er auf spitzem Schotter gelegen. »Unglaublich«, murmelte er und gähnte. »Keine Mavinen-Kommandos?« »Absolut nichts. Nur Tiere, so groß wie Löwen, die fast außerhalb des Gesichtsfelds zu sehen waren. Du kannst, solange es noch keinen Nebel gibt, deinen Rundblick genießen, Grizzard.« Grizzard sägte einer Frucht die Schale auf und trank den Saft bis zum letzten Tropfen. Er stand auf und half Atlan auf die Beine. »Ich gehe schon.« Ein für Dorkh offensichtlich völlig ungewohnter Anblick – jedenfalls für die Männer von Pthor – bot sich ihnen. Der intensiv blaue Himmel war völlig frei; es gab nicht die Spur einer Wolke. Die Sonne verbarg sich noch hinter dem Dschungel. Aber die Steppe zwischen Waldrand und Tafelberg war lichterfüllt. Kleine Tiere mit nassen Fellen rannten durch die hohen Gräser. Die Spur, die von den Flüchtenden gezogen worden war, existierte nicht mehr; die Halme hatten sich wieder aufgerichtet. Über dem Gras sahen sie den Oberkörper Grizzards. Der Körper, der einen fremden Intellekt und ein anderes Ich trug, bewegte sich auf die untersten Äste eines der Bäume zu. Dann sahen sie, wie er sich hochzog und zu klettern anfing. »Essen wir«, sagte Atlan. »Vielleicht müssen wir heute etwas weniger oft rennen und flüchten.« »Einverstanden.« Sie ließen Grizzard ein Drittel der Vorräte übrig, nahmen ihre Waffen auf und gingen ihm entgegen. Er befand sich noch immer in der Krone des Baumes und scheuchte einen Schwarm Vögel auf, der die Bäume umkreiste und umflatterte. Aus dem dichten Gras, das den freien Raum zwischen den Buschinseln und Baum-
44 gruppen ausfüllte, stiegen Myriaden Insekten auf. Sie schienen, wenigstens bis jetzt, zwar lästig, aber nicht bösartig oder wütend zu sein und bildeten dichte Wolken um die Schultern und Köpfe der Männer. »Ich nehme an«, meinte Atlan zögernd und sicherte nach allen Seiten, »daß wir bald den Rand des Gebirges oder den Treffpunkt erreichen. Nach allem, was wir darüber wissen, liegt er nicht weit vom Ausgang aus dem Höhlensystem entfernt. Elcoy sagte ja, daß es von unserer eigenen Tüchtigkeit abhängt, wie lange wir dazu brauchen werden.« Razamon lachte kehlig und wurde schlagartig wieder ernst. »Ich rechne auch nicht damit, daß wir noch lange brauchen. Immerhin sind wir gestern seit Sonnenaufgang ununterbrochen gerannt. Vielleicht noch heute und morgen, dann sollten wir Elcoy treffen. Was mich viel mehr beunruhigt, ist der Umstand, daß wir über Waffen verfügen, um einen Hasen, und zwar einen lahmen, zu erlegen – nicht mehr. Irgendwie müssen wir uns besser ausrüsten. Und unsere Lumpen werden spätestens heute abend restlos zerschlissen sein.« »Wir sind einer Meinung«, gab Atlan zurück. »Aber wir werden uns bestenfalls einen Umhang aus Blättern machen können. Wie willst du Leder oder Ähnliches finden und verarbeiten?« Razamon wußte, daß Atlan recht hatte. Er schwieg und dachte nach. Inzwischen waren sie unter den letzten Zweigen der großen, untersten Äste des ersten Baumes angelangt. Die geflüchteten Tiere, affenähnlich, mit gegabelten Greifschwänzen und sechs überlangen Armen, kamen langsam, neugierig geworden, an ihre Stammplätze zurück. Razamon schrie in die Baumkrone hinauf: »Geht es dir gut dort oben? Bessere Sicht? Hast du den Treffpunkt ausmachen können?« »Ja!« »Müssen wir noch lange warten, oder pflückst du unseren Reisevorrat?« »Ich komme schon.«
