Ren Dhark
Der Drakhon-Zyklus
Band 6
Sonne ohne Namen
HJB
1. Auflage
HJB Verlag & Shop KG
Postfach 22 01 22...
21 downloads
810 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Ren Dhark
Der Drakhon-Zyklus
Band 6
Sonne ohne Namen
HJB
1. Auflage
HJB Verlag & Shop KG
Postfach 22 01 22
56544 Neuwied
Bestellungen und Abonnements:
0 26 31-35 48 32
0 26 31-35 6100
Fax: 0 26 31-35 6102
www.ren-dhark.de
© REN DHARK: Brand Erben
Herausgeber: Hajo F. Breuer
Titelbild: Ralph Voltz
Illustrationen: Swen Papenbrock
Druck und Bindung: Wiener Verlag Ges. m.b.H.
© 2001 HJB Verlag
REN DHARK und HJB sind eingetragene Warenzeichen
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 3-930515-30-X
Vorwort Das Projekt REN DHARK wächst und gedeiht. Immerhin können wir mit dem vorliegenden sechsten Band des DrakhonZyklus »Bergfest« feiern – die Hälfte des Zyklus ist erreicht. Damit sind die Skeptiker, die der Neufortschreibung der klassischen deutschen SF-Serie keine oder höchstens geringe Chancen gaben, mehr als nur widerlegt. Denn die neuverfaßten Ausgaben finden mittlerweile mehr Freunde als die ersten 16 Bände, in denen die Romanhefte aus den 60er Jahren erstmals zu Büchern zusammengefaßt wurden. So ein Erfolg läßt sich nur mit einem Team erstklassiger Autoren verwirklichen, das kann man gar nicht oft und laut genug betonen. Deshalb möchte ich hier einmal ganz ausdrücklich sagen: »Danke, Jungs! Ihr seid eine Spitzenmannschaft!« Ab dem nächsten Buch wird der Ausdruck dieses Dankes etwas komplizierter, denn dann stößt erstmals eine Frau zum illustren Kreis der RD-Autoren. Und zwar eine sehr namhafte. Wer? Lassen Sie sich überraschen! Mit dem gleichzeitig erscheinenden Sonderband »Die Schwarze Garde« liefert Michael Nagula seine Visitenkarte als neuer RD-Autor ab. In dem Buch wird der Aufbau einer Spezialeinheit geschildert, die der Menschheit im Kampf gegen die Grakos und andere Bedrohungen aus der Tiefe des Alls noch viele wertvolle Dienste leisten wird. Vielleicht sollten Sie diesen Sonderband lesen, bevor Sie den nachfolgend abgedruckten Roman angehen. Denn dann sind Sie schon genau im Bilde, wenn Sie den ersten Einsatz der Schwarzen Garde im System der »Sonne ohne Namen« mitverfolgen... Nun muß ich noch ein etwas unangenehmeres Thema ansprechen: die Preise, die der HJB-Verlag für seine Produkte
verlangt. Die sind seit langem unverändert, denn schon der erste RDBand kostete genau wie dieser (der 22.) 29,80 DM. Und auch die nächsten drei Bücher werden diesen Preis halten. Doch ab Januar 2002 zwingt uns der Staat dazu, alle Preise auf Euro umzustellen. Die Kosten für die Umetikettierung, die Umstellung von Programmen und Frankiermaschinen sind so hoch, daß wir sie nicht einfach durch eine gesteigerte Produktivität auffangen können. Deswegen werden alle RD-Bände – auch die älteren – ab dem 1. Januar 2002 15,90 € kosten. Das entspricht einem neuen Preis von 31,10 DM und somit einer Erhöhung um 1,30 DM oder 4,36 % – über einen Zeitraum von acht Jahren. Damit liegt die reale Erhöhung bei rund einem halben Prozent pro Jahr und somit weit unter der allgemeinen Teuerungsrate. Trotzdem werden kostenbewußte RD-Leser ihre Sammlung noch bis zum Ende dieses Jahres ergänzen, denn solange die DM noch offizielles Zahlungsmittel in Deutschland ist, solange bleiben wir auch dem alten Preis verbunden! Bevor Sie sich nun ans Lesevergnügen machen, sollen Sie noch erfahren, wer den vorliegenden Roman verfaßte: Das besorgten Werner K. Giesa, Uwe Helmut Grave, Conrad Shepherd und Manfred Weinland nach einem Exposé von Hajo F. Breuer (der auch noch einige ergänzende Seiten beisteuerte). Nun aber auf ins Abenteuer, auf zu den Sternen – ad astra! Giesenkirchen, im April 2001
Hajo F. Breuer
Prolog Die galaktische Katastrophe, die Ende des Jahres 2057 die Milchstraße heimsuchte, hat sämtliche technischen Errungenschaften der Mysterious, die nicht von einem Intervallfeld geschützt waren, in nutzlosen Schrott verwandelt. Darüber hinaus hatten die Völker der Milchstraße alle unter den Folgen der Energiefront aus dem Hyperraum zu leiden, ob sie nun Mysterioustechnik benutzten oder nicht. Bewußtlosigkeit, Kurzschlüsse und Unfälle forderten allen technisch entwickelten Zivilisationen einen hohen Blutzoll ab. Allein auf der Erde fanden mehr als 50 Millionen Menschen den Tod. Ren Dhark vermutet einen Zusammenhang zwischen dieser Katastrophe, den verheerenden Strahlenstürmen in der Galaxis und der unerklärlichen Entdeckung der Galaxis Drakhon, die mit der Milchstraße zu kollidieren droht. Weil offenbar auch die Grakos, jene geheimnisvollen Schattenwesen, die so unerbittliche Feinde aller anderen intelligenten Lebensformen zu sein scheinen, unter den Folgen der kosmischen Katastrophe leiden und ihre Angriffe eingestellt haben, bricht Ren Dhark mit seinen Getreuen zu einer Expedition nach Drakhon auf. Da die Erde nach dem Ausfall ihrer meisten SKreuzer auf kein Raumschiff verzichten kann, steht für die Expedition nur ein einziges Schiff zur Verfügung: die POINT OF. Ausgerüstet mit von den Nogk konstruierten Parafeldabschirmern steuert das terranische Flaggschiff noch einmal den Planeten Salteria an, auf dem die letzten Salter Zuflucht bei den paramental enorm starken Shirs gefunden hatten. Diesen gewaltigen Kolossen war es offenbar gelungen, die Erinnerungen und Sinneseindrücke der Terraner beim
ersten Aufenthalt auf ihrer Welt fast nach Belieben zu manipulieren. Beim Einflug nach Drakhon macht die Funk-Z der POINT OF eine erstaunliche Entdeckung: In der fremden Galaxis, die beim ersten Besuch funktechnisch »tot« war, wimmelt es nun von Kommunikationssignalen im Hyperraum. Offenbar hatte auch in dieser Sterneninsel ein kosmischer Blitz zugeschlagen, der die hier lebenden Völker aber früher außer Gefecht gesetzt haben muß als die Bewohner der Milchstraße... Ren Dhark erhält Hinweise auf das geheimnisumwitterte Volk der Rahim, das Drakhon früher mit seiner Supertechnik beherrscht haben soll, aber seit rund 600 Jahren verschwunden ist. Den Commander packt das Jagdfieber: Die Parallelen zu den Mysterious sind kaum zu übersehen! Von den Galoanern, einer höchst friedfertigen Zivilisation, bekommt das terranische Expeditionskorps Hinweise auf eine »verbotene Zone«, in der Spuren der Rahim zu finden sein sollen. Die Besatzung der POINT OF entdeckt in dieser Zone den Planeten der Rags. Diese Intelligenzen leben auf einem technischen Standard, wie ihn die Menschheit vor rund 150 Jahren besaß. Als Ren Dhark in der Begleitung von Arc Doorn und den beiden Cyborgs Sass und Oshuta Owid, den Planeten der Rags anfliegt, kommt es zum Ausfall sämtlicher Systeme und dem Absturz der beiden Flash. Für die im Weltall zurückgebliebene POINT OF sieht es so aus, als sei Owid aus dem All verschwunden. Und der Checkmaster verhindert, daß Dan Riker seinem Freund nachfliegt. Die Menschen bitten die Galoaner um Hilfe, die ihnen auch gewährt wird. Doch sie haben nicht nur Freunde in Drakhon: Die Nomaden wollen das Ringschiff der Terraner unbedingt in ihre Gewalt bringen und greifen mit einer starken Flotte an. Nach einer vernichtenden Niederlage rettet sich Pakk Raff, der oberste Rudelführer der Hundeartigen, mit wenigen Getreuen
an den einzigen Platz, an den ihm die POINT OF nicht folgen kann – auf die verschwundene Welt Owid...
1. Die tropische Hitze traf Ren Dhark wie ein Hammerschlag, als er und seine Gefährten das U-Boot verließen. Auch an die neue Geräuschkulisse mußte er sich erst wieder gewöhnen. Die Maschinen des korlonischen Unterseefahrzeugs schwiegen, die anfangs seine Ohren malträtiert hatten und mit denen er sich Tage später abfand, wie jeder Seefahrer, der die vertrauten Geräusche seines Schiffes kennt und alarmiert aufschreckt, wenn sich daran etwas ändert. Jetzt, endlich wieder im Freien, hörte er die Wellen, die gegen die Hafenmauern klatschen, hörte die Schreie der Seevögel, und die Laute, die der Wind von der Hafenstadt und dem dahinterliegenden Land herantrieb. Hafenstadt? Nun ja. Es war bei weitem nicht das, was Ren von Seehäfen der Erde her kannte. Der Hafen selbst war relativ klein und primitiv, die Stadt dahinter eher ein Dorf. Vermutlich dienten die meisten Häuser dazu, den Seeleuten Vergnügen, Entspannung und Entleerung der Geldbörsen zu garantieren. Aber das war für ihn, Arc Doorn und die beiden Cyborgs Bram Sass und Lati Oshuta unwichtig. Sie waren nicht zum Vergnügen hier. Sie suchten Hinterlassenschaften der geheimnisvollen Rahim! Ren strich sich durch das weißblonde Haar. Er lauschte den Stimmen von Dockarbeitern, dem Knarren und Quietschen von Ladekränen. Zwei Frachtschiffe lagen im Hafen, wurden beund entladen. Keine dampfgetriebenen Schiffe wie die der korlonischen Marine, sondern Segler. »Hätten Sie vielleicht mal die Güte, ein paar dezent bemessene Schritte vorwärts zu schreiten, Commander!« knurrte hinter ihm eine mürrische Stimme. »Die Rags treten
mir schon in die Hacken!« Ren antwortete nicht, sondern ging vorwärts. Arc Doorn hatte recht. Ren versperrte den Nachfolgenden den Weg über die schmale Laufplanke, die das korlonische U-Boot mit der Anlegestelle verband. Doorn und die Cyborgs folgten. Korlonische Marinesoldaten begleiteten sie an Land. Sie schienen froh zu sein, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, und vor allem nicht mehr in der drangvollen Enge des Unterwassergefährts regelrecht gefangen zu sein. Auch Ren hatte sich im Inneren des Bootes nicht sonderlich wohlgefühlt. Er war häufig aus leichtem Schlaf aufgeschreckt, weil er befürchtete, das Boot laufe voll Wasser. Denn die Verbände des aus dünnwandigem Blech zusammengeschweißten Gefährts knackten mehr als einmal laut und vernehmlich. Aber das Boot war nicht gesunken. Unentdeckt von feindlichen Schiffen war es gelungen, den Kontinent Undo zu erreichen. Als Ren Dhark sich in Richtung Meer umsah, erkannte er weit draußen am Horizont die grauen Silhouetten von Kriegsschiffen. Die korlonische Marine sicherte Undos Küste ab – zumindest in diesem Bereich. »Wo bleiben die Ehrenjungfrauen?« fragte Bram Sass etwas spöttisch. »Ich hatte mir den Empfang doch etwas großartiger vorgestellt. Hübsche Hula-Mädchen, Blumenkränze, eine Musikkapelle, ein roter Teppich, ein Luxusschweber mit Klimaanlage, verdunkelten Fenstern, eingebauter Bar und TVEmpfänger, eine Horde Diener, die unsere Koffer tragen möchten...« »Und wovon träumst du nachts, du ladinischer Bauer?« grinste ihn sein Cyborgkollege Oshuta an. »Von dir Reiskorn-Dompteur bestimmt nicht«, brummte Sass gemütlich. Hinter ihnen drängten sich weitere Besatzungsmitglieder des
U-Bootes an Land. Der Kapitän selbst gesellte sich zu Dhark und den anderen, und der Commander hatte beinahe den Eindruck, es gäbe nicht einmal mehr eine Notbesatzung an Bord... In den letzten Wochen hatten sich die Menschen an das Aussehen der Rags gewöhnt. Sie waren zwar humanoid – mit je zwei recht dicklichen Armen und Beinen, Hände und Füße mit je fünf Fingern beziehungsweise Zehen – etwa menschengroß, hatten aber merkwürdig flache, kaum konturierte Gesichter. Ihr gesamtes Erscheinungsbild erinnerte an einen Typus von Stoffpuppen, wie sie auf Terra in den letzten Jahren des vergangenen Jahrhunderts en vogue gewesen waren. Deshalb hatte Anja Riker sie angesichts der ersten Bilder, die sie alle in der POINT OF von den Bewohnern dieses Planeten gesehen hatten, nach eben diesen Puppen »Rags« genannt. Die »Rags« nannten sich selbst Owiden, nach ihrem Planeten Owid. Bei diesem handelte es sich um die fünfte von 18 Welten des Doppelsonnensystems D 2959/824 in der Galaxis Drakhon. Die beherrschende Sonne war ein roter Riese vom Spektraltyp M 2 und der Leuchtkraftklasse II, die andere ein offenbar nach Entstehung des Systems von dem roten Riesen eingefangener weißer Zwerg vom Typ O 5/VII. Die Rags nannten die große Sonne »Balk« und die kleine »Bulk«. Mehrere Asteroidengürtel großen Ausmaßes waren offensichtlich Überreste der Begegnung der beiden Sonnen vor rund vier Milliarden Jahren. Sie machten das Navigieren im System schwierig und gefährlich. Owid war eine Sauerstoffwelt mit erdähnlicher Zusammensetzung und Masse, deshalb betrug die Schwerkraft hier fast genau 1 g. Der Planet besaß drei Kontinente, die nicht durch Landbrücken miteinander verbunden waren. Meere bedeckten mehr als die Hälfte der Welt. Ein Owid-Tag
entspracht 24 Stunden und 18 Minuten, ein Owid-Jahr 368 Erdentagen. Die Rags befanden sich auf einem technischen Entwicklungsstand, der dem der Erde gegen Ende des Ersten Weltkriegs entsprach. In der gemäßigten Klimazone des Nordens lag der Kontinent Gawa. Hier lebten Rags mit rosa Hautfarbe. Sie stellten die dominierende Zivilisation. Es gab auf dem Kontinent eine Reihe von Staaten, die entweder Monarchien oder Diktaturen waren. Fast jeder gehörte einem der beiden großen Staatenbünde an, die miteinander Krieg führten, und dies schon seit über 100 Jahren. Handelshäuser und seit einigen Jahrzehnten auch Industriekonzerne finanzierten diesen Krieg, den sie möglichst lange erhalten wollten, um gut daran zu verdienen. Soviel hatten die Terraner inzwischen herausgefunden, nachdem sie mit ihren Flash über dem Ozean abgestürzt waren. Sie hatten nach Hinterlassenschaften der geheimnisvollen Rahim forschen wollen, die die Galaxis Drakhon vor langer Zeit beherrscht haben sollten – insgeheim flirtete Dhark mit der Hoffnung, es könne sich bei diesen Rahim eventuell gar um die spurlos in Weltraumtiefen verschwundenen Mysterious handeln... Doch der rätselhafte Energieausfall der Flash hatte ihnen einen gehörigen Strich durch die Rechnung gemacht. Die beiden Raumboote und die Ausrüstung der vier Terraner lagen jetzt in vorerst unerreichbarer Tiefe auf dem Meeresgrund, und daß sie von einem Kriegsschiff der Korlonen geborgen worden waren, war schon mehr Glück als Verstand. Es war ihnen zwar gelungen, Nachforschungen in Sachen Rahim anzustellen, allerdings hatten die sie zunächst nicht weitergebracht. Immerhin wurden die vier Terraner inzwischen von der korlonischen Regierung unterstützt – was nicht zuletzt der Verdienst Arc Doorns war. Der geniale Techniker hatte ihnen ein Radarsystem konstruiert, das ihnen bei ihrem
Abwehrkrieg gegen die Ganten Vorteile brachte. Zumindest würde es den Kriegsverlauf jetzt wohl drastisch verkürzen. Das bedeutete im Endeffekt sicher weniger Tote auf beiden Seiten... Ganz wohl fühlte Ren Dhark sich bei diesem Wissenstransfer nicht, hatten sie doch dadurch in die technische Entwicklung einer fremden Zivilisation eingegriffen. Aber über kurz oder lang hätten die Owiden diese Technik auch von selbst entwickelt. Doorn hatte diesen Vorgang nur erheblich beschleunigt. Ganz abgesehen davon, daß es sich um keine absolute Kriegswaffe handelte – das Radar würde in Friedenszeiten noch wesentlich nützlicher sein – und daß sie nun in der Gunst der korlonischen Regierung eine Spitzenposition einnahmen. Im Rahmen der vorhanden Möglichkeiten konnten sie praktisch alles verlangen – wenn es irgendwie möglich war und den Korlonen selbst keinen Schaden zufügte, wurden die Wünsche erfüllt. Und so hatte man sie zum Kontinent Undo gebracht. Hier sollten sich weitere Hinterlassenschaften der Rahim befinden, und hierher hatten die Terraner ja ohnehin von Anfang an gewollt. Allerdings hegte Commander Dhark die heimliche Befürchtung, daß es trotz allem nicht ganz so einfach sein würde, die selbstgewählte Mission zu erfüllen. Vor allem machte es ihm zu schaffen, daß es immer noch kein Lebenszeichen von der POINT OF gab. Warum gelang es dem Ringraumer nicht, nach Owid vorzustoßen und Dhark und den anderen Unterstützung zu bringen? Warum war es immer noch nicht möglich, wieder Kontakt aufzunehmen? Diese verteufelte Abschirmung, die die Verbindung zwischen den Flash und der POINT OF unterbrochen und die Energieversorgung der Beiboote ausgeschaltet hatte, mußte doch zu knacken sein! Natürlich nicht von den Owiden. Die besaßen die
technischen Möglichkeiten dazu überhaupt nicht, wie sie auch unschuldig daran waren, daß es diese Sperre gab. Aber mit der Technologie der Mysterious mußte es doch möglich sein, mit der Abschirmung fertigzuwerden! »Hier kann man's aushalten«, riß Doorns Stimme Ren Dhark aus seinen Gedanken. Der Sibirier wischte sich mit dem Ärmel seiner Bordkombination den Schweiß von der Stirn. »Prima Urlaubsklima, Dhark. Bei uns zu Hause war es manchmal sogar im Sommer noch so kalt, daß man nicht mal mit den Zähnen klappern konnte, weil die aneinander festfroren...« Dhark sah zum Himmel hinauf, an dem es die kleinere der beiden Sonnen, Bulk, verdammt gut meinte. Von Balk war zur Zeit nichts zu sehen außer einem rötlichen Schimmer am Horizont, aber die von ihr kommende Hitzewelle kündigte sich bereits für die nächsten Stunden an. »Ihren nächsten Urlaub können Sie ja gern hier verbringen, aber mir ist's entschieden zu heiß. Wenn ich mir vorstelle, bei dieser Affenhitze auch noch schwer arbeiten zu müssen... diese armen Teufel dort tun mir leid.« Er deutete auf eine Kolonne von Hafenarbeitern, die schwere Ballen, Fässer und Kisten mit sich schleppten oder vor sich her rollten. Zum ersten Mal sahen die vier Terraner blaue Rags, die durch diese Hautfarbe noch bizarrer wirkten als die diversen helleren und dunkleren Rosatönungen der auf dem Nordkontinent lebenden Owiden. Dhark fragte sich, ob diese Pigmentierung einen natürlichen Schutz vor der Sonnenhitze darstellte wie auf der Erde bei afrikanischen Völkern, oder ob es nur eine genetische Laune ohne größeren Hintersinn war. Manu Tschobe hätte ihm dazu vielleicht etwas mehr sagen können. »Diese armen Teufel, wie Sie sie nennen, brauchen Ihr Bedauern nicht, Terraner«, sagte der U-Boot-Kapitän gelassen, der sich wie seine Mannschaft recht schnell an die fremdartigen Wesen aus Weltraumtiefen gewöhnt hatte und sie
längst nicht mehr wie seltene Zootiere anstarrte. »Sie sind als Ureinwohner dieses Kontinents die hohen Temperaturen gewohnt und kennen es nicht anders. Auf Gawa würden sie erbärmlich frieren. Aber darf ich fragen, was ›Teufel‹ sind?« Mit diesem Begriff hatte der galoanische Translator nichts anfangen können! Bram Sass übernahm die Erklärung. Dhark schmunzelte über die Formulierungen des Cyborgs, während er weiter die blauen Rags beobachtete. Sie ließen ihre gewaltigen Muskelpakete spielen, die deutlich zu sehen waren, weil die meisten von ihnen nur Lendenschurze trugen oder gar nichts. Andere waren in fadenscheinige und vielfach geflickte Lumpen gekleidet, die aussahen, als hätten ihre Besitzer sie von der Müllhalde gekratzt. Auch wenn es sich nur um »Arbeitskleidung« handelte, konnte das dem Commander nicht gefallen. Wurden diese blauen Rags für ihre körperliche Schwerarbeit dermaßen schlecht entlohnt, daß sie sich nicht einmal halbwegs vernünftige Kleidung kaufen konnten? Im nächsten Moment wurde Dharks Aufmerksamkeit auf ein rasselndes, zischendes und fauchendes Etwas gelenkt, das sich unter dem Ausstoß gewaltiger Wasserdampfwolken näherte. Begleitet wurde das dampfgetriebene Räderfahrzeug von einem Dutzend blauer Rags, die immerhin halbwegs elegant aussehende Beinkleider trugen – und dazu bunte Schärpen. Das Dampfautomobil kam ein paar Meter vor dem U-BootKapitän und den vier Terranern zum Stillstand. Es war erstaunlich groß – bedeutend länger und breiter als jedes Fahrzeug, das sie bisher auf Gawa gesehen hatten. Und es bewegte sich auf extrem großen Rädern, die eines Traktors würdig gewesen wären; allerdings fehlte ihnen das grobstollige Profil. Diese Luftreifen waren nahezu glatt. Rennslicks, entsann sich Dhark schmunzelnd alter Archivaufnahmen von
Autorennen, die es im Zeitalter der Antigravfahrzeuge in dieser Form nur noch in kleinen Liebhaberzirkeln gab. Immerhin war dieses Vehikel durch die großen Räder sicher trotzdem recht geländegängig. Und, wie er beim nächsten Blick feststellte, auch sehr gut gefedert. Zwar mit Blattfedern, aber die waren locker und weich gepackt und recht lang, so daß sie einigermaßen frei schwingen konnten. Selbst jetzt federte das Fahrzeug noch leicht nach, obwohl es schon eine halbe Minute stand. Zwei blaue Rags halfen einem dritten mit dunkelrosa getönter Haut aus dem Vehikel. Der Owide hätte dieser Hilfe sicher nicht bedurft; er machte einen recht sportlichen Eindruck. Gekleidet war er in einen schreiend bunten Anzug, dessen Hauptfarben sich in den Schärpen der blauen Rags wiederholte, und der auch mit der Lackierung des Fahrzeugs eine gewisse Ähnlichkeit aufwies. Der Owide machte ein paar Schritte auf die Terraner und den U-Boot-Kommandanten zu, der sich jetzt in den Vordergrund schob. Der Marineoffizier verneigte sich knapp vor dem Buntgekleideten und gewährte ihm anschließend eine militärische Ehrenbezeugung. Dann wandte er sich wieder an Ren Dhark. »Das ist Gouverneur Cafer«, stellte er den bunten Dandy vor. »Er trägt die Verantwortung dafür, daß in dieser Kolonie alles seinen rechten Gang nimmt«, und mit wesentlich leiserer Stimme, so daß Cafer ihn kaum hören konnte, fügte er hinzu: »Und sicher trägt er auch einen Großteil der eingenommenen Steuern in seine eigene Schatzkammer statt in die des Monarchen.« »Ahnt oder weiß der Monarch das?« fragte Ren ebenso leise zurück. »Dann wäre Cafer längst kein Gouverneur mehr, aber er wäre der erste Gouverneur, der seine Stellung nicht dazu benutzt, sich eine gewisse... hm... Altersversorgung zu verschaffen...«
Mittlerweile war Cafer nahe genug herangekommen, daß der Kommandant es nicht mehr für ratsam erachtete, dieses Gespräch fortzusetzen. Statt dessen wandte er sich jetzt an den Gouverneur und wies auf die vier Terraner, um sie als die Besucher aus dem Weltraum vorzustellen. Cafer machte eine begrüßende Geste. »Ihre Ankunft wurde mir über Funk bereits angekündigt, verehrte Gäste. Sie versetzen mich einigermaßen ins Staunen – Sie hatten eine kurze Reisezeit. Offenbar also keinen unmittelbaren Feindkontakt.« »Das ist richtig, Gouverneur«, sagte der Kommandant. »Und erfreulich«, ergänzte Ren Dhark. »Unser Bedarf an kriegerischen Auseinandersetzungen ist mehr als gedeckt.« »Dann darf ich Sie auf Undo ganz besonders herzlich willkommen heißen«, strahlte Cafer über das ganze Puppengesicht und breitete einladend die Arme aus. »Korlonisch Nordwestundo ist ein Hort des Friedens. Unsere Kolonie blüht und gedeiht. Bitte – wenn Sie die Güte hätten, in meiner Kalesche Platz zu nehmen und mich zu meiner bescheidenen Plantage zu begleiten. Für den heutigen Abend haben wir einen kleinen Begrüßungsimbiß vorbereitet. Ich bin sicher, daß Sie sich äußerst wohlfühlen werden.« Einladend deutete er auf sein Prunkgefährt. Dhark verabschiedete sich von dem Marineoffizier. Er war nicht sicher, ob er ihn wiedersehen würde. Das U-Boot würde kaum lange genug im Hafen liegen, um auf das Ende der Mission des Terraners zu warten; Fahrzeuge dieser Art waren für den Kriegseinsatz gebaut und nicht für den Passagierverkehr. Zudem war längst nicht sicher, wie es weiterging. Was geschah, wenn sie hier tatsächlich auf weitere Relikte der mutmaßlichen Rahim stießen und sich diese vielleicht sogar nutzbar machen konnten? Lati Oshuta hatte während der Überfahrt die Hoffnung geäußert, die beiden im Ozean versunkenen Flash dann vielleicht sogar ohne
Unterstützung durch die Korlonen bergen zu können. Aber so oder so war das alles zunächst nur Spekulation. Die blauhäutigen Owiden halfen den Terranern beim Einstieg in das Dampffahrzeug. Dabei zeigten sie unverhohlen ihre Neugierde – glatthäutige Wesen mit so zerklüfteten Gesichtsformen beflügelten ihre Fantasie, und hin und wieder fing der Translator Gesprächsfetzen auf, in denen die Rags darüber spekulierten, ob die vier Fremden Fabelwesen, Götter oder bedauernswerte Mißgeburten darstellten. Die Korlonen auf Gawa waren da wenigstens etwas zurückhaltender gewesen... Die Sitze des Dampfmobils waren erstaunlich bequem und ließen sich sogar durch ein kompliziert anmutendes Hebelwerk verstellen, so daß jeder seinen Sitz in die für ihn angenehmste Position bringen konnte. Der Gouverneur bemerkte Dharks Staunen und räkelte sich auf seinem Sitz wie eine satte, zufriedene Raubkatze. »Für jemanden, der es gewohnt ist, von Stern zu Stern zu fliegen, muß das hier natürlich sehr primitiv erscheinen«, sagte er. »Aber Sie können mir glauben, daß dies für unsere Begriffe Spitzentechnologie ist, und wenn es dunkel wäre, könnte ich Ihnen sogar unsere neuen Magnesiumlampen vorführen, die längst noch nicht jedes Fahrzeug besitzt. Sie sind wesentlich lichtstärker als unsere bisherigen Gas- oder Karbidlampen. Sie brennen nur nicht so lange. Aber wir müssen ja auch keine weiten Strecken fahren.« »Sie sind sehr schnell bereit, zu akzeptieren, daß wir aus Weltraumtiefen kommen, Gouverneur Cafer«, stellte Ren Dhark fest. »Mein Volk hat sich in dieser Hinsicht immer recht schwer getan – sogar noch, als wir selbst die Raumfahrt entwickelt hatten. Man wollte einfach nicht wahrhaben, daß es auch intelligentes Leben – Leben überhaupt, ganz gleich in welcher Form – außerhalb unserer Heimatwelt geben könnte, und Lebensformen, die nicht auf Kohlenstoffbasis beruhen so
wie wir Terraner, Sie Owiden, die Rahim und unzählige andere Völker, waren gleich ganz unvorstellbar.« »Warum sollen wir nicht an Fremde glauben, die aus Weltraumtiefen zu uns kommen?« erwiderte Cafer. »Unsere Mythen sprechen davon, und die Alternative wäre – schlimmer...« Derweil setzte das Fahrzeug sich in Bewegung. Die Dampfmaschine wurde lauter, der Fahrer, ein rosahäutiger Korlone, zog an Hebeln und drehte an Stellrädern. Zischend, fauchend und Dampf ausstoßend rollte der Wagen davon. Die Federung war sogar noch besser, als Dhark zunächst angenommen hatte; selbst gröbste Fahrbahnunebenheiten wurden mit so sanften Schwingungen ausgeglichen, daß nicht einmal ein Tropfen aus den Gläsern überschwappte, die mit Erfrischungsgetränken nahezu bis zum Rand gefüllt waren! Schon bald lag der Hafen hinter ihnen. Und eine von breitblättrigen Bäumen gesäumte Straße führte ins Landesinnere. Der Dampfwagen zog einen langen Staubschleier hinter sich her, der sich nur sehr langsam wieder senkte. * Die Fahrt dauerte nicht lange genug, um ein tiefergehendes Gespräch zu beginnen. Sie waren vielleicht zehn Minuten lang unterwegs, an gutbestellten Feldern vorbei, auf denen blaue Rags arbeiteten. Die exotischen Pflanzen, die hier überall wucherten und die auch versuchten, die Straße wieder zu einem Stück Natur zu machen, schlugen Ren mit ihrer Farbenpracht und Vielfalt in ihren Bann. Nie zuvor wahrgenommene Düfte reizten seine Nasenschleimhäute, die Sonne brannte heiß über dem Land und bekam Verstärkung von ihrer sich allmählich am Horizont zeigenden größeren Kollegin. Für vielleicht eine Minute gab Ren sich dem Tagtraum hin, in dieser bunten
Landschaft ein paar Tage Urlaub zusammen mit Joan Gipsy zu machen – dann fiel es einem kreischenden, grünlich schillernden Vogel ein, ihn unter Beschuß zu nehmen. »Mistvieh, verdammtes«, knurrte der Commander. »Die Katze soll dich fressen!« Cafer gab einem seiner Begleiter einen Wink. Der zog aus einem Fach ein selbst für diese Kultur vorsintflutliches, langläufiges Gewehr mit erstaunlich dickem Lauf hervor, zielte auf den Vogel und schoß. Der Knall war ohrenbetäubend, der aus der Mündung zuckende Blitz unwahrscheinlich grell, und der Rückstoß hätte den Rag glatt vom Wagen geschleudert, wenn Oshuta nicht in einer lässig wirkenden Bewegung seinen Arm ausgestreckt und den Owiden festgehalten hätte. Der Vogel kreischte unverdrossen weiter, flog seinen nächsten »Angriff« und versuchte erneut, den Darm treffsicher zu entleeren. »Knapp vorbei ist auch daneben«, kommentierte Arc Doorn den umwerfenden Schuß. »Abwarten, mein Bester«, übersetzte der Translator das angestrengte Keuchen des Rag, der wieder auf die Beine kam und das Gewehr in aller Gemütsruhe nachlud. »Fünf... vier... drei... zwei... eins...« Der Vogel verharrte in der Luft – und sauste dann wie ein Stein nach unten. »Null«, kommentierte der Rag. »Der kackt nicht mehr auf des Herrn Gouverneurs Gäste.« »Aber bei dem Kaliber«, stöhnte Doorn, »kannst du ihn doch nur verfehlt haben, Mann! Wieso fällt er dann trotzdem vom Himmel, und warum erst so spät?« »Weil diese Vögel äußerst dumm sind. Der hier hat erst begriffen, daß er tot ist, als ich mich nicht mehr um ihn kümmerte. Und da ist er eben etwas verspätet 'runtergefallen.« »Soll das heißen, er wäre noch weiter geflogen, wenn du erneut auf ihn geballert hättest?«
Der Rag verstaute das Gewehr wieder im Fach. »Vielleicht«, sagte er. »Vielleicht auch nicht.« Cafer lachte vergnügt. Dann sah er Dhark an. »Verzeihen Sie diesem dummen Vogel, daß er für eine Weile vergessen hat zu sterben. Natürlich werden Sie frische Kleidung bekommen, und wir sorgen dafür, daß Ihr Anzug unverzüglich wieder gesäubert wird. Möchten Sie den Vogel für seine Untat bestrafen, indem Sie ihn essen?« »Lieber nicht«, murmelte Ren. »Vielleicht fällt ihm erst ein, daß er eßbar ist, wenn ich mir bereits die Zähne daran abgebrochen habe.« Wieder lachte Cafer, und es hätte nicht viel gefehlt, daß er seinem Gast heiter auf die Schulter geschlagen hätte. »Dafür, daß Sie das Regierungsoberhaupt Ihres Volkes sein sollen, wie man mir mitteilte, gefallen Sie mir sehr gut.« »Was hat man Ihnen sonst noch mitgeteilt?« fragte Dhark ernst. Sofort änderte sich auch das Verhalten des Gouverneurs wieder. »Daß es der unabdingbare Wille des Monarchen ist, Ihnen und Ihren Begleitern jederzeit jede mögliche Unterstützung zu gewähren. Mir ist zwar nicht klar, was Sie hier zu tun beabsichtigen, aber wie es scheint, haben wir dank Ihrer Unterstützung die Möglichkeit, den Krieg mit den Ganten etwas früher zu beenden als befürchtet – und vielleicht sogar nicht als Verlierer. Dafür bin auch ich Ihnen sehr dankbar.« »Hier sieht es aber nicht besonders kriegerisch aus«, sagte Dhark. »Mal abgesehen von dem Krieg Gewehrschützen gegen Dummvögel.« »Es gibt ein Abkommen, den Krieg nicht nach Undo zu tragen«, sagte der Gouverneur. »Daran halten sich sogar die Ganten. Völlig sicher können wir natürlich trotzdem nicht sein. Schließlich gibt es auch gantische Kolonien auf diesem Kontinent, und nicht nur ich glaube, daß sie nur darauf warten,
über uns herfallen zu können. Nun, solange das nicht geschieht, leben wir hier bestimmt besser und sicherer als auf Gawa.« Besser, ja, dachte Ren sarkastisch. Auf Kosten der blauen Rags, die hier die Arbeit tun müssen, während die Kolonialherren wie die Maden im Speck leben... Aber im Moment sagte er noch nichts dazu. Erst einmal wollte er sich ein genaueres Bild von den Lebensumständen auf diesem Kontinent verschaffen, der fast den ganzen Äquatorbereich des Planeten Owid umspannte und nur schmale Durchfahrmöglichkeiten für Schiffe ließ, die zwischen nördlicher und südlicher Hälfte Owids wechseln wollten. Vor ihnen tauchte eine Ansammlung von Gebäuden auf. Weißgekalkte Flachbauten mit hellen Ziegeldächern statt der Strohmatten, die die Terraner auf den primitiven Hütten der blauen Rags gesehen hatten, an denen sie vorbeigekommen waren. Im Gegensatz zu diesen machte hier alles einen entschieden saubereren, gediegeneren Eindruck. Der Dampfwagen hielt vor dem größten Flachbau an. Der Gouverneur erhob sich. »Willkommen auf Undo«, wiederholte er und fügte hinzu: »Und willkommen in meiner bescheidenen Kolonie. Bitte, fühlen Sie sich hier wie zu Hause.« * Nein, wie zu Hause fühlten sich weder Ren Dhark noch seine Begleiter. Dafür fehlte es hier an zu vielen Dingen. Und die Owiden mit ihren Stoffpuppengesichtern konnten erst recht keine heimatlichen Gefühle erwecken, obgleich sie sich alle Mühe gaben, den Terranern den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Und es sah nicht einmal danach aus, als täten sie das unter Zwang. Vor allem die blauen Rags wetteiferten geradezu
miteinander, den Fremden aus dem Weltraum so viele Wünsche wie möglich zu erfüllen. Sie strahlten eine herzliche Freude, allerdings gepaart mit teilweise aufdringlicher Neugier aus, nur konnte Dhark ihnen für diese Aufdringlichkeit nicht einmal böse sein, weil sie sich wirklich redlich anstrengten, den Gästen zu Gefallen zu sein. »Mit denen stimmt etwas nicht«, vernahm Dhark im Vorbeigehen einen Gesprächsfetzen zweier Korlonen. »Was ist bloß in dieses faule Pack gefahren? Die Kungen drücken sich doch sonst immer gern vor allem, was irgendwie nach Arbeit stinkt...« »Die sind einfach neugierig auf die Fremden, deshalb versuchen sie ständig in ihre Nähe zu kommen«, vernahm er die Antwort des anderen, mehr bekam er allerdings nicht mehr mit. Kungen? War das die Bezeichnung für die blauen Rags, oder bedeutete es so etwas wie Sklave oder Fronarbeiter? Der galoanische Translator kam in diesem Punkt nicht mit, und die rudimentären Sprachkenntnisse, die sich die Terraner während der letzten Tage erworben hatten, reichten ebensowenig aus, um eine brauchbare Übersetzung zu liefern. Die Plantage des Gouverneurs erinnerte Dhark an alte Filme aus dem vergangenen Jahrhundert. So mochte es einmal in den Kolonien der Weißen auf dem afrikanischen Kontinent ausgesehen haben, oder auch in den amerikanischen Konföderationsstaaten südlich der Dixie-Linie. Schon bald wurde klar, daß sie zumindest diesen Tag und diese Nacht verlieren würden. Der Gouverneur veranstaltete zu ihren Ehren ein kleines Begrüßungsfest. Der kleine Imbiß, von dem Cafer im Hafen gesprochen hatte, war schon fast eine großangelegte Barbecueparty und gab einen Vorgeschmack darauf, was für den Abend angekündigt wurde. Dhark und die anderen griffen daher nur zaghaft zu. Aus den Nähten platzen
wollten sie ja nun auch nicht... Sie hatten frische Kleidung bekommen, und die blauen Rags machten sich sofort daran, die Kleidung der Terraner zu reinigen. Besonders wohl fühlte sich keiner der vier Männer in den Modetorheiten der Kolonialowiden, aber so oder so war eine Wäsche längst überfällig; die Kombinationen begannen nach dem langen Tragen tatsächlich bereits eine gewisse Anrüchigkeit zu verbreiten. Daher wußte Dhark dieses Angebot sehr zu schätzen. Ihm fiel dabei auf, daß die blauen Rags hier auf dem Gelände wesentlich besser gekleidet und gepflegter waren als die Hafenarbeiter. Sie bewegten sich auch mit einer gewissen Leichtigkeit und schienen fröhlicher, soweit Dhark Körpersprache und Physiognomie der Owiden zu deuten vermochte. Offenbar ging es also den Bediensteten des Gouverneurs deutlich besser als den einfachen Hilfskräften im Seehafen. Cafer hatte sich zurückgezogen. Er murmelte etwas von dringenden Geschäften, bevor er im Haupthaus verschwand, während seinen Gästen Zimmer zugewiesen wurden. »Wenigstens gibt es hier Moskitonetze«, stellte Doorn zufrieden fest und erschlug mit einer lässigen Bewegung das vermutlich hundertste Stechinsekt, das versuchte, von seinem Blut zu leben. Auch Dhark und die Cyborgs wurden von den kleinen, sirrenden Biestern geplagt, die eine vertrackte Ähnlichkeit mit terranischen Stechmücken hatten – offenbar ging die Natur in bestimmten Bereichen auf jedem Planeten den gleichen Weg. Das hatten Dhark und Doorn erstmals bei ihrem Exil auf Deluge erkannt. Sowohl die Fenster und Türen als auch die Schlafstätten waren mit den dichten Netzen verhängt. Minuten später, als die blauen Rags frische Kleidung brachten, verteilten sie auch kleine Tiegel mit einer entsetzlich stinkenden Salbe.
»Wirkt gegen die...«, versicherte einer der Rags und benutzte dabei eine Lautfolge, die der Translator nicht übersetzen konnte. Offenbar die Bezeichnung für die owidischen Stechmücken. »Kräftig einreiben, wirkt sofort.« Ren betrachtete die Salbe mißtrauisch und rümpfte die Nase. Ihm war zwar aufgefallen, daß die Rags keine Probleme mit den Insekten zu haben schienen, aber keiner der Owiden – weder die Korlonen noch die blauhäutigen Kungen – stanken so penetrant wie dieses Teufelszeug! »Ich helfe«, bot der Blaue an, wischte mit zwei Fingern durch die Salbe und verteilte sie über Dharks Gesicht, noch ehe der überraschte Commander sich dagegen wehren konnte. Aber dann stank diese Salbe überhaupt nicht! Im gleichen Moment, in dem sie aufgetragen wurde, verlor sie ihren brechreizfördernden Geruch und war nicht mehr zu erschnuppern! Dhark bedankte sich. »Was ist das für ein Stoff, der erst stinkt und danach nicht mehr?« »Ein Pflanzensaft«, verriet der Rag. »Gibt es nur hier. Die... meiden es«, dabei deutete er auf den Tiegel. »Wenn sie es nicht mehr riechen können«, jetzt wies er auf das Gesicht des Commanders, »kommen sie zwar, können aber nicht mehr stechen und Blut saugen, weil sie sofort sterben.« »Aber wie funktioniert das?« wollte Dhark wissen. »Großer Zauber«, verriet der Blaue und umschlang seinen Oberkörper schützend mit beiden Armen. »Großer Zauber. Niemand versteht das. Aber die... fallen tot aus der Luft, wenn sie der Salbe zu nahe kommen.« »Das Zeugs würde ich liebend gern mal analysieren«, brummte Sass. »Aber vermutlich gibt es hier keine geeigneten Instrumente. Da bräuchten wir die Medostation der POINT OF...« Und die war unerreichbar. »Immer einreiben«, drängte der Blaue. »Wirkung läßt nach
halbem Tag nach.« »Dann wollen wir mal auf stetigen Nachschub hoffen«, sagte Doorn trocken. »Das Zeug, auf alle freien Körperstellen aufgetragen, reicht doch nur für zwei Tage, und ob wir bis dahin mit allem fertig sind, mögen Owids Götter wissen...« * Als der Abend dämmerte, weil auch die zweite Sonne allmählich hinter dem Horizont verschwand, begann das Fest, das Gouverneur Cafer für seine Gäste richten ließ. »Die nächste Freßorgie«, stöhnte Arc Doorn angesichts der sich unter den Speisen und Getränken biegenden Tischplatten. »Wie ein Hobbit-Gelage«, schmunzelte Bram Sass. Für die Terraner war eine besondere Sitzgruppe arrangiert worden, an der auch Cafer seinen Platz hatte. Von hier aus gab es einen erstklassigen Blick auf die improvisierte Bühne, die fleißige blauhäutige Rags im Laufe des Nachmittags zurechtgezimmert hatten. Und keiner der Gäste aus dem Weltraum brauchte sich die Mühe zu machen, sich sein Essen selbst zu holen – leichtgeschürzte, blauhäutige Rag-Mädchen eilten beständig hin und her, um ebenso beständig für Nachschub zu sorgen, sobald ein Teller oder ein Trinkgefäß leer wurde. Dhark gefiel es nicht, sich so bedienen lassen zu müssen. »Ich bin doch kein Sklavenhalter!« platzte es schließlich aus ihm heraus, als Cafer selbst ihn zum vierten oder fünften Mal daran hinderte, seinem Drang zur Selbstbedienung nachzugeben. »Gouverneur, ich habe zwei gesunde Beine und zwei gesunde Hände, und ich bin durchaus in der Lage, mir selbst zu holen, was ich essen oder trinken möchte!« »Diese Einstellung ehrt Sie, Ren Dhark«, erwiderte Cafer gelassen. »Auch wir verabscheuen die Sklaverei, und Sie werden nicht nur hier in Korlonisch Nordwestundo, sondern
auch in den anderen Kolonien keinen einzigen Sklaven finden. Sklaven gibt es auf Lark, nicht aber hier bei uns! Wir ziehen es vor, jeden Kungen, der für uns arbeitet, ehrlich zu bezahlen.« »So wie die Hafenarbeiter, die sich nicht mal vernünftige Kleidung leisten können?« fragte Dhark spöttisch. Cafers Augen wurden groß. Plötzlich lachte er, wurde aber rasch wieder ernst. »Sie sehen das falsch«, stellte er fest. »Diese Kungen denken nur praktisch. Bei der Art ihrer Arbeit ist der Verschleiß an Kleidung groß. Sie sagen sich, Kleidung kostet Geld, verdreckte Haut kann man waschen, und zerschrammte Haut wächst von selbst nach. Sie sollten diese Arbeiter erleben, wenn sie ihre Freizeit genießen. Dann tragen sie prächtige Gewänder.« »Und kotzen sie voll, wenn sie mal wieder zu viel gesoffen haben«, ergänzte ein anderer Owide trocken. Er hatte sich unbemerkt zu der kleinen Gruppe gesellt und war der erste Bartträger, den die Terraner bei den Rags sahen. Und dieser Bart war völlig verwildert. Der ganze Mann sah verwildert aus; auf den ersten Blick wirkte er beinahe fett, aber das genauere Hinschauen verriet, daß sein Körper vorwiegend aus Muskelgewebe bestand. Er bewegte sich etwas schwerfällig, aber das schien eher Tarnung zu sein. Dieser Owide wollte unterschätzt werden. »Das ist Ribur«, stellte Cafer vor und glaubte damit alles gesagt zu haben. »Gib den Kungen Lohn, und sie verprassen ihn«, sagte Ribur. »Dummerweise haben sie nach ihren Gelagen nie Kopfschmerzen. Verrückte Leute. Werden sie heute wieder tanzen und singen, Euer Hochwohlgeboren?« Cafer verzog das Gesicht. »Natürlich werden sie tanzen und singen!« »Dann gehe ich lieber wieder«, sagte Ribur. »Wenn sie doch einmal nicht tanzen und singen würden...« »Ribur, Sie wissen die schönen Dinge dieser Welt einfach
nicht zu schätzen!« »Oh, doch«, seufzte der Bärtige. »Ich schätze die wahrhaft schönen Dinge sogar sehr. Deshalb ja...« »Seien Sie morgen pünktlich«, verlangte Cafer. »Bin ich doch immer, Hochwohlgeborener! Ich werde mich schon gegen Mittag von meinem Lager erheben und...« »Wir brechen am frühen Morgen auf!« fauchte der Gouverneur ihn an. »Also mitten in der Nacht. Wie barbarisch. Nicht einmal die Sklavenhalter von Lark würden es wagen, mir so etwas anzutun. Aber gut, Sie sind der Gouverneur. Wir sollten bei Gelegenheit die Plätze tauschen.« Er griff nach dem Trinkgefäß Cafers, nahm es mit und verschwand so rasch wieder, wie er gekommen war. Ein blauhäutiges Mädchen brachte sofort Ersatz. »Was war das denn für eine Type?« staunte Lati Oshuta. »Ach, das war nur Ribur«, winkte der Gouverneur ab. »Wie er heißt, haben Sie uns ja schon gesagt. Wer oder was ist er?« »Jemand, den man in dieser Gegend braucht«, sagte Cafer. »Er wird uns morgen begleiten.« »Uns?« »Sicher. Aber zuvor sollten wir genießen, was die Kungen uns zu bieten haben.« »Was bedeutet ›Kungen‹« fragte der Commander. »Eine Bezeichnung«, sagte Cafer. »Sie sind Terraner, wir sind Korlonen, unsere Feinde sind Ganten, und die Blauen sind Kungen. So heißen sie eben.« »Dieser Ribur scheint nicht viel von ihnen zu halten«, sagte Dhark. »Er kennt sie vielleicht besser als wir alle. Sie sind eben keine vollwertigen Owiden wie wir zivilisierten Korlonen und – hm...« er hüstelte, »und Ganten, sondern eher so eine Art
Bindeglied zwischen unseren affenartigen Urahnen und uns intelligenten Owiden.« Dhark lauschte den Worten nach, versuchte feine Unterschiede herauszufinden zwischen dem, was er von der korlonischen Sprache selbst zu verstehen gelernt hatte und was der Translator von sich gab. Die Übersetzung kam dem »affenartigen« recht nahe. »Nur, weil sie eine andere Hautfarbe haben?« fragte er scharf. »Natürlich nicht!« versicherte Cafer entrüstet. »Es kommt doch nicht auf die Farbe der Haut an, wie man jemanden einschätzen muß! Ist so etwas auf Ihrem Planeten üblich? Ich wäre entsetzt!« »Es war einmal üblich«, sagte Dhark vorsichtig. »Terraner mit dunkler Hautfarbe wurden als Sklaven benutzt.« »Barbarisch, wirklich!« stöhnte Cafer. »So etwas Furchtbares! Wir wissen zwar, daß es auf dem Kontinent Lark Sklaverei gibt, aber doch nicht bei uns! Niemals!« »Aber so, wie ich es hier sehe, werden die Blauen für niedrige Arbeiten eingesetzt, während die zivilisierten Rosafarbenen die Herrenrasse sind...« Dhark wußte, daß er sich auf einen sehr schmalen Grat begeben hatte. Es mochte sein, daß er es sich mit seinen kritischen Äußerungen von einem Augenblick zum anderen mit seinem Gastgeber verscherzte. Er wollte Cafer nicht beleidigen, aber die Lebensumstände der blauen Rags gefielen ihm nicht. Bindeglied zwischen affenartigen Vorfahren und zivilisierten Owiden... das stank förmlich nach Vorurteilen! »Natürlich sind die Kungen nur für einfache Tätigkeiten geeignet«, fuhr Cafer unterdessen fort. »Sie haben ein Bewußtsein, Sprache und eine gewisse Intelligenz, haben es aber aufgrund des Fehlens jeder Art kreativen Denkens aus eigener Kraft niemals weiter als bis zum Jäger und Sammler gebracht.«
»Mithin auch nicht zum gewitzten Waffenschmied, tapferen Soldaten oder ehrbaren Geheimagenten«, bemerkte Oshuta sarkastisch. Cafer ignorierte den Einwurf des Cyborgs. »Die wirklich große Begabung der Kungen ist die Musik, die ihnen wie das Tanzen im Blut liegt. Sie werden gleich eine Kostprobe davon genießen können.« »Ribur schien davon nicht gerade überzeugt zu sein«, grinste Oshuta. »Ribur versteht nichts von den schönen Künsten. Nun, die Kungen müssen natürlich, soweit sie in unseren Kolonien leben, eine gewisse Arbeitsleistung erbringen, brauchen dafür aber nicht einmal Steuern zu bezahlen. Viele von ihnen arbeiten aber auch freiwillig auf den Plantagen, auf die sie sich jahreweise verpflichten, weil sie dafür zum Ablauf des Jahres eine Geldprämie bekommen und außerdem Verpflegung, Kleidung und medizinische Versorgung, wie sie es von zu Hause nicht kennen. Indessen müssen auch sie stets beaufsichtigt werden, weil sich Kungen immer mal wieder in die Savanne oder den Dschungel verabschieden, wenn sie keine Lust mehr auf Arbeit haben.« »Dann kommt die Peitsche«, warf Oshuta ein. »Nicht die Peitsche, sondern die Überredungskunst des Aufsehers ist gefragt!« korrigierte Cafer ihn kühl. »Wieso werde ich eigentlich das Gefühl nicht los, daß Sie alle nichts anderes im Sinn haben, als unsere Lebensweisen zu kritisieren?« »Wir haben da auf Terra im Lauf der Jahrtausende entsprechende Erfahrungen gemacht«, konterte der Cyborg. »Deshalb sind wir wohl von Natur aus ein wenig mißtrauisch.« »Es besteht für Sie kein Grund, Ihr Mißtrauen in dieser Form auf unsere Welt zu tragen«, sagte Cafer scharf. »Wenn Sie von sich auf andere schließen, könnten die anderen das als Beleidigung ansehen – wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Natürlich verstehen wir das. Wir sind ja schließlich Terraner und keine Kungen«, sagte Arc Doorn. Ren wollte ihn für diese Bemerkung scharf zurechtweisen. Aber gerade rechtzeitig begriff er noch, daß der Sibirier lediglich Öl auf die Wogen gegeben hatte. Er baute damit die Sympathiepunkte wieder auf, die Dhark und Oshuta eben vernichtet hatten. Auch wenn Doorn nicht unbedingt seiner selbst geäußerten Meinung war... Aber er hatte recht; es konnte sicher nicht gut sein, sich das Wohlwollen des Gastgebers zu verscherzen. Derweil nahm eine Tanzgruppe auf der Bühne Aufstellung, und das eigentliche Fest konnte beginnen… * Mit fortschreitender Zeit begann auch Ren Dhark Gefallen an dem Fest zu finden. Die Tanzdarbietungen der Kungen waren in der Tat erstklassig, zumindest in dieser Hinsicht hatte Gouverneur Cafer nicht übertrieben. Tanzen und Musizieren lagen den Blauhäutigen wirklich im Blut. Ihre Rhythmen waren mitreißend, ihre Gesänge zwar weitgehend unverständlich – der galoanische Translator schaffte es hier nicht, vernünftige Übersetzungen zu liefern – aber Rhythmus, Melodien und Tonfall der Gesänge sagten bereits genug aus und mußten nicht erst übersetzt werden. Fast rechnete Dhark damit, daß Bram Sass ebenfalls wieder eine Gesangsdarbietung präsentierte, wie er es am Hof des Monarchen getan hatte, aber diesmal hielt er sich zurück und überließ die Bühne ganz den Kungen. Zwischendurch plauderte der Gouverneur weiter über die Lebensweise der Kungen. »Dhark, es geht uns wirklich nicht darum, sie einfach nur als billige Arbeitskräfte zu benutzen«, sagte er, und der Commander hatte das Gefühl, als versuche
Cafer sich zu rechtfertigen. Offenbar hatten ihn die spitzen Bemerkungen doch tiefer getroffen, als er nach außen hin zugeben wollte. »So etwas könnten wir einfacher haben, indem wir gantische Kriegsgefangene einsetzten! Denen bräuchten wir nicht einmal etwas zu bezahlen, wir müßten sie nur verköstigen! Aber darum geht es nicht. Wir versuchen den Kungen zu helfen. Wir wollen sie behutsam an die Werte unserer Zivilisation heranführen, wollen sie aufbauen, ihnen Perspektiven bieten. Warum sollen sie wie Primitive leben, wenn sie an den Segnungen der Zivilisation teilhaben können? Wenn sie sich weiterentwickeln können?« Er machte eine Kunstpause, während er einer Holzschachtel einen Gegenstand entnahm, der Dhark an eine Zigarre erinnerte. In der Tat schnitt Cafer eine der beiden Spitzen ab und setzte die andere in Brand, um dann genußvoll zu rauchen! Dhark vermißte seine Zigaretten. Die letzten hatte er schon vor Tagen verbraucht. Fast hatte er sich schon daran gewöhnt, ohne das beruhigende Nikotin auskommen zu müssen, aber jetzt, wo Cafer zu rauchen begann und zeigte, daß dieses Laster kein Privileg der Terraner war, kehrte das Verlangen zurück. »Natürlich geht so etwas nicht von heute auf morgen«, fuhr der Gouverneur fort. »Wir wollen ihnen keinen Kulturschock verpassen. Sie müssen von sich aus auf uns zugehen. Dazu gehört natürlich auch, daß sie Disziplin lernen. Und das geht am besten durch Arbeit.« »Oder durch Gehorsam«, murmelte Arc Doorn spöttisch. »Das wäre nicht in unserem Sinne. Wir zwingen niemanden. Wir leiten nur an und beaufsichtigen dabei«, widersprach Cafer mit leicht erhobener Stimme. »Wir sind keine Sklavenhalter! Sklaverei gibt es wohl auf Lark, aber keiner von uns findet das gut!« Doorn legte den Kopf schräg. »Sklaverei ist gegen unser Gesetz«, fuhr Cafer fort.
»Sklaverei zwingt und bricht den freien Willen. Wir wollen das genaue Gegenteil. Die Kungen sollen lernen, etwas wollen zu können. Wenn sie das schaffen, brauchen wir sie nicht mehr weiter anzuleiten, dann entwickeln sie sich von selbst weiter. Sie sind großartige Künstler, große Lebenskünstler, und das ist einfach schön. Aber es reicht nicht. Da muß noch mehr sein. Sehen Sie, Terraner, dieses heitere Völkchen lebt in einer Gegend der Welt, in der ihm praktisch alles in die Hand fällt. So konnte sich kein Ehrgeiz entwickeln. Es fehlten die Sachzwänge, der Hunger – Hunger nach Nahrung und Hunger nach einem besseren Leben.« »Hunger nach Macht«, warf Lati Oshuta ein. »Vielleicht sogar das«, gestand Cafer ein. »Aber ohne all diesen Hunger, ohne jeden Ehrgeiz, bleibt die Entwicklung stehen. Was könnten die Kungen alles erreichen, wenn sie sich nicht nur ihrer Musik hingeben würden, wenn sie mit der gleichen Kraft, die sie in ihre Lieder und Tänze legen, ihr Wissen und ihr technisches Können erweitern würden?« »Eines Tages«, grinste Doorn spöttisch, »würden sie Panzer und Luftschiffe bauen, Gawa angreifen und Korlonen wie Ganten ins Meer treiben.« »Eine Möglichkeit von vielen, und ein Risiko, mit dem wir leben müssen«, sagte Cafer. »Übrigens – es gibt auch gantische Kolonien auf diesem Kontinent, wie Sie sicher wissen. Die Ganten fördern die Kungen fast ebenso gut wie wir es tun. Vielleicht etwas eigennütziger, aber auch sie sind von unserem Sendungsbewußtsein erfüllt, allen Bewohnern dieser Welt den gleichen Zivilisationsstandard zu ermöglichen.« »Wie definieren Sie eigentlich Zivilisation, Gouverneur?« fragte Oshuta. »Was verstehen Sie und die anderen Korlonen – und auch Ganten – darunter?« Cafer sog wieder an seiner Zigarre und atmete den Rauch aus. »Ein geregeltes Zusammenleben, ein gemeinsames
Erarbeiten und Erweitern von Wissen und Können, von Kunst und Ethik. Vielleicht... sehen Sie, Terraner, Sie bringen mich jetzt in eine eigenartige Lage. Ich habe so genau nie darüber nachgedacht. Ich lebe die Zivilisation einfach, ich bin ein Teil von ihr, und ich möchte, daß auch andere ein Teil davon werden. Wir alle möchten das. Ich... ich bin kein großer Vordenker. Ich tue einfach das, von dem ich überzeugt bin, daß es richtig ist und daß ich es tun muß. Ich muß auch nicht darüber nachdenken, es ist einfach in mir. Verstehen Sie das, Terraner Lati Oshuta?« Der Japaner, dessen Wiege in Tokio gestanden hatte, nickte; eine Geste, mit der der Owide wenig anfangen konnte. »Ich glaube, daß ich es verstehen kann«, erklärte Oshuta. Er dachte an seine eigene Definition von Zivilisation. Hochtechnologie und Feindbilder, Waffen und Kämpfe. Zen-Buddhismus und strenge Rituale des Zusammenlebens, übertriebene Höflichkeiten und Ehrvorstellungen, die notfalls über dem Gesetz stehen durften. Samuraikrieger, Traditionen, Dankbarkeit und Verpflichtung. Er war aus diesem System ausgebrochen, schon vor der Invasion der Giants. An die Zeit der Invasion selbst hatte er keine Erinnerung; er war einer von Millionen gewesen, die stumpfsinnig vor sich hinvegetieren mußten, die nur taten, was die Funkimpulse der Giants ihnen befahlen, die tatenlos und teilnahmslos zusahen, wie Freunde und Familienangehörige starben, einfach verhungerten oder verdursteten, weil ein Giant vergessen hatte, ihnen Essen und Trinken zu befehlen. Später, nach der Befreiung, waren viele traditionell lebende Japaner daran innerlich zerbrochen. Es half ihnen nichts, zu wissen, daß es nichts gab, was sie hätten tun können. Aber später zu erfahren, was um sie herum vorgegangen war und daß sie sich nicht gewehrt und anderen nicht geholfen hatten, schockierte sie. Es widersprach allen Regeln, nach denen sie zu leben pflegten, nach denen sie erzogen worden waren und nach
denen sie ihre Kinder erzogen, heute wie vor tausend Jahren. Oshuta selbst, der sich schon lange vorher aus den Traditionen ausgeklinkt hatte, konnte mit dieser Vergangenheit leben. Die »Zivilisation«, in der er lebte, pflegte eine andere Kultur. Er fragte sich, wie die Kungen mit einer solchen Katastrophe fertigwürden. Vielleicht war es tatsächlich Fortschritt, den die Korlonen und Ganten ihnen bringen wollten. Sein Cyborggehör nahm auch winzigste Nuancen in der Stimmentfaltung des Gouverneurs wahr; er analysierte nicht nur die Worte, sondern auch, wie sie gesprochen wurden und kam zu der Überzeugung, daß Cafer tatsächlich alles ehrlich so meinte, wie er es sagte. Deshalb ging der Cyborg nicht mehr weiter auf die Angelegenheit ein. Cafer selbst erwies sich ebenfalls als ein genauer Beobachter. Ihm entging nicht die langsam steigende Nervosität seines Gastes Ren Dhark, und plötzlich griff er in die kleine Holzschachtel und bot dem Terraner eine seiner Zigarren an. Dhark, eigentlich »nur« Zigarettenraucher, griff dankbar zu. Und er genoß diese Zigarre. Ihr Geschmack war sagenhaft. Auch wenn ihm Vergleichsmöglichkeiten fehlten, war er begeistert. Cafer erfreute sich an dieser Begeisterung und referierte über den Rauchmittelanbau in dieser Kolonie. »Natürlich«, schloß er, »gibt es eine Menge Mediziner, die uns erzählen, wie schädlich der Genuß des Rauches ist, den die Verbrennung der Blätter des (unübersetzbar)-Strauches erzeugt, und daß ständiger Mißbrauch zum Tode führt. Aber – die Owiden, die diese wunderbaren Blätter nicht rauchen, sterben auch! Vielleicht etwas später, dafür aber ohne den Genuß erlebt zu haben. Sie wissen gar nicht, worauf sie verzichten. Ich verzichte nicht. Vielleicht sterbe ich tatsächlich früher, aber dafür habe ich ausgekostet, was die anderen sich versagen. Wer nicht raucht, lebt trotzdem nicht ewig.« Er
lachte und paffte heiter Rauchwolken vor sich hin. Und dann reichte er Ren Dhark die ganze Holzschachtel. »Nehmen Sie und genießen Sie. Und verraten Sie mir, in welcher Form ich Ihnen helfen kann.« Während Kungen tanzten und sangen, zeigte Dhark dem Gouverneur Fotos der Hologramme aus Ruham und die schriftliche Order des Monarchen, die Terraner unbedingt bei ihrem Vorhaben zu unterstützen. »Dhark, diese Aufforderung hätten sie mir nicht extra zeigen müssen«, wehrte Cafer fast beleidigt ab. »Ich wurde bereits per Funk unterrichtet, und selbst ohne das alles würde ich Ihnen sehr gern helfen. Das bringt doch etwas Abwechslung in unser aller Leben. Sagen Sie einfach, was wir tun können, und wir werden es tun, wenn es uns möglich ist.« Er betrachtete die Fotografien, und Dhark gab ihm einige Erklärungen dazu. »Einer der Knotenpunkte dieser unterowidischen Bahn muß in erreichbarer Nähe sein...« »Ein paar Kungen munkeln von Dingen, die auf eine solche Anlage hindeuten«, entsann sich Cafer. »Warten Sie, das ist... das muß... ja. Sicher kaum mehr als sechs Tagesmärsche von hier mitten im tiefsten Dschungel muß es sich befinden – das, wovon die Kungen raunen und worauf Ihre Unterlagen und Berichte hindeuten. Gut, wir werden es finden. Wir brechen morgen auf.« Dhark entsann sich, daß Cafer jenem Ribur gegenüber angedeutet hatte, sie würden früh aufbrechen. »Haben Sie das etwa alles schon vorbereitet?« staunte er. »Die Dschungelexpedition? Sicher.« Cafer lachte wieder. »Mir war klar, daß Sie kaum mit einem U-Boot hierher gebracht worden sind, um unsere Speisen und Getränke und die Musik der Kungen zu genießen. Also habe ich entsprechende Anweisungen erteilt. Wenn Sie etwas anderes beabsichtigen, ist es kein Problem, alles wieder abzubrechen.« »Natürlich wollen wir dorthin«, sagte Dhark. »Sie haben
sehr gut mitgedacht, Gouverneur. Sechs Tagesmärsche, sagten Sie eben?« »Wir können genügend Zigarren mitnehmen«, stellte Cafer klar. * Irgendwann in den späten Nachtstunden klang das Fest allmählich aus; immer mehr Korlonen und Kungen zogen sich müde zurück, und endlich gab auch der Gouverneur das »erlösende« Signal. Dhark und Doorn taumelten in ihre Betten, schon im Halbschlaf, nur die beiden Cyborgs demonstrierten eisernes Durchhaltevermögen. Aber Dhark vermutete, daß sie dafür zwischendurch wieder einmal auf ihr Zweites System geschaltet hatten... Er träumte davon, mit Joan Gipsy zu den Melodien der Kungen zu tanzen, in einen paradiesischen Liebestaumel hinein, aus dem ihn dann erst Arc Doorns mürrisches Brummen wieder riß, der etwas von »Morgen«, »Aufstehen« und »Aufbruch« vor sich hinknurrte. Der Commander der Planeten warf ihm einen seiner Stiefel an den Kopf.
2. Leichtgeschürzte Kungenmädchen trugen ein opulentes Frühstück und erfrischende Getränke auf. Cafer bewegte sich etwas schwankend; offenbar litt er noch an den Nachwirkungen des gestrigen Begrüßungsfestes. Die Kungen lachten und schnatterten in einem für den Translator nicht völlig erfaßbaren Dialekt durcheinander. Nach und nach tauchten auch die anderen Korlonen auf, die an der Feier teilgenommen hatten. Kaum einer machte einen frischeren Eindruck als der Gouverneur. Dhark und seine Gefährten waren zwar noch müde, hatten aber darüber hinaus keine größeren Probleme als das, beim Frühstück nicht so recht zugreifen zu können, weil sie immer noch satt von gestern abend waren. Die beim Fest gereichten, leicht alkoholischen Getränke hatten wohl auf die Owiden eine stärkere Wirkung als auf die Terraner. Cafer trug bereits das, was er »Expeditionskleidung« nannte. Einfach und praktisch geschnitten und bei weitem nicht so prunkvoll und aufwendig wie seine gestrige Gewandung. An einem breiten Gürtel waren eine Pistole und ein unterarmlanges Messer, einer Machete ähnlich, befestigt, dazu kleine Taschen mit Munition. Ein paar Dutzend Meter entfernt standen Sänften bereit. Zwei Angehörige des korlonischen Geheimdienstes gesellten sich mit an den Frühstückstisch. Sie waren ebenfalls mit dem U-Boot nach Undo gekommen, hatten sich an Bord aber zurückgehalten. Fontain und Therak hießen sie, wie Dhark sich erinnerte. »Dann sind wir ja fast komplett«, freute sich Cafer. »Fast?« »Wir sind komplett«, dröhnte eine Stimme über den Hof.
Die Terraner und Korlonen wandten sich um. »Euer Hochwohlundsoweiter – so sündhaft früh aufzubrechen, ist eine Niedertracht«, fuhr der Sprecher fort. »Habe ich Ihnen gestern schon gesagt. Irgendwann werde ich Sie völlig versehentlich mit einem Wropprwrcek verwechseln und erlegen. Warum können wir nicht bis zum Nachmittag warten, wenn anständige Owiden ausgeschlafen haben?« »Ribur«, erkannte Bram Sass. Der Korlone mit dem wild wuchernden Bart blieb am Frühstückstisch stehen. Ein Kunge bot ihm Essen und Trinken an, aber Ribur wehrte polternd ab. »Mein Magen schläft noch«, behauptete er. »Warum sitzen Sie alle noch hier herum? Wenn ich schon so früh aufstehen muß, dann will ich die Zeit auch nutzen. Auf geht's, Cafer! Worauf warten wir?« Kopfschüttelnd betrachtete Dhark den Korlonen. Ribur trug Stulpenstiefel, die ihm bis zur Hälfte der Oberschenkel reichten, lederne Hose und ledernes Hemd, einen großen Hut mit breiter Krempe, an dem bunte Federn und Schädel kleiner Tiere befestigt waren. Um den Hals trug er eine Kette mit langen Raubtierzähnen und -krallen, an einem breiten Gürtel ähnlich wie Cafer eine Machete, dazu einen großer Revolver, dessen Kaliber sicher ausreichte, um ein Nashorn zu stoppen. Ein überdimensionales Gewehr hing am Trageriemen auf seinem Rücken, vermutlich um drei Elefanten oder anderthalb Dinosaurier mit einem Schuß zu erledigen. Dazu kamen gekreuzte Patronengurte mit Munition für Revolver und Donnerbüchse. Ribur trug dazu fein gearbeitete Handschuhe aus weichem Leder, die seine Hände schützten, seine Fingerfertigkeit aber nicht einschränkten. Cafer erhob sich und seufzte. »Ich habe hier das Kommando, Großwildjäger«, seufzte er. »Wir brechen auf, wenn ich es sage.« Großwildjäger! Ren Dhark schüttelte schmunzelnd den Kopf. Er fühlte sich in einen Abenteuerfilm aus dem
vergangenen Jahrhundert versetzt. »Heia Safari«, bemerkte Bram Sass trocken. »Heia, Askari!« Die Askari waren die Kungen. Ribur griff nach hinten, um mit traumhafter Sicherheit den Abzug des auf seinen Rücken geschnallten Gewehrs zu finden. Der in die Luft gerichtete Schuß dröhnte ohrenbetäubend über den Platz. »Ho, Kungen!« brüllte Ribur. »Unser aller Herr und Meister, der allessehende, tausendäugige, allwissende und allergnädigste Gouverneur, geruhte soeben den Aufbruch zu bestimmen. Stimmt's, Cafer?« dröhnte er. »Ich lasse Sie hinrichten«, ächzte der. »Köpfen, aufhängen, erschießen, häuten, vierteilen, rädern, teeren und federn!« »In dieser Reihenfolge?« hakte Ribur nach. »In dieser Reihenfolge. Und ich verrate Ihrer Frau, was Sie hier tun.« »Meiner Frau? Welcher von den siebzehn... nein, ich glaube, dreiundzwanzig sind es momentan...« »Vierunddreißig nach letzten glaubhaften Zeugenaussagen«, erinnerte ihn Cafer. »Und ich werde es allen Ihren Frauen erzählen.« »Wirklich allen?« stöhnte Ribur. »Wirklich allen!« »Oh.« Ribur wurde merklich kleiner. »Das können Sie nicht tun, Hochwohlgeborener.« »Und ob ich das kann. – Wir brechen jetzt auf.« »Halt, warten Sie«, verlangte der Großwildjäger. »Ich brauche noch ein paar Tage. Ich muß mich dringend von einigen meiner Frauen scheiden lassen. Vorbeugende Schadensbegrenzung, Sie verstehen...?« »Sie brauchen nicht ein paar Tage, sondern einen kräftigen Tritt in den Hintern«, knurrte Cafer. »Auf geht's...« *
Bald darauf waren sie unterwegs. Cafer hatte Ren Dhark in seine Sänfte eingeladen. Es gefiel dem Commander nicht besonders, sich von anderen tragen zu lassen, aber er konnte schlecht ablehnen. Das hätte ihm der Gouverneur garantiert übelgenommen. Doorn und die Cyborgs konnten da eher ablehnen; sie waren immerhin keine »Staatsoberhäupter« wie Dhark als Commander der Planeten und Cafer als Gouverneur dieser Kolonie. So blieben zwei der vier Sänften leer. In der vierten schaukelten die beiden Geheimdienstler. Rund fünfzig Kungen machten die Safari mit. Einige liefen voran, andere hielten sich in der Nähe der Sänften, um jederzeit auf Zuruf für irgendwelche kleinen oder größeren Dienste verfügbar sein. Andere schleppten Vorräte und Ausrüstung mit sich. Dabei sangen sie fast ständig ihre Lieder, untermalt von Trommelschlägen und Flötenspiel – etliche der Blauhäutigen schleppten ihre Instrumente mit sich herum. »Es ist unerträglich«, ächzte Ribur, der Großwildjäger. »Einfach unerträglich, was dieses Völkchen Musik nennt! Und diese korlonischen Trottel, die das auch noch gut finden, haben einen Musikgeschmack, daß sich selbst einem Wropprwrcek jeder einzelne Magen umdreht!« »Was ist eigentlich ein Wop... Hopper... Stoppelhopser, oder wie immer man das Tierchen schimpft?« wollte Arc Doorn wissen. Der Großwildjäger erging sich in einer weitschweifigen und recht unverständlichen Erklärung. »Also etwas Ähnliches wie eine Panzerhornschrexe«, seufzte Doorn schließlich, nachdem er nicht das Geringste von den Erklärungen verstanden hatte. »Ja!« stimmte Ribur begeistert zu. »Genau das ist es! Auf Ihrem Planeten gibt es solche monströsen Bestien also auch?«
Doorn fragte sich, ob der Jäger wirklich ahnte, von welch fabulösem Hirngespinst die Rede war. Zumal die Unterhaltung nur funktionierte, weil die beiden Cyborgs übersetzten. Der Translator war in der Sänfte bei Dhark, und Doorn hatte bislang nicht genug Sprachkenntnisse erwerben können, um sich effektiv mit den Korlonen unterhalten zu können. Die Cyborgs dagegen arbeiteten mit ihren Lernprogrammen und konnten jedes noch so winzige Detail sofort verwerten. Was der Translator übersetzt hatte, hatten sie in beiden Sprachen gespeichert und konnten dieses Wissen anwenden und ausbauen. Die Expedition führte durch eine schier endlose Savanne, in der sie recht zügig vorankamen. In den Mittagsstunden wurde es fast unerträglich heiß, und schließlich war Ren Dhark doch fast froh darüber, in der Sänfte zu sitzen, unter einem Sonnendach, das wenigstens einen Teil der Hitze abmilderte. Irgendwann lümmelte sich dann auch Arc Doorn in eine der »freien« Sänften. Nur die Cyborgs marschierten eisern weiter. Ihnen machte die Hitze nichts aus. Sie bekamen nicht einmal einen Sonnenbrand. Die Landschaft war farbenprächtig, und hier und da tauchten eigenartige Tiere auf. Teils als Einzelgänger, dann wieder in Rudeln oder größeren Herden. Einige Male griff Ribur vorsichtshalber zu seinem Gewehr, mußte es aber nicht benutzen. Die Tiere wichen dem Lärm aus, den die Kungen mit ihrer Musik veranstalteten. Ren Dhark sah Arten, die terranischen Gazellen, Zebras und Büffeln glichen, andere schienen reptilisch zu sein und direkt von Sauriern abzustammen. Große schwarze Vögel zogen am rötlichen Himmel entlang und warfen lange, dunkle Schatten über die hochstehenden, harten Gräser. Hin und wieder tauchten auch Großinsekten auf – die Expedition mußte einem Zug von hummergroßen Termiten ausweichen, der sich scheinbar unmotiviert durch die Landschaft bewegte; Tausende
dieser gefährlich wirkenden Raubinsekten bildeten ein unüberwindbares Hindernis, einem reißenden Strom gleich. Dhark beobachtete, wie ein Rudel kaninchenähnlicher Pelzträger die heranströmenden Hummertermiten zu spät entdeckte; wohl deshalb, weil die Aufmerksamkeit der possierlichen Tiere sich zunächst auf die Expedition gerichtet hatte. Nur zwei oder drei der Owid-Kaninchen konnte den Großinsekten noch entkommen und flohen auf Nimmerwiedersehen in alle Himmelsrichtungen, der Rest verschwand unter den violett schimmernden Chitinleibern. Als der Strom der Riesentermiten etwa eine halbe Stunde später fort war, gab es nicht einmal mehr Fellreste oder Knochen. »Diese Bestien sind eine Plage«, verriet Cafer. »Wenn sie auftauchen, hilft nur die Flucht. Man kann nur alles liegen und stehen lassen und versuchen, sich zu retten. Sie zerstören selbst Häuser. Gut, daß wir ihnen nicht in die Fänge gelaufen sind. Wenn die Ratzakterks nicht gerade hier vorbeigezogen wären, hätten sie uns wohl einen erheblichen Blutzoll gekostet.« »Wie bitte?«, staunte Dhark. »Wovon reden Sie?« »Von den Zopps«, sagte Cafer. Er wirkte nicht weniger erstaunt. Erst auf weiteres Nachfragen erfuhr Dhark, daß der Gouverneur damit die Pseudokaninchen meinte – und sich keinen Scherz erlaubte! Diese so harmlos aussehenden kleinen Tiere waren offensichtlich für die Owiden gefährlicher als der gefräßige, scheren- und beißzangenklickende Strom der Hummertermiten! Der lange Marsch durch die Savanne wurde fortgesetzt. Am Horizont erhob sich ein Bergzug, dem sie erstaunlich rasch näher zu kommen schienen. Aber Dhark stellte sehr schnell fest, daß dieser Eindruck täuschte; die hitzeflirrende Luft sorgte für optische Verzerrungen, wie man sie eigentlich eher von Wüstenlandschaften her kannte, weniger aus der Savanne. Das Licht der beiden Sonnen mochte für diese optische Täuschung verantwortlich sein. Selbst die Cyborgs fanden
keine hieb- und stichfeste Erklärung für das Phänomen. Mittlerweile fand Arc Doorn heraus, daß Ribur durchaus keine 34 Frauen hatte. Er besaß nicht einmal eine einzige. Das frühmorgendliche Geplänkel zwischen Cafer und dem Jäger schien eine Art Ritual zu sein. Auf ähnliche Weise kamen die beiden sich immer wieder in die Haare. Sehr zum Ergötzen der Kungen, die natürlich viel mehr von den Wortspielereien erfaßten als die Terraner und die immer wieder in wildes Gelächter ausbrachen. »Unmöglich«, murrte der Agent Fontain. »Der Gouverneur macht sich mit seinem Verhalten lächerlich. Wie sollen die Kungen noch Respekt vor ihm haben?« Aber scheinbar hatten sie. Doorn empfand, daß es zwischen Kungen und Korlonen eine wesentlich angenehmere Bindung gab, als man es zwischen zwei so unterschiedlichen Kulturen erwarten durfte. Er sprach zwischendurch mit Ren Dhark darüber, als sie sich während einer Ruhepause die Füße vertraten. »Als die Europäer Afrika kolonisierten, war das Verhältnis zwischen Schwarzen und Weißen wesentlich gespannter«, sinnierte Dhark. »Da gab es die Herren und die Diener, und oft genug führte die Arroganz der sich maßlos überlegen fühlenden Herren zu Mord und Totschlag, zu Aufständen – oder zumindest zu erheblicher Unruhe, weil die Diener sich ungerecht behandelt fühlten. Hier sieht's aber eher freundschaftlich von beiden Seiten aus. Gut, der eine befiehlt, der andere gehorcht – aber ich habe bisher nicht mal ein unterschwelliges Murren bemerken können.« »Vielleicht sind die Kungen erstklassige Schauspieler«, vermutete Bram Sass. »So gut können sie auf Dauer nicht sein«, widersprach sein Cyborgkollege Oshuta. »Ich habe sie aufmerksam beobachtet. Irgendwann hätte ich eine ablehnende Reaktion bemerken müssen. Inzwischen kann ich die Körpersprache und Mimik
dieser Wesen analysieren...« »Mimik?« Doorn grinste. »Bei diesen flächigen Puppengesichtern?« »In denen man auch Bewegung erkennen kann, wenn man genau genug hinschaut«, sagte Oshuta. »Cyborg müßte man sein«, brummte Doorn. Er berührte Dharks Arm und wies auf eine am Horizont dahingaloppierende Herde seltsamer massiger Tiere auf hohen dürren Beinen hin. »Sehen Sie doch! Es ist einfach schön, so etwas zu sehen und zu wissen, daß es kein Film ist.« »Mir kommt das alles hier tatsächlich fast wie ein Film vor«, gestand Dhark. »Einer, in dem wir mittendrin sind. Tatsächlich wie in Afrika vor anderthalb oder zwei Jahrhunderten... nur irgendwie harmonischer... und auf Terra für alle Zeiten verloren... Hier bekommen wir noch einmal die Chance, zu sehen, was wir alles bei uns zerstört haben.« »Zerstören mußten«, sagte Oshuta leise. »Es konnte nicht ausbleiben. Die Zeit bleibt nicht stehen. Alles entwickelt sich weiter. Pantha rei – alles fließt. Und nichts kann auf ewig so bleiben, wie es einmal war, nur weil wir es uns wünschen und uns an der Erinnerung festklammern. Niemand kann zweimal im selben Fluß baden.« »Ezbals Philosophie«, lächelte Dhark etwas verloren. »Nicht nur die von Echri Ezbal. Es sind universelle Wahrheiten«, widersprach der Japaner. »Ich muß allerdings zugeben, daß Ezbal uns allen viel von seinen Weisheiten mit auf den Weg gegeben hat.« Echri Ezbal, der schon alte, aber immer noch geistig äußerst rege Wissenschaftler und Mediziner, hatte einst die Grundlagen dafür geschaffen, daß der Traum vom Cyborg überhaupt Wirklichkeit werden konnte. Und über das Medizinische und Technische hinaus hatte der Brahmane, der Leiter der Cyborgstation im Brana-Tal war, dafür gesorgt, daß seinen »Kindern«, seinen »Schöpfungen«, wie er sie manchmal
lächelnd nannte, nicht nur Wissen und Können, sondern auch ein philosophischer Hintergrund vermittelt wurde, der ihnen vor Augen hielt, daß sie trotz des künstlichen und durch technische Komponenten hervorgerufenen »Evolutionssprungs« dennoch Menschen waren. Wer für diese Dinge nicht empfänglich war, hatte wenig Chancen, zum Cyborg gemacht zu werden, und wenn er körperlich noch so sehr dafür geeignet war. Ezbal wollte keine Roboter in Menschengestalt schaffen, sondern Menschen, die mit ihren neuen Fähigkeiten und Kräften umgehen konnten und dabei menschlich blieben. Sie waren mehr als Wunderknaben und biologische Kampfmaschinen. Obgleich sie ihre Fähigkeiten oft genug in genau diesem Sinn einsetzen mußten. Kurz nach dieser Unterhaltung ging es weiter. Ren erlaubte es sich, diese Reise zu genießen. Er brachte es fertig, für eine Weile völlig abzuschalten und nur noch er selbst zu sein, ohne all die Zwänge und Anforderungen, die ständig an ihm nagten. Er bedauerte, daß Joan nicht hier sein konnte, aber er nahm jede erkennbare Einzelheit in sich auf, um ihr später davon erzählen zu können. Daß die Zeit drängte, daß sie hier waren, um Spuren der Rahim zu finden und auszuwerten, daß sie auf dem Planeten Owid vom Rest des Universums abgeschlossen waren und ohne fremde Hilfe nie wieder heimkehren konnten, daß irgendwo da draußen die POINT OF war und wahrscheinlich versuchte, sie aufzuspüren und zurückzuholen – das alles war für eine kurze Phase ganz weit entfernt und jenseits aller Vorstellungen. Ren gab sich diesem Gefühl ganz bewußt hin; die Realität würde ihn schnell genug wieder einholen. Gegen Abend wurde die romantische Stimmung abrupt zerstört. *
Etwa eine Stunde vor Einbruch der Dunkelheit gab Cafer das Zeichen zum Halt und ließ ein Lager aufschlagen. Die Kungen errichteten provisorische Zelte und sammelten Brennmaterial für ein schnell entfachtes, großes Feuer. Ribur sah's mit Skepsis. »Muß das so hell lodern?« fragte er Cafer. »Lockt doch alles mögliche Raubzeugs an!« »Aber auch Beute, die wir über diesem Feuer rösten und dann verspeisen können«, sagte der Gouverneur. »Wie wär's, wenn Sie mal das täten, wozu Sie da sind, und ein schmackhaftes Wild erlegten?« »Sofort, größter aller Expeditionsführer«, knurrte der Jäger. »Ich muß das Wild nur vorher fragen, ob es auch schmackhaft genug ist.« Cafer wollte etwas erwidern, verzichtete dann aber darauf. Ribur sah sich um. Lati Oshuta trat zu ihm. »Ich würde Sie gern bei der Jagd begleiten«, sagte er. Dabei warf er Dhark einen fragenden Blick zu. Der Commander nickte. Es konnte nicht schaden, wenn der Cyborg mit dem Großwildjäger ging. Ribur hieb dem kleinen Japaner schwungvoll auf die Schulter. »Dann kommen Sie mal. Ich zeige Ihnen, wie das geht. He, Therak – leihen Sie dem Mann ihre Knallbüchse, ja? Sonst nimmt ihn unsere Beute vielleicht nicht ernst und lacht sich lieber tot, als sich von uns erschießen zu lassen. Nur sind dann die Muskeln so angespannt und zäh, daß das Biest danach ungenießbar ist. Wer will's schon drei Tage lang weichkochen müssen?« Der Geheimdienstmann schüttelte den Kopf. »Sie sind verrückt, Ribur. Sie wissen genau, daß ich meine Waffe nicht...« »Ich benötige keine Waffe«, sagte Oshuta selbstbewußt. Ribur sah ihn stirnrunzelnd und eindringlich an. Therak sah ihn stirnrunzelnd und eindringlich an. Fontain sah ihn...
Cafer und auch ein paar Kungen, die das Gespräch mitbekommen hatten, sahen... »Unterschätzen Sie Oshuta nicht«, warf Ren Dhark ein. »Er braucht wirklich keine Waffe.« »Er ist eine Waffe«, bemerkte Doorn im Hintergrund. Das trug ihm einen Zornesblick des Japaners ein. Der Sibirier grinste und schabte mit dem Daumennagel über seine Bartstoppeln. »Gehen wir«, sagte Oshuta und marschierte in die Abenddämmerung hinaus. Etwas verdutzt folgte ihm der Großwildjäger. * Ribur übernahm die Führung. Er hielt das großkalibrige Gewehr jetzt in der Hand. Aufmerksam sah er sich ständig um, während sie sich weiter und weiter vom Lager entfernten. Die Geräuschkulisse, die von den lärmenden Kungen ausging, ebbte allmählich ab. Der Jäger bewegte sich in einer weiten Spirale um das Lager herum. So konnte er nicht nur weit vorstoßen, sondern zugleich auch in alle Richtungen sichern. »Glauben Sie, daß es Zopps oder Ratzakterks in der Nähe gibt?« fragte Oshuta. Ribur zögerte mit der Antwort. »Hier sicher nicht«, sagte er, als der Japaner gerade noch einmal nachhaken wollte. »Der Ratzakterkschwarm war zu groß, um einen anderen in seiner Nähe zu dulden. Die Jagdreviere dieser Insekten sind sehr ausgedehnt. Meist reichen sie mehrere Tagesmärsche weit.« »Und die Zopps?« Der Cyborg konnte sich immer noch nicht vorstellen, daß diese so possierlich aussehenden Tiere dermaßen gefährlich waren, wie Cafer behauptete. »Ich würde sie riechen«, sagte Ribur. »Wenn sie hungrig sind.«
»Was, schätzen sie, wird uns als jagdbares Wild vor die Flinte kommen?« »Vor die Fäuste«, grinste der Jäger mit einem Blick auf den unbewaffneten Oshuta. Von dessen Cyborgfähigkeiten konnte er nichts ahnen. Kein einziger Owide war darüber informiert, daß es sich bei Oshuta und Sass nicht um »normale« Vertreter der Spezies Mensch handelte. »Das hängt davon ab, was sich hier an Getier tummelt«, fuhr der Jäger fort. »Ich hoffe, daß wir etwas Größeres finden. Bei Kleinzeug müßten wir zu viel davon erlegen, um den Troß sattzubekommen. Hm... wirklich nötig ist es ja wohl trotzdem nicht, der mitgeführte Proviant reicht noch etliche Tage. Und bis dahin wird uns bestimmt etwas Größeres be...« Er verstummte. »Was ist...?« wollte Oshuta wissen. »Still«, mahnte der Jäger. Er schien angespannt in die beginnende Dunkelheit zu lauschen. Oshuta konnte nichts vernehmen, was ihn beunruhigte. Kurz schaltete er auf das Zweite System, aber was er wahrnahm, waren nur die normalen Geräusche... dachte er. Er schaltete wieder zurück. »Da ist etwas«, raunte Ribur. »Wo? Und was?« flüsterte der Cyborg zurück. Ribur streckte eine Hand aus. »Sie können es nicht sehen, Oshuta«, sagte er. »Ich auch nicht. Aber ich kann es spüren. Es ist da...« Angespannt sah der Japaner in die angegebene Richtung. Aber auch jetzt konnte er nichts erkennen. Doch dann – Er schaltete wieder um! Und da sah er das Tier, aber nur im Infrarotbereich als Wärmefleck. Es war erschreckend groß! Im normalen Spektrum war es immer noch, nicht zu erkennen, und Ribur mußte mit der Natur dieses Planeten mehr als eng verbunden sein, weil er es schon vorher gespürt hatte.