Hans Kneifel Mehrere Bündel der nahrhaften Früchte fielen krachend durch Blätter und polterten über Äste. Atlan und Razamon klaubten sie auf und hängten sie sich an die Gürtel und über die Schultern. Dann turnte Grizzard geschickt abwärts und sprang federnd neben ihnen zwischen den Wurzeln zu Boden. »Und …?« fragte Atlan. Grizzard hob die Schultern und erwiderte: »In einer beträchtlichen Entfernung gibt es eine niedrige Bergkette. Sie kann ebensogut dreißig Kilometer entfernt sein oder doppelt so viel. Es hängt von den Luftverhältnissen ab. Aber die Steppe geht nach etwa fünfundzwanzig Kilometern in ein niedriges Hügelgebiet über.« »In dem sich auch ›unser‹ Hügel befindet?« Grizzard nickte und köpfte eine Frucht. Er trank in langen Schlucken und wischte mit dem Handrücken über den Mund. »Ich bin ganz sicher. Dahinter, deutlich im Sonnenlicht zu sehen, gibt es die erwähnten deutlichen Einschnitte in der Bergkette. Es ist ein einzelner Hügel, offensichtlich bewaldet. Der riesige Baum sieht aus wie eine Kugel auf einer Säule. Er ist ein Zeichen, das man weithin sieht. Von einer Ruine oder einem Tempel oder irgendeinem anderen Bauwerk habe ich nichts gesehen. Das war's, Freunde – danke, daß du den letzten Braten nicht selbst verschlungen hast, Razzie!« Razamon grinste säuerlich. »Ich höre diesen Kosenamen höchst ungern«, murmelte er. »Können wir gehen? Vielleicht schaffen wir es heute noch?« »Worauf warten wir?« Der Himmel bewölkte sich zusehends, aber noch war kein Nebel aufgekommen. Die Strahlen der aufgehenden Sonne stachen in den Nacken und brannten auf Rücken und Schultern. Die drei Männer gingen hintereinander und warfen einen einzigen langen, sechsarmigen Schatten. Noch herrschte die Kühle des Morgens. Und noch immer umtanzten riesige Mückenschwärme die Köpfe. Obwohl das Gras stellenweise mannshoch war, kamen sie einigermaßen schnell vor-
Land ohne Sonne wärts. Im Moment führte Razamon. Er hatte sich mit einem Ast bewaffnet und schlug damit die Gräser zur Seite; er befürchtete, daß sich Schlangen oder giftige kleine Tiere zwischen den Halmen verbargen. Tautropfen glänzten und funkelten an den Spitzen der grünen und braunen Halme. Im Sonnenlicht flirrten sie wie Edelsteine. Wieder waren die Flüchtenden nach hundert Schritten naß und begannen im ersten Morgenwind zu frösteln. Sie kamen rechts an dem Tafelberg vorbei, in dessen Schutz sie geschlafen hatten. Er war nicht länger als tausend Meter, und nach Westen fiel er terrassenförmig ab. Gruppen großer Bäume wechselten entlang des Weges mit halbkugeligen, aneinandergeduckten Büschen ab. Aus den Büschen erhoben sich große Vögel mit sichelförmigen Schwingen, die keine Ähnlichkeit mit den Rieseneulen hatten. Sie kümmerten sich nicht um die drei Wanderer und strichen nach Norden ab. Etwa drei Stunden lang bahnten sich die Männer ihren Weg nach Westen durch das Gras, die zähen Ranken darunter und entlang jener dunklen Buschinseln. Sie sprachen kaum miteinander – einerseits waren sie noch zu erschöpft und nicht genug ausgeruht, andererseits beschäftigte sie der Versuch voranzukommen viel zu sehr. In dieser Zeit bedeckte sich der Himmel wieder fast vollständig. Zunächst zog von Westen eine Kette Wolken herauf, verband sich miteinander und bildete einen hochliegenden Nebel. Er senkte sich mehr und mehr und verhüllte wieder die Sonne. Als sich die Männer umdrehten, konnten sie weder den Dschungelrand noch den Tafelberg erkennen, auch die Bergkette war längst verschwunden und ebenso der einsame Baum auf dem Hügel. Sie orientierten sich jetzt wieder an ihrer eigenen Spur und versuchten, sie so gerade wie möglich zu halten. Trotzdem hatte der Nebel noch nicht den Boden erreicht. Einzelne Windstöße fuhren über die Savanne dahin, bewegten die Gräser in langen Wellen und bewegten den Nebel.