Das Biest paßte sich seiner Umgebung erstklassig an, verschmolz mit dem fast schon nachtdunklen Hintergrund der Savanne bis zur Unsichtbarkeit. Der Silhouette nach glaubte Oshuta einen Velociraptor zu erkennen, oder zumindest ein Tier, das dieser vor Jahrmillionen auf Terra ausgestorbenen Saurierart stark ähnelte. Das Tier ragte gut drei Meter empor, war relativ schlank und bewegte sich auf muskulösen Sprungbeinen. Aber es konnte kein Reptil sein; dafür war seine Wärmeabstrahlung zu stark. Es war etwa fünfhundert Meter entfernt, wie Oshuta feststellte, und es näherte sich rasch. Nach einer Weile war es auch mit normalem Sehvermögen schattenhaft zu erkennen. »Ein Raubraser«, flüsterte Ribur. Er klang nicht gerade erfreut. Die Übersetzung paßte etwa – Raubraser und Velociraptor bedeutete beides »schneller Räuber«. Der Großwildjäger kauerte sich auf den Boden, nahm sein Gewehr und zielte sorgfältig, indem er einen Ellenbogen auf den vorgestreckten Oberschenkel stützte und das Gewehr auf die Hand legte. Etwas überrascht erkannte Oshuta, daß Ribur nicht direkt auf das Tier zielte. »Sie werden den Raubraser verfehlen«, warnte er nach rascher Kalkulation von Beweglichkeit des Räubers und Fluggeschwindigkeit des abzufeuernden Projektils. Ribur schüttelte nur den Kopf. Er wartete ab, verfolgte die Bewegungen des Raubrasers und zielte nach wie vor ein Stück daneben. Plötzlich – der Raubraser war vielleicht noch zweihundert Meter entfernt – stieß Ribur einen gellenden Schrei aus. Das hochbeinige Raubtier zuckte zusammen, machte instinktiv einen Sprung. In diesem Moment schoß der Jäger. Der Mündungsblitz seines großkalibrigen Gewehrs war in der Dunkelheit unwahrscheinlich grell, der Knall ohrenbetäubend in der Nacht, in welcher der Schall durch die
kühlere Luft weiter trug als bei Tage. Ohne hinzuschauen, ob er getroffen hatte, klappte Ribur das Gewehr auf, warf die leere Patronenhülse aus und schob eine neue Patrone in den Lauf. Klackend arretierte der Kipplauf wieder, und Ribur sah sich nach dem Räuber um. Er stieß eine Verwünschung hervor, zielte kurz und schoß sofort wieder auf das Tier. Das war nach seinem Jagdschrei vorwärtsgeschnellt und hetzte in weiten Sprüngen auf das Lager der Owiden zu! Beim zweiten Schuß erwischte der Jäger das Tier, aber es zuckte nur heftig zusammen und setzte seinen Sturmlauf fort. Es war fast unglaublich, welche Geschwindigkeit es dabei zustandebrachte. Allerdings, bei den kräftigen und langen Beinen... »Streifschuß«, knurrte Ribur wütend und lud wieder nach. Oshuta griff nach dem Gewehr. Ribur drehte sich und entzog es dem Griff des Cyborgs. »Lassen Sie mich schießen! Ich treffe besser«, fuhr Oshuta ihn an. »Narr!« fauchte Ribur. Das Biest war bereits auf Steinwurfweite an das Lager heran. Ribur feuerte erneut. Wieder zuckte das Tier. Diesmal blieb es stehen, während der Jäger erneut nachlud, um wieder zu zielen. Im Lager entstand Lärm. Die Kungen hatten den Schrei und die Schüsse gehört und das schattenhafte Raubtier jetzt ebenfalls bemerkt. Sie gerieten in Panik. »Diese Narren!« knurrte Ribur. Erneut stieß er den gellenden Jagdschrei aus. Abermals machte der Raubraser einen Sprung. Ribur schoß. Diesmal streckte die Kugel den Räuber nieder. Er knickte ein, versuchte wieder auf die Beine zu kommen, und so lautlos wie er sich bisher bewegt hatte, so laut brüllte er jetzt. »Auch das noch«, knurrte Ribur, lud abermals nach und
begann zu laufen, auf das Lager und den Raubraser zu. Aus etwa zwanzig Metern Entfernung schoß er noch einmal, gerade in dem Moment, in welchem das Raubtier wieder auf die Beine kam. Diesmal fiel es um wie vom Blitz gefällt. Und es bewegte sich auch nicht mehr. »Das war's«, sagte Ribur leise und lud vorsichtshalber trotzdem sofort wieder nach. Dann hängte er sich das Gewehr am Schulterriemen über den Rücken. Langsam ging er auf die Beute zu. Oshuta überholte ihn und wollte sich dem Tier nähern, das jetzt völlig ruhig dalag. Aber Ribur streckte die Hand aus und hielt ihn fest. »Warten Sie«, verlangte er. »Der Raubraser lebt immer noch. Wenn man ein solches Tier nicht gleich richtig trifft, wird es zum Glücksspiel. Es kann sein, daß das Biest nur darauf lauert, daß sich jemand nähert. Diese Tiere sind schlau! Sogar schlauer als Ganten...« »Wenn Sie schlau genug gewesen wären, gleich beim ersten Mal richtig zu zielen...«, begann Oshuta. Aber der Jäger winkte ab. »Sie verstehen davon nichts«, sagte er rauh. »Ich hätte es erwischt, wenn nicht...« »Obgleich Sie daneben gezielt haben?« unterbrach Oshuta ihn. »Ribur, halten Sie mich nicht für dumm. Ich habe den Schußwinkel berechnet. Sie konnten das Tier überhaupt nicht treffen.« »Sie verstehen davon nichts«, wiederholte Ribur schroff. »Sie kennen diese Tiere nicht. Erinnern Sie sich an meine beiden Jagdschreie?« »Ja«, murrte der Japaner. »Haben Sie gesehen, was der Raubraser beim zweiten Schrei machte?« »Dasselbe wie beim ersten. Er sprang vorwärts.«
»Eben nicht«, konterte Ribur. »Beim ersten Mal sprang er vorwärts, seitwärts erst beim zweiten Mal, und zwar nach rechts. Das hätte er auch beim ersten Schrei tun sollen. Dann hätte ich ihn genau erwischt. Diese Biester springen immer nach rechts! Weil sie das Herz ebenfalls rechts haben. Das ist ein Instinkt, mit dem sie sich im Schreckzustand zu schützen versuchen.« »Dieses aber nicht.« »Es hatte bereits Beute gewittert und war in blutrünstiger Stimmung. Es hat das Lager bemerkt. Wenn sie auf Jagd gehen, ändert sich ihr Verhalten. Ich habe nicht damit gerechnet, daß der Raubraser das Lager bereits angenommen hatte. Eigentlich hätte er es nicht wahrnehmen können. Die Raubraser sind kurzsichtig, und der Wind kommt aus der anderen Richtung. Deshalb habe ich ihn auch bemerkt, bevor er uns bemerken konnte. Sieht so aus, als wäre dieser Bursche etwas ganz Besonderes.« »Inwiefern?« »Weil er weiter sehen und besser riechen kann«, sagte Ribur. »Na, also besser riecht er bestimmt nicht«, murmelte Oshuta; je näher sie kamen, um so besser nahm er die Ausdünstung des Raubtiers wahr. Anfangs hatte wohl eher der Jäger mit seinen feinen Sinnen auf den Geruch und auf die Schattenbewegungen reagiert, jetzt aber war Oshuta soweit, daß er andere Gerüche ausfiltern konnte. Er ließ es rasch wieder; der Raubraser stank erbärmlich. Ribur konnte mit dieser Bemerkung nicht viel anfangen, weil er den Sinn nicht erfaßte; er hielt den Terraner deshalb für zu oberflächlich. Trotzdem sprach er weiter. »Wenn der Raubraser sich normal verhalten hätte, hätte ich ihn gleich mit dem ersten Schuß richtig erwischt. Aber er ist nicht seitwärts gesprungen, sondern nach vorn, auf das Lager zu. Also trotzdem an uns vorbei. Wir waren zu weit seitwärts.«
»Warum ist er dann beim zweiten Schrei normal gesprungen?« wollte Oshuta wissen. »Da war er bereits verletzt und wütend. Seine erwartete Beute, das Lager, war nicht mehr wichtig. Nur noch ich, sein Feind. Und da hat er wieder normal reagiert. Ich rede zuviel. Warum erkläre ich Ihnen das alles? Sie werden Owid bald wieder verlassen. Wozu brauchen Sie das Wissen über Raubraser dann noch?« »Solange wir in dieser Savanne sind, kann ich es vielleicht in jeder Minute brauchen. Danke für die Erklärungen, Ribur.« Der Japaner machte eine Geste ausgesuchter Höflichkeit, die er am Hof des Monarchen beobachtet hatte. Der Jäger stutzte. Er hatte nicht damit gerechnet, daß sich der Fremde von den Sternen so gut auskannte. Er mußte zugeben, daß er den Terraner bisher unterschätzt hatte. Ribur antwortete mit einer entsprechenden Bewegung, und der Terraner dankte auf die gleiche Weise dafür. Damit waren die Höflichkeiten ausgetauscht, und Ribur war maßlos überrascht. Dabei hätte es ihm schon zu denken geben müssen, daß dieser kleine, schwarzhaarige Terraner sich mit ihm ohne die Hilfe eines Translators sehr flüssig unterhalten konnte. Der große andere, der Sass genannt wurde, war ähnlich schlau. Der verwilderte Rothaarige dagegen und jener Ren Dhark benötigten den Translator. Vorsichtig näherten sie sich dem Raubtier. Auch die Owiden im Lager waren recht zurückhaltend. Sie warteten ab, was der Großwildjäger feststellte. Er rief einen Kungen mit einer Fackel zu sich. Der Blauhäutige bewegte sich äußerst zögerlich, aber als Ribur das geladene Gewehr schwang und immer wieder die Mündung auf den Raubraser richtete, traute er sich näher heran. Oshuta nahm dem Kungen die Fackel ab und beleuchtete das erlegte Tier. Es war tatsächlich tot. Der letzte Schuß hatte ihm endlich den Garaus gemacht.
»Erstaunlich«, murmelte Ribur so leise, daß es nur der Japaner hören konnte. »Diese Biester erwischt man entweder mit dem ersten Schuß oder gar nicht. Ich befürchtete schon, der Raubraser würde das Lager auseinandernehmen. Der war nämlich garantiert hungriger als wir alle zusammen.« Er trat nahe an das Tier heran. Jetzt, aus der Nähe und im Fackelschein, sah Oshuta, daß es tatsächlich eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem Velociraptor besaß, was den Körperbau anging. Allerdings war es mit Sicherheit ein Warmblüter, und anstelle glatter Haut oder Schuppen trug es ein dichtes Fell. Um so erstaunlicher fand Oshuta die annähernde MimikryFähigkeit des Raubtiers, dessen Fell dort dunkel blieb, wo die Schatten lagen, und dort spontan hell wurde, wo der Fackelschein es traf. Die Haare paßten sich kurzfristig den Lichtverhältnissen an! Oshuta hätte sich nicht darüber gewundert, wenn ein Raubraser bei Tageslicht auch gegen den hellen Himmel nicht oder nur schwer zu sehen wäre... Ribur kletterte auf den Kadaver und schwang sein Gewehr. Er stieß einen neuerlichen, aber anders intonierten Jagdschrei aus. Da Oshuta mit der Fackel hinter ihm stand, bot der Jäger auf dem erlegten Wild ein imposantes Bild. Jetzt wurden die Kungen wieder laut und mutig. Wild palavernd stürmten sie heran, wissend, daß von dem Raubtier keine Gefahr mehr ausging. Auch Ren Dhark, Sass, Doorn und der Gouverneur näherten sich, blieben aber im Hintergrund, während einige Kungen Fackeln hielten, um das Szenario zu erhellen, und andere ihre Messer schwangen und damit begannen, den Raubraser an Ort und Stelle aufzubrechen, aus der Decke zu schlagen und in handliche Bratenstücke zu zerteilen. Es war das reinste Chaos, und doch war eine gewisse Systematik zu erkennen – jeder Kunge wußte offenbar genau, was er zu tun hatte, keiner kam dem anderen in die Quere. Dabei redeten sie wild durcheinander, versuchten einander zu
übertönen, und einer von ihnen wollte einen Gesang anstimmen, nur klappte das diesmal nicht, weil die anderen zu redselig waren. Sie riefen sich Vermutungen zu, entwickelten sogar ganze Geschichten. Oshuta ahnte, daß daraus wohl bald schon eine Legende würde, die den Ruhm des Großwildjägers Ribur stärkte. »Die machen das garantiert nicht zum ersten Mal«, stellte Ren Dhark schmunzelnd fest. »Und Riburs Triumphgebrüll erinnert mich an den Kampfschrei der konföderierten Armee aus dem amerikanischen Bürgerkrieg.« »Es wird wohl kaum Zusammenhänge geben«, dämpfte Sass nüchtern. »Natürlich nicht. Wie sollten Uncle Sams Südstaatler hierher gelangt sein? Aber ich find's schön.« »Hoffentlich schmeckt dieser Pseudosaurier besser, als er aussieht«, sagte Doorn skeptisch. In diesem Moment gab Ribur eine Lautfolge von sich, die weder der Translator noch die Cyborgs übersetzen konnten, aber dem Tonfall nach war es ein böser Fluch, und die Reaktion der Kungen war Erschrecken. »Was ist los, Mann?« fragte Oshuta. Der Jäger nahm einem Kungen die Fackel aus der Hand. Er streckte den Arm aus. »Ein Weibchen«, sagte er düster. »Verzeihen Sie einem Fremden die Unwissenheit«, sagte Oshuta. »Aber was ist daran so besonders?« »Die Zitzen sind zwar schon zurückgebildet«, erklärte Ribur, »wie Sie deutlich sehen können. Das Weibchen säugt also nicht mehr. Aber das ist noch vor kurzer Zeit geschehen. Es gibt mindestens ein Junges.« Dhark trat näher heran. »Wenn das Junge nicht mehr gesäugt wird, ist es doch sicher schon allein überlebensfähig«, vermutete er. Ribur lachte böse auf. »Und wie es das ist! Hoffentlich müssen wir's nicht
erleben!« Er faßte das Gewehr fester. »Wir sind in Gefahr«, stellte er fest.
3. Der Lärm, der die Riesenhalle erfüllte, zerrte an Marschall Bultons Nerven; es dröhnte und hallte mitunter wie aus hundert monolithischen Lautsprechern. Zwar gab es überall modernste Schallschutzeinrichtungen, aber an den Übergängen mußten die Männer laut sprechen, um sich verständigen zu können. Sie bewegten sich auf einem metallenen Laufsteg, der etwa fünfzig Meter über dem Boden hing und von dem in bestimmten Abständen A-Gravlifte hinunterführten. Sie – das waren Marschall Ted Bulton, der Multimilliardär Terence Wallis, sein Protegé Robert Saam, Chris Shanton – und Jimmy, Shantons Robothund. Bulton war nach Pittsburgh gekommen, um sich nach den Fortschritten der Iko-Fertigung zu erkundigen. Dies hätte er auch via Vipho machen oder er hätte einen seiner Adjutanten damit beauftragen können – aber von Zeit zu Zeit zog er es vor, seinen Büros den Rücken zu kehren, um sich persönlich Gewißheit über laufende Projekte zu verschaffen. Außerdem fand er, daß man diesem Wallis ganz besonders auf die Finger zu schauen hatte. Wie er von Henner Trawisheim, dem Stellvertreter Ren Dharks, erfahren hatte, mußte der Multimilliardär ihn in Bezug auf die Verwertung des schier unbegrenzten Tofiritfundes im Achmed-System ganz gehörig über den Tisch gezogen haben. Wie gesagt, Wallis war mit Vorsicht zu genießen. Und doch bewunderte Bulton ihn insgeheim ein wenig. Der FirmenTycoon war groß, schlank, sportlich, gutaussehend – und kaum durchschaubar. Sein Vermögen hatte der unkonventionelle Mittvierziger, der sein inzwischen schon etwas schütteres, langes Haar meist zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden trug, durch gewagte Investitionen und
rigorose Firmenkäufe gemacht. Er hatte anfangs mit Rückschlägen kämpfen müssen, aber das war längst Schnee von gestern. Mittlerweile schaffte es niemand mehr, ihn in geschäftlichen Angelegenheiten zu übervorteilen. Er stand mit seinem Industrieimperium unangefochten an der Spitze der terranischen Wirtschaft. Ohne ihn ging nichts mehr. Ohne seine erheblichen Finanzspritzen wären das militärische System der Erde nach den katastrophalen Verlusten durch die Giants und ihrer drei Jahre währenden Schreckensherrschaft zu einem maroden Torso verkommen und manche politischen Systeme einfach von der Erdoberfläche getilgt worden. »Da, sehen Sie, Marschall!« Wallis deutete hinab. In grelles Xenonlicht getaucht, lief auf den überdimensionalen Bandstraßen die Serienfertigung der 100 Meter hohen Dreieckspyramiden, aus denen Ikosaederschiffe von 200 Metern Durchmesser entstehen würden, Grundstock der neuen TF-Flotte. Das, was Bulton hier sah, war Fließbandarbeit. Vollautomatisiert. Er erblickte kein einziges menschliches Wesen in der Halle -- zumindest fast keines, wie er einschränkend erkennen mußte, denn an bestimmten Punkten erhoben sich die Aufsichtsplattformen der wenigen menschlichen Kontrolleure. Hin und wieder liefen auch menschliche Gestalten zwischen den Robotern herum. Stählerne Klammern hielten die Tofiritsegmente aufrecht. Das kreischende Geräusch von Hochleistungssägen brach sich an den Wänden. Lichtbogenschweißautomaten warfen zuckende Blitze durch die Halle. Gruppen von Automaten brachten die inneren Verstrebungen an – Tofiritbänder, abgewinkelt und mit Löchern versehen und T-förmige Trägerelemente: die späteren Verbindungen mit den anderen Segmenten. Die Dreieckssegmente wurde durch große
Induktionsportale geführt und einem elektrischen Feld von exakt 139.560 Volt und 48 Ampere ausgesetzt, was einen Verformungseffekt erzeugte; das Tofirit gab seine kristalline Raumgitterordnung auf, erhitzte sich selbsttätig auf 29.287,6 Grad Kelvin, begann hell zu leuchten und wurde formbar. Nach Passieren der Induktionsportale erstarrte es spontan. Nach der Abkühlphase spritzten Kolonnen von autarken Kompressoren mehrere Schichten schallschluckendes und isolierendes Material auf die späteren Innenseiten der Dreieckspyramiden. Weißer Dunst waberte über den Boden und wurde von großen, gefräßigen Exhaustoren geschluckt. Überall schlängelten sich dicke, schwarze Stromleiter. Arbeitsroboter hingen in Trauben über der Fertigungsstraße von der Decke, krochen entlang ihrer Halteschienen und gruppierten sich immer wieder um die Transportbänder, auf denen die Iko-Segmente langsam ihrem Ziel am Hallenende zuglitten, dem Durchgang zur Endfertigung. »Da geht er hin«, sagte Ted Bulton. Er mußte fast schreien. Grund war die Geräuschkulisse ringsum. »Wer geht wohin?« gab Wallis ebenso laut zurück. »Unser letzter Tofiritvorrat.« Bulton zog unbehaglich den Kopf zwischen die massigen Schultern. »Ich will hier ja nicht als Kassandra mißverstanden werden, aber...« »Trösten Sie sich«, schaltete sich Shanton ein. »Bald haben wir ja eine Tofiritschwemme, in der wir alle bis zum Halse baden können – wenn ich mich mal so salopp ausdrücken darf.« »Das wage ich zu bezweifeln«, meldete sich eine Stimme aus einer etwas tieferen Region. Sie gehörte Jimmy, dem Robothund des Diplomingenieurs und Leiters der AstStationen. »Wie – was?« Chris Shanton schaute irritiert auf den vierbeinigen Roboter, der täuschend echt einem Foxterrier
nachgebildet war. »Wie meinst du das?« »Ich bezweifle, daß du noch in diesem Leben baden wirst«, mokierte sich Jimmy im täuschend echten Tonfall einer englischen Lady, die absolut »not amused« schien, »obwohl du es dringendst nötig hättest, Fleischkloß.« »Fleischkloß« war zwar eine sehr respektlose, aber eigentlich recht zutreffende Charakterisierung Chris Shantons. Der Chefingenieur und Leiter der Ast-Stationen war in der Tat ein Berg von einem Mann. Nur daß der Berg durch den gewaltigen Bauch mehr in die Breite als in die Höhe ging, wobei allerdings zu seiner Ehrenrettung gesagt werden konnte, daß er nicht unbedingt zu den Kleinsten zählte. Über seinen Augenbrauen glänzte die Stirn bis fast in den Nacken. Doch was ihm dort an Haaren fehlte, machten die langen Nackenhaare und sein wild wuchernder Backenbart wieder wett. »Shut up, Töle!« knurrte er jetzt und sah ihn verweisend an. »Noch einen Ton...« »Aantoon!« sang Jimmy in einem herzzerreißenden Falsett. »... und ich schalte dich stumm!« Wallis lächelte. Chris Shanton hatte zweifellos mit seiner etwas flapsigen Bemerkung recht. Die von dem ProspektorenEhepaar Jane und Art Hooker im Achmed-System gefundenen Tofiritvorkommen würden sich als ein wahrer Segen für die Menschheit erweisen, ermöglichten sie doch eine Serienfertigung der völlig neuartigen IkosaederRaumschiffsgeneration und somit den stetigen Aufbau einer mächtigen und hoffentlich unbesiegbaren Flotte. Einer Flotte, auf die Bulton schon sehnlichst wartete. Und nicht nur er. Nach der galaktischen Katastrophe fehlten allerorten Raumschiffe. In den Abwehrschlachten gegen die Schattenraumer der Grakos und ihre Kampfstationen hatte es wieder enorme Verluste gegeben. Sogar die Ringraumer
mußten herbe Einbußen hinnehmen, zu allem Überfluß wurden immer mehr von ihnen »ertobit«. Meist reichte die Energie in den Konverterbänken nicht einmal mehr dazu, den nächstgelegenen Stützpunkt zu erreichen. In kostenintensiven Aktionen mußten sie von anderen Ringraumern per Intervallschlepp in die Basen gebracht werden. Raumschiffe, und vor allem entsprechende Antriebe, hieß das Gebot der Stunde. Aber vielleicht waren ja die Iko-Schiffe die Rettung aus der Misere; ein kleines Kontingent lief gerade hier vom Band... »Wollen Sie vielleicht da hinunter, Marschall«, fragte Terence Wallis, »und sich die Sache etwas aus der Nähe ansehen?« Ted Bulton wehrte ab. »Noch nicht, nein.« »Okay.« Wallis wandte sich an die anderen. »Dann wollen wir in den Kontrollraum gehen. Dort ist es etwas ruhiger.« Und wieder zu Bulton gewandt: »Robbie hat außerdem ein Anliegen an Sie, Marschall.« Bulton zog fragend die Brauen hoch. »Und welches wäre das?« »Gedulden Sie sich doch einen Augenblick. Er wird es Ihnen selbst sagen.« * »Sie wollen was?!« Marschall Bulton war nicht der Mann, der sich leicht überraschen ließ. Aber jetzt hatte es doch jemand geschafft, wenn auch mehr im negativen Sinne. Drohend starrte er auf den hageren jungen Mann, dessen wirres blondes Haar wie Stacheln unter der runden Wollmütze hervorstanden, die er trotz der Wärme im Raum trug. Außerdem hatte er um den Hals einen dicken Schal geschlungen. In Anbetracht der kalten Jahreszeit – es war Ende Januar 2058, Pittsburgh lag unter
einem schmutziggrauen Himmel, aus dem es immer wieder schneite – kein Wunder, wenngleich die Atmosphäre im Innern der riesigen Halle wohltemperiert war und es eigentlich keinerlei wärmender Hilfsmittel bedurft hätte. »Sie haben mich schon richtig verstanden«, erwiderte Saam mit einem Anflug seines norwegischen Akzents und grinste herausfordernd. Marschall Bulton wußte alles über ihn: Robert Saam, Jahrgang 2032, hatte sich während der Giant-Invasion als Immuner ohne jeglichen Kontakt zu anderen Menschen in den weitläufigen Kellern der Universitätsbibliothek im schwedischen Uppsala versteckt und die ganzen drei Jahre nur mit Lernen verbracht. Terence Wallis hatte gut daran getan, ihn für sich zu gewinnen, nachdem man ihm von dem jungen Genie berichtet hatten, und ihn zum Forscher ohne bestimmten Aufgabenbereich zu machen. Binnen kürzester Zeit hatte der junge Norweger die Steuerung der irdischen Roboter revolutioniert – und Wallis Industries en passant, sozusagen im Vorübergehen – eine Verdoppelung seines Aktienwertes verschafft. Seitdem ließ Terence Wallis nichts auf seinen Schützling kommen. Saam gehörte trotz seiner unbestreitbaren Schrullen und seiner mitunter penetranten Art, sich über geltende Normen hinwegzusetzen, zu der neuen, jungen Generation von technischen Genies, die sich allenthalben aufmachten, die ausgetretenen Pfade der orthodoxen Wissenschaften zu verlassen. Nach seinem abgebrochenen Studium – abgebrochen deshalb, weil ihm seine Professoren nichts mehr beibringen konnten und er jedes weitere Verweilen an der Uni als reine Zeitverschwendung ansah – hatte er sich zu einem jener neuen »experimentellen« Wissenschaftler entwickelt, die es sich zum Ziel machten, in der Robotik bisher unbekannte, bahnbrechende Wege zu gehen, abseits gängiger Lehrmeinungen. Robert Saam war ein Fanatiker auf diesem Gebiet – und unbestreitbar auch ein Genie.
Der Einsatzraum der Fertigungsüberwachung hing in hundertzwanzig Metern Höhe über dem Hallenboden. Der Marschall stand mit auf dem Rücken verschränkten Händen vor der Panoramascheibe und überblickte das Geschehen unter ihm. Von seinem Platz aus konnte er die Vorgänge in der Tiefe mühelos verfolgen. Saam räusperte sich herausfordernd. »Nein.« Bulton zog seinen Blick aus der Ferne zurück und drehte sich herum. »Ich glaube nicht, daß ich Sie wirklich verstanden habe, Mr. Saam!« »Ich wiederhole es gerne noch einmal für Sie«, sagte Wallis' Technikgenie. »Also bitte – ich möchte von Ihnen einen der nicht mehr funktionsfähigen Ringraumer haben. Die Betonung liegt auf ›nicht mehr funktionsfähig‹ Mister Bulton.« »Habe ich mich doch nicht verhört!« brummte Ted Bulton. »Und zu welchem Zweck?« Den nannte Robert Saam gern: Er hatte vor, einen der seit der galaktischen Katastrophe nutzlosen Ringraumer auseinanderzunehmen und auf Herz und Nieren zu untersuchen, um hinter das Geheimnis des Mysterious-Antriebs zu kommen. Ted Bulton schüttelte entschieden den Kopf. »Kein guter Gedanke«, sagte er abwehrend. Schroffer als beabsichtigt. »Ich glaube nicht, daß ich das tun werde.« »Warum nicht?« erboste sich Robert Saam und fing einen warnenden Blick von Wallis ein. Reiß dich zusammen, hieß das, du willst etwas von Ted Bulton, also verhalte dich entsprechend. Aber ehe Saam zu einer entschärften Version seiner Bitte ansetzen konnte, erhielt er unerwartet Schützenhilfe von Chris Shanton. »Ich kann diesen Vorschlag eigentlich nur befürworten«, bekannte der Diplomingenieur nachdrücklich und striegelte mit den Fingern seine Gesichtsmatratze. »So?« bellte der Marschall. »Und wie lautet denn Ihre
Argumentation?« Deren gäbe es viele, bedeutete ihm Shanton. »... aber der wichtigste Grund«, wurde er konkret, »ist, daß wir noch immer nicht wissen, was die Ringraumer befähigt, derartige Leistungen zu erbringen. Ganz abgesehen davon, daß es mich persönlich schon brennend interessiert, welches Geheimnis hinter der Mysterious-Technik steckt.« Das traf den Kern. Man wußte nur, daß nach dem Ausfall der Anlagen auf Babylon und Dockyard keine Möglichkeit mehr bestand, die aus den Kämpfen übriggebliebenen Ringschiffe zu betanken. Die Meiler aus der MysteriousFertigung brannten irgendwann aus, wurden funktionsunfähig, konnten nicht mehr angefahren werden. Ihre Konverter wurden »ertobit«, wie man diesen Zustand nannte – und niemand hatte bislang eine Ahnung, was genau das bedeutete. Denn der Inhalt dieses Begriffes aus der Sprache der Mysterious war vielschichtiger als nur »ausgebrannt« oder »Tank leer«. Es war abzusehen, wann der letzte Ringraumer auf den Docks vergammelte, falls nicht bald, sehr bald ein Wunder geschah. Ein Wunder in Gestalt dieses Robert Saam? »Es würde uns ein gewaltiges Stück weiterbringen«, fuhr Shanton fort, »wenn es uns gelänge, herauszufinden, wie der Antrieb funktioniert.« »Mhmh...« Ted Bulton kehrte den drei Männern erneut den Rücken zu und trat wieder an das große Fenster mit Blick auf die Fertigungsstraße. Aber er sah nicht die Iko-Pyramiden. Seine Gedanken kreisten um seine Ringraumer. Wenn er ganz ehrlich war, konnte er eigentlich keinen vernünftigen Grund finden, dem Wunsch dieses komischen Heiligen von Wissenschaftler nicht zu entsprechen. Das einzige terranische Tofiritraumergeschwader in Ringform, das bislang seinen Militärdienst im Weltraum versah, wurde ständig kleiner, weil immer mehr Meiler ausbrannten. Und neue konnten keine eingebaut werden, da es keine Antriebsaggregate aus
Mysterious-Fertigung mehr gab. Der terranischen Wissenschaft war in der Entschlüsselung der Mysterious-Technik noch immer kein Erfolg beschieden, wie beispielsweise etwa in der Giant-Technik, wo man endlich die Funktionsweise der Pressorgeschütze begriffen hatte und sie nachzubauen verstand. Und jetzt wollte sich dieser Robert Saam daran versuchen, das Geheimnis zu enträtseln. Aber deswegen gleich einen ganzen Ringraumer auseinandernehmen? Andererseits, warum eigentlich nicht? dachte Bulton plötzlich. Sollte sich dieser Saam doch die Zähne daran ausbeißen, vielleicht holte ihn das dann wieder aus seinem selbstgefälligen Olymp auf den Boden der Wirklichkeit zurück. Er drehte sich um, wartete einen Moment und sagte dann widerwillig, während er Wallis' Wunderknaben ansah, der seinem Blick nicht auswich: »Also gut, Sie sollen Ihren Willen haben. Ich setze mich mit der Flotte in Verbindung und veranlasse, daß man einen toten Ringraumer aus dem Depot in Cent Field hierher bringt. Zufrieden?« »Mehr als das«, sagte das norwegische Technikgenie völlig überrascht vom plötzlichen Sinneswandel des Marschalls. »Ich werde sofort mit den Vorbereitungen beginnen.« Aufgedreht wie ein Brummkreisel verließ er umgehend den Kontrollraum. Ted Bulton sah ihm mit gerunzelter Stirn hinterher. Dann wandte er sich an Chris Shanton. »Sie«, sagte er und blickte ihn fast drohend an, »werden diesem Heißsporn von Juniorwissenschaftler zur Seite stehen. Sie scheinen mir so etwas wie ein vernünftiges Gegengewicht zu sein. Sehen Sie ihm etwas auf die Finger, ich möchte nicht, daß er mir den S-Kreuzer in sämtliche Einzelteile zerlegt.« Hätte Ted Bulton gewußt, was Robert Saam tatsächlich vorhatte, er hätte ihn auf der Stelle arretiert und den Schlüssel weggeworfen.
*
Die Aggregate der schweren Antigravschlepper brummten, während sie die S-231 ELDRIDGE im Schrittempo in die Halle bugsierten, in der sie für die nächste Zeit verbleiben würde. Der Morgen war noch keine Stunde alt. Vor wenigen Minuten hatte sich die S-33 WASHINGTON, in deren Intervallschlepp die energetisch tote ELDRIDGE nach Pittsburgh verfrachtet worden war, vom weitläufigen Areal der Wallis Industries erhoben und war zurück in die Basis nach Alamo Gordo geflogen. Shanton glotzte aus verklebten Augen aus der Höhe des weiträumigen Labors auf die ELDRIDGE hinab; er hatte den vergangenen arbeitsreichen Tag mit einer Flasche Cognac ausklingen lassen und des Guten wohl ein wenig zuviel getan. Jedenfalls fühlte er sich wie ein ausgewrungener Scheuerlappen. Im Mund hatte er den Geschmack von alter Putzwolle, den selbst intensivstes Zähneputzen nicht hatte vertreiben können, und vom Pfefferminzlutschen wurde ihm schlecht. Folglich war seine Laune dementsprechend mies. »Da, das Schiff«, sagte Saam laut und fröhlich. Shanton verzog schmerzhaft das Gesicht; der fiese Hund, der mit einem Schmiedehammer von innen gegen seine Gehirnschale drosch, verdoppelte seine Anstrengung. Er schloß kurz die Augen, machte sie aber gleich wieder auf, als sich sein Zustand dadurch nur verschlimmerte. Die ELDRIDGE war jetzt vollständig in die Halle eingefahren; die Unitallhülle des Ringrumpfes schimmerte blauviolett. Die Form der S-Raumer war die einer Ringröhre, mit einem äußeren Durchmesser von 180 und einem inneren von 110 Metern. Die Ringstärke selbst betrug 35 Meter, bei einer gleichmäßigen Stärke der Zellwandungen von 50 Zentimetern.
Dröhnend schlossen sich die mächtigen Schiebetore an der nördlichen Stirnseite und schlossen den Tag aus. Tiefstrahler flammten auf und schufen um so mehr den Eindruck einer künstlichen, abgeschotteten Welt. Kaum war der Raumer angedockt, kletterten winzige Gestalten in leuchtend roten Arbeitsanzügen wie Ameisen über die Hülle und brachten an bestimmten Stellen farbige, fluoreszierende Markierungen an, die Linien erzeugten, welche quer über die Ringröhre des Rumpfes gingen. Chris Shanton wandte sich an den norwegischen Wissenschaftler, der so gar nicht den Eindruck eines solchen vermittelte. »Was genau haben Sie eigentlich vor, Robert?« Saam rieb sich die Hände, als sei ihm kalt. »Ich«, er verbesserte sich, »wir werden eine Autopsie an dem Schiffsrumpf vornehmen. Das Schiff auseinandernehmen, es in seine Einzelteile zerlegen. Aber erst einmal werden wir es in der Mitte durchsägen.« Plötzlich schien Shanton zu erstarren. Sein Gesicht nahm einen Ausdruck an, wie ihn Saam noch nicht kannte: Entsetzen, Fassungslosigkeit und jener undefinierbare Zug, der anzeigte, daß ein Mensch nicht glauben konnte, was er hörte. »Was haben Sie,« fragte er. »Ist Ihnen nicht gut?« »D-das ist die Untertreibung des Jahrhunderts«, würgte Shanton und deutete nach unten, »Sie wollen den S-Raumer zerlegen? Bei allen Galaxien und Nebeln diesseits und jenseits des Universums...« »Ja und?« unterbrach ihn Saam mit der sanften Unschuldsmiene eines Klerikers, »was ist daran verwerflich?« »Verwerflich?« Shanton warf die Arme hoch. »Mann, sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen! Sie begehen ein Sakrileg! Weiß Bulton davon?« Robert Saam zuckte mit den Schultern. »Er hat doch sein Einverständnis gegeben, oder?« »Dafür bestimmt nicht.«
»Papperlapapp«, widersprach Saam. »Untersuchung ist Untersuchung. In welchem Umfang dies geschieht, ist zweitrangig.« »Ich fasse es nicht«, stöhnte Chris Shanton und wischte sich über seine kahle Stirnpartie, auf der Schweißtropfen erschienen waren. »Was faßt du schon, Alterchen«, meldete sich Jimmy und lachte meckernd wie eine Ziege; der Robothund war bekannt dafür, daß er ein loses Mundwerk besaß – und ein Sprachmodul, das so ziemlich alle tierischen und menschlichen Laute nachzubilden in der Lage war. »Kusch, Töle«, knurrte der Diplomingenieur drohend. Jimmy zog übertrieben erschrocken den Schwanz ein. »Huhu, fürcht' ich mich aber jetzt«, säuselte er, zog es aber dann doch vor, seinen Herrn und Meister nicht weiter zu provozieren und trollte sich in eine Ecke. Chris sagte: »Haben Sie sich das mit dem Zerlegen auch wirklich gut überlegt, Robert?« Da gäbe es nichts zu überlegen, versicherte Saam. Um einen Einblick in die Struktur der Hülle zu gewinnen und verborgene Decks oder Kammern aufzuspüren, sei es unumgänglich, diese aufzuschneiden. »Ja, ja, so ist unser Chef eben«, sagte der indonesische Funk- und Ortungsspezialist Saram Ramoya aus Saams unmittelbarem Arbeitsteam. Der Indonesier trug wie immer einen viel zu weiten Anzug, und mit seinem unordentlichen Haar schien er seinem Chef nachzueifern. Shanton warf ihm einen Blick zu. »Und wie ist er?« »Entschlußfreudig, spontan und sehr, sehr klug«, sagte eine vor Sinnlichkeit vibrierende Stimme. Doktor Regina Lindenberg, Biologin und mehrfache Preisträgerin auf ihrem Gebiet, kam aus einem Nebenraum und stellte ihrem Chef eine Tasse Kaffee auf den Tisch, dabei streifte sie ihn wie
unbeabsichtigt mit ihrer üppigen Oberweite. Saam schoß die Röte ins Gesicht. Nervös nestelte er an seinem Schal; offenbar wurde ihm nun doch warm. Die junge Biologin nickte dem grobschlächtigen Diplomingenieur zu, während sie gleichzeitig mit einer leichten Bewegung Saam über den Nacken strich. »Guten Morgen, Mister Shanton! Auch einen?« »Hallo, Miß Regina... nein, danke. Ein Alka Selzer wäre mir lieber.« »Damit kann ich nicht dienen«, bedauerte sie. »Aber vielleicht versuchen Sie es mal in der Medostation.« »Sinnlos«, bellte Jimmy. »Bei ihm hilft nur noch ein kompletter Ölwechsel... er hat kaum noch Blut im Alkohol.« Sie lachte perlend, wobei ihr Dekolleté in atemberaubende Bewegungen geriet, die, weil es unmittelbar vor seinen Augen geschah, Robert Saam in arge Atemnot versetzten. »Süß, Ihr Hund.« »Das ist kein Hund, sondern ein wandelndes Brikett auf vier stählernen Pfoten«, murrte Shanton. Robert Saam beugte sich zu einem Pultvipho. »George, wie weit sind Sie?« Auf dem Schirm erschien das Gesicht eines älteren Mannes. George Lautrec, Professor für Systemtechnik, meldete sich. Er befand sich zusammen mit einer Reihe von Technikern drunten in der Halle vor der ELDRIDGE. »Fertig«, sagte der sechzigjährige Kanadier mit seiner kühlen, kompetenten Stimme. »Dann fangen Sie an!« Ein die ganze Halle überspannender Deckenkran positionierte sich in der exakten Mitte über dem Ringraumer. Zwei mächtige Schneidapparate, überdimensionierten Baumsägen nicht unähnlich, senkten sich herab, liefen an. Die nur wenige Millimeter breiten Sägeketten bestanden aus Tofirit. Sie würden mit dem Unitall der Hülle fertig werden,
das ansonsten jeder mechanischen Beanspruchung widerstand. Eine Zone intensiver Arbeit breitete sich um die ELDRIDGE aus. Mit tiefem Brummen senkten sich die Schneidapparate noch weiter ab, setzten auf – und ein kreischendes Höllenspektakel hub an, als sie von zwei Seiten begannen, sich in den Ringrumpf des S-Raumers zu fressen. Riesige Funkenschauer brachten die Halle zum Leuchten. Es würde einige Zeit vergehen, bis die torifitbestückten Sägen die Hülle durchtrennt hatten. * Es wurde später Nachmittag, ehe George Lautrec Vollzug melden konnte. Über Pittsburgh und dem gewaltigen Areal des Hauptwerkes von Wallis Industries hatte sich der Himmel zugezogen; ein Schneesturm fegte über die ehemalige Metropole der Schwerindustrie hinweg. In der Halle 33c verspürte man nichts vom Wetter. Man hatte die beiden Hälften der ELDRIDGE ein wenig auseinandergezogen, so daß zwischen ihnen genügend Platz vorhanden war, um mit einer A-Gravplattform die Schnittstellen zu begutachten. Saam betrat mit eiligen Schritten die Plattform und wartete voller Ungeduld, bis Shanton, Lautrec und Saram Ramoya sowie drei Techniker ebenfalls das Beförderungsmittel geentert hatten. Dann wies er mit ungeduldigen Gesten den Verantwortlichen an den Kontrollen an, aufzusteigen. Die Trennungsstelle bot den Männern einen kompletten Querschnitt der Ringröhre. Der S-Raumer besaß acht Decks. Die Zählung erfolgte dabei von unten nach oben. Deck Eins war folglich das unterste Deck, Deck Acht das oberste. Chris Shanton hatte die Konstruktionsaufrisse der S-Kreuzer im Kopf.
In der Nähe der Antriebssektionen waren Deck Eins und Acht die einzigen, die unter und über dem Antrieb weiterführten und komplette Ringe bildeten. Die Zwischendecks Zwei, Drei und Vier mündeten in Deck Eins und zweigten hinter dem Antrieb wieder ab, ebenso die Decks Fünf, Sechs und Sieben, die in Deck Acht mündeten. Wie die POINT OF besaßen die S-Kreuzer zwei Hauptdecks: Vier und Fünf. Wenn man ein Koordinatennetz über das Schiff legte, in dem die Positionen der vier Himmelsrichtungen mit eingezeichnet waren, dann lag der Antrieb genau im Norden der Ringröhre, die Zentrale im Süden. Die beiden Hauptdecks verliefen an dieser Stelle nicht mehr zentral, sondern bogen sich zur inneren Wandung in Richtung auf den Mittelpunkt des Ringraumers. Die Zentrale war sowohl von Deck Vier als auch von Fünf aus zu erreichen. Ihre Größe lag bei 25 mal 25 Meter, Höhe 8 Meter. In Höhe von Deck Fünf besaß sie eine Galerie, die einen geschlossenen Ring bildete. Im Osten und Westen auf Deck 4 befanden sich die beiden unabhängig voneinander arbeitenden Waffensteuerungen (WSOst und WS-West). Aufgrund der Vollautomatisierung konnte jeder S-Kreuzer mit 50 Mann geflogen werden, die ständige Besatzungsstärke betrug allerdings 200 Männer und Frauen. Die Räume der Besatzung befanden sich in nächster Nähe der Punkte Nord, Ost, Süd und West auf Deck Fünf, ebenso die Labors sowie die Medostation. Über A-Gravschächte und Notleitern konnten sämtliche Decks erreicht werden. Die großen Fracht- und Laderäume, die Physikabteilung und die vier großen Hauptschleusen lagen auf Deck Eins. Bei ihrer Inspektion der Trennstelle dokumentierten automatische Kameras jeden Quadratzentimeter des Querschnitts – Korridore, Leitungen, Räume, Instrumentenkonsolen – und Übermittelten die Bilder ins
Hauptlabor, wo Regina Lindenberg sie auf einem großen Viphoschirm einer ersten Überprüfung unterzog. Gleichzeitig erstellte der Suprasensor ein Simulationsmodell der aufgeschnittenen ELDRIDGE, um verschiedene Zustände des S-Raumers darstellen zu können, ohne daß man jedesmal hinunter in die Halle mußte. Die Inspektion durch die Wissenschaftler und Techniker ergab nichts Aufregendes. Keine versteckten Aggregate, keine unbekannten Decks. Was man allerdings an beiden Schnittstellen entdeckte, war eine Röhre von lediglich 5 cm Durchmesser im 50 cm dicken Unitallpanzer, und zwar an der Außenseite des Ringes, 40 cm innerhalb der Panzerung. »Was halten Sie davon, meine Herren?« wandte sich Saam an seine Mitarbeiter und an Chris Shanton, der zwar als »Leihgabe« nicht zum permanenten Stab des Technikgenies zählte, sich aber dennoch integriert fühlte. »Schicken wir eine Sonde hindurch«, schlug Ramoya vor, pragmatisch wie immer. »Vielleicht bringt uns das weiter.« Es brachte sie nicht weiter. Die Röhre zog sich um das gesamte Schiff herum, das war alles, was die Sonde an Erkenntnissen brachte.
4. Die Tropfen peitschten, von stürmischen Winden getrieben, gegen das Variovisier von Gropp Bitts Helm und rannen dort wie eine zähe, amöbenhafte Masse herab. Ohne Vorwarnung war der Ammoniakregen aus den brodelnden Wolkenfeldern des Himmels heruntergeprasselt. Dem Himmel des sechsten Planeten, auf den es die Reste der einst so stolzen Flotte verschlagen hatte. Nun war sie besiegt. Vom Feind. Von einem Ringschiff glatthäutiger Fremder, die aus jener Galaxis stammten, die begonnen hatte, ihre Sternmassen mit denen Drakhons zu »vermählen«. Ein grausam-faszinierendes Schauspiel. Die Ränder der beiden Spiralgalaxien berührten einander. Und selbst Gropp Bitt, der in astrophysikalischen Fragen nur wenig bewandert war, hatte keine Zweifel, daß damit eine Katastrophe nie gekannten Ausmaßes begonnen hatte. Er blieb stehen, wischte mit dem Handschuh seines Raumanzugs über das Visier. Die Sicht ins Freie wurde nicht besser. Eine Weile stand er nur da und gab sich dem Gefühl hin, mit der Oberfläche dieser Welt verwachsen zu sein, Wurzeln tief in die Planetenkruste zu treiben, nie mehr an Bord des Kreuzschiffes zurückzukehren, das unweit stand und wie in schwerem Seegang zu schwanken schien. Eine Täuschung. Der Raumer lag da wie ein Klotz. Das Metall seiner Hülle schimmerte schwarzblau und düster wie die Felsstrukturen ringsum. Auch die anderen Schiffe befanden sich ganz in der Nähe. Sie alle hatten dieses Tal am Fuß hoher Gebirgsflanken angesteuert, weil sie sich hier Schutz vor den wütenden
Naturgewalten dieser Ödwelt versprochen hatten. Bis zum Einsetzen des Regens hatte es auch ausgesehen, als ginge die Rechnung auf. Doch nun... Gropp Bitt verfluchte seine Naivität, die ihn dazu verführt hatte, die sichere Schale des Schiffes zu verlassen, mit dem er das hiesige System erreicht hatte. Sie waren der Spur des galoanischen Zylinderraumers gefolgt, der das Wanar-System verlassen und den Doppelstern Bulk und Balk angeflogen hatte. Die glatthäutigen Humanoiden, die sich Terraner nannten, hatten das Nareidum um Hilfe gebeten. Das Nareidum hatte eingewilligt, worüber die Nomaden, die sich zwölf Lichtjahre vom Wanar-System im Ortungsschutz eines Roten Riesen verborgen gehalten hatten, über Spionagesonden zu jedem Moment informiert gewesen waren. Weil sie sich auf der Jagd nach dem Ringschiff der Terraner befanden. Pakk Raff, ihr oberster Rudelführer, wollte es um jeden Preis in seine Hand bekommen. Vergebens. Das Ringschiff und seine ausgeschleusten Jäger hatten die Schlacht im freien Raum ganz allein, fast ohne Unterstützung des galoanischen Zylinders, entschieden! Auch das Flaggschiff mit Pakk Raff an Bord war bei diesem Kampf zerstört worden. »Pakk Raff!« Gropp Bitt spie den Namen förmlich aus. Er hatte noch nie viel übrig gehabt für den egozentrischen obersten Rudelführer, dessen unbeugsame Härte und Brutalität jedoch seit langem jeden Versuch, ihn in der Rangordnung abzulösen, im Keim erstickt hatte. Nach Pakk Raffs Verschwinden war alles anders geworden. Die Karten waren neu verteilt. Und Gropp Bitt war fest
entschlossen, seine Chance zu nutzen... Die plötzlich einsetzende Stille lenkte ihn ab. Der Regen hatte aufgehört, genauso schlagartig, wie er losgeprasselt war. Das Licht beider Sonnen brach zwischen den sich teilenden Wolken hervor. Gropp Bitt atmete sofort befreiter. Er hatte das Gefühl, ihm sei ein Gewicht von der Brust genommen worden. Noch einmal wischte er über das Visier aus Kunstglas, in das sich unablässig Umweltdaten einblendeten. Dieser Planet war eine Strafe. Nichts und niemand konnte hier ohne speziellen Techno-Schutz leben. Nichts und – Ungläubig starrte Gropp Bitt auf das Bild, das seine Gedanken beinahe genüßlich widerlegte. Ihn schauderte, während er die Anzugswerte überprüfte. Draußen herrschten Temperaturen nur knapp über dem Gefrierpunkt normalen Wassers. Und doch... Und doch, dachte Gropp Bitt wie benommen, gibt es hier Leben. Wir haben uns geirrt. Diese Welt ist nicht so tot, wie wir vermuteten. Er sah flirrende Insektenschwärme, die sich aus dem Boden des Planeten erhoben wie bizarrer Nebel. Verstört nahm der Nomade das Bild in sich auf. Für einen Moment hielt er es für möglich – nein, sogar wahrscheinlich –, daß er keine lebenden Organismen beobachtete, sondern filigran konstruierte winzige Maschinen. Unterstrichen wurde dieser Gedanke noch von dem, was die aus den Ammoniakpfützen aufsteigenden Schwärme taten. Sie greifen an! Gropp Bitts Verstörung wich einer gewissen Unruhe. Er stellte Funkverbindung zu dem Schiff her, das er verlassen hatte. Niemand antwortete. An Bord herrschten chaotische Verhältnisse am Rande der
Anarchie. Seit dem Verlust des Flaggschiffs waren die Nomaden führerlos. Hie und da war es bereits zu kleineren Rangkämpfen gekommen, aber bislang hatte es niemand gewagt, das Kommando über das gesamte Rudel für sich zu beanspruchen. Der Schock der Niederlage schien alle zu lähmen. Doch je mehr Zeit verstrich, desto mehr würde dieser Vorteil schwinden. Gropp Bitt wußte um die Bedeutung des Zeitfaktors. Dennoch hatte er sich entschieden, vor dem schweren Gang in sich zu gehen, die Einsamkeit hier draußen zu suchen, mit seinen Gedanken ins Reine zu kommen. Der Regen hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Erst der Regen, und nun die Insekten. Abermals funkte er das Schiff an. Ohne Ergebnis. Der größte Schwarm hatte die Hülle des Kreuzraumers inzwischen erreicht und ließ sich darauf nieder. In Gropp Bitts Verdauungstrakt bildete sich ein harter Klumpen. Er öffnete einen anderen Komm-Kanal und wechselte auf die Standardfrequenz, mit der er alle Schiffe gleichzeitig erreichte. »Wer immer mich hört«, sagte er, »wappnet euch gegen Gefahr von außen. Ich kenne nicht die Situation bei jedem Schiff, aber hier...«, er las die Koordinaten ab, an denen er sich befand, »... ist etwas aufgetaucht, das mir nicht gefällt...« Er schilderte seine Beobachtung im Detail. Gleichzeitig setzte er sich stampfend in Marsch. Die Antwort auf seine Warnung ließ nicht lange auf sich warten. Immer mehr Stimmen meldeten sich, die Gropp Bitts Entdeckung bestätigten. Die Reaktionen verrieten aber auch, daß niemand so recht zu wissen schien, was er mit der Information anfangen sollte. An wen weiterleiten, wie reagieren... Obwohl es noch kein Anzeichen wirklicher Bedrohung gab,
verstärkte sich in Gropp Bitt die Ahnung einer solchen. Er zoomte das Schiff heran, das ihm ein Zuhause war; er war darauf geboren worden. Zum erstenmal sah er die winzigen Wesen im Detail. Der insektenhafte erste Eindruck fand seine Bestätigung. Die Körper der schillernden Geschöpfe erinnerten an bräunliches Holz, bestanden aber wahrscheinlich aus chitinartigem Material. Das Absurde war die zufällige Ähnlichkeit mit den Zylinderschiffen der Galoaner. Sehr viel fragiler zwar in ihrer Erscheinung, aber die Grundform war identisch, abgeplattete Enden, die beide mit wabenförmigen Facetten bedeckt waren. Augen an Vorder- und Hinterteil? Die Beine waren so zahlreich, daß Gropp Bitt sich gar nicht die Mühe machte, sie zu zählen. Aber offenbar ermöglichten sie den fremdartigen Insekten eine unglaubliche Haftung auf dem glatten Metall der Außenhülle. Ihre Flugfähigkeit erhielten sie durch halbtransparente Hautflügel, in denen sich ein komplexes Aderwerk abzeichnete, durchströmt von grünem Blut, und die sich nun wie Schleier über ihre Leiber gelegt hatten. Gropp Bitt war kein Schöngeist, eigentlich war er alles andere als das, und dennoch konnte er sich nicht von der Faszination freimachen, die diese Wesen zu kleinen Kunstwerken der Natur erhob. Er stapfte weiter auf die Schleuse zu, die er mit einem Funkimpuls erst öffnen wollte, wenn er unmittelbar davorstand. Die Sorge, den Insekten beim Betreten des Schiffes ebenfalls Einlaß zu gewähren, hatte sich weit in den Vordergrund all seiner Überlegungen geschoben. Doch noch immer war es nur ein Verdacht, daß von den Bewohnern des Methanplaneten Gefahr ausging. Sie konnten völlig harmlos sein. Konnten – Neben Gropp Bitt – nein, nicht nur neben, auch vor und
hinter ihm – entstand plötzlich Bewegung. Wie aufsteigender Dampf lösten sich neue Schwärme aus den Ammoniakpfützen, die die Fortbewegung stark behinderten. Erstmals wich die bloße Beunruhigung in Gropp Bitt einer Spur von Angst. Er blieb stehen. Der Gedanke, die Schwärme könnten sich auf ihm niederlassen wie auf der Schiffshülle, erfüllte ihn mit Grauen. Er scheute keinen Kampf, keine Auseinandersetzung Mann gegen Mann – aber ein Gegner wie dieser war durch körperlichen Einsatz, durch Geschicklichkeit und zwingende Muskelspiele nicht zu beeindrucken. Zu seiner Erleichterung beachteten ihn die Schwärme nicht, sondern steuerten wie ihre Vorgänger ebenfalls unverzüglich das Kreuzschiff an. Das Metall zieht sie an, dachte Gropp Bitt. Wie ein Magnet. Meine äußeren Anzugskomponenten bestehen ausnahmslos aus Kunststoff, was sie nicht zu interessieren scheint. Letzte Gewißheit gab es dafür nicht, vielleicht konzentrierten sie sich auch einfach nur auf den größten Fremdkörper, der in ihre Welt eingedrungen war. Jedenfalls schien Gropp Bitt sie aufgescheucht zu haben. Vielleicht war der komplette Planet voller Insekten, die dicht unter der Oberfläche »schliefen«, bis fallender Regen – Feuchtigkeit – sie aus ihrem Schlaf riß. Der Gedanke, daß sie nach dem »Erwachen« auf Beutejagd gingen, war naheliegend. Aber Metall war keine Beute. Das fremde Objekt mochte sie einfach nur irritieren. Nach kurzem Stocken setzte Gropp Bitt seinen Weg fort. Gleichzeitig kontaktierte er erneut jedes erreichbare Schiff der Umgebung. »Wie ist die Lage?« »Wir haben keine Schwärme erfaßt«, kam es unisono aus
seinem Helmlautsprecher. Gropp Bitt hätte erleichtert sein müssen. Doch zum einen mißtraute er den Meldungen, und zum anderen genügte es schon völlig, daß sein Schiff davon betroffen war. »Schleust Sonden aus.« »Sonden?« »Vielleicht kleben sie schon an der Außenwandung und entziehen sich dadurch euren Systemen.« Er war sich darüber im klaren, daß ihn nicht wenige wegen dieser Äußerung als paranoid abstempeln würden. »Vielleicht hast du dich – geirrt...« Ja, dachte Gropp Bitt, und ich leide auch jetzt an Halluzinationen, weil ich meine, sie in Heerscharen vor mir zu sehen, wie sie... wie sie... Er sah genauer hin. Zoomte abermals, beinahe auf Maximum. Noch bevor sein Hirn vollständig realisierte, was sich vor seinen Augen abspielte, übertönte eine brüllende Stimme alle anderen Nachrichten: »Hüllenbruch! Verdammt! Wir bekommen Leckmeldungen von fünf, sechs Stellen gleichzeitig. Es...« Die Stimme wurde so hysterisch, daß sie nicht mehr verständlich war. Gropp Bitt zögerte nicht länger. Die letzte Meldung bestätigte seine eigene Feststellung, daß die Insekten begonnen hatten, irgendeinen Stoff auszuscheiden, der das Metall des Schiffes aufweichte. Er löste den Impuls aus, der die Schleusenautomatik in Gang setzte. Das Schott glitt auf – unendlich langsam, wie es Gropp Bitt vorkam. Er stürmte hinein, sah dabei etwas mit sich ins Innere huschen, ohne es genau bestimmen zu können. Dann gab er auch schon den Schließbefehl. Durch die Sohlen seiner Stiefel spürte er die Vibrationen,
die das schwere Schott beim Zugleiten verursachte. Die Kammer war hell erleuchtet. Sie hätte – bis auf ihn – leer sein sollen, aber sie war es nicht. Wie eine Traube hing eine Ballung der methanatmenden Insekten von der Decke herab. Gropp Bitt fühlte sich in seiner schlimmsten Befürchtung bestätigt. Zumal der Komm-Kanal immer noch offen war und er indirekt Zeuge der Tragödien wurde, die sich auf anderen Schiffen abspielten, wo die merkwürdige Invasion bereits fortgeschritten zu sein schien. Wieder versuchte er auf allen gebräuchlichen Frequenzen Kontakt zur Kommandostelle des Schiffes aufzunehmen. Und diesmal hatte er Erfolg. Wahrscheinlich auch, weil das Geschehen auf den anderen Kreuzraumern nicht unbemerkt geblieben war. »Gropp Bitt? Wo treibst du dich herum?« Die Stimme gehörte Lopp Morr, seinem direkten Vorgesetzten. Ausgerechnet. Gropp Bitt atmete tief durch, zwang sich zur Ruhe und zur kühlen Überlegung. Er hatte das Schiff ohne Genehmigung verlassen; niemand kümmerte sich in der momentanen Lage um solche Dinge. Doch Lopp Morr würde die Gelegenheit nutzen, ihm eine Disziplinarstrafe aufzuhalsen. Lopp Morr mochte Gropp Bitt nicht; wahrscheinlich ahnte er schon lange, welcher Ehrgeiz seinen untergebenen Offizier beseelte... Gropp Bitt zwang sich dazu, den Angriff der Insekten nüchtern und ohne unnötige Ausschmückungen zu schildern. Er konnte förmlich riechen, wie Lopp Morr die Fassung verlor. »Was hast du dir injiziert?« Lopp Morr glaubte, er phantasiere im Drogenrausch. Nicht
wenige hatten sich tatsächlich auf diese vermeintliche Fluchtmöglichkeit gestürzt. Gropp Bitt gehörte nicht dazu. Er wiederholte noch einmal, was er beobachtet hatte. Und vergaß auch nicht, die Situation in der Schleusenkammer zu schildern. Die eingedrungene Methanatmosphäre war inzwischen abgesaugt worden. Sauerstoffhaltige Luft füllte den Raum. Perfekt auf die Bedürfnisse eines Nomaden abgestimmt. Die Traube löste sich auf. Im ersten Moment dachte Gropp Bitt, sie würde genau auf ihn herabfallen. Doch die einzelnen Insekten verteilten sich sofort über alle Wände, wo sie unverzüglich ihr Zerstörungwerk in Angriff nahmen. Ohne weiter auf Lopp Morrs Fragenbombardement einzugehen, öffnete Gropp Bitt das innere Schott. Wollte es öffnen. Aber es reagierte nicht. Lopp Morrs nächster Satz schnitt wieder tief in Bitts Bewußtsein. »Glaubst du im Ernst, ich lasse sie noch weiter herein?« Sein Vorgesetzter hatte das Schott gesperrt. Gropp Bitt wurde noch kälter als ohnehin schon. Gefrorenes Ammoniak schien ihn von innen heraus erstarren zu lassen. Seine Finger fanden den Knauf des Blasters. Sein Verstand war an dieser Aktion nicht beteiligt. Zunächst jedenfalls nicht. Doch dann siegte die Vernunft. In gewisser Weise war Lopp Morrs Verhalten zu verstehen. Bevor Gropp Bitt die Kraft fand, etwas zu erwidern, lenkte ihn ein neuerliches Geräusch ab. Das Instrumentarium seines Anzugs meldete, daß die Luft im Schleuseninnenraum wieder abgesaugt wurde. Ein Vorgang, der in beeindruckender Geschwindigkeit ablief. Gropp Bitt
mußte nach einer der Haltestangen greifen, um zu verhindern, daß der Sog ihn mitzerrte. Binnen kürzester Frist herrschte ein absolutes Vakuum innerhalb der Kammer. Die Insekten des Methanplaneten zeigten sich auch davon unbeeindruckt. Oder hafteten sie lediglich über den Tod hinaus am Metall des Schiffes? Vakuum! Die Säfte innerhalb der winzigen Körper mußten kochen, mußten die Hüllen von innen heraus gesprengt haben...! Gropp Bitt konzentrierte sich völlig auf seine nähere Umgebung. Das Variovisier vermittelte die Illusion, die fremde Brut rücke auf den Nomaden zu. Er sah Details. Und wußte, daß der Tod das Problem nicht gelöst hatte. Weder hier noch draußen. Was sind das für Kreaturen, daß sie solchen Bedingungen standhalten? Gropp Bitt zog den Blaster. Er hatte die ganze Zeit gezögert, einen Schuß auf die Insekten abzugeben, allein schon, um ihre Aufmerksamkeit nicht doch noch auf sich zu lenken und sich zum Ziel ihrer Attacken zu machen. Doch die Zeit der Zurückhaltung war vorbei. Jeden Moment konnten sich die Angreifer draußen durch die Schiffswandung »gefressen« haben. Gropp Bitt schaltete den Funk ab, um nicht länger von Lopp Morrs wirren Befehlen und Proklamationen abgelenkt zu werden. Dann stellte er den Blaster auf größtmögliche Streuung und richtete ihn gegen die Pest, die sich ins Schiff geschlichen hatte. Zu seiner eigenen Verblüffung trat der Erfolg fast augenblicklich ein. Die Leiber schienen die Energie zunächst
zu schlucken, doch kaum einen Atemzug später zerfielen sie auch schon zu ascheartigen Flocken, die wie schmutziger Schnee zu Boden fielen. Gropp Bitt atmete auf. Er bestrich alle Stellen, an denen er Eindringlinge ausmachte und richtete den Strahler am Ende gegen das blockierte Innenschott. Um den Stahl zu zerschmelzen, mußte er auf höchste Intensität und Bündelung umschalten und sämtliche Reserven der Handwaffe aufbrauchen. Aber er schaffte es, ein ausreichend großes Loch herauszubrennen, durch das er in den dahinterliegenden Korridor gelangen konnte. Das Vakuum hatte sich schon nach kurzer Zeit mit Bordatmosphäre gefüllt. Gropp Bitt warf einen letzten Blick auf die flockige Masse, die alles war, was von den geflügelten Insekten übriggeblieben war. In seiner Vorstellung sah er die Asche sich zu neuen Monstren formen, aber in der Realität würde das nicht geschehen. Gropp Bitt quetschte sich zwischen den bereits wieder abgekühlten Rändern des kraterartig aufgerissenen Schotts hindurch. Sein Ziel war die Kommandozentrale. Und dort – Lopp Morr… * Der Satellit kreiste wie ein Aasfresser über dem Tal der gelandeten Schiffe. Er war nicht der einzige. Der ganze Planet war auf funktechnischer Ebene isoliert. Lopp Morr betrachtete das lückenlose Netz, das die vom Gegner ausgestreuten Satelliten im Orbit um die Methanwelt gewoben hatten. Es verhinderte wirkungsvoll, daß auch nur der
kleinste Impuls aus den Richtantennen der Nomaden das System verließ, um Hilfe herbeizuordern. Die Fremden verstanden ihr Handwerk. Und die Galoaner unterstützten sie nach Kräften. Verräter! dachte Lopp Morr, der es schon als Verrat bewertete, daß ein Volk dieser Galaxis sich mit einem Volk aus der anderen Sternenballung zusammenschloß. Verbündete! Der Blick auf das im Hauptschirm eingeblendete Satellitenraster lenkte ihn nur kurz vom eigentlichen Problem ab. Gropp Bitt, dieser Wahnsinnige, hatte den Tod ins Schiff geholt. Irgendeine übersehene heimische Spezies hatte zum Angriff auf die Fremdkörper angesetzt, die sich auf ihre Welt gewagt hatten... Das Schott sprang auf. Lopp Morr starrte Gropp Bitt ruhig entgegen, dessen Helm nun geöffnet war, der aber immer noch den schweren Schutzanzug trug, ohne daß er ihn im geringsten zu behindern schien. Die Wut in den Augen des Anstürmenden war elementar, dennoch vertraute Lopp Morr auf seine Autorität. Ein schwerwiegender Fehler, wie sich zeigte. Denn Gropp Bitt war nicht zum Diskutieren gekommen. Er legte die letzte Distanz mit einem unglaublichen Sprung zurück, prallte gegen seinen Vorgesetzten, riß ihn mit sich zu Boden... ... und biß zu. * Niemand griff ein.
Niemand in der Zentrale fiel es ein, Gropp Bitt für seine Tat
auch nur zu rügen. »Lagebericht!« Der Funkoffizier an seinem Pult wirkte ebenso benommen wie der Rest der versammelten Mannschaft. Doch Gropp Bitts peitschende Stimme rüttelte ihn aus seiner Apathie. Ein Ruck ging durch seinen Körper. Er konsultierte seine Instrumente und schnarrte: »Mehrere Schiffe melden Hüllenbrüche. Die Lage ist nicht lebensbedrohlich, da die inneren Schotte halten, aber –« Gropp Bitt ließ ihn nicht aussprechen. »Kontakt herstellen! Zu allen Schiffen!« Während der Funkoffizier die nötigen Schaltungen vornahm, wandte sich Gropp Bitt an den Maschinenraum. Er kannte den Verantwortlichen mit Namen. »Pokk Sorr! Dieses Schiff wird untergehen, wenn wir nicht sofort handeln.« Pokk Sorr antwortete postwendend: »Wer spricht?« »Gropp Bitt. Ich habe das Kommando übernommen.« Pokk Sorr war ein erfahrener Offizier, der schon unter verschiedenen Kommandeuren, auch unter verschiedenen Rudelführern gedient hatte. Widerstandslos akzeptierte er Gropp Bitts selbsterklärte Autorität. »Was befiehlst du?« Gropp Bitt erklärte ihm und allen anderen Schiffen, die zugeschaltet waren, wie sie gegen die heimtückische Attacke der Schwärme vorgehen sollten. Von überallher kam die Bestätigung. Inzwischen schien es kein Schiff mehr zu geben, in dem die Gefahr nicht erkannt worden war. Gropp Bitt verwunderte es selbst, daß er der einzige war, der auch Gegenmaßnahmen anbot. Er ließ eine Kamera auf einem A-Gravpolster ausschleusen, um das Schiff von externer Warte betrachten zu können. Nicht einmal das hatte Lopp Morr, dessen Leichnam bereits aus der
Zentrale entfernt worden war, in die Wege geleitet. Gropp Bitt konnte sich die schlechte Koordination auf den Schiffen nur mit dem Nachhall des Schocks erklären, den der Verlust des Flaggschiffs ausgelöst hatte. Auf dem Hauptschirm erschienen die ersten Bilder der Außenhülle. Gleichzeitig meldete Pokk Sorr den Abschluß der Vorbereitungen, um Gropp Bitts Anweisung in die Tat umzusetzen. »Dann los!« Es war keine Zeit zu verlieren. Noch war kein Leck meßbar, kein völliger Durchbruch an einer Stelle, an der die Insektenscharen ihr Unwesen trieben. Aber das konnte sich jeden Moment ändern. Offenbar waren manche der umliegenden Schiffe bereits während des Ammoniakregens von Schwärmen befallen worden. Das hätte zum einen erklärt, warum sie nicht frühzeitig geortet worden waren – der Regen hatte die Instrumente sicher erheblich beeinträchtigt –, und zum anderen, warum manche Schiffe bereits schwerste Schäden aufwiesen. Gropp Bitt und alle anderen Mitglieder der Zentralebesatzung wurden Zeugen des Schauspiels, das die von Pokk Sorr durchgeführten Maßnahmen auslösten. Die Außenhülle des Kreuzschiffes wurde komplett unter Energie gesetzt. Nur einen Herzschlag lang. Doch das genügte, ein Feuerwerk von Irrlichtern zu entfachen, die aufglommen und sofort wieder erloschen, weil der »Zündstoff« augenblicklich abbrannte: die Insekten. Wie schon in der Schleusenkammer reagierten sie mit explosionsartigen Verpuffungen auf den direkten Kontakt mit Energie. Pokk Sorr hatte Vorsorge getroffen, daß keine Überladungsblitze von der Außenhülle auf innere Sektoren übergriffen. Durch einen vergleichsweise simplen Kunstgriff
war die Gefahr binnen weniger Augenblicke vollständig gebannt. »Und jetzt: Schilde aufbauen!« befahl Gropp Bitt, der von allen Seiten mit Beifall überschüttet wurde. Die anderen Schiffe meldeten ähnliche Erfolge, aber für etliche kam der Gegenschlag zu spät. Zwar wurden auch dort nach und nach sämtliche Schwärme eliminiert, doch hatten die Hüllen dermaßen viele Leckstellen davongetragen, daß diese Raumer wahrscheinlich nie mehr in den freien Raum starten konnten. Mit den vorhandenen Mitteln war an eine ausreichende Reparatur nicht zu denken. Die Einbußen an einsatzfähigen Schiffen erwiesen sich als immens. Für einen erwies sich das Geschehen dennoch als Erfolg. Als persönlichen Triumph. Gleichzeitig markierte es ein absolutes Novum in der bisherigen Geschichte der Nomaden: Gropp Bitt wurde von sämtlichen Nomaden als neues Oberhaupt anerkannt – als Pakk Raffs legitimer Nachfolger. Gropp Bitt hatte geschafft, wovon er immer geträumt hatte. Noch dazu quasi kampflos. Lopp Morr zählte nicht. Lopp Morr war vergessen. Wie Pakk Raff, den alle für tot hielten… * Weder Dhark noch seine Begleiter mochten an die Gefahr glauben, die von einem Jungtier ausging. Normal war doch eher das Gegenteil: Wenn ein Jungtier bedroht wurde, wurden die Elterntiere wild! Warum sollte das auf Owid anders sein? Es war anders! Plötzlich war es da!
Niemand, nicht einmal Ribur, hatte die Annäherung bemerkt. Das Jungtier, nur unwesentlich kleiner als das erlegte Exemplar, nutzte die Dunkelheit und den Lärm, den die Kungen bei ihrem Schlachtfest veranstalteten, um unbemerkt nahe heranzukommen. Die Anpassungsfähigkeit des Pelzes half ihm dabei zusätzlich. Kein Terraner und kein Owide hatte auch nur einen Schatten gesehen, als das Jungtier angriff. Es stürmte aus der Dunkelheit heran, eine gewaltige Kreatur mit großem, zähnestarrenden Maul und langen Krallen an den vorderen Extremitäten. Völlig lautlos tauchte es auf, packte mit seinen Klauen einen der Kungen und riß ihn mit sich. Der verzweifelte Schrei des blauen Owiden gellte durch die Nacht. Da brüllte auch der junge Raubraser – lauter als alles, was bisher hörbar gewesen war. Er übersprang den Kadaver des Muttertiers, schnappte mit dem Maul nach einem weiteren Kungen und verfehlte den nur haarscharf, weil Bram Sass den Blauen blitzschnell zur Seite riß. Übelkeiterregender Gestank, der von dem Raubraser ausging, breitete sich aus, ließ Kungen würgen. Das Jungtier jagte mit seiner lebenden Beute davon. Ribur feuerte sein Gewehr ab. Der Schuß verfehlte das Tier. Ribur knallte das Gewehr einem neben ihm stehenden entsetzten Kungen vor die Brust. »Laden«, schrie er, zog seinen Revolver und schoß damit auf den flüchtenden Raubraser. Aber das Kaliber reichte nicht aus, das Jungtier zu fällen – vielleicht trafen die Kugeln es nicht einmal, während es in der Dunkelheit zu verschwinden drohte. Der Kunge hatte unterdessen eine Patrone aus Riburs Munitionsgürtel gefischt, das Gewehr geladen und hielt es Ribur entgegen. Der schnappte es, zielte in die Dunkelheit und schoß. Wildes Gebrüll war die Antwort und ein verzweifeltes Kreischen des entführten Kungen.
Ribur hatte seinen Revolver fallengelassen – »Aufheben!«, schrie er – und rannte los. Während er lief, lud er sein Gewehr nach. Neben ihm spurtete Oshuta. Ribur schoß im Laufen, verfehlte das Ziel, lud wieder nach – und der nächste Knall klang gefährlich anders. Ribur brüllte wieder seinen Fluch und warf das Gewehr fort. Oshuta ahnte, daß etwas mit der Waffe nicht in Ordnung war. Er hatte bereits auf sein Zweites System umgeschaltet. Er war jetzt nicht mehr Mensch, er war Cyborg. Er setzte seine überlegenen Fähigkeiten ein. Er raste hinter dem Jungtier her, das normal schon nicht mehr zu sehen war, sich im Infrarotbereich aber nach wie vor verriet. Der junge Raubraser legte ein aberwitziges Tempo vor. Oshuta hatte den Eindruck, das Tier sei weit schneller als die alte Raubraserin. Aber nicht schnell genug für einen Cyborg. Der holte auf und ignorierte, daß Ribur hoffnungslos zurückfiel. Witterte der Jungräuber die Nähe seines Gegners? Plötzlich stoppte er seinen rasenden Lauf durch die Savanne! Immer noch schrie der Kunge, kreischte voller Schmerzen, Todesangst und Verzweiflung, und in Oshuta hämmerte ein Gedanke: Hoffentlich bringt das Biest ihn nicht um! Das Programmgehirn seines Zweiten Systems blockte die Rückschaltphase ab, über die dieser Gedanke Einfluß auf die Handlungsfähigkeit des Cyborgs gewinnen wollte. Das Menschliche, das Echri Ezbal seiner Schöpfung mitgegeben hatte, wurde von tronischer Logik kurzfristig überbrückt, weil das Programmgehirn feststellte, daß dieses Menschliche im vorliegenden Fall nur hinderlich sein konnte. Oshuta wurde zur reinen Kampfmaschine.
Der kleinwüchsige Japaner griff das riesige Raubtier an! Er war unbewaffnet – er war die Waffe! Sein Cyborgprogrammgehirn befahl ihm: Phanten! Oshuta phantete. Die F-Viren, oder auch Phant-Viren, die im Jahr 2050 auf dem Planeten Bittan im 404-System entdeckt und von Echri Ezbal modifiziert worden waren, traten ins Medium und banden jede Flüssigkeit im sie beherbergenden Körper. Das implantierte Steuergerät, vom Programmgehirn geschaltet, zwang sie mittels einer Reizspannung von 0,003 bis 0,047 Volt zur Aktivität. (siehe RD-Sonderband 2: »Gestrandet auf Bittan« von Werner K. Giesa) Ein mörderisches Risiko bestand darin, daß die F-Viren sich explosionsartig vermehrten, wenn der Trägerkörper länger als neun Tage und sechs Stunden im Phantzustand gehalten wurde. Denn sie lösten unheilbaren Krebs aus, wenn sie eine bestimmte Anzahl pro Raumeinheit im Körper überstiegen. Dann töteten sie ihren Wirtsorganismus. Aber in diesem Fall bestand ein solches Risiko garantiert nicht. Ein Schwanzhieb traf den Cyborg im Sprung. Schleuderte ihn durch die Luft, aber der Hieb konnte nichts an ihm ernsthaft verletzen, weil er sich im Phantzustand befand. Er kam wieder auf die Beine und startete seine nächste Attacke. Sein Ziel war es, den Kungen den Klauen des jungen Raubrasers zu entreißen. Das Raubtier drehte sich. Es konnte seine Pranken nicht gegen den Cyborg einsetzen, wenn es seine Beute nicht loslassen wollte. Aber mit totalem Körpereinsatz konnte es auch so genug Schaden anrichten. Oshutas Programmgehirn rechnete die geringen Chancen durch. Der Cyborg sprang das Tier erneut an, krallte sich im Rückenfell fest. Sofort versuchte der Räuber, Oshuta abzuschütteln. Aber der Cyborg ließ nicht los, wurde
herumgewirbelt und ließ von seinem Programmgehirn eiskalt analysieren, wo sich Muskel- und Nervenstränge befanden, die durch Gewalteinwirkung paralysiert werden konnten. Dorthin schlug er mit Faust, Handkante oder gestreckten Fingern, wieder und wieder. Nur schien der Raubraser nicht zu wissen, daß er überhaupt ein Nervensystem besaß. Er reagierte nicht auf die Schläge! Statt dessen wollte er den gefangenen Kungen jetzt auseinanderreißen. Der Cyborg änderte seine Taktik. Ohnehin schon im Nackenfell des Raubrasers festgekrallt, schnellte er noch ein Stück vorwärts und konnte die Finger beider Hände in die Augen des Raubtiers stoßen. Der Raubraser brüllte auf und übertönte das verzweifelte Kreischen des gepeinigten Kungen. Das Tier war blind geworden! In seinem Cyborgzustand konnte Oshuta sich nicht davor ekeln, daß seine Hände von Sekreten, Blut und gallertartiger Substanz aus den Augen des Tieres verschmiert waren. Er registrierte nur, daß das Raubtier sein Opfer immer noch nicht losließ. Plötzlich sah er eine Chance, seine exponierte Position am Hals des Tieres noch besser zu nutzen, bekam eine der vorderen Extremitäten zu fassen und setzte all seine übermenschliche Cyborgkraft ein, diesen Raubtierarm zu verdrehen und zu zerbrechen! Er hörte durch das wilde Gebrüll des wütenden Jungtiers Muskelfasern reißen und Knochen brechen. Und plötzlich war da noch jemand – Ribur, der endlich aufgeholt hatte. Der Jäger hieb und stach mit seinem langen Messer auf den Raubraser ein, und er traf die richtigen Stellen. Das Tier brach endlich zusammen. Die Klauen wurden schlaff und ließen ihr Opfer los.
Oshuta sprang rechtzeitig ab, ehe er unter dem zusammenbrechenden Raubtierkörper begraben wurde, und schaffte es dabei auch noch, den Kungen beiseitezuzerren. Der kreischte noch lauter als zuvor, weil der Cyborg die verletzten Stellen seines geschundenen Körpers in diesem Moment nicht schonen konnte. Ribur war immer noch mit dem zuckenden und in Agonie um sich schlagenden Raubtier beschäftigt und durchtrennte mit seinem Jagdmesser lebenswichtige Organe und Adern. Der Raubraser wollte einfach nicht sterben. Er kam sogar erneut auf die Beine, während nach heißem Kupfer stinkendes Blut aus seinen zahlreichen Wunden strömte und er seine Gegner nicht einmal mehr sehen konnte; die Reste seiner zerstörten Augen klebten an Oshutas Händen. Der Japaner kümmerte sich jetzt nicht mehr darum. Er bemühte sich um den schwerverletzten Kungen. Der Owide blutete stark. Er schrie nicht mehr, stöhnte nur noch vor Schmerzen. Und endlich tauchten andere Owiden auf… * Sie trugen den Verletzten ganz vorsichtig ins Lager zurück. Das Jungtier blieb, wo es war. Lati Oshuta folgte der Gruppe nur langsam, was nicht einmal dem Jäger aufzufallen schien. Als der Cyborg im Lager eintraf, waren die anderen längst da. Oshuta hatte wieder auf Normal zurückgeschaltet. Über diese Rückschaltphase informierte ihn sein Programmgehirn über Erwägungen, die er im Normalsektor nicht einmal ansatzweise mitbekommen hatte. Es gab ihm zu denken, daß das Programmgehirn die Rückschaltphase einmal kurzfristig blockiert hatte, um die in diesem Augenblick zu gefährliche menschliche Komponente auszuschalten, und er war nicht sicher, ob Echri Ezbal das
wirklich so gewollt hatte. Er beschloß, mit Bram Sass darüber zu reden und das Problem auch bei seinem nächsten Aufenthalt in der Cyborgstation im Brana-Tal zur Sprache zu bringen. Sicher – es war logisch, in diesem Moment abzublocken; was aber, wenn dieses Abblocken auch aus anderen Gründen stattfand? Flippte das Programmgehirn mit der Zeit aus? Ezbal hatte sehr großen Wert darauf gelegt, seinen Cyborgs eine moralische Hemmschwelle mitzugeben, damit sie nicht zu übermenschlichen Monstren wurden. Oshuta beschloß, ein Auge auf diese mögliche Entwicklung zu haben. Vielleicht war es ja auch nur ein Ausnahmefall gewesen... Als er das Lager erreichte, empfingen ihn die Gesänge der Kungen. Die hatten bereits ein Heldenlied aus dem Kampf gegen das Jungtier gemacht! Das war Oshuta doch etwas zu peinlich, aber er konnte nichts dagegen tun. Er konnte nur versuchen, sich zurückzuziehen, aber das ließ Ribur nicht zu. Der Großwildjäger rühmte Oshutas Mut und Kraft mit wohlklingenden Worten, die von den Kungen begeistert aufgegriffen wurden, was die Heldengesänge noch umfangreicher, ausführlicher und unwahrscheinlicher werden ließ. Dabei war dem Cyborg gar nicht nach Feiern zumute. Ihn selbst interessierte weit mehr, was mit dem RaubraserOpfer war. Die anderen Kungen behandelten den Verletzten mit Salben und Heiltränken, die sie am Lagerfeuer zubereiteten. Der Blauhäutige hatte eine Menge Blut verloren, war schwach und hielt sich nur mühsam lange genug wach, um Oshuta mit einer Welle von Dankbarkeit zu überschütten, als dieser nach ihm schaute. Allerdings waren die Verletzungen, vom Blutverlust einmal abgesehen, nicht so schwer, daß er daran hätte sterben müssen. Er würde grausige Narben zurückbehalten, mehr aber auch nicht. Irgendwann am späten Abend gesellte sich der Jäger zu Oshuta.
»Ich habe Sie unterschätzt, mein Freund«, gestand er ein und bot dem Cyborg eine Zigarre an – »aus der Schachtel des Gouverneurs stibitzt, als er gerade woanders hinschaute«. Aber Oshuta mußte ablehnen; er hatte im ganzen Leben noch nicht geraucht und wollte auf Owid nicht damit anfangen, auch wenn er damit vielleicht jemanden beleidigte. »Gewähren sie den Genuß unserem Commander Ren Dhark«, bat er. »Das steht ihm zu, und er weiß es auch besser zu würdigen.« »Und ich weiß zu würdigen, was Sie heute geleistet haben, Oshuta«, sagte Ribur. »Ihr außerordentlicher Mut ist bewundernswert, und über Ihre Körperkraft kann ich nur staunen. Mit den bloßen Händen einen Raubraser anzugreifen – das hat bislang noch niemand gewagt. Sie sind ein Held.« »Ich bin ein Narr«, sagte Oshuta leise. »Ein Held auf keinen Fall. Ich habe nur getan, was ich tun konnte, mehr nicht.« »Trotzdem haben sie Großartiges geleistet. Kein Korlone, kein Kunge – erst recht kein verlauster Gante – hätte das fertiggebracht. Oshuta, ich habe anfangs innerlich über Sie gelacht, als wir losmarschierten, um nach Beute zu suchen. Aber jetzt lache ich nicht mehr. Ich bin froh, und ich bin stolz, Sie zu kennen.« Danke nicht mir, danke Echri Ezbal, dachte der Japaner. Der hat mich zum Cyborg gemacht. Aber es war sinnlos, dem Owiden das zu erklären. Vor allem mußte auch kein Außenstehender wissen, was Cyborgs wirklich waren… * Am nächsten Morgen ordnete Gouverneur Cafer an, daß der Schwerverletzte von zwei anderen Kungen mittels einer Trage zur Plantage zurückgebracht wurde. Die beiden Träger schienen nicht zu wissen, ob sie über diese Anweisung froh oder traurig sein sollten – froh, weil sie damit künftigen
Gefahren entgingen, traurig, weil sie jetzt ohne die Gesellschaft der anderen Expeditionsteilnehmer zurückbleiben beziehungsweise umkehren mußten. Das Lager wurde abgebrochen, der Marsch ging weiter. Von den beiden erlegten Raubrasern konnte nur recht wenig Fleisch als Proviant mitgenommen werden – wer hätte diese Massen tragen sollen? Der Rest blieb zurück; es gab genügend Aasfresser, die sich seiner annehmen würden. Am späten Nachmittag erreichten sie den Dschungelrand. Cafer überlegte, ob er das Nachtlager bereits hier aufschlagen lassen sollte, entschied sich dann aber dafür, bis zum Einbruch der Nacht weitermarschieren zu lassen. So arbeiteten sie sich in den Dschungel hinein. In Ren Dhark wurden Erinnerungen wach. Er mußte an Hope denken. An damals, als sich nach der Landung der GALAXIS der machtbesessene Rocco zum Diktator der Siedlerstadt aufgeschwungen und seinen Gegenspieler Dhark sowie dessen engste Gefährten auf den Inselkontinent Deluge verbannt hatte. Deluge war fast vollständig von Dschungel bedeckt gewesen, durch den die Deportierten bis zum Gebirge marschierten – wo sie die Hinterlassenschaften der Mysterious entdeckten! In gewisser Hinsicht mußte Dhark Rocco deshalb sogar fast dankbar sein. Ohne die Verbannung wären Industriedom, Ringraumerhöhle und somit all diese technischen Schätze wahrscheinlich bis heute unentdeckt. Und die Kolonisten wären immer noch auf Hope vom Rest der Milchstraße abgeschnitten. Denn wer hätte die Giants von der Erde vertreiben sollen? Oder sie wären allesamt tot, nachdem die G'Loorn Hope angegriffen und die Siedlerstadt Cattan dem Erdboden gleichgemacht hatten. Aber zu jenem Zeitpunkt waren die meisten Kolonisten längst nach Terra zurückgekehrt; Cattan
war nach der Befreiung der Erde bedeutungslos geworden. Lediglich Deluge war noch von Interesse – und heute mehr denn je, nachdem der kosmische Blitz alle ungeschützte Mysterioustechnik für alle Zeiten ausgeschaltet hatte! Nur was zu jenem Zeitpunkt unter einem Intervallfeld gelegen hatte, wie beispielsweise Deluge und ein paar hundert Ringraumer, war verschont geblieben und noch funktionsfähig. Dhark dachte an den Dschungelmarsch zurück. Der war damals ganz anders abgelaufen. Sie hatten nichts besessen als Manu Tschobes Feuerzeug und ihre Kleidung. Alles andere hatten Roccos Schergen ihnen genommen. Und doch hatten sie überlebt und die Schätze der Mysterious gefunden. Diesmal, auf Owid, waren sie viel besser ausgerüstet. Aber am Ziel ihrer Suche standen wieder Hinterlassenschaften einer uralten interstellaren Zivilisation – der Rahim! Von denen Dhark nahezu überzeugt war, daß es sich bei ihnen um die vor tausend Jahren aus der heimatlichen Milchstraße ausgewanderten Mysterious handelte! Damals, auf Deluge, waren sie ahnungslos gewesen. Jetzt, auf Undo, hatten sie ein Ziel vor Augen. Und doch... die Bilder ähnelten sich. An der Spitze der Expedition gingen jetzt mehrere Kungen, die mit gewaltigen Haumessern ausgestattet waren und den Weg in den Dschungel freimachten. Es schien zwar so etwas wie einen Pfad zu geben, welcher aber wohl nur sehr selten benutzt und deshalb rasch von den wuchernden Pflanzen zurückerobert wurde. Dhark fragte sich, wer diesen Dschungelpfad ursprünglich einmal angelegt hatte. Er konnte sich nicht vorstellen, daß Expeditionen wie diese auf Undo an der Tagesordnung waren. Aber hier gab es mit Sicherheit jemanden, der den Weg öfters benutzte! Dadurch, daß er allerdings schon beinahe wieder
zugewuchert war, kam die Gruppe nur langsam vorwärts, und der Commander begann zu ahnen, daß die von Cafer veranschlagten sechs Tagesmärsche in Wirklichkeit wohl gar keine so große Entfernung waren – falls man sie mit modernen Verkehrsmitteln zurücklegen konnte! Beispielsweise mit einem Luftschiff... Aber darüber konnte Cafer nicht verfügen. Ihnen blieb nur die Möglichkeit, sich zu Fuß bis zu ihrem Ziel durchzuschlagen. Die machetenschwingenden Kungen wurden in kurzen Abständen abgelöst, ebenso wie die Sänftenträger, was Dhark wenigstens halbwegs mit dieser feudalistischen Transportmethode versöhnte. Die Korlonen forderten den Kungen tatsächlich nicht mehr ab, als diese zu leisten imstande waren. Im Gegenteil, einige Blaue schienen sogar noch freiwillig weitermachen zu wollen, wenn ihre Ablösung kam. Der Großwildjäger und die Terraner schlenderten direkt hinter dem »Straßenbautrupp« her, wie Lati Oshuta die Gruppe machetenschwingender Kungen nannte, die ihnen den Weg ebneten. Es war auffällig, wie ernst Ribur seine Aufgabe nahm – er hielt zwar nicht nach Großwild Ausschau, das es hier im Dschungel sicher nicht gab – Tiere vom Format eines Raubrasers konnten sich kaum durch den dichten Bewuchs zwängen – sondern nach gefährlichem Kleingetier, das hier und da zwischen großblättrigen Pflanzen, Baumriesen und Schlingpflanzen oder pendelnden Lianen auftauchte. Ab und zu schnatterten affenartige Baumbewohner, von irgendwo übertönte das wilde Brüllen eines größeren Raubtiers den Gesang der Kungen... Ribur war jedenfalls die personifizierte Aufmerksamkeit. Er schien hier absolut in seinem Element zu sein. Wie er schon am vergangenen Abend das Raubraserweibchen noch vor dem Cyborg bemerkt hatte, reagierte er auch hier schneller. Er schien regelrecht mit der Natur des Urwaldes eins geworden zu
sein. Nicht einmal die Cyborgs entdeckten auf Anhieb, was der Jäger sah und worauf er hin und wieder überraschend schnell reagierte. Dem einen Tier schlug er mit seinem langen Messer den Kopf ab, ein anderes schoß er mit seinem Revolver nieder, der jetzt nicht mehr in seinem Gürtel steckte, sondern den er mit einer Schnur versehen hatte, deren Schlinge er um das Handgelenk trug. So konnte er die Waffe nicht einmal durch einen dummen Zufall verlieren, und er brauchte nur den Arm hochzureißen, und der an der kurzen Schnur baumelnde Revolver flog ihm durch den Ruck förmlich in die Hand hinein, so daß er nur die Finger zu krümmen und den Abzug zu betätigen brauchte. Statt dessen hatte er das Gewehr einem Kungen übergeben; mit der langläufigen Flinte konnte er hier weniger anfangen als mit dem kurzläufigen Mehrlader. Nach etwa drei Stunden Dschungelmarsch, der sie nicht ganz zwei Kilometer weit gebracht hatte, wie Bram Sass errechnete, ordnete Cafer das Lager an. Sie hatten eine kleine Lichtung erreicht, die mit wenig Mühe gerodet werden konnte, um den Zelten Raum zu bieten. Ein sicheres Feuer wurde angelegt, Raubraser-Fleisch gebraten und zu Riburs Leidwesen gesungen. Allerdings hielt der Gesang hungriges Getier fern. Später wurden Wachen bestimmt, zu denen jeweils ein Korlone gehörte – die Geheimagenten Fontain und Therak wurden wie selbstverständlich in den Rhythmus mit einbezogen, und selbst Gouverneur Cafer war sich nicht zu schade, Wache zu halten! Aber nichts geschah in dieser Nacht. Wirklich nichts...? * »Warum nur bin ich nicht in meinen Dorf geblieben und habe mich vom Fischfang ernährt!« stöhnte Saram Ramoya. »Dann säße ich nicht hier und würde mir den Kopf darüber zermartern, weshalb sich um die S-Raumer eine Röhre zieht,
die ganz offensichtlich keine Funktion hat.« »Ganz offensichtlich hat sie eine«, widersprach Saam und schüttelte so nachdrücklich den Kopf, daß ihm fast die Mütze herunterfiel, »sonst wäre sie nicht vorhanden.« »Ich kann mir nicht helfen«, sagte Regina Lindenberg, »für meine Begriffe ist alles ein Rätsel in einem Rätsel in einem Rätsel in einer Schachtel.« Was es auf den Punkt brachte. Niemand konnte sich im Augenblick vorstellen, wozu diese im Vergleich zur Größe des Schiffes winzige Ringröhre diente. Inzwischen war es später Abend geworden; das Team hatte sich in die Laborräume zurückgezogen und erörterte die vorgefundenen Fakten mehr oder minder lautstark. Jeder hatte seine Meinung darüber geäußert, was die Ringröhre darstellen konnte – mitunter hatte dies zu recht abenteuerlichen Mutmaßungen und Vergleichen geführte – und diese Meinung im gleichen Atemzug wieder verworfen. Auf Veranlassung Reginas hatte ein Lieferdienst etwas zum Essen gebracht; jetzt saß man auf den relativ unbequemen Laborstühlen, rauchte, trank und diskutierte weiter. Robert Saam war seit Minuten ungewöhnlich still geworden, als brüte er an einer Idee. Shanton verlagerte sein Gewicht im Sessel, starrte sinnend in sein Cognacglas und ließ es fast fallen, als Robert Saam plötzlich in seinem Sessel hochfuhr und in die Runde schaute. »Ich weiß jetzt«, hub er lautstark an, »woran mich die Röhre erinnert – an einen Ringbeschleuniger!« »Wie kommen Sie auf diese hirnrissige Idee?« murrte der Diplomingenieur, der noch immer damit kämpfte, in seiner Kontemplation über die Qualität des ausgezeichneten Cognacs gestört worden zu sein. »Aus Berichten über Jagdflugzeuge zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts.« »Hä...? Den Zusammenhang verstehe ich nun überhaupt
nicht«, beschwerte sich Shanton. »Was verstehst du schon, Alterchen«, meldete sich Jimmy einmal mehr vorlaut zu Wort. »Trink deinen Cognac und halte dich aus den ernsthaften Überlegungen des unvergleichlichen Genies heraus, dem du in keinster Weise das Wasser reichen kannst.« »Kusch, du vorlauter Fußschemel!« Shanton musterte seinen mechanischen Hund mit einem drohenden Blick, der diesen jedoch nur am Rande zu tangieren schien; in relativer Sicherheit neben Regina Lindenberg liegend, die ihm mit einem spitzbübischen Grinsen den Nacken kraulte, konnte er sicher sein, daß keine unmittelbare Gefahr von seinem rauschebärtigen Besitzer drohte. »Ich hatte viel Zeit zum Lesen«, versetzte Saam, »als ich mich vor den Giants im Keller der Universitätsbibliothek von Uppsala versteckt halten mußte. Drei lange Jahre. Ich las viel während dieser Zeit, unter anderem auch Berichte über die Geschichte der Luftfahrt zwischen den Jahren 1915 bis 1945. Die besten Flugzeuge damals waren in der Regel möglichst kleine Jagdmaschinen, die man um einen möglichst großen Motor herum gebaut hatte.« »Ja und?« Shanton verstand den Zusammenhang nicht. »Aber so begreifen Sie doch!« echauffierte sich das Technikgenie aus Norwegen. »Es könnte sich mit den Ringschiffen ähnlich verhalten.« »Das hat was für sich«, meldete sich George Lautrec zu Wort. Der kanadischer Wissenschaftler hatte sich bislang kaum an der Unterhaltung beteiligt. »Für Raumschiffe ab einer bestimmten Größe ist die Kugelform eigentlich die ideale. Aber natürlich gibt es auch andere Bauweisen. Doch von allen ist die Ringform sicher die unpraktischste und unwirtschaftlichste. Nur nicht für die Mysterious – weshalb sonst hätten sie sie gewählt? Haben sie vielleicht die Ringschiffe um einen ringförmigen Antrieb herum
konstruiert?« »Na, ich weiß nicht.« Shanton blieb skeptisch. »Eine Röhre von fünf Zentimetern Durchmesser als Antrieb für ein Schiff dieser Größe und Schwere zu bezeichnen, ist schon mehr als gewagt. Und außerdem haben die Schiffe nachweislich Meiler an Bord. Schon vergessen?« »Keineswegs, Chris«, gestand Robert Saam nachdenklich. »Da muß mehr sein. Nur sehen wir es nicht. Noch nicht.« Er schwieg einen Augenblick und malträtierte mit den Zähnen seine Unterlippe, ehe er fortfuhr: »Es wird uns nichts anderes übrig bleiben, als das Schiff systematisch weiter zu zerlegen. Irgendwann und irgendwie offenbart sich uns das Geheimnis des Mysterious-Antriebs. Da bin ich ganz sicher.«
5. Das Vipho summte laut und beharrlich. Chris Shanton schreckte aus dem Schlaf. Eine Verwünschung murmelnd wälzte er sich auf die andere Seite, machte Licht und drückte den EIN-Knopf des tragbaren Viphos. Es stand auf dem Teppich und wurde von Jimmy, dem eigensinnigen Robothund des Diplomingenieurs, bewacht. Zumindest behauptete er das immer. Shanton gähnte. »Hallo«, sagte er mit schlaftrunkener Stimme. »Chris, Robert Saam hier. Sie sollten besser ins Großlabor kommen.« Shanton setzte sich auf und sah auf die Uhr. Die Leuchtziffern verschwammen vor seinen Augen. Er fixierte sie scharf, um sie festzuhalten. Es war sieben Uhr zwanzig. Er hatte nur drei Stunden geschlafen. »Sie!« knurrte er gereizt, als Saams Gesicht auf dem Schirm stand. »Schlafen Sie überhaupt mal?« »Sie müssen sich das ansehen«, sagte Saam kurz angebunden, ohne auf die Frage einzugehen. »Ich erwarte Sie in fünf Minuten.« »Okay«, sagte Chris und schwor sich, diesem Zauberlehrling von eigenen Gnaden bei passender Gelegenheit gehörig die Leviten zu lesen. Einen alten Mann so zu hetzen! Er schaltete das Vipho ab, stand auf und änderte die Polarisation des Fensters. Die Sonne schien so grell herein, daß er gequält die Augen schließen mußte. Ein herrlicher Wintertag; der zweitägige Schneesturm hatte das Weite gesucht. Er ging ins Bad, um sich zu duschen – und zwar nicht zum ersten Mal in seinem Leben, ganz gleich, was Jimmy
behauptete. Er befand sich in einem der Zimmer im hinteren Teil von Halle 33c, die Wallis Industries in ihren Laborgebäuden für Forscher und Wissenschaftler bereithielt, die an kurzfristigen Projekten arbeiteten und das Gelände am liebsten gar nicht erst verließen. Aus den fünf Minuten wurden zehn, dann trat er auf den Gang, gefolgt von Jimmy. Die morgendliche Stille hing in den Korridoren wie in einem Beerdigungsinstitut. Shantons Schritte klapperten auf dem glänzenden Fußboden; das Geräusch hallte als Echo von den Wänden wider. Er sah keine Menschenseele, aber vom anderen Ende des Korridors hörte er Stimmen. Während er darauf zuging, schaute er durch die Glasfronten in die verschiedenen Labors. Sie waren um diese Zeit alle noch verlassen. Am Ende des Ganges betrat er das Labor, dessen Fenster auf das Innere der Halle blickten. Drinnen fand er Ramoya und Regina Lindenberg vor, von Saam und George Lautrec war nichts zu sehen. »Morgen«, brummte Shanton mit einer Stimme, die seine Verfassung widerspiegelt. »Wo ist dieser Sklaventreiber von Saam?« erkundigte er sich drohend. Ramoya spreizte die Hände, betrachtete die Innenfläche mit einer Intensität, als sähe er sie zum ersten Mal. »Vermutlich schon wieder unten in der Halle. Er hat die ganze Nacht durchgearbeitet.« Die junge Biologin räusperte sich und blickte auf Shanton. »Was halten Sie von einer Tasse Kaffee, Chris?« »Dagegen ist nichts einzuwenden.« Er hatte sie noch nicht mal halb ausgetrunken, als Saam den Kopf durch die Tür streckte: »Chris? Gehen wir. Ach, Saram, Sie brauche ich auch.«
*
Die ELDRIDGE hatte sich sehr zu ihrem Nachteil verändert, was ihr Äußeres betraf. Die vergangenen 48 Stunden war sie Stück für Stück ihrer Hülle beraubt worden. Die Tofiritsägen hatten unerbittlich ganze Segmente herausgetrennt und die darunterliegende Struktur freigelegt. Rings um das Schiff waren Gerüste errichtet worden, auf denen man den Ringraumer auf mehreren Ebenen umrunden konnte. Das Team um Robert Saam war systematisch vorgegangen und hatte das Schiff immer weiter zerlegt. Es war am gestrigen Nachmittag, als sie schließlich im Ringsystem auf zwei Kammern gestoßen waren, die sich, um 180 Grad versetzt, genau gegenüberlagen. Bei den Untersuchungen war man darauf gekommen, daß es sich bei der einen Kammer um eine Kollisionskammer handeln konnte, wie sie in ähnlicher Form in den kilometerlangen Ringbeschleunigern der ehemaligen Kernforschungszentren in Europa und den USA Ende des 20. Jahrhunderts zur Atomzertrümmerung Verwendung gefunden hatten. Man forschte damals nach der Möglichkeit, eine »kalte« Fusion zu erzeugen, die, wäre sie von Erfolg gekrönt gewesen, die Energieprobleme der Erde mit einem Schlag gelöst hätte. Die andere Kammer war die sogenannte »Stripper« Kammer, in der Atome ihrer Hüllen beraubt wurden, ehe man sie, fast bis auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt, in der Kollisionskammer auf andere Atomkerne prallen ließ, um die Teilchen so zu Reaktionen anzuregen. Das war vor vielen Jahrzehnten. Doch welche Atome wurden in den Mysterious-Raumern dieser Prozedur unterzogen? Außerdem, Energie konnte man mit einem Ringbeschleuniger keine erzeugen, denn er verbrauchte zum Betrieb ungleich mehr als bei den Kollisionen
je entstand. Trotzdem mußten die beiden Kammern in irgendeinem Zusammenhang mit dem Antrieb stehen. Man hatte Leitungen entdeckt, die von der Kollisionskammer zu den 23 Meilern an Bord der ELDRIDGE führten. Diese wiederum versorgten umgekehrt den Ringbeschleuniger mit Energie, wie sich herausgestellt hatte. Saam ging mit Shanton und Saram Ramoya den Korridor entlang. Jimmy hatte es vorgezogen, bei der jungen Biologin zu bleiben. »Worum geht's denn?« fragte der massige Diplomingenieur. »Haben Sie nicht gestern merkwürdige Strukturen rings um die Kollisionskammer entdeckt, die Sie als Energieaufnehmer deuteten, weil von ihnen Verbindungen zu allen Energieverbrauchern im Schiff führten?« »Schon. Und was ist damit?« »Ich habe heute morgen, als Sie noch in Morpheus' Armen lagen...« »Höre ich da etwa Neid heraus?« wunderte sich Shanton. »... etwas an der Stripper-Kammer entdeckt, was uns möglicherweise weiterbringen könnte.« »Und was?« »Ich zeig's Ihnen. Hier!« Saam reichte ihm ein Gerät, das wie ein High-Tech-Sichtgerät geformt war, aber ein Rasterkraftmikroskop darstellte. »Mir sind vor knapp zwei Stunden diese merkwürdigen Verfärbungen im Unitall rings um die Kammer aufgefallen, aber schauen Sie selbst.« Sie standen auf dem Gerüst vor der offenen Kammer in der Unitallhülle des Ringes. George Lautrec war inzwischen zu ihnen gestoßen, außerdem befanden sich noch drei hochqualifizierte Systemtechniker auf der Plattform. Shanton setzte das Gerät an die Augen und beugte sich in die Kammer. »Teufel, Teufel«, murmelte er. »Jetzt sehe ich, was Sie meinen, Robert. Die Verfärbungen sind eindeutig
nanotechnischer Natur.« Nanotechnische Natur. Das 21. Jahrhundert war nicht nur vom Aufbruch der Menschheit in die Tiefe der Galaxis geprägt worden, sondern auch von der stürmischen Entwicklung der Mikro- und Nanotechnologie. Beide Disziplinen waren Ausdruck extremster Verkleinerungen. Die eine im Mikrometer-Bereich – ein Mikrometer war ein Millionstel Meter – bei der anderen stand die Vorsilbe Nano für die atomare Größenordnung: Ein Nanometer war ein Milliardstel Meter. Längst hatte sich die irdische Medizin der Nanotechnik verschrieben. Mikroskopisch kleine Operationswerkzeuge schwammen durch den menschliche Blutkreislauf und entfernten dort gefährliche Ablagerungen oder saugten Blutpfropfen ab. Sie dichteten poröse Adern und brachten innere Blutungen zum Stillstand. Die Technik des Suprasensors hätte ohne die Nanotechnologie nicht diesen rasanten Aufschwung genommen. Die Speicherdichte eines Nanochips war phantastisch. Ein Viphofilm von fünf Jahren Spieldauer fand auf der Fläche eines Fingernagels Platz. Das gesamte Wissen der Menschheit ließ sich nanotechnisch in einen Kubus schreiben, der kleiner als eine Zigarettenschachtel war. Auch die Robotertechnologie hatte einen ganz neuen Verlauf genommen. Und hier fand das gleiche Prinzip Anwendung. Es handelte sich um nanotechnische Fördermechanismen, die Gegenstände von maximal Molekülgröße zu transportieren in der Lage waren. »Aber welche Moleküle?« »Ich habe keine Ahnung«, bekannte Shanton und sah Saam direkt in die Augen. »Läßt sich feststellen, ob die Verfärbungen auf die Kammer beschränkt sind oder sich ausbreiten, und wenn letzteres zutrifft, wohin sie führen?« Saam runzelte die Stirn.
»Wir werden es nachprüfen. Jetzt, auf der Stelle. Wir schicken eine Nanosonde rein und machen eine Verlaufsanalyse. Mal sehen, wo sie uns hinführt.« Er bedeutete dem Techniker, die Sonde auf den Weg zu schicken. Ein anderer Techniker hängte sich die tragbare Konsole um, auf deren Monitor er einen virtuellen Aufriß der ELDRIDGE hatte. Ein blinkender roter Punkt kennzeichnete den Weg der Sonde. Auf sein Zeichen hin setzte sie sich in Bewegung. * In der Folge tat sich Erstaunliches. Die Spur der Nanosonde verlief zwar durch die Ringhülle, aber quer zum Beschleunigerring. Von der Außen- auf die Innenseite und hinunter zu Deck Eins in einen unbenutzten Raum, der im Schiffslog als leerer Lagerraum geführt wurde. Dort verhielt sie hinter der Wandverkleidung etwa in halber Mannhöhe. Auf der Simulation der Konsole war an dieser Stelle kein Hohlraum angegeben. »Und jetzt?« Saam hob die Schultern. »Wie grob ist die VR-Simulation Ihrer Meinung nach?« fragte Shanton. »Ziemlich«, bestätigte Saram Ramoya Shantons Vermutung. »Nun ja«, sagte der Diplomingenieur. »Der Suprasensor sagt uns, daß hinter dieser Verkleidung nichts ist. Die Sonde sagt das Gegenteil. Sehen wir einfach nach, wer recht hat.« Eine Robot-Torifitsäge mit einem runden Trennblatt am Ende eines Armes glitt auf ihrer Antigravplattform herein und machte sich umgehend daran, ein viereckiges Stück aus der Unitallverkleidung zu sägen. Sie hatte leichtes Spiel, die Innenverkleidungen waren ungleich dünner als die Schiffshaut. Es dauerte keine dreißig Minuten, bis das herausgetrennte
Stück Metall auf einer A-Gravplatte lag und zur Seite bugsiert werden konnte. Dann traten die Techniker beiseite und machten den Wissenschaftlern und Experten Platz. Die Kammer, die sich hinter der Wand auftat, enthielt ähnliche Apparaturen wie die Stripper-Kammer auf der Außenseite des Ringraumers. Außerdem einen Behälter von etwa einem Kubikmeter Rauminhalt. Er war massiv am Boden angeflanscht. »Sehen wir doch mal nach«, meinte Chris Shanton. Er machte Anstalten, den Kopf in die Kammer zu stecken. »Vorsicht!« warnte Saam. »Vielleicht versteckte Fallen oder andere Sicherheitsvorkehrungen!« Shanton schüttelte den Kopf. »Der Raumer ist doch ohne Energie. Schon vergessen? Was könnte also geschehen?« »Na, Ihr Vertrauen möchte ich haben.« Hast du aber nicht, mein Lieber, dachte der Diplomingenieur und grinste versteckt. Trotzdem sagte er: »Sie haben natürlich recht. Man kann nicht vorsichtig genug sein. Aber darf ich Ihre Aufmerksamkeit auf etwas lenken, das, wie mir scheint, nur eine Empfangseinheit für einen Impulsgeber sein kann?« Er deutete auf das betreffende Gerät an der linken Innenseite der Kammer. Eine rasche Überprüfung ergab, daß auch sie, wie alles an Bord der ELDRIDGE, energetisch tot war. »Wofür könnte sie wohl dienen, beziehungsweise gedient haben?« Shanton hockte sich stirnrunzelnd auf einen niedrigen Stapel Transportpaletten. »Ich kann mir nicht helfen, aber aus irgendeinem Grund denke ich mir die Empfangseinheit nur als Öffnungsmechanismus. Was fehlt, ist lediglich der Impulsgeber, ein Sender zum Öffnen der Klappe, um an das heranzukommen, was sich in diesem Behälter befindet... Nein«, er schüttelte entschieden Kopf, »um diesen Behälter zu füllen.« Er fuhr herum, fixierte Robert Saam, Ramoya und Lautrec.
»Oder ist jemand anderer Ansicht?« Niemand war anderer Ansicht. Ob es an Shantons drohendem Gebahren lag, oder sie tatsächlich keinen Schimmer hatten, wer wußte das zu sagen? »Wir bräuchten also einen funktionierenden Impulsgeber«, zweifelte Saram Ramoya, »um herauszufinden, wie diese Apparatur funktioniert?« »Natürlich nicht nur«, verkündete Chris bedeutungsvoll, »sondern auch einen funktionierenden Ringraumer.« »Trauen Sie es sich zu, einen solchen Sender nachzubauen, Chris?« erkundigte sich Saam. Der Diplomingenieur schnaubte beleidigt. »Es handelt sich zwar um Mysterious-Technik, aber dennoch – ja, ich traue es mir zu. Ich habe schon einige ihrer kleinen technischen Spielereien nachgebaut.« »Dann tun Sie es. Wir werden sehen, was dabei herauskommt, und was sich in der Kammer abspielt. – Apropos Kammer. Hat jemand eine Idee, was sie darstellen könnte?« »Ich kann mir zwar vorstellen, was es sein könnte«, sagte Shanton, »möchte aber erst Ihre Meinung darüber hören.« Fein aus der Affäre gezogen, alter Freund, dachte Robert Saam, um jedoch laut kühn zu behaupten: »Eine Anlage, um Material in Moleküle zu zerlegen, die dann via Nanotransporter bis zur Stripper-Kammer transportiert werden.« Shanton nickte langsam. »Genau das denke ich auch.« Saam fragte: »Was ist Ihre begründetste Vermutung?« »Meine begründetste Vermutung«, erwiderte Chris Shanton, »ist die, daß Ihre Vermutung okay ist.« »Könnt Ihr das gegenseitige Bauchpinseln vielleicht mal lassen«, beschwerte sich George Lautrec lautstark, »und mir sagen, um welche Moleküle es sich dabei handelt?« Das konnten die beiden Geistesriesen nicht. »Dann will ich das mal selbst in die Hand nehmen«, erklärte der kanadische Wissenschaftler. Mit dem Rasterkraftmikroskop
führte er eine Oberflächenprüfung des Kammerinneren durch, wobei er sich vordringlich für Staub- und Partikelablagerungen interessierte. »Tofirit!« sagte er mit leichter Verwunderung, als er seine Untersuchung abgeschlossen hatte. »Die Kammer ist voll von Tofiritstaub ohne jede Verunreinigungen!« »Da haben wir unsere Moleküle«, sagte Saam. * Draußen neigte sich der Abend über Pittsburgh; im taghell erleuchteten Labor der Halle 33c verschwendete niemand einen Gedanken daran. Seit Stunden stellte das Team um Robert Saam und Chris Shanton fieberhaft Berechnungen an und brachte die Ergebnisse in Korrelation zu den Entdeckungen in der ELDRIDGE, die drunten in der Halle wie ein ausgeschlachteter Wal auf ihren A-Gravbettungen lag. Die Labortische waren überhäuft mit SuprasensorAusdrucken, sämtliche Schirme waren in Betrieb. Die Abfallkörbe quollen über von leeren Getränkebehältern, von Pappschachteln. Es roch intensiv nach Pizzen mit Artischocken und Sardellen. Und nach Arbeit! Nach sehr viel Arbeit. »Fassen wir also zusammen«, hob Saam seine Stimme, um sich der Aufmerksamkeit der anderen zu versichern. »Wenn man reines Tofirit seiner Elektronenhülle beraubt und die Kerne mit hoher Wucht kollidieren läßt, werden durch die uns bekannten, besonderen Eigenschaften des Superschwermetalles extrem hohe Energien freigesetzt. Sind wir uns soweit einig?« Allseitige Zustimmung. Saam fuhr fort: »Außerdem werden die Tofirit-Atomkerne durch die Kollision in ihre subatomaren Bestandteile zerlegt. In jene Partikel also, die zusammen mit den Elektronen die
Bausteine der Materie bilden. Auch hier Zustimmung?« Die hatte er. »Dann können wir davon ausgehen, daß das in Moleküle zerlegte Tofirit über dieses Nanotransportsystem aus dieser Kammer – wobei wir uns wohl alle darauf verständigen, sie als Tankraum zu bezeichnen – in den Ringbeschleuniger transportiert und dort in gezielten Kollisionen in seine subatomaren Bestandteile zerlegt wird. Diese wiederum werden an die Meiler der Mysterious-Schiffe weitergeleitet.« »Davon dürfen wir ausgehen«, bestätigte Saram Ramoya, »wir haben hier den langgesuchten Brennstoff der MysteriousMeiler.« »Genau. Den haben wir!« Das war, dachte Chris, das klassische Ergebnis der Umsetzung ursprünglich abstrakter Ideen in die Praxis. Nichts weiter als eine Frage der richtigen Einschätzung und Beurteilung vorgefundener Fakten und Daten durch den menschlichen Intellekt. Er war sehr stolz auf das Team – und auf sich. »Das würde auch erklären«, warf Lautrec ein, »warum die Anzeigen in den Ringschiffen oftmals Werte von mehreren hundert Prozent zeigen.« »Natürlich«, hieb Chris in die gleiche Kerbe. »Wenn der Ringbeschleuniger nicht arbeitet, inaktiv wird, aus welchen Gründen auch immer, wahrscheinlich hauptsächlich wegen fehlendem Nachschub an Energie, zehren die Meiler von ihren Brennstoffvorräten, bis sie irgendwann ertobit werden. Wobei wir endlich eine Entsprechung des Begriffs ›ertobit‹ in unserer Sprache haben. Er bedeutet ›verhungern‹ Die Meiler verhungern regelrecht, zehren dabei für den äußersten Notfall von der Materie ihrer eigenen Struktur und sind am Ende unbrauchbar. Tot.« »Jetzt verstehe ich«, sagte Lautrec. »Einen stetigen Tofiritnachschub vorausgesetzt, halten die Meiler praktisch
ewig, versetzen sich aber bei nicht mehr ausreichenden Tofiritvorräten in einen Sparmodus. Richtig?« »Darauf läuft es hinaus«, bestätigte Saam. »Nur im Notfall schalten sie auf volle Leistung, wobei dann Anzeigenwerte von vierhundert Prozent erreicht werden können. Allerdings zehrt dieses Hochschalten enorm an den Vorräten und läßt sie noch schneller schrumpfen.« »Tofirit als Brennstoff für die Mysterious-Raumer ist also der Schlüssel«, sagte Chris Shanton und runzelte die hohe Stirn. »Jetzt verstehe ich, warum die Anlagen im Höhlensystem von Deluge gefunden wurden, in unmittelbarer Nähe zu den Tofiritminen...« »Die meines Wissen nicht sehr ergiebig waren und so langsam zur Neige gehen dürften, wenn sie nicht schon gänzlich erschöpft sind«, brachte sich Regina Lindenberg zu Gehör. »Die Vorräte auf Deluge waren wohl bereits bei,den Mysterious knapp«, resümierte Robert Saam und fuhr sich mit den gespreizten Fingern beider Händen durch sein wirres Haar, das nach dieser Behandlung noch mehr durcheinander war. »Dies und der Umstand, daß wir erst heute die Betankungsmöglichkeiten der Ringschiffe durch Tofirit aufdeckten, ließ die vorhandenen Mysterious-Raumschiffe mehr und mehr funktionsunfähig werden. Aber das ist ja jetzt vorbei, Leute!« Er grinste plötzlich über das ganze Gesicht. »Wir«, fuhr er mit Begeisterung fort, »haben ja fast unbegrenzte Tofiritvorkommen, dank dieses ProspektorenEhepaares – wie hießen die noch mal?« Saam warf fragende Blicke um sich. »Jane und Art Hooker«, ließ ihn Chris Shanton wissen und setzte hinzu: »Die Menschheit kann den beiden gar nicht genug danken.« Saam nickte zerstreut. »Man wird ihnen sicherlich irgendwann irgendwo irgendein Denkmal setzen...«
»Wem wird ein Denkmal gesetzt?« erklang Terence Wallis' Stimme von der Tür her. »Den Hookers«, ließ ihn sein Protegé wissen. Terence Wallis trat näher, Eloquenz und weltmännisches Auftreten um sich verbreitend wie ein Nordlicht. Chris registrierte mit einem raschen Blick die teure Bundfaltenhose und die farbenprächtige, ärmellose Weste des Industriemagnaten und Multimilliardärs und wurde sich am Rande bewußt, daß er, wie die anderen auch, seit den frühen Morgenstunden pausenlos gearbeitet hatte. Von weltmännischem Flair war er etwa so weit entfernt wie der Mond von der Erde, was ihn allerdings nur sehr peripher tangierte. Er setzte andere Prioritäten. »Die haben sich schon selbst ein Denkmal gesetzt«, versicherte Wallis jetzt. »Durch den Vertrag, den sie mir abgeluchst haben, sind sie in den illustren Kreis der dreistelligen Millionäre aufgestiegen.« »Ehre wem Ehre gebührt«, knurrte der dicke Diplomingenieur und setzte in Gedanken hinzu: Das fuchst dich wohl am meisten, mein Lieber, daß du den beiden nicht das Fell über die Ohren ziehen konntest. »Aber lassen Sie sich durch meine Anwesenheit nicht weiter stören«, riet Wallis und nahm neben Regina Lindenberg Platz, die als einzige im Team so frisch wie der Morgentau wirkte. Ein Geheimnis der Frauen, das Chris niemals enträtseln würde. »Ich habe das mal durchgerechnet«, brachte Saam die Sprache wieder auf ihr ursprüngliches Problem, »und bin dabei auf recht erstaunliche Werte gekommen. Der Vorratsbehälter im Tankraum hat nach unseren Berechnungen ein Volumen von etwa einem Kubikmeter. Das bedeutet, daß er in der Lage ist, rund 480.000 Tonnen dieses Superschwermetalls aufzunehmen. Wird diese Materie vollständig zerstrahlt, wovon wir bei dem Mysterious-Antrieb ausgehen können, reicht die
gewonnene Energie aus, ein Schiff jahrelang zu betreiben. Irgendwann einmal, wenn unser Suprasensor-Nexus freie Kapazitäten hat, werde ich mir die Mühe machen, die genaue Dauer auszurechnen. Aber heute muß diese ungefähre Angabe genügen.« »So wie ich das sehe«, meldete sich Wallis zu Wort, »haben Sie, meine Dame, meine Herren, daß Problem gelöst und den Mysterious-Antrieb entschlüsselt.« »So gesehen, ja«, antwortete Saam ausweichend. »Du scheinst nicht ganz überzeugt zu sein, Robbie?« Chris begann innerlich zu grinsen, als er Saams Miene sah, der nichts mehr haßte, als die Verniedlichung seines Vornamens. Vor allem in Gegenwart anderer. Allerdings vermied er es, seinen Gönner und väterlichen Freund in aller Schärfe darauf hinzuweisen, wie er es bei anderer Gelegenheit mit Nachdruck tat. »Wir haben noch immer ein paar Probleme, die wir lösen müssen.« »Die haben wir«, bekräftigte Chris Shanton und nickte, daß seine Nackenhaare flogen. »Welcher Art?« »Wir versuchen, die Theorie in die Praxis umzusetzen. Wir müssen dies alles verifizieren, sozusagen am ›lebenden‹ Objekt überprüfen, nachprüfen, Fehler und Irrtümer ausschließen. Was in allererster Linie bedeutet, daß wir einen funktionstüchtigen Ringraumer benötigen.« »O-oh«, machte Regina. »Das dürfte schier unmöglich sein, so wie sich Marschall Bulton aufführt, wenn es um ›seine‹ Schiffe geht...« »Richtig«, Chris nickte ihr zu. »Aber es hilft nichts. Wir müssen einfach den Marschall davon überzeugen, daß er uns einen flugtüchtigen S-Raumer für ein paar Tage zur Verfügung stellt, damit ich mit dem Öffnungskode experimentieren kann.« »Öffnungskode?« Wallis zeigte sich interessiert.
Saam klärte ihn kurz darüber auf, was es mit der Empfangseinheit und dem Impulsgeber auf sich hatte. »Jetzt verstehe ich«, sagte der jugendlich wirkende Industriemagnat. »Okay, Marschall Bulton übernehme ich. Er ist mir noch einige Gefallen schuldig; er hat praktisch keine Chance, euren Wunsch abzulehnen. Wie schnell braucht ihr das Schiff?« »Ziemlich schnell. Wir befürchten nämlich...« Saam informierte Terence Wallis über seine und die Besorgnis der anderen, die sich auf eine ganz bestimmte Person konzentrierte, die mit einem Ringraumer namens POINT OF in der Galaxis Drakhon unterwegs war. Wallis erhob sich. »Dann mache ich mich besser gleich daran, die Sache in die Wege zu leiten. Einverstanden?« * Es geschah nicht oft, daß auf dem Werksgelände von Wallis Industries eine Captains-Gig der terranischen Flotte mit dem strahlenden Stern auf den Flanken landete, weshalb dem Shuttle von Alamo Gordo auch gebührende Aufmerksamkeit zuteil wurde. Eine Aufmerksamkeit, die Marschall Ted Bulton zuwider war. Und so beeilte er sich, in der Schleuse der TERMINUS zu verschwinden, die seit geraumer Zeit auf dem Vorfeld des Laborkomplexes 33c stand; die Sicherheitsmänner der TF, die für des Marschalls Unversehrtheit Sorge tragen sollten, mußten sich sputen, um Schritt zu halten. Noch im Schleusenraum wurde Ted Bulton vom Kapitän der TERMINUS, Pat Duvice, begrüßt, der ihn umgehend zum Lagerraum auf Deck Eins geleitete, in dem Chris Shanton und einige Techniker von Wallis Industries bereits auf ihn warteten. »Sie wissen schon«, sagte Bulton nach der knappen Begrüßung zu Shanton, »daß ich nur sehr, sehr ungern eines meiner kostbaren Schiffe für Ihre Experimente zur Verfügung
stelle. Aber das, was Mister Trawisheim und ich von Ihnen zu hören bekommen haben, hat uns bewogen, Ihren Wünschen zu entsprechen. Übrigens soll ich Ihnen und dem Team Mister Trawisheims Bedauern übermitteln, nicht anwesend sein zu können, doch dringende Staatsgeschäfte halten ihn davon ab. Ren Dhark ist leider noch immer nicht aus der Galaxis Drakhon zurückgekehrt. Aber kommen wir zu Ihnen. Was genau wollen Sie mir demonstrieren? Sie erwähnten, meine SRaumer durch die Bank alle wieder betanken zu können? Wenn das zuträfe – mein Gott! Ich wäre mit einem Schlag einen Großteil meiner Sorgen los. Aber sagen Sie schon, womit wollen Sie das erreichen?« »Hiermit!« Shanton hob das kleine Gerät hoch, das er gebaut und getestet hatte. »Damit?« Bulton zeigte sich wenig überzeugt. Seiner Miene war zu entnehmen, daß er es fast ein wenig bedauerte, seine Zeit und vor allem eines seiner Schiffe geopfert zu haben. »Genau damit«, versetzte der massige Diplomingenieur und schob seinen Bauch angriffslustig vor. »Sie kennen inzwischen die Vorgeschichte, wissen, wie wir auf der ELDRIDGE den ringförmigen Antrieb und die beiden Kammern fanden, eine davon die Kollisionskammer, die andere die Stripper-Kammer. Was fehlte, war der Tankraum. Wir fanden ihn an einer völlig unerwarteten Stelle.« »Hier etwa?« Marschall Bulton machte eine Handbewegung, die den Laderaum umschloß. »Genau hier. Wir waren nicht weniger überrascht als Sie, Marschall.« »Und mit diesem Impulsgeber haben Sie den... den...« »Tankraum«, half ihm Robert Saam. »... den Tankraum – danke, Mister Saam – so ohne weiteres öffnen können?« »So ohne weiteres nicht. Der große Suprasensor-Nexus von Wallis Industries hat geschlagene achtzehn Stunden benötigt,
den Öffnungsalgorithmus zu finden. Aber jetzt besitzen wir den Kode der Mysterious.« Voller Stolz sträubte sich Shantons Backenbart. »Okay, dann beginnen Sie mal mit Ihrer Demonstration. Schließlich bin ich eigens dafür hergeflogen.« Der Diplomingenieur wandte sich zunächst an den Kapitän der TERMINUS. »Ist die Brücke besetzt, Mister Duvice?« »Jede einzelne Konsole. Mein Erster überwacht jede Veränderung an den Instrumenten. Reicht das?« »Okay. Das sollte genügen.« Ein bißchen arg dramatisch, was er da abzieht, der Gute, dachte Robert Saam und grinste innerlich. Doch dann sagte er sich, daß er es genauso machen würde. Die Menschen mußten beeindruckt werden. Waren sie genügend beeindruckt, konnte man von ihnen fast alles haben. Ob das nun ein mehlverarbeitender Techniker in der Großbäckerei war oder ein Marschall der terranischen Raumflotte. Shanton drückte einige Knöpfe auf dem noch recht primitiv wirkenden Gerät. Im Laderaum begann etwas zu summen, dann öffnete sich die Klappe in der Unitallverkleidung. Der Marschall und Kapitän Duvice sahen sich an, beide gleichermaßen überrascht, hatte doch keiner von ihnen erwartet, zu sehen, was sich ihren Blicken bot. In der Kammer schien ein feiner, blauschimmernder Nebel zu wabern – die Eindämmungs- und Kraftfelder, die verhinderten, daß sich der Zerlegungsprozeß des Materials in Moleküle verselbständigte und das Schiff innerhalb eines Augenblinzelns zerstrahlte. Unmittelbar hinter der Klappe befand sich der Vorratsbehälter, der, wie sich zeigte, kaum noch Tofirit enthielt. Ein paar Bröckchen des roten Erzes lagen ziemlich verloren herum. Shanton schätze ihr Gesamtgewicht auf 30 Kilogramm, wenn überhaupt. Die TERMINUS lief also bereits auf Sparflamme, zehrte von den Resten und vielleicht
schon von der eigenen Substanz. Dies alles erklärte Robert Saam dem gebannt lauschenden Marschall sowie dem Kapitän. »Und jetzt Käpt'n, werden wir Ihren Kahn...« Ted Bulton räusperte sich drohend, während Pat Duvice verhalten grinste. »... ähm, Ihr schönes Schiff mal so richtig bis zur Unterkante Oberlippe volltanken.« Saam nickte Shanton zu. Der winkte, ohne sich umzudrehen, nach hinten. Aus dem Hintergrund schob sich eine Beschickungsautomatik für kleine Tofiritkugeln von 5 cm Durchmesser auf ihrem A-Gravkissen heran. Marschall Bulton blinzelte überrascht. »Woher haben Sie denn diese Tofiritkugeln?« Während die Automatik den Vorratsbehälter zu füllen begann, erwiderte Saam: »Ist eigentlich die Munition für die Wuchtkanone, die augenblicklich bei uns in Serienproduktion geht.« »Ich sehe, ich sehe«, murmelte Ted Bulton. »... sagte der Blinde zum Gehörlosen«, vervollständigte Chris Shanton mechanisch die uralte Redensart und erntete dafür nur verweisende Blicke von allen Seiten. Während des Füllvorganges überlegte sich Chris Shanton in einem Anflug von Fatalismus, daß sich hier rund 480.000 Tonnen eines Materials auf einem Raum von nicht mehr als einem Kubikmeter Volumen drängten. Nur von Antigravfeldern davon abgehalten, unverzüglich und mit unwiderstehlicher Gewalt die Unitall-Verbände des Ringraumers zu zertrümmern, das Schiff zu zerstören, sich einen Weg nach unten durch seine Hülle zu bahnen und spurlos im Erdboden zu versinken. Eine Vorstellung, die ihm den Schweiß auf die Stirn trieb. Ohne sein Zutun entrang sich ihm ein leises Ächzen. »Was haben Sie? Ist Ihnen nicht gut?« erkundigte sich Marschall Bulton, der ihm am nächsten stand, und betrachtete
ihn mit einem Anflug von Besorgnis. »Nein, nein«, versicherte Chris und schalt sich einen Narren ob seiner Gedanken. »Mir fehlt nicht das Geringste.« »Sie sollten vielleicht das Essen etwas einschränken, mein Lieber«, riet ihm der Marschall mit einem anzüglichen Blick auf seinen Leibesumfang. »Dann mal etwas mehr Sport treiben. Vor allem aber das Saufen lassen. Glauben Sie einem alten Kämpen wie mir. Die Frauen und der Alkohol sind des Mannes Untergang.« »Ha, ha«, machte Chris. »Ich lache gleich.« »Tun Sie das«, grinste der Marschall maliziös. »Lachen ist ebenfalls gesund.« Der Füllvorgang war abgeschlossen. »Das wär's«, sagte der Techniker. »Damit hat die Mühle Saft für die nächsten Jahrzehnte.« Chris räusperte sich warnend, aber Marschall Bulton hatte sich entschlossen, auf derart unmilitärische Bemerkungen des Personals von Wallis Industries nicht zu reflektieren. Chris betätigte den Impulsgeber. Die Klappe zum Tankraum schloß sich. »Wie lange wird es dauern, bis wir eine Reaktion bekommen, voraussichtlich?« »Vermutlich nur Sekunden. Warten wir halt so...« »Hier Zentrale«, sagte plötzlich eine Stimme. »Erster Offizier Merling. Was habt Ihr angestellt dort unten? Alle Anzeigen verändern sich, sie gehen in einen anderen Betriebsmodus. Wow! Das Schiff verfügt mit einem Mal über erheblich mehr Energie als bisher!« »Kein Grund zur Besorgnis, Willem«, beruhigte Kapitän Duvice. »Wir wurden nur aufgetankt.« »Wie?... Was? Sir...« »Erkläre ich Ihnen, wenn ich auf die Brücke komme.« »Verstanden, Sir!« Ein Knacken zeigte an, daß sich der Erste aus der
Schiffskommunikation ausgeschaltet hatte. Marschall Bulton lief im Laderaum auf und ab, und jeder konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. »Unglaublich«, murmelte er. »Nicht zu fassen. Ich muß sofort nach Alamo Gordo zurück und... ja, Mister Shanton?« Er sah den Diplomingenieur an. »Ich glaube, Sie sollten ein bißchen weiter fliegen als nur nach Alamo Gordo, Marschall.« »So? Sollte ich? Weshalb? Und wohin?« Bultons Brauen sträubten sich. Von einem Zivilisten gesagt zu bekommen, was man tun sollte, war seine Sache nicht. Man konnte es ihm deutlich ansehen. »Sie sollten sofort mit einem Schiff nach Drakhon aufbrechen, um dem Commander der Planeten eine Ladung Tofiritkugeln zu bringen. Denn sehen Sie, Sir, auch die POINT OF läuft Gefahr, daß ihre Meiler ertobit werden. Und eine POINT OF ohne Energie in Drakhon – davor bewahre Ren Dhark und uns die Allmutter der Intelligenz.«
6. Bardein redete mit Stimme, Händen und Füßen und schaffte es, Morkar zu einer Zusammenarbeit zu überreden. Dafür log er das Rote vom Himmel, nur konnte das Morkar nicht ahnen, weil er noch nie betrogen worden war. Er hatte auch noch nie rosahäutige Owiden gesehen, nur davon gehört, daß es sie geben sollte, und jetzt saß er ihnen gegenüber. Morkars Stamm lebte zurückgezogen im Dschungel. Sie nahmen, was der Wald ihnen schenkte, und gaben dem Wald, was er dafür forderte. Mehr brauchten und mehr wollten sie nicht. Ihre Welt war ein Paradies. Einige von ihnen, die hin und wieder den Dschungel verließen, erzählten erstaunliche Dinge. Sie berichteten von den Rosahäutigen, die ihre Körper unter gegerbten Tierhäuten oder einem sonderbaren anderen Material verbargen, die Waffen besaßen, mit denen man töten konnte, ohne daß diese Waffen die Hand verließen, und die dabei wie das Brüllen des Donnergottes klangen; sie berichteten von anderen Kungen, die bei den Rosahäutigen lebten und für sie arbeiteten. Waren die Rosahäutigen, die sich Korlonen oder Ganten nannten, denn so krank oder schwach wie die Alten, daß sie andere brauchten, um leben zu können? Warum taten sie nicht selbst, was zum Leben nötig war? Und das war doch wirklich nicht viel – wenn man Hunger hatte, pflückte man Früchte vom Baum oder erlegte ein Tier, wenn man Durst hatte, suchte man eine Quelle auf oder hackte eine Öffnung in einen Wasserbaum. Und wenn man Lust hatte, sich zu paaren, tat man das einfach. Diese Gruppe von Ganten, wie die Rosahäutigen sich nannten, schienen letzteres nicht gewohnt zu sein, denn sie sahen immer wieder erstaunt zu einigen Kungen hinüber, die
völlig ungeniert vollzogen, was die Natur ihnen vorgab; dabei verfärbte sich ihre Gesichtshaut teilweise ins Dunkle, was selbst im flackernden Schein der kleinen, rauchlosen Feuer zu beobachten war, die in Erdgruben brannten und deren Funken nichts Brennbares außerhalb dieser Gruben berühren konnten. Was die Ganten sahen, schien ihnen unangenehm zu sein und doch ihre Neugier zu wecken, denn sie waren eindeutig erregt; Morkar konnte es riechen. Als er Bardein fragte, zögerte der mit der Antwort und gestand schließlich stockend, daß sich »zivilisierte Wesen«, wie er sich ausdrückte, zur Paarung in verschlossene Räume zurückzogen, statt es vor aller Augen zu tun. Morkar verstand das nicht. Es war doch kein Geheimnis! Und wie sollten die Kinder lernen, wie man's machte, wenn sie es nicht beobachten konnten? Man lernte doch nur vom Zuschauen und Nachmachen! »Ihr Ganten müßtet längst ausgestorben sein«, brummte Morkar verständnislos. Krank und schwach wie die Alten sahen die Ganten dabei nicht einmal aus, sondern standen in vollem Saft ihrer Lebensblüte, wie jeder Kunge sehen und riechen konnte. Trotzdem versteckten sie ihre Körper unter diesen seltsamen Stoffen, und wenn sie nicht unterschiedliche Gesichter hätten, hätte kein Kunge den einen Ganten vom anderen unterscheiden können, weil diese Kleidung, wie sie es nannten, gleich war. »Uniformen«, nannten sie es. Einmal, als Morkar krank gewesen war, waren die kranken Teile seines Körpers in gegerbte Tierhaut gehüllt worden, die die Heilerin mit Pflanzensäften und Zopp-Blut getränkt hatte, aber Morkar hatte geglaubt, nicht mehr atmen zu können, und ihm war unter der Tierhaut heiß geworden, und er war froh gewesen, als er sie endlich wieder ablegen konnte. Daß es jemanden gab, der sich freiwillig so einwickelte, konnte er nicht verstehen. Das war doch nicht normal!
Diese Rosahäutigen konnten nicht bei Sinnen sein. Aber scheinbar waren sie fähig, Blauhäutige ebenso verrückt werden zu lassen, denn die Kungen, die hin und wieder den großen Wald verließen und von Ganten und Korlonen erzählten, berichteten auch, daß viele der Kungen, die den Rosahäutigen dienten, ihre Körper ebenfalls mehr oder weniger verhüllten. Einen ganzen Tag lang waren Bardein und seine sechs Begleiter jetzt schon Gäste von Morkars Stamm, aber Morkar verstand die Ganten immer noch nicht, was nicht an der Sprache lag, die zwar etwas anders klang und manchmal unverständliche Wörter besaß, die erst erklärt werden mußten, sondern einfach an der unterschiedlichen Denkweise. Ein wenig war Morkar auch unheimlich, was Bardein erzählte. Er sprach davon, daß eine Gruppe Kungen, von Korlonen angestiftet, unterwegs sei, um Bardeins Stamm zu massakrieren. Auch Wesen, die nicht wie Owiden aussahen, seien dabei. Er forderte Morkar auf, den Mördern zuvorzukommen, und er wollte, daß die Fremden ihm und seinen Begleitern übergeben würden. Möglichst lebend. Die Ganten wollten natürlich nicht nur warnen, sondern Morkars Leuten auch tatkräftig mit ihren lauten Waffen helfen, den Kampf heil zu überstehen. »Warum sollten Kungen Kungen töten wollen?« fragte Morkar, und auch andere seines Stammes äußerten Zweifel. Der Wald war so groß, daß er Platz für alle bot. Das war schon immer so gewesen, und selbst wenn man verschiedene Sprachen hatte, hatte man doch Lieder, mit denen man sich verständigen konnte! »Diese Fremden haben sie aufgehetzt! Sie haben sie dummgeredet, und die Korlonen machen dabei mit, weil sie auch dummgeredet worden sind!« behauptete Bardein. »Und wer sagt uns, daß nicht du jetzt uns dummredest?« fragte Morkar.
Doch er konnte den Ganten damit nicht aus der Fassung bringen. Der hatte sofort eine Erklärung. Und er und seine Begleiter erzählten immer mehr, trugen grausige Geschichten vor von blutrünstigen, mörderischen Fremden, von einer Schlacht auf dem Meer, bei dem die von den Fremden aufgehetzten Korlonen Tausende von Ganten ermordet und ihre Schiffe versenkt hatten. Zunächst war die Geschichte unglaublich, aber als die Ganten erzählten, daß jene Schiffe den Booten ähnelten, mit denen Kungen die Flüsse in den Dschungeltälern befuhren, nur zehn mal zehn mal größer, schwanden Morkars Zweifel allmählich, weil er schon davon gehört hatte, daß bei den Rosahäutigen so gut wie alles viel größer war. Die Ganten schmückten ihre Schauergeschichten weiter aus. Und irgendwann ahnte Morkar, daß es für seinen Stamm tatsächlich ums Überleben ging. »Aber reicht es nicht, wenn wir diese fremden Dummredner töten?« fragte er. »Nein«, sagte der Gante. »Die wollen wir lebend haben, um sie bestrafen zu können, denn sie haben noch viel mehr von uns getötet, als dein Stamm an Seelen zählt. Daher haben nur wir das Recht, sie zu töten, und zwar so, daß sie tausend Tode sterben.« »Das ist grausam«, sagte Morkar. »Grausam ist es, was jene unserem Volk antaten, die von den Fremden aufgehetzt wurden.« Und irgendwann war Morkar einverstanden. * Bardein, Agent des gantischen Geheimdienstes, kratzte sich zufrieden mit verschränkten Armen an den Ellenbogen – das Äquivalent zum terranischen Händereiben. Er hatte erreicht, was er wollte. Er würde Cafers Expedition überfallen und
ausschalten können. Und damit bekam er auch die Fremden in die Hand, die aus Weltraumtiefen nach Owid gekommen waren und den Korlonen ihr technologisches Superwissen zur Verfügung gestellt hatten. Diese Fremden mußten unbedingt den Ganten verfügbar gemacht – oder getötet werden! Was sie angerichtet hatten, war jetzt schon schlimm genug. Wenn sie den Korlonen weiter halfen, würden die den Krieg gewinnen und den Ganten ihr eigenes System aufzwingen, das sie »freiheitlich« nannten. Das bedeutete, daß viele gantische Würdenträger und hohe Offiziere, zu denen auch Bardein gehörte, ihre Macht und ihren Einfluß, vielleicht auch ihren Reichtum, verlieren würden. Dem Sieger gehörte alles, der Verlierer konnte froh sein, wenn er sein Leben behielt, und wer in Gante jetzt Macht besaß, würde im Straßengraben landen oder gar eingesperrt oder hingerichtet werden. Um das zu verhindern, waren Bardein und seine Leute hier. Und die Chancen standen gut, es zu schaffen! Sie waren den Fremden nach Undo gefolgt. So, wie die Fremden von einem korlonischen U-Boot hierher gebracht worden waren, waren die gantischen Agenten ihnen mit einem ihrer U-Boote gefolgt und hatten es dabei geschafft, nicht bemerkt zu werden. Vielleicht hatten die Korlonen nicht damit gerechnet, daß man ihnen auf die Schliche kam. Erst recht nicht nach der vernichtenden Niederlage, die die Korlonen der gantischen Flotte durch die Hilfe der Fremden zugefügt hatten. Aber ein gantischer Spion hatte die entsprechenden Informationen geliefert, und so konnten die Ganten reagieren. Was die Fremden auf Undo wollten, war nicht eindeutig klar geworden, aber sie schienen etwas zu suchen. Die Hilfe bei der Suche hatten sie sich wohl erkauft, indem sie den Korlonen kriegstechnisches Wissen lieferten. Als das korlonische U-Boot im Handelshafen von
Korlonisch Nordwestundo einlief, war das gantische Boot außerhalb der Sichtweite in Ufernähe gegangen. Die Agenten schwammen an Land. Einer von ihnen hatte sich mit ein paar Kungen unterhalten, die zu Gouverneur Cafers Plantage gehörten. Da er keine zivile Kleidung mit sich führte, sondern in gantischer Uniform auftreten mußte, wenn er den Kungen nicht nackt gegenübertreten wollte, war er gezwungen, sie anschließend zu töten, damit sie ihn nicht durch einen dummen Zufall verraten konnten – immerhin waren Kungen nicht nur als sangesfreudig, sondern auch als recht geschwätzig bekannt. Es war ein Fehler, keine Tarnkleidung mitzuführen. Aber der Einsatzbefehl war sehr kurzfristig gekommen. Aber nun wußten sie, daß die Fremden in den Dschungel wollten. Und dort gab es wilde Kungen, die ihrer ursprünglichen Lebensweise nachgingen, sich von der Hand in den Mund ernährten und damit zufrieden waren, statt nach Höherem zu streben, wie es in der Natur zivilisierter Owiden lag. So sehr Ganten und Korlonen auch versuchten, den Barbaren ihre Kultur nahezubringen, so erfreut war Bardein derzeit darüber, daß es noch Wilde gab, die man beschwatzen konnte, weil sie nicht die geringste Ahnung von dem hatten, was außerhalb ihres Urwalds vorging. Was die Fremden im Dschungel suchten, interessierte Bardein nicht. Es lagen keine entsprechenden Befehle vor. Sein Auftrag lautete nur, die Fremden gefangenzunehmen – oder, falls das nicht möglich war, sie unschädlich zu machen. Und Morkars Leute würden ihm dabei helfen. Da sie nur eine kleine Gruppe und relativ gut bewaffnet waren, hatten sie die Expedition überholen können, die durch das große Begrüßungsfest auch noch Zeit verloren hatte. Die Logik sagte, wie und wo sie in den Dschungel vorstoßen mußten, und Bardein war ihnen so immer einen Schritt voraus. Einen Schritt? Viele Schritte... Sprünge! Er besaß genug
Vorsprung, in aller Ruhe die Falle vorzubereiten, die er den Verfolgten stellen wollte. Es gab praktisch nur einen Weg, den sie nehmen mußten. Und irgendwo auf diesem Weg würde es passieren. Und das beste war: Cafer konnte nicht mit einem Überfall rechnen. Denn auch die »wilden« Kungen galten als friedlich. Und daß gantische Agenten sich auf Undo nicht nur auf ihre Beobachterrolle beschränkten, sondern aktiv wurden, war einfach unvorstellbar. Es verstieß gegen die Spielregeln, nach denen der Krieg nicht von Gawa nach Undo getragen werden durfte. Bardein war sich darüber im klaren, daß er möglicherweise der erste Owide war, der diese Spielregeln brach – sie brechen mußte, wenn er seinem Volk und seinem Staat dienen wollte. Aber er wagte nicht, sich die Konsequenzen vorzustellen. Er hoffte, daß alles glatt über die Bühne ging und niemand etwas von der Aktion mitbekam. Der korlonische Gouverneur Cafer brach mit den Fremden zu einer Dschungelexpedition auf, und die ganze Expedition verschwand spurlos. Allenfalls würde man glauben, daß die Fremden dafür verantwortlich waren – es durfte keine Hinweise auf ein Eingreifen von außen geben! Und wenn Bardein seinen Auftrag erledigt hatte, stand das Wissen der Fremden entweder Gante zur Verfügung, oder niemandem mehr, weil sie dann tot waren.
7. War dies wahrhaftig ein Unterschlupf, eine verlassene Basis der verhaßten Erbfeinde? Konnte diese unterirdische Anlage tatsächlich von denjenigen erbaut worden sein, die den Nomaden einst ihre Heimat gestohlen hatten...?! Priff Dozz starrte auf das jähe Ende der Wegstrecke, das Ende der Schienen, vor dem er in Begleitung eines weiteren Nomaden, den Pakk Raff ihm an die Seite gestellt hatte, angelangt war. Der Name dieses Begleiters war Noff Xakk, und er überragte Priff Dozz um mehr als Haupteslänge. Der Berater des obersten Rudelführers aller Nomaden bezweifelte, daß Pakk Raff ihm den Hünen als reinen Beschützer mitgegeben hatte. Vielmehr befürchtete der Anführer der Gestrandeten in der gegenwärtigen Lage wahrscheinlich, daß ihm die ohnehin angekratzte Loyalität von Priff Dozz nun vollends abhanden kommen könnte. Letztlich war es nur ihm, Dozz, zu verdanken, daß sie den tückischen Dschungel hinter sich gelassen und eine relativ sichere Zuflucht in dieser uralten unterirdischen Station hatten finden können, die sich wie ein furchtbares Geschwür endlos weit unter der Planetenkruste auszudehnen schien. Auch wenn sie hier plötzlich endete. »Eine Explosion«, analysierte Noff Xakk nüchtern. Er war hinter Dozz aus dem voll funktionstüchtigen Vehikel gestiegen, das – falls die Schlußfolgerungen des Beraters zutrafen – auch ein Produkt einstiger Rahim-Hochtechnologie war. Einstiger... Der Begriff suggerierte, daß es die Rahim nicht mehr gab. Doch genau daran hegte Priff Dozz mit jeder Zeiteinheit, die er auf Owid zubrachte, mehr als nur Zweifel. Und obwohl Pakk Raff es nicht offen zur Sprache brachte, war er überzeugt, daß es dem Rudelführer ähnlich erging.
Der Kubus war mit großer Wucht auf der Oberfläche dieser eigentlich unwichtigen Welt aufgeschlagen; die Rettungsvorrichtungen hatten nicht in dem Maß gegriffen, wie es idealerweise hätte sein sollen. Dennoch hatten fast alle Insassen des Kubus ohne größere Verletzungen überlebt... ... nicht überlebt hatten jedoch diejenigen Besatzungsmitglieder des ehemaligen Flaggschiffes, die es nicht rechtzeitig in die würfelförmige Rettungssektion geschafft hatten. Eine Vielzahl Frauen und Kinder befanden sich unter den beklagenswerten Opfern, denn die Schiffe der Sternenzigeuner waren nicht nur Werkzeuge zum Kämpfen, Handeln und Plündern, sondern auch deren Lebensstätten. Auf den Schiffen wurde Nachwuchs geboren, und es wurde gestorben. Trotz aller Bemühungen war die Zahl der letzten Nomaden rückläufig, was nicht allein in den Verlusten begründet lag, die kriegerische Überfälle auf andere Schiffe und Welten forderten. Es schien, als hätte der Weltraum selbst, der Kosmos, etwas dagegen, daß Priff Dozz' Volk eine Zukunft hatte. Über Generationen hinweg hatte sich die veränderte galaktische Hintergrundstrahlung äußerst nachteilig auf die Fruchtbarkeit der Nomaden ausgewirkt – sowohl die der Männer als auch der Frauen. Trotz fortschrittlicher Technik und fähiger Wissenschaftler war es immer häufiger zu Mißbildungen unter Neugeborenen gekommen, und ganz generell stellte sich Nachwuchs immer seltener ein... »Ja«, bestätigte Dozz, »eine Explosion.« Er hob den Arm und wies zur Decke hinauf. »Aber sie fand nicht hier unten in der U-Bahnanlage statt, sondern hatte ihre Ursache an der Oberfläche.« »Eine Bombe.« »Vermutlich.« »Das heißt«, knurrte Noff Xakk, »dieser Ort war umkämpft. Feinde der Rahim...« Der Nomade zog die Lippen zurück,
entblößte sein tückisches Gebiß. »Ich würde sie gern in die Arme schließen, diese unbekannten Freunde...!« Eine simple Logik, dachte Dozz erschüttert. Nur ein Narr kann glauben, daß die Feinde eines Feindes automatisch seine Freunde sind. Laut sagte er: »Es ist lange her. Wie alles hier unten lange aufgegeben ist.« »Aber sie lagen im Krieg mit jemandem – oder bist du anderer Meinung?« »Nein, es ist naheliegend.« »Mit den Owiden?« »Unsinn! Diese Primitiven haben keine Waffen von dieser Sprengkraft. Nein, wenn unsere Vermutung zutrifft, dann muß es wenigstens ein Gegner auf unserer Entwicklungsstufe gewesen sein.« »Möglicherweise waren es Vorfahren von uns. Was spricht dagegen?« »Nichts. Außer dem Wunsch, es möge nicht so gewesen sein.« »Warum nicht?« »Weil wir dann davon ausgehen müssen, daß die Rahim sämtliche Angreifer eliminiert haben und erst danach ihren Stützpunkt freiwillig aufgaben.« »Wie kommst du darauf?« »Hätte es Überlebende gegeben, die heimgekehrt wären, wären unsere Überlieferungen voll von Lobgesängen für jene, die den Rahim die Stirn geboten haben!« »Du hast recht.« »Ich weiß. Und jetzt... laß uns umkehren. Hier führt kein Weg weiter. Die Massen, die herabgestürzt sind, lassen sich mit unseren Mitteln nicht beiseiteräumen. Uns bleibt nur der Weg, den wir gekommen sind.« »Pakk Raff wird nicht begeistert sein von den Erkenntnissen, die wir mitbringen.« »Nein«, bestätigte Priff Dozz. »Aber wann war er das je?«
*
Der Zug bewegte sich völlig lautlos und mit unerhörtem Tempo. Er besaß universelle Sitzgelegenheiten, die eine annähernd humanoide Spezies vor keine sonderlichen Probleme stellten, auch wenn die Bequemlichkeit zu wünschen übrig ließ. Aber Bequemlichkeit war das letzte, worauf Priff Dozz momentan Wert legte. Er wußte, worum es ging: ums nackte Überleben in einer ihnen prinzipiell feindlich gesinnten Umgebung! Anfänglich hatte er Zweifel gehegt, ob es wirklich eine glückliche Fügung des Schicksals gewesen war, die ihnen den Weg in die Unterwelt des Planeten gewiesen hatte. Inzwischen sah er darin trotz aller latenter Gefahren eine einmalige Chance. Erst recht, wenn sich der Verdacht weiter erhärtete, daß sie auf ein Vermächtnis der Rahim gestoßen waren... Dozz schloß die Augen, ignorierte dadurch Noff Xakks Gegenwart völlig und ließ vor seinem geistigen Auge noch einmal Revue passieren, was alles passiert war, seit das Flaggschiff über Owid die vernichtenden Einschläge fremder Waffen hatte hinnehmen müssen. An mehreren Stellen der Kreuzkonstruktion war es zu Hüllenbrüchen gekommen. Letztlich hatte Pakk Raff keinen anderen Ausweg mehr gesehen, als den Evakuierungsbefehl zu geben. In diesem speziellen Fall hieß das: Ausgesuchten Besatzungsmitgliedern war der Zutritt zum Kubus gewährt worden, dem Verbindungselement der Kreuzbalken, der eine autarke Einheit bilden und losgesprengt vom Rest des Schiffes selbständig manövrieren konnte. Doch auch der Kubus war verfolgt und angegriffen worden. Auf seiner Flucht war er plötzlich in das Schwerefeld des
unsichtbaren Planeten geraten, der sich als Owid entpuppt hatte. Bald nach Eintritt in dessen Atmosphäre hatten schlagartig sämtliche Energieerzeuger versagt. Nur mittels der in den Speicherbänken befindlichen Notenergie war es gelungen, den freien Fall des Würfels überhaupt noch abzubremsen. Dennoch war der Aufschlag äußerst unsanft erfolgt. Der Kubus war dabei so schwer beschädigt worden, daß er kurz darauf von den letzten ihm innewohnenden Energien zerstört worden war. Zuvor war es jedoch gelungen, die Insassen ins Freie zu befördern. Wie durch ein Wunder hatten alle überlebt. Und wenn Priff Dozz ehrlich war, verdankten sie das durchaus dem beherzten Eingreifen von Pakk Raff und... ... und ihr. Als seine Gedanken bei Bidd Nobb anlangten, schauderte Priff Dozz kurz. Mehr denn je verband ihn eine Haßliebe mit seiner Gefährtin, die in keinster Weise dem Schönheitsideal der Nomaden entsprach und darüber hinaus auch noch – wie man so schön sagte – Blut auf den Zähnen hatte. Bidd Nobb war eine keifende Zumutung. Im Gegensatz zu den drei Frauen, die Pakk Raff als Rudelführer für sich selbst beanspruchte und die ihm Dozz seit jeher neidete, insbesondere eine von ihnen... Er ballte die Hände zu Fäusten, daß es in den Gelenken knackte. Ansonsten war nur Noff Xakks hechelnder Atem zu hören. Priff Dozz hielt die Augen geschlossen. Ihm blieb noch etwas Zeit, die er nicht damit verbringen wollte, Konversation mit Xakk zu betreiben. Etwa die Hälfte der Fahrtstrecke zurück zu der Station, wo die Gestrandeten warteten, war zurückgelegt. Die Station. Nur durch einen glücklichen Zufall war sie überhaupt entdeckt worden.
Und ohne ihn, Priff Dozz, würden sie vermutlich immer noch durch den Dschungel Owids irren, der ständigen Gefahr von Angriffen blutrünstiger Bestien ausgesetzt. Mit einem Riesen hatte alles begonnen. Sie waren auf eine Lichtung zumarschiert, auf der sie ihr Nachtlager hatten aufschlagen wollen. Doch plötzlich war ein goldener Koloß auf sie zugewankt, in seiner Erscheinung bis ins kleinste Detail einem Nomaden nachempfunden, aber ins Riesenhafte vergrößert. Zunächst war auch Priff Dozz vor Schreck wie gelähmt gewesen. Doch dann hatte er bemerkt, daß der anstürmende Gigant weder Bäume noch Büsche auch nur beiseite gebogen, geschweige denn zertreten oder geknickt hatte. Während sich die anderen zur Flucht wandten, war Dozz stehengeblieben. Doch nicht einmal dieser vermeintliche Mut hatte ihm Anerkennung verschafft oder sein Ansehen verbessert. Sein Stand unter den Nomaden würde immer der eines widerstrebend Gelittenen bleiben, den einzig Pakk Raffs Gunst davor bewahrte, bei einem Rangkampf in Stücke gerissen zu werden! Priff Dozz war das Paradebeispiel eines Schwächlings – das Paradebeispiel eines Kümmerlings, der normalerweise keine große Überlebenschance hatte. Allein seine Intelligenz hatte ihn bislang vor einem schnellen Tod bewahrt. Und das auch nur, weil es Pakk Raff an eigener Intelligenz mangelte und er sich zumindest nicht zu schade war, sie sich von einem »Berater« zu holen. Priff Dozz war dem Rudelführer also auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Aber was würde passieren, wenn Pakk Raff eines nicht mehr allzu fernen Tages von einem noch stärkeren, noch skrupelloseren Herausforderer abgelöst wurde? Dann wäre auch Priff Dozz' Zukunft entschieden. Nicht zuletzt diese Überlegungen hatten ihn bei aller
fehlenden Tapferkeit dazu verführt, konspirativ gegen Pakk Raff tätig zu werden und heimlich andere Schwächlinge, andere Unterdrückte um sich zu scharen. Zu dem erträumten Putsch war es jedoch nie gekommen. Statt dessen würden sie vielleicht den Rest ihres Lebens auf diesem Planeten gefangen bleiben... Als könnte Noff Xakk Gedanken lesen, fragte er unvermittelt: »Wie wußtest du eigentlich, wie man die Symbole bedient, die wir an diesem tempelartigen Bau entdeckten, nachdem wir an dem Wächter-Hologramm vorbei waren?« Priff Dozz sah sich genötigt, nun doch wieder die Augen zu öffnen. »Intuition«, sagte er. »Man könnte auch sagen, ich habe meinen Grips angestrengt.« »Grips?« »Mach dir keine Gedanken über Eigenschaften, die du nicht besitzt.« Die Augen von Noff Xakk schienen sich mit Blut zu füllen. In diesem Augenblick hielt der Zug. Was sich durch kein spürbares Abbremsen ankündigte. Lediglich die Türen glitten auf. Sie waren an den Ausgangspunkt ihrer Reise zurückgekehrt. In den Bahnhof, in dem Pakk Raff und das Rudel der Überlebenden auf sie warteten. * »Es kommt zurück!« Es... das Fahrzeug, mit dem die zwei Kundschafter aufgebrochen waren. Pakk Raff blickte von dem Stück rohen Fleisch auf, das er zwischen den Händen hielt. Es stammte von einem erlegten einheimischen Tier und enthielt laut Analyse keine Stoffe oder
Keime, die einem Nomaden gefährlich werden konnten. Aber es schmeckte sonderbar. Als wäre es verdorben... Immer noch besser als die Konzentratnahrung, die wir aus dem Kubus gerettet haben, dachte der Rudelführer säuerlich. Dann schleuderte er den blutigen Klumpen in Richtung des wartenden Triumvirats seiner Gefährtinnen. Die ohnehin beweglichste fing es auf und stieß einen triumphierenden Schrei aus. Damit war die Sache jedoch noch lange nicht erledigt. Die beiden anderen Frauen begannen eine wüste Rangelei um das begehrte Frischfleisch. Pakk Raff wandte sich angewidert dem Zug zu. Wenn man das lautlos einfahrende Vehikel als Zug bezeichnen wollte. Eigentlich war es nur ein torpedoförmiges, relativ kleines Gehäuse, an dem es keinen erkennbaren Antrieb gab. Es bestand aus demselben blauglänzenden Metall wie alles hier unten. Selbst das Licht, dessen Ursprung noch niemand entdeckt hatte, besaß diesen Stich ins Bläuliche. Pakk Raff erhob sich aus seiner sitzenden Position und lenkte seinen respekteinflößenden Körper zu dem Steig neben dem Schienenverlauf, wo die Kabine angehalten hatte. Aus der geöffneten Tür stolperte zunächst der Offizier, den Raff zum Begleiter seines Beraters bestimmt hatte. Als Noff Xakk seinen Führer entdeckte, wich der Groll aus seinen Augen. Offenbar wollte er nicht, daß Raff annahm, er hege Zorn gegen ihn. Das will ich dir auch nicht geraten haben, Bürschchen. »Was ist vorgefallen?« »Eine kleine Meinungsverschiedenheit.« Es war Priff Dozz, der für Xakk antwortete. Er schob sich hinter der massigen Gestalt des Offiziers hervor und warf Pakk Raff einen scheu sondierenden Blick zu. »Nicht der Rede wert.« Noff Xakk schwieg, aber seine Kieferknochen mahlten.
Pakk Raff entließ ihn mit einer knappen Geste. An Priff Dozz gewandt, fragte er: »Wie sieht es aus? Wohin gelangen wir mit dem Vehikel? In eine weitere Station wie diese? An die Oberfläche? Wie sieht es dort aus? Verdammt, muß ich dir jeden Knochen aus dem Rachen ziehen? Rede endlich! Du wolltest dieses Ding unbedingt ausprobieren, jetzt hast du es getan, und ich will wissen, was dabei herausgekommen ist!« »Weshalb diese Ungeduld?« fragte Priff Dozz, den Kopf gesenkt. Seine ganze Haltung drückte aus, daß er jederzeit mit einem Schlag rechnete, der ihn vor aller Augen niederstreckte. »Wir haben alle Zeit der Welt.« Pakk Raff verzichtete nur deshalb auf den Schlag, weil sein Berater damit rechnete. Er war ein Freund von Überraschungen. »Alle Zeit der Welt? Willst du mich verspotten?« »Nein. Es ist nur...« Dozz berichtete von der Blockade des Schienenweges und welche vermutliche Ursache sie hatte. Pakk Raff wurde sofort hellhörig. »Spuren einer Schlacht, die in der Vergangenheit geführt wurde? Wann in der Vergangenheit? Wie lange liegt das zurück?« »Dafür gibt es keine Anhaltspunkte. Uns fehlen die nötigen Geräte, um eine solche Analyse durchzuführen.« »Ausflüchte!« Priff Dozz hob den Kopf. Irgend etwas im Blick des Schwächlings hielt Pakk Raff davon ab, weitere Flüche und Vorwürfe folgen zu lassen. »Bist du immer noch der Meinung, wir befänden uns in einer Rahim-Anlage?« »Mehr denn je.« »In Ordnung. Es gefiele mir nicht schlecht, wenn es tatsächlich so wäre. Aber nur, wenn wir daraus auch einen Vorteil für uns schlagen könnten. Du kennst unser vordringlichstes Problem: Wir benötigen entweder ein
Fahrzeug, um diesen Planeten schleunigst wieder zu verlassen und zu unseren Schiffen zurückzukehren...« »Falls sie noch existieren.« Raff überging den Einwand. »... oder einen Sender, um Hilfe herbeizurufen.« »Beides könnte an derselben Sache scheitern.« »Welcher?« »Du erinnerst dich an die Umstände, unter denen wir auf Owid bruchlandeten?« »Was für eine Frage!« »Wir hatten Totalausfall der Systeme. Totalausfall der Energiemeiler. Erst als der Notstrom griff, waren wir in der Lage, Maßnahmen zu ergreifen, um den freien Fall zu stoppen.« »Und?« »Außerdem war Owid unsichtbar, bis...« »Bis?« »Bis wir in das Feld eintauchten, das den Planeten der visuellen Wahrnehmung entzieht.« »Ein simples Tarnfeld, das –« »– so simpel nicht ist, denn es unterdrückt offenbar jegliche Energieerzeugung auf nuklearer Basis.« »Pure Spekulation!« »Garniert mit eindeutigen Indizien.« »Wenn alle Energie neutralisiert wird, warum funktioniert hier unten dann alles? Und warum wurde die Anlage verlassen, obwohl sie weitestgehend intakt ist?« »Die letzte Frage können nur diejenigen beantworten, die diese Basis einst aufgaben – oder ihre damaligen Gegner. Was den scheinbaren Widerspruch angeht, daß hier unten Energieerzeugung möglich ist, während sie bereits ab der Stratosphäre nachhaltig unterdrückt wird, dafür gibt es mehrere Möglichkeiten. Die wahrscheinlichste ist, daß es hier in der Basis eine technische Vorrichtung gibt, die das
Neutralisationsfeld ihrerseits neutralisiert.« »Gesetzt den Fall, du hättest recht. Wie soll es dann weitergehen – überhaupt weitergehen? Wer sich dem Planeten nähert, wird das selbe oder ein noch übleres Schicksal erleiden als wir. Potentielle Bergungsunternehmen müssen demnach scheitern. Und wir selbst werden den Planeten auch nicht aus eigenem Bemühen wieder verlassen können...« »Es sei denn, wir finden den Generator, der das Feld erzeugt, das die Energie frißt.« »Er kann überall auf dem Planeten sein.« »Dann müssen wir überall auf dem Planeten suchen.« »Das ist Irrsinn.« »Irrsinn wäre es, es nicht zu versuchen.« Priff Dozz hatte zuletzt immer leiser gesprochen. Pakk Raff hatte sich dem angeglichen. Die nächste Gruppe von Nomaden lagerte zu weit entfernt, um dem Wortwechsel auf diese Weise noch folgen zu können. Dozz nahm Rücksicht auf die Position des Rudelführers. Er wollte ihn durch die Aufzählung berechtigter Argumente nicht bloßstellen. Eine Rücksicht, die Pakk Raff umgekehrt noch nie für nötig erachtet hatte. Und auch weiterhin kaum aufzubringen gedachte. »Was verlangst du? Du redest doch nicht soviel, ohne bereits konkrete Vorstellungen zu haben, wie es weitergehen soll!« »Ich verlange nichts. Ich bitte: Laß mir freie Hand bei der Erforschung dieser Anlage. Sie ist meiner Meinung nach viel mehr als nur ein Bahnhof.« »Ein Bahnhof!« knurrte Pakk Raff verächtlich. »Ich wünschte, sie wäre wenigstens das. Von hier aus führt nur eine Schienenstrecke weg – in nur eine Richtung. Und die endet, weil irgendein Narr irgendwann eine Bombe zündete.« »Feinde der Rahim«, korrigierte Dozz. »Mein wertvoller Begleiter Xakk war der Auffassung, Feinde der Rahim müßten
grundsätzlich unsere Freunde sein – keine Narren.« »Xakk ist selbst ein Narr.« »Ein solches Kompliment würde ihn sicher freuen.« »Überspanne den Bogen nicht...« »Nein, nein, ich wollte nur auf eine weitere... Bitte hinlenken.« »Welche?« »Laß mich meine Erkundungen ohne einen Beschützer verrichten. Es würde mich sicher beflügeln.« »Solange du mir nicht davonflatterst wie ein maskatisches Hühnchen...« »Du hast mein Wort.« »Wenn du nichts Überzeugenderes anzubieten hast...« Pakk Raff lachte bellend. Danach informierte er Priff Dozz wie beiläufig: »Übrigens wirst du gesucht. Von Bidd Nobb. Sie scheint dich wirklich zu vermissen...« * Pakk Raff dachte über die Entdeckung seines Beraters nach, das Ende der Zugstrecke betreffend. Dies hier war eine Art Kopfbahnhof, insofern existierte nur die eine Fahrtrichtung, in die Priff Dozz seine Nachforschungen gerichtet hatte... Eine Sackgasse, wie sich herausgestellt hatte. Dennoch vertraute Pakk Raff weiterhin auf den Erfindungsreichtum und Verstand des Kümmerlings, der von allen anderen Nomaden entweder belächelt oder auch gehaßt wurde. Pakk Raff tat weder das eine noch das andere. Er hatte zu großen Respekt vor dem Intellekt des Schwächlings, als daß er ihn hätte belächeln können. Haß empfand er nicht für ihn, nicht einmal wirkliche Verachtung, obwohl er dies nach außen hin oft genug zu
demonstrieren schien. Letztlich waren es einfache Reflexe, um sein Gesicht vor den anderen Nomaden zu wahren. Der oberste Rudelführer durfte sich nicht beeindruckt zeigen von dem, was ein geborener Versager wie Dozz leistete. In einer anders strukturierten Zivilisation wäre Dozz ob seiner Klugheit wahrscheinlich verehrt worden. Pakk Raff hoffte, daß seine Spezies niemals so tief sinken würde, daß sie sich solches Denken zu eigen machte. Verstand war eine Sache – Mut und Entschlossenheit eine völlig andere. Die Nomaden würden nur überleben und eine Zukunft haben, wenn sie sich selbst darum kümmerten. Und in einer Galaxis voller potentieller Feinde hieß das nichts anderes, als daß sie dafür kämpfen mußten. Kämpfen und töten und Siege einfahren! Und irgendwann... irgendwann würde sich das Machtungleichgewicht endlich zu ihren Gunsten verschieben. Manchmal bedurfte es nur eines vermeintlich unbedeutenden Ereignisses... Das Schiff! Er hing immer noch dem Traum nach, das Ringschiff in seine Gewalt zu bekommen, mit dem die Fremden aus der anderen Galaxis nach Drakhon gekommen waren und hier seither ihr Unwesen trieben. Falls es Fremde waren. Falls sie aus der anderen Galaxis stammten. Während er zusah, wie Priff Dozz sich absetzte, um nach seiner Gefährtin Ausschau zu halten, fragte sich Pakk Raff, ob es nicht auch denkbar war, daß es sich bei den Fremden um eine in Drakhon ansässige Spezies handelte. Daß sie sowohl den Shirs als auch den Galoanern oder wem auch immer sie in jüngerer Zeit begegnet waren, nichts anderes als Lügen aufgetischt hatten. Seine Frauen forderten ihn auf, die unterbrochene Mahlzeit
fortzusetzen. Er winkte harsch ab. Er war nicht mehr hungrig. Jedenfalls nicht, was schnödes Essen anging. Ihn hungerte nach Rache. Eine Gefühl, das von Stunde zu Stunde stärker in ihm wurde. Das Ringschiff und seine Besatzung hatten es geschafft, binnen kürzester Frist mehr Unheil unter seinem Volk zu stiften und ihm mehr Verluste zuzufügen, als es sämtlichen Drakhon-Völker in den vergangenen Jahrhunderten gelungen war. Ausgenommen dem einen Volk. Dem FEIND schlechthin. Und nun fragte sich Pakk Raff, ob es denkbar sein konnte, daß der aktuelle FEIND noch immer derselbe war wie damals, als der Heimatplanet der Nomaden von fürchterlichen Waffen zerrieben worden war. Ob die Lüge der Fremden im Ringschiff nicht schon damit begann, daß sie sich Terraner nannten. Terraner. Nicht... Rahim… * Obwohl er keinerlei Lust verspürte, seiner Gefährtin zu begegnen, machte sich Priff Dozz dennoch sofort nachdem Pakk Raff ihn entlassen hatte, auf die Suche nach Bidd Nobb. Er wollte es hinter sich bringen – was immer sie ihm vorzuwerfen hatte. Denn etwas anderes als Vorwürfe wären für Bidd Nobb völlig untypisch gewesen. Auf dem Weg durch die ausgedehnte unterirdische Anlage, die fast ausschließlich aus einem hellblau schimmernden Metall unbekannter Legierung errichtet worden war, begegnete Dozz immer wieder Einzelpersonen oder kleinen Gruppen, die
aggressiv auf ihn reagierten. Sein Beraterstatus machte ihn nicht beliebter. Die meisten hielten ihn für einen kuschenden Duckmäuser, der sich seinen täglichen Lebensunterhalt auch dadurch verdiente, daß er andere Nomaden bei Pakk Raff anschwärzte und in Mißkredit brachte. Aber selbst wer ihm dies nicht unterstellte, dem genügte meist schon die Schwäche, die sich in seinem mickrigen Äußeren manifestierte, um ihn zu verhöhnen und zu drangsalieren. Die Situation auf Owid hatte sich nicht gegenüber jener geändert, die schon auf dem Flaggschiff Usus gewesen war. Ich werde ihnen immer ein Dorn im Auge sein – denen zumindest, die stark sind und sich stark fühlen. Von den anderen, die ähnlich schwach waren wie er, war kaum einer nach Owid verschlagen worden. Die meisten seiner Mitverschwörer waren bei der Schlacht im offenen Weltraum umgekommen... Ich muß wieder bei Null anfangen. Es sei denn... Es sei denn, er fand in dieser verlassenen Rahim-Station die Mittel, die ihm nicht nur Pakk Raff ein für alle Mal vom Halse schafften, sondern mit denen er sich auch Ansehen und Respekt bei seinen Artgenossen sichern konnte. Ein Traum. Und weit entfernt. Denn die Realität holte ihn schnell auf den Boden der Tatsachen zurück. »Heda! Kannst du nicht aufpassen, wo du hintrittst? Das war mein Fuß.« Priff Dozz versuchte, den Traum festzuhalten. Doch die brutale Visage des Offiziers, der gerade im Gespräch mit einer Nomadin vertieft gewesen war, fegte jedes Wunschdenken hinweg. Zumal Dozz die Frau kannte, die das Interesse des Hünen erregt hatte. Bidd Nobb?!
Was trieb sie sich hier in den Gängen mit fremden Männern herum, anstatt... Anstatt was, du Jammerlappen? Ihr habt keine Unterkunft mehr, mit deren Pflege sie ihre Zeit totschlagen könnte. Sie kann dir kein Essen kochen, kein Moragg spielen... Was erwartest du? »Da bist du ja...« Dozz wollte sich sofort seiner fülligen Frau zuwenden, die so wenig ein Ausbund an Attraktivität war wie er selbst. Dennoch schien sie nicht so unansehnlich zu sein, daß andere Nomaden sie in der Weise übersahen, wie Dozz es selbst vom weiblichen Geschlecht gewohnt war. Bidd Nobb wollte etwas erwidern, aber der Offizier schob sich vor sie, als wollte er sie vor ihrem eigenen Mann in Schutz nehmen. Umstehende, die Zeuge dieser Szene wurden, verfielen in spöttisches Gelächter oder gaben höhnische Bemerkungen zum Besten. Dozz hätte sich am liebsten in einem Loch verkrochen. Aber weit und breit war kein Versteck in Sicht. »Ich werde mich«, fauchte er den Hünen an, »bei Pakk Raff über dich beschweren. Wie kannst du es wagen...?« Mit dem Einsatz dieser Waffe demütigte er sich selbst noch mehr. Zumal sie stumpf geworden war. Es hatte sich herumgesprochen, daß das einzige, was Pakk Raff an seinem Berater schützte, dessen Leben war. Aber er hatte noch nie eingegriffen, wenn Geringeres in Gefahr gewesen war. Sein Privatleben etwa. »Wann hast du das letzte Mal um etwas gekämpft?« dröhnte es aus dem Schlund des Offiziers. »Ich kämpfe nie.« »Weil du feige bist. Toter als der Kadaver, den ich gestern in einem der Räume hier fand! Wie kannst du an dieser armseligen Existenz hängen? Schon deiner Frau zuliebe solltest du dir die Kehle aufschlitzen – damit sie frei ist für wahre
Männer!« »Wie dich?« keuchte Dozz. Obwohl er dem Hünen in jedem Zweikampf unterlegen gewesen wäre, spürte er solchen Zorn in sich aufsteigen, daß ihn diese Tatsache immer weniger zu interessieren begann. Es reichte ihm. Er hatte den Zugang zu dieser Anlage ermöglicht. Er war der einzige unter den Gestrandeten, der – vielleicht – in der Lage war, ihr ganzes Geheimnis zu lüften... ... und trotzdem behandelten ihn alle wie den letzten Dreck! Es reichte! Endgültig! Doch bevor er die Beherrschung verlieren und sich zu einer aussichtslosen Rangelei hinreißen lassen konnte, wurde ihm Hilfe von unerwarteter Seite zuteil. Der Hüne brüllte urplötzlich auf und wirbelte herum. Von einem Atemzug zum anderen schien er Priff Dozz völlig vergessen zu haben und starrte statt dessen entgeistert auf Bidd Nobb, die mit verschränkten Armen hinter ihm stand und die Zähne zu einem schaurigen Grinsen bleckte, wie es nicht einmal Priff Dozz jemals an ihr gesehen hatte. »Verschwinde!« fauchte sie dem Nomaden durch eine vergammelte Lücke ihres gelblichen Gebisses zu. »Bevor ich mich völlig vergesse!« Der stattliche Offizier hatte Dozz den Rücken gekehrt, so daß dieser die am Gesäß zerfetzte Uniform erkennen konnte. Er begriff sofort, daß Bidd Nobb zugebissen hatte. Ihm wurde schlecht. Ringsum schwoll die Lärmkulisse an, als wollte sie ihn wie ein Steinschlag überrollen und unter sich begraben. Beinahe wünschte er, daß nun wirklich alles endete… * »Wo treibst du dich herum? Ich habe überall nach dir gesucht!«
»Hat dir Pakk Raff nicht gesagt, daß ich in seinem Auftrag... ?« »Du hättest dich wenigstens abmelden können.« Abmelden... Priff Dozz hatte seine Gefährtin hinter eine Säule aus blauem Metall gezogen und sich damit auch selbst aus dem Blickfeld der Schandmäuler gebracht, die ihre Häme über ihm ausgossen. Nicht wenige hatten es mitbekommen, wie Bidd Nobb sich selbst verteidigt hatte, anstatt dies, wie die Tradition es vorsah, ihrem Mann zu überlassen. Damit hatte sie ihn noch mehr demontiert als er es ohnehin schon war. Als Mann. Priff Dozz fragte sich zum ersten Mal, ob sie sich nicht vielleicht sogar absichtlich so verhalten hatte. Ob sie ihm schaden wollte. Durchdringend musterte er sie. »Wie redest du mit mir?« quoll es aus seiner länglichen Schnauze. »Fang jetzt nicht an, den Empfindlichen zu spielen.« Bidd Nobb war einen guten Kopf kleiner und – was bei Nomaden, ganz gleich ob Mann oder Frau, selten zu beobachten war – unvorteilhaft füllig. Vertrieben sich andere Frauen ihre Zeit mit Körperpflege und -ertüchtigung, so lungerte Dozz' Gefährtin in aller Regel vor einem Holowürfel herum und stopfte sich irgendwelche ungesunden Dinge in den Schlund. Er hatte dies nie kommentiert, in Anbetracht der traurigen Gestalt, die er selbst abgab. Doch hier, in der Unterwelt eines fremden Planeten, fiel es ihm plötzlich doppelt drastisch auf. Bidd Nobb war nicht nur dick, sie war auch häßlich. Häßlich! Das Schlimme war, bei ihr beschränkte sich dies nicht allein auf das Äußere. Auch ihre Seele war zu etwas Monströsem gewuchert! Mehr denn je erschien sie Dozz wie seine ganz persönliche Heimsuchung, die ihm von einer höheren Entität aufgebürdet
worden war, als Strafe für Verfehlungen in der Vergangenheit... »Warum glotzt du mich so an?« »Weil ich dich zum ersten Mal richtig sehe.« »Du hast den Verstand verloren.« »Ich war noch nie so klar.« Ihre Augen wurden zu zwei Schlitzen. Früher hatte dies genügt, ihn auf dem Absatz kehrtmachen zu lassen und das Weite zu suchen. Diesmal hielt er dem Blick aus gelben Augen stand. Je länger das stumme Ringen dauerte, desto nervöser wurde Bidd Nobb. Schließlich war sie es, die sich wortlos abwandte und davonhastete. Priff Dozz war erleichtert. Er konnte gar nicht sagen, wie sehr… * Priff Dozz erhielt die Genehmigung zur uneingeschränkten Erkundung – unbeschränkt auch hinsichtlich potentieller Aufpasser – nicht. »Du bist zu wertvoll«, ließ sich Pakk Raff zu einer seltenen Würdigung herab. »Wenn dir etwas geschähe, würde sich die Chance, dieses verlauste Loch je wieder verlassen zu können, auf ein Minimum reduzieren. Nein. Du wirst mit meinem Schutz leben müssen. Was nicht heißt, daß ich deinem berechtigten Wunsch, diesem Ort seine Geheimnisse zu entreißen, Steine in den Weg lege. Im Gegenteil. Du erhältst von mir alle Vollmachten und Unterstützung. Finde einen Weg zurück ins All – und es soll dein Schaden nicht sein.« Priff Dozz schöpfte Mut aus der fast schon zutraulichen Art und Weise, in der sein Führer mit ihm sprach. Und so konnte er sich eine Retourkutsche nicht verkneifen: »Du hast mir schon
oft vollmundige Versprechungen gemacht. Aber nie auch nur eine einzige Zusage gehalten.« Pakk Raffs Augen verengten sich. Sie schienen aufeinander zuzuwachsen. Gleichzeitig zeigte er Zähne, die mehr als einmal bedenkenlos getötet hatten, wenn es um die Verteidigung seines Herrschaftsanspruchs gegangen war. Priff Dozz zuckte zurück. Der Anflug von Verwegenheit schwand. Pakk Raffs Züge waren zur Grimasse geworden. Niemand war Zeuge. Sie hatten sich in einen einsamen Winkel abseits der Schienenstrecke zurückgezogen. Die Stimmen und Geräusche des Rudels waren kaum zu vernehmen. Und umgekehrt würde es genauso sein. Niemand würde das Todesröcheln aus Priff Dozz' zerfetzter Kehle hören. Und wenn doch... wen würde es berühren? Nicht einmal meine Frau, dachte Dozz müde. Bidd Nobb und ihn verband kein tieferes Gefühl als schiere Gewohnheit. Oder doch? Er konnte den Blick nicht vergessen, mit dem sie ihn gemustert hatte, nachdem sie sich der Nachstellungen des Offiziers entledigt hatte. Dozz glaubte die stumme Anklage noch immer zu fühlen, den Vorwurf: Warum hast du mir nicht geholfen? Die nächsten Worte von Pakk Raff verscheuchten die Gedanken an Bidd Nobb: »Ich werde es halten, sei unbesorgt«, versicherte der Rudelführer. »Du hast dir schon jetzt eine Belohnung verdient. Aber sollte es dir gelingen, eine Möglichkeit zu schaffen, daß wir uns wieder mit unserer Flotte vereinigen können, werde ich dir viele Wünsche erfüllen. Du hast doch schon immer ein Auge auf Ladd Kann geworfen, du kannst mir nichts vormachen.« Ladd Kann war eine von Pakk Raffs drei eigenen Gefährtinnen – ein Rasseweib. Priff Dozz hatte sich oft vorgestellt, wie es wäre, mit einer
solchen Frau das Lager zu teilen. Es schockierte ihn, daß Pakk Raff diese geheimen Sehnsüchte offenbar nicht verborgen geblieben waren. »Wie kommst du darauf...?« »Versuche gar nicht erst, es zu leugnen«, unterbrach ihn der Rudelführer. »Ich bin Ladd Kanns überdrüssig. Du kannst sie haben. Nach unserer Rückkehr in den Raum. Was mit deiner häßlichen Alten geschieht, bestimmst du. Es wird nicht schwer sein, sie hierzulassen. Es wird wie ein Unfall aussehen. Überlaß sie mir. Ich bin nicht so zart besaitet wie du. Kehle ist Kehle. Ein schneller Biß...« Priff Dozz schauderte. Dabei hatte er in mancher Nacht neben Bidd Nobb gelegen und sich gewünscht, von ihr befreit zu werden. »Wenn es wirklich dein Ernst ist«, sagte er, »unterhalten wir uns über meine Wünsche, nachdem ich die Voraussetzungen geschaffen habe, um Owid zu verlassen. Man soll das Fell eines Rkarr nicht teilen, bevor man den Rkarr erlegt hat.« »Weise Worte. Und jetzt stelle die Mannschaft zusammen, die dich begleitet.« »Mannschaft?« »Je mehr, desto besser. Sie werden dich hüten wie meine Fogg-Zähne.« Priff Dozz gab sich geschlagen. Er wußte nicht einmal genau, woher er die Überzeugung nahm, daß irgendwo in den Tiefen dieser Station eine Möglichkeit wartete, Owid zu verlassen. Aber er hätte sein Leben darauf verwettet. Sein ganzes erbärmliches Leben. * Kein Teilnehmer der Cafer-Safari ahnte, was sich gar nicht so weit entfernt abspielte, daß dort gantische Agenten ungeschriebene Regeln brachen. Als über der kleinen Lichtung
der Morgen graute, wurde das Lager abgebrochen, und der Marsch durch den Dschungel fortgesetzt. Eine wilde, schier unglaubliche Landschaft wie aus einem alten Film zeigte sich den Terranern. Morgennebel dampfte zwischen den Baumriesen, und die singenden und lärmenden Kungen bahnten weiter den Weg. Ren Dhark fiel auf, daß sich das Verhalten Riburs geändert hatte. Je weiter sie sich von der Plantage des Gouverneurs entfernten, um so weniger großsprecherisch zeigte er sich Cafer gegenüber. Das Verhältnis der beiden Korlonen normalisierte sich, und Dhark überlegte, ob der anfängliche Auftritt des Großwildjägers nicht nur Schau gewesen war. Das paßte zu Ribur. Er verhielt sich den Umständen entsprechend; das derzeitige Publikum kannte ihn mittlerweile recht genau, und somit bestand kein Grund, sein wildes Gehabe weiter exzessiv auszuleben. Ribur war ein Pragmatiker, der sich den Gegebenheiten exzellent anzupassen verstand... Aber auch er hatte nicht mit dem Überfall rechnen können. Keiner von ihnen allen konnte das. Sie waren darauf gefaßt, von wilden Tieren angegriffen zu werden, die sich in ihrer Ruhe gestört fühlten. Aber damit konnte man schnell fertig werden. Doch was nun geschah, war unglaublich. Plötzlich sanken einige Kungen zu Boden. Dhark fuhr zusammen. »Aufpassen!« gellte sein Schrei. »Wir werden angegriffen!« Er stieß Doorn zu Boden, über den im gleichen Moment etwas haarscharf hinwegzischte, das ihn sonst voll getroffen hatte. Gleichzeitig fuhr seine Hand zur Hüfte – normalerweise befand sich dort der Paraschocker. Nur diesmal nicht – Waffen und Ausrüstung der Terraner, von dem galoanischen Translator abgesehen, lagen vor Gawa auf dem Meeresgrund... Oshuta und Sass reagierten nicht weniger schnell. Sass riß
den Gouverneur aus der Sänfte, deren vordere Träger zu Boden sanken. Der Großwildjäger riß den Arm hoch, sein Revolver flog ihm in die Hand, und er begann zu schießen. Auch Fontain und Therak, die beiden Geheimdienstler, eröffneten das Feuer mit ihren Handwaffen. Der Kunge, der Riburs Gewehr trug, brachte die Waffe immerhin in Anschlag, zielte – und schoß dann doch nicht. Weil er jetzt sah, wer der Feind war – andere Kungen! Nackte, blauhäutige Gestalten, die sich hinter den breiten Blättern großer Sträucher duckten und aus Blasrohren kleine, gefiederte Pfeile verschossen. »Wehrt euch doch!« schrie Therak. »Schießt doch zurück, hackt sie in Stücke, schneidet sie in Streifen, bei Somadis! Wehrt euch!« »Aber es sind Kungen!« kreischte der Blaue, der Riburs Gewehr trug. »Kungen töten keine Kungen!« Im nächsten Moment war er tot. Getroffen vom Blasrohrpfeil eines angreifenden Kungen. »Soviel dazu«, keuchte Therak sarkastisch, lud hektisch seine Waffe nach und schoß wieder in das Blätterdickicht. Die fremden Kungen bewegten sich unheimlich schnell hin und her, blieben kaum ein paar Sekunden am gleichen Platz und waren nur schwer zu treffen, aber dann knallten plötzlich Schüsse aus Feuerwaffen auf, die nicht von den Korlonen kamen! Doch jetzt endlich hatten Cafers Kungen das Unbegreifliche begriffen: daß Kungen durchaus gewillt waren, andere Kungen zu töten! Und nun drang Theraks Wort zu ihnen durch. Sie gingen zum Gegenangriff über! Sie stürmten vorwärts, huschten zwischen Sträucher und Blätter. Wilde Schreie ertönten. Immer wieder fielen Schüsse. Ribur, Cafer und die beiden Agenten sahen Mündungsfeuer und schossen selbst darauf. Aber irgendwann kehrte endlich wieder Ruhe ein.