45 Im Gegensatz zum Dschungel schien die Savanne eine Zone relativer Ruhe zu sein. Insekten, kleine und große Vögel flatterten und schwebten durch die Luft, hin und wieder zog vor oder hinter den Männern eine kleine Herde Tiere durch das Gras, langsam äsend, nicht angreifend und von keinem anderen Tier angegriffen. Die Gräser wurden, nachdem die Pthorer noch etwa eine Stunde in gutem Tempo zurückgelegt hatten, härter und niedriger. Unter den zerschlissenen Sohlen war jetzt kein Erdreich mehr. Kleine Steine mischten sich unter den trockenen Lehm. Dann breitete sich ein ausgesprochen flaches Flußbett vor den Wanderern aus, übersät von großen weißen Kieseln, von einzelnen Holzstücken, die Regen und Sonne weiß gebleicht hatten, Teilen von Skeletten und riesigen Schädeln mit Gehörn oder mächtigen Gebissen. Der nächste Windstoß trug in dem Moment, als Razamon das Flußbett betrat, einen seltsamen Gegenstand herbei. Er sah aus wie ein riesiges Tuch von silbergrauer Farbe, an den Rändern zerfasert und ausgebeult. Der Fetzen rollte sich in der Luft zusammen, überschlug sich, breitete sich wieder aus und segelte in wellenförmigen Bewegungen langsam herunter in die flache Kiesebene. »Das sollten wir uns genauer ansehen!« rief Atlan von hinten. Razamon lief bereits neugierig darauf zu. Ein neuer Windstoß hob das Ding halb hoch und erzeugte Luftblasen darunter. »Woher kommt es? Was hat das zu bedeuten?« fragte sich Grizzard laut. »Irgendwie paßt das nicht zu dieser Landschaft.« »Es kommt aus Westen«, rief Razamon. »Es sieht aus wie Stoff. Ich ahne, daß wir vielleicht unser Bekleidungsproblem lösen können, Atlan.« Sie erreichten den Fleck. Er entpuppte sich als Material, das wie ein dicker Stoff wirkte. Die eine Seite war genarbt wie Leder, die andere stumpf, aber weich wie eine Art Wildleder oder hochwertiges Kunstleder. Eine gewisse Zellenstruktur war unver-
46 kennbar. Die Männer zerrten daran, versuchten es mit den Spitzen der Messer zu zerteilen; das weiche Material ließ sich eine Kleinigkeit verformen, konnte aber nicht zerstört werden. Wenn es künstlich ist, hilft vielleicht Hitze. Feuer! meldete sich der Logiksektor. Fast gleichzeitig wechselten die Männer lange Blicke. Sie hatten möglicherweise die richtige Idee. »Ich werde ein Feuerchen machen«, schlug Razamon vor. »Ich glaube nicht, daß es auf Dorkh Kunststoffe gibt. Aber möglicherweise können wir mit Hitze etwas erreichen.« »Ich hatte dieselbe Idee«, sagte Atlan. »An die Arbeit. Ich hole Holz.« Binnen kurzer Zeit brannte ein kleines Feuer. Als sie ein brennendes Scheit an den Rand des Materials heranbrachten und dicht über die Oberfläche fuhren, ließ sich der Stoff entlang einer schmorenden Naht zerreißen und verformen. Razamon nickte und sagte: »Wir sollten es versuchen! Schließlich wollen wir keinen Schönheitspreis mit unserer neuen Kleidung gewinnen.« Zuerst »schnitten« sie einen Poncho heraus, ein kreisförmiges Stück Stoff mit einem Loch für den Kopf im Zentrum, das geringfügig umgeformt wurde, so daß es längere Ärmel hatte. Als sich Grizzard den Poncho über den Kopf zog, sahen sie, daß ihr Verfahren funktionierte: das Kleidungsstück hing locker, war nicht schwer und trug sich angenehm. Sie arbeiteten weiter, und mit jeder Minute bekamen sie mehr Erfahrung. Die Ponchos für Atlan und Razamon waren vergleichsweise sogar leichter und besser. Dann wagten sie sich an die Hosen, die ein wenig unförmig ausfielen. Das rätselhafte Material ließ sich mit Hilfe von mehr Hitze sogar zusammenkleben. Die meiste Arbeit verursachten, als sie sich umgezogen und ihre alten Lumpen ins Feuer geworfen hatten, die Stiefel. »Wir sind alle sicher«, meinte Razamon, »daß wir noch einige Märsche und Abenteu-