Die Ruhe des Todes... * Die Terraner und Cafer waren unverletzt, desgleichen Ribur, der mit einer schon unwahrscheinlichen Geschicklichkeit den Blasrohrpfeilen und Kugeln der Gegner hatte ausweichen können, gerade so, als ahne er, wohin die Gegner schossen. Doch es gab keinen einzigen Kungen, der unverletzt geblieben war. Und elf von ihren waren tot! Aber auch die Angreifer hatten einen hohen Blutzoll zahlen müssen. Spätestens von dem Moment an, in welchem Cafers Kungen sich zum Gegenangriff durchrangen, hatte das Blatt sich gewendet. Ein großer Teil der Angreifer war auf der Strecke geblieben oder war schwerverletzt; auch jene, die entkamen, hatten Verletzungen davongetragen. Cafers Kungen schleppten die Gefangenen herbei. Sass und Oshuta brachten besondere Beute mit. Vier rosahäutige Rags, die gantische Uniformen trugen. »Drei andere sind tot«, informierte Bram Sass. »Ob weitere entkommen konnten, wissen wir nicht.« »Ganten?« keuchte der Gouverneur. Er starrte die Gefangenen an, die samt und sonders verwundet waren. »Die gehören zum militärischen Geheimdienst«, erklärte er nach einem schnellen Blick auf die Rangabzeichen an den Uniformen. »Ich will das nicht glauben! Es kann doch nicht sein, daß dieser unselige Krieg jetzt auch auf Undo beginnt!« »Irgendwann gibt es für alles ein erstes Mal«, zitierte Sass ein altes Sprichwort. »Vielleicht ist die Zeit der Unschuld jetzt auch auf Undo vorbei.« Die Kungen drängten sich im Kreis um die kleine Gruppe. Sie wirkten jetzt alles andere als fröhlich, sondern eher drohend. Auch wenn ihren Puppengesichtern nicht viel zu
entnehmen war, deutete ihre Körperhaltung auf Zorn und Haß hin. Ribur streckte die Hand aus und wies auf die vier Ganten. »Sie stecken hinter diesem Überfall, nicht wahr? Sie haben die Wilden aufgehetzt, daß sie uns angreifen! Denn unter normalen Umständen gibt es das nicht, daß Kungen einander umbringen. Rivalenkämpfe zwischen einzelnen Stämmen vielleicht, aber niemals mit tödlichem Ausgang! Was haben Sie den Wilden versprochen, um sie in einen solchen Blutrausch zu versetzen?« Er spie dem ranghöchsten der Ganten ins Gesicht. Der machte nicht mal eine Bewegung, um den Speichel abzuwischen. Er schloß nur kurz die Augen, öffnete sie wieder und sah an Ribur vorbei. Sein Blick traf Ren Dhark. »Was haben Sie den Korlonen versprochen, Fremder?« fragte er stattdessen. »Lassen Sie uns mit diesen Leuten reden«, wandte sich Fontain an Cafer. »Sie werden uns alles erzählen, was sie wissen.« »Genehmigt«, sagte der Gouverneur. Dhark sah, wie die Ganten eine Spur blasser wurden. Unter den Kungen entstand Unruhe. Aus ihren Äußerungen ging hervor, daß sie an dem Verhör mitwirken wollten. Aber Fontain und Therak verwehrten es ihnen. Sie ordneten an, daß die vier gantischen Agenten an Baumstämme gefesselt wurden, und wollten dann mit ihnen alleingelassen werden. »Was soll das?« fragte Dhark. Cafer zuckte mit den Schultern. »Lassen wir unsere Leute ihre Arbeit tun«, sagte er. »Unter anderem dafür erhalten sie ihren Sold. Wir dagegen«, er wandte sich an die Kungen, »werden jetzt gemeinsam das Totenritual für eure ermordeten Gefährten durchführen.« Damit schuf er ein wenig Ruhe; er hatte die aufgebrachten
Diener an ihre eigenen Gebräuche erinnert. Die Terraner traten zurück; sie konnten in diesem Fall nur Beobachter sein. Die Kungen trugen ihre Toten zusammen, sammelten auch die Leichen der Wilden ein, die bei dem kurzen, aber heftigen Kampf ums Leben gekommen waren. Sie schufen zwar zwei Gruppen von Toten, aber sie bezogen die gefallenen Feinde in ihr Ritual mit ein. Wieder sangen sie, und diesmal beteiligten sich auch Cafer und sogar Ribur daran. Dadurch bezeugten sie ihren Respekt für die Gebräuche ihrer Diener. Diesmal waren die Lieder schwermütig und traurig. Nach etwa einer Stunde war es vorbei. Die Toten wurden so gelagert, daß ihre Gesichter in die Richtung zeigten, in der morgens die Sonne Balk aufging. Scheinbar war es nicht üblich, die Toten zu begraben oder zu verbrennen. Oshuta fragte Ribur danach. »Es werden wilde Tiere kommen, die an ihnen fressen«, gab er zu bedenken. »Wir fressen wilde Tiere, warum soll es nicht auch andersherum sein?« fragte der Jäger zurück. »Wir nehmen, also müssen wir auch geben. Das ist die Ordnung der Dinge.« Während des Rituals hatten Fontain und Therak die vier Ganten verhört. Die sahen jetzt gar nicht mehr so gut aus wie zum Zeitpunkt ihrer Gefangennahme. Sie hingen förmlich in ihren Fesseln und waren von Schlägen gezeichnet. Einige schienen auch mit Messern verletzt worden zu sein. »Mußte das sein?« fragte Dhark scharf. Cafer faßte nach seinem Arm und drückte zu. »Ja«, sagte er. »Sie sind Fremde. Mischen Sie sich nicht in unsere Angelegenheiten. Fontain und Therak wissen, wie eine erfolgreiche Befragung durchzuführen ist.« Erstaunlicherweise hatten weder Dhark noch Doorn oder die Cyborgs die Ganten schreien oder stöhnen gehört, als sie mißhandelt wurden. Dabei waren die Trauergesänge der Kungen gar nicht so laut gewesen...
Des Rätsels Lösung zeigte sich, als einer der Gefangenen hustete und dabei Blut spuckte. Für einen kurzen Augenblick sah Dhark, daß dem Ganten die Zunge fehlte. Offenbar hatten die beiden korlonischen Agenten einen oder zwei der Gefangenen ganz erheblich mißhandelt, damit die anderen redeten. Therak berichtete, daß die Ganten von einem U-Boot abgesetzt worden waren und die wilden Kungen aufgehetzt hatten, um die Terraner in ihre Gewalt zu bekommen. »Ich denke, es war ein Ausnahmefall«, schloß er. »Es sieht nicht danach aus, als wollten die Ganten den Krieg tatsächlich nach Undo tragen. Sie hätten unsere Freunde aus dem Weltraum verschleppt, und Korlonisch Nordwestundo wäre in Ruhe gelassen worden. Die gantischen Kolonisten wissen mit Sicherheit nichts von diesem Einsatz; vielleicht nicht einmal die gantische Regierung. Dies war nur eine Aktion des Geheimdienstes.« »Ist das absolut sicher?« fragte Cafer mißtrauisch. »Ja«, sagten Fontain und Therak gleichzeitig. »Was machen wir jetzt mit diesen Leuten?« fragte Fontain. »Mitschleppen können wir sie nicht, sie würden uns nur behindern. Wir können sie aber auch nicht einfach hier zurücklassen.« Ein Kunge trat vor. Gar nicht unterwürfig, sondern äußerst selbstbewußt. »Herr«, wandte er sich an den Gouverneur. »Zwei Hände und ein Finger von uns sind getötet worden«, zählte er ab. »Daran tragen diese Ganten die Schuld. Sie verdienen den Tod.« »Nehmt sie«, entschied Cafer sofort. Dhark trat dazwischen. »Das ist Mord!« protestierte er. »Primitive Rache!« »Es ist die Ordnung der Dinge«, erwiderten der Gouverneur und der Kunge zugleich. »Ich werde es nicht zulassen, daß...«
Im gleichen Moment zog Cafer seinen Langdolch. »Terraner, Sie schützt das Gastrecht und die Gunst des Monarchen, aber nur, solange Sie unsere Gebräuche respektieren. Diese vier Ganten gehören den Kungen.« »Dadurch werden die Toten nicht wieder lebendig!« fuhr der Commander auf. »Ist das die Zivilisation, die Sie den Kungen bringen wollen?« »Ist Ihre Macht als Gouverneur so gering, daß Sie den perversen Wünschen eines unzivilisierten Kungen nachgeben müssen?« fügte Doorn hinzu. Die Haltung der beiden Cyborgs war angespannt. Sie waren bereit, sofort einzugreifen und Commander Dhark zu schützen, falls es wirklich zu einer Auseinandersetzung kam. Cafer hielt sein Langmesser auf Dhark gerichtet. »Ich sagte Ihnen schon einmal, Sie sind fremd auf unserer Welt und sollten sich nicht in unsere Angelegenheiten mischen.« »Als wir Ihrem Land technische Kleinigkeiten schenkten, die den Sieg über die gantische Flotte ermöglichten, war das auch eine Einmischung, und der Monarch war davon begeistert«, sagte Dhark kalt. »Der Monarch ist weit weg auf Gawa. Hier entscheide ich«, sagte Cafer. »Dhark, wenn eines Tages Owiden Ihre Welt besuchen, werden sie Ihre Gebräuche respektieren und sich fügen. Heute sind Sie zu Besuch auf Owid, und Sie werden unsere Gebräuche respektieren oder...« »Oder von Ihnen ermordet werden, so wie diese vier Ganten ermordet werden sollen?« Oshuta machte eine Vorwärtsbewegung. Im gleichen Moment hielt ihm Ribur die Mündung seines Revolvers an den Kopf. »Ich respektiere Sie als einen sehr mutigen Mann, Lati Oshuta«, sagte er. »Und ich bewundere Ihre Stärke und Schnelligkeit. Aber in diesem Fall können Sie nur verlieren. Das gilt auch für Ihren Kameraden Sass.«
Auf den hatte ein Kunge Riburs Gewehr gerichtet! Ribur hatte sehr klar erkannt, daß diese beiden Männer eine Sonderstellung einnahmen und wie gefährlich sie sein konnten. »Ich habe entschieden«, sagte Cafer kühl. »Und Sie werden nichts verhindern. Der Monarch wird Ihren Tod bedauern, aber er weiß, daß die Ordnung der Dinge nicht gestört werden darf. Wenn Regeln gebrochen werden, zerstört das die Zivilisation.« Dhark atmete tief durch. Dann wandte er sich um. Es war sinnlos, noch etwas für die vier Agenten zu tun. Der Gouverneur würde seine Entscheidung auf jeden Fall durchsetzen. Johlend stürmten die Kungen auf die Ganten zu, zerschnitten die Fesseln und schleppten die in panischer Todesangst schreienden und sich verzweifelt wehrenden Agenten mit sich in den Dschungel. Der Lärm wurde leiser, je weiter sie sich entfernten, und nach einiger Zeit kehrten die Kungen zurück, immer noch aufgeregt, über und über mit Blut bespritzt – und ohne die Ganten. Dhark wurde übel. Hätte er das unmenschliche Sterben dieser Owiden nicht doch verhindern können? Aber wie? Vielleicht wären er und die Cyborgs noch mit Cafer und den anderen Korlonen fertig geworden. Aber die Kungenhorde war voller Haß und Mordlust, hätte sie ohne Rücksicht auf eigene Verluste niedergekämpft und vielleicht auf ähnlich brutale Weise ermordet wie die Agenten, weil sich die Terraner auf deren Seite stellten... Bis vor kurzem war ihm Undo noch wie das verlorene Paradies erschienen, trotz aller Gefahren durch wilde Tiere. Aber jetzt hatte er die Hölle darin gesehen. *
Der Marsch durch den Dschungel ging weiter. Zu Überfällen kam es nicht mehr, und die Bedrohung durch wilde Tiere hielt sich in Grenzen. Einen Pfad wie zu Anfang gab es hier nicht mehr; das Vordringen wurde immer schwieriger, weil die Kungen jetzt gezwungen waren, einen ganz neuen Weg zu bahnen, statt nur Überwucherungen zu entfernen. Dadurch kamen sie jetzt nur noch sehr langsam voran, und die Blauhäutigen, die ihre Haumesser schwangen, mußten der Anstrengung wegen in immer kürzeren Abständen abgewechselt werden. Das Verhältnis zwischen Terranern und Owiden hatte sich merklich abgekühlt. Die anfangs unterhaltsamen und informativen Gespräche wurden auf das Notwendigste reduziert. Die Terraner zeigten den Rags deutlich, daß sie deren Rachsucht nicht einfach so hinnahmen, und die Owiden akzeptierten nicht, daß ihre blutigen Gebräuche von den Fremden nicht toleriert wurden. Dabei gab Dhark den Kungen noch die geringste Schuld. Schlimm für ihn war es, daß ein sich zivilisiert nennender Korlone wie Gouverneur Cafer nichts unternommen hatte, das Massaker zu verhindern. War seine Autorität wirklich so gering, oder nahm er nur den Weg des geringsten Widerstands? Nach etwa drei Tagen Marsch erreichte die Expedition ein von dampfendem Dschungel bedecktes Tal in einem hohen Gebirge. Plötzlich brach Chaos unter den Kungen aus. Sie schrien wild durcheinander, zeigten zum teilweise von den Ästen gewaltiger Baumriesen verdeckten Himmel. Der »Straßenbautrupp« an der Spitze der Gruppe wich zurück. Die Kungen drängten sich aneinander, und ihre schnelle, schnatternde Sprechweise überforderte den galoanischen Translator einmal mehr. »Was zum Teufel ist da los?« stieß Lati Oshuta hervor. Und dann sahen sie es. Es war ein unglaublicher Anblick.
Ein Riese stapfte durch den Dschungel! Ein Gigant, wie ihn sicher noch kein Rag jemals gesehen hatte! Er überragte die Baumriesen noch um fast das Dreifache. Bram Sass schätzte ihn auf eine Scheitelhöhe von rund 50 Metern. Kein Wunder, daß die Kungen in Panik verfielen... Denn dieser Riese glich einem Rag, nur bestand er offenbar aus purem Gold! Eine titanische, nackte Gestalt, die sich durch den Dschungel bewegte, mit den gewaltigen Armen ruderte und... ... plötzlich die Marschrichtung änderte, um direkt auf Cafers Expedition zuzukommen! Er schien die Gruppe erkannt zu haben. Zuvor hatte er sich eher ziellos durch das Dschungeltal bewegt, aber möglicherweise erregte nun der Lärm, den die Kungen veranstalteten, seine Aufmerksamkeit. Näher und näher kam er heran! Die Kungen gerieten regelrecht in Panik und wollten flüchten. Cafer und die beiden Agenten hatten alle Hände voll zu tun, sie zurückzuhalten. Ribur ließ sich sein großkalibriges Gewehr reichen und feuerte damit mehrmals auf die Gestalt, ohne sie zu verletzen. Verwünschungen ausstoßend, lud er immer wieder nach. Aber der goldene Rag-Riese ließ sich nicht aufhalten! Allmählich zeigte auch der Jäger Unruhe. Diese Unruhe übertrug sich auch auf die ohnehin schon in panischer Angst zitternden Blauhäutigen, und es kam der Moment, in dem Cafer und die beiden Agenten die Kungen nicht mehr halten konnten. Die schreienden Rags stürmten in den Dschungel davon. Jetzt wurde es auch Cafer mulmig. Die Aussicht, auf eigenen Füßen flüchten zu müssen, statt diese Flucht in einer von Kungen getragenen Sänfte antreten zu können, verursachte ihm stärkstes Unbehagen.
Plötzlich begann Arc Doorn spöttisch zu grinsen. »Sass, Oshuta«, rief er. »Sehen Sie das auch? Dieser Goldkerl ist doch nur eine Holographie!« »Stimmt«, bestätigte Bram Sass. »Eine Holographie?« ächzte der Gouverneur. »Was bedeutet das?« »Daß es diesen Burschen, vor dem sich Ihre Leute in die Hosen machen, in Wirklichkeit gar nicht gibt!« stellte der Sibirier fest. »Zumindest nicht in der Form, in welcher wir ihn hier zu sehen bekommen! Falls er wirklich existieren sollte, dann ganz bestimmt nicht hier, und sicher ist er auch kein solcher Riese, sondern vielleicht sogar kleiner als alle anderen! Aber die Holographie macht ihn zu einem Giganten!« »Ich verstehe nicht...« »Stellen Sie sich vor, daß es so etwas Ähnliches wie ein Traum ist«, sagte Doorn. »Nur kann diesen Traum jeder sehen, nicht nur Sie selbst. Und ein anderer gaukelt Ihnen diesen Traum vor.« Es war eine extrem vereinfachte Erklärung, aber wie sollte er jemandem die Holo-Projektionstechnik klar machen, auf dessen Welt noch nicht einmal das Fernsehen erfunden worden war? Von der notwendigen Lasertechnik ganz zu schweigen... »Aber woran wollen Sie das erkennen?« zweifelte Cafer. Doorn wies auf den Großwildjäger. »Können Sie sich vorstellen, daß jemand wie Ribur sich so viele Fehlschüsse leistet? Dieser goldene Owide mag zwar unglaublich groß sein, aber er hätte bei einem Treffer wenigstens mal zusammenzucken müssen! Hat er aber nicht getan! Und bei seiner Körpermasse müßte doch bei jedem seiner Schritte der Boden zittern! Spüren Sie etwas unter Ihren Füßen, Gouverneur? Oder sehen wir, daß Bäume umgeknickt werden, was zwangsläufig der Fall wäre, wenn so ein Wesen sich durch den Dschungel bewegte?« Der mußte ebenso verneinen wie die anderen.
Weniger Angst als vorher hatte er aber trotzdem nicht. Immer näher kam der Gigant. Inzwischen war er schon so nahe heran, daß er die vor Ort verbliebene kleine Gruppe sehen konnte. Aus schwindelnder Höhe starrte er auf sie herab. Einen kurzen Augenblick lang verharrte er, fixierte die Menschen in der Gruppe und schien sie irgendwie zu analysieren. Im nächsten Moment tauchte aus dem Nichts ein zweiter Gigant neben ihm auf, nur sah der aus wie ein Mensch! Unwillkürlich stöhnten die Korlonen auf. »Holographien«, wiederholte Doorn. »Sie werden uns nichts tun«, versicherte Ren Dhark. Aber auch ihm kamen Zweifel, als die beiden goldenen Riesen – der Rag und der Terraner – gefährlich aussehende Drohgebärden vollführten und dabei wildes Gebrüll und andere gräßliche Geräusche von sich gaben. Dhark fragte sich, ob das wirklich noch mit Holo-Technik machbar war, oder ob nicht vielleicht doch etwas ganz anderes dahinterstand? Oder gab es irgendwo verborgene Lautsprecher? Wenn ja, wer hatte sie ausgerechnet hier in diesem Teil des Dschungels versteckt, und warum? Die Rahim? Aber was bezweckten sie damit? Eher schien es ihm möglich, daß es sich weniger um Holographien handelte, sondern um Projektionen aus einer Art Formenergie, die semistabil waren und sich so widerstandslos durch den Dschungel bewegen konnten, aber dennoch fest genug, um Lautsprecher in sich mitzuführen! Sass und Oshuta errechneten immerhin eine geringe Wahrscheinlichkeit für diese Annahme. Aber den Rags nun mit dieser zusätzlichen Erklärung zu kommen, war Unsinn. Es würde sie nur weiter verwirren. Doch um so schwieriger wurde es, ihnen begreiflich zu machen, daß diese gewaltigen Erscheinungen wirklich ungefährlich waren... Da waren die Trugbilder auch schon heran!
Selbst Ribur und die beiden Agenten zeigten ihre Furcht jetzt unverhohlen. Aber als Sass es riskierte, einfach durch einen der beiden Giganten hindurchzugehen, konnte das die Rags endlich überzeugen. Sie waren so total verblüfft, daß sie ihre Angst fast vergaßen! Oshuta äußerte die Ansicht, es handele sich bei diesen Projektionen um Einrichtungen, die Wesen schlichteren Gemüts, wie es die Rags waren, von irgend etwas fernhalten sollten. »Von den Anlagen der Rahim?« überlegte Dhark. »Das würde bedeuten, daß wir schon viel näher an unserem Ziel sind, als wir angenommen haben.« »Und es bedeutet auch, daß wir beobachtet werden – falls diese Holo-Projektionen nicht außer Lautsprechern auch Kameras in sich tragen, müssen sich Beobachtungseinrichtungen ganz in unserer Nähe befinden«, fügte Sass hinzu. »Irgendwo sitzt jemand und schaltet an seinen Knöpfchen und Hebelchen herum und läßt diese Holos auf das reagieren, was er wahrnimmt. Kaum sieht er, daß er's bei den Ankömmlingen nicht nur mit Rags zu tun hat, sondern mit einer zweiten Spezies, schaltet er eine zweite Projektion hinzu!« Diese Projektionen tobten sich inzwischen schon hinter ihnen aus. Vielleicht wollte der unbekannte Drahtzieher sie nicht einfach enttarnen, indem er sie abschaltete, obgleich ihm längst klar sein mußte, daß er mit ihnen niemanden mehr beeindrucken konnte. Nur die geflüchteten Kungen blieben verschwunden und trauten sich nicht mehr aus dem Dschungeldickicht hervor. Sie hatten sich wohl in alle Winde verstreut... Auch die lauten Rufe, die Ribur im Dialekt ihres Stammes ausstieß, brachten sie nicht zurück. Cafer verfluchte die
»erbärmlichen Feiglinge«. Wie die beiden Agenten war er alles andere als begeistert davon, fortan zu Fuß gehen zu müssen. Denn es war nicht abzusehen, daß die Sänftenträger noch einmal zurückkommen würden. Mit etwas Glück konnte Cafer hoffen, daß sie sich zurück zur Plantage durchschlugen. Aber vermutlich würden sie auch das nicht tun. Schließlich mußten sie doch damit rechnen, für ihre feige Flucht bestraft zu werden – und wenn diese Strafe auch nur darin bestand, daß sie entweder niedrigere Arbeiten als bisher verrichten mußten oder ganz entlassen wurden. Da sahen sie ihr Heil eher darin, erst gar nicht wieder aufzutauchen. Vielleicht würden sie zu ihrem Dorf zurückkehren oder sich einem der wilden Stämme anschließen. Wie auch immer... Ren Dharks Problem war das nicht. Ihn beschäftigte ein ganz anderer Gedanke: die Goldfärbung der Holographien! Er mußte an die Mysterious denken! An den »goldenen Menschen« vom Planeten Mirac und an andere dieser Statuen, die sich samt und sonders dadurch auszeichneten, daß sie kein Gesicht besaßen – oder daß man diesen Statuen, die teilweise Hunderte von Metern aufragten wie der »goldene Mensch« von Babylon, der zugleich als Antenne einer gigantischen Hyperfunksendeanlage diente, den Kopf abgeschlagen hatte. Er mußte auch an den Goldenen denken, der auf Terra aus einem Transmitter aufgetaucht war, um durch Erpressung in den Besitz eines Ringraumers zu kommen, mit dem er spurlos in Weltraumtiefen verschwunden war... Die goldenen Menschen sollten die Grakos sein – das hatten die Salter behauptet, aber längst wußten die Terraner, daß das nicht stimmte. Immerhin war es ihnen gelungen, was offenbar zuvor noch niemand geschafft hatte – einen Grako lebend zu fangen und ihn zu untersuchen. Die biologische Ähnlichkeit mit den seelenfressenden G'Loorn war verblüffend... und doch gab es gewaltige Unterschiede, die größer waren als die
zwischen Terranern und Tel, obgleich beide Spezies absolut humanoid waren und sich nur die Hautpigmentierung und diverse biologische Unverträglichkeiten unterschieden! Waren die »goldenen Menschen« doch die Mysterious? Oder waren sie deren Produkte, wie auch die Giants, die sich selbst All-Hüter nannten und eine Art biologischer Roboter waren, von den Mysterious geschaffen worden waren? Die Begegnung mit dem Goldenen auf Terra schien darauf hinzudeuten. Und hier auf Owid gab es Goldene – hatten die Mysterious hier also tatsächlich auch wieder ihre Hände im Spiel? Waren Rahim und Mysterious also identisch? Dhark drängte, weiterzugehen. Nach dem Auftauchen der beiden Goldenen sah er sich dicht vor seinem Ziel! Und dann sahen sie den Tempel...!
8. Von einem Moment zum anderen standen sie vor dem Bauwerk. Dschungelpflanzen hatten die verwitterten Steine größtenteils überwuchert. Der Tempel mußte uralt sein und erinnerte in seiner Bauweise an die Architektur der Mayavölker der Erde. Die Ähnlichkeit mit dem Stufentempel von Palenque war verblüffend, in welchem der Schweizer Astro-Archäologe Erich von Däniken im vergangenen Jahrhundert auf einer mutmaßlichen Grabplatte die Darstellung eines außerirdischen Raumfahrers gefunden haben wollte. Vorsichtig näherten sich die vier Terraner und die vier Korlonen dem verfallenen Bauwerk. Jetzt packten Neugier und Forscherdrang auch die Rags. Ren Dhark fieberte – war das hier wirklich ein Zugang zu den Hinterlassenschaften der Rahim? Auch in der Stadt Ruham hatte sich dieser inzwischen wieder versiegelte Zugang, der sich zudem als unergiebig gezeigt hatte, in einer Tempelanlage befunden... Gerade wollte der Commander einen Schritt vorwärts tun, als ihn Riburs Zuruf stoppte. »Nicht weiter!« Dharks Fuß schwebte in der Luft. Der Jäger kam zu ihm und zog ihn etwas unsanft zurück. Dann nahm er das Gewehr von der Schulter, das ein vor den Goldenen fliehender Kunge fallengelassen hatte, und stieß mit dem Kolben kräftig dort auf, wo Dhark seinen Fuß hatte hinsetzen wollen. Plötzlich gab der Boden nach. Eine Öffnung entstand; ein mehrere Meter tiefer Schacht, auf dessen Grund spitze Pfähle auf stürzende Opfer warteten. »Verdammt«, murmelte Dhark. »Danke, Ribur.«
Der Jäger ging stumm an der enttarnten Falle vorbei. Nur Sekunden später schrie Cafer gellend auf – eine Wolke von kurzen Speeren oder Armbrustbolzen verfehlte ihn nur knapp, weil er gerade noch rechtzeitig aus den Augenwinkeln eine verdächtige Bewegung gesehen hatte und zurückgesprungen war. Dennoch schrammte einer der Bolzen an seinem linken Arm entlang. Fontain versorgte die Verletzung sofort. Bram Sass nahm einen der Bolzen auf und untersuchte ihn, konnte aber beruhigenderweise kein Gift feststellen. Wenn die Bolzen tatsächlich einst vergiftet worden waren, hatte die Substanz im Lauf der Zeit ihre Wirkung verloren. Der Jäger entdeckte noch einige weitere kleine und gemeine Fallen, die allesamt tödlich gewesen wären, hätte er sie mit seinem ausgeprägten Instinkt nicht jedesmal rechtzeitig bemerkt, und machte sie unschädlich. Selbst die Cyborgs mit ihren speziellen Möglichkeiten registrierten die Fallen nicht so unglaublich schnell und präzise wie der Großwildjäger. Schließlich erreichten sie den Tempeleingang. Arc Doorn wollte hindurchgehen, als ihm Ribur einen kräftigen Tritt in den Allerwertesten verpaßte, der den Sibirier vehement vorwärts schleuderte. Doorn brüllte zornig auf, stürzte und rollte sich herum. Entgeistert starrte er auf rasend schnell rotierende Sichelmesser, die aus beiden Seitenwänden des Eingangs hervorgestoßen waren und ihn in winzige Fetzen gehäckselt hätten, wenn er nur eine halbe Sekunde länger im Durchgang verblieben wäre. Daß die Sichelmesser rostig waren und jetzt kleine Rostsplitter versprühten, änderte nichts an ihrer Gefährlichkeit! Immer noch wirbelten die Messer und trennten Doorn von seinen Gefährten. »Stehen Sie auf«, rief Ribur ihm zu. »Drinnen muß es eine Art Hebel geben. Betätigen Sie den, damit können Sie die
Messer wieder abschalten!« »Woher wollen sie das wissen?« rief Doorn zurück. »Weil ich so einen Mechanismus schon einmal anderswo erlebt habe! Machen Sie schon!« Doorn sah sich um. Im Dämmerlicht des Tempeleingangs entdeckte er einen Stein, der aus der Mauer hervorragte; darunter lag Staub und Mörtel, als sei dieser Stein gerade erst hervorgeschoben worden. »Das ist es«, bestätigte Ribur seine Vermutung. »Schieben Sie ihn zurück in die Wand und – springen Sie zurück, SCHNELL!« Doorn schaffte es gerade noch rechtzeitig. Dort, wo er gerade noch vor dem Stein gestanden hatte, krachte ein riesiger Brocken herunter, der ihn restlos zerschmettert hätte. »Das hätte ich fast vergessen«, knurrte Ribur. »Tut mir leid, Doorn. Und wir anderen – nicht auf diese Stelle treten, sonst sind die Messer gleich wieder draußen!« Er wies dabei auf eine Steinplatte im Boden, eine unter vielen, aber genau die, auf welche Doorn beim Betreten des Tempels getreten war, um damit den tödlichen Mechanismus auszulösen. Und – ein zweites Mal würden die Messer sich nicht abschalten lassen, denn der von der Decke gekrachte Steinbrocken war so groß, daß er den Zugriff auf den Hebelstein unmöglich machte... Die anderen traten vorsichtig ein. Und dann war es Cafer, der die Bodenplatte doch noch erwischte und die Sichelmesser erneut auslöste! Ihn rettete Sass, der blitzschnell zupackte und den Rag durch den Eingangsraum wirbelte. Fassungslos starrte der Unglücksrabe die rotierenden Sichelmesser an. »Und – und wie kommen wir jetzt wieder hinaus?« keuchte er entsetzt. Lati Oshuta, der wie sein Kollege Sass schon längst auf das Zweite System umgeschaltet hatte, stemmte sich wortlos gegen den großen Steinbrocken, der Arc Doorn beinahe erschlagen
hätte, und schob ihn mit seinen Cyborgkräften bis direkt an die Mauer, so daß der Hebelstein nicht nur erneut zurückgedrückt wurde, sondern auch nicht wieder herausgepreßt werden konnte – womit der heimtückische Fallenmechanismus endgültig blockiert war. Der Eingangsraum erwies sich als größer, als er von draußen aussah. Es gab einen relativ schmalen Gang, den Doorn sofort betrat – aber wesentlich vorsichtiger und mißtrauischer als vorhin. Doch diesmal schlug keine Falle mehr zu. »Diese verdammten Gauner«, knurrte Doorn plötzlich. »Dhark, sehen Sie sich diese Gemeinheit doch mal an! Eine ›verfallene Pyramide‹, wie? Daß ich nicht lache!« »Wie meinen Sie das?« wollte der Commander wissen, der sich zu ihm gesellte. »Alles nur eine dünne äußere Kulisse! Haben Sie sich nicht auch schon gefragt, weshalb die Rahim ihre Geheimnisse mit so vergleichsweise primitiven Fallenkonstruktionen sichern? Alles nur Tarnung, Dhark. Die richtigen Gemeinheiten fangen hier erst an!« Er zeigte auf eine Reihe von Reliefs in der Steinwand. »Erinnert Sie das nicht an etwas?« Im Halbdunkel konnte Dhark nicht sehr viel erkennen. Doorn dagegen »sah« mit seinen Händen und tastete die Reliefs ab. »Hier... und da... und da... ich will zum Amphi mutieren, wenn diese Reliefs nicht ihren goldenen Gegenstücken in Ruham ähneln!« Dhark hatte Schwierigkeiten, die von Doorn genannte Ähnlichkeit zu erkennen. »Kein Wunder«, behauptete der Sibirier, »weil diese Prachtstücke hier doch viel größer sind als ihre hübscheren Doubletten in Ruham!« Er starrte die Reliefs an und drückte plötzlich in einer verwirrenden Reihenfolge auf eine Anzahl dieser erhabenen Steine. Offenbar war diese Reihenfolge genau richtig! Denn kaum hatte er sie gedrückt, als knirschend und
dröhnend eine Wand im Boden versank! Dahinter wurde eine weitere Tür sichtbar. Aber nicht nur das. Es war eine Panzertür, mit einem Energieschirm gesichert! »Hurga!« entfuhr es Bram Sass. »So was funktioniert hier? Heißt es nicht, daß kernphysikalische Energieerzeugung jeglicher Art auf diesem Planeten blockiert wird? Haben wir nicht dadurch auch unsere Flash verloren und keinen Kontakt mit der POINT OF?« Dhark zuckte mit den Schultern. »Offenbar gilt diese weltweite Abschaltung nicht für Anlagen der Rahim.« »Dann sind die aber doch nicht mit unseren Mysterious identisch, sonst wären die Flash ja nicht lahmgelegt worden«, behauptete Sass. Die Owiden verstanden kein Wort von dieser Unterhaltung. »Wie auch immer«, sagte Dhark. »Diese energetische Sperre existiert. Wie kommen wir an ihr vorbei? Irgendwo muß doch ein Öffnungsmechanismus sein! Doorn...?« Der winkte mürrisch ab. »Ich bin weder Hellseher noch Wunderknabe, Dhark! Darf ich auch mal ein paar Minuten lang grübeln und nachdenken?« Er durfte. »Wenn die Sperre sich nur über Funk abschalten läßt, haben wir Pech«, befürchtete Oshuta. Der Jäger trat an ihm vorbei zu Doorn. Er zog sein Langmesser aus der Lederscheide. Vorsichtig richtete er die Spitze der Klinge auf den Energieschirm. »Nicht!« schrie Dhark erschrocken auf. Doch seine Warnung kam zu spät. Ribur berührte das Energiefeld bereits mit der Spitze seines Dolches. Nicht nur Dhark rechnete mit einer spontanen Entladung, welche den Jäger zurückschleudern oder gar verbrennen würde. Doch statt dessen verfärbte sich das Feld und zeigte seltsame, verschiedenfarbige Strukturen.
»Noch einmal!« forderte Doorn prompt. Ribur wiederholte seinen Versuch. Abermals zeigten sich bei der Berührung Strukturen im Energiefeld. Mehrmals ließ der Sibirier das Feld berühren und studierte die Farben und Linien. »Da ist ein System drin«, erkannte er. »Eine Art energetischer ›Touch-Screen‹. Ich bin sicher, daß das der Schlüssel ist.« Er rieb sich die Hände. Während Ribur den Dolch weiter gegen den Energieschirm drückte, grinste Doorn zufrieden und berührte dann eine der durch die Strukturen angezeigten Kombinationen. Etwas blitzte unwahrscheinlich grell auf. Doorn kam nicht einmal mehr zu einem Aufschrei. Denn in der gleichen Sekunde war alles aus! Der Energieschlag hatte die Menschen vor der Panzertür blitzartig ausgeschaltet! * Das Erwachen war äußerst schmerzhaft. Dhark war minutenlang nicht sicher, ob er nicht vielleicht unter die Foltermesser der beiden korlonischen Agenten geraten war. Aber war unverletzt. Und er lag im Freien! Er sah den Dschungel vor sich. Und Bram Sass, der sich über ihn beugte. »Alles in Ordnung, Commander?« »Sicher«, keuchte Dhark und kämpfte gegen die teuflischen Schmerzen an, die seinen Körper durchrasten. »Ich bin wohl nur ein bißchen tot. Was ist passiert?« »Ich habe aufs falsche Knöpfchen gedrückt«, krächzte eine Stimme, die Dhark erst nach ein paar Sekunden Arc Doorn zuordnen konnte. »Tut mir leid, Commander!« Na klasse, dachte Dhark verärgert. Ich komme fast um vor Schmerzen, und es tut ihm leid! Daß Doorn selbst auch
betroffen war, erfaßte er erst, als Sass weiter berichtete: »Die Schaltung hat eine Entladung von Paralyseenergie ausgelöst, die Sie alle betäubt hat. Nur Oshuta und ich blieben verschont, weil wir aufs Zweite System geschaltet hatten. Wir haben Sie, Doorn und die vier Rags nach draußen gebracht.« »Warum?« fragte Dhark. Ihm wurde klar, was das für Schmerzen waren, die ihn durchzogen: Paralyseenergie! Es war nur zu lange her, daß er zum letzten Mal so getroffen worden war. Schmerzen dieser Art entstanden vornehmlich dann, wenn der Schockerstrahl nur gestreift hatte oder zu schwach war... »Die Panzertür öffnete sich hinter dem Energieschirm«, berichtete Sass. »Dahinter zeigte sich ein Gang, in dem heranschwebende Roboter erkennbar wurden, offenbar Sicherungseinheiten. Die Logik befahl, Risiken zu vermeiden und Sie außer Reichweite zu bringen.« Dhark nickte. Wahrscheinlich konnte der Energieschirm von innen leicht geöffnet werden. »Mittlerweile ist die Panzertür wieder geschlossen«, vermeldete Oshuta. »Dann können wir ja einen zweiten Versuch wagen«, verlangte Doorn. Inzwischen waren auch die anderen wieder halbwegs fit, und sie kehrten zum Energieschirm zurück. Cafer meuterte, aber diesmal konnte er sich Ren Dharks Willen nicht widersetzen. Und Dhark wollte jetzt nicht mehr zurück. Wenn sie Owid jemals wieder verlassen wollten, mußten sie sich die Technologie der Rahim nutzbar machen. Damals auf Hope war es unwahrscheinliches Glück gewesen, daß sie die Mysterioustechnik fanden, hier war es bittere Notwendigkeit. Die beiden Cyborgs verlangten, daß zunächst nur Doorn und sie vor den Energieschirm traten und die anderen auf Distanz blieben, für den Fall, daß es erneut zu einer Entladung kam. Sass übernahm es, den Schirm zu berühren und damit die Farbmuster zu erzeugen. Diesmal erwischte Doorn die richtige Kombination. Das
Energiefeld und die dahinterliegende Panzertür öffneten sich gleichzeitig. »Die Roboter!« flüsterte Doorn. Die Maschinenkonstruktionen verharrten bewegungslos in Nischen des Korridors, der in die unter dem Tempel verborgene Anlage führte. »Keine Ähnlichkeit mit MRobotern«, stellte Doorn fest. Aber das hatte nichts zu bedeuten. Die Mysterious hatten dermaßen viele unterschiedliche Robs entwickelt, deren Formen meist zweckgebunden waren, daß kaum ein Mensch den Überblick behielt. Warum sollten sie in der Galaxis Drakhon nicht noch mehr Typen entwickelt haben? Die Robs zeigten keine Reaktionen, als die acht Menschen und Rags an ihnen vorbeischritten. Offenbar reichte der Sicherheitsautomatik der Pyramide, daß der Energieschirm ordnungsgemäß abgeschaltet worden war, als Legitimation. Dennoch blieben die Terraner mißtrauisch, und Dhark, der mit fremden Robotern genug schlechte Erfahrungen gemacht hatte – besonders menschenfreundliche Exemplare waren die der Rateken gewesen – vermißte das beruhigende Gewicht eines Blasters in seiner Hand... Der Korridor führte abwärts. Nach einigen hundert Metern gelangten die Gefährten wieder einmal in eine unterirdische UBahnstation. Hier allerdings waren die Röhren nicht schon nach kaum 1.000 Metern gesprengt worden, wie eine erste Untersuchung rasch ergab. Die ganze Anlage machte einen unversehrten, betriebsbereiten Eindruck. Den Rags fielen beinahe die Augen aus dem Kopf. Mit einer solchen Hochtechnologie-Anlage mitten im tiefsten Dschungel, gut versteckt in einem scheinbar verfallenen Stufentempel, hatten sie niemals rechnen können! »Hier!« rief Oshuta die anderen zu sich. Auf einem Nebenanschlußgleis stand einer der schon aus Ruham bekannten Magnetschwebezüge – völlig unversehrt und
betriebsbereit. »Die Fahrscheine bitte – wir wollen doch pünktlich abfahren!« lästerte der Cyborg. Unterdessen durchsuchte Doorn die Anlage und stieß dabei auf einen Raum mit einem Energieerzeuger. Da er den Öffnungskode durchschaut hatte und sich die einzelnen Sperren nicht voneinander unterschieden, bekam er überall Zutritt. Am Energieerzeuger, einem kleinen, ultrakompakten Fusionsmeiler, identifizierte er ein Nebenaggregat, das ihn stutzig machte. »Hoppla«, murmelte er. »Sollte das...« Er betrachtete das Gerät eingehend. Herauszufinden, wie die Verkleidung geöffnet wurde, war eine seiner leichtesten Übungen. Und dann... »Sollte nicht nur, ist auch«, stellte er zufrieden fest. Er schloß die Verkleidung wieder und suchte Dhark, um ihn über seine Entdeckung zu informieren. Der hatte gerade eine Art Büroraum entdeckt, der offenbar einen größeren Datenspeicher beherbergte, und war von Doorns Auftauchen fast mehr begeistert als von dessen Information, das Gerät gefunden zu haben, das offenbar den planetenweiten Einfluß des geheimnisvollen Effektes abschirmte, der alle atomaren Energieerzeuger wirkungslos machte. »Großartig«, kommentierte er. »Wenn Sie mir eben jetzt hier kurz unter die Arme greifen könnten...?« Doorn verbarg seine Enttäuschung darüber, daß der Commander nicht mehr zu seiner Entdeckung zu sagen hatte, wußte aber, daß dieser sie durchaus würdigte; er setzte in diesem Moment nur andere Prioritäten. Gemeinsam aktivierten sie den Datenspeicher. Doorn pfiff durch die Zähne, als sich auf einem holographischen Bildschirm ein fantastisches Gebilde aufbaute. Es erinnerte die beiden Männer ein wenig an die Darstellung der Transmitterstraßen der Mysterious auf Erron 1.
Sie erhielten hier eine wesentlich komplexere Karte des UBahnsystems, als es das »Fahrplan-Hologramm« aus Ruham gewesen war. Beim Studium des dreidimensionalen Kartenwerks erkannten sie, daß einige Strecken an einem bestimmten Punkt auf dem Kontinent Lark zusammenliefen. Von dort führte nur eine Stichstrecke weiter. »Endet nach etwa 100 Kilometern, wenn wir den Maßstab richtig anlegen«, vermutete Sass, der mit den anderen inzwischen auch hinzugekommen war. Weitere 50 Kilometer hinter dem Ende dieser Strecke war eine große Anlage markiert, die offenbar autonom und ohne Verbindung zu allen anderen Installationen der Rahim funktionierte. Sie betrachteten die Darstellung von allen Seiten. Die Programmgehirne der beiden Cyborgs versuchten die Symbole zu entschlüsseln, verglichen sie mit früheren Speicherungen. »Das sieht aus, als könnte es sich um eine Art Verteidigungszentrale der Rahim handeln«, überlegte Arc Doorn, noch ehe Sass und Oshuta etwas dazu sagen konnten. »Wie kommen sie darauf?« staunte Dhark. Doorn schaltete plötzlich die Einstellungen der Projektion um. Die Darstellung veränderte sich, zeigte jetzt eine Planetenkugel, die förmlich um die Symbolgruppe herum wuchs, mit der jene Anlage versehen war. »Sehen Sie, Dhark? Die Position der Anlage hat mich darauf gebracht! Wenn Sie die Topographie des Planeten beachten... hier!« Wieder schaltete er mit traumwandlerischer Sicherheit um. Seine Finger flogen über die Sensorfelder der Steuerung. »Eine Bergkuppe... geradezu prädestiniert! Getarnt im Fels und trotzdem in exponierter Stellung...« »Und das haben sie alles aus der ersten Darstellung schließen können?« staunte Bram Sass. Der Sibirier grinste ihn an. »Nein, mein Bester, aber als wir den Planeten anflogen, konnte ich einen Panoramablick über
Lark erhaschen. Die paar Wolken störten nicht... und jetzt habe ich mich an die Landschaftsformationen wieder erinnert!« »Unglaublich!« gestand der Cyborg, in dessen Programmgehirn entsprechende Daten nicht gespeichert waren. »Haben Sie ein fotografisches Gedächtnis, Doorn?« »Zufall, daß ich mich daran erinnerte, weil diese Bergkuppe eine vertrackte Ähnlichkeit mit dem Jurtendach meiner Urgroßmutter hatte«, winkte der Sibirier ab. »Und hier!« Er rief die erste Projektion wieder auf und deutete auf die Symbole. »Sagen die Ihnen nichts?« »Zwei Symbole ähneln denen der Mysterious«, erkannte Dhark und deutete auf die betreffenden Zeichen. »Und gleichzeitig denen von Utaren und Tel, mit nur leichten Abweichungen!« fügte Sass hinzu. Sein Gesicht konnte keine Verblüffung über die Erkenntnis zeigen, weil er auf sein Zweites System geschaltet hatte, um Cyborgwissen abzurufen, mit dem sein Programmgehirn beim letzten Aufenthalt im Brana-Tal beschickt worden war. »Bei den Utaren steht eines der Symbole für technische Verteidigung, bei den Tel für Angriffslogistik!« »Und das andere kennen die Utaren zwar nicht, aber bei den Tel steht es für Hochenergieüberwachung«, ergänzte Oshuta. »Bei den Mysterious auch«, murmelte Dhark. »Es sind universelle Symbole«, sagte Doorn. »Wir kennen sie auch in diversen irdischen Schriften in ähnlicher Form mit nicht unbedingt gleicher, aber ähnlicher Bedeutung. Scheinbar geht die Entwicklung der Semiotik überall im Universum annähernd gleiche Wege.« »Das heißt, wir können davon ausgehen, daß Ihre Vermutung stimmt?« »Die Wahrscheinlichkeit beträgt über 70 Prozent«, hatte Sass blitzschnell ausgerechnet. »Gut. Gehen wir also davon aus, daß es tatsächlich eine Verteidigungszentrale ist. Dann liegen wir goldrichtig«, sagte
Dhark. »Wir müssen dorthin. Die Chance, daß wir dort eine Möglichkeit zur Abschaltung des planetenweiten Sperrfeldes finden, ist groß. Wenn wir das schaffen, kann auch die POINT OF wieder Kontakt mit uns aufnehmen.« Dhark sah die Gefährten an, die zustimmend nickten. Die Rags äußerten sich nicht dazu. All diese Dinge gingen teilweise über ihren Horizont, und in diesen Minuten dachte auch keiner der Terraner daran, ihnen entsprechende Erläuterungen zu geben. Vermutlich hätten die Owiden, die die Raumfahrt nicht kannten, ohnehin nicht viel davon verarbeiten können. Damit war die Entscheidung gefallen. »Arc, können Sie diese U-Bahn in Gang bringen?« »Können Fische schwimmen?« brummte der Sibirier und verließ den Archivraum. »Vergessen Sie nicht, die Datenanlage wieder abzuschalten«, rief er über die Schulter zurück. »Nicht, daß das Ding so lange läuft, daß eine Automatik die Rahim informiert und die plötzlich ein paar tausend Kampfraumer schicken, um nachzuschauen, wer hier mit ihren Sachen spielt.« Dhark nickte betroffen. Doorn hatte Recht. Mit den Hinterlassenschaften der Mysterious hatten sie entsprechend trübe Erfahrungen gemacht. Warum sollten die Rahim harmloser sein? Zwei Stunden später brachte Doorn seine Erfolgsmeldung. Er hatte die in der Station stehende U-Bahn programmiert, und die Menschen und Rags konnten einsteigen. Interessanterweise eigneten sich die Sitzgelegenheiten in der Bahn sowohl für Menschen und Rags als auch für eine Reihe anderer Fremdvölker, die Dhark im Lauf der Jahre kennengelernt hatte. Der Zug ruckte an. Die unterirdische Fahrt nach Lark begann in rasendem Tempo. Was erwartete sie dort...?
9. Wekun-Fekt nach Rigg-K! Wie lange war das her? Und warum war es heute nicht mehr möglich, diese Schaltung auszuführen...? Heilige Galaxis, warum nicht?! Es hätte alles geändert! Sinnlos... Dan Riker schloß die Augen, massierte sich die Schläfen. Die Geräusche und Stimmen, in die er eingebettet war, schienen von ihm abzurücken. Er hörte es nicht einmal, als Leon Bebir, der Zweite Offizier der POINT OF, das Wort an ihn richtete. Wekun-Fekt... Riker stöhnte leise auf. ... nach Rigg-K! Alles wäre anders gekommen, wenn die ZV noch verfügbar gewesen wäre. Diese unglaubliche Einrichtung des Ringraumers, die im Kampf gegen das Vario zerstört worden war. ZV – die gezielt herbeigeführte Zeitverschiebung! Auf Deck 3 in Raum T-675 hatte sich die Gerätschaft befunden, mit der es möglich gewesen war, Menschen und Dinge in Richtung auf die Vergangenheit zurückzuversetzen! Nur in die Vergangenheit und nicht über die Lebenszeit der jeweilig betroffenen Personen hinaus – ein paar Jahrzehnte also im günstigsten Fall. Aber das hätte schon genügt, dachte Dan Riker bitter, die Augen immer noch geschlossen, die Fingerkuppen hart gegen die pochenden Adern gepreßt. Bereits ein paar Tage hätten völlig ausgereicht...! Die Befehlsfolge, die nötig gewesen war, um die ZV zu aktivieren, hatte Wekun-Fekt nach Rigg-K gelautet. Riker erinnerte sich, als hätte er sie erst heute genutzt. Aber es war
nutzlos, das brachte die im Raum über Owid verschollenen Freunde nicht wieder zurück. Der Traum, in die Vergangenheit zu reisen und zu verhindern, daß die zwei Flash mit Ren Dhark, Arc Doorn, Bram Sass und Lati Oshuta an Bord überhaupt erst starteten, mußte ein Traum bleiben. Und die Wirklichkeit war zum Alptraum verkommen: Seit Tagen hielt sich die POINT OF im System der beiden Sonnen Bulk und Balk auf und umkreiste einen Planeten, der sich der Beobachtung entzogen hatte; eine Welt, die – dem Augenschein nach zumindest – verschwunden war! Neben dem Ringraumer befand sich noch ein zweites Schiff im hohen Orbit um die nur noch anhand ihrer Gravitationssignatur lokalisierbare Masse: der Laborzylinder der Galoaner. Dan Riker hatte die Galoaner um Hilfe gebeten – mit vereinten Kräften hatte er das energetische Tarnfeld zu knacken gehofft, das sich um Owid gelegt hatte, und dem möglicherweise vier Menschen zum Opfer gefallen waren. Denn der rätselhafte Laurinschirm entzog die Welt der Rags nicht nur der optischen Wahrnehmung, er legte ganz nebenbei auch sämtliche Stromerzeuger auf nuklearer Basis lahm! Was das für die beiden von Ren Dhark kommandierten Flash bedeutete, mochte sich Dan Riker gar nicht bis in die letzte Konsequenz ausmalen. Vielleicht war keiner der Freunde mehr am Leben. Vielleicht hatten die Speicherbänke der Kleinstraumschiffe aber doch noch genügend »Saft« geliefert, um eine einigermaßen sanfte Landung zu ermöglichen. Die POINT OF selbst war mit knapper Not aus dem Bannkreis des Dämpfungsfeldes entkommen; allerdings nur, weil die im Checkmaster beheimatete Gedankensteuerung in letzter Sekunde eingeschritten war. Aus eigener Initiative, wie so oft... »Sir, da hat sich vielleicht etwas Brauchbares ergeben.« Leon Bebir war in die Zentrale gekommen und sprach Ren
Dharks Stellvertreter im Schiff und seinen besten Freund seit den Tagen an Bord der GALAXIS leise an, wie es seine Art war. Doch Dan Rikers Gedanken waren so weit weg, daß Bebirs Stimme nicht bis zu seinem Bewußtsein vordrang. Rikers Gedanken kreisten um den Freund – nein, um die Freunde in Gefahr. Denn alle Menschen an Bord der POINT OF waren durch die gemeinsam überstandenen Abenteuer, die gemeinsam durchlittenen Gefahren, aber auch durch die gemeinsam errungenen Siege zu einer verschworenen Gemeinschaft geworden, wie es keine zweite an Bord eines terranischen Raumschiffes gab... »Sir?« Wieder Bebirs Stimme, diesmal deutlich ungeduldiger. Dan Riker erwachte wie aus einer Trance. Der Ausdruck auf seinem markant geschnittenen Gesicht wirkte aber auch weiterhin leicht abwesend. Ein Schleier schien sich vor die sonst so klaren Augen geschoben zu haben, über denen sich buschige Brauen wölbten, ebenso tiefschwarz wie der Schopf. Auf dem streng hervortretenden Kinn hatte sich ein verräterischer Fleck gebildet, wie immer, wenn Rikers Adrenalinausstoß nach oben ging. Bebir stand genau zwischen Kommandositz und Bildkugel. Das Kunstlicht der Zentrale hob jede noch so kleine Furche im Gesicht des dunkelhaarigen Offiziers scharf hervor. »Shodonn verlangt nach Ihnen«, sagte er. »Er behauptet, einen Fortschritt erzielt zu haben.« »Er behauptet...« Bebirs Wortwahl verriet, daß auch seine Hoffnungen, was die in Drakhon beheimatete Spezies anging, von Stunde zu Stunde mehr schwanden. Die Galoaner unter ihrem Chefwissenschaftler Shodonn waren kürzlich im Doppelsternsystem eingetroffen. Aber die großen Erwartungen, die die Ringraumer-Besatzung in sie gesetzt hatte, waren unerfüllt geblieben. Daran änderte auch Shodonns offenkundiges Bemühen
nichts. Shodonn, der Weise. Shodonn, der Unsterbliche. Unsterblich auf eine höchst eigenwillige, nicht unbedingt erstrebenswerte Art und Weise... Riker schüttelte den Kopf. Es half, die Anwandlung, die ihn überkommen hatte, endlich doch zu vertreiben. Wieder nüchterner, vielleicht auch ein wenig optimistischer in die Zukunft zu sehen. »Legen Sie das Gespräch auf meine Konsole.« Bebir erwiderte: »Er ist nicht mehr in der Leitung. Er bittet Sie, zur H'LAYV überzuwechseln. Es geht um den Flash, den wir ihnen zu Untersuchungszwecken geschickt haben.« Riker überlegte nur kurz. »In Ordnung.« An Bebir vorbei wandte er sich an den Ersten Offizier des Ringraumers: »Falluta, Sie übernehmen in meiner Abwesenheit das Kommando. Ich werde bald wieder zurücksein...« * Die H'LAYV war ein Zylinder von 200 Meter Länge und rund 60 Meter Durchmesser und viel mehr als ein bloßer Forschungsraumer – sie war Shodonns Panzer, seine Rüstung, seine Festung. Das Mitglied des Nareidums, so hatte es den Anschein, mußte um jeden Preis geschützt werden. Und doch hatte die auf den sechsten Planeten zurückgedrängte Nomadenflotte kurz davor gestanden, das Galoanerschiff zu vernichten. Nur dem Eingreifen der POINT OF und aller verfügbaren Flash war es zu verdanken, daß das Schiff und seine Besatzung unbeschadet geblieben waren. Allen voran Shodonn selbst. »Shodonn«, rann es Dan Riker fast unbewußt von den Lippen, während er den Abgrund überwand, der zwischen den beiden parallel fliegenden Schiffen klaffte.
Ein Abgrund tief wie das Universum. Riker schauderte. Der filmdünne M-Anzug schützte sicher vor Kälte und Vakuum. Aber gerade weil er den Körper fast wie eine zweite Haut umgab, ermöglichte er eine beeindruckende Nähe zur Unendlichkeit des Alls, das noch nichts von seiner Faszination eingebüßt hatte. Im Gegenteil. Riker hatte das Gefühl, es spüren zu können, daß sie die heimatliche Galaxis verlassen und sich in den Dschungel einer anderen vorgewagt hatten. Eine Sternenballung mit – das hatte sich gezeigt – teilweise verstörenden Naturgesetzen. Transitionen waren nur höchst begrenzt möglich. Und auch die Zeit schien hier mitunter anderen Gesetzen zu folgen beziehungsweise es hatte den Anschein, als besäße Drakhon eine andere Eigenzeit. Dazu gab es die wildesten Theorien. Aber keine letztgültige Erkenntnis. Es war rund 250 Jahre (nach irdischen Maßstäben) her, daß Transitionen in dieser Galaxis von einem auf den anderen Tag nur noch über geringe Entfernungen möglich waren. Mehr als zehn Lichttage bewältigte selbst das stärkste Transitionstriebwerk nicht mehr, auch wenn es früher gut dafür gewesen wäre, ein Schiff über Lichtjahrtausende zu schleudern. Die Völker Drakhons hatten aus der Not eine Tugend gemacht und die Technik der künstlichen Wurmlocherzeugung perfektioniert. Die Idee war auch den Terranern nicht unbekannt: Wenn man ein ausreichend starkes Schwerkraftfeld erzeugte, ließ sich der Raum sozusagen »aufeinanderfalten«: Zwischen zwei weit entfernten Orten im Weltall entstand eine Abkürzung, eine Art Schlauch, der durch das übergeordnete Kontinuum führte und mit normalem Impulsantrieb durchflogen werden konnte. Dieser künstlich erzeugte Weg war wesentlich kürzer als die entsprechende Verbindung durch den Normalraum. Der Name »Wurmloch« stammte von dem Bild, mit dem
man in der technischen Frühzeit auf Terra das Verfahren plastisch darzustellen versucht hatte: Ein Wurm, der über die Schale eines Apfels kroch, mußte einen wesentlich weiteren Weg bis zur gegenüberliegenden Seite der Frucht zurücklegen, als wenn er sich einen Gang mitten durch den Apfel fraß: das Wurmloch. Das künstlich erzeugte Feld extremer Schwerkraft, das ein Wurmloch vor dem jeweiligen Raumschiff öffnete, riß gewissermaßen ein Loch in die Struktur des Universums. Der so geschaffene Durchgang ließ sich mit relativ geringem Energieaufwand durchfliegen. Trotzdem hatte er gegenüber dem Transitionsantrieb einen entscheidenden Nachteil: Während eine Transition in Nullzeit erfolgte, ließ sich auch mit den ausgeklügeltsten Methoden bis heute nicht genau berechnen, wie lange die Durchquerung eines Wurmloches dauerte. Manchmal benötigten die Schiffe in Drakhon Wochen, um relativ geringe Entfernungen von wenigen Lichtjahren zu überwinden, und manchmal brachten sie zehntausend Lichtjahre in wenigen Stunden hinter sich. Welche Einflüsse des übergeordneten Kontinuums dafür verantwortlich waren, hatte bis heute nicht festgestellt werden können. Genauso wenig besaß man eine Vorstellung davon, welche Naturgesetze in Drakhon dafür sorgten, daß Transitionen von einem Tag auf den anderen nur noch als »kleine Hopser« möglich waren. Die Milchstraße war ja nach kosmischen Maßstäben nur einen Katzensprung entfernt – tatsächlich vermischten sich die beiden Galaxien in ihren äußersten Randbezirken schon miteinander – doch in ihr ließen sich Transitionen nach wie vor einwandfrei durchführen. Als die POINT OF nach Drakhon eingeflogen war, hatte die Besatzung feststellen müssen, daß auch das Superschiff der Mysterious nicht mehr in der Lage war, über mehr als ein paar Lichttage hinweg zu transitieren. Doch sein einmaliger
Sternensog-Antrieb versetzte es in eine komfortable Lage: Der überlichtschnelle Flug im Schutz der Intervallfelder funktionierte nach wie vor. Er war nicht nur wesentlich komfortabler als die Wurmloch-Technik der Drakhon-Völker, er war auch bedeutend schneller und ermöglichte ungleich größere Reichweiten. Ein weiterer unbestreitbarer Vorteil der POINT OF war die Fähigkeit ihrer Ortungszentrale, den Aufbau von Wurmlöchern zu orten. Damit wußte man im günstigsten Fall schon einige Stunden im Voraus, ob und wo Schiffe mit diesem Antrieb auftauchen würden. Allerdings verfügte die Besatzung des Ringschiffes im Gegensatz zu den raumfahrenden Völkern Drakhons bisher noch nicht über die Möglichkeit, anzumessen, zu welchem Ziel ein Wurmloch-Schiff verschwunden war. Diese eklatanten Unterschiede der Naturgesetze zwischen Drakhon und Milchstraße waren eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. So wie allerdings die gesamte Existenz der fremden Galaxis an der Grenze zur heimatlichen Sterneninsel mit den Erkenntnissen terranischer Wissenschaft nicht zu erklären war. Selbst die Annahme, die drohende Kollision mit Drakhon sei für die verheerenden Magnetstürme in der Heimat verantwortlich, war nichts als eine Hypothese. Streng betrachtet, tappte man nach wie vor im Dunkeln. Die Menschen aus der Milchstraße hatten gehofft, dies ändern zu können, indem sie die Rahim aufspürten – die einstigen Herren von Drakhon, die sich vor rund 600 Erdenjahren aus unerfindlichen Gründen von der galaktischen Bühne zurückgezogen hatten. Bis dahin waren sie das mächtigste Volk in der Zweiten Galaxis gewesen. Und doch schien heutzutage niemand auch nur mehr sagen zu können, wie die Rahim ausgesehen hatten! Rahim – Mysterious. Riker wußte, daß sein Freund Ren Dhark die Übereinstimmungen zwischen diesen beiden so
geheimnisumwobenen Spezies zuletzt nicht mehr als zufällig betrachtet hatte. Waren die Rahim, die vor sechs Jahrhunderten den Rückzug antraten, identisch mit den Mysterious, die vor rund tausend Jahren aus der heimatlichen Milchstraße verschwunden waren und dort so viele Vermächtnisse hinterlassen hatten? Unter anderem die POINT OF...? Riker erreichte die gegenüberliegende Schleuse, die sich bereitwillig vor ihm öffnete. Innerhalb des Zylinders war seine Ankunft exakt erfaßt worden. Der energetische Schlauch, der das Ring- und das Zylinderschiff zeitweilig verband, war seit dem Kampf gegen die Nomaden deaktiviert und wurde nur noch jeweils bei Bedarf aufgebaut. Riker hatte bewußt darauf verzichtet. Die Nähe zur Unendlichkeit, wie sie ein M-Anzug ermöglichte, hatte er lange nicht mehr genossen. Hinter ihm schloß sich das äußere Schott der Kammer. Eine Atmosphäre wurde aufgebaut. Riker hielt den Helm trotzdem geschlossen. Der für Galoaner ideale Luftdruck entsprach in etwa dem auf einem irdischen Siebentausender. Er wartete, bis sich das innere Schott öffnete, dann trat er auf einen hellerleuchteten Korridor, wo er bereits erwartet wurde. Von einem Galoaner, den er kannte: Rhaklan. Er war Shodonns Wirt. Er trug jenen »Seelenchip« am Körper, in dem das Bewußtsein des Weisen derzeit gespeichert war. Shodonn hatte das Konglomerat der Seelen auf Galoa verlassen, hatte sich der Herausforderung im Bulk/BalkSystem gestellt. Riker wußte nicht, ob er dem Entleibten damit Unrecht tat, aber er hielt es für möglich, daß der Weise es mittlerweile bereute, den sicheren Hort des Nareidums verlassen zu haben. »Ich grüße euch«, sagte er. Der Außenlautsprecher seines Anzugs übertrug die Worte, so daß sowohl Rhaklan als auch Shodonn sie empfingen. In beiden Fällen half die
zwischengeschaltete Übersetzungseinheit. Das äußere Erscheinungsbild eines Galoaners erschien einem Menschen als exotisch: Rhaklan war von für sein Volk typisch zierlicher Gestalt, verfügte aber über einen ausladenden Brustkorb, in dem sich die große Lunge verbarg. Seine Haut war schuppig wie bei Echsen. Im Schnitt maßen Galoaner knapp 1,80 Meter, wobei ihr Körpergewicht selten die 50 KiloMarke überstieg. Ihr Aussehen war schon gewöhnungsbedürftig – genau wie im umgekehrten Fall der menschliche Anblick für diese Spezies überaus exotisch sein mußte. Hier wie da handelte es sich um Humanoide. Der birnenförmige Schädel eines Galoaners saß jedoch mit seinem größten Durchmesser halslos auf dem Rumpf auf und wurde im unteren Drittel von einem organischen Wulst umlaufen, in dem sich sämtliche Sinnesorgane befanden. Zugleich ermöglichte er den Blick nach allen Richtungen. Es gab eine kombinierte Mund /Atmungsöffnung an der höchsten Stelle des Kopfes. Die feinnervigen Hände waren viergliedrig. Während Rhaklan selbst stumm blieb, erklärte eine wohlmodulierte Stimme aus dem Gerät, das der Galoaner wie einen Orden an seiner tonnenförmigen Brust trug: »Auch wenn wir, was das eigentliche Problem angeht, noch nicht entscheidend weitergekommen sind, so haben andere Tests doch wenigstens ergeben, daß berechtigte Hoffnung auf ein Überleben der Vermißten besteht...« * Shodonn/Rhaklan führte Dan Riker in eine Sektion des gewaltigen Hohlkörpers, in der inmitten fremdartiger Technik auch etwas Vertrautes zu finden war: Flash 018. Tags zuvor hatte Shodonn überraschend die Bitte an Riker
herangetragen, sich eines der kleinen, durchschlagkräftigen Beiboote der POINT OF bedienen zu dürfen, um es sich einmal »aus der Nähe« anzusehen. Riker hatte zunächst gezögert. Mochten die Galoaner erwiesenermaßen eine auch noch so freundliche und pazifistische Spezies sein, ihnen das Innenleben eines Mysterious-Produkts quasi auf dem Präsentierteller zu servieren, erschien ihm denn doch des Entgegenkommens zuviel. Aber Shodonn hatte begriffen, worauf sich die Vorbehalte bezogen und versprochen, es bei einer »oberflächlichen« Sichtung zu belassen – was immer das für einen Galoaner heißen mochte. Ausschlaggebend für Rikers Einlenken war jedoch letztlich der Grund gewesen, weshalb Shodonn plötzlich ein gesteigertes Interesse an den Flash zeigte: Nach eigener Aussage war er immer noch nicht in der Lage, den Schirm um Owid zu neutralisieren, aber nun konnte er seine Eigenschaften kopieren. Im Klartext, so Shodonn, bedeutete das: Er wollte hier an Bord der H'LAYV künstlich und auf engstem Raum begrenzt Verhältnisse schaffen, wie sie auch in der Gefahrenzone um den Rag-Planeten herrschten. Einziger Sinn und Zweck dieses Unterfangens sollte es sein, endlich eine fundierte Antwort auf die Frage zu finden, ob die beiden verschollenen Flash eine Chance zur sicheren Notlandung gehabt hatten oder nicht... Und offenbar war dies, wie Shodonns Begrüßung andeutete, tatsächlich der Fall! Es war nicht Rikers erster Besuch in diesem Tohuwabohu von Gerätschaften und galoanischen Wissenschaftlern. Dennoch beeindruckten ihn Stimmung und Architektur erneut. Er kannte weder die Besatzungsstärke noch die Bedeutung einzelner Einrichtungen, aber alles schien miteinander zu
harmonieren, eingetaucht in wohltuendes gelbes Licht. Der Hohlraum maß in seiner Länge etwa achtzig, in der Breite vierzig und in der Höhe fünfundzwanzig Meter. Er war nicht in herkömmliche Etagen aufgeteilt, aber manche Forschungsmodule ragten bis fast unter die Decke und waren über A-Gravstraßen zugänglich. Es gab auch sehr niedrig bebaute Parzellen, in denen offenbar Pflanzen gezüchtet wurden. Pflanzen, wie Riker sie noch auf keiner Welt gesehen hatte: mannshoch und mit ausladenden Blütenkelchen unterschiedlicher Färbung. Im Innern dieser Kelche waberte es, als würde elektrische Energie fließen. Darauf angesprochen, erklärte Shodonn: »Es sind keine einfachen Pflanzen, wie du glaubst. Sie kommen in natürlicher Form auf keinem Planeten vor, sondern wurden von uns künstlich kreiert. Es sind Mentalreiniger, ganz auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten.« »Von welchen Bedürfnissen redest du?« »Wir besitzen eine Kraft in uns, das Jann. Sie dürfte dir nicht unbekannt sein, jedenfalls versetzt sie uns in die Lage, die Geisteskräfte anderer Lebewesen bei Bedarf zu absorbieren, ihr nennt es, glaube ich, absaugen. Dadurch werden sie hilflos. Die Natur hat uns mit dieser Gabe beschenkt, als wir noch ein sehr primitives, technikfreies Dasein führten und uns häufig gegen wilde Tiere verteidigen mußten. Inzwischen bemühen wir unsere diesbezüglichen Fähigkeiten nur noch äußerst selten, zumal das Volk, das uns am meisten Probleme bereitet, eine angeborene Immunität gegen das Jann besitzt.« »Die Nomaden«, sagte Riker. Er nickte. »Du hast immer noch nicht erklärt, was du unter Mentalreinigung im Zusammenhang mit diesen herrlich anzuschauenden Gewächsen verstehst.« »Erkläre du es, Rhaklan«, sagte die Stimme aus dem Seelenchip. »Deine Eindrücke sind frischer als meine, ich bin auf diese Prozedur nicht mehr angewiesen.«
Rhaklan, der zu keinem Moment eine unterwürfige Haltung einnahm, sondern sich im allgemeinen einfach völlig zurückhielt, ergriff mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der er sonst schwieg, nun das Wort, wobei er seine Rede mit Gesten unterstrich. »In gewissen Zyklen baut sich in uns Streß auf, der darauf zurückzuführen ist, daß wir unsere Natur kasteien. Wären wir kriegerisch veranlagt oder nötigte uns der tägliche Überlebenskampf in einer Wildnis immer noch den permanenten Einsatz unserer Parakräfte ab, käme es nicht zu diesem Streßsyndrom. So aber sahen sich unsere Wissenschaftler genötigt, einen Weg zu finden, damit fertigzuwerden, auch ohne das Jann gegen anderes Leben zu richten.« »Richtet ihr es statt dessen gegen diese... Blumen?« Rhaklan verneinte. »Das ist nicht nötig. Wir brauchen uns nicht mehr bewußt um den Abbau der angestauten psionischen Energie zu kümmern. Die bloße Anwesenheit der Fonggs reicht völlig aus, sie unmerklich abzubauen. Sie erzeugen eine Hintergrundstrahlung, die –« »Strahlung?« Riker horchte auf. »Nichts, was dir oder anderen Lebewesen gefährlich werden könnte. Ihr besitzt keine Quelle in euch, die durch eine Fongg stimuliert werden könnte.« »Warum sind mir die Blumen nicht bei meinem ersten Besuch aufgefallen?« »Sie sind gerade erst im Wachsen begriffen. Beim Start von Galoa nahmen wir etwas Samen mit. Inzwischen ist die Saat aufgegangen. Es eilt nicht. Die Zyklen der notwendigen Karthasis, von denen ich sprach, wiederholen sich nicht allzu oft, nur einmal pro Monat...« Obwohl ihn das Thema in gewisser Weise faszinierte, lenkte Riker das Gespräch auf den eigentlichen Grund seines Besuchs auf dem galoanischen Forschungsraumer. »Du hast von
berechtigter Hoffnung auf ein Überleben der beiden Flashbesatzungen gesprochen, die auf Owid verschollen sind«, sagte er, den Arm in Richtung der 018 ausstreckend, die auf ihren spinnenbeinartigen Auslegern ruhte. Das Verdeck war geschlossen. Das Unitall der Hülle schimmerte blauviolett im Licht des gewaltigen Technogewölbes, das Riker betreten hatte. »Was haben die Tests, die du durchführen wolltest, ergeben?« »Es gelang uns, die Einflüsse des Schildes, der Owid umgibt, zu simulieren. Das Bordgehirn des Kleinstschiffes – ihr nennt es die Gedankensteuerung – stand die ganze Zeit über mit uns in Verbindung, so daß wir die Reaktionen, die das Dämpfungsfeld hervorrief, sowohl von innen als auch von außen analysieren konnten. Das Ergebnis ist eindeutig: Nach einem ersten Totalausfall aller Systeme reaktivierten sich Notreserven, die eine glimpfliche Landung wahrscheinlich erscheinen lassen.« Rikers Blick löste sich von dem Flash. Er starrte auf den Ringwulst, der Rhaklans Schädel umlief, aber er meinte Shodonn, als er fragte: »Wenn Notreserven verfügbar blieben, warum wurden sie nicht genutzt, um zur POINT OF zurückzukehren?« »Du zweifelst an meinen Ergebnissen?« »Ich stelle nur eine Frage.« Shodonn schien sich damit zufriedenzugeben. »Der Energieaufwand«, sagte er, »um dem Schwerefeld Owids zu entfliehen, ist um ein Vielfaches höher als der, der für eine sanfte Landung benötigt wird. Ich kann nicht sagen, ob die Insassen der Boote in der Lage waren, die Kontrolle über ihre Fahrzeuge zu behalten oder ob diese bemerkenswerte Steuerung, die zu Eigeninitiative fähig ist, das Kommando an sich riß...« In diesem Augenblick kam über Helmfunk die Meldung: »Sir, hier spricht Falluta. Auf Sechs tut sich etwas. Ich dachte,
Sie sollten es wissen.« »Sechs« war der interne Begriff für den sechsten Planeten des Doppelsonnensystems geblieben, auf dem die Reste der Nomadenflotte zur Landung gezwungen worden waren. »Etwas präziser, bitte!« »Es gibt gewisse Aktivitäten bei den Schiffen.« »Wollen sie den Planeten verlassen?« »Sie haben ihre Schilde aktiviert. Das könnte darauf hindeuten, daß sie es in nächster Zeit vorhaben...« Riker wandte sich an Shodonn, der die Nachricht über seine kybernetischen Sinne ebenfalls empfangen hatte: »Ich muß zurück. Aber ich würde mich freuen, wenn mir Shodonn die Ehre erweisen würde, mich auch einmal auf meinem Schiff zu besuchen. Mir geht da schon geraume Zeit eine Idee nicht mehr aus dem Kopf, die aus galoanischer Sicht primitiv anmuten mag, aber vielleicht... nun vielleicht gerade wegen ihrer Einfachheit funktionieren könnte. Vielleicht können wir sie besprechen, sobald die Situation auf dem Methanplaneten es wieder zuläßt...?« * Dr. San Wolko war froh, endlich einmal eine »handfeste« Aufgabe gestellt zu bekommen. In Zusammenarbeit mit dem Energieexperten Brom und dem Kybernetiker Jo Getrup setzte er das, was Shodonn »Rikers Idee« genannt hatte, in die Tat um. Eine der Standardsonden, die der Kartographierung und Erkundung von Planeten dienten, wurde von Getrup in Zusammenarbeit mit Brom soweit modifiziert, daß sie nach den typischen Emissionen eines Flash Ausschau halten sollte. Dr. San Wolko überwachte währenddessen die Produktion eines Spezialkabels von zehn Kilometer Länge in den Bordwerkstätten der H'LAYV. Der Wissenschaftler war eine
Koryphäe, was Verbundwerkstoffe anging. Er wußte, worauf es ankam und legte das Resultat in rekordverdächtiger Zeit vor. Wobei ihn die Techniker der POINT OF allerdings nach Kräften unterstützten. Rikers Idee, so banal sie auch klingen mochte – besonders für einen Denker mit Shodonns Erfahrung – hatte auf Anhieb jeden begeistert. Und alle, die davon hörten, wollten sie so rasch wie möglich umgesetzt sehen. Die Idee: eine Sonde am Seil. Die terranische Raumfahrt hatte ähnliche Versuche in der Steinzeit ihrer Entwicklung durchgeführt, um detaillierte Erkenntnisse über die Atmosphärenzusammensetzung der Erde zu gewinnen. Und nun sollte dieses Prinzip über Owid praktiziert werden. Bislang war der Kontakt zu jeder Sonde abgebrochen, kaum daß sie die unsichtbare Grenze durchstoßen hatte. Mochten ihre modifizierten Antriebssysteme auch nicht zwingend ausgefallen sein, Fakt war, daß sie keinen einzigen Informationsimpuls zur POINT OF zurückgesendet hatten, was theoretisch ja sogar noch während eines Absturzes hätte möglich sein müssen. War es aber allem Anschein nach nicht. Der Schirm um Owid schluckte auch jeden Funkimpuls. Rikers Idee basierte auf permanentem Daten- und Energiefluß, und die dabei angewandte Methode war regelrecht primitiv. Möglicherweise war aber gerade das der Schlüssel zum fieberhaft ersehnten Erfolg. Dr. San Wolkos Kabel beinhaltete drei voneinander völlig unabhängige Adern. Ader eins versorgte die »eingehängte« und angeschlossene Sonde unablässig mit Arbeitsstrom. Ader zwei diente dazu, die »Sinne« der Sonde gegebenenfalls auf bestimmte Ziele auszurichten und eine wahrscheinlich erforderliche Feinabstimmung zu ermöglichen. Und Ader drei schließlich
war diejenige, die eine wahre Flut von Informationen von jenseits des Schirms senden sollte. Drei Adern – eine Aufgabe: Licht ins Dunkel der Geschehnisse auf Owid zu bringen. Vielleicht sogar Kontakt zu den Vermißten herzustellen. Endlich hundertprozentige Gewißheit auf die quälendste aller Fragen zu erhalten: Lebten Ren Dhark und seine Begleiter noch? Oder hatte die Falle der Rahim sie schon unmittelbar nach dem Zuschnappen umgebracht...? * Dan Riker hatte sich im Schleusenbereich eingefunden, wo der Test vorbereitet war. Das Unternehmen, das einen Blick hinter den Vorhang um Owid gestatten sollte. Shodonn war als Gast an Bord gekommen... »Was ist das für ein Generator, der huckepack auf die Sonde geschnallt ist?« wandte sich Riker verwundert an die federführenden Wissenschaftler, die gerade eine letzte Überprüfung durchführten. »Kann es sein, daß wir uns mißverstanden haben? Der Clou sollte doch sein, daß der Energieerzeuger hier an Bord ist und somit nicht den Einflüssen des Dämmfelds unterliegt...!« Getrup, Robotiker und Grundlagenforscher in Personalunion, trat auf Riker zu. »Entschuldigen Sie, ich hätte Sie um Erlaubnis fragen müssen – andererseits beeinträchtigt mein ›Zusatzpaket‹ die von Ihnen initiierte Mission in keinster Weise.« »Was verstehen Sie unter ›Zusatzpaket‹?« fragte Riker gereizt. Neben ihm bewegte sich Rhaklan unruhig, schwieg aber ebenso wie Shodonn in seinem Seelenchip. Auch Dro Cimc hatte es sich nicht nehmen lassen, Riker
nach Hangar vier zu begleiten. Er setzte eine gewichtige Miene auf, als hätte er bereits verstanden, was Getrup vorhatte. Um so verärgerter wartete Riker auf die Erklärung des Wissenschaftlers. Die er auch erhielt. Und danach fand auch er nichts mehr daran auszusetzen. »Steht die Abschirmung?« Er meinte das eigens installierte Energiefeld, das einen Aufenthalt innerhalb des Hangars auch dann ermöglichen sollte, wenn das Schleusenschott geöffnete wurde, um die Sonde abzuspulen. »Steht«, meldete Dr. San Wolko, der die Vorrichtung bedienen würde. »Dann fangen Sie jetzt an. Daten wie besprochen über den Checkmaster auf die Bildkugel leiten. Unser galoanischer Gast und ich werden die Aktion von der Zentrale aus verfolgen. – Wer...? Wie steht es mit Ihnen?« Dro Cimc nickte ernst. Dann folgte auch er. * Das torpedoähnliche Gerät mit dem aufgepflanzten, nicht zu seiner Energieversorgung gehörigen Miniaturmeiler, der auf thermonuklearer Basis arbeitete, fiel der Schwärze entgegen. Das Dreifachkabel war gegen die Schwärze des Hintergrunds kaum auszumachen, nicht ohne entsprechende optische Hervorhebung jedenfalls. Aber die Bildkugel zeigte einmal mehr, zu welchen Leistungen sie fähig war. Im Zusammenspiel mit dem Checkmaster, jenem Superrechner der Mysterious. Owid war als aufgerasterte Kugel zu sehen – eine Simulation, die als Platzhalter für das Nichts diente, über dem die POINT OF tatsächlich ihren Orbit hielt.
Auch die POINT OF war stilisiert in die Checkmastersimulation eingebracht. Ebenso die Sonde. Die Geschehnisse in der Bildkugel entsprachen, obwohl simuliert, der Realität, die sich draußen abspielte. Die Sonde stürzte tiefer und tiefer, das verbindende Kabel spulte sich enorm schnell ab. Insgesamt war es zehn Kilometer lang, der Durchmesser der Sonde betrug ohne den Testgenerator einen knappen Meter. Angespannt verfolgten Riker und Dro Cimc den Fortgang des Versuchs. Bislang hatte man immer wieder Sonden gestartet, die sofort nach Überschreitung einer gewissen Grenze, die in einer geschätzten Höhe von einhundert Kilometern über der Oberfläche lag, verlorengegangen waren. Ohne den geringsten Pieps. Ohne auch nur eine verwertbare Information zu übermitteln. Sudden Death nannten die beteiligten Forscher das Phänomen... Was war mit Shodonn? Welche Gedanken beschäftigten den galoanischen Weisen, während er zusah, wie sich die Terraner einer absolut primitiven Methode besannen, um auf diese Weise vielleicht doch einen Blick unter den Vorhang zu erhaschen? Rhaklan, der Wirt, blickte konzentriert auf die Holokugel. Was Shodonn dachte, hatte mit dem ohnehin schwerverständlichen »Mienenspiel« des Wirts nichts zu tun. Riker widmete sich wieder ganz dem Geschehen. Lauschte den Meldungen, die aus dem Hangarraum kamen. Las die Einblendungen des Checkmasters. Die POINT OF hatte sich der unsichtbaren Grenze bis auf sechs Kilometer genähert. Das war vertretbar. Aus dem Rettungsversuch – als man den beiden Flash gefolgt war, bis die Gedankensteuerung
eingegriffen hatte – wußte man, daß die absolute Gefahrengrenze für die Automatik offenbar fünf Kilometer über dem eigentlichen Laurinschirm begann. Riker hoffte, daß sechs Kilometer Abstand als Toleranz genügten. Notfalls konnte – sollte! – die Automatik erneut eingreifen... Die Länge des Sondenkabels war in voller Absicht auf zehn Kilometer beschränkt worden. Bei einem Erfolg des Experiments könnte man längere Kabel produzieren. Die Sonde würde sich also bis auf maximal vier Kilometer jenseits des Schirms begeben. Allerdings wußte niemand an Bord, wie dick dieser Schirm war. Auf jeden Fall war es möglich, aus dieser Höhe Bilder von phantastischer Schärfe zu übertragen und zugleich... »Sonde durchstößt Grenze!« Das war Anjas Stimme, die neben dem Checkmaster stand und von dort aus das Zusammenspiel zwischen Sonde und Rechner überwachte. »Fenster in der Bildkugel öffnen. Sämtliche ankommenden Daten der Sonde dort hinein!« rief Riker ihr zu. »Schon passiert.« Im Hologramm öffnete sich ein Segment, das durch Farbeffekte von der übrigen Übertragung abgegrenzt war. Als Riker und die anderen Betrachter noch keine Bilder erwarteten, sondern erst einmal abstraktere Daten, verblüffte die Sonde sie damit, daß sie Owid zeigte, wie er sich der POINT OF dargeboten hatte, bevor er mitsamt den beiden Flash von der Bildfläche verschwunden war. Jubel brandete in der Zentrale los. Auch Riker konnte sich dem nicht entziehen. Spontan umarmte er Dro Cimc, der ihn irritiert ansah, aber nichts weiter sagte. »Geschafft!« »Nicht so voreilig«, warnte der Wer.
»Tino?« Riker hörte nicht daauf, sondern wandte sich an den Ortungsspezialisten Grappa, mit dem schon vorher abgesprochen war, auf was er sein Hauptaugenmerk lenken sollte. Seine Systeme waren über Kabel mit der Aufklärungssonde gekoppelt. Tino Grappa zuckte die Achseln. »Negativ«, sagte er unglücklich. »Aber so schnell war auch nicht zu erwarten, daß...« »Versuchen Sie es weiter!« Die POINT OF vollführte mehrere Umläufe. Die Sonde übertrug wunderschöne Bilder von beeindruckender Klarheit. Aber nicht eines beantwortete die Frage nach dem Verbleib der beiden Flash und ihrer Besatzungen. »Negativ«, lautete immer wieder Tino Grappas Kommentar, wenn er Rikers Frage beantwortete, ob er Hinweise auf die Flash oder sonstige hochenergetische Prozesse entdeckt habe. »Negativ!« Der Testgenerator auf der Sonde war sofort nach dem Durchstoßen der Grenze ausgefallen. Erwartungsgemäß. Denn das Feld unbekannter Natur, das den Planeten Owid umschloß, machte diesen nicht nur unsichtbar und ließ ihn für fast alle Ortungssysteme scheinbar verschwinden – nur die Masseortung konnte die Existenz des Planeten noch nachweisen – es verhinderte offenbar auch alle Vorgänge kernphysikalischer Natur. Die mit einfacher elektrischer Energie betriebenen Bordgeräte der Sonde versahen klaglos ihren Dienst, erfaßten Bilder und Daten und übermittelten sie via Kabel an den Checkmaster. Der angekoppelte Generator allerdings hatte seinen Dienst eingestellt. Und zwar nicht etwa deshalb, weil die Regulatormedien die Kernprozesse unterdrückt hätten oder weil die für eine Fusion der Atome notwendige
Ausgangsenergie nicht mehr zur Verfügung gestanden hätte – nein, das Plasma im Reaktor hatte einfach aufgehört, kernphysikalisch zu reagieren. Die Überwachungsgeräte zeigten an, daß der Meiler von einem auf den anderen Augenblick kalt geworden war. Allerdings war dieser Fall nach diversen Hochrechnungen und Simulationen sowohl des Checkmasters als auch des Großrechners an Bord der H'LAYV eigentlich ebenfalls erwartungsgemäß eingetreten. Nicht erwartungsgemäß war das, was während des siebten Umlaufs geschah. Von keinem mehr erwartet, riß die Gedankensteuerung plötzlich wieder das Kommando an sich und beschleunigte den Ringraumer so stark von dem unsichtbaren Planeten weg, daß das Kabel riß und die Sonde auf Nimmerwiedersehen verschwand. Die Übertragung von Bilder und Daten von der Planetenoberfläche brach übergangslos ab. Die POINT OF jagte mit Höchstwerten auf eine höhere Umlaufbahn. Die Gedankensteuerung brach das Manöver erst ab, als sie im gleichen Abstand wie das Forschungsschiff der Galoaner den Planeten umkreiste. »Teufel, was sollte das denn nun schon wieder? Anja, ich möchte eine klare Antwort von dem Kasten!« raunzte Dan Riker seine Ehefrau an. Anja Riker galt als eine der führenden Kapazitäten der Menschheit auf dem Gebiet der MysteriousMathematik. Sie war schon auf dem Weg zur CheckmasterKonsole, als die Anordnung des Schiffsführers durch die Zentrale schallte. Die Erklärung, die der Checkmaster wenig später lieferte, überschattete beinahe den Teilerfolg des Unternehmens. »Er hat uns warum von Owid wegkatapultiert?« fragte Dan Riker seine Frau Anja mit unverhohlenem Zweifel. »Er behauptet, das Unsichtbarkeitsund
Energieeindämmungsfeld habe sich plötzlich ausgeweitet – so als hätte eine unbekannte Kontrollstelle auf unseren Versuch reagiert«, wiederholte Anja das bereits Gesagte noch einmal geduldig.
10. Chatoo und Jarak kannten sich schon von Kindesbeinen an. Beide gehörten zum vierzigköpfigen Stamm der Uma, der im Bergwald sein Zeltdorf errichtet hatte. Angeführt wurde die Gruppe vom Dorfältesten, wie es bei allen Stämmen der Pugaren seit jeher Tradition war. Jeder Stamm hatte seine eigenen Regeln, denen sich alle Stammesmitglieder zu unterwerfen hatten. Paarung und Vermehrung war bei den Uma ausdrücklich erwünscht, um das kleine Volk vor dem Aussterben zu bewahren. Allerdings durfte der dazu erforderliche Akt nur zu nächtlicher Stunde in völliger Dunkelheit vollzogen werden, denn tagsüber – so hieß es in den alten Legenden – schliefen die Fruchtbarkeitsgötter, und Feuerschein schreckte sie ab. Jede körperliche Vereinigung bei Tageslicht oder am Lagerfeuer wurde daher als sündhaft angesehen und bestraft. Jarak, der Enkel des Dorfältesten, lehnte es ab, sich nach verstaubten Traditionen zu richten. Ungestüm küßte und streichelte er Chatoos warmen, weichen Körper. Sie lag mit ihm unter Bäumen im grünen Gras und erwiderte seine wilden Zärtlichkeiten mit derselben leidenschaftlichen Glut. »Hast du keine Angst, man könnte uns erwischen?« fragte sie ihn atemlos, als er anfing, mit aufgeregten Fingern an den Schnüren ihrer Oberbekleidung herumzunesteln. »Die Sonnen stehen am Himmel.« »Meinethalben, da stehen sie gut«, entgegnete der junge Mann mit den gut durchtrainierten Brustmuskeln. »Ich will dich sehen – ganz und gar. Sonst hätten wir auch die Nacht abwarten können.« Im Zeltlager der Uma gab es keinen zeugungsfähigen Mann, mit dem sich Chatoo noch nicht vereinigt hatte. Mal nächtigte
sie bei Jarak, mal in einem anderen Zelt. Sie war gesund und gebärfähig und sehnte sich nach ihrem ersten Kind. Kinder galten bei den vom Aussterben bedrohten Uma als göttliches Geschenk. Entsprechend respektvoll wurden ihre Mütter behandelt, fast schon wie Heilige. Den leiblichen Vätern – insofern sie überhaupt ermittelbar waren – klopfte man lediglich anerkennend auf die Schulter; sie hatten ihre Pflicht getan, und das gewiß nicht ohne Vergnügen. Bereits der Anblick von Chatoos nackten Schultern brachte Jarak fast um den Verstand. Schon oft hatte er sie berührt, doch noch nie hatte er sie dabei anschauen dürfen. In diesem Augenblick landete ein dunkelgrünes Insekt auf ihrer linken Schulter. Chatoo lag auf dem Rücken und konnte das Tierchen nicht sehen, spürte aber die kleinen behaarten Beine auf ihrer Haut. »Ein Späher, nicht wahr?« flüsterte sie aufgeregt. »Könnte durchaus möglich sein, mal überlegen«, erwiderte er im Spaß. »Es ist grün, hat zwei kurze Vorderbeine, hinten zwei lange Sprungbeine, ein verkümmertes Flügelpaar auf dem Rücken, Doppelfühler auf dem ovalen beweglichen Kopf und einen breiten Kiefer mit spitzen Zähnen. Ja, ganz offensichtlich handelt es sich um einen Späher. Wir könnten natürlich noch die Meinung des Dorfältesten einholen, falls du Zweifel hast.« Chatoo drehte ihren Kopf zur Seite, ganz vorsichtig, um das fingerdicke Insekt nicht zu verschrecken. Späher brachten Glück – daran glaubte jeder Pugare felsenfest, ganz gleich, welchem Stamm er angehörte. Nie wäre es einem von ihnen in den Sinn gekommen, einen Späher zu verscheuchen oder gar zu töten. Die grüne Haut der Pugaren, den Ureinwohnern von Lark, Owids südlichstem Kontinent, war wesentlich heller als die satte Grünfärbung der fleischfressenden Späher. Deutlich hob sich das Insekt von Chatoos Schulter ab. Aus großen Augen schaute es das junge Mädchen an.
»Es hat mir zugeblinzelt«, behauptete Chatoo, war sich aber nicht ganz sicher. »Das ist ein Zeichen der Götter! Ein idealer Zeitpunkt für die Zeugung eines Babys.« »Worauf warten wir dann noch?« fragte Jarak ungeduldig und machte dort weiter, wo er aufgehört hatte. »Nicht so stürmisch«, bat Chatoo ihn. »Wenn wir uns zu heftig bewegen, erschreckt sich der Späher womöglich und springt von meiner Schulter. Ich möchte, daß er bis zum Schluß dort sitzenbleibt und meinem zukünftigen Kind ewiges Glück beschert.« Jarak richtete seinen Oberkörper auf. »Ich soll mich dabei nicht bewegen? Wie stellst du dir das vor?« Eine Antwort auf seine Frage bekam er nicht mehr. Plötzlich und unerwartet wurde seine rechte Schläfe von einer Gewehrkugel aufgerissen. Fast gleichzeitig zerfetzte ein lauter Knall die anschauliche Idylle des Waldes. Jarak stieß keinen Todesschrei aus. Für ein paar Augenblicke wirkte er wie zu Stein erstarrt, einen ungläubigen Ausdruck im Gesicht. Dann fiel sein Körper lautlos zur Seite. Chatoo zog ihr Oberteil hoch und stand rasch auf. Der Späher vollzog einen Riesensprung und verschwand im Gras. Das Glück hatte Chatoo verlassen. Sie wollte fliehen, aber mehrere bewaffnete Männer in Armeeuniformen der Rosagesichter versperrten ihr den Weg, noch bevor sie sich einen Schritt von der Stelle bewegte. Drohend richteten die Soldaten ihre mit Bajonetten bestückten Gewehre auf die wehrlose Frau. Einer der rosahäutigen Männer trug Zivilkleidung. Für einen Owiden war er extrem dünn. Fransenjacke und Hose schlotterten an ihm herab, als hingen sie ohne Kleiderbügel auf einer Wäschestange. Chatoo kannte und fürchtete ihn. Sein Name war Xurrak, die Pugaren nannten ihn den Fingerlosen. Xurraks linke Hand war nur ein nackter Stumpf. Seine fünf Finger hatte er nach eigener Aussage vor Jahren beim Kampf
gegen die Grünlarken (so wurden die grünhäutigen Ureinwohner von den neuen Bewohnern des Kontinents bezeichnet) eingebüßt, in der blutigen Schlacht am großen Fels von Blesdorn. Böse Zungen behaupteten allerdings, die Finger seien ihm von Spähern abgefressen worden, während er im Freien übernachtet hatte – nach dem Genuß von zwei Flaschen Hochprozentigem. Der Fingerlose arbeitete als ziviler Kundschafter für die Armee. Seine Aufgabe bestand unter anderem darin, versteckte Lager der Grünlarken ausfindig zu machen und zu melden. Eine Sondervollmacht ermächtigte ihn, seinen jeweiligen Begleittrupps Anweisungen zu erteilen, obwohl es sich dabei um Militärangehörige handelte. Heute hatte er vier Infanteriesoldaten bei sich. Xurrak und seine Leute beobachteten das Zeltdorf der Uma schon seit geraumer Weile. Er hielt es für unabdingbar, vor jedem Angriff ein paar Tage lang die Lebensgewohnheiten der Stammesangehörigen zu studieren. Kannte man ihre Verhaltensweise, wußte man auch, wohin sie bei einem Überfall fliehen würden, beziehungsweise wo sich ihre geheimen Verstecke und Treffpunkte befanden. Zufrieden blickte der fünfundsechzigjährige Kundschafter auf den Toten herab. »Genau ins Ziel«, stellte er eiskalt fest, wie auf einem Schießstand. »Kein bißchen verwackelt, trotz meiner Kriegsverletzung.« Er wandte sich Chatoo zu und forderte sie mit ruhiger Stimme auf: »Lauf weg.« Chatoo machte keine Anstalten, der Aufforderung nachzukommen. Wie festgewurzelt blieb sie stehen, hielt aber gleichzeitig nach einem Fluchtweg Ausschau. Die vier Soldaten hatten sich so postiert, daß es ihr unmöglich war, nach vorn, links oder rechts zu entkommen. Lediglich hinter ihr stand niemand. »Lauf weg, Dorfhure!« schrie Xurrak sie an. »Es macht mir
mehr Spaß, auf bewegliche Ziele zu schießen!« Am liebsten hätte ihm Chatoo auf der Stelle einen Dolch in die Brust gestoßen, doch das Tragen von Messern oder Speeren blieb ausschließlich den Jägern der Uma vorbehalten. Schußwaffen wurden bei der Jagd nicht eingesetzt, nicht einmal Pfeil und Bogen, um den Tieren des Waldes eine faire Chance einzuräumen. Nicht alle Pugaren waren derart friedliebend. Andere wildlebende Stämme bildeten ihren Nachwuchs bereits von klein auf am Bogen oder an der Armbrust aus, um gegen Überfälle der Armee besser gewappnet zu sein. Viel Nutzen brachte das nicht, denn die Soldaten der Rosahäutigen waren beim Angriff immer deutlich in der Überzahl – und kannten selbst bei Frauen und Kindern kein Erbarmen. Chatoo war sich bewußt, daß sie so gut wie tot war. Dennoch wollte sie sich nicht einfach in ihr Schicksal ergeben. Zwar stand ihre Chance, Jaraks Mördern zu entkommen, eins zu einer Milliarde, aber sie hatte eh nichts mehr zu verlieren. Um ihrem Gegner keinen Hinweis auf ihre Fluchtrichtung zu geben blickte sie stur geradeaus. Wie der Blitz machte sie auf dem Hacken kehrt und lief los... Zumindest erweckte sie für einen Moment den Eindruck, davonlaufen zu wollen. Doch dann drehte sie sich erneut blitzschnell um und ging mit bloßen Fäusten auf Xurrak los. Abwehrend hob er den Gewehrkolben... ... und wurde aufs neue ausgetrickst. Chatoos Faustangriff entpuppte sich als Finte. Noch bevor der Fingerlose begriff, was gespielt wurde, winkelte sie kurz beide Knie an, streckte ihre dicken Beine und schoß wie eine Sprungfeder in die Höhe, mitten hinein in die dichte Blätterkrone eines mächtigen Baumes. Ihre Hände bekamen einen stabilen Ast zu fassen, daran zog sie sich hoch. Einen Augenblick später war sie im Geäst verschwunden.
Die Soldaten hoben ihre Gewehre und jagten mehrere Kugeln hinter ihr her. »Feuer einstellen!« befahl Xurrak. »Spart eure Munition. Das Luder ist längst auf einen anderen Baum gesprungen und hat das Weite gesucht. Ich habe sie unterschätzt, verdammt und verflucht!« Natürlich waren ihm die körperlichen Fähigkeiten der Uma bekannt, doch auf eine Flucht nach oben hatte nichts hingedeutet. »Die Schlampe hat nicht für den Bruchteil eines Momentes hochgesehen«, knurrte der Fingerlose. »Trotzdem war ihr Sprung in den Baum exakt berechnet. Das begreife ich nicht.« Die Schlampe ist halt klüger als du, antwortete Chatoo ihm in Gedanken. Bevor du Jarak aus dem Hinterhalt umgebracht hast, hat es auf dem Rücken im Gras gelegen, das Luder, und aus dieser Position heraus konnte es direkt ins dichte Geäst des Baumes schauen. Auch in anderer Hinsicht hatte der kampferprobte Xurrak seine wendige Gegnerin falsch eingeschätzt. Anstatt umgehend das Weite zu suchen, hielt sie sich ganz in seiner Nähe auf, verborgen hinter einem Dornenbusch. Der Fingerlose hob mit der rechten Hand einen Stein auf, holte aus und schlug dem Toten mit voller Wucht die Zähne ein. Einen einzigen makellosen Zahn nahm er an sich und ließ ihn in einem kleinen Fellbeutel verschwinden, den er um den Hals trug. Diese Angewohnheit hatte er aus seiner Zeit als Kopfgeldjäger beibehalten. Damals hatte er mit seinem Partner Worge die Zähne erlegter Grünlarken um die Wette gesammelt. Chatoo wandte ihren Blick von der grausigen Szene ab und zog sich tiefer in den Wald zurück. Ihr Herz war traurig – und es schrie nach Rache! Deine nächste Begegnung mit der Dorfhure wird deine letzte sein, Xurrak, schwor sie sich. Nicht einmal ein Zahn wird von dir übrigbleiben, wenn ich mit dir fertig bin!
Auf verborgenen Pfaden begab sie sich zurück ins Dorf, um ihr Volk zu warnen. Die Rosahäutigen hatten das Lager der Uma entdeckt. Der Stamm mußte schleunigst seine Zelte abbauen und sie anderswo aufschlagen. Tausende winzige Augenpaare waren auf Chatoo gerichtet. Aus dem verborgenen heraus wurde jeder ihrer Schritte von Spähern optisch erfaßt. Auch der davonziehende Kundschaftertrupp stand unter Beobachtung. Den dunkelgrünen Insekten entging nichts, was in diesem Bergwald passierte – gar nichts. * »Schau mal einer an, ein Heupferd!« Arc Doorn starrte auf seine geöffnete Handfläche, und seine Mundwinkel bewegten sich leicht nach außen. Der Anflug eines liebevollen Lächelns? Das hatte Seltenheitswert im rauhen Gesicht des zumeist mürrischen Sibiriers. Zu mehr als einem schadenfrohen Grinsen ließ er sich normalerweise nie herab. Gouverneur Cafer warf einen kurzen Blick auf das dunkelgrüne Insekt, das auf Arcs Handfläche gelandet war und sagte: »Das ist ein Trojaner, auf Undo nur noch selten anzutreffen.« Der Translator gab den Begriff wortwörtlich wieder, weil es dafür keine spezielle Übersetzung im Speicher gab. »Trojaner?« wiederholte Ren Dhark verblüfft. »Auf Terra gab es einst eine Stadt namens Troja, die wurde von ihren Feinden mit einer List eingenommen. Noch heute erzählt man sich die Sage von Odysseus und dem trojanischen Pferd.« »Aha, deswegen nennt er es Pferd«, konstatierte der Gouverneur. »Ist das die terranische Bezeichnung für Kleinlebewesen?« »Nein, Pferde sind weitaus größer«, erklärte ihm der
Commander geduldig. »Heupferd ist die landläufige Bezeichnung für eine terranische Feldheuschrecke, und das Insekt dort sieht einer Heuschrecke überaus ähnlich.« Dhark fragte sich, ob Cafer und die drei anderen Rags ihn sinngemäß richtig verstanden. Der Translator, den Doorn aus den Einzelteilen von vier beschädigten galoanischen Translatoren notdürftig zusammengelötet hatte, führte längst nicht alle Übersetzungswünsche fehlerfrei aus. Nicht zu jedem owidischen Begriff gab es das passende Pendant in Angloter – und umgekehrt. Ähnlich verhielt es sich mit Eigennamen und militärischen Dienstgraden. Im Zweifelsfall verlegte sich das Gerät aufs Schätzen. Terraner und Owiden bemühten sich nach Kräften, die fremden Worte und Sätze jeweils in ihre eigene Sprache umzusetzen. Mitunter verstanden sie sich sogar ohne Translator, weil sie einander gut zuhörten, langsam und deutlich miteinander redeten und dadurch voneinander lernten. Die Fahrt durch das geheimnisvolle Tunnelsystem der Rahim dauerte schon etliche Stunden an. Mehrmals hatte die U-Bahn unterirdische Bahnhöfe durchquert, ohne anzuhalten – allerdings hatte der Magnetzug sein Tempo jedesmal automatisch deutlich verringert. Offensichtlich war ein Halt nur für den Fall vorgesehen, daß ein Passagier zusteigen würde, was die acht Reisenden mächtig verwundert hätte. Dank Gouverneur Cafer wußte Ren Dhark inzwischen so einiges über das Staatengebilde auf dem Kontinent Lark, das von ehemaligen Kolonisten aus Gawa errichtet worden war. »Lark war lange eine gantische Kolonie«, hatte Cafer während der fast lautlosen, von einem leisen Rauschen begleiteten Fahrt berichtet. »Aber auch viele Korlonen und andere Owiden vom Kontinent Gawa besiedelten das Land. Vor 182 Jahren errang Lark in einem Aufstand gegen Gante die Unabhängigkeit, und man gründete die Freistaaten von Lark – kurz FVL – die den gesamten Kontinent umfassen.
Nennenswerte Industrie gibt es nur in einigen Bevölkerungszentren an der Nordküste, doch aufgrund ihrer schier unerschöpflichen Rohstoffvorräte und der machtvollen Größe ihres Staates gelten die FVL als nahezu unbesiegbar. Bisher hielten sie sich aus dem politischen Weltgeschehen heraus – aber wie lange noch? Schon jetzt versuchen sie, den Krieg zwischen Korlo und Gante auszunutzen, um eine eigene Kolonie auf Undo zu etablieren.« »Wäre das denn so schlimm?« hatte Dhark ihn gefragt. In diesem Augenblick war der Trojaner auf Doorns Handfläche gesprungen, wodurch das ursprüngliche Gesprächsthema kurz in Vergessenheit geraten war. »Was gäbe es gegen eine FVL-Kolonie auf Undo einzuwenden?« fragte der Commander den korlonischen Gouverneur nun erneut. Cafer wies Dhark auf dessen kritische Äußerungen über die Lebensumstände der Blauhäutigen hin. »Daß wir Gawaner die Kungen nicht als vollwertige Owiden betrachten und sie überwiegend niedere Arbeiten verrichten lassen, wurde von Ihnen und Ihren Begleitern mit Skepsis aufgenommen, Commander. Meine Gegenargumente lauteten: Verpflegung, Kleidung, medizinische Versorgung, Steuerfreiheit und Geldprämien. Wer in den Kolonialgebieten auf Undo leben möchte, hat dafür eine gewisse Arbeitsleistung zu erbringen, wie es auch in anderen staatlichen Systemen gehandhabt wird. Von nichts kommt nichts, das gilt für niedere und höhere Intelligenzen gleichermaßen. Zu dieser Meinung stehe ich. Den Vorwurf der Ausbeutung weise ich weit von mir.« »Ich habe Sie nie als einen Ausbeuter bezeichnet, Gouverneur«, rechtfertigte sich Dhark. »Es steht mir nicht zu, die Staatsformen fremder Planeten zu kritisieren und dabei terranische Maßstäbe anzulegen – selbst wenn mir das manchmal schwerfällt.« »Auf Lark arbeiten die Kungen wesentlich härter als auf
Undo«, fuhr Cafer fort und fügte hinzu: »Gegen ihren Willen. Die Larken halten voller Überzeugung an der Sklaverei fest, wie Sie inzwischen wissen. Weil auf ihrem dünnbesiedelten Kontinent keine Blauhäutigen leben, importieren sie Kungen aus den nicht kolonisierten Gebieten von Undo.« »Importieren« – so lautete die Übersetzung des Translators. Dhark hätte einen anderen Ausdruck für treffender gehalten: Verschleppen. Massenverschleppungen von als minderwertig eingestuften Planetenbewohnern anderer Hautfarbe – das hatte es vor langer Zeit auch auf Terra gegeben. Man hatte sie ihren Familien entrissen und wie Vieh in engen Schiffsladeräumen zusammengepfercht, um sie fern der Heimat als Sklaven schuften zu lassen. Knechtschaft und Unterdrückung bis zum Tod, über Generationen hinweg. Vieles hatte sich seither geändert. Grenzen hatten sich geöffnet. Man hatte mit Angloter eine gemeinsame Sprache gefunden. Die Hautfarbe spielte nur noch eine untergeordnete Rolle. Insbesondere das Militär erwies sich inzwischen als Schmelztiegel verschiedener Nationalitäten. Und trotzdem: Rassenhaß, Sklaverei, Ausbeutung... all das war nicht einmal von Terra gänzlich verschwunden. Man konnte das Unrecht bekämpfen und eindämmen, es aber niemals vollständig ausmerzen. Eine schmerzliche Erkenntnis, die ein Mann wie Dhark, der über einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn verfügte, nur schwer zu akzeptieren vermochte. »Die Kungen werden auf Lark ausschließlich in der Landwirtschaft und als Diener im Haushalt eingesetzt«, erklärte Cafer den Terranern. »Es ist streng verboten, sie in der Industrie zu beschäftigen oder ihnen irgendeine Form von Bildung zu verschaffen. Vor gebildeten Kungen – meiner Ansicht nach schon ein Widerspruch in sich – fürchten sich die rosa Larken mehr als vor Krankheit oder Tod. Kein Bürger von
Lark würde je versuchen, einem Kungen Lesen und Schreiben beizubringen, denn dafür käme er ins Gefängnis.« »Der Kunge?« »Der Bürger. Den Kungen würde man auf der Stelle töten, so groß ist die Furcht vor einem möglichen Massenaufstand. Panikmache, sonst nichts. Die Blauen wären gar nicht in der Lage, sich zu organisieren. Ich betone nochmals: Kungen sind lediglich die Bindeglieder zwischen uns und unseren affenartigen Vorfahren und besitzen nur ein eingeschränktes Bewußtsein. An dieser Tatsache ändert auch der Umstand nichts, daß sie sprechen und in gewissem Rahmen Eigeninitiative ergreifen können.« »Kein Grund, sie deswegen zu versklaven.« »Das sehe ich genauso, Commander. Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum wir keine larkische Kolonie auf Undo wollen. Obwohl Korlonen und Ganten verfeindet sind, herrscht auf unserem Kontinent Waffenruhe. Ich bezweifle, daß das in Anwesenheit der Larken noch lange so bleiben würde. Wahrscheinlich würden sie mit aller Macht danach streben, uns ihr... Herrschaftssystem aufzunötigen.« Der Translator ließ ein Wort aus, weil er es nicht in Angloter umsetzen konnte. Als Cafer weitersprach, wußte Dhark auch so, was gemeint war. Die Rede war von einem plutokratischen System. »Die Zahl der Stimmen, die ein Bürger von Lark bei Wahlen und sonstigen Abstimmungen abgeben darf, ist von der Höhe seiner gezahlten Steuer abhängig. Die wirtschaftlich Erfolgreichen haben somit das Sagen.« »Plutokratie«, murmelte Arc Doorn, leise zwar, jedoch nicht leise genug für den Translator. »Wer das Geld hat, hat die Macht.« Er blinzelte dem Insekt auf seiner Handfläche zu. »Dir geht das alles am glatten Arsch vorbei, nicht wahr, mein Kleiner?« Der Gouverneur vernahm die wie auch immer geartete
Übersetzung und zuckte leicht zusammen. Arc fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Nicht wegen seiner unflätigen Ausdrucksweise (daran verschwendete er nie einen Gedanken), sondern wegen des bedrückenden Engegefühls, das ihn seit Beginn der Tunnelfahrt beschlichen hatte und sich immer mehr in ihm ausbreitete. Auf Raumschiffen und U-Booten empfand er nur mäßige Platzangst, aber dieses unterirdische, unheimliche Röhrensystem machte ihm echt zu schaffen. Er kam sich vor wie in einem fahrbaren Sarg. Acht Reisende auf dem Weg in die Hölle. Doorn schaute seine Mitreisenden der Reihe nach an. Ren Dhark, der Commander der Planeten. Bram Sass und Lati Oshuta, zwei Cyborgs mit erstaunlichen übermenschlichen Fähigkeiten. Hinzu kamen vier Owiden – der Großwildjäger, die beiden Geheimdienstler und nicht zuletzt der Gouverneur. Mit diesen sieben Figuren würde er also ins Gras beißen, sollte der Zug jetzt entgleisen oder der Tunnel zusammenbrechen. Tolle Aussicht! Cafer musterte den bulligen Rotschopf Arc Doorn, dessen Schädel die Worte »gepflegter Haarschnitt« offensichtlich nur vom Hörensagen kannte, unverhohlen zurück. Arcs Nase faszinierte ihn regelrecht. Ein Fels inmitten einer zerklüfteten Eiswüste! Doorn war sich seiner »Boxernase« durchaus bewußt. Selbst seine Ehefrau Doris machte Scherze darüber, was allerdings nie böse gemeint war. »Das Ding sieht aus, als hättest du im Boxring kräftig eins draufgekriegt«, hatte sie gleich beim ersten Rendezvous zu ihm gesagt. Arc wünschte sich, sie könnte jetzt die Rags sehen, deren kaum konturierte, »plattgeschlagene« Gesichter den Eindruck erweckten, als hätte das gesamte Volk einen Massenboxkampf hinter sich. »Einen?« entfuhr es ihm versehentlich. »Mehrere!« »Wie bitte?« fragte der Gouverneur, der sich angesprochen
fühlte. Arc kriegte gerade noch so die Kurve. »Mehrere... äh... gibt es mehrere Trojaner auf diesem Planeten? Mehrere unterschiedliche Arten, meine ich.« »Nein, soweit mir bekannt ist, unterscheidet sich kein Trojaner genetisch vom anderen«, antwortete Cafer. »Auf Undo und Gawa sind sie nur noch äußerst selten anzutreffen, wie schon gesagt. Zu früheren Zeiten sollen sie die reinste Plage gewesen sein, insbesondere in der nordwestundischen Region, unserer heutigen Kolonie. Sämtliche Versuche, sie zu vertreiben, schlugen fehl. Laut den Niederschriften historischer Zeitzeugen schlüpften für jeden erschlagenen Trojaner drei neue.« »Und wie hat man damals das Problem gelöst?« hakte Dhark nach. »Gar nicht, es löste sich von selbst«, erwiderte Cafer. »Innerhalb von zwei, drei Jahrzehnten verschwanden die Trojaner fast gänzlich aus Nordwestundo, ohne daß sich das jemand erklären konnte. Erst viel später stellte sich heraus, wohin sie gegangen waren: nach Lark. Dort breiteten sie sich immer mehr aus.« »Erstaunlich, daß sie mit den kümmerlichen Flügelstummeln von Kontinent zu Kontinent fliegen konnten«, meinte Arc, während er das ruhig sitzende Insekt mit dem prüfenden Auge des Wissenschaftlers betrachtete. »Damit kämen sie nicht weit«, klärte ihn der Gouverneur auf. »Trojaner sind keine Flieger, sondern Springer – und Wasserläufer, zumindest glauben das unsere Tierforscher. Zwar hat noch keiner von ihnen jemals einen Trojaner über eine Wasseroberfläche gehen sehen, aber irgendwie müssen sie schließlich von Undo nach Lark gelangt sein.« Er räusperte sich. »Ich schätze, die Geschichte der Trojaner wird völlig neu geschrieben werden müssen. Sie sind vermutlich weder geflogen noch übers Wasser gegangen, sondern schlichtweg
durchs Tunnelsystem gesprungen. Angesichts der weiten Strecke eine erstaunliche Leistung.« »Möglicherweise hielten sie sich in den Zügen versteckt, als blinde Passagiere«, warf Bram Sass ein. Kaum hatte er den Satz ausgesprochen, wurde ihm auch schon bewußt, daß er sich verkehrt ausgedrückt hatte. Der unzulängliche Translator dolmetschte ihn nicht sinngemäß, sondern wortwörtlich. »Blind?« wunderte sich Cafer. »Sie irren sich, Trojaner können sehr gut sehen, ihnen entgeht nichts. Die Pugaren nennen sie deshalb Späher. Sie glauben, die grünen Tierchen bringen ihnen Glück.« Um eventuellen Nachfragen vorzubeugen, fügte er erklärend hinzu: »Pugaren sind die grünhäutigen Ureinwohner von Lark. Es gibt verschiedene Stämme, deren Zusammenleben unterschiedlich geregelt ist. Einige von ihnen sind Farmer, einige Jäger.« »Wieso halten sie Trojaner alias Späher für Glücksbringer?« wunderte sich Doorn. »Wenn ich recht verstanden habe, verlagerte sich die Insektenplage von Undo und Gawa nach Lark. Die Pugaren müßten die Viecher demzufolge hassen. Wer läßt sich schon gern die hart erarbeitete Ernte von den Feldern abfressen?« »Trojaner sind keine Pflanzenfresser«, entgegnete Gouverneur Cafer. »Sie gehören zur Gattung der Selbstverzehrer.« »Kannibalen«, übersetzte das Gerät. »Sie fressen sich gegenseitig?« »So ist es. Nicht nur alte und kranke Trojaner werden von ihren Artgenossen verzehrt, auch völlig gesunde Tiere opfern sich für den Arterhalt.« »Wenn sie auf den Plantagen keinen Schaden anrichteten, warum wurden sie dann von zwei Kontinenten vertrieben?« mischte sich Lati Oshuta in die Unterhaltung ein. »Trojaner haben messerscharfe Zähne«, sagte Cafer – und
Arc verspürte plötzlich ein mulmiges Gefühl in der Magengrube. »Theoretisch können sie jedes Lebewesen zermalmen und zermahlen, das ihnen in die Quere kommt, mitsamt Haut, Haaren und Knochen. Hin und wieder ließen sie sich das eine oder andere grasende Rind schmecken, quasi als Abwechslung zu ihrer tristen Einheitsspeise. Prompt schrieb man ihrer Freßlust jede entlaufene Milchkuh, jedes verschwundene Schaf zu, ja sogar Owiden sollen sie sich einverleibt haben, Kinder, Frauen und ausgewachsene Männer. Obwohl es dafür nie einen Beweis gab, verfolgte man sie gnadenlos. Dieser Aberglaube erstarb auch nach ihrer Umsiedlung nicht. Allerdings sind die Pugaren überzeugt, daß sich ihre glückbringenden Späher ausschließlich an ihren Feinden vergreifen.« Arc war kein Feind der Ureinwohner von Lark. Dennoch schüttelte er das dunkelgrüne Insekt vorsichtshalber von seiner Hand. Mit einem gekonnten Sprung verschwand es hinter einem Sitz. * Worge überragte den schlaksigen Xurrak um einen Kopf, zudem war er wesentlich kräftiger gebaut. »Schmiedehämmer« nannte er stolz seine riesigen Fäuste, mit denen er schon so manchen Gegner das Fürchten gelehrt hatte. »Und du bist dir sicher, daß es sich um Uma handelt?« fragte er seinen langjährigen Freund, der ihm inzwischen Bericht erstattet hatte. »Dieser Stamm dürfte eigentlich nicht mehr existieren. Der letzte der Uma starb vor fünfunddreißig Jahren durch meine Hand.« »Nicht alle Uma kamen bei der großen Schlacht damals ums Leben«, erwiderte der Kundschafter, der keine Armeeuniform, sondern Trapperkleidung trug. »Viele angeschlagene Grünlarkenstämme suchten ihr Heil in der Flucht, verstreuten
sich nach überallhin, darunter mit Sicherheit auch einige Uma. Mittlerweile gibt es wieder vierzig von der Sorte.« Er grinste. »Neununddreißig, wenn man den Kerl abzieht, den ich vorhin von der Dorfhure runtergeschossen habe. Deine Soldaten und ich haben das Lager und die nähere Umgebung gründlich ausspioniert.« »Dort habt ihr also tagelang gesteckt. Das nächste Mal gibst du mir gefälligst früher Bescheid.« »Hast du dir etwa Sorgen um mich gemacht?« »Klar doch, schließlich hattest du vier meiner besten Männer mitgenommen. Stell dir vor, ihnen wäre etwas passiert.« »Dann hättest du gehörigen Ärger mit dem Militär bekommen, denke ich mir.« »Falsch gedacht«, entgegnete Worge und blähte seinen ordenbehangenen Brustkorb auf wie ein Hahn in Gegenwart seiner Lieblingshenne. »Das Militär in diesem Landstrich bin ich! Zumindest während der Dauer des Manövers, und das kann sich noch Monate hinziehen. Die Führungsspitze läßt mir absolut freie Hand. Niemand wird etwas dagegen einwenden, wenn wir im Verlauf der Übungen so ganz nebenbei das eine oder andere Lager der Grünlarken in Brand stecken. Am besten, wir brechen sofort auf, bevor die Uma ihre Zelte abbrechen und weiterziehen. Immerhin sind sie jetzt gewarnt.« »Machen wir Gefangene?« erkundigte sich Xurrak. Worge gab einen verächtlichen Laut von sich. »Wozu? Wir müßten sie nur unnötig durchfüttern und bis zur Ablieferung in den Schutzlagern auf sie aufpassen. Der beste Grüne ist noch immer ein toter Grüner.« Xurrak hatte keine andere Antwort erwartet. Zufrieden verließ er die Offiziersunterkunft, die aus Holz und Zeltplanen gefertigt worden war, wie die meisten Quartiere innerhalb des Militärlagers. Obwohl er kein Angehöriger der Armee war, salutierten
einige Infanteriesoldaten auf seinem Weg in die Kantine vor ihm. * Noch immer war der unheimliche unterirdische Zug nicht an seinem Bestimmungsort angelangt. Ren Dhark wollte mehr über die Pugaren wissen und bat den Gouverneur um weitere Informationen. »Einstmals gehörte ihnen der gesamte Kontinent«, berichtete Cafer. »Als die ersten Siedler aus Gawa kamen, versuchten die Pugaren, sich mit ihnen zu arrangieren. Aber je weiter sich die Besiedelung ausbreitete, um so mehr wurden die Grünlarken zurückgedrängt. Dagegen wehrten sie sich mit aller Kraft, mitunter auf grausame Weise. Allerorten kam es zu furchtbaren kriegerischen Auseinandersetzungen. Meist unterlagen die Pugaren, sie waren hoffnungslos in der Unterzahl. Man jagte sie, wo immer man sie fand und rottete sie fast vollständig aus. Auch nach der Ausrufung der FVL änderte sich daran nichts. Ganz im Gegenteil, den wenigen noch verbliebenen Pugarenstämmen wurde per Gesetz verboten, weiterhin als freie Nomaden durchs Land zu ziehen. Man sperrte sie in lagerähnlichen Schutzgebieten ein. Dort vegetieren sie jetzt dahin, kümmerliche Überreste einer einst stolzen Rasse von tapferen Kriegern.« »Demnach gibt es auf Lark keine wildlebenden Stämme mehr«, konstatierte Dhark. »Kaum noch«, erhielt er zur Antwort. »Versprengte Gruppen, die sich tief in den Wäldern und Bergen verstecken, leben in ständiger Angst, von der Armee aufgespürt und niedergemetzelt zu werden.« »Warum haben sich die Stämme nicht rechtzeitig miteinander verbündet und dem Terror ein Ende bereitet?« fragte Arc fassungslos.
»Die Kommunikation untereinander hielt sich von jeher in Grenzen«, sagte Cafer. »Bevor die Siedler kamen, zogen die Pugaren kreuz und quer durch ihre Welt, eine Welt, die groß genug war für alle. Wo es ihnen gefiel, schlugen sie ihre Zeltlager auf, allerdings blieben sie nie länger als drei, vier Jahre an einem Ort. Für die Dauer ihres Aufenthalts wurden Jagd- und Anbaugebiete abgesteckt, die andere Stämme zu respektieren hatten. Dabei kam es gelegentlich zu Interessenkonflikten und Kämpfen. Meistens ging man sich jedoch weiträumig aus dem Weg, um unnötige Auseinandersetzungen zu vermeiden. Freundschaftliche Kontakte wurden nur selten geschlossen. Als die Siedler begannen, die ersten Pugarenstämme auf brutale Weise auszurotten, bekamen die übrigen zunächst gar nichts davon mit, so weit verstreut waren die jeweiligen Lager. Später wurde einfach weggeschaut. Was gingen einen die Probleme der Nachbarn an? Solange der eigene Stamm nicht betroffen war... Bald nutzte Wegsehen nichts mehr. Die Pugaren schlossen daraufhin einige bedeutungslose Bündnisse, die aber meist sofort wieder vom Feind zerschlagen wurden. Vor fünfunddreißig Jahren fand endlich eine Großoffensive gegen den gemeinsamen Gegner statt – die erste und letzte. Sage und schreibe neunzig verschiedene Stämme hatten sich zum Kampf vereint. Nicht nur wildlebende Grünlarken, auch aus den Lagern kam Unterstützung. Die FVL nahm die Herausforderung an. Am Austragungsort, dem großen Fels von Blesdorn, wurden zahlreiche gut ausgerüstete Truppenverbände zusammengezogen. Von Fairneß keine Spur, es war das reinste Gemetzel. Mit ihren primitiven Waffen hatten die Grünlarken nicht den Hauch einer Chance. Obwohl die Sieger dieser blutigen Schlacht bereits von vornherein feststanden, ließen sie sich hinterher wie Helden feiern. Ein ehemaliger Kopfgeldjäger namens Worge
beanspruchte für sich, während des Kampfgeschehens mehr Grünlarken als jeder andere Soldat getötet zu haben. Sein zweifelhafter Ruhm verbreitete sich über den gesamten Kontinent und darüber hinaus. Von da an ging es mit seiner Karriere bei der larkischen Armee aufwärts. Inzwischen befehligt er eine mächtige Infanterietruppe als...« »General« ertönte es aus dem Translator, obwohl Cafer eine andere Bezeichnung gebrauchte. Der Gouverneur beschrieb Worge als einen großen, etwas übergewichtigen Mann mit breiten Schultern und wulstigen Lippen. Einer der beiden Geheimagenten, Fontain, übernahm jetzt das Wort. »Laut unseren Informationen halten sich General Worge und seine Männer derzeit wieder zu Manövern in der Wildnis von Lark auf. Weil die grünen Ureinwohner als Nomaden lebten, ist der Kontinent in vielen Bereichen zwar erforscht, aber nicht erschlossen. Die westlichen Berge, Täler und Wälder konnten bisher nur unzureichend kartographiert werden. Den noch freien Pugaren bieten sie zahlreiche Versteckmöglichkeiten. Worge wird es sich nicht nehmen lassen, während seines Aufenthalts dort einige der Zeltlager ausfindig und dem Erdboden gleichzumachen. In fünf Jahren ist er siebzig und somit reif für die Entlassung aus der Armee. Bis dahin, so tönt er, werde es keinen einzigen freilebenden Grünlarken mehr auf Lark geben.« »Schon in jungen Jahren machte Worge Hatz auf die Pugaren«, ergänzte Therak, der zweite Agent. »Die Regierung setzte Prämien aus für jeden getöteten oder gefangengenommenen Grünen. Viele skrupellose Kopfgeldjäger – allen voran Worge und sein bester Freund Xurrak – verdienten sich auf diese Weise ein Vermögen. Blutgeld. Als sich die Grünlarken zum großen Bündnis vereinten, warb das Militär verstärkt um Freiwillige. Worge war dreißig,
als er eintrat. Xurrak bot seine Dienste als ziviler Kundschafter an. Die beiden sind noch heute ein Gespann. In Kopfgeldjägertagen hatten sie ständig versucht, sich im Morden gegenseitig zu übertreffen. Jedem getöteten Opfer wurde ein Zahn herausgerissen, und wer am Ende der Jagd die meisten Zähne gesammelt hatte, war Sieger des makabren Wettbewerbs. Xurrak soll dieses schaurige Ritual bis heute beibehalten haben.« »Widerliches Pack!« entrüstete sich Ribur, der Großwildjäger. »Sollten mir diese abscheulichen Kreaturen jemals vor den Gewehrlauf kommen, schieße ich sie nieder wie tollwütiges Wild!« »Dann hätten wir sofort die ganze Armee auf dem Hals«, entgegnete Ren Dhark. »Besser, wir laufen ihnen erst gar nicht über den Weg. Wie weit ist die westliche Wildnis von unserem Zielort entfernt, Gouverneur?« Cafer atmete tief durch und sagte dann: »Die westliche Wildnis ist unser Zielort.«
11. Die Endstation der beklemmenden Bahnreise durch die Tiefe war ein Kopfbahnhof von enormer Größe, mit unendlich vielen Gleisen und Nebenanlagen. Aus mehreren Richtungen liefen zahllose Magnetbahnschienen bündelförmig zusammen. Der größte Winkel zwischen den beiden äußersten Strecken betrug etwa fünfzig Grad. Acht Männer stiegen aus und sahen sich fasziniert um. Sie befanden sich in einer Höhle von überdimensionalen Ausmaßen, tief im Inneren der Erde. Es hätte niemanden sonderlich verwundert, wäre aus einem der abzweigenden Tunnel ein urweltliches Ungeheuer gekrochen gekommen – oder irgendeine stählerne Maschine. An diesem Ort, beeindruckend und furchterregend zugleich, war vermutlich alles möglich. Überall herrschte das blaue, an Unitall erinnernde Metall vor. In Dhark und Doorn erwachte der Forscherdrang, den sie jedoch aus Zeitgründen unterdrücken mußten. Den Kontakt zur POINT OF herzustellen hatte Priorität. Auf seiner fortwährenden Odyssee durch die Weiten des Weltalls hatte der Commander der Planeten schon viel Ungewöhnliches gesehen und erlebt, das gleiche galt für seine drei Begleiter. Dieser riesige U-Bahnhof war in der Tat ein Phänomen – aber kein unübertroffenes. Dharks Faszination war groß, weil ihn jedes neue Rätsel, auf das er stieß, jede fremde Welt, die er betrat, unweigerlich in ihren Bann zog. Doch mit der übermächtigen Begeisterung der Korlonen konnte er nicht mithalten. Der Anblick des Kopfbahnhofs bezauberte sie regelrecht und ließ sie für Minuten verstummen. Unvorstellbar, daß dieser Platz, der heute die Stille eines riesigen Friedhofs ausstrahlt, einst von Leben erfüllt war,
dachte Gouverneur Cafer. Vor seinem inneren Auge starteten und hielten in einem fort Magnetbahnen an den Bahnsteigen. Passagiere stiegen aus oder ein, andere wiederum warteten auf ihren Anschluß. Jeder von ihnen hatte ein festes Ziel. Und tief in einem versteckten Winkel seines Verstandes hatten diese Passagiere noch immer etwas Göttliches für den Gouverneur. Ren Dhark und seine sieben Mitreisenden hatten ebenfalls ein festes Ziel; allerdings wußten sie nicht einmal annähernd, was sie am Ende der Strecke erwartete. Eine autonom funktionierende Anlage, vermutlich von den Rahim erschaffen, vielleicht eine Verteidigungszentrale, möglicherweise eine Chance zur Abschaltung des planetenweiten Sperrfelds und zur Kontaktaufnahme mit Dan Riker... zu viele Eventuells, Vielleichts und Möglicherweises für Dharks Geschmack. Arc Doorn machte sich sofort auf die Suche nach der Stichstrecke, die als einzige über den Kopfbahnhof hinausführte. Schon bald hatte er sie entdeckt. Er rief die anderen zu sich. Wenig später saßen alle acht in einer kleineren Bahn, die sich problemlos hatte aktivieren lassen. Die Korlonen hatten offenbar ihre Sprechfähigkeit wiedergefunden, denn sie redeten aufgeregt durcheinander. Der Translator kam mit dem Übersetzen kaum noch hinterher. »Erstaunlich, diese gigantische Station! Verglichen mit unseren Hauptbahnhöfen...« »Allmächtige Wesen müssen diese gewaltige Anlage erschaffen haben. Riesige technische Geräte gruben sich unablässig durch das Erdreich...« »... gehört zu den unglaublichsten Erlebnissen meines Lebens. Etwas Faszinierenderes habe ich noch nie zuvor erblickt.« Sass und Oshuta lehnten sich entspannt zurück. Sie hatten die Augen geschlossen. Aufmerksam lauschten sie den Worten
der Rags, wobei sie sich bemühten, nicht allzusehr auf die Satzfetzen zu achten, die aus dem Übersetzungsgerät drangen. Ren Dhark ahnte, was sich in den Cyborgs abspielte. Translatorstimme in den Hinterkopf verdrängen und sich ausschließlich auf die Formulierungen der Owiden konzentrieren – das hatte auch er bereits mehrfach probiert. So konnte man ihre Sprache wohl am besten erlernen. Zu seinem Leidwesen verfügte er über kein Programmgehirn. Unweigerlich drangen die mechanischen Laute aus dem Gerät immer wieder bis in den vorderen Teil des Bewußtseins und störten seine Konzentration. Einem Cyborg hingegen fiel es wesentlich leichter, unerwünschte Töne im Geist auf ein vertretbares Minimum an Lautstärke zu reduzieren. Ren war manchmal ein wenig neidisch auf derlei übermenschliche Fähigkeiten. Kein Wunder, daß die beiden inzwischen besser als er mit Cafer und seinen Leuten kommunizieren konnten. Lati Oshuta wußte nicht, daß sich der Commander Gedanken über Bram und ihn machte. Er legte jede neu erlernte Übersetzung in seinen Programmspeichern ab und nahm sich sodann die nächste vor. Teilweise ging das ziemlich mühselig vonstatten. Terraner und Owiden formulierten zwar mitunter ähnliche Laute, meinten damit aber nicht zwangsläufig dasselbe. Über einigen ragschen Ausdrücken mußte der Cyborg ganz schön brüten, wie jeder normale Mensch auch. Bram Sass hatte mit den gleichen Problemen zu kämpfen. Nicht jede Übersetzung gelang ihm auf Anhieb. Ein Programmgehirn war eine nützliche Hilfe, konnte jedoch keine Wunder vollbringen. »Fiasko« beispielsweise bedeutete auf diesem Planeten soviel wie »großartige Leistung«. Lati und Bram waren daher zunächst verblüfft, als Cafer bemerkte, was für ein Fiasko der Bau des verborgenen Tunnelsystems sei. Oshuta fand als erster heraus, was gemeint war, und setzte seinen Cyborgfreund davon in Kenntnis.
Weil die Stichstrecke nur eine Länge von umgerechnet einhundert Kilometern hatte, traf die Bahn bereits zwanzig Minuten nach der Abfahrt am zweiten Etappenziel ein. Nach der Ausfahrt aus dem Bahnhof hatte der Tunnel eine harte Wende um 180 Grad gemacht, um dann geradeaus schräg aufwärts weiterzuführen. Zum Ende der Fahrt hin hatte man einen winzigen, allmählich größer werdenden Lichtpunkt wahrnehmen können. Das Licht gehörte zu einer kleinen, unscheinbaren Station, weniger beeindruckend als die übrigen Bahnhöfe. Hier stiegen die Reisenden aus. Die Cyborgs hatten das Bild des Kartenhologramms aus Undo in ihren Programmgehirnen gespeichert. »Wir müssen noch rund fünfzig Kilometer bewältigen«, erklärte Sass und betonte mit schadenfrohem Unterton (denn ihm machte das ja nichts aus): »Zu Fuß.« »Aber nicht mehr in diesem Leben«, stöhnte Arc Doorn. »Ich brauche unbedingt eine Mütze voll Schlaf.« Gouverneur Cafer schaute auf seine Armbanduhr, ein nach terranischen Maßstäben antikes Aufziehmodell. »Mir geht's genauso. Wen wundert's, es ist längst Abend. Ich schlage vor, wir übernachten in der Station und brechen morgen früh zu dem Marsch auf.« »Vielleicht stoßen wir ja unterwegs auf irgendwelche Fahrzeuge oder sonstige Fortbewegungsmittel«, brummte Arc Doorn. Erst einmal war er froh, endlich aus den Zügen heraus zu sein und wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. Der Himmel über Owid war nicht mehr allzu fern, morgen früh würde er ihn wiedersehen. Diese Aussicht ließ das bedrückende Engegefühl allmählich von ihm weichen. Jeder der acht Männer suchte sich innerhalb der Station einen möglichst bequemen Schlafplatz. Hier unten fühlten sie sich sicherer als draußen.
*
Am nächsten Morgen ging es zunächst über mehrere Treppenaufgänge weiter, bis ein verschlossenes Tor der Gruppe den Weg versperrte. Für Arc Doorn war es ein Leichtes, den Öffnungsmechanismus zu aktivieren. Das Tor teilte sich in der Mitte. Beide Flügel verschwanden links und rechts in den Wänden. Noch zwei Sicherungstüren mußten überwunden werden, dann standen die Männer im Freien. Doorn atmete tief durch. »Frische Luft! Wie habe ich das vermißt!« Ren Dhark hatte die Nachhut gebildet und trat als letzter hinaus. Hinter ihm schloß sich leise surrend der Eingang zur Station. Der Commander drehte sich um und staunte nicht schlecht. Vor ihm reckte sich eine mächtige Felswand in die Höhe. Nirgendwo war auch nur der kleinste Hinweis auf die geheime Eingangstür erkennbar, so als hätte es sie nie gegeben. Selbst durch intensives Ertasten waren die Konturen nicht zu erfühlen. Immer wieder rutschten die Fingerspitzen am glitschigen glatten Fels ab. »Und wie kommen wir wieder zurück in die Station?« fragte der Gouverneur besorgt. Dhark zuckte mit den Schultern. »Wird sich finden, alles zu seiner Zeit.« Im oberen Bereich war die Wand von Rissen durchzogen und von Buschwerk bewachsen. Die Stelle war schwer erreichbar. Dhark hielt es für möglich, daß sich die Türen von dort aus aktivieren ließen. Er schaute sich um und stellte fest, daß er auf einer Lichtung stand. Büsche und Bäume hatten sich im Halbkreis um den
Fels formiert, darunter einige schnurgerade gewachsene Baumriesen, die wie angsteinflößende Wachtposten wirkten. Doorn schob zwei große Büsche auseinander und tat einen Schritt ins Dickicht hinein. Bram Sass ergriff ihn am Jackenkragen und zog ihn brutal zurück... Im allerletzten Moment, sonst wäre die POINT OF um ein Besatzungsmitglied ärmer gewesen. Zu Doorns Füßen gähnte ein tiefer breiter Abgrund. »Falscher Weg, mein Freund«, bemerkte der Cyborg. »Dort geht es nur noch in eine Richtung weiter.« Der Sibirier wußte nicht so recht, wie er sich nun verhalten sollte. Jemandem einfach »Danke« zu sagen zählte nicht zu seinen Stärken. Nach kurzem Zögern »spendierte« er dem Cyborg ein freundschaftliches Schulterklopfen, immerhin hatte Sass ihm gerade das Leben gerettet. »Verdammt heimtückische Gegend«, bemerkte Doorn. »Aber mit einer verdammt guten Aussicht«, entgegnete Ribur und ging Schritt für Schritt auf den Abgrund zu. »Der Sonnenaufgang über den Bergen und Wäldern des larkischen Westens hat es in sich.« Mit gebotener Vorsicht folgten ihm die anderen. Einen Meter vor dem Abhang blieben alle stehen und blickten in die Ferne. Zwischen nebelverhangenen Berggipfeln leuchtete die Sonnenscheibe und sandte ihre angenehm wärmenden Strahlen aus. Ihr unaufhaltsamer Aufstieg erfolgte gemächlich, jedoch etwas schneller als es die Terraner von daheim gewohnt waren. Man konnte mit bloßem Auge verfolgen, wie sie sich allmählich in schwindelnde Höhen erhob, in ihrer gesamten machtvollen Größe – ein roter Riese vom Spektraltyp M 2, der am Himmel etwa zwanzigmal soviel Platz einnahm wie Sol. Ihr kleiner Begleiter Bulk hatte sich fürs erste auf die Rückseite des Muttergestirns verabschiedet. »Balk erwacht aus seinem wohlverdienten Nachtschlaf«,
murmelte der Jäger. Balks Wärme und Licht erweckten den Wald zum Leben. Zaghaftes Vogelgezwitscher ertönte und schwoll langsam an. Dazwischen waren noch weitere Töne zu hören, seltsame Laute, die Dhark und die Seinen nie zuvor vernommen hatten. Offenbar war Larks Fauna überaus vielfältig. »Augenblicke wie diesen sollte man mit beiden Händen festhalten und nie mehr hergeben«, sagte Fontain, der ansonsten kein Poet, sondern ein kampferfahrener Kerl war, hart wie Unitall. Auch die übrigen Männer verspürten ein friedfertiges, leicht wehmütiges Gefühl. Für einen Moment gelang es ihnen, alles Negative, jede lauernde Gefahr zu verdrängen, ja sie schienen sogar vergessen zu haben, warum sie hierhergekommen waren. Jeder hing seinen Gedanken nach. »Wir ziehen weiter!« Drei Worte nur, doch sie genügten, um die Gruppe geschlossen in die Wirklichkeit zurückzurufen. Wer sie ausgesprochen hatte, das geriet bereits nach dem ersten Marschkilometer in Vergessenheit. * Für acht ausgewachsene, gesunde Männer stellte ein Fünfzigkilometermarsch durch eine hügelige Naturlandschaft nur ein minderschweres Problem dar. Nach einer guten Stunde waren sie ein gehöriges Stück vorangekommen, ohne daß sich Anzeichen der Ermüdung bemerkbar machten. Keiner von ihnen fragte nach einer Rast, alle waren fest entschlossen, bis zum Ziel durchzumarschieren. Um keinen Atem zu verschwenden, sprachen sie nur das Nötigste miteinander. Noch befanden sie sich innerhalb des Bergwalds, hielten allerdings stetig auf den Waldrand zu. Plötzlich waren Gewehrschüsse zu hören. Schüsse und
Todesschreie aus dem Wald. Die Gruppe änderte sofort die Richtung, um nach dem Rechten zu sehen. Jemand befand sich in Not, vielleicht konnte man helfen. Daran war jedoch nicht zu denken. Auf einer Waldlichtung spielte sich ein Todesdrama ab, das den acht unfreiwilligen Augenzeugen das Blut in den Adern gefrieren ließ. Eine Infanterietrupp der FVL-Streitkräfte metzelte ein Zeltdorf der Grünlarken nieder. Obwohl die Angreifer ihren Opfern zahlenmäßig weit überlegen waren, nahmen sie niemanden gefangen. Rücksichtslos wurden auch Frauen, Greise und Kinder von der Armee umgebracht. Vier Korlonen und vier Terraner konnten nichts unternehmen, nur aus sicherer Deckung heraus in ohnmächtiger Wut zuschauen. Ribur wollte sich damit nicht zufrieden geben. Er hob seine schwere Büchse zum Schuß. Therak riß ihm die Waffe aus der Hand und zischte ihn an: »Sind Sie wahnsinnig? Wenn die Soldaten auf uns aufmerksam werden, sind wir so gut wie tot.« Ribur fiel es schwer, das einzusehen. Als Jäger hatte er dem Tod schon oft ins Auge geblickt, aber dieses brutale Abschlachten schockierte ihn zutiefst. Jedes Tier, das er erlegt hatte, hatte zumindest die Chance gehabt, zu entkommen oder sich mit Krallen und Reißzähnen zur Wehr zu setzen. Die Bewohner dieses Dorfes hatten nur die Wahl zwischen einem schnellen oder einem langsamen Tod, und selbst das war vom Zufall abhängig. Ein alter Pugare, der aus seinem Zelt trat, wurde durch einen Genickschuß hingerichtet, noch bevor er begriff, was um ihn herum passierte. Ein etwa zehnjähriges Mädchen lief genau in eine Gewehrkugel hinein. Das Bleigeschoß traf sie mitten zwischen die Augen.
Ein Grünlarke fing eine ihm zugedachte Handgranate auf, um sie zurückzuwerfen. Sie zerfetzte ihm den Unterarm. Andere Pugaren lagen verletzt auf dem Boden und warteten auf den erlösenden Todesstoß mit dem Bajonett. Nicht alle wurden sofort getötet, auf manche Verletzte trat man mit Kampfstiefeln ein und ließ sie weiter in ihrem Blut liegen. Die Soldaten hatten das Dorf von allen Seiten umzingelt. Eine Pugarenfrau versuchte, den Ring zu durchbrechen. Mehrere Pistolenkugeln streckten sie nieder. Eine zweite Pugarin hatte mehr Glück. Anstatt einen Frontalangriff zu riskieren, sprang sie über die Umzingelung hinweg. Einige Soldaten feuerten ihre Waffen hoch in die Luft ab, trafen sie jedoch nicht. »Phantastisch«, murmelte Therak, der den Sprung geistesgegenwärtig mit seinem Fotoapparat abgelichtet hatte. »Ich habe bereits von den außergewöhnlichen Fähigkeiten einiger Grünlarkenstämme gehört, aber nicht so recht daran geglaubt.« Auch Fontain machte Fotos von dem grausigen Geschehen, zur Dokumentation. Für die Verbrechen, die auf Lark an der Urbevölkerung verübt wurden, gab es nämlich so gut wie keine Beweise. Manche Bewohner der beiden anderen Kontinente hielten sie für üble Gerüchte. Die offiziellen Sprecher der Freistaaten lehnten jede Stellungnahme dazu ab, und in den hiesigen Medien durfte nur Positives über die sogenannten Schutzlager berichtet werden. Die junge Pugarin lief auf ihrer verzweifelten Flucht direkt auf eine pflanzenbewachsene Mulde zu, in der sich Dhark und Doorn verbargen. Ein bewaffneter Leutnant nahm die Verfolgung auf. Als die Frau die beiden am Boden liegenden Gestalten bemerkte, änderte sie rasch die Richtung, um ihren Verfolger nicht auf die heimlichen Beobachter aufmerksam zu machen. »Nicht eingreifen«, befahl der Commander dem Sibirier, als
der Leutnant nahe am Versteck vorbei lief. »Geht klar«, sagte Arc und sprang auf. Wie ein Raubtier stürzte er sich auf den Leutnant, riß ihn von den Beinen und drückte ihm solange den Hals zu, bis er kein Lebenszeichen mehr von sich gab. Dann robbte er zurück in die Mulde. Alles war blitzschnell vonstatten gegangen, niemand war auf den Vorfall aufmerksam geworden. »Sie haben sich soeben der Befehlsverweigerung schuldig gemacht«, flüsterte Ren Dhark dem Mann an seiner Seite ärgerlich zu. »Sorry, ich habe Sie wohl falsch verstanden, Sir«, behauptete Doorn und betrachtete den Fall damit als erledigt. Die Pugarin war nirgendwo mehr zu sehen. Bram Sass kroch schlangengleich in die Mulde, um mit dem Commander zu reden. »Oshuta und ich könnten den Grünhäuten beistehen«, schlug er vor. Dhark schüttelte den Kopf. »Nichts zu machen, es sind zu viele Soldaten. Wären unsere Strahlenwaffen nicht mit den Flash im Meer versunken, würde ich vielleicht einen Angriff riskieren. Aber gegen eine ganze Armeegruppe kommen selbst zwei Cyborgs nicht an.« »Die Waffen wären im Einflußbereich des Abschirmfeldes eh unbrauchbar«, erwiderte Bram. »Im Gegensatz zu unseren speziellen Befähigungen.« »Ihre Cyborgkräfte nutzen Ihnen gar nichts gegen eine solche Übermacht«, widersprach Dhark. »Wir ziehen uns zurück. Das ist ein Befehl!« * Auf dem Schlachtfeld kehrte Ruhe ein. Das Gemetzel war vorüber, innerhalb des Dorfes war kein Grüner mehr am Leben.
»Einige sind uns entwischt«, erstattete Xurrak General Worge, der den blutigen Einsatz angeführt hatte, Bericht. »Doch ich kenne ihre Geheimverstecke. Noch bevor es Abend wird, haben wir jeden einzelnen Flüchtling aufgestöbert und getötet – auch diese verdammte Dorfhure!« Worge grinste. »Ist sie dir schon wieder entwischt?« »Das Luder ist über eine lebende Mauer aus Soldaten einfach hinweggesprungen!« schimpfte der Kundschafter. »Leutnant Remo rannte hinter ihr her. Bisher ist er noch nicht zurück.« Worge ließ sich zeigen, welche Fluchtrichtung Chatoo eingeschlagen hatte und erteilte einem Trupp Soldaten den Befehl, nach dem Leutnant zu suchen. Dieser Befehl wurde Commander Dhark, Gouverneur Cafer und den sechs anderen zum Verhängnis. Noch bevor die Gruppe den Rückzug antreten konnte, wurde sie von der Patrouille entdeckt. Die Soldaten gaben Alarm. Der Versuch, in verschiedene Richtungen zu flüchten, wurde gleich im Keim erstickt. Von allen Seiten kesselte die Armee die acht Männer ein und trieb sie zusammen. Unter schwerer Bewachung wurden die entwaffneten Gefangenen ins zerstörte Zeltdorf gebracht. Auf dem Weg dorthin hielten die Uniformierten beinahe furchtsam Abstand zu den vier »Entstellten«. Etwas derartiges hatten sie noch nie zuvor gesehen. Aus welcher Ecke der Welt stammten die seltsamen Fremden? General Worge hatte inzwischen einen gut bewaffneten Trupp losgeschickt, um die geheimen Verstecke der Grünlarken auszuräuchern. Angeführt wurde das Mordkommando vom Fingerlosen. Als man Worge die Gefangenen vorführte, war er zunächst schockiert. Die Terraner wirkten auf ihn wie verzerrte Wesen mit einer ansteckenden Krankheit. Anfangs brachte er kein Wort heraus.
»Wer seid ihr?« fragte er nach einer Weile. Dhark, der dank Cafers Beschreibung gleich wußte, wen er vor sich hatte, schwieg eisern. Der Translator ebenfalls, er hatte ihn außer Funktion gesetzt. Die acht Männer hatten sich darauf geeinigt, zunächst einmal jede Auskunft zu verweigern. Ein Soldat übergab Worge die Fotoapparate, die man Fontain und Therak zusammen mit ihren Waffen abgenommen hatte. Damit stand für den General fest, daß er es mit Spionen zu tun hatte. Er ließ die Gefangenen in ein noch intaktes großes Zelt bringen und stellte sie unter schwere Bewachung. Rund um das Zelt bauten sich bewaffnete Posten auf. Den Translator nahm Worge an sich. »Mit dem Ding kann er sowieso nichts anfangen«, spöttelte Arc drinnen im Zelt, wo die acht unter sich waren. »Darauf würde ich nicht wetten«, erwiderte der Commander. »Es ist zwar momentan ausgeschaltet, doch ein einfacher Handgriff genügt, um das Gerät wieder in Gang zu setzen.« »Das schaffen die nie«, war Doorn überzeugt. »Dafür ist der Bildungsstand in punkto Technik auf Owid viel zu niedrig.« »Aber wir lernen täglich dazu«, sagte Gouverneur Cafer auf Angloter und fuhr in seiner eigenen Sprache fort: »Nur weil Ihr Heimatplanet dem unseren in technischer Hinsicht weit voraus ist, brauchen Sie uns nicht für Dummköpfe zu halten.« Der Sibirier nuschelte irgend etwas Unverständliches in sich hinein. »Entschuldigung akzeptiert«, entgegnete Cafer. Dabei hatte sich Doorn gar nicht entschuldigt. Er hatte lediglich sich selbst verflucht, weil er nicht bedacht hatte, daß ihn die anwesenden Korlonen inzwischen auch ohne Translator recht gut verstehen konnten. Dank der in den vergangenen Tagen gegenseitig erworbenen Sprachkenntnisse war eine halbwegs zufriedenstellende Verständigung möglich, sowohl in der hiesigen Landessprache als auch in der Muttersprache der
Terraner. Mitunter entstand daraus ein Gemisch beider Sprachen. Im Zweifelsfall mußte halt die gute alte Zeichensprache herhalten. Hätte Arc Doorn in diesem Augenblick General Worge sehen können, sein Spott über das technische Bildungsniveau auf diesem Planeten wäre noch gehässiger ausgefallen. Der ehemalige Kopfgeldjäger kniete vor einem klobigen Röhrengerät, das die Armeeführung großspurig als »mobile Funkzentrale« bezeichnete. Er setzte sich mit seinen Vorgesetzten in Verbindung und meldete die Festnahme von acht mutmaßlichen Spionen. Die Nachricht über das fremdartige Aussehen von vier Gefangenen löste bei der larkischen Militärführung Aufregung aus. Aufregung – und Ratlosigkeit. Nach Rücksprache mit der Regierung wurde der Beschluß gefaßt, die Fremden in die Hauptstadt der Freistaaten von Lark bringen zu lassen und dort dem Präsidenten vorzuführen. Während Worge am Funkgerät auf Antwort wartete, wurde der Leichnam von Leutnant Remo gefunden, in der Nähe des Waldstücks, in dem man die Fremden gestellt hatte. Der General nahm die Nachricht mit unbewegter Miene auf. Innerlich tobte er vor Zorn. Remo hatte zu seinen besten Männern gezählt, ein loyaler Kampfgefährte und Vertrauter. Deine Mörder werden leiden, Remo, verlaß dich darauf! Per Funk wurde für den nächsten Tag ein Flugzeug angekündigt, das alle acht Gefangenen im Feldlager abholen würde. Worge äußerte daraufhin einen persönlichen Wunsch. »Ich möchte beim Verhör selbst anwesend sein.« * Noch am selben Tag wurden die Gefangenen in ein anderes Lager am Waldrand gebracht. Auf dem Weg dorthin waren so viele Gewehrläufe auf sie gerichtet, daß ein Fluchtversuch
reiner Selbstmord gewesen wäre. Man sperrte sie in eine aus Zeltplanen und Bretterwänden zusammengezimmerte Behelfsunterkunft. Feldbetten gab es hier nicht, die Inhaftierten mußten sich mit dem Fußboden begnügen. Ein ungeordneter Haufen miefiger Abfallsäcke, befallen von allerlei Ungeziefer, verströmte einen penetranten Gestank. »Wenn dies hier die Arrestzelle ist, bin ich der liebe Gott«, merkte Doorn knurrig an. »Man hat uns in einen unbeleuchteten, fensterlosen Abstellraum abgeschoben, vermutlich eine Zwischenstation für den täglich anfallenden Müll. Himmel, wie das stinkt! Das verfaulte Dreckzeug hätte man längst vergraben müssen!« Erst eineinhalb Stunden vor Mitternacht bekamen die Arretierten etwas zu essen, eine kärgliche Mahlzeit, die genauso schlecht schmeckte, wie sie roch. Ihre genaue Zusammensetzung konnte man im flackernden Schein der Petroleumlampe nur unzureichend erkennen. »Chance verpaßt«, meinte Lati Oshuta, nachdem die beiden Soldaten, die Essen und Lampe gebracht hatten, aus dem Zelt gegangen waren. »Theoretisch hätten wir sie überwältigen und ausbrechen können.« »Praktisch kämen wir nicht mal bis zum Rand des Militärlagers«, machte Dhark ihm klar. »Unsere Gefangennahme zerrt auch an meinen Nerven, doch wir dürfen uns nicht zu unüberlegten Handlungen hinreißen lassen.« Bei der Formulierung der »unüberlegten Handlungen« warf er Doorn einen scheelen Seitenblick zu. Arc ging sofort in die Offensive. »Stimmt, es war keine Glanzleistung, den Kerl mit bloßen Händen zu erwürgen. Aber ich würde es in derselben Situation immer wieder tun! Wir alle haben hilflos zusehen müssen, wie die Armee blutig einen Grünen nach dem anderen abschlachtete. Dieses Schicksal wollte ich der Flüchtenden ersparen.«
Cafer verstand nicht jedes Wort der Unterhaltung, aber genug, um zu begreifen, daß es sich um eine Meinungsverschiedenheit handelte, die leicht in einen Streit ausufern konnte. »Anstatt uns gegenseitig Vorwürfe zu machen, sollten wir lieber überlegen, wie wir hier wegkommen«, griff er schlichtend ein. »Wenigstens einem von uns muß es gelingen, sich im Schutz der Dunkelheit aus dem Lager zu schleichen und Hilfe zu holen.« »Hilfe holen?« wiederholte Ribur. »Wie stellen Sie sich das vor? Sollen wir am nächsten Haus läuten und um Unterstützung gegen die Streitkräfte der FVL bitten? Die larkische Bevölkerung würde uns was husten. Und die Pugaren sind froh, wenn sie ihre eigene Grünhaut retten können.« »Wenn uns gelänge, mit Korlo in Verbindung zu treten...«, überlegte Therak laut. »Willst du einen Krieg zwischen unserem Reich und Lark entfachen?« unterbrach ihn Fontain. »Ich weiß, woher wir Hilfe bekommen«, warf Dhark ein und wandte sich Doorn zu. »Sie setzen unseren unterbrochenen Marsch fort, Arc, und suchen nach der Anlage der Rahim. Das könnte unsere Rettung sein. Sass und Oshuta werden Sie begleiten.« Der Sibirier schüttelte den Kopf. »Ich brauche keine Aufpasser. Allein komme ich besser zurecht.« »Die beiden Cyborgs gehen als Leibwache mit Ihnen«, entschied der Commander, und er duldete keinen weiteren Widerspruch. »Nur Sie schaffen es, die Kodes zu knacken und die Anlage in Betrieb zu nehmen, Arc. Wenn Ihnen unterwegs etwas zustößt, sind wir alle so gut wie tot.« Ren hatte bereits einen Plan. »Wo genau liegt – von hier aus gesehen – Norden?« erkundigte er sich bei den beiden »lebenden Landkarten« Bram und Oshuta.
*
Von jetzt an wurde nicht mehr diskutiert, es wurde gehandelt. Krachend zersplitterte eine Bretterwand im hinteren Teil der Gefangenenunterkunft. Zwei kräftige Cyborgtritte genügten, und die ganze Wand brach zusammen. Drei Soldaten, die hinten Wache schoben, hatten gerade eine gemeinsame Rauchstäbchenpause eingelegt. Hektisch luden sie ihre Gewehre durch. Zu spät. Noch bevor sie zum Schuß kamen, warf sich eine kräftige Gestalt auf sie und riß sie zu Boden. Bram Sass hatte das Überraschungsmoment auf seiner Seite. Nicht grundlos war Rauchen während des Wachdienstes strikt verboten. Die Wachen am Eingang hörten den Kampflärm und eilten ihren Kameraden zu Hilfe. Zwei liefen außen um die Unterkunft herum, zwei begaben sich mit schußbereiten Waffen nach drinnen. Lati Oshuta streckte den ersten Soldaten, der hereinkam, mit einem Handkantenschlag nieder. Dem zweiten gelang es noch, einen Schuß abzugeben, bevor Dharks Faust ihn zu Boden schickte. Die Kugel blieb in einem Stützbalken stecken. Die meisten Soldaten hatten sich längst schlafen gelegt. Worge war noch wach. Während er im Offizierszelt auf Xurraks Rückkehr wartete, versuchte er herauszubekommen, wozu das merkwürdige Gerät diente, das er den Fremden abgenommen hatte. Als er den Schuß hörte, schloß er es rasch weg und legte den Hebel für die elektrische Sirene um. Worges Männer waren gut gedrillt. Nur mit dem Notdürftigsten bekleidet, teils noch verschlafen, verließen sie schnurstracks ihre Quartiere, wobei sie das Wichtigste nicht vergaßen: das Gewehr. Oshuta und Sass schlugen gezielt überall dort zu, wo sich Einheiten zu formieren versuchten. Ihr Auftrag war, geordnete
Aufstellungen zu verhindern und die gemeinen Rekruten möglichst lange von ihren direkten Befehlsgebern fernzuhalten. Kurze, aber harte Attacken verursachten Panik unter den einfachen Soldaten. Die übermenschlichen Kräfte der Fremden jagten ihnen Angst ein. Das unerklärliche Verschwinden einiger Unteroffiziere – auch dafür zeichneten sich die Cyborgs verantwortlich – sorgte für weitere Irritationen. Zeitgleich flohen Dhark, Cafer, Ribur, Fontain und Therak aus ihrem Gefängnis und setzten sich in drei Richtungen ab. Anstatt leise durchs aufgescheuchte Militärlager zu schleichen, lenkte jeder von ihnen lautstark die Aufmerksamkeit auf sich. Es kam zu vereinzelten Handgemengen zwischen den Flüchtlingen und Soldaten. Ribur erbeutete ein geladenes Gewehr. Die beiden Agenten brachten sich in den Besitz von Kampfmessern. Mit mächtiger Stimme bemühte sich Worge, wenigstens in seinem näheren Umfeld militärische Ordnung in das Durcheinander zu bringen, das die spektakuläre Flucht der acht Gefangenen quer durchs Lager auslöste. Er war überzeugt, daß hinter dem absichtlich verursachten Chaos ein kluger Kopf steckte. Welchen Fluchtplan hatten die Spione ausgeheckt? Zusammen mit ein paar bewaffneten Männern betrat er das teilweise zerstörte Gefangenenquartier. Wie nicht anders zu erwarten, erwies es sich als leer. Nichts deutete auf ein bestimmtes Vorhaben hin, obwohl er das Gefühl hatte, daß sich des Rätsels Lösung in greifbarer Nähe befand. Aber wo? »Nichts wie raus hier«, ordnete der General an. »Der Gestank in dieser Bruchbude ist bestialisch! Der zuständige Dienstleiter für die Müllbeseitigung soll sich morgen früh bei mir melden.« Sass und Oshuta sorgten derweil unablässig für Unruhe. In titanischem Tempo wechselten sie ihre Standorte und tauchten mal hier, mal da auf, wie unheilbringende Gespenster, mal allein, mal zu zweit.
Auf Dauer konnten sie ihre gezielten Störaktionen jedoch nicht aufrechterhalten. Mittlerweile steckten mehrere Kugeln in ihren Körpern – im Rücken, in Unterarm und Oberschenkel, in den Schultern. Die attackierten Einheiten setzten sich immer massiver zur Wehr. Mit der Absonderung der Kugeln hielten sich die Cyborgs nicht unnötig auf, der Heilungsprozeß erfolgte sozusagen »unterwegs«, also zwischen den jeweiligen Einsätzen. Zu einem vorher verabredeten Zeitpunkt vollzogen sie einen konzentrierten Angriff auf die Wachen, die am nördlichen Teil der Lagerumzäunung Posten bezogen hatten. Dies war ein wichtiger Teil des Plans. »Da also wollen sie durchbrechen«, sagte Worge, nachdem man ihm übers Feldtelefon Meldung erstattet hatte. »Jede Wette, die sechs übrigen Spione finden sich über kurz oder lang ebenfalls dort ein. Ihre scheinbar ungeordnete Flucht in unterschiedliche Richtungen ist lediglich eine Finte.« Ohne lange zu überlegen, ließ er den Großteil der Wachen im Nordteil zusammenziehen und begab sich selbst mit einem Trupp dorthin. Zunächst sah es so aus, als würde Worges Strategie aufgehen. Therak und Fontain, die sich auf dem Weg zum Nordzaun befanden, liefen dem Trupp direkt in die Arme. Sie ergaben sich widerstandslos. Man nahm ihnen die Messer ab und fesselte ihnen die Hände auf dem Rücken. Kurz darauf lieferten sich Worge und seine Männer eine Schießerei mit Ribur, der sich hinter einem Felsen verschanzt hatte. Offensichtlich wollte er die beiden Gefangenen befreien. Man nahm ihn von mehreren Seiten unter Beschuß. Als ihm die Munition ausging, gab der Großwildjäger auf. Mit erhobenen Händen verließ er seine Deckung. Gouverneur Cafer befand sich in seiner Begleitung und ergab sich ebenfalls. Der General war zuversichtlich, alsbald auch noch die vier
Fremden wieder in die Hände zu bekommen. Aus seinem Lager gab es kein Entkommen. Und trotzdem... das Gefühl, etwas übersehen zu haben, ließ Worge nicht los. Alles ging viel zu leicht, so als hätten die Flüchtenden vorher abgesprochen, wann und wo ungefähr sie sich wieder festnehmen lassen würden. Am Nordzaun wurde ihm eine weitere Gefangennahme gemeldet. Der häßliche, weißblonde Fremde, dessen merkwürdiges Gerät er konfisziert hatte, befand sich gefesselt im Gewahrsam der Wachen. »War nicht die Rede von zwei angreifenden Fremden?« fragte der General. »Wo ist der andere?« »Sie sind beide spurlos verschwunden«, antwortete ihm der für die Sicherung der Umzäunung zuständige Wachoffizier. »Beide? Wieso beide? Einen haben wir doch.« »Dieser hier gehört nicht zu den Zweien, die uns so schwer zu schaffen gemacht haben. Sie erschienen wie aus dem Nichts und fielen wie wilde Tiere über uns her. Ihre Bewegungen waren lautlos und schnell. Sie kämpften mit Händen und Füßen, mit Knie und Ellbogen, ja sogar mit dem Kopf. Wir schossen auf die Fremden, doch sie waren nur schwer zu treffen. Außerdem schienen ihnen unsere Kugeln nichts auszumachen. Obwohl sie kämpften wie zehn Mann gelang es ihnen nicht, durchzubrechen. Daraufhin gaben sie ihr Vorhaben auf und traten den Rückzug an. Ich befahl, sie zu verfolgen. Zwischen den Zelten verloren wir sie aus den Augen. Als wir Geräusche hörten und einen Schatten wahrnahmen, schlichen wir uns an... Offenbar hat uns der Kerl hier bewußt auf eine falsche Fährte gelockt, damit seine Komplizen entkommen konnten. Er leistete keinen Widerstand. Allem Anschein nach verfügt er nicht über so außergewöhnliche Kampffähigkeiten wie die beiden anderen; er hat nicht einmal den Versuch unternommen, uns zu überwältigen.«
In Worges Gehirn arbeitete es wie in einem Uhrwerk. Allmählich ging ihm ein Licht auf. Die Leitungen der Feldtelefone waren plötzlich tot. »Hätte ich mir ja denken können«, grummelte er und spürte, wie der Zorn in ihm hochkochte. »Diese verdammte Bande hat mich ausgetrickst wie einen Anfänger. Warum ist mir das mit dem Telefon nicht schon eher aufgefallen?« Der Wachoffizier schaute ihn fragend an. »Schon eher? Das verstehe ich nicht. Die Telefonverbindungen wurden erst vor wenigen Augenblicken unterbrochen.« »Eben«, erwiderte der gefürchtete General, und sein Gesicht verdüsterte sich. »Das ist es ja gerade.« Als der Offizier ihn noch immer nicht verstand, ergriff er ihn am Uniformkragen und schrie ihn wütend an: »Begreifen Sie nicht, was passiert ist, Sie unfähiger Holzkopf? Das ganze Fluchtspektakel wurde nur wegen des rothaarigen Fremden mit der monströsen Nase veranstaltet! Er ist der Anführer der Spione! Hätte ich das alles nur früher durchschaut! Ich stand ganz in seiner Nähe, hätte nur zugreifen brauchen...!« * Während General Worge tobte, robbte sich »der Anführer« im östlichen Teil der Umzäunung unter dem Stacheldraht hindurch. Die Dunkelheit begünstigte seine Flucht. Leider kam er nicht weit. Hinter dem Zaun blendete ihn das Licht einer Taschenlampe. Arc Doorn schützte seine Augen mit dem Unterarm. Er konnte sein Gegenüber nur undeutlich erkennen. Ihm fiel ihm auf, daß der Mann an der linken Hand keine Finger hatte.
12. Der Raum war gewaltig. Gewaltiger als alles, was Priff Dozz jemals mit eigenen Augen geschaut hatte. »Allmächtiger Darrgg!« entfuhr es einem seiner Begleiter voller Ehrfurcht. Und auch Priff Dozz mußte an Darrgg, den Beschützer der Beißwütigen, denken, während er den Blick in die grenzenlos scheinende Weite des Gewölbes schweifen ließ, das sich vor ihnen geöffnet hatte. Eine Welt im Innern der Welt... Vergeblich suchte Priff Dozz nach Pfeilern und Stützen, nach Säulen oder auch nur A-Gravprojektoren, die den Himmel des Raumes daran hinderten, unter dem auf ihm lastenden Gewicht zusammenzubrechen und herabzustürzen. Priff Dozz dachte tatsächlich Himmel, nicht Decke, so unfaßbar in seinen Dimensionen war dieser Ort, der hinter einer unauffälligen, wenn auch speziell gesicherten Pforte verborgen gelegen hatte. »Wir müssen dem Führer sofort Meldung erstatten!« Priff Dozz ignorierte den Ruf eines weiteren seiner Begleiter. Er trat einen Schritt vor. Tastend. Als mißtraue er nicht nur seinen Augen, sondern seinen sämtlichen Sinnen. Jenseits der Schwelle öffnete sich der unglaubliche Raum erst richtig. Wie tief unter der Oberfläche waren sie, daß sich ein Gewölbe solcher Höhe ausbreiten konnte? Oder unterlagen sie tatsächlich einer Täuschung?
Priff Dozz war sich unschlüssig. Die schwerbewaffneten Nomaden in seiner Gefolgschaft schienen sich mit derlei Fragen nicht aufzuhalten. Sie trauten ihren Augen. Und witterten Gefahr. »Nicht weitergehen!« Obwohl es fahrlässig war, hörte Priff Dozz auch jetzt nicht auf sie, sondern lief weiter, entfernte sich von dem vergleichsweise winzigen Spalt, durch den er getreten war und schritt auf die ungeheuerlichen Artefakte einer erdrückend überlegen wirkenden Technologie zu. Ungeheuerlich schon deshalb, weil sie von Ungeheuern hinterlassen worden waren. Den Rahim!? Priff Dozz hatte noch auf keinem Planeten, der von ihnen besucht worden war oder als Umschlagplatz für gestohlene Güter benutzt wurde, etwas auch nur annähernd Vergleichbares gesehen. Die Gigant-Aggregate, die sich über den weiten Raum verteilten, kamen in ihrer Höhe gewaltigen Wohnblöcken gleich. Und dennoch war zwischen ihnen soviel Platz, daß man sich mit jedem bekannten Bodenfahrzeug gefahrlos zwischen den Schluchten hätte bewegen können. Erstaunlicherweise wehte kein Lüftchen. Aber es war auch nicht stickig. Alles wirkte... sauber. Wie gerade erst verlassen. »Was ist das?« keuchte eine Stimme unmittelbar hinter Priff Dozz, der sich nur schwer von dem Anblick lösen konnte und sich umdrehte. Der Trupp, den Pakk Raff ihm an die Seite gestellt hatte, war nachgerückt. Nur einer war im offenen Schott stehengeblieben, als wollte er durch sein Ausharren dort verhindern, daß sich der vielleicht einzige Ausgang von selbst wieder schloß. Priff Dozz belächelte die Sorge des Nomaden nicht.
Sein Blick haftete jedoch nur kurz an der Gestalt mit dem gequälten Ausdruck im Gesicht. Dann gehörte Priff Dozz' Aufmerksamkeit der hellblau schimmernden, wie poliert wirkenden Metallwand, die sich irgendwo im »Himmel« dieses Gewölbes verlor. Und dieser Himmel, diese Decke, strahlte über die Gesamtheit ihrer Fläche mild wie eine plattgewalzte Sonne. Sie leuchtete die Giganten, die sich vom Boden aus erstreckten, absolut schattenfrei aus. Deren Oberfläche war von identischer Farbe und Beschaffenheit – jedenfalls soweit sich dies aus der Entfernung und ohne genaue Analyse behaupten ließ – wie alles, was bislang in der unterirdischen Anlage der Rahim gefunden worden war. Doch erstmals kamen Priff Dozz Zweifel, ob hinter alledem wahrhaftig die Rahim stecken konnten. Er hatte sie stets als mächtig, übermächtig eingeschätzt, obwohl niemand noch Wissen über die Rätselhaften zu besitzen schien, das über ausgeschmückte Legenden hinausging. Doch dies hier... ... ging noch über die Bedeutung des Wortes »übermächtig« hinaus. Wenn die Rahim eine solche Fabeltechnik beherrscht, solche Gigantomanie betrieben hatten, wie hatten sie dann auf dem Zenit ihrer Macht verschwinden können? War ein noch mächtigerer Gegner aufgetaucht? Oder hatten sie schon damals, vor sechshundert Jahren – früher als alle anderen Drakhon-Völker – abgesehen, welches Verderben sich in absehbarer Zukunft in Gestalt einer kollidierenden Galaxis nähern würde? Hatten die Rahim sich nicht nur zurückgezogen aus dem galaktischen Geschehen, sondern die Galaxis selbst verlassen? Waren sie in eine ferne, sichere, andere Sternenballung emigriert?
Aber warum hatten sie die übrigen Völker nicht an ihrem Wissen teilhaben lassen oder sie wenigstens gewarnt? Waren die Rahim Ungeheuer? Natürlich waren es Ungeheuer, beantwortete sich Dozz seine unausgesprochene Frage selbst. Nur Ungeheuer vernichten ganze Planeten. Nicht einmal wir würden... Sein schweifender Blick blieb an etwas hängen. Etwas, das sich deutlich von den übrigen Gigantaggregaten unterschied, aber so weit entfernt war, daß Priff Dozz sich nicht restlos sicher war, ob sein erster Eindruck nicht täuschte. Dem ihm am nächsten stehenden Nomaden riß er ein Spezialsichtgerät vom Gürtel. Den knurrenden Protest des Hünen überhörte er. Dozz preßte die Okulare des Instruments, das vielfältige Möglichkeiten bot, gegen seine Augenhöhlen und regelte die Feineinstellung, während er angestrengt hindurchsah und das Zielobjekt anvisierte. Tatsächlich... er hatte sich nicht geirrt. »Wer hätte das gedacht...«, drang es verblüfft über seine Zunge. * Pakk Raff haßte das Nichtstun mehr als jeden Feind. Nein, beinahe jeden Feind. Und er bereute es bereits, Priff Dozz nicht auf der Suche nach einem Ausweg begleitet zu haben. Die Örtlichkeiten hier in der Tiefe waren nicht einmal dazu angetan, den Wunsch zu wecken, sich mit einer seiner Frauen nach irgendwohin zurückzuziehen und sich so die Zeit zu vertreiben. Das einzige Verlangen, das ihn momentan wirklich beherrschte, war, diese stinkende Falle von einem Planeten so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Er wußte, wie gering die Chancen dafür standen. Aber er wollte nicht daran denken.
Chancen... Wahrscheinlichkeiten... Immerhin besaß er eine Trumpfkarte, auf die er all seine geheimen Hoffnungen setzte: Priff Dozz. Auch wenn er das klägliche Erscheinungsbild seines Beraters mitunter kaum mehr ertragen konnte, änderte dies nichts an der Tatsache, daß Dozz ein Genie war. Der genialste Kopf, den man sich vorstellen konnte. Zuletzt hatte er es hier auf Owid bewiesen, unmittelbar nach dem Absturz, als der Koloß erschienen war. Niemand außer Dozz hatte bemerkt, daß es sich um keine reale Gestalt hatte handeln können. Dozz! Er war der Schlüssel zur Flucht – zur Rückkehr an die Schalthebel der Macht, die Pakk Raff nicht aus der Hand zu geben gedachte. Dabei war es nicht einmal auszuschließen, daß es die Flotte, zu der er zurückkehren wollte, gar nicht mehr gab. Daß der Gegner sie mit Stumpf und Stiel vernichtet hatte... Pakk Raff erhob sich federnd vom kühlen Metallboden der Station. Sie sah aus wie die Endstation eines Bahnhofs. Nur in eine Richtung verlief der Schienenstrang, dem Priff Dozz in Kundschafterfunktion gefolgt war. Dort, wo das Gleis endete, lagen verschiedene Räume, die nicht alle Zugang gewährten. Manche waren verschlossen, und auch Dozz hatte noch nicht jeden Code geknackt. Der sicherste Ort bis zu seiner Rückkehr, hatte Dozz betont, sei der Gleisbereich selbst. Dort, wo Pakk Raff und die Gruppe ihr Lager aufgeschlagen hatten und wo die Stimmung von Stunde zu Stunde schlechter wurde. Manch einer wäre, das hörte Pakk Raff aus den leise geführten Gesprächen heraus, mittlerweile lieber wieder zur Oberfläche zurückgestiegen und hätte versucht, sich zu einer Siedlung der Owiden durchzuschlagen.
Doch noch pflichtete Pakk Raff seinem Berater in der Ansicht bei, daß die Rettung nur hier unten zu finden sein konnte. Was hatten die Owiden schon zu bieten? Sie beherrschten nicht einmal die Raumfahrt! Sie waren auch nicht Verursacher des Tarnfeldes, das Owid vom Weltraum aus unsichtbar machte und die Energiemeiler des Kubus beim Landeanflug totgeschaltet hatte. Nein, für Pakk Raff gab es keinen Zweifel, daß der Unsichtbarkeitsschild um Owid, der nebenbei jegliche mit Atomenergie betriebene Technik lahmlegte, auf das Konto der Erbauer dieses unterirdischen Komplexes ging. Und daß die Erbauer höchstwahrscheinlich die Rahim waren. Womit er wieder bei seinem Gedanken anlangte, den er noch nicht weiter verfolgt hatte: Konnte es sein, daß die Fremden in ihrem Ringschiff Rahim waren? War es nur eine List, sich als Besucher aus der anderen Galaxis auszugeben? Hatten sie so das Vertrauen der Shirs und der Galoaner erschlichen? Ihr Schiff jedenfalls ähnelte zumindest optisch dem hier auf Owid gefundenen Metall frappierend. War es auch in seiner Struktur damit identisch? Wenn ja, dann wäre dies der unumstößliche Beweis gewesen, den Pakk Raff suchte. Dann wären die Insassen des Ringschiffes noch in ganz anderer Qualität der Feind gewesen als bisher. Letztlich ersehnte sich Pakk Raff nichts mehr, als die Rahim für die Vernichtung des Heimatplaneten der Nomaden zur Rechenschaft zu ziehen, ganz gleich wie viele Jahrhunderte inzwischen vergangen waren! Eine solche Vergeltung hätte ihm auf ewig einen Ehrenplatz in der Geschichte eingebracht.