Hans Kneifel er vor uns haben. Machen wir die Dinger so hoch und dauerhaft wie möglich; es wird unser Vorteil sein.« Sie schnitten halbe Stiefel aus, die bis an die Knie reichten, klebten die beiden Hälften zusammen und schnitten mehrere Sohlen aus, die einerseits an die unten offenen Röhren, andererseits mehrfach übereinander geklebt wurden. Das Material erkaltete schnell und wurde in der Nähe der Flammen geglättet und schmorend geformt. Als Atlan in das erste Paar hineinschlüpfte und Probeschritte machte, lachte er breit. »Es war buchstäblich ein Geschenk des Himmels«, rief er. »Ausgezeichnet. Und da es durch den Nebel geflogen kam, ist es sicher auch wasserfest.« Am frühen Nachmittag, dem Stand der durch den Nebel scheinenden Sonne nach zu urteilen, waren sie fertig und neu ausgerüstet. Als letztes schnitten sie drei breite Stoffstreifen, die zusammengerollt Gürtel ergaben, in denen man Kleinigkeiten einrollen konnte. Sie verknoteten die Gürtel, steckten Messer, Feuerwerkzeug und Beile hinein und warfen die Reste der letzten Früchte weg. »Weiter zu Elcoys Baum!« sagte Atlan. »Wir haben wieder einmal Glück gehabt.« Die Kleidung schützte sie viel besser. Die dicken Sohlen federten und schluckten die meisten Unebenheiten des steinigen Bodens, als sie das Flußbett überquerten. Wieder zog vor ihnen ein Gewitter auf. Blitze schlugen irgendwo dort ein, wo die Ebene in die ersten Hügel überging. Die Sicht dorthin war von den dichten Wänden des Regens versperrt. Am frühen Nachmittag kletterte Grizzard wieder auf einen Baum und warf Früchte herunter, von denen sie wußten, daß sie ungiftig und nahrhaft waren. Gewitter und Regen kamen näher, die ersten Nebelschleier tauchten wie aus dem Nichts auf und verdüsterten die Landschaft, die sich wieder zu ändern begann. Aus der Savanne wurde während der nächsten Stunde ein Gebiet, das sich aus kleinen Tälern, sanften Hängen und
Land ohne Sonne Mischwald zusammensetzte, dessen Bäume sich unter der Gewalt des Regensturmes bogen und schüttelten. Vornübergebeugt kämpften sich Grizzard, Razamon und Atlan durch die wütend prasselnden Schauer. Der Wind trug über ihren Köpfen wieder einen solchen Fetzen lederartiger Folie vorbei, knäuelte ihn zusammen und riß ihn weiter nach Osten. Blind und halb durchnäßt stolperten sie weiter. Blitze schlugen rund um sie ein und der Donner machte sie halb taub. Die strahlende Helligkeit zeigte ihnen jedesmal einen anderen Ausschnitt der Umgebung. Schließlich glaubten sie, direkt vor ihnen, nicht mehr als zwei oder drei Kilometer entfernt, den charakteristischen Baum erkannt zu haben. Sie waren halb blind darauf zugerannt. »Wir haben es gleich geschafft!« brüllte Atlan. »In den Ruinen sind wir vor dem Regen sicher.