Zugleich wäre dadurch aber auch sein tiefverwurzeltes Bedürfnis nach Macht befriedigt worden. Doch dafür brauchte er ein Schiff, das selbst die Rahim fürchteten. Entweder weil es aus ihren Fabrikanlagen kam – oder weil es eine Technologie beherbergte, die der ihren mindestens ebenbürtig war. Das Ringschiff. Alles lief auf das Ringschiff hinaus, dem Pakk Raff wie einem Gral hinterherjagte! Er machte ein paar Schritte. Sofort lösten sich Gestalten, die ihn mit irgendwelchen Fragen oder Vorschlägen behelligen wollten. Er verscheuchte sie mit aggressiver Gestik, die jeder verstand. Wie lange würde Priff Dozz fortbleiben? Und fast wichtiger: Würde er fündig werden? Pakk Raff steuerte auf einen der Räume zu, die sein Berater, den er schon von Kindesbeinen an kannte, im Zuge seiner Bemühungen bereits geöffnet hatte. Ein Raum vollgestopft mit einer Technik, die sich erheblich von jener unterschied, mit der Pakk Raff von klein auf umzugehen gelernt hatte. Dennoch schlug er die Warnungen seines Beraters in den Wind. Er mußte etwas tun. Irgend etwas. Er war Gefahr gewohnt. Er lebte jeden Augenblick mit der Möglichkeit, daß es einem Untergebenen in den Sinn kam, ihn zum Kampf um die Herrschaft herauszufordern. Entschlossen betrat er die fensterlose Kammer, die vom selben Schimmer erhellt war wie der übrige Bahnhof. Sie ähnelte ein wenig dem Cockpit eines Raumschiffs. Aber es gab
nur eine einzige Sitzgelegenheit vor einem so tiefen Pult, daß derjenige, der einmal daran gearbeitet hatte, über Arme verfügt haben mußte, die mindestens die doppelte Länge von denen Pakk Raffs besessen hatten. Vorsichtig ließ er sich auf dem schlichten Sitzwürfel nieder und blickte über die Schulter zur Tür. Niemand war ihm gefolgt. Natürlich nicht. Noch mehr als diesen Ort fürchteten sie Pakk Raffs Zorn. Er beugte sich weit vor und berührte mit seinen Handflächen eine dunkel spiegelnde polierte Zone, die alles sein konnte, vielleicht nur eine simple Ablage, vielleicht... Pakk Raffs Gedanken zerstoben. Der Raum schien zu explodieren. Und dann… * Wo bin ich? Wie komme ich hierher? Die Illusion war so perfekt, daß Pakk Raff ihr zunächst vollständig zum Opfer fiel. Er glaubte, wieder im Dschungel von Owid zu sein. In Sichtweite des Tempelbaus, den sie entdeckt hatten, nachdem das Hologramm des Riesen ihnen nicht länger Respekt eingeflößt hatte... Hologramm. Der Begriff begann im Hirn des Rudelführers zu nagen. Bis der gesunde Verstand endlich wieder einsetzte. Ein Hologramm. Nichts anderes blendete ihn hier und jetzt! Er hatte die unterirdische Station nicht verlassen. Der ihn umgebende – scheinbar umgebende – Dschungel sonderte Geräusche, aber keine Gerüche ab. Sein Gras, seine Büsche
und Bäume waren mit den Händen nicht faßbar, waren nichts anderes als die perfekte Wiedergabe der tatsächlichen oberirdischen Gegebenheiten... Pakk Raff hatte ein Hologramm ausgelöst, das ihn buchstäblich integrierte! Nachdem er dies begriffen hatte, genoß er die phantastische Möglichkeit eines gefahrlosen »Ausflugs« zur Oberfläche. Das bloße Drehen des Kopfes genügte, um die Umgebung aus verändertem Blickwinkel zu erfassen. Oder Geräuschen zu folgen, die an sein Ohr drangen. Stimmen. Tatsächlich – da war mehr als der Wind in den Blättern; mehr als das Zirpen von Insekten oder das ferne Fauchen kämpfender Tiere. Stimmen. Sie waren scharf akzentuiert, wenngleich unverständlich. Und kurz darauf gerieten diejenigen in Pakk Raffs Blickfeld, die die Laute ausstießen... Owiden! Vor der Ankunft in diesem System hatte Pakk Raff seine Hausaufgaben gemacht und sich über die Bewohner des fünften Planeten informiert. Trotzdem war es etwas anderes, sie plötzlich »vor sich« auftauchen zu sehen. Wilde, dachte Pakk Raff betroffen. Sie machen einen völlig verwilderten Eindruck, sind noch primitiver, als aus den Aufzeichnungen hervorging... Es irritierte ihn nach wie vor, die Owiden direkt auf sich zukommen zu sehen, ohne daß sie Anzeichen zeigten, auch ihn entdeckt zu haben. Was auch gewiß nicht der Fall war. Es wäre närrisch von den Erbauern der Station gewesen, Abbilder ihrer selbst während der Beobachtung nach oben zu projizieren. Absolut kontraproduktiv.
Die Horde der Wilden umfaßte gut neun, zehn Individuen, und die Art, wie sie sich durch das Unterholz pirschten, ließ keinen Zweifel daran, daß sie nach etwas suchten. Möglicherweise waren sie nur auf der Jagd – aber ebenso war es denkbar, daß sie aus großer Entfernung Zeugen des Kubus-Absturzes geworden waren und nun einen Kundschaftertrupp losgeschickt hatten, um sich das vom Himmel herabgefallene Objekt aus der Nähe anzusehen... Ungefähr an diesem Punkt war Pakk Raff mit seinen Überlegungen angelangt, als sich das grob geschnittene Gesicht des Owiden, der die Gruppe anführte, plötzlich zur Grimasse verzerrte. Ruckartig blieb er stehen, wobei er genau in Pakk Raffs Richtung stierte. Um ein Haar hätte der Rudelführer seine Einschätzung revidiert, nicht von den Owiden wahrgenommen werden zu können. Der Schrecken, der sich nach und nach auf sämtliche Gesichter des Trupps malte, schien zweifelsfrei dafür zu sprechen, daß sie ihn entdeckt hatten... Doch dann begriff er, was die wahre Ursache ihres Entsetzens war. Sein schallendes Gelächter mußte bis zu den Nomaden zu hören sein, die am Bahnsteig kampierten. Und es wurde noch lauter, als er sah, was der »durch das Gras stampfende« Koloß für Reaktionen unter den Owiden hervorrief. Für Augenblicke fühlte sich Pakk Raff in die Situation zurückversetzt, wie er und seine Begleiter selbst Opfer des Holo-Wächters geworden waren. Es bereitete ihm größte Genugtuung zu beobachten, daß keiner der Einheimischen den Trick durchschaute. Sie wandten sich schreiend zur Flucht, noch eine Weile verfolgt von dem wild gestikulierenden Giganten, der diesmal
nicht einem Nomaden nachempfunden war, sondern einem Bewohner Owids. Offenbar, begriff Pakk Raff, war die für die Abschreckung zuständige Automatik in der Lage, die Wächter-Riesen auf die jeweilige Spezies, die sich näherte, anzupassen. Warum aber in jedem Fall die Farbe des Giganten golden war und in diesem Punkt von den realen Merkmalen abwich, blieb unklar. »Pakk Raff?« Die Stimme schien aus den Weiten der Landschaft zu kommen. Der oberste Rudelführer erhob sich von dem Sitzwürfel. Augenblicklich erlosch die Projektion, in die er sich hineinversetzt gefühlt hatte. Die Umgebung, in der er Platz vor dem Pult genommen hatte, kehrte zurück. In der offenen Tür stand ausgerechnet Ladd Kann, diejenige seiner Frauen, die er Priff Dozz im Erfolgsfalle als Lohn versprochen hatte. »Was willst du?« »Von hier fort.« Sie sah ihn so durchdringend an, daß Pakk Raff das Gefühl hatte, sie wisse über alles Bescheid. »Das wollen wir alle«, sagte er. »Worauf warten wir dann noch?« »Auf die Möglichkeit, es zu tun. Oder hast du einen Vorschlag?« Endlich senkte sie den Blick. »Nein.« »Laß mich allein.« »Was – tust du hier? Ich habe dich lachen hören. Als ich eintrat, hast du in meine Richtung geblickt, aber es war, als würdest du durch mich hindurchschauen...« »Sonst hast du nichts bemerkt?« horchte Pakk Raff auf. Sie verneinte. »Worauf hätte ich denn achten sollen?« »Der Raum... der Raum war nicht anders als jetzt?«
Ladd Kann wirkte überfordert. »Ist das ein... Test?« Pakk Raff gab ein drohendes Knurren von sich. »Verschwinde!« Sie tat, was das Beste für sie war: Sie kuschte. Nachdenklich blieb Pakk Raff allein in dem Raum zurück. Die Technik der Rahim wurde ihm beinahe unheimlich. Gleichzeitig aber weckte sie mehr Begierde denn je… * Die Ringkonstruktion ragte vor ihnen auf. Priff Dozz gab das Zeichen, stehenzubleiben. Vom Eingang des Gewölbes bis hierher war es ein seltsam kurzes Wegstück gewesen. Irgendwie hatte er das Gefühl, als hätten sie sich in einen Bereich begeben, in dem die Gesetze der Physik nicht mehr so ehern galten wie anderswo. Ein Weg, der optisch länger wirkte, als er sich in der Praxis erwies. Eine Decke, die in so großer Höhe schwebte, daß es eigentlich nicht sein konnte. Gigantische Aggregate, wie kein vernünftiges Volk sie bauen würde – wozu auch... All dies summiert ergab ein Bild, das permanentes Unbehagen nicht nur in Priff Dozz schürte. Seine Begleiter schienen davon noch wesentlich stärker betroffen zu sein. Schon eine ganze Weile unterließen sie es, derbe Scherze auf Dozz' Kosten zu machen. Immer häufiger wandten sie sich an ihn, weil ihnen eine Merkwürdigkeit auffiel und sie sich von ihm eine Erklärung dafür erhofften. Bislang konnte er damit nicht dienen. Er lernte selbst noch. Eines aber wußte er sicher: Was die Ringkonstruktion bedeutete, welchem Zweck sie diente, die sie von der Pforte aus erspäht hatten. Transmitter waren in Drakhon nicht unbekannt. Sie hatten einmal zur gängigen Technologie gehört – vor dem Großen
Sprung. Als Schiffe auch noch auf Transitionstriebwerke hatten vertrauen können. Doch mit dem Zusammenbruch der Technik, die auf einer Passage des Hyperraums beruhte, waren auch die Transmitter ausgemustert worden. Alle Anstrengungen waren auf die Nutzbarmachung des Wurmlochprinzips konzentriert worden. Von einem Tag auf den anderen praktisch isoliert zu sein von seinen Kolonien, hatte die Mehrzahl der raumfahrenden Völker an den völligen Abgrund getrieben. Glücklicherweise hatte wenigstens der Hyperfunk weiter funktioniert – warum, darüber gab es bis heute unterschiedliche Thesen. Jedenfalls war es über eine permanente »Konferenzschaltung« der führenden Rassen gelungen, die Wurmlochgeneratoren in vergleichsweise kurzer Zeit zu verläßlicher Reife zu entwickeln. Weder davor noch danach hatte es je wieder eine solch enge Zusammenarbeit der in ihrer Mentalität oft grundverschiedenen Völker dieser Galaxis gegeben. Die Nomaden waren bei alledem nicht beteiligt gewesen. In keinster Weise. Im Gegenteil: Gerade die schwerste Zeit, in der viele Schiffe hilflos durch den Raum trieben, zu Minimaltransitionen über wenige Lichttage verurteilt (mehr ließ der Hyperraum innerhalb Drakhons bis heute nicht zu), hatten sich die Nomaden skrupellos zunutze gemacht, um in ihrer Nähe driftende Raumer oder in Reichweite gelegene Planeten bis aufs letzte zu plündern... Priff Dozz wischte die Erinnerungen an eine Zeit, in der er noch nicht geboren war, beiseite. Fast andächtig sah er zu dem senkrecht stehenden Ring hinauf, der fast zwergenhaft im Vergleich zu den umstehenden Monumenten wirkte. Und doch war der Blick in gerader Flucht vom Eingangsbereich hierher frei gewesen, war er Dozz schnell ins
Auge gefallen. Ein Transmitter. Noch wagte Dozz nicht, sich selbst einzugestehen, welche Hoffnungen er mit dieser Entdeckung verband. Bislang war er auf der Suche nach einem raumtüchtigen Schiff gewesen, das in irgendeinem Hangar nur darauf wartete, nach Jahrhunderten wieder in Betrieb genommen zu werden. Nun bot sich plötzlich ein Fluchtweg von Owid an, den niemand – auch er nicht – je in Betracht gezogen hatte. »Was macht dich so sicher, daß es ein Transmitter ist?« fragte Rakk Nokk, der ranghöchste Offizier unter seinen Begleitern. »Es könnte alles sein. Ich kenne Transmitter nur aus den Geschichtsdateien. Auf Museumswelten sollen noch einige herumstehen. Aber die Ringform allein macht ein Objekt nicht zum Tor durch die Dimensionen. Wir sollten uns nicht damit aufhalten. Es ergibt keinen Sinn. Nicht einmal dann, wenn es wirklich ein Transmitter wäre.« »Warum nicht?« fragte Dozz, ohne den Blick von dem Gebilde zu nehmen, das in etwa die Höhe hatte wie die Wächterhologramme an der Oberfläche. Rakk Nokk verlieh seinem Unmut Ausdruck. »Das muß ich dir doch nicht erklären!« »Du meinst, weil er ohnehin nicht funktionieren würde?« Rakk Nokk schnaubte und beließ es dabei als Antwort auf die aus seiner Sicht rein rhetorische Frage. »Es ist ein Transmitter, ich bin mir sicher«, sagte Priff Dozz, das Gesicht immer noch dem Ring zugewandt, nicht seinen Begleitern. »Und da es ein Transmitter derjenigen sein muß, die auch alles andere hier geschaffen haben, schließe ich nicht aus, daß es ein ganz besonderer Transmitter ist.« »Besonders in welcher Beziehung?« Rakk Nokks Tonfall verriet, wie es um seinen Geduldsfaden bestellt war. »In der Beziehung, daß er möglicherweise den Transmittern, die wir damals aufgegeben haben, überlegen ist und...«
»Und?« »... auch heute noch seinen Dienst erfüllt.« Rakk Nokk stieß ein bedrohliches Knurren aus. Gleichzeitig rückte er so nah auf Priff Dozz zu, daß dieser den heißen Atem im Nacken spüren konnte. »Was findet Pakk Raff nur an dir? Wenn du das, was du gerade gesagt hast, tatsächlich glaubst, bist du nicht einmal halb so klug, wie er meint!« »Ich lasse mich gerne belehren...« Priff Dozz bereute den herablassenden Ton noch im selben Moment. Rakk Nokk war vom Aufenthalt in der Tiefe bereits derart gereizt, daß mit Kurzschlußhandlungen gerechnet werden mußte. Letztlich war es diese Befürchtung, den Bogen überspannt zu haben, die Priff Dozz veranlaßte, sich endlich doch umzudrehen und Rakk Nokk in die Augen zu blicken. Der Offizier erweckte den Eindruck, als wollte er sich auf Dozz stürzen – ungeachtet des Schutzes, unter dem er stand. »Beruhige dich«, keuchte Dozz. »Ich versuche nur, dir klarzumachen, daß uns dieser Fund vielleicht von Owid wegbringen könnte. Das müßte auch in deinem Sinn sein.« Dadurch, daß er Rakk Nokk zum Nachdenken zwang, erstickte er zugleich dessen größte Aggression. Vorläufig zumindest. »Und ich«, knurrte der Offizier, »versuche dir klarzumachen, daß diese Station schon so lange verlassen ist, daß der Zeitpunkt ihrer Aufgabe wahrscheinlich mit dem Ereignis zusammenfällt, das damals herkömmliche Technologie lahmlegte. Und wenn dem so ist, gibt es keinen vernünftigen Grund, warum dieser Transmitter im Gegensatz zu allen anderen noch funktionieren sollte.« »Ein naheliegender Gedanke«, stimmte Dozz zu. »Dann laß uns hier keine Zeit verschwenden, sondern nach praktikablen Auswegen suchen – deshalb sind wir doch unterwegs.«
»Gib mir nur ein wenig Zeit«, blieb Priff Dozz trotz der immer noch drohenden Haltung Rakk Nokks beharrlich. »Das dort«, er wies auf eine Tafel im Sockel des Rings, »ist die Steuereinheit. Sie ist nicht so fremdartig, daß ich ihre Grundfunktionen nicht durchschauen könnte.« Er schwieg kurz und fügte dann hinzu: »Ich habe wohl bewiesen, daß ich mit der Rahim-Technik zurechtkomme.« Rakk Nokk riß die Augen auf. »Rahim-Technik«, fauchte er. »Niemand weiß, wie Rahim-Technik aussieht! Ich habe es satt, über Phantome zu diskutieren.« »Ganz gleich, von wem die Anlage einst erbaut wurde«, lenkte Priff Dozz ein. »Du mußt zugeben, daß der Stand der Technik, die wir hier vorgefunden haben, auch aus heutiger Sicht noch mehr als beeindruckend ist. Allein das Dämmfeld um Owid, das zu unserem Absturz geführt hat, beweist dies mehr als genug, oder?« »Warum sollte das Dämmfeld nicht auch Transmitterverkehr unmöglich machen?« »Weil ich die Erbauer des Transmitters für weitsichtig genug halte, daß er auch noch funktioniert, wenn der Schild um Owid aktiviert ist. Schild und Transmitter stammen aus derselben Epoche – wenigstens darin müßten wir uns einig sein.« »Was nichts, aber auch gar nichts beweist.« »Richtig, aber in der Zeit, die wir hier nun schon debattieren, hätte ich wahrscheinlich schon eine definitive Antwort auf die Frage gefunden, ob oder ob nicht.« In Priff Dozz hatte sich während des Disputs genügend Emotion angestaut, daß er sich zu einer barschen Geste hinreißen ließ, die Rakk Nokk wegscheuchte wie ein mißliebiges Haustier. Zu seiner eigenen Verblüffung wich der Hüne tatsächlich zur Seite. »Ihr könnt die Zeit«, wandte sich Priff Dozz an die Gruppe, »die ich brauche, durchaus sinnvoll nutzen, indem ihr die
umliegenden Aggregate näher in Augenschein nehmt.« »Wonach sollen wir suchen?« »Wenn ich das wüßte...« Damit überließ Priff Dozz die kampferprobte Truppe Rakk Nokks Befehlen, der Dozz' Vorschlag aufgriff und ihm sowohl verbal als auch mit großer Gestik sogar noch Nachdruck verlieh. Priff Dozz verschwendete keinerlei Zeit mehr, sondern widmete sich der selbstgestellten Aufgabe. Ein Transmitter. Wohin mochte er führen? Auf welche der zahllosen Welten im Dschungel der Sterne...? * Priff Dozz trug alles an Gerätschaft bei sich, wovon er sich Hilfe bei der Erforschung von Owids Unterwelt versprochen hatte – alles, was der Zerstörung des Kubus entgangen war. Am hilfreichsten war ihm dabei der tragbare Hochleistungsrechner, mit dem er auch schon manchen Türkode ermittelt hatte. Es gelang Dozz, den Computer mit dem Terminal des Transmitters zu koppeln. Beide Komponenten schienen über universelle Schnittstellen zu verfügen. Abermals erwies sich, daß die technische Entwicklung grundverschiedener Völker ab einer gewissen Stufe sehr häufig in ähnlichen Bahnen verlief. Immerhin hatten die Rahim einst mit den übrigen Rassen Drakhons korrespondiert. Ihre hier hinterlassene Technologie mochte manches Geheimnis bergen, aber das Grundprinzip bot ausreichend Anknüpfungsmöglichkeiten für einen flexiblen Verstand, wie Priff Dozz ihn sein eigen nannte. Er war es gewohnt, zu improvisieren. Was ihm hier zugute kam.
Gebannt verfolgte er die rasenden Zahlenkolonnen, die über seinen Rechnerschirm huschten. Das Einklinken in die Steuereinheit des Transmitters war geglückt. Die eigentliche Analyse des zugrunde liegenden Programms beanspruchte jedoch Zeit. Priff Dozz blickte sich um. Rakk Nokk und die anderen waren zwischen den Gigantaggregaten unterwegs. Auch sie waren außer mit ihren Waffen mit Instrumenten ausgerüstet, die normalerweise Grundanalysen einer Umgebung erlaubten, hier unten, im Herzen der mutmaßlichen Rahim-Station, jedoch bislang weitestgehend versagten. Nicht einmal die Legierung, aus der das überall verwendete bläuliche Metall bestand, hatte bestimmt werden können. Das Material widersetzte sich jedem Versuch, seiner Molekularstruktur auf die Schliche zu kommen. Ein leiser Signalton informierte Priff Dozz, daß der Rechenvorgang abgeschlossen war. Sofort richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf das Terminal. Die Enttäuschung entlockte ihm einen langgezogenen Seufzer. Er hatte Zugang zur Steuereinheit des Transmitters herstellen können, doch schon das Überfliegen der Werte, die sich auf seinem Rechner abbildeten, genügte, um zu begreifen, daß der Transmitter blockiert war. Nicht von dieser, wohl aber von der anderen Seite aus. Der Empfangsstation. Wo immer diese auch liegen mochte... Priff Dozz unternahm keine weiteren Bemühungen, das Resultat vielleicht doch noch zu seinen Gunsten zu verändern. Das Problem war von dieser Seite aus nicht lösbar. Der Ring, der sich hoch über seinem Kopf erhob, war nichts anderes als totes Metall, das mit den Möglichkeiten der Nomaden auch in Jahren nicht zum Leben zu erwecken sein würde.
Rakk Nokk hatte Recht behalten. Aber nicht einmal Rakk Nokk würde wirklich froh darüber sein... Priff Dozz sammelte seine Utensilien zusammen und machte sich auf, die anderen über seinen Mißerfolg zu informieren. Noch bevor er jedoch dazu kam, erreichte ihn ein verblüffter Ausruf eines der Nomaden. »Kommt alle her! Hier... hier ist etwas! Eine Sperre... Ein Energieschirm! Kommt schon! Vielleicht bringt es uns weiter...« * Das Aggregat gehörte zu den größten, die es hier unten gab. Seine Spitze verlor sich irgendwo weit oben, war nicht wirklich zu erkennen, nicht einmal mit Hilfe der mitgeführten Spezialferngläser. Priff Dozz hatte keine Erklärung dafür. Noch nicht. Es gab mehrere Erklärungsversuche, aber sie blieben reine Spekulation, solange die entsprechenden Fakten fehlten. »Was ist mit dem Transmitter?« hatte Rakk Nokk gefragt, der etwa zeitgleich mit Priff Dozz an der Stelle eingetroffen war, die einer der untergeordneten Dienstgrade entdeckt hatte. Dozz hatte sein Scheitern ohne Ausflüchte zugegeben. Erstaunlicherweise hatte Rakk Nokk nicht weiter den Finger in die Wunde gelegt, so daß Dozz sich ganz dem neuen Fund widmen konnte. Ein energetisches Prallfeld schirmte das riesige Aggregat ab und verhinderte wirkungsvoll, daß es näher untersucht oder gar betreten werden konnte. Denn offenbar gab es eine Tür darin. Sie war groß genug, um Humanoide von der Statur eines durchschnittlichen Nomaden bequem passieren zu lassen.
Allerdings war die Pforte verschlossen. In der angrenzenden Wand befand sich eine Art Kodegeber, wie Priff Dozz ihn schon mehrfach überwunden hatte. Kein Hindernis also, das Bestand haben mußte, wie es schien. Nur das Prallfeld war neu. Bislang waren sie innerhalb der Anlage auf keine energetischen Zusatzsperren gestoßen. Die Massewerte wichen laut durchgeführter Messungen in nichts von den Aggregaten ohne Schutz ab. Die Dichte des Baumaterials war absolut identisch. Priff Dozz entschied spontan, der Logik zu folgen, daß zusätzliche Abschirmung naheliegenderweise auch etwas Höherwertiges schützte. Vielleicht etwas, das gerade für sie, die Sucher, von Nutzen sein konnte. »Wir müssen den Schirm neutralisieren«, wandte sich Dozz an seine Begleiter. »Während ich mich darum kümmere, erkundet ihr die Umgebung. Ich will wissen, ob dies das einzige derart geschützte Element ist oder ob es noch mehr davon gibt!« Zuletzt hatte seine Stimme fest geklungen wie selten. Niemand lehnte sich gegen den Befehlston auf. »Glaubst du, du schaffst es?« fragte Rakk Nokk lediglich, bevor er sich seinen Männern anschloß. »Wenn man mir Zeit läßt, ja.« Rakk Nokk fluchte. Priff Dozz lachte stumm in sich hinein. Dann machte er sich an die Arbeit, aus dem Sammelsurium der mitgebrachten Geräte etwas zusammenzubasteln, was im schlechtesten Fall wenigstens einmal funktionieren – und die Sperre aus stahlharter Energie in sich zusammenstürzen lassen sollte. * Stunden später war die Expedition, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, der Rahim-Station ihre Geheimnisse zu
entreißen, um einiges klüger. Die ausgeschwärmten Mitglieder des Trupps waren mit den Meldungen zurückgekehrt, daß es sich bei der entdeckten Prallfeldbarriere um keinen Einzelfall handelte. Es gab keinen Grund, sich über diese Erkenntnis zu freuen, besagte sie doch, daß sich die Wahrscheinlichkeit, hinter der Sperre etwas Bedeutsames zu finden, dramatisch reduziert hatte. Priff Dozz hätte es lieber gesehen, wenn nur eines der Aggregate diesen Sonderschutz genossen hätte. Aber es war nicht zu ändern. »Wie weit bist du?« fragte Rakk Nokk. »Ich kann jederzeit mit dem Versuch beginnen«, sagte Dozz. »Wie funktioniert das, was du da improvisiert hast?« Priff Dozz bewertete das tiefere Interesse des Hünen als positiv. »Unsere Mittel«, sagte er, »reichen nicht aus, das Feld zum Zusammensturz zu bringen. Ich habe meine Messungen abgeschlossen und das Gerät hier entsprechend modifiziert.« Er hielt Rakk Nokk ein bizarres Ding entgegen, dem unschwer anzusehen war, daß es sich aus mehreren Gegenständen zusammensetzte, die jeder für sich genommen einem völlig anderen Zweck gedient hatten. »Was heißt das genau?« »Das heißt, daß ich froh bin, wenn ich einen Strukturriß innerhalb der Abschirmung erzeugen kann.« »Du meinst einen Spalt?« »Groß genug, um einen von uns hindurchgehen zu lassen«, bestätigte Dozz. »Wer soll die Testperson sein?« Dozz' Tonfall war beinahe beleidigt, als er antwortete: »Wer schon? Ich natürlich!« *
Als Priff Dozz die letzten Vorbereitungen abgeschlossen hatte, war der übrige Trupp bereits respektvoll auf Distanz gegangen. Dozz winkte ihnen zu, um zu signalisieren, daß er jetzt anfangen würde. Er wußte nicht wirklich, was er riskierte. Keiner der Beteiligten wußte es definitiv. Die Rahim waren keine Narren gewesen. Wenn sie dieses und andere ihrer Aggregate noch einmal speziell gesichert hatten, dann nicht ohne Grund. Und der Grund konnte vielfältiger Natur sein: Schätze konnten sich im Innern des bläulich schimmernden Turms verbergen oder auch nur – der Tod. Im Grunde war es überhaupt nicht zu verantworten, ohne weiteres Wissen einen Strukturriß zu erzeugen und so nicht nur von dieser Seite aus einen Zugang ins Innere zu öffnen, sondern gleichzeitig auch umgekehrt dem das Entweichen zu ermöglichen, was dahinter lauern mochte. Auch wenn die Analysegeräte nichts feststellten. Etwas konnte da sein. Unsichtbar, so wie schädliche radioaktive Strahlung unsichtbar war, aber eine verheerende Wirkung auf lebendes Gewebe hatte. Denkbar war es durchaus, daß sich hinter den Wandungen aller geschützter Aggregate nichts anderes als Kraftwerke verbargen, die eine spezielle Abschirmung erforderten. Weil bei ihrem Energieerzeugungsprozeß Stoffe freikamen, die an ihrer Ausbreitung gehindert werden mußten... Wenn ich sterbe, dachte Dozz, sterbe ich wie ein Narr. Wir alle hier werden wie Narren sterben. Aber was ist die Alternative? Er berührte den Schalter, der das eilends von ihm hergestellte Provisorium aktivierte. Die beiden fühlerartigen Antennen berührten das Prallfeld, und augenblicklich stoben Blitze durch den Raum, begleitet
von einem infernalischen Geräusch. Priff Dozz wollte den Neutralisator instinktiv wieder zurückziehen, da sah er den Spalt, der sich wie eine wabernde Kerzenflamme entlang zuvor unsichtbarer »Ränder« abzeichnete. Er hatte vom ersten Moment an die erforderliche Mindestgröße. Priff Dozz handelte wider jede Vernunft, indem er sich statt zurückzuweichen nach vorne warf. Mitten hinein in den atmenden Schlund, der wie eine schwärende Wunde glomm. Er hörte noch einen Zuruf Rakk Nokks, ohne ihn jedoch zu verstehen. Dann war er auch schon auf der anderen Seite. Und der Spalt erlosch. * Stille umfing ihn. Absolute Stille, die nur von einem dumpfen Klangstakkato durchbrochen wurde, das aus Priff Dozz selbst kam: seinem Herzschlag. Er hatte sich umgedreht, als der Strukturriß erloschen war. Deshalb sah er jetzt in die bestürzten Gesichter der Nomaden, die sofort herbeigeeilt waren. Sie bewegten ihre Münder, aber nicht das leiseste Wort überwand die Barriere, die nur fühl-, nicht sichtbar war. Rakk Nokk drängte sich nach vorn. Seine Handflächen berührten das Hindernis aus felsenfester Energie. Auch seine Kiefer bewegten sich, ohne daß Priff Dozz verstand, was er ihm mitteilen wollte. Er wandte sich ab. Dem Monument zu. Der Tür darin.
Sie lag nur drei Schritte von der Grenze des Prallfeldes entfernt. Priff Dozz zerrte den stiftgroßen Allzweckanalysator vom Gürtel und richtete ihn darauf. Aber auch jenseits der »Mauer« änderten sich die Meßwerte nicht. Das spezifische Gewicht des Metalls entsprach dem, das auch bei den ungeschützten Monumenten ermittelt worden war. Langsam ging Dozz auf die deckenwärts strebende Fassade zu. Ein eigentümliches Gefühl bemächtigte sich seiner. Er wußte nicht, woher es rührte. Vielleicht ein Instinkt, der ansprach. Vielleicht auch die Folge der psychischen Belastung, unter der er stand, seit sie das Gewölbe betreten hatten. Er steckte den Analysator zurück und hob den Arm, um die Schaltfläche neben der Türkontur zu berühren. Die Tafel fühlte sich an... ... wie nichts. Weil sie nicht existierte!? Seine Finger tauchten in die Fläche ein und verschwanden wie abgeschnitten. Er zuckte zurück. Er war unverletzt. Das darf nicht wahr sein, dachte er. Und machte einen raumgreifenden Schritt nach vorn, der eigentlich unmöglich war, weil er an der Wandung des Aggregats enden mußte. Im nächsten Moment stand er im Innern des Trugbildes. Eine Täuschung, ja! Ein Hologramm wie die Wächterwesen an der Oberfläche! Ein... Ich fasse es nicht. Priff Dozz starrte auf den nackten Hallenboden, auf dem sich nicht das geringste befand. Er endete an den umliegenden Wänden, die nicht echt waren, sich aber scheinbar real auch aus dem Innern heraus betrachtet bis in nicht einsehbare Höhen erhoben. Das Gigant-Aggregat – eine holographische Attrappe?
Waren dann am Ende alle Bauten in diesem Gewölbe... nur Gaukeleien für die Sinne? Priff Dozz ging noch einen Schritt weiter: Ist das Gewölbe selbst, seine unfaßbare Größe, nur einem immensen holotechnischen Aufwand zu verdanken? Vieles deutete daraufhin. Die Decke, die wie ein Himmel wirkte, wie ein endloser Abgrund... Aber warum? Wozu? Priff Dozz machte kehrt und durchschritt die trügerische Wand erneut. Rakk Nokk und die anderen starrten ihn an wie eine Erscheinung. Er scheuchte sie mit Gesten von der Grenze aus Prallfeldenergie fort, damit die Überschlagenergie sie nicht gefährden konnte. Abermals setzte er den Neutralisator mit Erfolg ein und kehrte zu den Wartenden zurück. * Im Verlauf der nächsten Stunden betrat Priff Dozz ein Hologramm nach dem anderen. Der Neutralisator funktionierte jedesmal reibungslos, und dennoch beschlich Dozz mit ebensolcher Regelmäßigkeit die Furcht, der Schlüssel könnte irgendwann versagen, nachdem er hinter einen der Prallschirme gelangt war. Lebendig zwischen Hologrammen begraben zu sein, erschien ihm nicht eben erstrebenswert, zumal er zweifelte, daß die Prallfelder mit Brachialgewalt – etwa durch Punktbeschuß aus Blastern – zu bezwingen waren. Der völlige Zusammenbruch eines der Schirme konnte einen unbekannten Sicherheitsmechanismus auslösen, der im Tod aller unbefugten Eindringlinge enden würde... Es gelang ihm jedoch, seine Ängste im Zaum zu halten, während er Hologramm für Hologramm abklapperte.
Es gab etliche reale Aggregate, die ungeschützt dastanden, gleichzeitig aber auch keinerlei Zugangsmöglichkeit zu besitzen schienen. Wie aus einem Guß wirkten ihre Gehäuseverkleidungen. Kein noch so verhaltenes Geräusch drang aus ihrem Innern. Sie standen da wie tot; als hätten sie ihre Arbeit vor langer Zeit eingestellt. Doch auch diesem Eindruck mißtraute Priff Dozz. Dieser Ort mußte einmal von enormer Bedeutung gewesen sein. Warum sonst hätten die Rahim solchen Aufwand betreiben sollen, ihn zu »dekorieren«? »Wie lange willst du hier noch unsere Zeit verschwenden?« Rakk Nokks Geduldsfaden war mit fortschreitender Erfolglosigkeit noch dünner geworden. Sein zwischenzeitlich moderateres Verhältnis zu Priff Dozz war wieder der leidigen Unart gewichen, daß er Pakk Raffs Günstling seine Geringschätzigkeit mit jeder Bemerkung und jedem Gesichtsausdruck spüren ließ. Irgendwann hatte schließlich Priff Dozz genug davon. »Verschwinde!« fauchte er Rakk Nokk an. »Macht, daß ihr mir aus den Augen kommt! Alle! Ich habe genug von eurem ständigen Lamentieren! Von mir aus könnt ihr in diesen Katakomben verrotten! Schert euch zurück zu Pakk Raff! Sagt ihm, was ihr wollt, aber laßt mich endlich in Ruhe arbeiten!« »Er würde uns umbringen, wenn wir ohne dich zurückkämen.« »Dann mußt du ihm eben zuvor kommen.« Es sollte ein Scherz sein, aber Priff Dozz las in keinem der Gesichter, die ihn umstanden, auch nur einen Funken Humor. »Wir bleiben«, entschied Rakk Nokk, ohne dabei glücklich zu wirken. »Schön, eure Entscheidung. Und jetzt laßt mich weiterarbeiten.« Priff Dozz wandte sich dem nächsten Hologramm zu,
öffnete den Spalt in der Abschirmung, trat hindurch, betrat die vermeintliche Maschine... und stieß einen Triumphschrei aus, den draußen niemand zu hören vermochte. So wenig wie ein anderer sah, was er sah… * Diesmal war der Hallenboden innerhalb des AggregatHologramms nicht völlig eben, völlig glatt. Auch wenn sich kein Objekt darauf befand, so war doch etwas da. Etwas, das Priff Dozz' Herz vor Aufregung einen Takt überspringen ließ. Eine Falltür! Eine gepanzerte, erhaben aus dem Boden hervorstehende Luke, einer Tresortür vergleichbar! Priff Dozz eilte ohne Zögern darauf zu, dachte nicht im Traum daran, erst die anderen zu verständigen. Er war froh, endlich einmal etwas tun, etwas bewegen zu können, ohne ihren Atem im Nacken zu spüren. Rasch kniete er neben dem Konstrukt nieder. Den mobilen Rechner trug er ebenso wie einen Satz unterschiedlichster Werkzeuge bei sich. Genau im Zentrum der Bodenluke befand sich eine handtellergroße Fläche, die noch einmal leicht hervorstand. Als Priff Dozz sie vorsichtig berührte, huschte etwas unter seinen Fingerkuppen hinweg und plötzlich lag ein Schaltfeld vor ihm, das mit einer Vielzahl von Anzeigen und Steuerserisoren bestückt war, ähnlich denen, die Dozz an der Transmitterkonsole vorgefunden hatte. Nach kurzer Orientierung fand er die Schnittstelle, mit der er seinen Rechner koppeln konnte. Ohne zögern löste er den Startimpuls zur Suche des Öffnungskodes aus. Sowohl auf seiner Rechneroberfläche als auch innerhalb der Lukenkontrolle blinkten Lichter auf, die unüblich waren.
Zumindest die Anzeigen seines Computers signalisierten... Gefahr! Geistesgegenwärtig versuchte Priff Dozz, den Eingriff abzubrechen. Doch die Elektronik reagierte nicht. Weiter huschten die Zahlenkolonnen über den Monitor, blinkten die Anzeigen innerhalb des geöffneten Luken-Panels immer hektischer. Eine Weile war Priff Dozz nur imstande, dem chaotischen Treiben zuzusehen. In dieser Zeit verdoppelte sich seine Pulsfrequenz, denn ihm dämmerte, daß er etwas in Gang gesetzt hatte, das er stoppen mußte, sonst... Sonst? Er rief die Diagnosesektion des Rechners auf, verlangte eine sofortige Situationsanalyse. Und bekam sie schneller als ihm lieb war. Es wurde eine Selbstvernichtungssequenz unbekannter Beschaffenheit ausgelöst. Die Sequenz hatte eine Gesamtlaufzeit von acht Nakkorr – davon ist die Hälfte inzwischen verstrichen, flammte es ihm in nüchterner Schrift entgegen. Er spürte, wie er innerlich verkrampfte. Hinter dem Begriff »Selbstvernichtungssequenz« konnte sich alles mögliche verbergen. Die Bandbreite reichte von der selektierten Unbrauchbarmachung des Öffnungsmechanismus bis hin zur Vernichtung des gesamten unterirdischen Gewölbes! Priff Dozz' Nervenenden schienen plötzlich unter Strom zu stehen – oder in zersetzende Säure getaucht zu sein. Überall am Körper juckte und brannte es, der Nomade stand kurz vor dem totalen Kollaps. Und die Zeit zerrann ihm zwischen den Fingern. Fliehen? Sollte er fliehen? Mit dem Neutralisator nach draußen durchbrechen und darauf hoffen, daß das Prallfeld die Wucht der zu erwartenden Explosion abfangen würde...?
Priff Dozz fühlte sich hin- und hergerissen. Die Falltür. Sie verbarg etwas wirklich Wertvolles. Ihm kam es vor, als wäre das ganze Labyrinth der Hochbauten nur dazu da gewesen, diese eine Stelle, diesen einen Zugang zu verschleiern. So absurd dies aus Sicht eines Nomaden auch klingen mochte, wer wußte schon, wie Rahim dachten? Er schluckte. Riß sich zusammen. Zwang sich zum Handeln. Überließ das Handeln nicht länger der stumpfen Routine des Rechners, sondern schaltete sich selbst in den Vorgang ein. Er aktivierte das Sprachmodul, um schneller agieren zu können. »Wird Autorisierung angemahnt?« »Negativ«, antwortete die blecherne Stimme des Prozessors. Priff Dozz fluchte. »Wie lange noch bis zur Selbstzerstörung?« »Zwei Nakkorr.« Priff Dozz spürte einen stechenden Schmerz in der Brust, als wäre etwas darin geplatzt. Er versuchte, zu ignorieren, wie sich Hitze in ihm ausbreitete. »Du hast die Daten sämtlicher gelungener Öffnungsvorgänge gespeichert. Einen Abgleich davon herstellen. Sich wiederholende Parameter entwickeln. Diese sofort abstrahlen! – wie lange noch?« »Ein Nakkorr.« Die Lichter innerhalb der offenen Zentralstelle der gepanzerten Luke flackerten immer schneller, immer arhythmischer. Dann... Priff Dozz schloß die Augen. Er hatte innerlich mitgezählt. Der letzte Nakkorr war verstrichen. Aber selbst durch die
geschlossenen Häute der Lider hindurch drang das Flackern weiter zu ihm durch. Bis es – aufhörte. Dozz' Hände verkrampften sich zu Fäusten. Er glaubte, Blutgeschmack im Mund zu spüren. Seltsamerweise dachte er im letzten Moment seines Lebens an Bidd Nobb. Daran, wie sie ihn bei ihrer letzten Begegnung angesehen hatte. Keinerlei Abscheu hatte in ihrem Blick gelegen. Nur... Traurigkeit. Eine tiefe Traurigkeit, die in ihm reflektiert hatte... Er bedauerte, ihr nie mehr sagen zu können, daß er sie nie wirklich gehaßt hatte. Vielleicht war es umgekehrt genauso gewesen. Ein großes Mißverständnis zwischen zwei Wesen, die beide viel zu oft in ihrem Leben verletzt worden waren... Dozz glaubte ein metallisches Klicken zu hören. Dann sagte der Rechner, der vor ihm am Boden lag, etwas, was er zunächst gar nicht realisierte: »Selbstvernichtungssequenz deaktiviert. Luke öffnet.«
13. Der Generalmajor sah ihm mit unbewegter Miene entgegen, als er hereinkam. Oberstleutnant Kenneth MacCormack blieb vor seinem Vorgesetzten stehen, vorschriftsmäßig salutierend. Generalmajor Farnham grinste. »Rühren, Ken. Nimm Platz.« Während Kenneth MacCormack seine vierschrötige, 1,84 m große Gestalt in einem der beiden Besuchersessel plazierte, die man vor dem Schreibtisch aufgestellt hatte, musterte er mit einem umfassenden, schnellen Blick den zweckmäßig und nüchtern ausgestatteten Raum. Sein letzter Besuch im Allerheiligsten der Schwarzen Garde lag zwar schon etwas zurück, aber an diesem Büro schien jede Zeit spurlos vorüberzugehen – ebenso wie am Generalmajor. Christopher Farnham hatte die Fünfzig noch nicht erreicht; sein drahtiger, brauner Bürstenhaarschnitt wies noch keine signifikante Veränderung in Richtung Grau auf. MacCormack fragte sich zum x-ten Mal, woher sein Vorgesetzter die lange Narbe hatte, die sich von der linken Stirn über das Auge bis ans linke Kinn herabzog. Farnham hatte in seiner Gegenwart noch nie über diesen Vorfall gesprochen, der ihm zu dieser Narbe verholfen hatte. Der rothaarige Ire wußte überhaupt recht wenig über ihn – trotz vieler gemeinsamer Einsätze. Er kannte den Generalmajor bislang nur als eiskalten Analytiker, der seine menschliche Seite tief in seinem Innern zu verbergen suchte. Farnham, der von den Gedanken seines Gegenübers keine Ahnung hatte, lehnte sich in seinem Armsessel zurück. Er blickte an die Decke, runzelte die Stirn und sah dann sein Gegenüber an. Der Ire war Soldat mit Leib und Seele. Er war verheiratet wie sein Vorgesetzter und hatte einen Sohn. Er war
der ideale Offizier. Einer von der Sorte, denen das Wohl jedes einzelnen seiner Männer am Herzen lag, wenngleich man ihm das von außen nicht ansah. Doch Farnham kannte ihn. Und er wußte noch etwas über ihn, was sonst kaum jemandem bekannt war. MacCormack war studierter Historiker und hatte auf diesem Gebiet sogar promoviert. Laut sagte er: »Wir haben Schattenaktivitäten registriert.« Kenneth MacCormack äußerte sich nicht dazu. »Bist du nicht überrascht?« »Nicht wirklich, Chris.« MacCormacks Stimme klang emotionslos. »Weshalb nicht?« Farnham rieb sich das Kinn. »Es war zu erwarten. Früher oder später.« »Was bringt dich zu dieser Meinung?« »Es ist unausweichlich.« »So...?« »Ja. So unausweichlich wie Krieg. Seit wir uns der Giants entledigt haben, war klar, daß es eines Tages erneut zu Konfrontationen kommen würde. Entweder wieder mit den All-Hütern oder einem anderen, noch schrecklicheren Feind.« Farnham nickte. Dennoch sagte er mit Betonung: »Diese Vergangenheit interessiert hier nicht, Ken. Die gegenwärtigen Probleme – und die zukünftigen – sind schwierig genug. Außerdem«, er hielt einen Moment inne und fixierte einen Punkt hinter MacCormack, mit einer Intensität, als müßte er jemanden mit seinen Blicken töten, »handelt es sich nicht um Krieg – noch nicht. Nein«, bekräftigte er noch einmal, »es ist nur so, daß eine unserer vielen Robotsonden auf einer Welt in der Peripherie des Milchstraßenzentrums Schattenaktivitäten angemessen hat.« Er machte erneut eine rhetorische Pause. Ohne eine Miene zu verziehen, blickte MacCormack auf den Holokubus hinter dem Rücken des Generalmajors, in dem eine räumliche Darstellung des Sonnensystems schwebte. Die Projektion war von den leuchtenden Linien eines Gradnetzes
durchzogen, dazwischen Lichtpunkte in sattem Grün: die Positionen der hochgerüsteten Ast-Stationen. Der nogksche Abwehrschirm um Terra zeigte sich in der Darstellung als leicht bläulich schimmernde Kugelschale. Christopher Farnhams Aufmerksamkeit kehrte wieder zu seinem Oberstleutnant zurück, und er fuhr fort: »Wir müssen wissen, was dort in dieser Region vorgeht. Wir können es uns nicht mehr leisten, erneut von einem urplötzlich auftauchenden Gegner überrascht zu werden. Unsere Idealvorstellungen von einer freien Menschheit, einem friedlichen Miteinander und einer prosperierenden Zukunft stehen durch die Aktivitäten der Grakos erneut auf dem Spiel, Ken. Wir bereiten uns darauf vor, weiter als je zuvor ins All vorzustoßen, sind auf dem Sprung zur nächsten Galaxis. Ein verdammt großes Ziel, das wir uns da gesetzt haben. Wir können es aber nur erreichen, wenn wir alle unsere Anstrengungen darauf verwenden, ohne uns in Kriege verzetteln zu müssen. Und deshalb haben wir von Marschall Bulton die Aufgabe erhalten, uns darum zu kümmern.« »Aha?« Farnham lächelte fadendünn. »Genauer gesagt, du kümmerst sich darum.« »Das wurde aber auch Zeit!« erwiderte der Oberstleutnant mit markiger Stimme. Farnham sah MacCormack starr ins Gesicht. »Das wird die erste wirkliche Bewährungsprobe für die Schwarze Garde. Jeder der Männer ist nicht nur ein extrem guter Kämpfer, sondern auch Wissenschaftler und Spitzenkönner auf mindestens einem Fachgebiet. Ihr werdet da hinuntergehen, euch umsehen, den Grakos kräftig in die Insektenärsche treten und wohlbehalten zu Erde zurückkehren – mit jeder Menge wertvoller Informationen!« MacCormack nickte. Das war selbstverständlich. Er hatte es nicht anderes erwartet.
Der Generalmajor fuhr fort: »Gut. Also hör zu. Die betreffende Sonne hat keinen Namen, sondern trägt lediglich die Katalogbezeichnung NGK 1959/07. Das Erste Bataillon der Schwarzen Garde wird sich unter deiner Führung an Bord der HAMBURG begeben und zu seinem ersten Einsatz ins All starten. Trommle deine Gardisten zusammen, auch die, die auf Landurlaub sind. Ich will in vierundzwanzig Stunden keinen von euch mehr auf der Erde sehen. Verstanden?« * Die Kneipe zum »Trinkfesten Raumsoldaten« war keine erstklassige Bar, da sie den Stempel ihrer Stammgäste trug – überwiegend Militär aus der nahe Cent Field gelegenen Garnison der Terra Defence Forces. Aber dafür waren die Getränkepreise moderat, die Einrichtung solide, das Essen brauchbar. Außerdem gab es jede Menge hübscher Kellnerinnen, was hauptsächlich den Ausschlag gab. Leutnant Tore Lanart und Feldwebel Jannis Kaunas saßen in ihren schwarzen Gardeuniformen wie immer an ihrem Tisch in der Ecke. Er bot unvergleichliche Vorteile. Beide hatten die Wand im Rücken und das Lokal im Blickfeld. »Diese Runde geht an mich, Jannis!« rief Tore und kramte in seiner Tasche nach Kleingeld. »Ihr Sold reicht ja nur immer für wenige Tage, habe ich gehört.« Der kahlköpfige Kaunas grinste flüchtig. »Wer sein Herz an den schnöden Mammon hängt, verpaßt das Beste im Leben«, sagte er prophetisch. Der Leutnant lachte. »Das Beste? So, so. Und wie lautet der Vorname der jungen Dame, Jannis?« »He, Jannis! Hallo, Leutnant!« Die Kellnerin brachte die nächste Runde.
Das Muskelpaket auf Beinen, Feldwebel Kaunas, blickte auf. »Wo ist denn Nikki?« »Sie hat woanders zu tun. Warum? Gefalle ich dir etwa nicht?« »Sag nicht solchen Unsinn«, schmeichelte ihr Tore und sah sie mit einem um Verzeihung bittenden Lächeln an. »Er liebt dich genauso wie Nikki...«, und wie all die vielen anderen, setzte er in Gedanken hinzu und fragte sich zum hundertsten Mal, was die Frauen an dem Feldwebel fanden. Der achtunddreißigjährige, nur 1,75 m große und zirka 75 kg schwere, kahlköpfige Kaunas hatte einen unwahrscheinlichen Schlag bei der Damenwelt. »Du bist ein Schatz, Leutnant.« Sie strahlte ihn an, als ihr der junge Offizier einen längs zusammengefalteten Geldschein vorn in den ausladenden Ausschnitt ihrer Bluse steckte. Sie gab ihm einen Klaps auf den Oberarm und verschwand wieder in Richtung Tresen. Tore trank einen kräftigen Schluck und sah dann Jannis über den Rand des Glases hinweg an. »Ist Nikki Ihre augenblickliche Favoritin?« Die Frage nach der augenblicklichen Favoritin war nicht unberechtigt; der im Oktober 2020 geborene Balte hatte in allen Militärbasen und Raumhäfen eine Freundin und mitunter die größte Mühe, ihre Namen nicht zu verwechseln. In der Garde munkelte man, daß es inzwischen schon eine ganze Reihe von kleinen Kaunassen geben würde, obwohl Jannis selbst davon angeblich keine Kenntnis hatte – wie er immer wieder betonte. In der Bar war es lauter als gewöhnlich. Deshalb hatte Lanart seine Stimme erhoben. Ein am Nebentisch sitzender fetter Major einer Nachschubeinheit der Terra Defence Forces, der wohl noch nie im Raum gewesen war, sah herüber. Er blickte auf die Rangabzeichen an Lanarts Ärmeln, dann auf die von Kaunas und runzelte die Stirn. Er wollte etwas sagen, den
beiden wahrscheinlich klarmachen, daß es ihnen nicht zustand, in seiner Gegenwart hier laut zu werden, aber Jannis Kaunas drehte sich leicht, so daß der Major den Ausdruck auf seinem Gesicht sehen konnte. Und er erblaßte. Tore Lanart konnte fast sehen, wie die Gedanken hinter der Stirn des Majors rasten. Mit den beiden Gardisten, einem Offizier und einem Feldwebel, war bestimmt nicht gut Kirschen essen. Vielleicht war es besser, sie in Ruhe zu lassen, sich nicht mit ihnen anzulegen. Der Major wandte sich ab und seinem Bier zu. Lanart grinste verhalten und wiederholte seine Frage. »Nein«, erwiderte Jannis und trank einen mächtigen Schluck. Er wischte sich den Schaum vom Mund. »Das heißt... na, ja – eigentlich schon. Mein Gott, ich weiß selbst nicht, wie ich mich verhalten soll. Tatsache ist, daß sie mich das letzte Mal rausgeschmissen hat.« Der Leutnant stellte eine ernste Miene zur Schau. »Das renkt sich wieder ein. Gehen Sie doch einfach zu ihr, und reden Sie mit ihr.« Kaunas schüttelte betrübt den kahlen Kopf. »Sie kennen Nikki nicht«, verkündete er düster. »Vermutlich hat sie inzwischen die Kodierung sämtlicher Schlösser in ihrer Wohnung geändert.« »Soll ich mal mit ihr reden?« »Das würden Sie für mich tun, Sir?« »Für meinen besten Feldwebel im Zug tue ich fast alles.« »Vielen Dank, Boß.« Jannis wirkte erleichtert. »Die Nummer ist Sieben-sechs-eins...« Lanarts Armbandvipho klingelte. »Sekunde, Feldwebel!« Aufgrund des Lärms in der Bar hob Lanart die Hand ans Ohr, so bekam Jannis nicht mit, was der Anrufer am anderen Ende sagte. Er sah nur, wie sich Lanarts Miene verhärtete, während er lauschte. Schließlich sagte er knapp: »Zu Befehl!
Ich kümmere mich umgehend darum, die Männer zusammenzutrommeln. Wir sehen uns in der Garnison, Sir! Ende!« Und zu Jannis Kaunas gewandt: »Trinken Sie aus, Jannis, es wird vermutlich für längere Zeit das letzte Bier sein.« »Was ist vorgefallen, Sir?« »Für das Erste Bataillon der Schwarzen Garde ist Alarmbereitschaft angeordnet worden. Ihre Nikki wird warten müssen...« * Wie alles an der SG waren auch die Trainingszentren untypisch. Dieses hier befand sich in einem alten, aber sehr massiven Lagerhaus in der Nähe des Flottenhauptquartiers. Es war nur eines von vielen Fitneßzentren, in denen die Männer der Schwarzen Garde von Fall zu Fall trainierten. Der AGravlastenaufzug – den man nur betreten konnte, wenn man über das benötigte Paßwort verfügte und an den Wachen im Erdgeschoß vorbeikam – brachte Kurt Buck vier Stockwerke hoch in einen Raum, der offenbar einmal als Warenlager gedient hatte. Auch jetzt noch lagen und standen Kisten und Plastikcontainer herum, stapelte sich Verpackungsmaterial. Buck grinste schwach. Offensichtlich hatte kürzlich ein Um- oder Zuzug stattgefunden. Die dem Fahrstuhl gegenüberliegende Wand hatte eine rot gestrichene, breite Tür, die mit schweren Zuhaltungen gesichert war; aber der Einlaßsensor bestand aus einer etwas altmodisch anmutenden Tastatur. Wieder grinste der Soldat in der schwarzen Uniform der SG. Seine Finger gaben den Code ein. Das Schloß summte leise, und die Doppeltür drehte sich um eine vertikale Achse. Dahinter lag ein hellerleuchteter Korridor, hinter dessen
Wänden die ausgeklügeltsten Detektoren und Abwehrwaffen standen. Kein ungebetener Gast, sollte er wider Erwarten doch die Warnautomatik des A-Gravlifts überlistet haben, konnte diese Sperren überwinden. Buck schloß die letzte Tür hinter sich und sah sich um. Der Raum war etwa zwanzig Meter breit und doppelt so lang. Der Boden war mit geräuschdämmenden Matten ausgelegt. Die Wände trugen Gestelle, an denen die verschiedensten Waffen für den Nahkampf befestigt waren. Im hinteren Drittel des langgestreckten Raumes befand sich ein virtueller Schießstand. Der Raum war von Lärm erfüllt. Kurze Kommandos der Ausbilder mischten sich mit dem Keuchen der Übenden. Auf drei Matten simulierten die Trainer mit ihren Schützlingen waffenlose Verteidigungs- und Angriffstechniken. Die hellen Schreie der Kämpfenden brachen sich an den Wänden, deren Bogenfenster hoch unter der Decke saßen. Schütze Kurt Buck fragte bei einem schon etwas älteren Mann, dessen verschwitztes Sweatshirt ihn als Feldwebel der Terra Defence Forces auswies und der sich auf einem Sitzkissen im Lotussitz von den Strapazen eines vorangegangenen Kampfes ausruhte, nach Antoku Seiwa. Der Feldwebel warf einen Blick auf Bucks tiefschwarze Uniform und runzelte unmerklich die Stirn. Offensichtlich hegte er einige unfreundliche Gedanken über die Schwarze Garde, die sich seiner Ansicht nach etwas zu sehr in den Vordergrund drängte. Buck konnte es ihm nachfühlen, denn eigentlich war es eine Einrichtung der TF, in der er sich hier befand, und er hatte sich zu Vergegenwärtigen, daß sie Gäste waren und von Generalmajor Farnham strikte Order hatten, sich auch so zu benehmen. Anto absolvierte seine vorgeschriebene Trainingseinheit in Selbstverteidigung in der Knochenmühle, dem Fitneßcenter der Terra Defence Forces, das auch von anderen militärischen
Einheiten und den ihnen assoziierten Diensten genutzt werden konnte. »Knochenmühle«... Buck erinnerte sich, daß dieser Begriff für speziell dieses Trainingszentrum des Flottenhauptquartiers unter den Absolventen kursierte. Keine übermäßig originelle, dafür aber um so treffendere Bezeichnung. Der Feldwebel zeigte in eine bestimmte Richtung. Buck konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, als er den Freund und Kameraden erkannte. Der Sohn Nippons hatte sich zum Training ausgerechnet Myra Goodwill ausgesucht, die härteste Ausbilderin in diesem Sportcenter. Sie war eine große Rothaarige, die sich mit tödlicher Präzision und unwahrscheinlicher Kraft und Schnelligkeit zu bewegen wußte. Myra trug nur einen schwarzen Bodysuit, der ihre langen, muskulösen Beine nachzeichnete. Die Muskeln ihrer bloßen Arme waren extrem ausgebildet, und der flache Bauch kennzeichnete sie als ausdauernde Sportlerin. Sie war gut, aber Antoku Seiwa, der schmächtig aussehende Japaner, war trotzdem eine Spur besser. Er besaß das fundierte Wissen über sämtliche Selbstverteidigungsarten seines Mutterlandes und eine unglaubliche Körperbeherrschung. Was ihm an Körpergröße und Gewicht fehlte, machten diese Eigenschaften mehr als wett. Hinzu kam, daß er zwar weniger Muskelmasse besaß als seine Gegnerin, aber männliche Muskeln wiesen nun einmal eine wesentlich höhere Dichte und Kraftentfaltung auf als weibliche. Daran konnten auch die vereinigten Emanzen aller Länder nichts ändern. Interessiert sah Kurt Buck den beiden über die Matte wirbelnden Körpern zu. Myra schien leicht im Vorteil zu sein. Dachte sie wenigstens. Mit einem triumphierenden »Kiai!« schnellte sie über eine Distanz von drei Metern auf den Gardisten zu, packte dessen rechtes Handgelenk und rechnete mit einem unwillkürlichen Zurückschrecken, das ihrem
eigenen Schwung noch mehr Wirkung verliehen hätte. Anto zuckte allerdings nicht zurück. Er trat einen Schritt nach rechts und machte eine schlangengleiche Bewegung. Myra schlug krachend auf die Matte, mit dem Gesicht nach unten. Anto hockte rittlings auf ihrem Rücken und hatte seine Hände wie eine Zange um ihre Stirn und den Nacken gelegt. Buck grinste anerkennend. Ein leichter Druck hätte nunmehr genügt, das Genick Goodwills wie einen hölzernen Stock zu brechen. Ihr Gesicht spiegelte sekundenlange Verstörung, dann klopfte sie zum Zeichen der Aufgabe mit der flachen Hand auf den Boden. »Das ist auch nicht die wahre Art, mit einer Frau umzugehen!« stichelte Kurt Buck. Anto blickte hoch. »He, Kurt!« Er sprang von Myras muskulösen Rücken und kam mit einem strahlenden Lächeln auf seinen Teamkollegen zu. Buck ignorierte ihn mit bewußt empörter Miene, ging zu Goodwill und half ihr hoch. »Hochnäsiger Gardist!« fauchte die überaus gut proportionierte Ausbilderin und klopfte sich ein imaginäres Stäubchen vom flachen Leib. Sie meinte Antoku Seiwa, der ihr ungerührt zunickte. Buck sagte: »Grämen Sie sich nicht, meine Dame. Dieser Mensch war schon immer taktlos.« Sie blickte durch ihn hindurch, setzte ihm die flache Hand auf die Brust und schob den muskulösen Tarzantyp mit seinen 91 kg und dem kurzgeschorenen Blondhaar einfach beiseite. Sich vor Antoku aufbauend, wobei sie ihn um gut zwanzig Zentimeter überragte, sagte sie mit schmelzender Stimme: »Teufel auch, diesen Handgriff kannte ich noch gar nicht. Was ist, Kleiner, wollen wir noch mal auf die Matte?« »Ich fürchte, das geht jetzt nicht, mein Kumpel scheint was
auf dem Herzen zu haben«, erwiderte Antoku »Von mir aus«, säuselte sie weiter, »können wir auch heute abend probieren. Ich habe zu Hause einen eigenen Übungsraum. Mit allen Schikanen. Und ein echt japanisches Bad.« »Davon bin ich überzeugt«, antwortete Anto vieldeutig. »Also, was ist? Ich muß wissen, wie dieser Trick funktioniert. Ich bin schon ziemlich gespannt.« »Ein andermal«, wehrte er ab. »Wann?« Sie bewies eine einmalige Hartnäckigkeit. »Liebste Myra Goodwill, das wird sich spätestens bei der nächsten offiziellen Trainingsstunde ergeben. Jetzt muß ich mit diesem großen Burschen da gehen, der eigens zu dem Zweck gekommen ist, mich abzuholen.« Myra blitzte Buck an. »Mußten Sie auch ausgerechnet jetzt aufkreuzen?« »Entschuldigen Sie, daß ich geboren wurde«, brummte Kurt konsterniert. Sie warf mit einem schnippischen »Pah!« die rote Haarflut zurück und winkte Anto zu. »Auf Wiedersehen, Soldat!« »Diese Rothaarigen«, seufzte Kurt kopfschüttelnd. »Wozu bist du gekommen? Zum Meckern?« Anto grinste. Er stopfte die dickgewebte Leinenjacke im Kimonoschnitt hinter den Obi, den vier Zentimeter breiten Stoffgürtel, der doppelt um die Hüfte geschlungen und zweifach verknotet wird. »Nein«, antwortete Buck lakonisch. »Ich habe versucht, dich via Vipho zu erreichen.« »Das liegt in der Umkleidekabine bei meinen Sachen«, erinnerte sich der Gardist. »Gibt es Ärger?« »Wie man's nimmt. Der Ärger hat eigentlich nie aufgehört, wenn ich mich recht erinnere.« »Hast Du ein Problem?« fragte der schmächtige Japaner.
»Ich? Nein, Kamerad – ich fürchte, wir haben ein Problem.« Antoku Seiwa, etwas über zwanzig Jahre alt, aber mit fünfjähriger Diensterfahrung als Geschützführer auf einem Raumkreuzer, schüttelte den Kopf. »Irrtum, mein Guter! Kommt nicht in Frage. Ich bin mitten in meinem sauer verdienten Landurlaub. Oder ist dir das entgangen?« »Er wird warten müssen, Kleiner«, kommentierte Buck ungerührt und sah zu, wie Anto den schwarzen Gürtel – er besaß den 3. Dangrad – über den Obi festband. Er stellte eine ernste Miene zur Schau. »Anto, riskiere keinen Aufstand. Die Order kommt von ganz oben. Vom Generalstab. Man verlangt nach uns.« »Einsatz im Weltraum?« »Einsatz«, nickte Buck. »Wenn das so ist«, gab Anto Seiwa klein bei. »Sekunde. Ich will nur noch schnell duschen...« * Der militärische Teil des Raumhafens von Cent Field war ein Tohuwabohu an Geschäftigkeit. Scharen selbstfahrender Laderobots glitten zwischen den Raumschiffen umher, stapelten, luden auf, luden ab. Ausrüstungsteile, Verpflegungscontainer und autarke Energiekonverter stapelten sich zu langen Reihen unter den Schleusen der überwiegend aus alten Giantbeständen bestehenden Raumschiffe und wurden nach oben in die Bäuche der metallenen Giganten gehievt. Unzählige Techniker und Mechaniker in ihren deutlich gekennzeichneten Overalls und Kombinationen versuchten, Ordnung zu schaffen. Drüben im östlichen Teil machte sich die 4. Raumlandeeinheit der Terra Defence Forces auf den Weg ins All, um Manöver an der Grenze des terranischen Einflußbereiches abzuhalten.
Die HAMBURG, der Truppentransporter, mit dem das Erste Bataillon der Schwarzen Garde an ihren Einsatzort gebracht werden sollte, stand etwas abseits, war aber nicht weniger von Geschäftigkeit umgeben. Oberstleutnant Kenneth MacCormack stand an der Verladerampe des Kugelraumers und sah zu, wie die Roboter die letzten, in schwarze Plastikbahnen gehüllten und auf Multiplast-Paletten gesicherten Ausrüstungsteile des Bataillons an Bord brachten. Die Einschiffung der 649 Mann samt Material und Waffen hatte nicht länger als vier Stunden gedauert, wie Kenneth MacCormack durch einen letzten Blick auf sein Chrono mit großer Genugtuung feststellte. Ein sagenhafter Wert. Damit hatten sie einen Rekord aufgestellt, an dem so schnell kein anderes Bataillon vorbeikam. Der »Alte«, Generalmajor Christopher Farnham, konnte stolz auf seine Elitetruppe sein. MacCormack hoffte nur, daß die Reise ebenso schnell und problemlos über die Bühne gehen würde. Die HAMBURG war ein Kugelraumer der 400-MeterKlasse, ein Beuteschiff aus den Hinterlassenschaften der Giants, umgebaut und ausgerüstet mit Triebwerken aus terranischer Fabrikation. Das Schiff war alt, hatte seine Glanzzeit bereits hinter sich. Obwohl man ihm eine Generalreinigung gegönnt und die Hülle anschließend poliert hatte, ließen sich nicht alle Spuren der permanenten Beanspruchung beseitigen. Der Oberstleutnant hielt einen seiner Kompaniechefs an, der für das schwere Gerät verantwortlich zeichnete und zur Polschleuse unterwegs war. »Wie weit sind wir mit dem Einschiffen, Asprin?« Um sie herum waren die Geräusche des Raumhafens zu hören. Aus dem Inneren der HAMBURG kamen schlagartige,
laute Töne. Ein dunkles und doch durchdringendes Summen lag in der Luft und brachte sie zum Vibrieren. Der Offizier salutierte. Clayton Asprin, Chef der 1. Kompanie, Anfang fünfzig, drahtig und zäh, hielt sich kerzengerade. Er stand breitbeinig da und hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt. »Wir haben es fast geschafft, Sir! Die letzten zwei Absetzer werden gerade an Bord gebracht. Die Männer sind bereits alle an Bord. Waffen und Munition ebenfalls. Von uns aus kann's los gehen, Sir.« »Danke, Mister Asprin.« MacCormack erwiderte die Ehrenbezeugung des Oberleutnants. Wenig später registrierte er, daß er doch tatsächlich der letzte vom Ersten Bataillon der Schwarzen Garde war, der sich noch auf dem Boden des Raumhafens aufhielt. Nach einem abschließenden Blick über das weitgespannte Areal Cent Fields ging er ins Schiff. Langsam glitt er die Rampe empor. Die Schleuse war hell ausgeleuchtet. Er nahm die Sonnenbrille ab; für einen Moment kniff er die Augen zusammen, bis die Adaption abgeschlossen war. Im schattenlosen Licht des Schleusenraumes erwarteten ihn seine Kompaniechefs mit den Adjutanten. Er nickte ihnen zu. Wenig später waren sie bereits im zentralen A-Gravschacht, der hinauf zur Zentrale führte. MacCormack hatte sich mit den Gegebenheiten der HAMBURG vertraut gemacht; sie war auf der Zelle eines verlassen aufgefundenen giantischen Kugelraumers aufgebaut worden. Demnach besaß sie einen Durchmesser von 400 Metern und vierundzwanzig Hauptdecks. Die Brücke lag auf Deck dreizehn, und dort würden sie Kapitän Elizondo antreffen. »Wie ist der Skipper denn so, Sir?« fragte Leutnant Tore Lanart, Adjutant von Clayton Asprin, auf dem Weg nach oben. Seine Worte abwägend, erwiderte der Oberstleutnant:
»Nach meinem Kenntnisstand ein hervorragender Kapitän. Äußerst tüchtig. Kennt jede Raumanomalie zwischen hier und der großen Leere.« Oberleutnant Ulysses Gerado, einer der anderen Kompaniechefs, lächelte knapp. »Das zeichnet ihn aus. Und ansonsten?« »Die übliche Animositäten zwischen zwei so unterschiedlichen Waffengattungen, wie sie die Flotte und die Schwarze Garde nun mal darstellen. Aber wir werden damit leben können. Als Kapitän hat er, was die Schiffsführung betrifft, die uneingeschränkte Befehlsgewalt. Bei allem anderen stehe ich in der Befehlshierarchie über ihm.« »Das klärt zumindest die Fronten«, sagte Tore Lanart und sah sich dafür von einem scharfen Blick seines Vorgesetzten gemustert. »Versprechen Sie sich nicht zuviel davon, Mister Lanart«, bremste der rothaarige Ire den Enthusiasmus seines Zugführers. »Wir sind nicht hier, um unsere Überlegenheit zu demonstrieren. Vergessen Sie das nie.« Sekunden später betraten die Offiziere der Schwarzen Garde die voll besetzte Hauptzentrale der HAMBURG. Ein lautes Kommando ertönte. »Aaaaach-tung!« MacCormacks Augen musterten die Brückenbesatzung. Binnen Sekunden formierte sich ein Spalier. Mit unbewegtem Gesicht ging er weiter, obwohl er ahnte, was der Grund dieser überzogenen Ehrenbezeugung war. Und als er sich von steinernen, ausdruckslosen Blicken gemustert sah, wußte er, daß der Kapitän seine Mannschaft schon über die Rolle instruiert hatte, die ihr von der Flottenführung zugedacht worden war: Die Besatzung der HAMBURG hatte für Versorgung, Nachschub und Rückendeckung des Ersten Bataillons zu sorgen, spielte praktisch dessen »Arschabputzer«, wie sich mancher an Bord äußerte, wenn keiner der
Vorgesetzten in der Nähe war. Die Augen von Mannschaftsdienstgraden und Offizieren starrten die schwarzgekleideten Männer des Raumkorps an, als hätten sie ein Verbrechen begangen. MacCormack lächelte unbestimmt, ohne daß dieses Lächeln seine Augen erreichte; wie ein Mann erwiderten seine Offiziere und er die Ehrenbezeugungen. Er ging langsam die Reihe entlang, in Richtung auf den Hauptleitstand. Dann sagte er laut: »Rühren, meine Herren. Ich bin als Passagier an Bord, nicht als Vorgesetzter.« Der Kapitän der HAMBURG lehnte am Kartentank und sah ihnen entgegen; er trug die Uniform eines Kommandanten der TF mit dem Majorsstern. Das eisgraue Haar war kurz und in die Stirn gekämmt. »Willkommen an Bord der HAMBURG«, sagte Hector Elizondo nach der kurzen, formellen Begrüßung zu MacCormack, »wir werden uns bemühen, Ihnen und Ihren Männern den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten.« Er machte eine ausladende Armbewegung, die die Brücke mitsamt dem Personal umfaßte, das, wie MacCormack wußte, durch die Bank eine technisch-wissenschaftliche Ausbildung hatte – so wie seine Leute auch. »Nur keine Umstände«, wehrte der Oberstleutnant ab. Er blickte forschend zu dem Spanier hoch, der ihn um einen ganzen Kopf überragte, und kam zu dem Schluß, daß dessen Bemerkung ernstgemeint schien. »Wir werden den Schiffsalltag so wenig wie möglich stören«, fuhr er fort, »aber ich kann nicht versprechen, daß es zu keinen Irritationen kommt. Wir haben vor, unsere Leute während der Reise permanent mit simulierten Kampfeinsätzen und Forschungsaufträgen zu beschäftigen. Das hält sie einmal davon ab, sich während der Reise zu langweilen, zum anderen kommen sie nicht auf die Idee, sich mit Ihren Leuten in die Wolle zu kriegen.«
Der Kapitän lächelte dünn. »Kluger Vorsatz. Ich sehe, wir verstehen uns. Auf diese Weise vermeiden wir, daß es zu Reibereien zwischen Ihren und meinen Männern kommt...« MacCormack nickte zustimmend; dieser Hector Elizondo schien von Vernunft geleitet zu sein. »... und deshalb werden Sie auch einer Meinung mit mir sein, daß es das Beste ist, wenn ich Sie und Ihre Offiziere auf dem gleichen Deck wie Ihre Männer unterbringe. Oder sehen Sie das anders?« MacCormacks Augenbrauen zuckten nicht einmal, während einer der Kompaniechefs in seinem Rücken einmal tief einatmete. Du gottverlassener Hundesohn, dachte der Ire, das hast du dir fein ausgedacht. Aber wenn du glaubst, du kannst mich damit beeindrucken, hast du dich geschnitten. An und für sich war es ein Affront, einen ranghöheren Offizier damit zu düpieren, daß man ihm eine Kabine auf dem Kapitänsdeck verweigerte. Er hatte jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder er nahm die Herausforderung an, bestand auf ranggemäßer Unterkunft, und der Flug würde alles andere als angenehm werden, oder er ignorierte die Beleidigung. Er entschloß sich für letzteres. »Sie kommen meinen Wünschen zuvor, Kapitän«, versicherte er deshalb gelassen. »Ich hätte sowieso darauf bestanden. Kann uns jemand den Weg zeigen?« Kapitän Elizondo nickte. »Das dürfte keine Schwierigkeiten bereiten. Mister Karlich!« »Sir?« meldete sich der 3. Offizier. »Geleiten Sie die Herren in ihre Quartiere.« Und zu MacCormack gewandt: »Besprechung in einer Stunde, Sir?« »Ich werde es einrichten können, Kapitän«, versprach der Oberstleutnant.
*
Die Kabine war dann doch leidlich geräumig. Sie bestand aus einem Hygienemodul und einem Allzweckraum von vier mal vier Metern Ausdehnung. Eben die Standardausführung auf den Schiffen der TF. Kenneth MacCormack grinste flüchtig. Die Männer des Quartiermeisters hatten bereits seinen Packsack und die Ausrüstung gebracht; er bemühte sich erst gar nicht, alles auszupacken – es lohnte wahrscheinlich gar nicht, sich hier häuslich einzurichten – sondern räumte lediglich ein paar dringend notwendige Dinge in die Fächer des Hygienemoduls. Zu diesem Zeitpunkt hatte die HAMBURG längst vom Raumhafen abgehoben. A-Grav brachte das Schiff durch die Lufthülle. In einer Höhe von 48 Kilometern befand es sich über der Atmosphäre; jetzt beschleunigte es und jagte mit immer höherer Unterlichtfahrt im flachen Winkel über die Ekliptik in den tiefen Weltraum jenseits der Planetenbahnen. In den Maschinendecks war nichts zu hören als das Geräusch der Konverter; die Triebwerke arbeiteten mit Höchstwerten. Die HAMBURG beschleunigte außerhalb des Sonnensystems über eine Strecke von dreißig Lichtminuten unaufhörlich und ging dann in den Hyperraum. Die erste einer Reihe von Transitionen.
14. Im Schatten der Soldatenquartiere schlich Arc Doorn durchs Militärlager, in östlicher Richtung. Die um sich greifende Hektik hatte Doorns Flucht anfangs begünstigt. Allmählich kehrte jedoch wieder Ordnung ein. Die Sirenen schwiegen. Allerorten begaben sich Patrouillen auf die Suche nach den Ausbrechern. Arc mußte sich häufig ducken oder ganz flach auf den Boden pressen, um nicht entdeckt zu werden. Seine größte Sorge war, von den Patrouillierenden »erschnüffelt« zu werden, denn er stank wie ein Schwein. Der Sibirier staunte, wie groß das Lager war. Ohne Orientierungshilfe konnte man sich hier glatt verlaufen. Zum Glück hatte er einen »Schnellkurs« über den derzeitigen nächtlichen Sternenhimmel über Lark hinter sich – durchgeführt von dem naturverbundenen Großwildjäger Ribur. Und die beiden korlonischen Agenten hatten ihn in groben Zügen über den Aufbau larkischer Feldlager informiert. Feldlager? Die Umzäunung erweckte mehr den Eindruck eines Gefangenenlagers: Wachtürme, Schutzwälle, Stacheldraht und bewaffnete Patrouillen. Nicht nur gegen Angriffe von außen wollte man gewappnet sein, sondern auch gegen Desertion. Die geringe Anzahl der Wachmänner am Ostzaun deutete darauf hin, daß Sass und Oshuta gerade im nördlichen Lagerteil aktiv waren. Arc rechnete sich gute Chancen aus, ungesehen bis zum Stacheldraht zu kommen. * Ren Dhark, Cafer, Ribur, Therak und Fontain befanden sich in der Gewalt des Generals, bewacht von mehr Soldaten als
ihnen lieb war. Diesmal hatten die Larken Dhark auch den Stirnreif vom Kopf gerissen und achtlos beiseitegeworfen. Den Stirnreif der Nogk, der ihn vor den mannigfaltigen Parakräften schützte, mit denen offenbar jedes Volk in Drakhon auf die eine oder andere Weise ausgestattet war. Doch noch spürte der Commander keine Veränderung, keinen fremden Einfluß auf seinen Verstand. Die mutmaßlichen Spione waren gefesselt und wehrlos, ihnen stand ein hartes Verhör, vielleicht sogar die Hinrichtung bevor – und trotzdem amüsierten sie sich. Vor allem dem Terraner stand die Schadenfreude ins Gesicht geschrieben. Worges Ärger war Dharks Manna. Der für die Sicherung der Umzäunung zuständige leitende Wachoffizier war nicht der einzige, der Worges Zorn zu spüren bekam. Mit wütender Miene blickte der General in die Runde. »Kapiert denn keiner von euch Hohlfrüchten, was hier gelaufen ist?« zeterte er. »Bin ich der einzige, der seinen Verstand gebraucht? Hätte auch nur einer von euch nachgedacht, wäre das alles nicht passiert!« Genaugenommen ärgerte er sich über sich selbst, schließlich stammte von ihm der Befehl, den Großteil der Wachen im Nordabschnitt zusammenzuziehen. Aber in dieser Hinsicht verhielt er sich wie viele Vorgesetzte. Verlief eine Aktion perfekt, sahnte er allein den Ruhm dafür ab. Und ging etwas schief, lag die Schuld bei seinen unfähigen Untergebenen. »Der Fluchtplan war so simpel, daß wir ihn von Anfang an hätten durchschauen müssen«, ließ er sich zu einer Erklärung herab und faßte zusammen: »Acht Spione drangen in unser Territorium ein und wurden festgenommen: vier Owiden, vermutlich aus Undo oder Gawa, und vier fremdartige Wesen, von woher auch immer. Zwei der Fremden entpuppen sich als unüberwindliche Kampfmaschinen, die einiges wegstecken können, selbst Gewehrkugeln. Sie sind wahrscheinlich die Leibwächter des rothaarigen Gruppenführers, dessen Schutz
höchste Priorität hat.« Worge machte eine Kopfbewegung hin zu Dhark und sagte abfällig: »Der da spielt bestimmt nur eine untergeordnete Rolle im Team, sonst hätte man ihn nicht als Lockvogel eingesetzt. Seine Aufgabe war es, eine falsche Spur zu legen, damit die Leibwächter entkommen konnten. Deren massiver Angriff auf den Nordzaun war nur ein Ablenkungsmanöver. Hätten sie tatsächlich an dieser Stelle aus dem Lager ausbrechen wollen, wäre ihnen das aufgrund ihrer überlegenen Kräfte auch gelungen.« »Verstehe«, warf der Wachoffizier ein. »Während wir uns mit geballter Kraft auf den nördlichen Teil der Umzäunung konzentrierten, flüchtete der Anführer anderswo aus dem Lager. Nachdem er sich in Sicherheit gebracht hatte, suchten auch seine Leibwächter das Weite. Ich sorge dafür, daß jeder Soldat sofort wieder seinen angestammten Posten bezieht.« Der General winkte ab. »Das hat keine Eile, die drei sind längst über alle Berge. Wir werden uns mit ihren fünf Komplizen begnügen müssen. Morgen werden sie in die Hauptstadt überführt und zum Sprechen gebracht. Dann erfahren wir, wie ihr Auftrag lautet und wo sich ihr Anführer versteckt hält.« »Sicherlich verläßt er Lark noch in dieser Nacht.« »Nein, ich bin überzeugt, er bleibt in der Nähe und wartet auf einen günstigen Moment zur Befreiung seiner Kameraden. Ein Mann wie er läßt seine Leute nicht im Stich und ist immer für eine Überraschung gut.« In Worges Stimme schwang ein wenig Bewunderung mit, er maß seine Kräfte gern mit würdigen Gegnern. »Seine Idee, versteckt in der Gefangenenunterkunft den günstigsten Fluchtzeitpunkt abzuwarten, ist so läppisch, daß sie fast schon wieder genial ist. Hätten wir zwischen den übelriechenden Abfallsäcken nachgesehen, wäre sein Plan noch im Ansatz gescheitert.« Er gab Befehl, die Gefangenen wieder wegzusperren und sie
nicht aus den Augen zu lassen. Die Fesseln wurden ihnen diesmal nicht abgenommen. Man brachte Dhark und seine Begleiter in die vergitterte Arrestzelle, in der normalerweise nicht mehr als drei Personen Platz fanden. Offensichtlich kam es unter Worges strengem Regiment nur selten zu Disziplinarverstößen, so daß auf dem Manövergelände kein größeres Gefängnis nötig war. Oder aber er läßt jeden Unruhestifter gleich erschießen, überlegte der Commander. Weil auf Lark ein etwas anderer Dialekt gesprochen wurde, hatte er Worges Ausführungen nur ungenügend verstanden. Der Gouverneur erklärte ihm geduldig die Bedeutung verschiedener larkischer Begriffe, was nicht ganz einfach war, da der Dialog zwischen Terranern und Korlonen ohne Translator nur radebrechend vonstatten ging. Mit jeder Unterhaltung besserte sich das allerdings. * Unter vollem Einsatz seiner Arme und Beine robbte Arc Doorn an Stacheldrahtballen entlang auf einen Wachturm zu. Nahezu geräuschlos kroch er unter dem Turm hindurch. Die noch verbliebenen Wachtposten – viel zu wenige für diesen Streckenabschnitt – nahmen nicht mal den Hauch eines Schattens von ihm wahr. Arc näherte sich dem Stacheldrahtzaun im Osten. »Man sollte ihn zerschneiden und nie mehr aufbauen«, kam es leise über seine Lippen. Da er weder Messer noch Zange bei sich hatte, suchte er sich eine geeignete Stelle zum Unterkriechen. Zu diesem Zweck mußte er mehrere Handvoll lockere Erde wegschaufeln. Bei dieser Arbeit blieb er nicht allein. Zahllose winzige Insektenaugen schauten ihm zu. Auf der Wiese, die das Lager umgab, wimmelte es von kribbelig krabbelnden Trojanern.
Einige sprangen auf seinen Rücken, scheinbar gefiel ihnen der Geruch, den er seit seinem Aufenthalt unter den Abfallsäcken verströmte. »Das hat mir gerade noch gefehlt,« murmelte Doorn. Der Gedanke an die scharfen Zähne der Späher, wie die Pugaren sie nannten, behagte ihm überhaupt nicht. Seine Furcht war jedoch unbegründet, die terranischen Heuschrecken ähnelnden Tierchen knabberten lediglich seine geruchsintensive Kleidung ein bißchen an. Endlich war Arc auf der anderen Seite der Begrenzung angekommen. Nun mußte er nur noch den Platz am Waldrand finden, an dem er sich mit den Cyborgs treffen wollte. Kein leichtes Unterfangen in der Nacht. Plötzlich blendete ihn ein Lichtstrahl. Hatten ihn die Wachen doch noch erwischt? Arc stand langsam auf, mit erhobenen Händen. Der Unbekannte, der ihm gegenüberstand, schien die Sprache verloren zu haben. Offenbar hatte er noch nie zuvor einen Terraner gesehen. Doorn fiel auf, daß der Mann an der linken Hand keine Finger hatte. Er trug ausgebeulte Trapperhosen und eine Fransenjacke. Über seiner Schulter hing ein Gewehr. Ein Wilderer, der zu nahe ans Militärgelände geraten war? »Keine Angst, ich bin harmlos«, redete Arc beruhigend auf ihn ein. »Sieh an, das seltsame Wesen kann sprechen«, kam es auf Larkisch zurück. »Keine falsche Bewegung, oder es war deine letzte!« * Seit Xurrak aufgebrochen war, um die letzten Uma in ihren geheimen Verstecken aufzustöbern, war der Bestand an Zähnen, die er in seinem kleinen Fellbeutel sammelte,
gleichgeblieben. Nicht ein einziges neues Opfer war hinzugekommen. Dabei war er ganz sicher, daß mindestens vier Grünlarken dem Gemetzel im Dorf entkommen waren, unter ihnen Chatoo, die er abfällig als Dorfhure bezeichnete. Ohne Zweifel hatte er die Uma unterschätzt. Anstatt sich in jene Verstecke zurückzuziehen, die er bereits ausgekundschaftet hatte, hatten sie neue aufgesucht. Oder aber sie hatten den Wald verlassen. Die ihm zugeteilten Soldaten waren inzwischen ins Lager zurückgekehrt. Nur er, der teilweise fingerlose Kundschafter, streifte noch durch die Dunkelheit, unfähig, sich mit seiner Niederlage abzufinden. Allmählich dachte auch er an Rückkehr. Von Osten her näherte er sich dem Militärlager. Auf einem ausgetretenen Pfad ging er ein Stück außen am Schutzwall entlang, in Richtung des Haupteingangs. Plötzlich heulten die Sirenen, und im Lager brach das Chaos aus. Zunächst vermutete Xurrak einen Überfall, verwarf diesen Gedanken jedoch gleich wieder. Wer war schon so verrückt, eine ganze Armee anzugreifen? Der zivile Kundschafter erinnerte sich an die Festnahme einiger Spione, kurz bevor er mit seinem Suchtrupp tiefer in den Wald aufgebrochen war. Beim Verlassen des zerstörten Zeltdorfes hatte er zwei Soldaten davon reden gehört, sich aber nicht weiter darum gekümmert. Wollten sich die Gefangenen etwa aus dem Staub machen? Während Xurrak langsam weiterging, achtete er besonders wachsam auf jede verdächtige Bewegung. Um eventuelle Ausbrecher nicht zu früh auf sich aufmerksam zu machen, verzichtete er zunächst darauf, seine Taschenlampe einzuschalten. Vorsichtshalber lud er sein Gewehr durch und hängte es sich über die Schulter. Trotz seiner verkrüppelten Hand konnte er
geschickter mit der Waffe umgehen als so mancher gesunde Rekrut. Beim Zielen diente ihm der linke Arm gewissermaßen als Schießauflage. Kurz darauf beobachtete er, wie eine massige Gestalt unter dem Stacheldrahtzaun hervorgekrochen kam. Xurrak knipste seine Lampe an und blendete den Mann. Ihm stockte der Atem. Das war kein Owide! Das war ein... ja, was eigentlich? Der Fremde stand auf, hob die Arme und sagte irgend etwas in unbekannter Sprache. »Sieh an, das seltsame Wesen kann sprechen«, entfuhr es Xurrak, und er warnte: »Keine falsche Bewegung, oder es war deine letzte!« Er warf die Taschenlampe ins Gras und nahm das Gewehr von der Schulter, so geschwind, daß sich dem Fremden keine Gelegenheit zum Angriff bot. Sollte er ihn zurück ins Lager bringen? Oder auf Nummer sicher gehen und ihn auf der Stelle erschießen? Plötzlich wurde Xurrak von der linken Seite her angesprungen und mit Wucht zu Boden gerissen. Obwohl er mit der rechten Schulter hart aufschlug, ließ er sein Gewehr nicht los. Instinktiv visierte er die angreifende Person an und krümmte den Finger um den Abzug. * Vier Uma waren dem Blutbad in ihrem Zeltdorf entkommen. Aber nur drei blieben lange genug am Leben, um den Bergwald zu verlassen. Eine Greisin starb an ihren Verletzungen, noch bevor das Quartett den Waldrand erreicht hatte. Man begrub sie an Ort und Stelle unter dem trockenen Laub und deckte die Grabstelle mit dicken Ästen ab. Chatoo, ein alter Mann und ein kleiner Junge waren alles, was vom Stamm übrig war. Somit war das Geschlecht der Uma
auf diesem Planeten so gut wie ausgestorben. »Hoch in den Bergen haben die Jemiten ihre Zelte aufgeschlagen«, sagte der Alte. »Pugaren wie wir. Bei ihnen werden wir Unterschlupf finden.« Chatoo wünschte ihm und dem Kind viel Glück auf dem Weg dorthin. Sie selbst kehrte noch mal um, denn es gab noch eine Rechnung zu begleichen. Wie sie es erwartet hatte, suchten die Rosahäutigen nacheinander alle ihnen bekannten Verstecke ab. Aus sicherer Entfernung folgte sie dem Trupp. Nachdem die Uniformierten den Rückweg ins Lager eingeschlagen hatten, blieb sie Xurrak auf den Fersen. Er war es, auf den sie es abgesehen hatte. Für den feigen Mord an Jarak sollte er büßen! Die Augen der grünen Ureinwohner sahen nachts besser als die der Eroberer. So erkannte Chatoo schon von weitem, wer sich unter dem Stacheldraht hervorschob. Es war der merkwürdige Fremde, der ihr bei der Flucht aus dem Zeltdorf das Leben gerettet hatte. Xurrak bedrohte ihn mit dem Gewehr. Chatoo wollte dabei nicht tatenlos zusehen. Ohne lange nachzudenken, sprang sie den Mörder ihres Freundes von der Seite her an und riß ihn zu Boden. Die Reaktionsschnelligkeit des kampferfahrenen Militärkundschafters kostete sie fast das Leben. Er legte auf sie an und schoß... Wollte schießen. Aber er kam nicht mehr dazu. Aberhunderte von Spähern stürzten sich aus der Finsternis auf ihn und hüllten seinen Körper vollständig ein. Die Insekten krabbelten in seine Ohren, in seine Nase, und als er schreien wollte, verstopften sie ihm den Rachen und krochen in ihn hinein. Dann fraßen sie ihn auf. Von innen und von außen. Es war schmerzvoll und ging nur langsam vonstatten, doch
Chatoo hatte kein Mitleid mit ihm. Xurrak starb so barbarisch wie er gelebt hatte. Bald würde nichts, rein gar nichts mehr von ihm übrig sein, kein Knochen, kein Zahn, nicht einmal ein Fetzchen Haut. »Sprichst du meine Sprache, Fremder?« fragte sie den Mann, dessen Leben sie soeben gerettet hatte. Die Dialekte der Pugarenstämme unterschieden sich völlig von dem Korlonisch, das Arc Doorn mühsam gelernt hatte. Trotzdem verstand er, worauf die Frage abzielte. »Ein bißchen«, antwortete er in der Sprache der Korlonen. »Du hast mir geholfen – ich habe dir geholfen – wir sind quitt«, entgegnete Chatoo und war bemüht, möglichst langsam zu reden. »Du bist anders, du bist kein Feind der Pugaren. Die Späher werden dir nichts tun.« »Was deinem Volk zugestoßen ist, tut mir leid«, erwiderte Doorn. »Meine Freunde und ich konnten es nicht verhindern.« »Außer mir existieren nur noch zwei Uma«, sagte sie. »Ein alter Mann und ein Junge. Vielleicht nimmt er sich eine Jemitin zur Frau, wenn er erwachsen ist. In den Kindern der beiden würde dann ein Stück unseres Volkes weiterleben. Ich werde nicht zu den Jemiten gehen. Meine Heimat ist der Bergwald, niemand wird mich je von dort vertreiben.« Sie schaute zum stacheldrahtbewehrten Schutzwall und rief so laut sie konnte: »Niemand! Ist das klar, ihr feigen Mörder? Ich werde auf Bäumen wohnen, unter Laub schlafen, mich hinter Büschen verbergen! Und wann immer mir einer von euch begegnet, ist es sein letzter Tag! Dieser Wald gehört mir! Das hier ist Chatoos Land!« Auf dem Wachturm blitzte der schwache Schein einer Handlampe auf. »Nichts wie weg«, entschied Doorn und ergriff Chatoo am Arm, »bevor du das halbe Lager zusammenbrüllst.« Mit einer geschmeidigen Bewegung löste sie sich aus dem Griff und lief auf den nahegelegenen Wald zu. Arc hatte Mühe,
ihr zu folgen. Am Waldrand verlor er sie aus den Augen. Eine feste Hand legte sich auf seine Schulter. Abwehrbereit drehte er sich um. Es war Bram Sass. »Wo ist sie hin?« fragte er den Cyborg. »Wer?« »Die Pugarenfrau. Eine Kriegerin, nehme ich an. Sie half mir bei der Flucht. Ich konnte zwar nicht jedes ihrer Worte verstehen, aber das Ganze klang ziemlich bedrohlich.« »Ich habe niemanden gesehen. Kommen Sie, Arc, wir müssen weiter. Wenn wir uns beeilen, erreichen wir das Ende unserer weiten Reise im Morgengrauen.« Doorn schüttelte den Kopf. »Unmöglich, das schaffen wir nie. Ich bin zwar gut zu Fuß, aber kein Rennpferd.« »Oshuta und ich werden Sie abwechselnd auf den Schultern tragen«, versprach ihm Sass. »Dann sind wir schneller am Ziel.« Der Sibirier hob abwehrend die Hände. »Kommt nicht in die Tüte! Ich bin doch kein gehbehinderter Greis!« »Der gnädige Herr ist sich wohl zu fein für unsere Schultern«, bemerkte Lati Oshuta, der nun ebenfalls am Waldrand auftauchte. »Wäre Ihnen eine Sänfte lieber?« Sass ging in die Hocke. Ohne viel Federlesens packte der Japaner den störrischen Wissenschaftler und hob ihn hoch. Bevor Arc sich's versah, hockte er auf Brams Schultern, und der Cyborg setzte sich mit ihm in Bewegung. Aus dem Dickicht heraus beobachtete Chatoo das ungewöhnliche Trio. Nachdem die drei aus ihrem Blickfeld verschwunden waren, zog sie sich tiefer in den Wald zurück. Noch ahnte sie nicht, daß ihr Rachefeldzug gegen die larkische Infanterie nur wenige Wochen andauern sollte – bis sie merken würde, daß sie schwanger war. *
Bereits vor Morgengrauen trafen Bram Sass, Lati Oshuta und Arc Doorn am Zielpunkt ein. Arc stieg von Oshutas Schultern. Trotz seines anfänglichen Protestes hatte er sich die ganze Zeit über tragen lassen. Zwischendrin war er sogar für zwei Stunden eingeschlafen. Die drei befanden sich mitten in der unerforschten Wildnis. Spuren von Zivilisation gab es hier nicht. Arc hatte Durst, doch der trockene, nur von wenigen robusten Pflanzen bewachsene Boden verhieß nichts Gutes. Selbst Überlebenskünstler wie die Pugaren, die Entbehrungen gewohnt waren, hätten hier weder Wasser noch sonstige Nahrung gefunden. »Man muß nicht erst sterben, um von hier aus an einen besseren Ort zu kommen«, sagte Doorn in einem Anflug von Galgenhumor. »Man braucht nur ein paar Kilometer in eine xbeliebige Richtung zu gehen.« Vor ihnen reckte sich ein Berg in die Höhe. Arc hoffte, dort auf eine Höhle zu stoßen, doch die Suche danach verlief ergebnislos. »Die Anlage befindet sich entweder unter der Erde oder im Inneren des Berges«, schätzte er. »Da ich nicht glaube, daß die Rahim durch Wände gehen konnten, muß es irgendwo einen Zugang geben. Uns bleibt nichts anderes übrig, als rundum alles gründlich abzusuchen, Zentimeter für Zentimeter.« »Das macht wenig Sinn«, meinte Oshuta und erinnerte ihn an den nahezu perfekt getarnten Eingang zum Tunnelsystem. »Haben Sie eine bessere Idee?« fragte Doorn. »Schon möglich«, antwortete der Cyborg. »Zufälligerweise können mein Partner Bram und ich einiges mehr als aus Militärlagern ausbrechen oder andere Leute auf unseren Schultern tragen. Bitte beantworten Sie mir eine Frage. Sie haben ja schon mehrfach Kodes der Rahim geknackt, Arc. Unterlagen die alle der gleichen Systematik?«
Der Rothaarige nickte. »Stellen Sie mir entsprechende Informationen zusammen«, bat der Cyborg. »Wenn wir unsere Programmgehirne mit den richtigen Daten füttern, gelingt es uns vielleicht, eine Art universellen Anforderungskode zu erstellen.« Arc kratzte sich am Kopf. »Und was genau, wenn ich fragen darf, wollen Sie damit anfordern? Glauben Sie wirklich, daß der Zugang zur Anlage einfach so über einen Universalkode freigegeben wird? Das wäre der Rahim unwürdig. Nach unseren bisherigen Erfahrungen wurden uns von Mal zu Mal mehr Knüppel zwischen die Beine geworfen. Die richtige Kombination der Reliefsteine zu ermitteln war noch verhältnismäßig leicht. Die energetische Türsperre bereitete uns schon weitaus mehr Schwierigkeiten. Bei der Aktivierung des großen Datenspeichers unterstützte mich der Commander...« »Sowohl im Endbahnhof unter dem Ruham-Tempel als auch in der unterirdischen Bahnstation auf Undo ließen sich Hologramme aktivieren, die sich als nützliche Hilfe erwiesen«, unterbrach Oshuta die Aufzählung. »Vielleicht können wir hier etwas ähnliches erzeugen, das uns einen Schritt weiterbringt. Ich erwarte keine Wunder, doch einen Versuch wäre es zumindest wert.« Arc übergab den Cyborgs die benötigten Informationen. Beide setzten ihre Programmgehirne zur Errechnung des Kodes ein. Innerhalb von dreißig Minuten bewältigten sie eine Arbeit, für die man mit Folie und Schreiber Monate gebraucht hätte. Oshuta strahlte den Kode über seinen implantierten Kurzwellensender aus. Gleichzeitig probierte es Sass auf andere Weise. Er gab den Kode als modulierte Tonfolge ab, die sich für menschliche Ohren wie Computerpiepsen anhörte. Ihre Mühe führte zum gewünschten Erfolg. Plötzlich erschien in der Nähe ihres Standortes eine holographische Eingabetastatur. Wer von beiden sie aktiviert hatte, blieb
unklar. Das buntflirrende Feld, das da über einem Felsen und einem dornigen Busch schwebte, bildete einen scharfen Kontrast zur vordergründig so unberührten Landschaft. Arc Doorn machte sich ein weiteres Mal daran, die Geheimnisse rahimscher Kodierungen zu entschlüsseln. Wie er es erwartet hatte, war die Aufgabe schwieriger zu lösen denn je. Der benötigte Eingabekode war viel komplexer als die bisherigen. Erneut erwiesen sich die Programmgehirne der Cyborgs als Retter in der Not. Doorn, dessen Einfühlungsvermögen für fremdartige Technik bisher unübertroffen war, »fütterte« die Cyborgs im Verlauf seiner Berechnungen immer wieder mit Daten und Zahlen. Sass und Oshuta analysierten und bearbeiteten seine Eingaben und »spuckten« sie hinterher wieder aus. Er verglich und prüfte die Ergebnisse und fügte sie zu einem Schlüssel zusammen. Diese Input-Output-Analyse zog sich über mehrere Stunden hin. * Am Vormittag führte man die gefesselten Gefangenen vors Feldlager der FVL-Infanterie. Dort landete auf der Wiese ein viermotoriger, olivgrüner Doppeldecker. Das »vorsintflutliche Fokker-Monstrum«, wie Dhark es respektlos bezeichnete, hatte eine Spannweite von dreißig Metern. An den Außenseiten prangte das Symbol der FVL-Luftwaffe, eine geflügelte Schlange. »Erstaunlich, daß sich dieser Schrotthaufen länger als eine Minute in der Luft halten kann«, rutschte es ihm in Gegenwart der Korlonen heraus. Er biß sich für die herablassende Bemerkung sogleich auf die Zunge. Es lag ihm fern, die ihm freundschaftlich gesinnten Rags zu kränken, wußte er doch, wie empfindlich Cafer auf
derartigen Spott reagierte. »Soweit mir Ihre Sprache inzwischen geläufig ist, bezeichnet man mit ›Schrotthaufen‹ eine alte, kaputte Maschine«, sagte der Gouverneur nachdenklich. »Und ›Monstrum‹ lautet die Bezeichnung für etwas Großes, Klobiges. Aber was bedeutet ›Fokker‹? Handelt es sich dabei um ein terranisches Schimpfwort?« »Nein, um einen Namen«, klärte ihn der Commander auf. »Vor etwas weniger als einhundertfünfzig Erdenjahren brach auf Terra ein Krieg aus, der vier Jahre andauern sollte. Es war das erste Mal, daß verfeindete Parteien ihren Konflikt in der Luft austrugen. Anfangs verfügten die Flugzeuge noch über keine Bewaffnung, die Piloten beschossen sich gegenseitig mit Pistolen. Später wurden Maschinengewehre eingebaut. Dummerweise war beim Schießen der Frontpropeller im Weg. Ein Flieger namens Roland Garros brachte daraufhin stählerne Reflektoren an seinen Propellerblättern an, um die Kugeln abzulenken.« Cafer grinste. »Ist das alles, was euch dazu eingefallen ist? Dann kann es mit eurer Intelligenz damals nicht weit her gewesen sein, ihr ach so klugen Terraner! Die Bewaffnung unserer Maschinen verfügt über einen Sperrmechanismus, der verhindert, daß die Waffe abgefeuert wird, während sich ein Propellerblatt direkt vor der Mündung befindet.« Alle vier Korlonen grinsten spöttisch. Es freute sie diebisch, daß die Fremden, denen sie sich unterlegen fühlten, auch mal klein angefangen hatten. Worge forderte die Gefangenen auf, sich ins Flugzeug zu begeben. Dort ließ er sie mit festen Stricken an die Sitze fesseln. Dhark und Cafer saßen nebeneinander. »Auch auf Terra wurde ein solcher Mechanismus erfunden, von Anthony Fokker«, setzte Dhark seine Ausführungen fort. »Im Krieg konstruierte er schnelle, flexibel einsetzbare Jagdflugzeuge, in Friedenszeiten gründete er eine Fabrik für
Verkehrsflugzeuge. Das Ungetüm, in dem wir hier sitzen, erinnert mich vom Aufbau her an einige seiner Konstruktionen, allerdings wirkt es viel klobiger, monströser. Deshalb die Bezeichnung ›Fokker-Monstrum‹.« Ren rutschte auf seinem Sitz hin und her, um es sich so bequem wie möglich zu machen. Bewaffnete Wachsoldaten, die sich in seiner Nähe plaziert hatten, verfolgten jede seiner Bewegungen voller Mißtrauen. Nachdem er eine halbwegs geeignete Position gefunden hatte, kontrollierte ein Soldat seine Fesseln. Drei der unheimlichen Fremden waren ihnen entkommen, wenigstens den vierten wollten sie in der Hauptstadt abliefern. Der Flug dauerte fast den ganzen Tag. Die Gefangenen unterhielten sich überwiegend auf Angloter, damit ihre Bewacher und Worge, der in der Reihe hinter ihnen saß und sich leise schimpfend mit irgend etwas beschäftigte, nichts mithören konnten. * Der große Moment war gekommen. Arc Doorns Hände zitterten leicht, während er den kompletten Kode in die holographische Tatstatur eingab und abschließend bestätigte. Bram, Lati und er waren gespannt, was nun passieren würde. Ein leichtes Beben ließ das Erdreich erzittern. »Hoffentlich öffnet sich nicht plötzlich der Boden zu unseren Füßen und verschlingt uns«, brummelte der Sibirier. Seine Befürchtung erfüllte sich nicht. Die Vibrationen gingen vom Berg aus, wo sich in der Flanke eine mächtige Felsplatte beiseite schob und den Eingang zur Unterwelt freigab. *
Bidd Nobbs Augen verfolgten ihn auch noch lange Zeit während des Abstiegs in die Tiefe. Priff Dozz war wie benommen. Er hätte selbst nicht sagen können, warum er, um Haaresbreite dem Tod entronnen, die anderen nicht über seine Entdeckung informierte, es ihnen nicht ermöglichte, ihn zu begleiten – was letztlich doch nur seinem eigenen Schutz gedient hätte. Er tat es einfach nicht. Jenseits der aufgeschwungenen Luke begann eine stählerne Treppe, die ein gutes Stück weit unter das Niveau des Hallenbodens führte. Die Stufen endeten vor einem Trennschott, das automatisch zur Seite glitt, als Priff Dozz sich ihm näherte. Im ersten Moment gähnte dem Nomaden ein finsterer Schlund entgegen, dann flammte kaltes, schattenloses Licht aus verborgenen Quellen auf. Die Hand am Knauf seines Blasters, der arretiert am Gürtel haftete, betrat er den Raum. Gleichzeitig konsultierte er den Analysator, um eventuelle Lebenssignale aufzufangen. Wie schon oben im weitverzweigten Labyrinth der Station schlug das Gerät auch hier nicht einmal schwach an. Alles andere wäre eine Überraschung gewesen, mehr noch: ein Wunder. Wer sollte hier unten überdauert haben? Nach all der Zeit... Priff Dozz betrat einen hallenartigen Raum, der vollgepfropft war mit technischem Gerät. Das meiste wirkte absolut fremdartig, sein Aussehen ließ keinerlei Rückschlüsse auf seinen Sinn und Zweck zu. Nur ein Objekt unterschied sich davon. Eine identische, nur größere Ausführung hatte Priff Dozz schon im Gewölbe der Holographien untersucht: ein Ringtransmitter. Ohne sich um das Sammelsurium undurchschaubarer Techno-Artefakte zu kümmern, steuerte er geradewegs auf den
Transmitter zu. Die Hoffnung, daß dieses Gerät nicht ohne Grund in einem nochmals gesicherten, verborgenen Bereich stationiert ruhte, verlieh ihm Auftrieb. Möglicherweise war dessen Gegenstation nicht blockiert, war die Transferverbindung herstellbar... Obwohl Priff Dozz merkte, daß er unter zunehmender Konzentrationsschwäche zu leiden hatte, machte er sich unverzüglich an den Sockelkontrollen zu schaffen. Er verbiß sich regelrecht in dem Bemühen, den Transmitter aus seinem jahrhundertelangen Schlaf zu reißen und die Leere im Inneren des Rings mit transportfähiger Hyperenergie zu fluten... Am Ende mußte er sich sein Versagen eingestehen. Genau wie bei der Mammutversion war auch dieses Gerät offensichtlich intakt – aber von der Gegenseite her blockiert. Dozz überlegte, ob er zu den anderen zurückkehren sollte, die sich inzwischen längst Gedanken über seinen Verbleib machen mußten. Es gab nur einen Prallfeldneutralisator, jenes Provisorium, das Dozz bei sich trug. Sie würden ihm also nicht folgen können, mußten glauben, ihm sei etwas zugestoßen... Was noch nicht der Fall war. Aber ich überstrapaziere mein Glück, dachte Priff Dozz selbstkritisch. Er war drauf und dran, umzukehren. Als er die Tür entdeckte, die am hinter dem Ring gelegenen Ende des Raumes in die Wand eingelassen war. Sie stand offen. Dahinter war es absolut finster, so daß der Durchgang nicht sofort ins Auge gefallen war. Dozz umrundete den Transmitter und begab sich zu der Öffnung. Diesmal wich das Dunkel nicht schon im Näherkommen wohldosierter Helligkeit. Kein unlösbares Problem, Dozz führte auch einen Lichtwerfer mit sich, der bislang jedoch noch nicht zum Einsatz hatte gebracht werden müssen. Er nahm ihn hervor und aktivierte ihn. Als er den Strahl ins
Dunkel jenseits der Schwelle richtete, wurde er wie von einem Prisma gebrochen und zurückgeworfen. Erst da erkannte Dozz, daß der vermeintlich offene Durchgang mit einem Energievorhang gesichert war. Aber an keiner der beiden Seiten war ein Schaltfeld erkennbar, das mit etwas Glück manipuliert werden konnte. Blieb nur der Neutralisator, der schon bei den Holobauten geholfen hatte. Dozz richtete die beiden Pole, die an den Enden fühlerartiger Auswüchse lagen, gegen das Feld und wartete gespannt auf das Resultat, das er von der Anzeigefläche ablesen würde. Es kamen jedoch nur Fehlermeldungen. Mit der Energie, die den Durchgang sicherte, konnte der Neutralisator auch nach mehrmaliger Justierung nichts anfangen. Nicht das geringste. Und das hieß, daß er sie auch nicht außer Kraft zu setzen vermochte... Priff Dozz fluchte. Er warf eine Münze, die er in der Tasche seiner Zweckkleidung fand, gegen das Hindernis. Es kam zu keiner Entladung. Die Münze schien nur ein paar Herzschläge lang in der Luft zu hängen, ehe sie zeitlupenhaft langsam nach unten sank. Am Boden blieb sie liegen, unversehrt, wie es schien. Keine Entladung – keine bei bloßer Berührung tödliche Energie, schlußfolgerte Priff Dozz. Obwohl ein Restrisiko blieb, berührte er die Barriere. Es kribbelte leicht in den Fingerspitzen, mehr geschah nicht. Er verstärkte den Druck. Seine Hände tauchte durch das Feld. Erstaunt mußte Dozz feststellen, daß es gar keine echte Barriere war; keine jedenfalls, die jemanden stoppen konnte. Niemanden meiner Physis jedenfalls... Er zögerte nicht länger, sondern trat durch den »Vorhang«. Das Kribbeln durchzog seinen ganzen Körper. Es war nicht
einmal unangenehm, danach fühlte er sich regelrecht erfrischt. Verrückt. Kaum stand er auf der anderen Seite, war er in blaues Licht gebadet. Seine Augen gewöhnten sich rasch daran. Er befand sich in einer weiteren Halle. Nur er... ... und das Ding… * Das Ding erinnerte an die winzigen Raumjäger, die das Ringschiff während der Schlacht ausgeschleust hatte, war jedoch um das fünf- bis sechsfache größer in seinen Abmessungen. Der zylindrische Körper ruhte auf einer Art Schlitten, der wiederum auf einem Gleisbett stand. Ein Fahrzeug also. Die Schienen deuteten darauf hin, daß es bodengebunden war. Vielleicht war es Wunschdenken, aber Priff Dozz zog, während er darauf zuging, immer wieder Vergleiche zu den Kampfjägern der Glatthäutigen, die behaupteten, aus der Nachbargalaxis zu stammen. Terraner. So nannten sie sich. Sie hatten die Galoaner auf ihre Seite gezogen und waren dann mit zunächst unbekanntem Ziel aus dem Wanar-System verschwunden. Bis man hier im Bulk/Balk-System wieder auf sie gestoßen war. Priff Dozz erinnerte sich ungern, daß er es gewesen war, der die Spur zu ihnen wiedergefunden hatte. Die Umstände waren alles andere als erfreulich gewesen... Der Zylinder war zugänglich. An seinem abgeplatteten Ende befand sich eine ausgefahrene Rampe, durch die man ins Innere gelangen konnte. Die Tür am Ende der Rampe war
unverschlossen. Priff Dozz stieg die Rampe hinauf. Um das Innere des Zylinders zu betreten, mußte er sich nicht einmal bücken. Eine Zwischendecke in bequemer Höhe verriet, daß es noch ein zweites Deck gab. Die Vorkammer, in die er gelangte, war zweifelsfrei eine Luftschleuse. Ein Bodenfahrzeug brauchte so etwas nicht. Also doch ein... Flugzeug, das die Schienen nur benutzte, um aus dem Bauch der Erde an die Oberfläche zu gelangen? Womöglich ein raumtüchtiges Flugzeug? Hinter der Schleuse, die durch einfache Sensorberührung passierbar wurde, erwartete ihn ein viereckiger Raum mit mehreren Sitzreihen. Beim Betreten des Raumes wurde ein Hologramm aktiviert, das die Umgebung des Zylinders wiedergab. Zu jedem Sitz gehörte eine Art Terminal. Das Entdeckerfieber trieb Priff Dozz sofort zu einem der Sitze, die frontal zur Bildprojektion angebracht waren. Er ließ sich darin nieder. Der Sitz paßte sich selbsttätig optimal der Körperkontur an. Und eine Stimme in Dozz' Kopf fragte: Wie lauten die Befehle? * Auf dem ganzen Weg zurück zur Halle der Holoaggregate hatte Priff Dozz das Gefühl, zu schweben. Er wußte nicht, wohin mit seinen Gedanken und Gefühlen, mit seiner Euphorie. Leichte Ernüchterung packte ihn erst, als er aus dem vorgegaukelten Gebilde hinaustrat und jenseits des Prallfeldes keinen seiner Begleiter mehr entdeckte. Er passierte die Barriere mit Hilfe des tadellos arbeitenden
Neutralisators und rief nach Rakk Nokk. Weder der ranghöchste Offizier noch ein anderer Nomade gaben Antwort. Sie waren verschwunden. Priff Dozz nahm an, daß sie sein eigenes Verschwinden zum Anlaß genommen hatten, den Rückweg anzutreten. Wahrscheinlich erstatteten sie Pakk Raff bereits Bericht... Pakk Raff. Priff Dozz spürte den alten Haß auf den Rudelführer, der ihm schon soviel angetan hatte, in sich erwachen. Eine Weile harrte er noch im Gewölbe aus, das seinen Zauber verloren hatte, seit klar war, daß allenthalben mit Tricks und Projektionen gearbeitet wurde. Nur wenige Aggregate hatten sich als real erwiesen. Zumindest in Bodennähe. Möglicherweise war aber auch ihre Höhe nur vorgetäuscht, hatten die unbekannten Erbauer Hologramme auf sie drauf gepfropft... Schließlich kehrte auch Priff Dozz diesem Ort den Rücken, machte sich auf den Weg zurück. Er wußte nicht, was er tun würde, haderte mit sich selbst. Öfter als an Pakk Raff dachte er an Bidd Nobb. Machte es Sinn, mit ihr zu sprechen? Machte es Sinn, mit ihr noch einmal von vorn anzufangen...? * Die Wand, gegen die ihr Kopf lehnte, war hart; der Boden, auf dem sie saß, war hart. Bidd Nobb verfluchte ihr Schicksal. Sie hatte zu schlafen versucht, aber es gelang ihr nicht. Niemand konnte hier unten ungestört schlafen. Immer wurde irgendwo diskutiert, gestritten, gerangelt. Bidd Nobb gehörte zu den wenigen Frauen, die die
Katastrophe im Raum überlebt hatten. Schon während der Schlacht, als weite Bereiche des Flaggschiffs abgesprengt worden waren, um den Rettungskubus manövrierfähig zu machen, war das Gros der Besatzung ums Leben gekommen. Bidd Nobb glaubte nicht, daß nur sie und Pakk Raffs Gefährtinnen als einzige von allen Frauen zufällig überlebt hatten. Und die überlebenden Männer glaubten dies auch nicht. Sie witterten ein Komplott. Aber keiner wagte es, so etwas offen zu äußern. Pakk Raffs Grausamkeit war gefürchtet wie seine Stärke. Eigentlich müßte ich guter Dinge sein, dachte Bidd Nobb hinter geschlossenen Augen. Ich war noch nie so begehrt wie in diesen Tagen. Männer, die sie früher keines Blickes gewürdigt oder sich über ihre Häßlichkeit amüsiert hatten, umstreunten sie plötzlich, als wäre sie der Inbegriff einer Frau. Pah! Verblüffenderweise hatte sie festgestellt, daß keiner dieser Männer sie wirklich interessierte. Und jetzt, da Rakk Nokk ohne Priff zurückgekehrt war, mußte sie sich eingestehen, daß sie auch vor Sorge um ihn keinen Schlaf fand. Wie absurd. Wie... Sie riß die Augen auf. Der Mund wollte folgen und denjenigen, der es gewagt hatte, ihr etwas gegen die Brust zu werfen, vor aller Ohren niederbrüllen. Doch dann hörte sie einen Ton, den sie kannte. Ein kehliger Laut, dann eine flüsternde Stimme, die befahl: »Komm her! Aber unauffällig!« Sie zögerte nicht. Eine unsagbare Erleichterung trieb sie dorthin, woher die Flüsterstimme gekommen war. »Priff! Rakk Nokk sagte...« »Vergiß Rakk Nokk«, gab ihr erschöpft wirkender Mann
leise zurück. »Du wirst mich jetzt begleiten. Wir dürfen keine Zeit verlieren.« »Begleiten? Wohin?« »Ich habe etwas entdeckt, von dem weder Rakk Nokk noch unser allseits geschätzter«, er zog scharf den Atem ein, »oberster Rudelführer etwas ahnen.« »Was?« Er berichtete von seinem Fund. Bidd Nobbs Augen leuchteten auf. »Ein Raumschiff? Und du bist sicher, daß du es starten kannst?« »Ich habe Stunden mit dem Studium der Kontrollen verbracht. Ich habe sogar«, er seufzte, als könnte er sein Glück selbst kaum glauben, »einen Probelauf der wichtigsten Elemente durchgeführt. Alles verlief reibungslos. Der Clou ist, daß das Schiff mit mir kommuniziert hat. Ich mußte mich nicht einmal großartig in die Technik hineindenken. Es...« »Kommuniziert?« »Telepathisch«, erklärte er. »Keine Sprachbarriere, du verstehst?« Sie verstand. Sie bildete es sich zumindest ein. Doch sie war bestürzt, als sie realisierte, warum ihr Gefährte heimlich Kontakt zu ihr aufgenommen hatte. Bestürzt und... geschmeichelt in einem. Aber die Betroffenheit überwog. »Das können wir nicht tun«, sagte sie. »Ich will dir nicht zu nahe treten, wirklich nicht, aber wie stellst du dir unsere Zukunft – deine Zukunft – nach einem solchem Verrat vor? Du und ich, wir sind beide weder von der Natur noch vom Schicksal in irgendeiner Weise begünstigt, daran wird sich nie etwas ändern. Wohin sollten wir gehen, selbst wenn uns die Flucht von Owid glückt? Wir wären für immer Ausgestoßene, würden nirgends mehr Frieden finden.« Sie machte eine kurze Pause, um sich umzuschauen und zu vergewissern, daß
niemand auf sie aufmerksam geworden war. Die Stimme noch mehr gesenkt, fuhr sie fort: »Ich weiß nicht, was du auf dem Flaggschiff getrieben hast, wenn du manchmal lange, sehr lange, verschwunden warst. Aber ich habe mir meine Gedanken gemacht. Ich traue dir zu, daß du... nun, daß du unzufrieden mit deiner Situation und Position warst... bist... und daß du dich vielleicht mit Gleichgesinnten getroffen hast...« Am Entgleisen seiner Gesichtszüge erkannte sie, daß sie ins Schwarze getroffen hatte. Aber darum ging es ihr gar nicht. »Hast du dir jemals die Frage gestellt, was du ohne Pakk Raff wärst?« In seinen Blick schob sich Starrsinn. »Er ist ein Schinder. Ich wäre frei ohne ihn.« »Wie lange?« »Was meinst du?« »Glaubst du, du könntest dich nur einen Tag lang oben halten, ohne von einem Despoten wie Pakk Raff protegiert zu werden?« »Es wird die Zeit kommen, da nicht allein körperliche Stärke über Ansehen entscheidet, sondern auch –« »Klugheit?« Sie schüttelte den Kopf. »Du müßtest die Mentalität unseres Volkes besser kennen. Wir beide werden den Tag, von dem du träumst, nicht mehr erleben.« Sie erwartete, daß er aufbrausend auf die Zerstörung seiner Hoffnungen reagieren würde. Aber das Gegenteil war der Fall. Er wirkte ganz ruhig. Schließlich sagte er: »In einem Punkt hast du wahrscheinlich recht.« »In welchem?« »Daß jetzt, hier und heute, noch nicht der richtige Moment ist, einen Alleingang zu wagen.« Sie hatte ein Gefühl, als würde sich ein Ring um ihr Herz lösen. »Du sprichst mit ihm?« »Ja«, sagte er. »Ich spreche mit ihm. Aber...«
»Aber?« »Ich verzichte auf die mit ihm ausgehandelte Prämie.« Sie verstand nicht, was er meinte. Aber das war auch nicht nötig. Seine Augen lachten sie an, wie sie es noch niemals getan hatten. Alles wird gut, dachte Bidd Nobb warm. Aber niemand hätte sie fragen dürfen, wie diese absurde Wandlung in ihr zustande gekommen war. Sie hätte keine Antwort darauf gewußt. Und fast war sie überzeugt, daß es Priff Dozz nicht anders erging...
15. Pakk Raff stand wie gebannt vor dem Raumschiff der Rahim. Sein Gesicht sprach Bände. Offenbar hatte er bis zuletzt nicht wirklich geglaubt, was Priff Dozz ihm von seinem Fund berichtet hatte. Aber damit war er nicht allein. Dozz hatte alle Überlebenden des Kubus-Absturzes durch das Prallfeld geschleust. Das Raumschiff bot ausreichend Platz, um sie aufzunehmen. »Und du behauptest, die Systeme arbeiten?« fand Pakk Raff endlich wieder Worte. »Ich habe Testläufe durchgeführt.« »Wie? Wie hast du das Schiff verstanden?« Priff Dozz wiederholte geduldig, was er schon Bidd Nobb erklärt hatte: »Es gibt eine telepathische Instanz – der Bordrechner, wie ich annehme.« »Und diese... Instanz... hat dich als Autorität akzeptiert?« »Ja«, sagte Priff Dozz, und während er es erwiderte, mußte er sich eingestehen, daß dies der Punkt war, der ihm selbst Kopfzerbrechen bereitete. Überall war er auf Sicherungen gestoßen, einmal sogar auf eine Selbstzerstörungsautomatik, die wer weiß wieviel Schaden angerichtet hätte, wäre sie nicht gestoppt worden – warum also hatten die Rahim bei einem so wertvollen Objekt wie dem Schiff ganz auf Schutz vor unbefugter Inbesitznahme verzichtet? Hatten sie sich wirklich vollkommen auf das verlassen, was auf dem Weg zum Schiff an Handikaps eingerichtet worden war? »Sehr verdächtig«, kommentierte Pakk Raff. »Sollen wir wieder gehen?« konterte Priff Dozz ärgerlich. Erstaunlicherweise glitzerten die Augen des Rudelführers
amüsiert, bevor er sich der Rampe zuwandte. »Sollen die anderen noch warten, ehe sie... nun, ehe sie einsteigen?« fragte Dozz. »Warum? Hinein mit ihnen. Aber nach uns.« »Keine Sorge mehr, daß es eine Falle sein könnte?« »Ganz Owid ist eine Falle«, erwiderte Pakk Raff lakonisch. »Wer fürchtet da noch eine Falle in der Falle?« Mit diesen Worten stieg er die Rampe hinauf. Priff Dozz nickte Bidd Nobb zu, die sich im Hintergrund gehalten hatte. Er brauchte nichts zu sagen. Alle hatten Pakk Raffs Worte vernommen. Langsam wälzte sich die Menge auf die Rampe zu. Skepsis funkelte in jedem Augenpaar. Noch wollte niemand so recht glauben, daß dieses Fahrzeug sie von der Fessel des Planeten befreien würde. Einige bezweifelten sogar, daß es ein Raumschiff war... Pakk Raff hatte an einem eigenständigen Terminal neben Priff Dozz Platz genommen. »Nichts anfassen«, sagte der Berater eindringlich. »Ich kenne kaum eine Bedeutung der manuellen Steuerelemente. Besser, wenn wir alle Risiken ausschließen.« »Ich steuere das Schiff«, entschied der Rudelführer, ohne auf den Einwand einzugehen. »Du? Aber...« »Sagtest du nicht, die Bordkontrolle sei telepathisch?« »Schon...« »Dann macht es wohl keinen Unterschied, ob sie deine oder meine Gedanken liest, oder?« Priff Dozz war nicht wohl bei der Vorstellung, das von ihm entdeckte Schiff in die Hände des zu Jähzorn und Kurzschlußreaktionen neigenden Rudelführers zu legen. Allerdings fiel ihm auch kein zwingendes Argument ein, ihn davon abzuhalten. Aber es kam noch schlimmer. Trotz der unmißverständlichen Warnung beugte sich Pakk Raff plötzlich
vor und ließ seine Finger über ein Schaltfeld gleiten, das nicht einmal Priff Dozz anzufassen gewagt hatte. Augenblicklich ging ein leichter Schlag durch das Schiff. Wie ein kurzes, dumpfes Beben. Priff Dozz spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoß. »Was hast du getan? Hatte ich nicht…?« Seine Stimme versagte. Wie gelähmt wartete er auf das Einsetzen einer Tragödie, von der er selbst nicht sagen konnte, wie sie aussehen würde. Ich hätte nicht auf sie hören sollen. Ich hätte es mit ihr allein versuchen müssen... Es war müßig, mit verpaßten Chancen zu hadern. »Was regst du dich auf? Ist doch nichts passiert.« Priff Dozz antwortete nicht. Er wuchtete sich aus dem Sitz. »Wo willst du hin?« Pakk Raffs Stimme war eine Nuance schärfer, geradezu drohend geworden. »Ich will mir die Sache von draußen ansehen.« »Warum fragen wir nicht einfach das Schiff?« hielt Pakk Raff dagegen. Mitunter hatte er durchaus analytischen Verstand. Weil ich aus deiner Nähe muß – wenigstens solange, bis ich wieder atmen kann, dachte Priff Dozz, sprach es aber nicht aus. »Das werden wir auch tun«, sagte er gepreßt. »Laß mich jetzt nachschauen. Es dauert nicht lange.« Er ging einfach los. Pakk Raffs Schweigen wirkte noch bedrohlicher als sein Reden. Über die immer noch ausgefahrene Rampe stieg Priff Dozz nach draußen. Er bemerkte keine Veränderung an der äußeren Hülle, wollte sich aber einen Gesamtüberblick verschaffen und ging fast bis zum Ausgang des unterirdischen Hangars. Dort drehte er sich wieder dem Schiff zu. Wollte es tun.
Aber es war nicht mehr da. * »Was hat dieser Übergeschnappte getan?!« Priff Dozz merkte gar nicht, daß er seine Frustration laut hinausbrüllte. Er zitterte am ganzen Körper. Die Beine drohten ihm nachzugeben. Hatte sich das Schiff... aufgelöst? Oder war es transitiert? Aus dem Stand heraus? Unwahrscheinlich. Wozu dann die Schienen? Außerdem habe ich auf der Projektion den Verlauf der Gleise gesehen. Sie führen hinauf zur Oberfläche. Dort erst setzen A-Grav und Impulstriebwerk ein... Aber was war dann geschehen? Priff Dozz taumelte regelrecht auf die Stelle zu, die jetzt verwaist war. Aus dem Nichts kam ihm Pakk Raff entgegen. »Wen meinst du mit ›übergeschnappt‹?« verlangte er zu wissen. Priff Dozz blieb stehen, als wäre ihm Darrgg persönlich erschienen. Was ist nur aus mir geworden? dachte er. Warum bin ich nicht gleich daraufgekommen? »Dreh dich um«, sagte er zu Pakk Raff. »Warum sollte ich...« Er tat es. »Wo ist das Schiff?!« Priff Dozz winkte ihn mit sich. Sie überschritten die imaginäre Grenze. Vor ihnen stand der Rahim-Raumer. »Ein Tarnschirm«, sagte Priff Dozz. »Du hast, ohne es zu wollen, einen Tarnschirm aktiviert.« Pakk Raff überlegte kurz. Dann setzte er eine gewichtige Miene auf und erklärte: »Womit wohl bewiesen wäre, wer sich
besser mit dem Kahn auskennt. Ich fliege. Du darfst assistieren...« * Eine Befragung der Bordinstanz ergab, daß das Prinzip des Tarnfeldes identisch mit dem war, das den Planeten Owid dem Anschein nach hatte verschwinden lassen. Priff Dozz fand durch einen klar strukturierten Fragenkatalog auch heraus, daß ihr Schiff ein eng begrenztes Kraftfeld erzeugte, das es immun gegen die Einflüsse des planetaren Dämmfeldes machte. »Dann steht unserem Aufbruch wohl nichts mehr im Wege«, entschied Pakk Raff. »Wenn unser Schirm auf dem gleichen Prinzip beruht wie der planetenumspannende, wird man uns nicht orten können. Der Planet ist nur noch anhand seiner Gravitation feststellbar, aber seine Masse ist zigtrillionenfach größer als die unseres Schatzes hier... Ich hatte schon die Hoffnung aufgegeben. Doch nun... erst einmal weg hier. Aber eines Tages werde ich zurückkehren, das schwöre ich!« »Wozu?« fragte Priff Dozz. »Das kannst du nicht ernsthaft fragen.« »Doch.« »Mit dieser Technik...«, Pakk Raff zog die Lefzen von seinem Gebiß zurück; die Grimasse ging sogar Priff Dozz durch Mark und Bein, »... werde ich Jagd auf die Erbauer der Anlage machen, auf die Rahim. Was brauche ich diesen Ringraumer, wenn mir hier ein ungeahntes Arsenal zur Verfügung steht... Schon dieses Schiff hier dürfte Möglichkeiten in Hülle und Fülle in sich bergen, die es auszuspähen lohnt!« Er warf einen scheelen Blick hin zu Bidd Nobb und flüsterte verschwörerisch: »Du kannst übrigens davon ausgehen, daß ich mich an unsere Verabredung halte.«
Priff Dozz blickte ihn an. »Danke, sehr großzügig von dir...«
»Aber? Da kommt doch ein Aber!«
»Aber«, bestätigte Priff Dozz, »ich denke, ich verzichte.«
Allein schon der Ausdruck auf Pakk Raffs Gesicht war den
Verzicht auf die Prämie wert. »Wolltest du nicht starten?« fragte Priff Dozz. * Auf einen gedachten Befehl hin übernahm die Automatik den Startvorgang. Ein erneuter leichter Schlag zeigte an, daß die Tarnvorrichtung deaktiviert worden war. Wieso? fragte Pakk Raff mit einem scharfen Gedankenbefehl nach. Der Start kann nur bei Abschaltung sämtlicher Energieerzeuger erfolgen, kam die lakonische Antwort. Zu seinem Erstaunen war Priff Dozz in der Lage, den mentalen Dialog zu belauschen. Das erscheint widersinnig, schaltete er sich ein. Die Automatik, das Bordgehirn oder was auch immer es war, das dieses Raumschiff steuerte, hatte offenbar keine Ader für Diskussionen. Es reagierte nicht. Start! befahl der oberste Rudelführer kurz und prägnant. Start kann erst erfolgen, wenn jeder Insasse einen Sitzplatz eingenommen hat. Diesmal hörte jeder Nomade an Bord die Stimme in seinem Kopf. Die meisten zuckten zusammen und setzten sich widerspruchslos auf die in ausreichender Zahl vorhandenen Bänke. Pakk Raff mußte seinen Ruf verteidigen und blieb an der Steuerkonsole stehen. »Alle sitzen. Also los!« Unwillkürlich hatte er seine Gedanken laut ausgesprochen. Meldung fehlerhaft. Du stehst noch. Start kann erst erfolgen, wenn jeder Insasse einen Sitzplatz eingenommen hat. Diesmal hörte nur der oberste Rudelführer die Stimme in
seinem Kopf. Knurrend und mit gefletschten Zähnen trollte er sich zur vordersten Sitzgelegenheit. Priff Dozz zog unwillkürlich den Kopf zwischen die Schultern und rutsche beiseite, um seinem Gebieter mehr Platz zu lassen, als der eigentlich brauchte. Ein Abschnitt der Innenwandung verwandelte sich plötzlich in ein Fenster. Zumindest sah es für den ersten Moment so aus, doch Priff Dozz erkannte rasch, daß sich dort ein Monitor aktiviert hatte, der vorher nicht sichtbar gewesen war und dessen Natur er nicht zu ergründen vermochte. Der Schlitten mit dem Raumschiff darauf setzte sich in Bewegung. In der Wand öffnete sich eine Schleuse, hinter der ein Tunnel mit glattpolierten Wänden sichtbar wurde. Wie der Lauf einer ins Gigantische vergrößerten altertümlichen Projektilwaffe! schoß es Priff Dozz durch den Kopf. Die Außenwandung des Tunnels schloß praktisch luftdicht mit der Raumschiffshülle ab. Im Boden der Röhre war eine Vertiefung für den Schlitten eingearbeitet. Fremdartige Symbole huschten über den Bildschirm, und ein hoher, für die Ohren der Nomaden sehr angenehmer Ton erfüllte den Raum. Pakk Raff wollte sich schon wieder von seinem Sitz erheben, als ihn eine unsichtbare Riesenfaust packte und zurück in das Polster drückte. Den anderen in dem Schiff erging es ebenso. Plötzlich lastete beinahe ihr zehnfaches Körpergewicht auf den Nomaden, und sie konnten kaum noch atmen. Solche Beschleunigungskräfte waren sie nicht mehr gewohnt. Andruckneutralisatoren gehörten seit vielen Jahrtausenden zum technischen Standard. Aber nicht in diesem Schiff. Oder sie waren zwar vorhanden, aber ausgeschaltet. Urweltliches Rauschen drang durch die Schallisolierung der Hülle.
Preßluft! schoß es Priff Dozz durch den Kopf. Das Schiff wird mit Preßluft durch die Röhre getrieben und immer stärker beschleunigt. Aber wir jagen waagerecht unter dem Boden dahin! Wo soll die rasende Fahrt enden? Der Berater schätzte, daß sie eine Strecke von rund 50 Kilometern (umgerechnet, die Nomaden hatten natürlich völlig andere Maßeinheiten) mit der gleichbleibenden, zermürbenden Beschleunigung zurückgelegt hatten, als die Tortur noch größer wurde. Die unterirdische Röhre schwenkte aus der Horizontalen in die Vertikale, und die Insassen des Zylinderschiffes wurden jetzt auch mit Macht nach unten in die Sitze gepreßt. Übergangslos zeigte der Schirm ein neues Bild: Das Schiff jagte aus einem erloschenen Vulkankrater senkrecht nach oben. Owids Oberfläche fiel rasch zurück. Die extreme Beschleunigung ließ langsam nach. Im nächsten Augenblick war die Welt scheinbar verschwunden. Offenbar hatten sie den Laurinschirm, der den Planeten umgab, durchstoßen. »Tarnvorrichtung einschalten!« brüllte Pakk Raff die unsichtbare Automatik an. Diesmal folgte sie seinem Befehl. Auch Andruckneutralisatoren, künstliche Schwerkraft, Antrieb, Lebenserhaltungs- und sonstige Systeme nahmen ihre Tätigkeit auf. * An Bord der POINT OF schob Fähnrich Gomulka Dienst in der Ortungszentrale. Tino Grappa war gerade mal in die Messe verschwunden, um Kaffee zu holen. Die Borduhr zeigte 3.42 Uhr morgens an. Ein wenig verschlafen blinzelte der Fähnrich, dessen erster Flug ins All nur deshalb gleich auf dem Flaggschiff der TF stattfand, weil sein Vater über allerbeste Kontakte in Politik und Militär verfügte, auf den Monitor des
Tasters. Da war doch ein Impuls – dort, wo sich der verschwundene Planet Owid befand! Oder? Nein, denn schon verschwand der Impuls wieder vom Schirm. Gomulka schüttelte den Kopf. Er hatte die Anzeige deutlich gesehen, aber sie war gleich wieder verloschen. Sicher ein Gerätefehler, dachte sich der Fähnrich. Da kommt Grappa mit dem Kaffee. Wenn ich ihm die Sache jetzt melde, ist es vorbei mit der ruhigen Wache. Also hielt er den Mund. Wäre er nur wenig erfahrener gewesen, dann hätte er gewußt, daß Mysterious-Anlagen keine Fehlermeldungen produzierten. Entweder sie funktionierten exakt, oder sie fielen aus (was höchst selten geschah). Doch das war Gomulka nicht klar… * Kein Funkkontakt! Wenigstens diesen eindringlichen Rat von Priff Dozz beherzigte Pakk Raff beim Anflug auf Owids Nachbarplaneten. »Das Galoanerschiff und der Ringraumer befinden sich immer noch einträchtig im weiten Orbit um die versteckte Welt der Owiden«, kommentierte Dozz das Bild, das sich auf der Holoprojektion abzeichnete. »Vergiß sie. Sie haben uns nicht bemerkt«, erwiderte Pakk Raff, der in Verbindung mit der Bordkontrolle stand. »Obwohl ich gute Lust hätte, die Waffen unseres Schiffchens auszuprobieren...« »Nicht bevor wir sie getestet haben«, sah Priff Dozz sich schon wieder veranlaßt, bremsen zu müssen. »Schon gut. Ich sprach von Lust, nicht von beschlossener Sache.« Er wies auf die Planetenkugel, die sich immer dominierender aus dem umgebenden Sterngefunkel herausschälte. »Ob man uns überhaupt noch erwartet?« »Unwahrscheinlich.«
»Du weißt, was das heißt.« »Weißt du es?« »Natürlich.« Pakk Raff bleckte die Zähne. »Und auch wenn du es niemals verstehen wirst: Ich freue mich darauf!« * Nachdem Gropp Bitt sämtliche verfügbaren Kräfte für die Reparatur der Schiffe abgestellt hatte, zeichnete sich das Desaster von Stunde zu Stunde deutlicher ab. Nicht nur die Raumschlacht, mehr noch die Attacke der Insektenschwärme hatte vielerorts irreparable Schäden hinterlassen. Von der stolzen Flotte, das zeichnete sich ab, würde sich allenfalls ein Viertel je wieder aus eigener Kraft in den Raum erheben. In Zahlen ausgedrückt hieß das: zehn, zwölf Schiffe waren manövrierfähig geblieben, vielleicht eines mehr oder weniger... Gropp Bitt war Herr einer sehr kleinen Flotte. Letztlich spielte dies jedoch eine untergeordnete Rolle, wichtig war es, dem Methanplaneten und dem Gegner überhaupt erst einmal zu entrinnen! Die Meldung des Funkers kam überraschend. Eigentlich saß er nur zur Staffage vor seinem Pult. »Ich empfange eine Sendung!« »Vom Feind?« fragte Gropp Bitt. »Ein Ultimatum?« Der Offizier verneinte. »Die Quelle befindet sich auf der Oberfläche, ganz in der Nähe. Und...« »Und?« »Der Spruch erfolgte auf UKW.« »UKW?! Wie lautet er?« »Wir sollen die Schilde deaktivieren und den Hangar öffnen.« Gropp Bitt lachte heiser auf. »Sonst noch was?« »Ja«, sagte der Funker. »Der Spruch hatte einen Absender.« »Wen?«
»Pakk Raff.« * Pakk Raff manövrierte das immer noch unsichtbare RahimSchiff an Bord des neuen Flaggschiffs der Nomadenflotte. Zielsicher hatten sie den am wenigsten beschädigten Raumer angesteuert. Kurz darauf stürmte Pakk Raff wie ein Unwetter die Zentrale, Priff Dozz im Gefolge. »Wir kämpfen es aus, hier auf der Stelle!« blaffte er Gropp Bitt an, der ihm entgegentrat. »Du nennst dich neuer Rudelführer – ich fordere dich heraus!« Gropp Bitt akzeptierte stumm. Er machte die traditionelle Geste, indem er beide Handflächen in Brusthöhe gegeneinander drückte. Dann entbrannte auch schon ein Kampf ohne jede Regel. In Pakk Raff hatte sich während der Tage auf Owid soviel Frust angestaut, daß er dem von der Entwicklung völlig überraschten Gropp Bitt nicht nur körperlich, sondern auch, was die Aggressivität anging, turmhoch überlegen war. Alles ging so schnell, daß Gropp Bitt nicht einmal dazu kam, seine Bereitschaft zur Kapitulation anzuzeigen. Wie einen morschen Ast brach Pakk Raff seinem Gegner das Genick. Eine Weile hing der Körper des Besiegten noch schlaff in den Fängen des alten und neuen Rudelführers. Dann öffnete Pakk Raff die Kiefer und ließ den Toten fallen. »Status?« wandte er sich, als wäre nichts geschehen, an die übrigen Versammelten. * »Sie starten!«
»Das sehe ich.«
»Sollen wir...?« Dan Riker nickte. Der Plan für diesen Moment lag schon lange in der Schublade. »Alle Flash besetzen und ausschleusen!« Gemeinsam mit Dro Cimc, Hen Falluta und Leon Bebir verfolgte er vor der Bildkugel, wie sich ein gutes Dutzend Schiffe gleichzeitig von der Methanwelt erhob und mit solch irrwitziger Leistung beschleunigte, daß eines davon noch auseinanderbrach, bevor es dem Gravitationsfeld des Planeten überhaupt entronnen war. »Sie wenden sich uns gar nicht zu«, sagte Dro Cimc. Dan Riker schwieg. Die Flash verließen ihr Depot. Sie kamen zu spät. Unter normalen Umständen hätten sie die Fliehenden vielleicht noch eingeholt, aber der nicht namentlich bekannte neue Kommandant der Nomaden setzte alles auf eine Karte. Die Wurmlochgeneratoren der beteiligten Schiffe wurden bereits aktiv, als keines auch nur annähernd die übliche Geschwindigkeit erreicht hatte. »Rückzug!« befahl Riker. »Rückzug?« Es war Falluta, der sich nicht damit abfinden wollte. Doch auch er hatte Augen zum Sehen. Die Flotte verschwand bereits in den künstlich generierten Wurmlöchern. Das All schien farbige Blütenkelche zu bilden, in welche die Schiffe eintauchten. Dann kehrte die Schwärze zurück. Galoaner und Terraner waren wieder die einzigen Fremden im System der Owiden. Wirklich?
16. Außer den drei Kontinenten Gawa, Undo und Lark gab es auf Owid noch eine Reihe größerer und kleinerer Inseln. Larkon war eine davon. Sie lag in Küstennähe und beherbergte die Hauptstadt von Lark. Vom Festland aus war sie über eine eindrucksvolle Brückenkonstruktion zu erreichen. Larkon verfügte über einen eigenen Flugplatz und mehrere Seehäfen – für die Anlieferung von Waren und als Anlegestelle für Privatjachten. Den größten der Häfen beanspruchte die Marine für sich. Beim Landeanflug schaute Dhark aus dem Fenster, um sich ein Bild von der Stadt zu machen. Der Kern schien fast ausschließlich aus Wohnhäusern und Geschäftspassagen zu bestehen. Selbst am Stadtrand erblickte er keinen einzigen Fabrikschornstein und auch sonst keine Hinweise auf größere Industrie- und Gewerbegebiete. Vor der Brücke lag eine Artilleriestellung. Dort fand gerade eine Übung statt. Die schweren Waffen wurden zum Himmel ausgerichtet, so als rechnete man jeden Moment mit einem Anflug feindlicher Bomber. Malerische Villen in idyllischer Lage verstreuten sich über die gesamte Insel. Larks Hauptstadt war offenbar auch die Hauptstadt des Kapitals dieses Kontinents. Die sogenannte einfache Bevölkerung würde er hier sicherlich nicht antreffen, vermutete der Commander. Das größte Anwesen war zentral gelegen: ein kleines Schloß, umgeben von diversen Nebengebäuden inmitten eines ansehnlichen Parks. Mauern, Zäune und hohe Hecken schützten das Parkgelände vor Eindringlingen. Es war der Sitz des Präsidenten, wie Dhark von den beiden Agenten erfuhr. Direkt nach der Landung bestieg General Worge einen von
einem Benzinmotor getriebenen Wagen, der deutlich moderner wirkte als seine Gegenstücke auf den Straßen von Ruham, und fuhr davon. Die fünf Gefangenen mußten noch eine Weile im Flugzeug ausharren, bis sie von einem Militärbus abgeholt und zum Schloß transportiert wurden. Das Präsidentenanwesen wurde von bewaffneten Soldaten und scharfen, wolfsähnlichen Wachtieren gesichert. Erst nach einer längeren Wartezeit vor dem großen Eingangstor durfte der Bus passieren. Dhark wurde fortwährend angestarrt, von den Wachen, vom Dienstpersonal – und zu guter Letzt von Präsident Azzam, der ihn und die anderen in der Eingangshalle des Schlosses in Augenschein nahm. Ein Risiko ging der oberste Landesherr dabei nicht ein, die Halle war voller Soldaten, die ihre Gewehre auf die Gefangenen richteten, insbesondere auf den Fremden. Bisher hatte der Präsident, der in seinen geschmeidigen Bewegungen etwas feminin wirkte, noch kein Wort gesprochen. Er trug einen orangefarbenen Umhang aus Seide, einem Morgenmantel nicht unähnlich. Sein Gesicht war leicht geschminkt. Die Hände hatte er auf dem Rücken verschränkt. Ren ließ seinen Blick durch die Schloßhalle schweifen. Eine breite, mit Teppich ausgelegte Treppe führte zu einer Empore. Unterhalb der Treppe gab es eine verschlossene Stahltür, vermutlich der Zugang zum Keller. Ein prächtiger Kronleuchter hing unter der Decke. Das zerbrechlich wirkende Mobiliar hätte theoretisch aus der terranischen Rokokozeit stammen können. »Ziemlich protzig das Ganze«, sagte Dhark in seiner Heimatsprache, davon ausgehend, daß ihn außer den Korlonen eh niemand verstand. »Der feine Herr lebt nicht schlecht auf Kosten der steuerzahlenden Bevölkerung.« »Das dumme Volk braucht halt jemanden, zu dem es aufsehen kann«, vernahm er daraufhin eine ihm hinlänglich bekannte Lautsprecherstimme. »Würde ich in einer Holzhütte
leben und mich in Sackleinen hüllen, brächte man mir nicht genügend Respekt entgegen.« Präsident Azzam streckte die rechte Hand vor und zeigte dem Fremden, was er die ganze Zeit über hinter seinem Rücken verborgen hatte: den Translator. Das Gerät war wieder funktionstüchtig. »War nicht ganz leicht, herauszufinden, wozu das Ding taugt!« rief General Worge, der lässig am Geländer der Empore lehnte, zu den Gefangenen herunter. »Noch im Flugzeug widmete ich mich dieser kniffligen Aufgabe, ohne viel Hoffnung, sie ohne die Unterstützung erfahrener Techniker lösen zu können. Ein zufällig ausgeführter Handgriff schaltete das Gerät plötzlich ein, und auf einmal konnte ich eure Unterhaltung vollständig mithören.« »Die Pest soll dich holen!« schrie Cafer ihn auf Angloter an, ein Fluch, den er bei Arc Doorn aufgeschnappt hatte. Anstelle von »Pest« nannte der Translator den Allgemeinbegriff »tödliche, hochansteckende Krankheit«. »Bitte nach Ihnen, mein Lieber«, entgegnete Worge. »Falls Sie dieses Anwesen jemals wieder verlassen, dann bestimmt nicht in körperlich gesundem Zustand, darauf gebe ich Ihnen mein militärisches Ehrenwort.« »Vielleicht ist es ja gar nicht nötig, die Gefangenen zu foltern«, griff der Präsident ein. »Wenn sie kooperativ sind und uns Näheres über ihren Geheimauftrag berichten, könnte das Verhör weniger schmerzvoll verlaufen. Vor allem will ich wissen, woher sie kommen und wie es Ihnen gelungen ist, unbemerkt ins Landesinnere vorzudringen.« Er näherte sich Cafer, blickt ihm in die Augen. »Eurem Aussehen und eurem Akzent nach seid ihr Korlonen. Von welchem Kontinent stammt ihr? Die Filme in euren Kameras werden soeben im Labor entwickelt. Warum habt ihr unsere Säuberungsaktion gegen die Grünlarken fotografiert? Sollten die Aufnahmen Propagandazwecken
dienen? Wer hat euch beauftragt, Stimmung gegen die friedvollen Freistaaten von Lark zu machen? Plant euer Reich einen Angriff auf uns? Wer sind die Fremden, die ihr in unser Land eingeschmuggelt habt? Das Ergebnis eines mißglückten Experiments? Eine Geheimwaffe gegen uns?« Dhark ahnte, weshalb Azzam seinen Schwall von Fragen ausgerechnet auf Cafer niederprasseln ließ. Während ihrer Unterhaltung im Flugzeug hatte er ihn einmal unvorsichtigerweise mit »Gouverneur« angeredet. Der Präsident mußte daher annehmen, daß Cafer innerhalb der Gruppe das Sagen hatte. Azzam wandte sich Ren Dhark zu. »Wer oder was seid ihr? Verbündete der Korlonen? Wesen, die in einem Labor erschaffen wurden? General Worge berichtete mir von zwei unverletzbaren Kämpfern. Welche außergewöhnlichen Gaben besitzt du? Verspürst auch du keinen Schmerz? Wieso habt ihr alles daran gesetzt, einem einzelnen von euch, zur Flucht zu verhelfen? Was ist Besonderes an ihm?« »Er ist eine lebende Bombe«, bluffte Dhark. »Ein Spezialagent, der sich auf ein geheimes Signal hin selbst in die Luft sprengt. Sich selbst – und alles im Umkreis von einhundert Kilometern. Die beiden Unbesiegbaren hatten den Auftrag, ihn in die Hauptstadt zu bringen. Augenblicklich hält er sich ganz in der Nähe dieses Anwesens auf. Befehlen Sie, die Waffen niederzulegen und ergeben Sie sich, Präsident, sonst ist diese Inselstadt bald nur noch Geschichte!« Die Drohung verpuffte wirkungslos. Keinerlei Unruhe unter den Soldaten. Auch Worge zeigte nicht das geringste Anzeichen von Nervosität. Azzam blieb ebenfalls die Ruhe selbst. »Du lügst, Fremder«, sagte er Dhark auf den Kopf zu. »Ich spüre, daß du die Unwahrheit sagst.« Er spürt?
Ren Dhark hatte eh nur wenig Hoffnung gehabt, mit diesem tollkühnen Bluff durchzukommen. Die Bestimmtheit, mit der ihn der Präsident ohne zu zögern als Lügner enttarnte, verblüffte ihn allerdings. Wie konnte sich Azzam seiner Sache derart sicher sein? Der Commander probierte es mit der Wahrheit. »Das mit der Bombe war gelogen. In Wirklichkeit sind wir keine Agenten. Meine drei Freunde und ich stammen von einem anderen Planeten. Wir kommen aus dem All.« Auf der Erde hätte man sich über diese Auskunft köstlich amüsiert, jedenfalls Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, als der Wissensstand der Menschen damals dem der Owiden heute entsprach. Azzam verzog jedoch keine Miene. »So ist es«, sagte er nur. »Und weiter? Was wollt ihr auf unserem Planeten? Ihn erobern?« Seit der Entdeckung der Galaxis Drakhon war Ren mit den unterschiedlichsten Parakräften konfrontiert worden. War das auch jetzt der Fall? Hatte Azzam die Begabung, intuitiv zu erkennen, ob jemand log oder nicht? Erneut machte Dhark die Probe aufs Exempel. »Wir kommen in Frieden«, sagte er wahrheitsgemäß. »So ist es«, bestätigte ihm der Präsident. »Unser Planet heißt Terra.« Wieder stimmte ihm Azzam zu. »Auf Terra gibt es keine Kriege und keine Krankheiten. Wir leben in Glück und Wohlstand. Man hat uns geschickt, um euch zu zeigen, wie auch ihr ewige Freude erlangen könnt.« »Allmählich reichen mir deine Lügen, Terraner«, erwiderte Azzam ärgerlich. »Ich werde dich und deine Begleiter so lange foltern lassen, bis ich die ganze Wahrheit kenne. Ihr werdet reden – oder qualvoll sterben!« Auf einen Wink von ihm packten mehrere Soldaten die Gefangenen und führten sie durch die Tür an der Treppe ins
Schloßgewölbe. General Worge kam die Treppe herunter und nahm den Präsidenten beiseite. »Der weißhäutige Terraner ist ein schlechter Lügner«, sagte er zu ihm. »Ihn zu durchschauen war ziemlich leicht. Seine korlonischen Freunde und er verbergen etwas vor uns.« Azzam war derselben Meinung. »Sie werden die volle Wahrheit schon in Erfahrung bringen, General, gemeinsam mit unseren Folterspezialisten. Quetschen Sie alles aus den Korlonen heraus. Und was den Fremden betrifft, wird ihn unser Laborteam einer gründlichen Untersuchung unterziehen. Daß er die nicht überlebt, versteht sich wohl von selbst.« * Doorn, Sass und Oshuta durchquerten einen langen, unbeleuchteten Tunnel, der ins Innere des Berges führte. Der Japaner ging voran. Sein Cyborgsehvermögen reichte auch in dieser fast vollständigen Dunkelheit aus. Drei Terraner drangen vor in den gewaltigen unterirdischen Komplex der Rahim – und einem von ihnen kam das alles mächtig bekannt vor. Sie erreichten eine gewaltige Höhle, deren Wände in bläulichem Ton leuchteten. Das Licht, das wie im Tempel von Ruham aus der Luft selbst zu entstehen schien, brach sich in Myriaden von Kristallen. Boden, Decke und Wände funkelten in unbeschreiblicher Pracht. Überall standen riesige Aggregate. Einige ragten bis dicht unter die schimmernde Deckenfläche. Der gesamte Höhlendom war von einem lauten Summen erfüllt. Angesichts der haushohen Riesen fühlten sich die Terraner wie Zwerge, unbedeutende Insekten in den Straßenschluchten einer menschenleeren Geisterstadt. Ehrfürchtig näherte sich Doorn einem Aggregat und legte
sein Ohr daran. Es war nichts zu hören. Offensichtlich waren nicht alle Aggregate in Betrieb. Die Männer gingen weiter, folgten dem summenden Geräusch. Allmählich steigerte es sich zu einem leisen Rauschen. Kurz darauf gelangten sie auf einen großen, freien Platz. Arc starrte zur Decke, die unerreichbar erschien. »Suchen Sie etwas?« erkundigte sich Oshuta. »Ich halte Ausschau nach einer etwa einhundert Meter durchmessenden Ringröhre«, sagte Doorn mit heiserer Stimme. »Sie schwebt über dem Zentrum des leeren Platzes und hat weder Verbindung zum Boden noch zur Decke. Die Röhre strahlt intensiv blau, ihr Licht blendet jedoch nicht. Obwohl sie keinen Kratzer und kein Fünkchen Staub aufweist, schwebt sie dort bereits seit Ewigkeiten.« »Klingt, als wären sie schon mal hiergewesen«, meinte Sass. »Ich sehe jedenfalls keine Röhre.« »Ich auch nicht«, erwiderte Arc und seufzte leise. »Schade eigentlich.« Die Cyborgs blickten sich nur schulterzuckend an. Fragen stellten sie keine, denn von Doorn war sowieso meist keine Antwort zu erwarten. Ein neues Geräusch mischte sich unter das Rauschen. Es kam von irgendwoher aus den Gängen zwischen den Aggregaten und wurde immer lauter. Kurz darauf bog in einiger Entfernung etwas um die Ecke und hielt auf die drei Eindringlinge zu. Obwohl es Räder hatte, schien es mehr als nur ein Fahrzeug zu sein. Beim Näherkommen erkannte man einen metallenen Robotkörper am Vorderteil des merkwürdigen Gefährts, mitsamt Kopf und Greif armen. »Ein Kampfroboter?« murmelte Sass und stellte sich auf eine Auseinandersetzung ein. Die drei Männer traten ein Stück zur Seite. Das zum
Transport konstruierte Fahrzeug fuhr an ihnen vorüber, ohne daß der Roboter sie beachtete. Er bestand nur aus einem Oberkörper, der fest mit dem Transportgefährt verbunden war. Die Ladefläche war mit allerlei Ersatzteilen und Kanistern gefüllt. »Ihm nach!« entschied Oshuta und lief los. Sass und Doorn folgten ihm. Die Cyborgs hielten das Tempo des Transporters mit, aber Arc kam allmählich aus der Puste. Es rauschte immer stärker – oder war es nur das Rauschen in seinen Ohren? Er fühlte sich schwach auf den Beinen, immerhin lag die letzte Mahlzeit schon eine Weile zurück. Sein Magen knurrte, sein Rachen war staubtrocken. Als er sah, wie das Fahrzeug in eine Nebenhöhle einbog, ging er etwas langsamer. Oshuta lief in die Höhle hinein, Sass wartete am Eingang auf Doorn. Gemeinsam betraten Bram und Arc die Nebenhöhle – die sich zu beider Überraschung als die weitaus größere Haupthöhle entpuppte. Die Aggregate dort waren noch gewaltiger als die vorherigen. Das Rauschen ging von ihnen aus, sie arbeiteten auf Vollast. Arc vermutete, daß sie das Abschirmfeld um den Planeten erzeugten. Zahlreiche Robottransportwagen sorgten für eine fortwährende Wartung der Aggregate, wobei die Extremitäten der aufmontierten Roboter als Allzweckwerkzeuge fungierten. Einige der Fahrzeuge warteten sich auch gegenseitig. Gemächlichen Schrittes gingen die drei Terraner an den Aggregaten entlang und beobachteten beeindruckt das turbulente Treiben. Ihnen war klar, daß niemand eine so mächtige Anlage von heute auf morgen aus dem Boden stampfen konnte, auch kein Rahim. Dieser Komplex war nach und nach gewachsen, im Laufe von Jahrzehnten, vielleicht sogar Jahrhunderten.
»Jetzt fehlt nur noch der Mann am Schaltpult, der das hier alles steuert«, bemerkte Sass locker. »Wieso muß es unbedingt ein Mann sein?« fragte Oshuta augenzwinkernd. »Eine Frau wäre mir lieber, vorausgesetzt, sie ist jung, hübsch und hat attraktive Körperformen. Sie muß nicht mal unbedingt menschlich sein.« »Träumt weiter, Jungs«, warf Arc brummig ein. »Auf diesem Planeten trefft ihr höchstens eine Owidin an, und über deren Formen verlieren wir besser kein Wort.« Nach systematischer Suche stieß das Trio in der Tat auf eine Steuerungszentrale, allerdings ohne jemanden am Schaltpult. Der majestätische Computer, der unter der Erde alles in Gang hielt, beanspruchte eine Höhle für sich, weitaus kleiner als die anderen, aber immer noch groß genug, um sich darin zu verlaufen. Arc bezweifelte, daß eine Person ausreichte, um sämtliche Funktionen zu bedienen und zu kontrollieren. »Wenn ich nicht irre, stehen wir hier in der Zentrale für alle Einrichtungen der Rahim auf Owid«, schätzte Doorn. »Bis ich mir einen Überblick verschafft habe, bin ich alt und grau. Am besten, ich konzentriere mich von vornherein aufs Wesentlichste.« Ein Vorsatz, der einer Forscherseele wie ihm schwerfiel. Hier gab es nicht nur jede Menge fremde Technik zu ergründen, über den Höhlenraum verstreuten sich auch mehrere in die Wand eingelassene Tresore, die sicherlich so manches Geheimnis bargen. Was mochten sie enthalten? Uralte Schriften mit Hinweisen auf die Rahim? Arc hatte keine Zeit, sich näher damit zu befassen. Das Berechnen des Eintrittskodes und das Erkunden der unterirdischen Anlage hatten den ganzen Tag in Anspruch genommen. Arc sehnte sich nach einem Schluck Wasser, er konnte kaum noch klar denken. Die Cyborgs verkrafteten den Nahrungsentzug problemloser. Doorn war überzeugt, daß hier unten eine Kantine ähnlich
wie im Industriedom auf Deluge existierte. Aber wo? Einer der Wandtresore befand sich direkt neben dem Eingang zur Rechnerzentrale. Auch hier fand sich das übliche Reliefmuster auf der Tür. Sass hatte das System natürlich längst durchschaut, gab den Öffnungskode ein und spähte hinein. Hinter der Tresortür befand sich eine kleine Gefrierkammer, nicht tiefer als eine Armeslänge. Auf mehreren Ebenen stapelten sich tiefgefrorene, durchsichtige Beutel mit skurril aussehendem Inhalt. Manche Teile hatten Ähnlichkeit mit menschlichen Eingeweiden. »Wahrscheinlich irgendwelche Proben«, vermutete Bram Sass. »Wir werden sie auftauen und näher untersuchen, während Sie sich an den ›Schalthebeln der Macht‹ zu schaffen machen, Arc.« »Meinethalben, wenn ihr nichts Besseres zu tun habt«, krächzte der Sibirier und widmete sich seiner schwierigen Aufgabe. Der Auftauvorgang ging verhältnismäßig schnell vonstatten. Oshuta und Sass nahmen jeweils eins der Päckchen zwischen beide Hände, schalteten auf ihr Zweites System um und steigerten gezielt ihre Körperwärme in diesem Bereich. Später prüften sie die Zusammensetzung des Beutelinhalts. Die Analyse war eindeutig. »Es sind Früchte«, teilte Oshuta Doorn im Anschluß daran mit. »Früchte im eigenen Saft. Ein paar riechen etwas merkwürdig, und ihr Geschmack ist gewöhnungsbedürftig, doch wir können sie gefahrlos verspeisen. Ob sich die Rahim ausschließlich davon ernährt haben? Oder aber die Früchte waren Leckerbissen für sie, eine Art Süßigkeit.« Arc war das egal. Er nutzte die Gelegenheit, um seinen brennenden Durst zu löschen und seinen Hunger zu stillen. Anschließend stürzte er sich mit frischer Kraft in die Arbeit. Die ganze Nacht hindurch leistete er nahezu
Übermenschliches. Unablässig stellte er Berechnungen an (wobei er sich erneut der Hilfe der Cyborgs bediente), beharrlich führte er Tests durch, einige mehrfach, in Windeseile gab er Daten ein... Ein weniger begabter Wissenschaftler hätte Wochen gebraucht, um sich mit der komplizierten Anlage vertraut zu machen. Arc Doorn schaffte es dank seines phänomenalen Einfühlungsvermögens in Stunden. Endlich sah er sich in der Lage, das Abschirmfeld rund um Owid zu deaktivieren. Doch dann unterlief ihm ein Fehler... Plötzlich ertönte ein auf- und abschwellender Alarmton durch den gesamten Höhlenkomplex. Auf einem der Monitore erschienen mit einem Mal einhundert blauschimmernde Kreise, geordnet in zehn Zehnerreihen. Nacheinander verschwanden sie wieder, in stetigem Rhythmus, mit kleinen Pausen dazwischen. 99 – Pause – 98 – Pause – 97 – Pause – 96 – Pause... Hecktisch versuchte Doorn, eine festgeschraubte Blende am Schaltpult zu öffnen. Nirgendwo lag ein Werkzeug griffbereit, er stieß lediglich auf einen messerähnlichen Gegenstand, den er zum Lösen der Schrauben einsetzte. Sie saßen zu fest, die Spitze des Behelfsschraubenziehers brach ab. Sass kam Arc zu Hilfe. Er nahm die beiden schon etwas hervorstehenden Schrauben jeweils zwischen zwei Finger und drehte sie gleichzeitig heraus. Währenddessen lief Oshuta nach nebenan, um dort nach dem Rechten zu sehen. ... 62 – 61 – 60 – 59 – 58 – 57 – 56 – 55... Unter der Blende befand sich eine quadratische Öffnung von etwa 20 mal 20 Zentimetern. Doorn streckte seine Hand hinein und zog vorsichtig ein Gewirr von dünnen Drähten mit unterschiedlich gefärbten Ummantelungen heraus. »Was ist passiert?« erkundigte sich der Ladiner. Doorn zuckte mit den Schultern. »Kann ich mir nicht
erklären. Ein Schaltfehler, nehme ich an. Ich muß versehentlich einen Countdown ausgelöst haben. Wenn es mir nicht gelingt, ihn zu stoppen, dann... ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung, was dann passiert. Vielleicht sperrt man mir den Zugriff auf die Aggregate, oder die ganze Anlage explodiert.« »Heitere Aussichten«, meinte Bram Sass. Lati Oshuta kam zurück. »Die Wartungsroboter haben ihre Tätigkeit eingestellt«, berichtete er. »Sie verharren wie zu Stein erstarrt, als würden sie auf etwas warten.« ... 44 – 43 – 42 – 41 – 40 – 39... Arc Doorn prüfte die Kabel, hantierte mit flinken Fingern am Schaltpult und errechnete auf die Schnelle eine Zahlenkolonne. Letztlich ergriff er das messerähnliche Utensil und zerschnitt ein gelbes Kabel. Nichts passierte. ... 21 – 20 – 19 – 18 – 17 – 16... »Es muß noch ein zweites Kabel durchtrennt werden«, erklärte er den Cyborgs. »Entweder das rote oder das weiße. Für eine exakte Berechnung bleibt uns keine Zeit mehr, wir können nur raten. Rot oder weiß?« »Weiß«, schlug Sass vor. »Rot!« rief Oshuta. Doorn entschied sich spontan für das weiße und setzte das Messer an. ... 10 – 9 – 8... Als nur noch sieben Kreise übrig waren, änderte er seine Meinung und durchtrennte das rote Kabel.
17. Kenneth MacCormack stand an der Reling der Hangarkontrolle und starrte stumm in die Tiefe. Unter ihm lag das Verladedeck der HAMBURG, auf dem die Absetzer in ihren Bettungen ruhten. Im Gegensatz zum Arbeitsablauf im übrigen Schiff herrschte hier wimmelnde Aktivität. Der Bataillonskommandeur sah zu, wie seine Zugführer die Gardisten beschäftigten. Was da ablief, nannte sich verschärftes Training. Seit Stunden schon übten die Gruppen die Absetzmanöver. Es herrschte die übliche Geräuschkulisse bei solchen Arbeiten. Kommandos flogen hin und her, Befehle wurden erteilt. Es gab keine Zwischenfälle, keine Stockungen im Ablauf der Vorbereitungsarbeiten. Die Gardisten der Elitetruppe arbeiteten wie die Räder einer gut geölten Maschinerie miteinander. Trotz der relativen Enge zwischen den Absetzern bewegten sie sich, ohne auch nur irgendwie anzuecken. Die Zugführer überwachten alles. Sie schienen in ihrer Arbeit aufzugehen, hakten auf den ComPads einen Punkt nach dem anderen ab, nickten zufrieden oder trieben die ihnen unterstellten Männer mit wilden Flüchen an, wenn es nach ihrer Meinung nicht schnell genug ging. Unteroffizier Franticeff, der härteste Schleifer im Bataillon, war in seinem Element. Der ihm unterstellte Zug konnte scheinbar nichts recht machen. »... Himmel und Hölle, macht voran, ihr Trantüten...« »... hab' noch nie einen solchen Haufen Gehirnamputierter gesehen...« »... soll Mammi dir vielleicht das Händchen halten, Keek...?« Das war unzweifelhaft Derek Raimundson, der muskulöse und blonde Feldwebel, dem man eine große Ähnlichkeit mit Kurt Buck nachsagte.
»... verdammt, Jud, jetzt schau, was du wieder angerichtet hast...« »... ihr seid ja wirklich nur ein Haufen Trampel auf Beinen...« So schallte es immer wieder durch den Hangar. Kenneth MacCormack nickte zufrieden. Natürlich mußten die Soldaten getriezt werden, das war nun mal die vorrangige Aufgabe eines Ausbilders. Der Oberstleutnant verstand das vollkommen. Er ließ seinen Unterführern in der Beziehung völlig freie Hand; die Männer mußten funktionieren, funktionieren in jeder nur erdenklichen Situation. Sie mußten perfekt sein in der Waffenbedienung, mußten Nachrichtengeräte beherrschen, mußten die Absetzer für die Landung munitionieren und beladen und das Landefahrzeug dann auch noch selbst steuern und – sobald der Befehl dies von ihnen verlangte – auf die Oberfläche eines ihnen völlig unbekannten Planeten hinunterbringen. Jeder einzelne von ihnen. Das war es, was man von ihnen verlangte. Und vor allem hatten sie ihre Hauptaufgabe zu erfüllen: den Tod verbreiten. Trotz aller Kritik und Schimpfkanonaden der Ausbilder waren seine Gardisten die besten Soldaten, über die Terra verfügte. Sie kannten sich hervorragend mit Waffen aller Kaliber, Sprengstoffen und Taktiken aus. Sie waren besser, als er es eigentlich erwarten konnte nach der doch relativ kurzen Zeit, die sie bislang zusammen verbracht hatten. Noch waren sie nicht ganz zu einer homogenen Einheit verschweißt, aber auf dem besten Wege dazu. Natürlich... kein noch so harter Drill kam an die Wirklichkeit eines Ernstfalls heran, so sehr man sich auch bemühte. Das wußte er. Im Training erzielte man immer bessere Ergebnisse als im tatsächlichen Kampfeinsatz. Er hoffte nur, daß die Spanne zwischen Simulation und Ernstfall so gering wie möglich ausfallen
würde. Trotzdem war es ein sehr ernüchternder Gedanke, denn in einer Simulation gegen Grakos anzutreten war das eine, auf einem fremden, womöglich lebensfeindlichen Planeten, auf dem es von ihnen nur so wimmelte, auf sie zu treffen, war etwas ganz anderes. Und das, was auf sie zukam, war für alle der erste wirkliche Außeneinsatz. MacCormack stützte die Hände auf die Reling und blickte aus seiner Warte auf die 16 schwarzen Landefähren hinunter. Er konnte sich noch gut an die langen und mitunter hitzig geführten Debatten im Flottenhauptquartier anläßlich der Beschaffung der notwendigen Spezialausrüstung für die Schwarze Garde erinnern. Den Etappenhengsten und Bürokraten in Uniformen war alles zu teuer, zu aufwendig, zu ausgefallen. Was immer man ihnen auch vortrug, zunächst fand nichts ihre Zustimmung. Erst nach Marschall Bultons energischer Intervention hatte man sich bequemt, die Vorschläge wohlwollend zu betrachten und ins Detail zu gehen. Ergebnis war – unter anderem – die Beschaffung der vom Regimentskommandeur Christopher Farnham angeforderten Absetzer. Diese speziellen Raumboote konnten je einen kompletten Zug, also 40 Mann plus Zugführer, samt vollständiger Ausrüstung transportieren. Im Grunde handelte es sich um batteriebetriebene Wegwerfschiffe mit sehr beschränkter Reichweite. Um von feindlichen Kräften nicht geortet werden zu können, hatten sie keine eigenen Energieerzeuger an Bord, sondern ausschließlich Speicherbänke, waren also energetisch tot. Ihr schwacher Antrieb erlaubte ihnen auch nur eine einzige Transition über maximal acht Lichtjahre hinweg, dann waren die Konverter leer. Die Absetzer besaßen mit ihren Stummelflügeln annähernd Flugzeugform. So war es ihnen möglich, auf Welten mit einer Lufthülle ohne energetischen Einsatz der Triebwerke manövrieren und landen zu können. Auf luftleeren Planeten brachten sie schwache Antigravaggregate hinunter zur
Oberfläche. Die besaßen so wenig Leistung, daß sie den unkontrollierten Absturz nur in einen kontrollierten verwandeln konnten. Erst unmittelbar vor dem Aufprall verlangsamten sie den Sturz der Absetzer halbwegs. Und das war's dann auch. Starten konnten sie danach nicht mehr. Die Schwarze Garde mußte also unter allen Umständen die Lufthoheit über ihrem Landegebiet sichern, um den wirklich großen Fähren der HAMBURG später eine gefahrlose Landung zu ermöglichen, wenn das Mutterschiff die Truppe wieder abholen sollte... Ohne daß es ihm bewußt war, hatte sich MacCormacks Miene verdüstert. »Wenn« war das Zauberwort. Auf dieser Mission durfte es nicht zu Fehleinschätzungen oder Irrtümern kommen. Fehler konnten tödlich enden. Denn was ihnen auf diesem fremden Planeten bevorstand, würde alles andere als eine Simulation sein. Schon aus diesem Grund führte das Erste Bataillon der Schwarzen Garde schwere Waffen mit sich: mobile Pressorund Strahlgeschütze auf Schwebeplattformen und turbinengetriebene Luftkissenfahrzeuge, die allein 90 Prozent des verfügbaren Raums in den Absetzern für sich in Anspruch nahmen. Mit dieser Ausrüstung mußte es möglich sein, den Brückenkopf zu halten und auszubauen. Aber noch hatten sie die Sonne mit ihrem Planetensystem nicht erreicht... MacCormacks Gedanken kehrten von dem, was werden könnte, wieder zurück zu dem, was war, als ein Wachoffizier der Schiffsführung auftauchte. »Sir, der Kapitän bittet Sie in den Besprechungsraum. Wir haben die errechnete Position erreicht...« *
Begleitet von der unvermeidlichen GravitationsSchockwelle trat die HAMBURG wieder in die dreidimensionale Bezugswelt des Normalraumes ein. Als die sternflimmernde Kulisse des Weltraums erneut auf den normal optischen Schirmen erschien, verlangsamte sie ihre Fahrt und näherte sich mit nur 40 Prozent Licht der Nachbarsonne von System NGK 1959/07, um wenige Astronomische Einheiten von ihr entfernt die Geschwindigkeit gänzlich auf Null zu verringern. Bewegungslos schwamm der Kugelraumer im All, eingehüllt in seine Schutzschirme. In den Maschinendecks wurden die Konverter zurückgefahren, blieben jedoch in Gefechtsbereitschaft. Gefechtsbereit waren auch die Waffenstationen und Geschützbatterien der HAMBURG. Die Taktik-Suprasensoren in den jeweiligen Waffenkuppeln mit ihren hyperschnellen Ortungs- und Zielerfassungssensoren waren über den Rechnerverbund direkt zum Hauptterminal der Feuerleitzentrale geschaltet. Kein fremdes Raumschiff würde die HAMBURG überraschen, mochte es noch so schnell und nahe aus dem Hyperraum auftauchen. Für sämtliche Decks des TF-Truppentransporters herrschte Gefechtsalarm Rot. »Alle Systeme sind bereit, Käpt'n«, meldete eben der Hauptkanonier Ali Atabek von seinem leicht erhöhten Platz. »Sehr gut«, nickte der Kapitän. Sein hageres Gesicht wirkte ungerührt. »Mr. Ornelas?« »Kapitän?« »Etwas zu erkennen, das uns zum Handeln zwingen könnte?« »Negativ, Sir«, antwortete der Funk- und Ortungsspezialist, der den Rang des Zweiten Offiziers bekleidete. »Okay.« Pause. Dann wandte der Kapitän sich an die Brückenbesatzung. »Meine Herren, absolute Funkstille auf den Hyperkanälen. Nur normale Kommunikation erlaubt. Daß mir
auch ja keiner von Ihnen in der Nähe eines Hyperraumkanals hustet, niest oder einen fahren läßt. Wir wollen doch niemanden vorzeitig warnen, nicht wahr?« »Das wollen wir in gar keinem Fall«, bekräftige der Chef der Funk-Z stellvertretend für alle anderen. »Ausgezeichnet.« Er wandte sich an die wissenschaftliche Station und ließ sich mit dem Bordobservatorium verbinden. »Astronomie hier, Faso. Kapitän?« Der Astrogator blickte den Kommandanten von einem Monitor an. »Haben Sie schon die Datenkapsel entdeckt?« »Sekunde, Kapitän.« Laurence Faso sprach kurz mit einem seiner Techniker außerhalb des Erfassungsbereichs der Aufnahmeoptik, dann wandte er sich wieder an Hector Elizondo. »Wir haben sie, Sir. Sie befindet sich exakt an der ordnungsgemäßen Position in der nördlichen Verlängerung der Polachse der Sonne.« Der Kommandant schürzte die Lippen, ließ den heißen, schwarzen Kaffee im Thermosbecher kreisen, trank einen Schluck. Dann wandte er sich an seinen Ersten. »Mr. Shiro, bringen Sie uns in Reichweite der Kapsel!« »Aye, Sir!« Die HAMBURG beschleunigte kurz, um dann wieder abzustoppen. Eine Barkasse verließ den Bootshangar und brachte den mit einem schwachen Peilsender ausgestatteten Datenträger auf. Das ganze Intermezzo dauerte nicht länger als dreißig Minuten, wie Elizondo mit unterschwelliger Genugtuung durch einen Blick auf sein Chrono feststellte. »Wurde unser Manöver beobachtet?« wandte er sich an seinen Zweiten Offizier. »Negativ, Kapitän.« »Gut. Haben Sie den Datentransfer schon eingeleitet?« Jack Ornelas hob die zur Faust geballte Rechte und streckte
den Daumen nach oben. »Alles im Kasten«, versicherte er. »In Ordnung. Sehen wir uns die Sache mal an. – Mr. Karlich!« »Sir?« »Bitten Sie unsere Gäste in den Konferenzraum. Die gespeicherten Daten betreffen schließlich deren Job.« * Die Offiziere der Schwarzen Garde gingen den zentralen Ringkorridor entlang und betraten den Besprechungsraum direkt neben der Brücke der HAMBURG. Sie nahmen in den halbkreisförmig um den Konferenztisch angeordneten Gliedersesseln Platz. Hector Elizondo kam unverzüglich zur Sache. »Meine Herren, wir haben den Flugdatenspeicher der Sonde, der auf die Datenkapsel überspielt wurde, ehe sie ihren Weg im Nirgendwo zwischen den Sternen wieder aufnahm, exakt an der vorausberechneten Stelle vorgefunden und ihn geborgen. Unsere Funk-Z hat die Daten aufbereitet – und hier sind sie.« Kenneth MacCormack hob die Hand. »Haben Sie schon einen Blick darauf geworfen?« setzte er an. »Natürlich nicht«, sagte Hector Elizondo mit einem verweisenden Blick. Er schnippte mit den Fingern. »Mr. Ornelas, lassen Sie uns mal sehen, was die Sonde über das Zielobjekt zu berichten hat!« Im bislang transparenten Holo an der Stirnwand des Konferenzraumes materialisierte die sternenübersäte Schwärze des Weltraums. Das Holo zeigte die Kulisse, vor der die nächsten Tage – oder Wochen? – der Schwarze Garde ablaufen würden. Schimmernd. Drohend. Geheimnisvoll. Innerhalb des Holos entfaltete sich ein virtuelles Fenster und
schob sich in den Vordergrund: Der Blickwinkel, wie ihn die Flugwegoptik des Suprasensors der Sonde sah. Ein steter Strom eintreffender Daten rollte am linken Blickrand nach oben weg. Dann erzeugte der Suprasensor eine einzige, fensterfüllende Zeile. KONTAKT. Sofort änderte die Sonde ihre Position. MacCormack war mit der Besonderheit dieser vollautomatischen Sonden vertraut, die seit kurzem überall in der Galaxis nach der Heimatwelt der Schatten suchten. Daß sie dazu in der Lage waren, verdankten sie dem Genie Robert Saams, der einen Sensor für das ganz spezielle Hyperraumfeld entwickelt hatte, das alle Grakos sowie ihre Stationen und Basen umgab. Die Miniraumschiffe waren auch in der Lage, Energiesignaturen von Schattenschiffen aufzuspüren, die sich mit dem gleichen Hyperraumfeld schützten... Der Datentransfer schwoll an. Ein besonders heller Stern wurde von der Optik im Zentrum des Fensters zentriert. MacCormack fixierte mit verkniffenen Augen das Bild der Sonne. »Kann man das vergrößern?« wollte er wissen. »Ist schon«, wurde ihm von Ornelas lapidar beschieden. »Der Suprasensor der Sonde geht automatisch auf maximale Vergrößerung.« Die visuelle Darstellung der noch fernen Sonne änderte sich mit jeder verstreichenden Sekunde, der sich die Sonde dem Stern näherte. »Ist das...«, setzte Clayton Asprin an. »NGK 1959/07, richtig«, beantwortete Jack Ornelas seine Frage. »Eine namenlose Sonne?« Die Nummer Zwei der HAMBURG hob die Schultern. »Was soll ich machen! Sie wird im NEUEN
GALAKTISCHEN KATALOG nur unter dieser Nummer geführt.« Für einen Augenblick flackerte das Bild, zerstob zu Pixeln, und das Holo zeigte nur Moire: Die Sonde war in den Hyperraum eingetreten. Als sie Bruchteile von Sekunden später wieder im Normalkontinuum erschien, hatte sich das Bild verändert. Fünf Planeten lösten sich aus dem sternenerfüllten Hintergrund und gesellten sich der Sonne hinzu. Den Statusanzeigen zufolge waren die zwei mondlosen inneren Welten absolut lebensfeindlich; der dritte Planet, den zwei Trabanten umkreisten, zog seine Bahn innerhalb jenes schmalen Bereichs, in dem sich Leben entwickeln konnte. Die Nummern Vier und Fünf des Systems drehten sich weit außerhalb der Ökosphäre um ihre Sonne, erstarrt unter kilometerdickem Methaneis, von dichtgestaffelten Ringen aus Eiskristallen umgeben. Die Sonde bewegte sich mit wahnwitziger Geschwindigkeit durch das System. Mit kurzen, präzisen Korrekturen richtete sie ihre Flugbahn auf den kürzestmöglichen Kurs zum dritten Planeten aus, kompromißlos, maschinenhaft, selbst wenn es bedeutete, nur wenige Meter über die Oberflächen von Asteroiden dahinzujagen. Dann schwebte der Planet unter ihr. Die Nachtseite verschmolz mit dem Hintergrund des sternenerfüllten Raumes, lediglich die scharfe Trennungslinie vom diffusen Sternenlicht zur absoluten Düsternis ließ die Planetenkrümmung erahnen; die Tagseite war eine schmale Sichel mit einem grellen Albedo: das Licht der Sonne, das von der Oberseite einer dichten, allseits geschlossenen Wolkendecke zurückgeworfen wurde wie von einem Spiegel. Die Sonde steuerte sich in eine niedrige Umlaufbahn. Schnell näherte sie sich dem Terminator in Richtung Tag. Das kleine Gefährt umkreiste den Planeten mehrmals, und seine miniaturisierten Detektoren drangen durch die
geschlossene Wolkendecke. Darunter registrierten sie eine Oberfläche ohne Berge, Schluchten oder Täler. Es war eine Welt der sanften Hügel und weiten Ebenen; bewachsen mit einer niedrigen Vegetation, die von Orkanen gebeutelt, von Gewittern gezaust und von kräftigen Regenfällen niedergedrückt wurde. Eine Welt ohne Höhen und Tiefen. Dunkel. Düster. Eine Schattenwelt. Eindeutig. Dafür sprach auch die permanente Wolkendecke, vermutlich künstlich erzeugt, unter der ein feuchtheißes Klima herrschte. Weiteres Indiz für einen Planeten der Grakos, wie sich inzwischen herausgestellt hatte. Fehlte nur noch... Im Hyperraumsensor der Suchdrohne waren die Informationen verankert, die sie befähigte, Schattenaktivitäten aufzuspüren. Als der Sensor die höchstmögliche Konzentration an Hyperraumaktivitäten auf der Oberfläche registrierte, verharrte die Sonde über der Stelle und massierte sämtliche Ortungsmittel auf diesen Punkt, den sie in entsprechender Vergrößerung und Komprimierung in ihre Datenspeicher lud. Unter der niedrigen Wolkendecke, auf einer sanft gewellten Ebene, orteten die Detektoren inmitten von niedrigen Hügel, die eine Art weitläufige Umfriedung bildeten, ein Hyperraumfeld erheblichen Ausmaßes. Die Sonde lud alle Informationen in den winzigen Datenspeicher der miniaturisierten Boje, machte sich mit höchstmöglicher Beschleunigung auf den Weg und setzte den Datenträger im Nachbarsystem aus. Sie schickte eine nur Sekundenbruchteile dauernde Nachricht über einen extrem gebündelten To-Funkstrahl auf den Weg zur nächsten Empfangsstation, um die Koordinaten der Boje an Cent Field
zu übermitteln. Dann nahm sie erneut Fahrt auf und verlor sich im Nirgendwo zwischen den Sternen, um ihre permanente Suche fortzusetzen... Die Übertragung endete. Jemand stieß geräuschvoll den Atem aus. Schließlich sagte MacCormack: »Die Daten sind eindeutig. Es gibt auf diesem Planeten also mindestens einen Außenposten der Schatten.« »Den Sie erkunden und einnehmen sollen. Keine leichte Aufgabe.« Der Kapitän der HAMBURG sagte es ohne jede Wertung. Kenneth MacCormack nickte. »Das werden wir – und es ist in der Tat sicher keine leichte Aufgabe, wie Sie richtig bemerkten.« »Die Atmosphäre auf der Oberfläche liegt so ziemlich am unteren Grenzwert, wie die Datenauswertung ergab«, sagte Barry Karlich, der neben seiner Funktion als Dritter Offizier noch als Exobiologe fungierte. »Wenig auf der Sauerstoffseite, dafür aber jede Menge Kohlendioxid und ein paar andere schädliche Gase. Der Regen dürfte leicht basisch sein. Wer sich dem längere Zeit ungeschützt aussetzt, kriegt 'ne ziemlich runzlige Haut.« Niemand lachte. Oberstleutnant MacCormack stand auf und stieß mit den Kniekehlen den Sessel zurück. »Machen wir uns an die Arbeit«, sagte er und nickte seinen Männern zu. Geschlossen verließen sie den Konferenzraum der HAMBURG. Der Kommandant schürzte die Lippen und starrte die Tür an, als könne er durch sie hindurch die Männer der Schwarzen Garde den Korridor hinuntergehen sehen. »Ist etwas nicht in Ordnung?« erkundigte sich der Erste, als der Kapitän weiterhin schwieg, ganz eindeutig an einem Problem arbeitend.