« Sie stapften durch einen Hohlweg, der von stürzenden Wassermassen geschaffen worden war. Eine Lichtung schloß sich an, voller Tierknochen und von Spuren aufgewühlt und zerstampft. Dann ging es einige hundert Schritt durch einen triefenden Wald, dessen Boden völlig frei war von größeren Gewächsen. Nur ekelerregende giftgelbe Pilze wuchsen hier, mit schleimigen Fäden, in denen sich Insekten gefangen hatten. Eine Barriere aus niedrigen Büschen folgte, deren Blätter scharf wie Messer waren. Schließlich traten die Bäume auseinander, und im Schein des nächsten Blitzes sahen sie einen Hang, an dessen oberem Ende der Riesenbaum stand. Daneben glänzten im Regen Steinquadern, in deren Ritzen kleine Sträucher wuchsen. Eine kaum mehr kenntliche Treppe oder Rampe wand sich den Hang hoch. Zögernd betraten sie die erste der geborstenen, überwucherten Stufen. Das nächste Aufflackern zeigte ihnen zwei weiße Mavinen-Katzenwesen, die zwischen Steinen und kantigen Säulen hin und her huschten wie hungrige Raubtiere. »Elcoy und Alzei!« sagte Razamon entschlossen. »Wir haben es geschafft.«
47 Langsam gingen sie die Treppe aufwärts. Sie hielten die Steinäxte in den Händen und waren noch immer nicht sicher, ob sie nicht in eine Falle der Jagdkommandos liefen. Plötzlich, als die Jägerinnen die Männer sahen, stürzten sie hinaus in den wütenden Regen und begannen, mit beiden Armen wie wild zu winken. Noch zwanzig Stufen, und schließlich standen sich die beiden Gruppen gegenüber. Elcoy sagte erleichtert, soweit dies die Flüchtenden feststellen konnten: »Ich bin froh, daß ihr gekommen seid. Ich habe tausend Ängste ausgestanden. Wenn nicht Alzei mich beschützt hätte, würde mich der Blutdschungel verschlungen haben!« Atlans Extrasinn flüsterte stechend: Blutdschungel? Denke an Pthor, Arkonide! Razamon beherrschte dieselbe Überlegung. Die Schrecken des so genannten Blutdschungels auf Pthor standen denen von Dorkh in nichts nach. Nach einem prüfenden Blick auf die bis zur Unkenntlichkeit überwucherten und zusammengebrochenen Mauern, Türme, Säulen und Traversen traten die drei Ausgesetzten in den Schutz des großen Baumes. Der Wind tobte und zerrte an ihnen. »Auch uns hätte der Blutdschungel mehrmals fast getötet. Wir haben überlebt. Wir sind auch den Mavinen entkommen«, sagte er. »Und als Gegenleistung für unsere Dienste als Leibwache verlangen wir, daß du uns alles, aber auch alles berichtest, was du über Dorkh weißt, Exkönigin Elcoy!« Die Mavine stimmte zu. Sowohl ihre Leibwache als auch die Zeitkönigin trugen die deutlichen Spuren der Kämpfe und eines Gewaltmarsches. »Auf dem Weg nach Tarthor, der Veränderlichen Stadt der Snorv-Geister, werde ich euch alles sagen. Diese Nacht sollten wir im Schutz der alten Mauern schlafen und uns vorbereiten. Wir haben Essen herbeigeschafft. Meine … die Mavinen-Jägerinnen jagen nachts nicht, und überdies kontrollie-
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ren sie nur zwei Tagesmärsche im Durchmesser das Land.« Elcoy deutete auf die Ruine, und die Ausgesetzten folgten ihnen. Falls Tolfex, der Koordinator der Ewigkeit, sie tatsächlich auf einen Stern der Läuterung gebracht haben sollte, hatten sie erst einen Bruchteil der
Wunder, Abenteuer und Schrecken miterlebt. Atlan schüttelte sich, als er daran dachte.
ENDE
Weiter geht es in Atlan Band 445 von König von Atlantis mit: Der Dschungel von Dorkh von Hans Kneifel