»Wie? O nein, nein. Nichts, John. In Alamo Gordo ist man davon überzeugt, daß sie es schaffen werden. Ich persönlich würde keine Wette darauf eingehen wollen – aber ich hoffe sehr, daß ich nicht recht behalte.« * Die Gardisten des 14. Zuges nahmen ihre Plätze im vorderen Teil des Absetzers ein. Sie hockten sich in zwei Reihen gegenüber, einen schmalen Gang zwischen sich freilassend. Sofort nachdem alle an Bord und die Luken des Absetzers geschlossen waren, begannen Warnlampen zu blinkten. Kurt Buck saß zwischen Antoku Seiwa und Philippe Tourneau und umklammerte den wuchtigen Zweihandstrahler, als wäre dieser das einzige, was ihm Halt gab. Er wartete auf das, was unvermeidlich war: das Ausschleusen der Absetzer in den Weltraum. Und dann: die direkte Konfrontation mit den Grakos. Alle waren sie darauf vorbereitet worden, den Schatten, den Aliens zu begegnen. Aber das alles waren bislang Simulationen gewesen. Nun erst würde es ernst werden! Buck konnte seine Nervosität nicht leugnen; aber er konnte auch nichts dagegen tun. Aus irgendeinem Grund dachte er plötzlich an den Einsatz in Algier und die leidvollen Erfahrungen, die er dabei gemacht hatte. (siehe Sonderband 12: »Die Schwarze Garde«) Noch immer litt er deswegen unter Alpträumen. Er schaute auf die anderen und sah, daß auch sie sich angespannt bewegten und ihr Gelächter, ihre Wortwechsel mitunter sehr aufgesetzt wirkten. Nur Jake Calhoun schien tatsächlich aufgekratzt zu sein. Der Texaner, dessen einzige Sorge seinem Cowboyhut galt, den er bei Kampfeinsätzen nicht mitführen durfte, konnte es scheinbar nicht erwarten, zum Zuge zu
kommen; ständig überprüfte er seine Ausrüstung. Der ultrastarke, leichtgewichtige Kampfanzug mit dem eingebauten Prallschirm und den Zusatzpacks ließ ihn noch wuchtiger erscheinen als er sowieso schon war. Ein Hupsignal ertönte und riß Buck aus seinen Gedanken. Über dem Durchgang zum offenen Pilotenraum pulsierte eine Leuchtschrift. Massive Rückhaltevorrichtungen klappten wie Stahlkäfige aus der Wand, legten sich vor die Körper der Soldaten und rasteten zwischen ihnen ein. Feldwebel Jannis Kaunas, der den 14. Zug der Schwarzen Garde führte, hockte auf seinem Platz unmittelbar hinter dem Piloten, ruhig und besonnen, Zuversicht verbreitend. Die A-Gravaggregate sprangen an. Die Halteklammern zogen sich knallend zurück, und der Absetzer hob sich einen halben Meter über den Hallenboden. Das Schleusentor der HAMBURG öffnete sich – und nacheinander verließen die 16 Absetzer den großen Transporter, schwebten durch das multivariable Prallfeld, das den Verlust der Schiffsatmosphäre verhinderte, hinaus in den Weltraum. Manch einer der Gardisten schluckte, als sie das künstliche Schwerefeld des 400-m-Riesen hinter sich ließen und der Suprasensor mit einer winzigen Verzögerung auf das eigene umschaltete. Aufatmend sank Kurt Buck wieder in die Rückhaltevorrichtung, während der Absetzer sich auf seine Position zur Kurztransition begab. * In der Schleuse der HAMBURG sahen MacCormack und Oberleutnant Ulysses Gerado zu, wie die letzten Absetzeinheiten bemannt wurden. Die Luken schlossen sich, und wieder verließ ein Absetzer
den Schleusenraum. Der vierzehnte. Kenneth MacCormack sah auf sein Chrono: 13:21 Uhr. Datum: 30. Januar 2058. Es würde ein rascher, waghalsiger Einsatz werden. Das 1. Bataillon würde mit den Absetzern die einzig mögliche Transition zu dem nur rund siebeneinhalb Lichtjahre entfernten System NGK 1959/07 durchführen und auf dem dritten Planeten landen, möglichst in der Nähe der Hyperraumkuppel der Schatten. Sie würden eindringen, den Energieerzeugungskomplex, der den Schirm speiste, verminen und in die Luft jagen, bevor die Grakos überhaupt merkten, was da ablief. Er hoffte nur, daß alles ohne größere Verluste über die Bühne ging. Sie würden... »Wir müssen los, Sir!« Die Stimme des Chefs der vierten Kompanie riß MacCormack aus seinen Gedanken. Er nickte, sah seinen Kompaniechef an. »Gehen wir, Mr. Gerado.« Exakt um 13.30 Uhr fiel die Landeeinheit mit den Insignien des Ersten Bataillons auf den Flanken aus dem Bauch des Truppentransporters in den Weltraum hinaus. Sie nahm ihre Position an der Spitze der Formation ein. Und kurz darauf war der Raum um die HAMBURG leer. Alle 16 Absetzer hatten gleichzeitig beschleunigt und innerhalb weniger Minuten nach dem Start bereits eine Geschwindigkeit erreicht, die für eine Transition ausreichte – und sie beschleunigten noch immer, ungeachtet der Tatsache, daß sie mit den verbleibenden Energien in den Speicherbänken nicht einmal mehr einen schwachen Unterlichtflug würden bewältigen können. Mit einem letzten Energiestoß, der die Speicher bis auf den Grund entleerte, schoben sie sich in jenes Medium, das sich Hyperraum nannte. Die Operation »Sonne
ohne Namen« nahm ihren Anfang.
18. Der Sprung war unspektakulär verlaufen. In der gleichen perfekten Formation, mit der sie in den Hyperraum eingetreten waren, erschienen die 16 Absetzer über der Zielwelt wieder im Normalkontinuum. Für die Soldaten des 1. Bataillons in ihren Raumbooten dauerte der ganze Vorgang nicht länger als einen Augenblick, ohne Erinnerung daran, wo sie sich während dieses kurzen Moments aufgehalten hatten. Den Suprasensor an Bord quälten keine solche Gedanken; er funktionierte einfach. Er wachte über diese winzige, metallene Muschel mit ihrer schwachen, weil humanoiden Besatzung. Seine permanente Wachsamkeit manifestierte sich in Sensoren, die dauernd jeden Stromkreis und jedes Pulsen von Energie überprüften. Und er folgte den genau umrissenen Befehlen, die in seiner Matrix niedergeschrieben lagen... Gleichzeitig mit dem Übertritt drosselte der Rechner den Energieverbrauch auf ein Minimum; die Lebenserhaltungssysteme liefen auf Sparmodus. Auch die Schwerkrafterzeuger stellten ihren Dienst ein. Plötzlich waren alle gewichtslos, Beine und Hände begannen in der Schwerelosigkeit zu schweben, aber die Rückhaltekäfige hielten die Männer in ihren Sitzen fest. Kurt Buck schluckte mehrmals kräftig, um seinen Mageninhalt drunten zu behalten, und holte ein paar Mal durch die Nase tief Luft. Nun machte sich die Ausbildung bezahlt. Wie oft hatten die jungen Männer die Übungen in der Schwerelosigkeit verflucht. Doch »Raumkrankheit« war für keinen von ihnen noch ein Thema. Jake Calhoun grinste begeistert und konnte es nicht erwarten, auf die Oberfläche zu kommen. »Jetzt geht's richtig los!« sagte er aufgekratzt und überprüfte schon wieder seine
Ausrüstung und Waffen. Wie eine Schar schwarzer, stummer Vögel fielen die Absetzer auf die namenlose Welt hinab. Die von der atmosphärischen Reibung verursachte Bremsverzögerung drückte die Gardisten mit Macht gegen ihre Halterungen. Jannis Kaunas warf einen Blick auf seinen Chrono: 13.27 Uhr Standardzeit. Datum: noch immer der 30. Januar 2058. Der Feldwebel hatte eine CompMap auf den Schenkeln und überprüfte die Einsatzpläne ein letztes Mal; dann markierte er die einzelnen Abschnitte mit einem elektronischen Griffel und überspielte die Datensequenzen in die Taktikdisplays seiner Männer. Vorne im Cockpit studierte der Pilot, Korporal Gantzier, Meßwerte und bediente Schalter. Kaunas setzte sich mit dem Piloten in Verbindung. »Wie lange noch, Nick?« erkundigte er sich. Der Pilot sah auf sein Display. »Mit etwas Glück vielleicht dreißig Minuten.« »Und wenn wir das nicht haben? Glück, meine ich!« Der Pilot zuckte die Schultern. »Wir müssen die Atmosphäre flach anfliegen, damit wir kein zu großes Feuerwerk veranstalten«, sagte er. »Wenn wir etwas falsch machen, sieht man uns über den halben Planeten anfliegen. Wollen wir das?« »Das wollen wir natürlich ganz und gar nicht«, versetzte Kaunas. Gantzier grunzte zustimmend. Je niedriger sie jetzt kamen, um so stärker setzte die Bremsverzögerung ein. Niemand sprach im Mannschaftsraum, während der Absetzer auf den Planeten zustürzte. Der Pilot beobachtete die Flugwegdarstellung. Kaunas beugte sich halb zu ihm hinüber. »Ob die Grakos
unsere Transition mitbekommen haben?« »Kannst darauf wetten. Unsere Passivortung hat jede Menge Aktivitäten an der Stelle angemessen, wo die Station der Grakos unter dem Hyperraumfeld liegen soll. Vermutlich herrscht 'ne gehörige Aufregung dort unten, denk ich mal. Sie wissen nämlich nicht, ob da jetzt wirklich was kommt oder nicht, da wir energetisch nicht mehr für sie vorhanden sind. Und das werden wir auch bleiben.« Der Feldwebel beobachtete weiter durch das Kanzelfenster; in einem Winkel von fünfundvierzig Grad stürzte Absetzer Nummer 14 im Pulk der anderen auf die Planetenoberfläche hinab und tangierte dabei den Terminator in Richtung Nacht. Gleich darauf flogen sie in völliger Dunkelheit. Am Ende ihrer Abstiegsparabel würden sie wieder in den anbrechenden Tag hineinfliegen. Wie geplant. »Achtung«, sagte Nick Gantzier. »Es wird gleich etwas holprig werden.« Der Absetzer tauchte in die dichteren Schichten der Lufthülle des Planeten ein. Die Atmosphäre war unruhig. Erste Turbulenzen begannen. Das Einwegboot flog durch heftige Luftströmungen, stieß und bockte. Die rudimentären Tragflächen dienten mehr der Lagesteuerung, als daß sie zu wirklichem Atmosphärenflug taugten. Vorne im Cockpit fuhr Gantzier zusätzliche Stabilisatoren zur Auftriebserzeugung aus; der Flug wurde etwas ruhiger. Gantziers Stimme ertönte kühl und beherrscht über das Intern-Kom. »Zielgebiet wird in fünf Minuten erreicht.« Kurt Buck und seine Kameraden befreiten sich von den schweren Rückhaltevorrichtungen, schoben die Schutzkäfige hoch, bis sie hörbar in den Klammern arretierten. Jetzt hielt sie nur noch das Kampfgurtzeug auf den Plätzen. Jannis Kaunas fand, daß es Zeit war für ein paar
aufmunternde Worte. »Wir sind gleich da, Männer«, sprach er in sein Mikrophon. »Sobald diese Eierkiste auf dem Boden ist, gehen wir vor wie besprochen. Ihr kennt euren Einsatzplan, okay? Buck, Sie übernehmen die 1. Gruppe und sichern den Landeplatz, Seiwa und Tourneau, Sie übernehmen Gruppen Zwo und Drei und decken die Flanken. Die übrigen bringen die Ausrüstung nach draußen. Capito?« Die Bestätigungen erfolgten unverzüglich. »Noch etwas: Wer auch nur mit den Fingern in die Nähe seines To-Funkgeräts kommt, den kastriere ich eigenhändig.« Er klinkte sich grinsend aus der Kom-Verbindung aus, ehe das Gejohle und die anzüglichen Kommentare zu ihm durchschlagen konnten. Erneut ließ sich der Pilot vernehmen. »Sind gleich unten. Macht euch fertig.« Zum letzten Mal kontrollierten die Männer pedantisch genau alle Verschlüsse der ultraleichten Körperpanzer, checkten ihre Ausrüstung und, obwohl sie sie seit der letzten Prüfung nicht benutzt hatten, auch ihre Waffen. Kurt Buck warf einen Blick auf seine Kameraden. Sie nickten, waren bereit, fieberten dem Augenblick des Ausstiegs entgegen. Die Gesichter wirkten angespannt, aber ruhig. Eine Schriftzeile glomm über dem Durchgang zur Pilotenkanzel auf. T MINUS ZWEI Sie schlossen die Helmvisiere. Stetig ging der Absetzer tiefer. Die Flughöhe betrug nicht mehr als fünfhundert Meter, dann nur noch hundert. T MINUS EINS Nick Gantzier fuhr die Luftbremsen und die Landekufen aus. Rumpelnd und polternd setzte die Fähre auf der Oberfläche
der fremden Welt auf, glitt über den Boden und kam rasch zum Stillstand. »Wir sind unten.« * Der anbrechende Tag brachte zwar keine Sonne, aber genug Helligkeit, um zu erkennen, daß die Absetzer an einer strategisch günstigen Position heruntergekommen waren. Sie standen gegen Bodensicht gedeckt in einem hügeligen Gelände mit grasähnlichem Bewuchs. Bodennahes Buschwerk bot zusätzliche Deckung, obwohl das gegen Einsicht aus der Luft nutzlos war. Ein Tarnfeld über den Absetzort zu legen verbot sich von selbst; seine energetische Struktur würde auf jedem Schattendetektor wie ein Leuchtfeuer zu sehen sein. Sofort nach der Landung wurde die Truppe angehalten, das Gelände zu sichern und Waffen und Fahrzeuge für den Angriff vorzubereiten. Jetzt, etwa vier Stunden später, waren die Sicherungsmaßnahmen abgeschlossen. Im Führungsabsetzer wandte sich MacCormack an den Fähnrich der Aufklärungseinheit. »Wie sieht's aus«, er runzelte die Stirn und blickte auf das Namensschild des jungen Mannes, »Mr. Doran? Ist noch keiner Ihrer Leute zurück?« Vor zirka zwei Stunden waren die Aufklärer mit von Benzinmotoren angetriebenen Motordrachen aufgestiegen, um die Umgebung zu erkunden und den Standort der Grakostation in Relation zu ihrem Landepunkt zu ermitteln. Noch blieb das erste Bataillon der Schwarzen Garde energetisch »stumm«. Noch hatte man kein einziges High-Tech-Gerät in Betrieb genommen, dessen elektronische Emissionen von den Detektoren der Grakos wahrgenommen werden konnten. »Nein, Sir. Ich will auch nicht mal über Kurzwelle
nachfragen, um jede mögliche Entdeckung auszuschließen.« »Sehr vernünftiger Gedanke, Fähnrich.« Der junge Offiziersanwärter nahm das Lob aus dem Mund des Bataillonskommandeurs ungerührt hin. »Ich informiere Sie umgehend, sobald die Aufklärer zurück sind.« Dreißig Minuten später schwebten die Motordrachen ein. Sie hatten die von der Suchdrohne schon entdeckte Grakostation mitsamt Raumhafen in 50 Kilometern Entfernung aufgespürt. Daß auf dem Areal auch ein Schattenschiff stand, ließ die ersten Sorgenfalten auf MacCormacks Stirn erscheinen. * Der Himmel blieb wolkenverhangen. Nichts störte den Frieden der düsteren Landschaft. Nichts, bis auf einen Zug schwarzer, metallener Käfer, der sich schnell und mit maschinenhafter Beharrlichkeit über die Ebene bewegte: turbinengetriebene Luftkissenfahrzeuge, die außer Lärm keine anderen Emissionen verbreiteten. In einer nach vorne offenen U-Formation schwebten die 16 Hover auf ihr Ziel zu. Fast das gesamte Bataillon war unterwegs – bis auf zwei Mann, die im Führungsabsetzer als Wachen zurückgeblieben waren. Es war keine exakt eingehaltene Formation, die sich da über die Oberfläche der düsteren Welt bewegte, die alsbald von den Gardisten den Namen »Spooky« bekommen hatte. Es war eine Welt, in der es fast ununterbrochen regnete. Trotzdem gab es kaum Oberflächenwasser oder Schlammpfützen; der lockere Boden war porös wie äonenaltes Tuffgestein und schluckte begierig alle Feuchtigkeit. Die Spitze des linken Schenkels hatte der Hovertransporter des 14. Zuges unter Feldwebel Kaunas inne.
Jannis Kaunas stand hinten im Fahrgastraum, funkelte seine Männer an und hielt sich dabei an einem an der Decke befindlichen Haltegriff fest, als der Transporter etwas zu schnell eine Bodenwelle nahm und alle Insassen kräftig durcheinanderschüttelte. »He, da vorne!« schrie er. »Kannst du Kuhtreiber uns nicht ein bißchen sanfter durch die Gegend kutschieren?« »Festhalten dahinten!« ließ sich die aufgekratzte Stimme Jake Calhouns vernehmen, der mit der Steuerung des Transporters wie ein Risikopilot umging. »Das ist kein Lincoln Pullman, ihr verweichlichten Fußkranken, sondern harte Realität. So fährt man in Texas, jawoll, Sir!« »Mäßigen Sie sich, Soldat«, schnarrte Kaunas, wieder in das unpersönliche »Sie« verfallend, während gleichzeitig ein Grinsen auf seinem Gesicht erschien. Sie waren noch keine fünfzehn Minuten unterwegs und hatten laut Anzeige 15 Kilometer zurückgelegt. Der Hovertransporter mit dem 14. Zug an Bord war weit vorgeprescht und hatte die anderen etwas zurückgelassen. Er fegte gerade über einen Hügelkamm und schickte sich an, den Hang hinunterzufahren, als Calhoun brutal die Lamellenschürzen des Hovers umkehrte und das Gefährt fast auf der Stelle zum Halten brachte. Gesteinsbrocken und Gras wirbelten hoch und wurden vom Wind weggetrieben. Der Fahrgastraum erbebte unter dem Bremsmanöver, und die abrupte Verzögerung ließ die Männer in ihrem Gurtzeug herumfliegen. Flüche ertönten, und über allem erklang die Stimme Calhouns, der scharf rief: »Sarge, Kontakt auf zwölf Uhr! Grakos!« Feldwebel Jannis Kaunas drängte sich in die Fahrerkabine und rutschte auf den zweiten Sitz. »Was gibt es, Soldat?« »Sehen Sie selbst.« Der Texaner deutete auf den Monitor
vor Kaunas. Der nach vorn gerichtete Bildschirm zeigte, was das ausgefahrene Kampfperiskop, eine Minikamera auf einem Peitschenmast, einfing: Bewegungen in der Düsternis des Planetentages. Kaunas brauchte keine Sekunde zum Überlegen. »Himmel«, preßte er hervor und war sich bewußt, daß jedes seiner Worte von den anderen über Helmfunk registriert wurde, »da kommt was auf uns zu...« »... und das schneller, als uns lieb ist«, zischte Jake Calhoun. Kaunas drehte an der Ballführung der Kamera. In einiger Entfernung, auf dem Grund der Senke, sah er mehrere fließende, schwarze Silhouetten, die sich auf die Terraner zubewegten, kurz verhielten und in diesem Moment des Stillstands deutlicher erkennbar wurden. Es handelte sich eindeutig um insektoide Individuen, die sich ihm da in aller Deutlichkeit präsentierten, ehe sie weiterglitten und halb in ihr unerklärliches Medium eintauchten. Glitten...? Es gab keine bessere Erklärung. Oder wie sonst bezeichnete man eine Fortbewegungsart, die nichts mit normalem Gehen, Laufen oder Springen gemein hatte? Es schien, als würden diese insektoiden Krieger mit den überproportionierten Beinen zu einem Schritt ansetzen, dabei verschwinden, um in einiger Entfernung erneut real werden. Alles spielte sich so schnell ab, daß sich einem unwillkürlich der Gedanke aufdrängte, sie besäßen eine Eigenzeit, die sich von der der Menschen grundlegend unterschied. Auswirkungen der sie schützenden Hyperfelder? Kaunas war nie in seinem Leben einem G'Loorn begegnet, und von den Ereignissen im Zentrum der Galaxis, der sogenannten Quiet Zone, hatte er nur vom Hörensagen erfahren. Deshalb wußte er auch nichts von der verblüffenden Ähnlichkeit der Grakos mit den G'Loorn. Er sah nur, daß die Grakos etwa 1,80 m großen Gottesanbeterinnen glichen.
»Verdammt!« sagte er mit Inbrunst und tastete die Kommandofrequenz ein. »Kommandant, hier spricht Feldwebel Kaunas! Schattenaktivitäten vor uns auf...«, er leierte die auf dem Schirm eingeblendeten Koordinaten herunter. »Drei große und zehn wesentlich kleinere Ameisen... äh, Schatten.« »Feldwebel Kaunas«, erklang Kenneth MacCormacks Stimme aus dem Kommandohover, der am tiefsten Punkt der U-Formation fuhr. »Wir haben Sie empfangen. Sie sind vor Ort. Säubern Sie das Terrain. Wir werden zu Ihnen aufschließen. Ende!« »Aye, Sir!« Kaunas sprang aus seinem Sitz und stürmte in den Fahrgastraum. »Ihr habt gehört, was der Kommandant befohlen hat! Bewegt eure Ärsche. Raus mit euch. Raus! Raus!« * Säubern Sie das Terrain... Das hieß im Klartext: Schießen Sie auf alles, was sich bewegt. Und vor ihnen bewegten sich die Grakos in Richtung auf sie zu. Kurt Buck holte scharf Luft. Sie waren ausgeschwärmt, sobald Kaunas sie aus dem Luftkissentransporter gescheucht hatte. Nun knieten sie, zu einer Kette auseinandergezogen, etwa zwanzig Meter vom Fahrzeug entfernt im hohen Gras und starrten angestrengt in die Landschaft. Der dunkle Wolkenmantel, der die Oberfläche von Spooky verhüllte, wurde plötzlich durchsichtiger, zeigte einen perlmuttfarbenen Schimmer, der die Sonne dahinter erahnen ließ, obwohl es nicht wesentlich heller wurde. Es überraschte Buck, wie erstaunlich gut er trotzdem sehen
konnte, nachdem sich seine Augen – unabhängig von dem im Kampfhelm eingebauten Restlichtverstärker – an die hier herrschenden Verhältnisse gewöhnt hatten. Wahrscheinlich, weil es keine Luftverschmutzung gibt, dachte er. Er erinnerte sich daran, irgendwo gelesen zu haben, daß die Atmosphäre auf der Erde in früheren Jahrhunderten ebenso klar gewesen war. Außerdem überraschte ihn die absolute Stille. Das Lauteste, was er über die Außenmikrophone hörte, war das Geräusch, mit dem sich der Wind durchs Gras bewegte. Und das der Schatten, die näher kamen und fast bis zur Unkenntlichkeit mit dem Hintergrund verschmolzen, vor dem sie sich bewegten. Ließ man sie auch nur für Bruchteile eines Moments aus den Augen, waren sie verschwunden und nur mit einer gehörigen Portion Glück wieder zu entdecken. Plötzlich breitete sich eine neue Stimmung unter den Gardisten aus. Unbehagen? Ja. Furcht? Nein. Buck hockte auf seinen Fersen und hatte die Projektilwaffe auf den Knien vor sich. Ein vollautomatischer, elektronisch gesteuerter und rückstoßfreier 10-mm-Multikarabiner aus verdichtetem Kunststoff. Nur ganze vier Kilo schwer, mit einer effektiven Reichweite von vierhundert Metern. Das Magazin faßte entweder hundert Schuß mannstoppende Munition oder einhundert Schuß panzerbrechende Explosivgeschosse. Unter dem Lauf war noch ein halbautomatischer 30-mmGranatwerfer mit einer Reichweite von dreihundert Metern angebracht. Diese Waffen gehörten zur Standardausrüstung der Transportschweber. Die Zweihandstrahler waren im Fahrzeug geblieben – sie erzeugten zu offensichtlich erkennbare energetische Emissionen. »Verdammt!« murmelte jemand auf der Kom-Frequenz,
»wo sind sie denn jetzt abgeblieben – ahhh!« Ein Schatten wuchs vor der Kampflinie auf, links von Buck, etwa fünf Schritte entfernt. Dort befand sich Philippe Tourneau. Eine schwarze Schattenlanze zuckte in Richtung des Franzosen, der sich gedankenschnell zu Boden fallen ließ. Die schwarzleuchtende Strahlbahn raste über ihn hinweg. Buck schwenkte die Mündung seines Karabiners, zog den Auslöser durch. Die Waffe stieß ein heißes Zischen aus. Die Mündungsbremse erzeugte einen ringförmigen Mini-Halo, in dessen Schein der Grako für Sekundenbruchteile deutlich zu erkennen war, ehe er wieder zu einem amorphen Schatten wurde, halb in der Wirklichkeit, halb in einem Medium verborgen, von dem man annahm, daß es sich um eine Art eigenen Hyperraum handelte. Die Geschoßgarbe aus Kurts Karabiner erwischte ihn voll. In einer Glutwelle verdampfte er. Buck schloß unwillkürlich die Augen, obwohl der NanoSuprasensor seines Kampfanzuges das Helmvisier noch vorher automatisch abblendete. »Aufpassen, Kurt!« hörte er Antoku Seiwa schreien. Im gleichen Moment ließ sich Buck fallen – und die schwarzen Strahlen rasten wirkungslos über ihn hinweg. Antoku hatte die Richtung erfaßt, riß seine Waffe herum und gab einen Feuerstoß ab. In zwanzig Metern Entfernung verging etwas in einem grellen Aufblitzen. Die thermische Reaktion, mit welcher der Grako verdampfte, brachte Gras und niedriges Buschwerk zum Verglühen. »Danke, Kumpel!« preßte Kurt zwischen den Zähnen hervor. »Klasse, Mann aus dem Reich der Sonne!« schrie Jake Calhoun neben Seiwa, und seine weißen Zahnreihen leuchteten in einem breiten Lachen hinter dem Visier. »Den hast du voll erwischt!« Jannis Kaunas brachte den dritten bewaffneten Schatten zur Strecke. Er verging mit der Energie einer Thermitladung, die
den Boden im Umkreis von mehreren Metern zu schwarzen Staub verbrannte. Jetzt feuerten die anderen wieder. Offenbar hatten nur die drei getöteten Schatten Waffen getragen, doch auch die anderen gingen unaufhaltsam gegen die Garde vor. Und Kurt sah die kleineren Schatten, die, getroffen von den Explosivgeschossen, detonieren wie kleine Bomben; sie versuchten nicht einmal zu fliehen. Schließlich schwiegen die Waffen. Es war vorbei. Die Männer spähten sichernd in alle Himmelsrichtungen, doch weitere Feindaktivitäten waren nicht zu entdecken. Während sie noch sicherten, kam das Gros der Schwarzen Garde über den nächsten Hügelkamm. Buck beteiligte sich nicht an der euphorischen, verbalen Aufarbeitung des ungleichen Kampfes, die seine Kameraden mit den Ankommenden unternahmen. Er war in nachdenkliches Schweigen versunken. Eigentlich hätte er ja zufrieden sein müssen mit dem Ausgang des ersten Scharmützels mit den Schatten auf Spooky. Und doch regte sich tief in ihm ein anderes Gefühl. Ein Gefühl, das er nicht negieren konnte, trotz aller Gefahr, die von den Grakos ausgegangen war. Er wollte es nicht wahrhaben, wollte nichts davon wissen, wollte die Existenz dieses Bildes leugnen, das er gesehen hatte, als der letzte der kleineren Schatten in einer Thermoreaktion verglühte. Dieses Bild eines – eines Kindes? * Die viel zu kurze Nacht verbrachten Dhark, Cafer, der Jäger und die beiden Agenten angekettet in einem fensterlosen Kerker. Ab und zu fühlte der Commander, wie sich etwas an seinem Körper zu schaffen machte, pelzige Tiere, die er immer
wieder mit der Hand davonjagen mußte. Er war froh, daß es in der Zelle kein Licht gab, sonst hätte ihn der Anblick des owidischen Äquivalents von Ratten womöglich zu Tode erschreckt. Gegen Morgen zerrten mehrere Männer die Gefangenen nach draußen in den Gang. Was mit seinen Begleitern geschah, bekam Dhark nicht mit. Man brachte ihn in ein Kellerlabor, entkleidete ihn und schnallte ihn auf eine Liege. Stundenlang wurde er mit Elektroschocks malträtiert. Zu Untersuchungszwecken, hieß es. In den Augen der Laborärzte war der Terraner nichts weiter als ein Versuchstier. Ab und zu kam ein hämischer Zuschauer herein: General Worge. Er hatte angeordnet, mit dem Versuchsobjekt nicht allzu zimperlich umzugehen. »Schade, daß mein Freund Xurrak jetzt nicht hier ist«, sagte er in einer Folterpause. »Er hätte seine helle Freude an diesem Spiel gehabt. Leider war er bei meiner Abreise noch nicht aus dem Wald zurück. Wenn Xurrak sich erst mal in ein Jagdwild verbissen hat, läßt er nicht locker.« Der Translator, der an einem Haken an der Wand hing, übersetzte seine Worte. Dhark erschauderte vor soviel Kaltherzigkeit. Worge betrachtete seine eigenen Artgenossen als Jagdwild und die Folter als Spiel. In diesem Augenblick erging es Ren wie seinem Freund Arc Doorn. Hätte er eine Hand freigehabt, er hätte den sadistischen Massenmörder ohne mit der Wimper zu zucken erwürgt. Um sich von den Schmerzen abzulenken, dachte Ren über die eventuellen Parakräfte des Präsidenten nach. Vermutlich verfügten alle Larken über diese Befähigung, Lüge und Wahrheit intuitiv zu unterscheiden. Aber warum hatte ihm bisher kein Rag davon erzählt? Er gab sich die Antwort selbst: Weil sie gar nichts davon wissen!
Aller Wahrscheinlichkeit nach funktionierte die Parakraft nur bei fremden Völkern von den Sternen, was bedeutete, daß sich die Owiden untereinander nach Herzenslust belügen und betrügen konnten. Sie ahnten nicht einmal etwas von ihrer Fähigkeit, denn bislang hatten sie noch nie bewußten Kontakt zu Wesen aus dem Weltall gehabt. Aus dieser Erkenntnis ergab sich folgende Frage: Wenn Lügen keinen Sinn hatte, war es dann nicht besser, dem Präsidenten die volle Wahrheit zu sagen? Ren Dhark entschied sich für ein klares Nein. Die machthungrigen Larken, die auf ihrem Kontinent nur ihre eigene Rasse als lebenswert ansahen, würden die unterirdischen Bahnlinien der Rahim zu Eroberungszwecken mißbrauchen. Außerdem würden sie versuchen, das Abschalten des planetenweiten Sperrfelds zu verhindern, um die POINT OF und andere Eingreiftruppen aus dem All von Owid fernzuhalten. Niemand könnte ihnen dann Einhalt gebieten, bald wären sie die uneingeschränkten Herrscher über ihren Planeten. Manchmal konnte Dhark die Schreie der Korlonen hören, die offenbar ganz in der Nähe mit anderen Foltermethoden verhört wurden. Worge, der bei jedem Opfer selbst mit Hand anlegte, ließ die Labortür absichtlich offenstehen, um den Terraner zu demoralisieren. Doch Ren ließ sich nicht einschüchtern, auch nicht, als der General seine bevorstehende Vivisektion ankündigte – den Eingriff am lebenden Objekt, um es anatomisch zu zerlegen. * ... 7 – 6 – 5.... Das rote Kabel bestand nur noch aus zwei voneinander getrennten Hälften, doch der Countdown lief unaufhörlich weiter.
... 4 – 3 – 2... Im letzten Moment zerschnitt Arc Doorn zusätzlich das weiße Kabel. Auch damit ließ sich der Countdown nicht aufhalten. ... 1 – 0! Der letzte Kreis verschwand. Das Alarmgeheul erlosch. Die befürchtete Explosion blieb aus. Der Zugang zu den Aggregaten wurde nicht gesperrt, der Computer funktionierte einwandfrei. Die Wartungsroboter nahmen ihre Arbeit auf, als ob nichts geschehen wäre. »Irgendwie ist es uns gelungen, den dicken Mann aus der Dschunke zu schubsen«, scherzte Oshuta, wobei er sich auf ein chinesisches Sprichwort bezog. »Unser Boot ist nicht untergegangen. Aber wie haben Sie das geschafft, Arc?« »Das würde ich auch zu gern wissen«, antwortete der Wissenschaftler perplex. »Obwohl es mir nicht gelang, den Countdown zu stoppen, ist uns nichts zugestoßen. Möglicherweise war das gar kein Alarmsignal, und es wurde lediglich ein Sirenentest durchgeführt. Oder...« Er winkte resigniert ab. »Ach was, wir haben jetzt keine Zeit, uns damit zu befassen! Von mir aus kann dieses seltsame Vorkommnis auf ewig ein Geheimnis der Mysterious bleiben, ich habe Wichtigeres zu tun.« Die Cyborgs sahen sich nur kurz an und machten ihn nicht auf seinen kleinen Versprecher aufmerksam. * Auf der POINT OF registrierte man das übergangslose Auftauchen des Planeten Owid aus dem Nichts. Die Freude verstärkte sich noch, als Doorns Stimme über Funk in der Kommandozentrale zu hören war. »Ihr Schlafmützen habt euch jetzt genug in euren
Luxuskabinen ausgeruht«, begrüßte er Dan Riker in seiner bekannt liebenswürdigen Art. »Kommt uns endlich abholen, oder wir gehen zu Fuß nach Hause!« Einen detailgetreuen Bericht durfte Dan vom mundfaulsten Mitglied der Mannschaft nicht erwarten. Daher begnügte er sich zunächst mit den genauen Landekoordinaten. Der galoanische Chefwissenschaftler Shodonn blieb an Bord der H'LAYV im All zurück. Zwar war mit einem Nomadenangriff vorerst nicht zu rechnen (Originalton eines Flashpiloten: »Die trauen sich so bald nicht mehr aus ihren Wurmlöchern!«), aber falls sie es doch wagten, erneut in diesem Teil des Alls aufzutauchen, wollte man vorbereitet sein. Diesmal schritt der Checkmaster nicht ein, als Dan Riker Kurs auf die Atmosphäre von Owid nahm. Terras berühmtester Ringraumer landete mitten in der Wildnis, in unmittelbarer Nähe des Berges, der den Eingang zur Anlage der Rahim bildete. Doorn und die beiden Cyborgs kamen an Bord. Oshuta erstattete ausführlich Bericht. Die Gefangennahme des Commanders löste Entsetzen aus. Befand er sich noch im Militärlager, oder hatte man ihn mittlerweile der Regierung überstellt? Leon Bebir hatte die Idee, die Translatoren der Galoaner anzupeilen. »Dhark hat doch einen davon bei sich, oder?« erkundigte er sich. Oshuta seufzte. Die von den Rags verursachten Kurzschlüsse hatte er bisher nicht erwähnt, was er jetzt nachholte. »Doorn hat aus den Überresten ein funktionstüchtiges Gerät zusammengelötet«, endete er. »Wo es sich augenblicklich befindet, ist unklar. General Worge hat es konfisziert.« »Wo der Translator ist, da finden wir auch Ren«, war Riker sich sicher. »Ohne das Gerät können sie ihn gar nicht verhören.« Per Funk nahm er Kontakt mit Shodonn auf, der sofort eine
Peilung veranlaßte. Die ermittelten Daten sandte er zur POINT OF. Vor dem Aufbruch nach Larkon unterrichtete Dan Riker die Mannschaft über Bordlautsprecher vom aktuellen Stand der Dinge. Er beendete seine Zusammenfassung mit dem Satz: »Hoffen wir, daß wir noch rechtzeitig kommen und daß man dem Commander nichts angetan hat.«
19. General Worge war zufrieden. Gouverneur Cafer hatte unter der Folter alles über das unterirdische Bahnsystem der Rahim verraten. Präsident Azzam wurde benachrichtigt und stieg ins Gewölbe hinab. Diesmal trug er einen eleganten Anzug. Es gehörte zu seinen Gewohnheiten, sich mehrmals am Tag umzuziehen. Worges Bericht versetzte den Präsidenten in Begeisterung. Sein Traum, sich zum absoluten Herrscher des Planeten aufzuschwingen, rückte in die Nähe der Realität. Die weitverzweigte Magnetbahn würde Larks Regierungsgewalt über Owid sichern. »Ich will den unterirdischen Bahnhof mit eigenen Augen sehen«, wies er den General an, der ihm im Kellergang gegenüberstand. »Sie werden mich hinführen, verstanden?« »Leichter gesagt als getan«, erwiderte Worge. »Man braucht einen Kode, um dort hineinzukommen, eine diffizile Kombination aus Buchstaben, Zahlen, Geheimzeichen... was weiß ich. Nur die Fremden seien in der Lage, die Chiffre zu entschlüsseln, sagt der Gouverneur.« »Dann bringen Sie den Terraner gefälligst zum Sprechen!« entgegnete Azzam ärgerlich. »Er ist unglaublich willensstark«, rechtfertigte sich Worge. »Das Laborteam nimmt gerade die Vivisektion an ihm vor, wie Sie es angeordnet haben, Herr Präsident.« * Verzweifelt zerrte Ren Dhark an seinen Fesseln. Mitleidlos nahm einer der larkischen Ärzte das Skalpell zur Hand, bereit,
den wehrlosen Mann bei lebendigem Leib aufzuschneiden. Seine Forscherkollegen standen um ihn herum und waren schon gespannt, zu welchen neuen medizinischen Erkenntnissen sie gleich gelangen würden. Sie wurden um ihren »Anschauungsunterricht« betrogen, denn in diesem Augenblick stürmte der Präsident mit entsetzter Miene in den Raum. »Aufhören!« befahl er. »Stellen Sie sofort die Untersuchung ein!« Was die Laborärzte davon hielten, war ihren enttäuschten Mienen abzulesen. Dennoch fügten sie sich der Anweisung von allerhöchster Stelle, ihnen blieb eh nichts anderes übrig. Azzam ordnete an, die Fesseln des Terraners zu lösen und ihm seine Kleidung wiederzugeben. Anschließend begab er sich mit ihm nach oben. Den Translator hatte er zuvor an sich genommen. Worge und zwei Wachen folgten ihnen und hielten den Gefangenen in Schach. Draußen schien die Sonne, die Luft war frisch und klar. Im prachtvollen Garten nahm der Präsident auf einer Bank Platz, direkt vor einer dichten grünen Hecke. Er nötigte Dhark, sich neben ihn zu setzen. Dann langte er in die Innentasche seiner Jacke und holte einen Umschlag hervor. Der Commander war verwirrt. Was hatte Azzam vor? Wollte er ihn etwa bestechen? Trotz seiner körperlichen Angeschlagenheit ließ ihn seine gute Beobachtungsgabe nicht im Stich. Ihm fiel auf, daß Präsident Azzam unter seiner Jacke ein Schulterhalfter trug, einschließlich der dazugehörigen Pistole. Ren dachte kurz daran, zu versuchen, ihm die Waffe zu entreißen und sich den Weg freizuschießen. Azzam erriet seine Gedanken. »Keine Chance, Terraner, du kämest nicht weit.« Er reichte Ren den Umschlag. Darin befanden sich die Fotos, die Therak und Fontain vom Massaker an den Pugaren
geschossen hatten. »Das Schicksal deiner korlonischen Freunde liegt in deinen Händen«, machte Azzam ihm deutlich. »Diese Bilder sind der Beweis für ihre Spionagetätigkeit. Ich werde die vier noch heute hinrichten lassen, es sei denn...« Dhark besah sich die schrecklichen Aufnahmen und sagte kein Wort, wartete nur ab. »... es sei denn, du nennst mir den Kode, der mir den Zugang zum unterirdischen Bahnhof ermöglicht. Cafer, dein Befehlshaber, hat unter der Folter alles verraten.« Alles? dachte Ren. Wohl kaum, sonst würdest du ihn nicht für meinen Befehlshaber halten. Im übrigen kann er nur ausplaudern, was er weiß – und das ist längst nicht alles. Ihm fiel ein, daß Worge eine Zeitlang Arc Doorn für den Anführer der Gruppe gehalten hatte, und er mußte unwillkürlich schmunzeln. »Worüber amüsierst du dich, Terraner?« fragte ihn der Präsident. »Über dich, Larke«, antwortete Dhark respektlos. »Deine Naivität reizt mich fast zum Lachen. Glaubst du wirklich, es genügt, wenn ich dir einen Zettel mit ein paar Zahlen in die Hand drücke, und schon bist du stolzer Besitzer einer die Kontinente verbindenden Bahnstrecke? Jenes phantastische unterirdische Reich ist kein Banktresor, dessen Stahltür man mal eben so mit zwei Umdrehungen nach links und drei nach rechts öffnet. Der Zugang zum Bahnhof ist nur Auserwählten möglich, und machthungrige Tyrannen wie du gehören nicht dazu.« »Ich hoffe für dich, dieses Ding hier übersetzt einige deiner Worte falsch!« zischte Azzam und deutete auf den Translator, der auf seinen Knien lag. »Ansonsten müßte ich dich für deine Frechheit bestrafen!« Er spürte, daß sein Gesprächspartner partiell die Unwahrheit sprach, allerdings wußte er nicht genau, welcher Teil der
Ausführungen gelogen war. »Entweder gibst du mir auf der Stelle den Kode, oder ich töte das Korlonen-Quartett und lasse dich so lange foltern, bis du redest!« drohte er. »Nur Arc Doorn kennt den vollständigen Kode«, teilte Ren ihm kurz und knapp mit, während er wie selbstverständlich den Umschlag mit den Fotos einsteckte. »Agorn?« fragte Azzam, der den unzureichend gedolmetschten Namen nicht richtig verstanden hatte. »Wer ist das?« »Agorn ist der rothaarige Terraner, den General Worge aus dem Militärlager entkommen ließ. Ihr werdet ihn niemals in die Hände bekommen!« Mit diesen Worten stürzte sich Ren Dhark auf den Präsidenten, packte ihn am Jackenkragen und riß ihn von der Bank hoch. Dann drehte er ihn herum und hielt ihn wie ein Schutzschild vor sich. Mit einer Hand wollte er ihm die Pistole aus dem Halfter ziehen. Zu spät. Worge war bereits heran und drückte Dhark seinen Revolver an die Schläfe. »Loslassen!« befahl er. Dhark stieß Azzam von sich. Worge holte mit dem Kolben seiner Waffe aus... ... da ließ ihn ein fauchendes Geräusch am Himmel herumfahren. Über der Hauptstadt schwebte ein machtvolles blauschimmerndes Gebilde, ein überdimensionaler Ring von 180 Metern Durchmesser, dessen Ringkörper eine Dicke von 35 Metern aufwies. Niemand vermochte zu sagen, wie der Ring dahingekommen war, er war plötzlich und unerwartet aus dem Nichts erschienen. Nur der Commander wußte, wie Dan Riker dieses »Wunder« zustande gebracht hatte: durch einen schnellen Anflug im Intervallschutz und starke Bremsverzögerung. Ren nutzte den Moment der Ablenkung und verpaßte dem
General einen harten Handkantenschlag. Worge sackte bewußtlos zu Boden. Dhark wollte seinen Revolver aufheben, doch die beiden Wächter waren schneller und legten ihre Gewehre auf ihn an. »Nicht schießen!« ordnete Azzam an, dem klar wurde, daß es besser war, den Fremden lebend in seiner Gewalt zu haben. Die POINT OF ging tiefer herab, schwebte jetzt über dem Schloß. Der Himmel schien sich zu verdunkeln, doch es war nur der Schatten des Raumschiffs. »Was du da siehst, ist mein Raumschiff, und an Bord befindet sich meine Mannschaft«, erklärte Dhark dem Präsidenten. »Unsere Waffen sind mächtiger als eure. Wir könnten die ganze Stadt in Schutt und Asche legen, wenn wir wollten.« Azzam wußte, daß der Fremde diesmal nicht log. Was er nicht wußte: Die Terraner hätten unter gar keinen Umständen auf die Stadt, beziehungsweise auf unschuldige Zivilisten geschossen. Ren hatte bewußt die Formulierung »wir könnten, wenn wir wollten« gebraucht, damit ihn der Präsident nicht durchschaute. Ein Flash verließ die POINT OF und landete im Schloßgarten. Pjetr Wonzeff stieg aus. Mittlerweile hatte sich im Garten fast die gesamte militärische Leibgarde des Präsidenten versammelt. Zahlreiche Gewehr- und Pistolenläufe waren auf die beiden Fremden gerichtet. Wonzeff war sich bewußt, daß es ein Blutbad geben würde, falls auch nur einer der verunsicherten Wachsoldaten durchdrehte und abdrückte, dennoch gab er sich gelassen. »Ihr Taxi, Commander«, begrüßte er seinen Kapitän und machte eine einladende Handbewegung zum offenstehenden Flash hin. »Ich bin Ihr Chauffeur und bringe Sie nach Hause.« »Niemand bringt hier irgendwen irgendwohin!« entschied der Präsident. »Wenn euer Raumschiff wirklich so gefährlich
ist, nehme ich euch zu meinem Schutz als Geiseln! Euch und die vier Korlonen unten im Gewölbe!« Der Translator, der bei der kurzen Rangelei ins Gras gefallen war, übte weiterhin seine Funktion aus. Wonzeff hielt die ganze Zeit über Viphokontakt mit der Zentrale der POINT OF. Dan Riker hörte alles mit und fackelte nicht lange. Zwei weitere Flash wurden ausgeschickt, um die Gefangenen aus dem Schloßgewölbe zu befreien. Mit erstaunten Gesichtern sahen die Larken zu, wie die »kleinen Raumschiffe« der Fremden auf geisterhafte Weise durchs Schloßdach nach drinnen schwebten. Auf durch den Antrieb verursachte Gebäudeschäden nahmen sie dabei keine Rücksicht. Die ganze Aktion zog wie magisch sämtliche Blicke auf sich. Alle im Garten befindlichen Personen schauten zum Schloß – abgesehen von vier Personen. Worge lag weiterhin bewußtlos am Boden, mit dem Gesicht nach unten. Wonzeff und Dhark nutzten die allgemeine Ablenkung, um den Translator aufzuheben und schleunigst den Flash zu besteigen. Ein aufmerksamer larkischer Wachmann wollte sie mit einem Gewehrschuß stoppen, doch Pjetr betäubte ihn mit seinem Paraschocker. Die übrige Leibwache reagierte viel zu spät. Zwar wurde sofort das Feuer auf den startenden Flash eröffnet, doch dessen Intervallfeld verschluckte die Kugeln wie ein hungriges unsichtbares Tier. Im Schloß lösten die fremden Eindringlinge Angst und Schrecken aus. Das Personal rannte voller Panik nach draußen. Es folgten die Laborärzte und Folterknechte. Zu guter Letzt verließen auch die beiden Flash mit ihren Passagieren das von außen so prächtige Gebäude, diesmal durch die Wand. Zwar waren die Beiboote jeweils nur für einen Passagier ausgerichtet, aber auf der kurzen Strecke zum Raumschiff quetschten sich die Korlonen »im Doppelpack«
zusammen. Nach allem, was sie in den vergangenen Stunden ausgestanden hatten, war das ihre geringste Pein. Präsident Azzam gab noch nicht auf. Er setzte sich mit der Geschützstellung an der Brücke in Verbindung und befahl den Beschuß des Ringraumers. * Als General Worge aus seiner Bewußtlosigkeit erwachte, war über dem Schloß des Präsidenten die Hölle los. Von der Brücke aus feuerten die Soldaten an den Haubitzen pausenlos auf die POINT OF, scheiterten jedoch am Intervallum. Worge war verwirrt. Wieso konnte das Geschützfeuer dem schwebenden Ring nichts anhaben? Immerhin zählten die auf Larkon stationierten Kanonen zu den effektivsten schweren Waffen, die die großartige Armee der FVL aufzubieten hatte. Nicht alle Geschosse trafen ins Ziel. Einige gingen weit daneben und krachten in Wälder und Villen, eines rasierte das Schloßdach ab. »Wenn die Idioten so weitermachen, legen sie noch ihre eigene Stadt in Trümmer«, knurrte Dan Riker kopfschüttelnd. Ren Dhark, der das Kommando auf der POINT OF wieder übernommen hatte, gab Befehl, direkt über die Stellung zu fliegen. Dort ließ er das Intervallfeld zur Demonstration der Stärke abschalten. Die konventionellen Granaten der Larken erlitten »Schiffbruch« am unüberwindlichen Unitall der Schiffshülle. Letztendlich gab der Kommandant der Batterie Befehl, den Angriff einzustellen. Daraufhin drehte das Raumschiff bei und verschwand in der Ferne am Himmel. »Daran haben die eine Weile zu knabbern«, sagte Arc Doorn, der sich in der Zentrale aufhielt. »Schade, daß der Präsident und sein Gefolge ungeschoren davonkommen. Den Fiesling Worge hätte ich mir gern gründlicher vorgenommen,
nach allem, was er den vier Korlonen angetan hat.« Auf einen Kommentar des Commanders verzichtete er. Arc verließ die Zentrale und begab sich in die Medostation, um Cafer, Fontain, Therak und Ribur zu besuchen, die dort medizinisch versorgt wurden. »Wohin?« fragte Dan seinen Freund Ren. »Wohin wohl?« erwiderte Dhark. Riker gab Befehl, zurück zum Berg zu fliegen. Ren und er verstanden sich auch ohne viele Worte. * Stumm und verbittert sah Präsident Azzam dem terranischen Raumschiff nach, bis es zu einem Punkt am Himmel zusammenschrumpfte und schließlich gänzlich verschwand. Anschließend drehte er seinen Kopf zum erheblich beschädigten Schloß. Danach wandte er sich General Worge zu, den er mit bösen Blicken regelrecht durchbohrte. »Diese blamable Niederlage habe ich Ihnen zu verdanken, Sie Versager!« machte er dem General zum Vorwurf. »Sie haben die drei Fremden aus dem Feldlager entkommen lassen und ihnen somit Gelegenheit verschafft, Hilfe zu holen. Ich hatte die Herrschaft über Owid so gut wie in meinen Händen, jetzt ist sie weiter entfernt als jemals zuvor. Die Terraner werden sich mit den Korlonen verbünden, vielleicht sogar mit den Ganten...« »Und wenn schon!« fuhr Worge ihm ins Wort. »Die Freistaaten von Lark sind auch ohne Unterstützung aus dem All eine Supermacht!« »Fragt sich nur, wie lange noch«, entgegnete der Präsident. »Käme es zu einem kriegerischen Konflikt mit Gawa, könnten wir gegen die Waffen der Fremden nichts ausrichten. Uns bliebe nichts anderes übrig, als zu verhandeln. Nichts hasse ich mehr, als mir von anderen Staatsführern meine Politik diktieren
zu lassen!« Um es erst gar nicht soweit kommen zu lassen, beschloß er, in nächster Zeit nichts zu tun, was die anderen Staaten der Welt provozieren könnte. »Besser, wir halten uns vorerst aus Undo fern«, sagte er zum General. »Die Kolonialpläne lege ich auf Eis, und der KungenImport ruht erst einmal.« Worge stieß einen verächtlichen Laut aus. »So leicht lassen Sie sich in die Knie zwingen, Herr Präsident? Was ordnen Sie als nächstes an? Friedensverträge mit den Grünlarken? Mitbestimmung für die Kungen? Wissen Sie, wie ich das nenne? Feigheit vor dem Feind! Ein schwaches Regierungsoberhaupt ist eine Schande für jedes Volk!« Die lautstark geführte Unterhaltung fand vor zahlreichen Ohrenzeugen statt. Das Hauspersonal, die Ärzte, die Leibwächter und weitere Soldaten hielten sich im Garten auf. Einige standen aufgrund der vorangegangenen Ereignisse noch unter Schock, andere lauschten interessiert dem Streitgespräch zwischen dem Präsidenten und dem gefürchteten General. Worge hatte Azzam einen Feigling genannt und ihn indirekt zum Rücktritt aufgefordert. Wie würde er darauf reagieren? Der Präsident war im Zugzwang. Er mußte handeln, wollte er keinen Autoritätsverlust erleiden. Für einen Augenblick drehte Worge ihm den Rücken zu. Azzam zog die Pistole aus seinem Schulterhalfter und zerschoß seinem Widersacher die rechte Schulter. Der hinterhältige Angriff kam für den General völlig überraschend, trotzdem hielt er sich auf den Beinen. Ohne sich zu wehren ließ er es zu, daß Azzam ihm die Waffe abnahm. »Sie elender Feigling!« beschimpfte Worge den Präsidenten und preßte seine linke Hand auf die blutende Wunde. »Das war kein faires Duell!« »Nur ein Dummkopf läßt sich mit einem stärkeren Gegner auf einen fairen Kampf ein«, sagte Azzam gelassen. »Wenn ich
gewollt hätte, wären Sie jetzt nicht mehr am Leben. Ich bin ein verdammt guter Sportschütze und hätte Sie auch mitten ins Herz treffen können. Aber das wäre ein zu leichter Tod für Sie, General. Sie haben versagt und mich obendrein beleidigt. Das darf ich mir als Staatsführer nicht bieten lassen. Die Ärzte werden Ihre Verletzung versorgen und Sie gesundpflegen. Und danach...« Er machte eine Pause und schaute in die Runde, wohlwissend, daß ihm künftig keiner mehr den nötigen Respekt verweigern würde. »Und danach lasse ich Sie im Gewölbe langsam zu Tode foltern. Sie sind ein zäher Bursche, ich bin schon gespannt, wie lange Sie durchhalten.« * Während die POINT OF zur Landung ansetzte, sprach Ren Dhark mit der H'LAYV und bedankte sich bei Shodonn für seine Hilfe. Dan Riker hatte seinen Freund über die Ereignisse der letzten Tage informiert und auch die neuerliche Attacke der Nomaden nicht unerwähnt gelassen. Doch um diese Angelegenheit wollte sich Ren Dhark nicht auch noch kümmern. Den Menschen lief allmählich die Zeit davon. Zu lange schon waren sie in Drakhon, ohne wirkliche Fortschritte gemacht zu haben. Und mit jedem weiteren Tag, der ergebnislos verstrich, stieg das Risiko einer kosmischen Katastrophe, der zwei Galaxien – Drakhon und die heimatliche Milchstraße – unweigerlich zum Opfer fallen würden. Zunächst begab sich Dhark nur mit einer kleinen Gruppe ins Innere des Berges. Arc Doorn führte die Auserwählten durch die Höhlen mit den Aggregaten, bis in die autarke Zentralstation der Rahim. Der Commander war fasziniert. Er konnte es kaum erwarten, all die Geheimnisse zu ergründen, die hier unten seit
Jahrhunderten schlummerten. Glücklicherweise mußte er das nicht allein tun. »Lassen wir die Horde herein?« fragte er Riker augenzwinkernd. Dan nickte schmunzelnd und betätigte sein Vipho. Die letzten ruhigen Minuten in der Tiefe nutzten die Freunde für eine Zigarettenpause. Dann brach der Ansturm der Wißbegierigen los. Vandekamp, Hertog, Tschobe, Morris, Hanfstick, Maitskill, Lionel, Grappa... wie Bienen schwärmten die zahllosen Wissenschaftler und Spezialisten der POINT OF aus, teils allein, teils mit ihren Teams, und verteilten sich in der gesamten unterirdischen Anlage. Einige begannen sofort mit ihren Untersuchungen, andere mußten erst noch aufwendige Prüfgeräte in die Höhlen transportieren. Eile war geboten, denn aus früheren Erfahrungen wußte man, daß es mit der Forscherglückseligkeit vorbei sein konnte, bevor es überhaupt richtig angefangen hatte. In der Zentralhöhle wurde es eng. Viele Hände machten sich an der Steuerungsanlage zu schaffen – zu viele für Arc Doorns Geschmack. Er sprach ein Machtwort und sorgte für Ordnung, indem er die Hälfte hinausschickte. »Gut gemacht, Agorn«, lobte ihn der Commander. Agorn? Arc verstand den Scherz nicht, fragte aber auch nicht weiter nach. Natürlich erweckten auch die Wandtresore die Neugier der Forscher. Ein Teil der gefrorenen Früchte verschwand in Kühlbehältern, zwecks späterer Analyse. Bewegliche kleinere Gegenstände stellte man zum Abtransport aufs Raumschiff bereit, wo sie später gründlichen Untersuchungen unterzogen werden sollten. Wichtige Dateien wurden kurzerhand zum Mitnehmen auf Mikrochips abgespeichert, auch damit würde man sich an Bord genauer befassen.
Die ganze Aktion dauerte eine knappe Woche. Kein Tag verging, ohne daß nicht irgendein Testergebnis oder ein überraschender Fund grenzenloses Erstaunen auslöste. Die sensationellste Entdeckung machte keiner der namhaften Experten, sondern ein unscheinbarer deutschstämmiger Gelehrter namens Wolfram Bressert. Durch Zufall fand er in einer als nebensächlich eingestuften Speicherkartei einen Hinweis auf den Machtbereich der verschwundenen Rahim. Zunächst war es nur eine scheinbar belanglose Andeutung, die er nur deshalb weiterverfolgte, weil die bedeutsameren Protokolle samt und sonders mit Beschlag belegt waren. Allmählich wurde ihm jedoch das Format seines Zufallsfundes bewußt. Verbissen suchte er weiter, bis er auf eine Sternenkarte stieß, von der er eine Folie anfertigte. Aufgeregt wie er war, wollte er die Karte zunächst seinen Kollegen zeigen, doch die waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Als er den Commander vorüberkommen sah, wandte er sich direkt an ihn. »Hat das nicht Zeit bis später?« versuchte Dhark, der selbst sehr beschäftigt war, ihn abzuwimmeln. Bressert, dessen Durchsetzungsvermögen gleich Null war, kratzte sich nervös am krausen Kinnbart. »Wenn Sie meinen, Commander.« Dhark wandte sich ab. »Ich dachte nur, es interessiert Sie, wo die Spur der Rahim hinführt« , sagte der Gelehrte leise und wollte sich ebenfalls zum Gehen wenden. Ren horchte auf, blieb stehen. »Zeigen Sie mal her«, bat er den Mann. Nachdem er sich die Karte näher angeschaut hatte, fragte er nach weiteren Informationen. Bressert informierte ihn über jedes Detail seiner Nachforschungen. Die Nachricht, auf eine weitere Fährte der Rahim gestoßen
zu sein, sprach sich wie ein Lauffeuer in den Höhlen herum. Wolfram Bressert, den bisher niemand an Bord so richtig wahrgenommen hatte, mutierte plötzlich zum Star. Immer wieder mußte er berichten, wie es ihm gelungen war, die spezielle Sternenkarte ausfindig zu machen. Leider war damit auch das Ende der emsigen Forschertätigkeit besiegelt. Ren Dhark, der seine innere Aufregung kaum verbergen konnte, befahl energisch den sofortigen Abbruch der Arbeiten und den Aufbruch zum eigentlichen Ziel der Expedition. Es hagelte Proteste, doch die ließ er an sich abprallen. Inzwischen war die Meldung hereingekommen, daß man auch die beiden Flash, die den ersten Anflug auf Owid gewagt hatten, aus dem Meer geborgen worden und bald wieder einsatzbereit waren. Bald darauf war die POINT OF zum Start bereit. Ziel war eine Dunkelwolke in einem der Milchstraße entgegengesetzten Randbereich von Drakhon. Von Shodonn, der sich strikt an die Politik der Galoaner gehalten und keinen einzigen Mann in die mutmaßliche Rahim-Zentrale geschickt hatte, hatte man erfahren, daß jene Dunkelwolke in einem unerforschten Bereich von Drakhon lag. Keine der Sternenzivilisationen, mit denen die Galoaner Kontakt hatten, besaßen Informationen über jenen abgelegenen Bereich. Vor dem Start ins All war allerdings ein Abstecher nach Korlo nötig. Die vier Korlonen, die sich dank der medizinischen Erkenntnisse des dritten Jahrtausends inzwischen gut erholt hatten, mußten nach Ruham gebracht werden, ein kleiner Umweg, den Ren Dhark zähneknirschend in Kauf nahm. Er brannte darauf, die Dunkelwolke anzufliegen. »Was erwartest du dort vorzufinden?« fragte ihn Dan Riker, obwohl er die Antwort im Grunde genommen kannte. »Einen Topf voll Gold?«
»Etwas viel Wertvolleres«, antwortete der Commander der Planeten. »Etwas, das mit keinem Gold der Welt aufzuwiegen ist: Wissen.« * Um kein unnötiges Aufsehen zu erregen, landete die POINT OF außerhalb der Hauptstadt von Korlo, auf einem großen Acker hinter einem Wald. General Uclief, den man zwischenzeitlich über Funk von der bevorstehenden Landung unterrichtet hatte, traf kurz darauf mit einer Fahrzeugkolonne ein. Das Gelände wurde weiträumig abgesperrt. Von einem nahegelegenen Bauerngehöft aus war die Landung des Ringraumers beobachtet worden. Der Landwirt – Besitzer des Ackers – seine drei Söhne und seine beiden Knechte ließen die Arbeit liegen, bewaffneten sich mit Sensen und Mistgabeln und eilten zur Wiese. Das Eintreffen der Armee verhinderte, daß die sechs aufgebrachten Männer dem Raumschiff zu nahe kamen. Uclief verpflichtete sie zum Schweigen. Er appellierte an ihre patriotische Gesinnung und sprach von einer geheimen Mission von nationaler Bedeutung. »Geheim?« wunderte sich die Bäuerin, nachdem ihr Mann ins Haus zurückgekehrt war. »Merkwürdig. Was hat das Militär zu vertuschen?« »Das geht uns nichts an, verstanden?« erwiderte der Bauer unwirsch. »Für die militärische Nutzung des brachliegenden Ackers werden wir entschädigt, so großzügig, daß wir es uns endlich leisten können, unserem Nachbarn hinter dem Hügel die Rinderweide am Hang abzukaufen. Und für einen Zuchtbullen fällt auch noch was ab. Künftig betreiben wir Viehzucht in großem Stil, Schatz, also versprich mir, die ganze Sache für dich zu behalten.« Die Bäuerin versprach es.
Kaum war ihr Mann aus dem Haus, lief sie zu ihrer besten Freundin auf dem Nachbarhof. Derweil wurden Ren Dhark, Arc Doorn, der Gouverneur, der Großwildjäger und die beiden Agenten in mehreren geschlossenen Fahrzeugen in die Stadt gebracht, zum Palast des Monarchen. Mit dabei waren Dan und Anja Riker, statt der Cyborgs, die freiwillig verzichtet hatten. Obwohl es eine lange Liste von Besatzungsmitgliedern gab, die ebenfalls gern mitgefahren wären, hatte der Commander auf weitere Begleitung verzichtet. Er wollte dem Monarchen den Anblick eines Aufmarsches außerowidischer Wesen ersparen. In den Straßen von Ruham herrschte freudige Aufregung. Ren erkundigte sich beim Fahrer des Wagens nach dem Grund. »Der Krieg gegen die Ganten hat die entscheidende Wende genommen«, berichtete ihm der Mann, dem seine Freude ins Gesicht geschrieben stand. »Der Feind wurde besiegt. Wir haben einen vorläufigen Waffenstillstand vereinbart, für die Dauer der Friedensverhandlungen.« Der Herrscher empfing Dhark voller Respekt, aber ohne falsche Ehrfurcht. Nach dem Austausch einiger Höflichkeiten setzte man sich im Thronsaal zusammen. Dan fiel auf, daß die Augen des Monarchen des öfteren auf Anja ruhten, und er fragte sich, was er wohl gerade dachte. Vielleicht: Gar nicht mal so übel, die terranischen Frauen. Oder: Igitt, die ist ja grottenhäßlich! Riker wäre es jedenfalls nicht in seinen kühnsten Träumen eingefallen, einer Owidin Avancen zu machen. Dhark überließ es dem Gouverneur und den Agenten, ihrem Herrscher Bericht über die Vorkommnisse auf Lark zu erstatten. Sein einziger Beitrag bestand aus der Überreichung der Fotos, die er Präsident Azzam entwendet hatte. »Azzam hat sie freundlicherweise für uns entwickeln lassen«, merkte er sarkastisch an, während er den Umschlag übergab.
Der Monarch war entsetzt. »Diese schrecklichen Bilder müßten die Ganten eigentlich davon überzeugen, daß ein Friedensvertrag zwischen Gante und Korlo von beiderseitigem Interesse ist. Nur wenn wir zusammenhalten, haben wir eine Chance gegen die larkische Übermacht.« »Befürchten Sie denn einen Krieg mit Lark?« fragte Anja ihn. Er verneinte. »Bisher versuchen sie auf friedliche Weise, sich auf Undo auszubreiten. Allerdings kann man nie wissen... Präsident Azzam schielt ständig nach mehr Macht, und er ist zu allem fähig. Unser Bündnis mit Gante wäre ein deutliches Signal an ihn. Hoffentlich sträuben sich die Ganten nicht dagegen.« »Ihr seid die Sieger«, sagte Doorn. »Also stellt Korlo die Bedingungen. Aus und fertig.« Das war seine Art, die Dinge ohne Umschweife auf den Punkt zu bringen. Als erfahrener Politiker sah der Monarch das anders. »Es wäre ein schwerer Fehler, einen künftigen Verbündeten zu demütigen. Ich will keine Knechtschaft der Ganten, sondern einen sicheren Frieden für mein Reich.« Ohne es zu wissen, hatte er sich genau in diesem Moment als würdig erwiesen, die Sicherheitskodes für die Einrichtungen der Rahim zu empfangen. Dhark war davon überzeugt, daß er sie ausschließlich zur Friedenserhaltung einsetzen würde, und nicht für blutige Eroberungsfeldzüge auf den anderen Kontinenten. Im Anschluß an die Konferenz – inzwischen war es Abend geworden – ging man zum gemütlichen Teil über. Korlos Herrscher hatte den Terranern in seinem Palast ein großes Festbankett ausrichten lassen. Er bestand darauf, daß auch die übrigen Besatzungsmitglieder an den Feierlichkeiten teilnahmen. Ren lehnte dankend ab. »Wir müssen so bald wie möglich weiter.«
Riker sah die beleidigte Miene des Monarchen und nahm seinen Freund beiseite. »Ich weiß ja, daß du nicht viel von Diplomatie hältst«, flüsterte er ihm zu, »aber wenn wir gleich wieder aufbrechen, kränkst du ihn schwer. Die Korlonen sind von nun an unsere Freunde, und Freunde beleidigt man üblicherweise nicht. Im übrigen tut der Mannschaft die Abwechslung sicherlich gut.« »Abwechslung biete ich der Besatzung wirklich mehr als genug«, erwiderte Dhark. »Oder habt ihr euch jemals über Langeweile beklagen müssen? – Schon gut, schon gut, erspare mir weitere Vorhaltungen! Es gibt Zeiten, um auf Entdeckungsreise zu gehen, und es gibt Zeiten zum Feiern. Heute ist letzteres angesagt, einverstanden.« Bald darauf war erneut ein Militärkonvoi unterwegs, um die Mannschaft der POINT OF in den Palast zu bringen. Nicht jeder konnte mit, etliche Besatzungsmitglieder mußten an Bord bleiben. Im Zweifelsfalle entschied das Los, ungeachtet des jeweiligen Ranges. * Mit einem vollen Tag Verspätung machte sich die POINT OF auf den Weg ins vermeintliche Gebiet der Rahim. Den Start auf dem brachliegenden Acker verfolgten mindestens einhundert Zivilisten mit. Wer für diese Ansammlung verantwortlich war, ließ sich im Nachhinein nicht mehr feststellen. Der Landwirt, dem der Acker gehörte, hatte zwar einen Verdacht, doch um seine Zukunft als vermögender Viehzüchter nicht zu gefährden, hielt er lieber den Mund. »In der Haut des Monarchen möchte ich jetzt nicht stecken«, bemerkte Riker in der Zentrale. »Er hat seinen Untertanen eine Menge zu erklären.« »Am besten, er bleibt bei der Wahrheit«, meinte Ren Dhark. »Er hat keinen Grund, unsere Existenz vor der einfachen
Bevölkerung zu verheimlichen. Das prächtige Fest im Palast dürfte sich bald herumgesprochen haben, unsere militärische Schützenhilfe ist längst ein offenes Geheimnis, und irgendwann wird er sowieso allen von der unterirdischen Magnetbahn erzählen müssen.« »Apropos Schützenhilfe«, sagte sein Freund. »Verstößt es nicht gegen deinen persönlichen Kodex, sich auf Owid in die kriegerischen und politischen Auseinandersetzungen eingemischt zu haben? Schließlich predigst du uns dauernd, wir seien auf fremden Planeten nur neutrale Beobachter, sonst nichts.« »Stimmt, ich mische nur mit, wenn es sich absolut nicht vermeiden läßt«, bestätigte Ren Dhark. »Das war hier nun mal der Fall, und ich bin gewiß nicht unglücklich darüber. Ohne unser Eingreifen würden sich die Rags wohl noch in hundert Jahren gegenseitig die Köpfe einschlagen. Wir haben etwas Gutes bewirkt, denke ich. Der Monarch ist genau der Mann, der seiner Welt den Frieden bringen kann. Und dank den Hinterlassenschaften der Rahim und Arc Doorns Kodes wird er sein Volk vielleicht sogar zu den Sternen führen.« * »Was sehen Sie?« erkundigte sich MacCormack und stapfte zu den Offizieren hoch, die auf dem Kamm eines Hügels kauerten und mit deutlich erkennbarer Anspannung das Gelände sondierten. Das erste Bataillon hatte ohne weitere Störung durch umherstreifende Bodentruppen der Grakos mit Höchstgeschwindigkeit die Station der Schatten erreicht und hinter einer langgestreckten Bodenverwerfung Stellung bezogen. Von der Basis nicht einsehbar waren die Luftkissenfahrzeuge entladen worden. Von Hand, um keine verräterischen Energieemissionen auszulösen. Die Pressor-und
Strahlgeschütze auf ihren noch inaktiven A-Gravplattformen waren bemannt, die Kanoniere aufgesessen und hockten hinter ihren ebenfalls noch inaktiven Kontrollkonsolen. Die einzelnen Züge hatten Aufstellung genommen und harrten der Befehle MacCormacks, der jetzt seine Kompaniechefs und Unterführer erreichte. »Hier, Sir. Schauen Sie sich das mal an!« sagte Tore Lanart, als MacCormack in seinem schwarzen Körperpanzer mit den Insignien des Bataillonskommandeurs neben ihm erschien. Er reichte ihm sein schweres Sichtgerät. »Dort!« Er streckte einen Arm aus. Der Oberstleutnant schob das Helmvisier hoch, setzte das elektronische Glas an die Augen und starrte in die angegebene Richtung. In etwa zwei Kilometern Entfernung stand der von den Aufklärern gemeldete Schattenraumer; ein 300-Meter-Koloß. »Sehen Sie, was ich meine, Sir?« »Ich sehe«, erwiderte MacCormack knapp. Die Zahlenkolonnen der Entfernungsangaben flimmerten über den kleinen Monitor. Er regelte die Scharfeinstellung nach. Die Station zoomte heran, dann zentrierte sich die Fokussierung auf das Schiff. MacCormack runzelte die Stirn. Schleusen standen offen; von der Station her, einem grauen, langgestreckten Bau, der sich nur wenige Meter über Bodenniveau erhob, näherten sich beladene Schwebeplattformen. Ein dunkles, vibrierendes Summen lag in der Luft, das der Wind bis zu den Stellungen der Schwarzen Garde trug. Schattenhaft erkennbare Gestalten verschwanden im Schiff. Das diffuse Licht, das die unsichtbare Sonne unter der Wolkendecke erzeugte, brach sich auf schimmerndem Chitin, an gezackten Klauen und Fühlern: Grakos! Schattenkrieger! Irgendwo strömte ein hochgespanntes Medium aus – Gase,
komprimierte Atmosphäre – und ein quäkendes Geräusch erhob sich. An der penetranten Wiederholung des offensichtlich immer gleichen Inhaltes konnte MacCormack erahnen, was es bedeutete: Die Mannschaft wurde an Bord gerufen. »Irgend etwas geht da vor, Sir!« ließ sich Kompaniechef Clayton Asprin vernehmen, der ebenfalls angestrengt durch sein suprasensorgesteuertes Glas starrte. »Natürlich«, bestätigte der Oberstleutnant, und seine Stimme war so kalt wie der tiefe Weltraum, »was wir da sehen, sind Startvorbereitungen. Wir müssen handeln, sofort. Einen Kampf mit dem Schattenschiff können wir nicht riskieren. Einmal gestartet, haben wir keine Chance, es wirksam zu bekämpfen, im Gegenteil. Also müssen wir es zerstören, so lange es auf dem Boden noch relativ verwundbar ist. Das heißt jetzt!« Pause, dann: »Mr. Asprin! – Gerado! – Jakubowski! – Dempsey!« Über Helmfunk kamen die Meldungen der vier Kompaniechefs. »Alle Gruppen auf Angriffsposition?« fragte der Bataillonskommandeur. Er wußte, daß es so war. »Bestätigt, Sir.« Für einen Augenblick verharrte MacCormack, unerwarteterweise bedrängt von dunklen Vorahnungen. Schließlich sagte er über die Kampffrequenz, und seine Stimme klirrte: »Wir beenden unser Versteckspiel. Volle Energie auf sämtliche Prallfelder und Geschütze. Alle Batterien beginnen auf mein Zeichen zu feuern. Es wird Zeit für die Feuertaufe der Schwarzen Garde!« Er machte zwei Schritte auf den Hügelkamm hinauf, streckte den Arm für alle sichtbar in die Luft – und ließ ihn dann fallen. Der Angriff rollte an. Wie eine stählerne Welle hoben sich die schweren
Strahlkanonen auf ihren Prallfeldern über den Hügelkamm und begannen mit ihrem Feuersturm auf das Schattenschiff. Pressorgeschütze – eine Entwicklung der Giants, die endlich entschlüsselt worden war – sollten im Einsatz mit der Schwarzen Garde erstmals ihre Tauglichkeit beweisen. Das Neuste vom neuen – für die TF und SG. Der Suprasensor stellte sich auf das gewünschte Ziel ein, berechnete innerhalb von 1,3 * 10-5 Sekunden die Stärke und Varianz von vorhandenen Schutzsphären um das Ziel, dann feuerte das Strahlgeschütz, durchdrang Schutzschirme und Wandungen gleichermaßen wirkungsvoll und verrichtete sein zerstörerisches Werk. Binnen Sekunden war der Schattenraumer von diffusem, rotem Feuerschein umlodert, von Rauchwolken, gleißenden Feuerkugeln, wirbelnden Funkenschauern, grollenden Implosionen. Ein düster-grandioses Schauspiel. Und der Anfang vom Ende. Schließlich blähte sich der Fremdraumer nur tausend Meter vor ihnen auf und flog mit brachialer Urgewalt auseinander. Schwarze Lichtbahnen schossen aus dem Explosionszentrum und durchdrangen die Wolkendecke, rissen sie auf, so daß für Sekunden die Sonne durchschimmerte. Mit einemmal erstarb jedes Geräusch, jede Bewegung erstarrte. Eine furchtbare, nicht mit Worten zu beschreibende Stille dröhnte in MacCormacks Ohren. Irgend etwas veränderte sich; das Jetzt und Hier existierte nicht länger mehr. Es war, als hätte sich eine furchtbar große Tür geöffnet, hinter der eisiges Grauen lauerte, das jetzt geifernd und brüllend nach ihm griff, versuchte, ihn in den Raum dahinter zu zerren. Und plötzlich trieb Kenneth durch eine endlose Nacht, ein Staubkorn in der Unendlichkeit des Universums, das schweigend durch astrale Kälte schwebte. Milliarden von Galaxien glänzten in gebrochenen Pastellfarben, trieben heran, vorbei,
verschwanden wieder im Nichts des Raumes, verschlungen von der Entropie. Und dann, von einem Augenblick zum anderen, war alles wieder normal, endeten diese Empfindungen, als hätte es sie nie gegeben. Kenneth MacCormack sah, wie mächtige, glühende Trümmerstücke, getrieben von der Explosion, in die Höhe wirbelten, die Wolkendecke durchdrangen. Dann erst kam der urweltliche Donner der Explosion, der in einem lang ziehenden Grollen und Kreischen verklang. Die nachfolgende Druckwelle umtoste die Einheiten der Schwarzen Garde, die Schutz hinter den von ihren Prallfeldern gesicherten Geschützplattformen fanden. Ein paar Sekunden später begann es Wrackteile zu hageln, von denen einige ganz in der Nähe einschlugen. Ein dumpfes Krachen erklang, als sich ein schweres Trümmerstück in das Erdreich grub. Andere glühende und sprühende Teile stürzten wie die Überreste eines Silvesterfeuerwerks zu Boden. Ein brennender Hagel, der den Boden pockennarbig machte und noch hell weiterglühte, nachdem er schon zur Ruhe gekommen war. MacCormack schüttelte den Kopf, als wolle er die merkwürdigen Eindrücke auf diese Weise loswerden. Er sah sich um. Die Gesichter seiner Offiziere und Soldaten waren hinter den abgeblendeten Visieren nicht zu erkennen, aber er war sich sicher, daß sie den gleichen, zumindest aber einen ähnlichen Realitätsverlust erlebt hatten, wenn auch niemand davon sprach. »Irgendwelche Ausfälle?« wollte er wissen. Es war zu keinen physischen oder mechanischen Schäden gekommen. »Sieg auf der ganzen Linie, Sir!« behauptete Barry Dempsey. MacCormack sah seinen Kompaniechef an. »Wenn überhaupt, dann nur auf der halben«, schränkte er
ein und deutete auf die Mauern der Schattenstation. »Machen wir uns daran, die andere Hälfte auch noch zu schaffen. * Er hatte eine echte Glückssträhne, fand Kurt Buck und warf sich keuchend hinter die hüfthohe Mauer. Keiner der Schatten hatte ihn getroffen, als er losgerannt war. Nur langsam beruhigte sich sein fliegender Puls; er erhob sich auf die Knie und spähte über die Mauer. Er erledigte die beiden Grakos aus einhundert Meter Entfernung, jeweils mit einem Schuß. Dann hockte er sich mit dem Rücken gegen die Mauer und sah grinsend den anderen zu, die im Zickzack über das Areal gerannt kamen. Drüben, auf dem Raumhafen, brannte das Wrack des Schattenraumers noch immer. An das, was er erlebt hatte, als das Schiff in die Luft geflogen war, dachte er lieber nicht, sondern vergrub es ganz tief in seinem Innern. In einem Fach mit der Aufschrift Noch zu erledigen. Später, wenn das hier alles vorbei war, würde er dieses Fach öffnen und sich mit seinem Inhalt beschäftigen. Jetzt durfte er sein Denken nicht damit belasten. Links und rechts von ihm warfen sich die anderen ebenfalls in die Deckung der Mauer. »Mannomann«, stöhnte Kaunas auf, »solche Art sportlicher Höchstleistungen bin ich eigentlich nicht mehr gewohnt – in meinem Alter.« Buck lächelte etwas gequält. Jannis Kaunas kokettierte nur. Es gab nur wenige Männer in der Garde, die seine Kondition hatten. Wladimir Jaschin sicher – vor seinem Unfall. Und Kurt traute es sich ebenfalls zu, einen diesbezüglichen Wettstreit zu gewinnen. Er war sich sogar sicher. Aber das behielt er für sich. Er verlagerte sein Gewicht und blickte aus schmalen Augen
über die Mauerkrone hinweg. »Mein Gott«, sagte er. »Sie kommen!« »... und das schneller, als uns lieb ist«, bekräftige Sam Uitveeren und deutete in eine bestimmte Richtung. Buck schwenkte das Sichtgerät vor das Helmvisier. Aus dem Gebäude brachen Dutzende von Schatten hervor, dann noch mehr. In kürzester Zeit wimmelte es vor dem Eingang zur Station von Grakos. »Sie sollten Verbindung mit dem Bataillon aufnehmen«, riet er Kaunas, »das ist vielleicht ein bißchen zu groß für uns.« Der Feldwebel bedeutete ihm, still zu sein und berührte eine Kontrolle auf seinem Kampfdisplay. »An Kommando. Hier Feldwebel Kaunas. Wo bleiben die Kanonen, zum Henker? Oder sollen wir wieder unseren Arsch für euch riskieren?« Buck hatte den Eindruck, daß eine unendliche Zeit verstrich, in der niemand antwortete. Fluchend kam er halb hinter der Deckung hervor und begann zu feuern. Neben ihm fielen seine Teamkameraden ein. »Hier spricht Kaunas, erster Trupp...« »Sind schon da«, fiel ihm eine laute Stimme über die Kampffrequenz ins Wort. »Zieht die Köpfe ein, wenn ihr nicht einen permanenten Scheitel bekommen wollt.« Ein alter Kanonierwitz. »Na endlich!«, stöhnte Buck und kauerte sich hinter der Mauer zusammen. * Die Robotkanonen des sechsten und siebten Zugs übten ihren tödlichen Zauber aus und bestrichen die Grakos großflächig mit panzerbrechenden Geschossen, die sie in Stücke rissen, ehe sie wie winzige Thermobomben aufblitzen und vergingen; trotzdem quollen immer mehr wie hungrige
Riesentermiten aus dem Eingang hervor. »Noch mehr Schatten. Zirka hundertfünfzig Meter von uns auf vierzehn Uhr... nähern sich rasch.« Das Organ des Automatikkanoniers klang beherrscht, kühl, professionell. »Mist«, ließ sich Ulysses Gerados leise, angespannte Stimme im Helmfunk vernehmen, unter dessen Kommando die beiden Züge standen, »nimmt das denn gar kein Ende?!« Es nahm ein Ende. Genau so unvermittelt, wie es begann. Plötzlich kamen keine Schatten mehr aus dem weit offenstehenden Tor, dessen Flügel zerbeult und halb zerfetzt waren. Und erst jetzt begannen sich Gerado und eine Menge anderer zu fragen, weshalb von den Schatten kaum eine Gegenwehr kam. Handelte es sich bei dem Stationspersonal eventuell um Wissenschaftler, Zivilisten? Und wo waren dann die von unversöhnlichem Haß gegen die Menschen erfüllten Krieger geblieben? * Rauno Aaltonen, der Elektronikexperte und Kryptologe in Kaunas' Team, versuchte sich an der Innentür, die sich gegen ein Eindringen in die Station sperrte. Die Sensorplatte reagierte auf keine Eingabe. »Legen Sie einen Zahn zu, Fähnrich!« ermahnte ihn MacCormack. »Ich will da rein!« »Ich gebe mein Bestes, Sir.« »Das erwarte ich auch.« Buck hatte genug. »Tretet mal nach hinten, Leute«, sagte er und hob den Zweihandstrahler. Mit einer raschen Bewegung schlug er das Visier herunter und bedeutete den anderen, es ihm gleich zu.
Dann hob er den Strahler und betätigte den Auslöser. Der sonnenheiße Energieimpuls ging durch das Material einfach hindurch und stanzte eine Reihe Löcher um die Sensorplatte. Dann trat Buck nach vorn und schlug mit dem Kolben auf die perforierte Stelle; das Schloß polterte in den dahinter befindlichen Raum. Lautlos ging die Tür auf. Buck spähte hinein. Keine Spur von Leben. Er winkte den anderen und betrat die Station. Oberstleutnant MacCormack und Jannis Kaunas folgten ihm auf den Fersen. »Jetzt kriegt er bestimmt dafür 'nen Orden...«, murmelte eine Stimme im Helmfunk. Sie verstummte abrupt, als sich Kaunas drohend räusperte. Bald drängte sich der ganze 14. Zug im leeren Korridor zusammen. MacCormack veranlaßte, daß das Bataillon mit den Pressor- und Strahlgeschützen einen Sicherungsring um den sichtbaren Teil der Grakostation bildete, ehe er mit Schütze Buck und Feldwebel Kaunas sowie dem Rest der Kampfspezialisten des 14. Zuges in das Innere der Station eindrang. Es war eine merkwürdige Welt, in die sie kamen. Mit angespannten Sinnen gingen sie durch ein Labyrinth von Korridoren, betraten Räume, deren Verwendungszweck ihnen verborgen blieb. Violett leuchtende Lichtträger warfen seltsame Schatten und schufen eine Helligkeit, die an ein Negativbild erinnerte. Erst als der Nano-Suprasensor ihrer schwarzen Panzerkampfanzüge auf IR umschaltete, wurde überraschenderweise eine fast normale Sicht gewährleistet. Es blieb alles still. Kein Schatten ließ sich blicken. In MacCormack schrillten immer mehr Alarmglocken. Entweder hatten sie tatsächlich alle Grakos getötet, oder diese hatten die Flucht ergriffen. Sich an einen Ort
zurückgezogen, an den die Terraner ihnen nicht folgen konnten. Der Helmfunk des Oberstleutnants piepte auf der Kommandofrequenz. Ein Kontakt von draußen. »Ja?«, sagte MacCormack. »Oberstleutnant...« »Lassen Sie die Floskeln, Clayton«, schnitt ihm der Kommandeur das Wort ab. »Wir befinden uns im Kampfeinsatz. Was gibt's?« »Wir haben eine Aufklärungsdrohne über der Station plaziert. Eure Biosignaturen sind klar und deutlich. Wir können sehen, wenn sich etwas nähert. Warnen Sie rechtzeitig.« »Okay«, sagte MacCormack. »Haben Sie einen Grundriß des Gebäudes erstellt?« »Grob, ja. Für die Feinarbeit war noch keine Zeit.« »Schicken Sie die Daten an jeden von uns.« »Kommt!« Auf der Innenseite ihrer Helmvisiere spiegelt sich neben dem Zeitindex ein grober Aufriß des Gebäudes. »Drei Querkorridore weiter, der große Raum«, sagte Buck. »Unser Ziel.« Woher er die Gewißheit nahm, er wußte es nicht. Eine Ahnung vielleicht. Aber auf das, was sie erwartete, war niemand von ihnen gefaßt. Minuten später waren sie am Ziel. Ein Tor, das dem Druck ihrer Hände nachgab und nach innen aufschwang. Dahinter lag ein großer, hoher Raum, fast mehr eine Halle. Die gewölbte Decke wurde von Reihen glatter Pylonen gestützt. Sie traten ein. Und verstummten. Im Innern bot sich ihnen ein grauenerregender Anblick. An den Seiten lange Vorrichtungen. Laborgestelle, in drei Reihen übereinander. Auf ihnen durchsichtige Kokons von
etwa einem Meter Größe. In den Kokons Grako-Embryonen in sämtlichen Stufen der Entwicklung. Mit so durchsichtigem Exoskelett, daß man alle Organe und das Gehirn sehen konnte. Verbunden untereinander mit komplexen Apparaturen, eingesponnen in ein Netz dünner Energieleitungen, Schläuche, spinnenartiger Vorrichtungen, die an Folterinstrumente gemahnten. Eine Alptraumwelt. Gespenstisch. Erschreckend. Die zuckenden, zitternden Bewegungen der insektoiden Embryos erweckten unwillkürlich den Eindruck des Leidens, der Qual. Man hörte ein dumpfes Stöhnen. »Reißen Sie sich zusammen, Soldat«, fuhr MacCormack den Betreffenden an. Kurt Buck hatte sein Diagnosegerät auf die Kokons gerichtet und betrachtete die flimmernden Anzeigen. »Wie ich's mir dachte«, sagte er und nickte. »Was dachten Sie sich, Schütze Buck?« schnarrte der Oberstleutnant. »Hätten Sie die Güte, Ihren Vorgesetzten aufzuklären?« »Selbstverständlich! Dies hier«, er machte eine umfassende Geste, »ist eine Aufzuchtstation für Grakos. Ihren Kindern sind wir schon begegnet, draußen im Gelände. Erinnern Sie sich noch, Kaunas?« wandte er sich an den Feldwebel. »Die kleineren Schatten, die, die wir ebenfalls getötet haben. Es waren Halbwüchsige...« Er richtete das Wort wieder an den Oberstleutnant. »Diese Kokons sind nicht etwa Brutkästen, sondern künstlich erzeugte Hyperraumfelder.« »Haben Sie eine Vorstellung, was Sie da sagen?« fuhr ihn MacCormack an, fügte aber gleich besänftigend hinzu: »Hmm... künstlich erzeugt, sagen Sie. Das würde bedeuten, daß die Grakos ihren Nachwuchs offenbar manipulieren, damit er so wird wie sie alle: teilweiser Bestand des Hyperraums.« »Das hieße aber«, rief Antoku Seiwa halblaut, »daß die
Grakos in ihrer Vergangenheit ursprünglich keine Spezies waren, die im Hyperraum existieren konnte. Ich frage mich...« Plötzlich fiel eine andere Stimme dem Japaner ins Wort. Sie plärrte auf der Bataillonsfrequenz und hatte somit höchste Priorität. »Alarm! Kode Rot! Kode Rot! Hier spricht Morrow, Aufklärungseinheit Delta-Echo-Zwo. Massierte Grakoverbände dringen von den Hügeln herab! Schwerbewaffnete, motorisierte Einheiten und Fußtruppen! Man kann sie gar nicht zählen. Es müssen Tausende sein. Sie kommen direkt auf uns zu...!«
REN DHARK
Drakhon-Zyklus Band 7
Schatten über Babylon erscheint Ende August 2001