FRIEDHELM WERREMEIER
OHNE LANDEERLAUBNIS
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE BLAUE REIHE Nr. 02/2310 Herausgegeben v...
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FRIEDHELM WERREMEIER
OHNE LANDEERLAUBNIS
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE BLAUE REIHE Nr. 02/2310 Herausgegeben von Bernhard Matt Neuausgabe der HEYNE Taschenbücher Band Nr. 02/1985 und 02/2009 Für diese Ausgabe vom Autor durchgelesen und überarbeitet
Copyright © 1982 by Friedhelm Werremeier Printed in Germany 1990 Umschlagfoto: Nele Schütz, München Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: IBV Satz- und Datentechnik, Berlin Druck und Bindung: Elsnerdruck, Berlin ISBN 3-453-04061-9
Der Anruf kommt aus Mailand: Trimmel soll am Hamburger Flughafen einen Mann treffen, den er angeblich kennt. Der Mann heißt Bergusson, und Trimmel kennt ihn tatsächlich. Bergusson hat bei einem Attentat seine Frau verloren und will nun selbst den Täter zur Strecke bringen.
1
Düsenmaschinen donnern über die nahe Stadt, als Max Bergusson das Haus verläßt, weiße Streifen am Himmel kreuzen sich und zerfließen. Strahlendes Wetter herrscht oben und auf der Erde: noch blauer geht’s nicht. Die Straßen von und nach Mailand sind leer um diese Vormittagszeit, auf den Airways jedoch drängelt es sich wie verrückt. Hundert und aberhundert Touristenbomber und Linienflieger spiegeln sich auf den Radarschirmen. Aber nirgendwo zeigt sich auch nur der dünnste Regenschauer; der Tag ist unheimlich schweißtreibend für die Lotsen in ihren klimatisierten Räumen. Immerhin, sie haben den Himmel über Europa voll unter Kontrolle. Der Flugplan ist pünktlich wie im ganzen Jahr bisher nicht. Und wenn nichts dazwischenkommt, kann Bergusson schon gegen Abend in Hamburg sein.
Morgens, gleich nach dem Aufstehen, hatte er Alpträume im Sonnenschein; am liebsten hätte er sich erschossen. Dann trank er Grappa Julia, einen Grappa mit Charakter. Der Taxifahrer sah ihn fragend an. »Air Terminal!« Jetzt fährt er, leicht benebelt, seit längerer Zeit ein häufiger Zustand bei ihm, aus der Mailänder Südstadt durch die Via Carlo Darwin und die Via San Gottardo und sagt sich wieder mal, wie so oft: Also, ehrlich, Max. Mit dir ist auch wirklich überhaupt nichts mehr los, seit du allein auf der Welt bist! Trübe Stimmungen am laufenden Band, heute in Mailand, vorgestern in London, morgen in Hamburg. Im Vorbeifahren
entdeckt Bergusson ein surrealistisches Filmplakat: ein SSOffizier hat den Hals voller Orden, aber über dem Hals sitzt statt des Gesichts ein nacktes Mädchen – der Schoß dort, wo der Kehlkopf sein sollte… Bergusson schüttelt sich. Dabei spielt er mit der rechten Hand auffällig in der Hosentasche herum. Der Taxifahrer sieht es im Rückspiegel und zieht prompt die falschen Schlüsse: Ein Deutscher natürlich, schlimmer als ein Römer. Blond und unverschämt gut aussehend… ein Schwein, sicher mit einem Haufen Geld… Das ist ebenso falsch wie ungerecht. Aber Max Bergusson hat sich sicher vieles selbst zuzuschreiben.
Grüne Welle in Mailand? Niemand hat’s je gehört. Man kriegt Magenkrämpfe, wenn man in der Schlange steckt, die sich alle zwei Minuten ein paar Meter von einer grünen Ampel zur nächsten schiebt. Es dauert ewig, bis Bergussons vergammeltes Taxi über die Piazza della Repubblica schleicht; dann, endlich, wird das Hotel Sonesta erreicht, dieser Luxusschuppen. Dem Fahrgast ist übel… Warum, zum Henker, ist er denn eigentlich so von der Rolle? Er weiß es inzwischen manchmal selbst nicht mehr. Er weiß oft nur noch, daß er bei jeder einschlägigen Gelegenheit das miese Gefühl hat, ein Sexualverkehr sei nicht mehr und nicht weniger als ein Akt der Nächstenliebe. Und daß es auf anderen Gebieten nicht anders ist… er will zwar immer wieder dagegen angehen, fürchtet jedoch, daß er es nie mehr schafft.
Auf der Rückseite des Sonesta liegt der Air Terminal, der Vorflughafen der Stadt, eine Orgie in Blau und Weiß, in Englisch und Italienisch. Auf der Toilette steht selbstbewußt:
Wir nehmen kein Trinkgeld! Dann behalt’ ich es eben! denkt Bergusson störrisch. Mailand, sagt ein Plakat, die Stadt der Männermode. In der Farbenpracht ringsum wirkt Max Bergusson auf den ersten Blick grau wie ein Sperling. Grauer, leicht taillierter Anzug, ein dezenter, schmaler Binder, das bißchen Bunt in Pastell, ein helles, aber grau getöntes Hemd, ein paar spitze, schwarze Schuhe, nicht mehr dem allerletzten Zeitgeist entsprechend… Gleich auf den zweiten Blick aber erkennt man, daß der Anzug von Cardin ist, die Krawatte von Pucci und das Gepäck vom Krokodil. Eine Reisetasche und ein schmaler Handkoffer… daß der Koffer einen doppelten Boden hat, sieht man überhaupt nicht. Innen im Terminal kämpft sich Bergusson zwischen der Information und dem Förderband für Touristen – Uscita, Exit in blau und weiß – durch die Menge zur Bar. Whisky will er bestellen, und statt dessen sagt er: »Un espresso, prego!« Dabei wäre es auf die paar Promille zusätzlich eigentlich auch nicht mehr angekommen.
Er steht an der Theke und spielt zwischen zwei Schlückchen Kaffee wieder mit der Hand in der rechten Hosentasche. Eine reife Person mit einem Nerz über dem Arm, Französin vermutlich, neununddreißigeinhalb, sieht fasziniert zu; auch Damen, die wirklich Damen sind, schauen sich heutzutage die Dinger genauer an. Er trinkt abermals einen winzigen Schluck, nimmt aus einer deutschen Schachtel ein Zündholz, legt sich die Schachtel zurecht, zündet das Hölzchen an wie ein Artist, alles mit der linken Hand – und stutzt. Merkt jetzt erst, daß er noch gar keine Zigarette im Mundwinkel hat. Fingert also mit links eine
Players heraus, und das Kunststück beginnt von vorn. Dann endlich der tiefe Lungenzug… die Vollreife, äußerst interessierte Zuschauerin kriegt den Rauch rücksichtslos ins Gesicht. Gott, was für ein Mann! denkt sie ergriffen. Mit dem im Bett! Ein Mann ohne alle Manieren… einer, der’s bestimmt besser kann als alle anderen… Einmal mehr: dieser Eindruck trügt. Zwar hat Max Bergusson immer schon sehr direkt und unmittelbar auf Frauen gewirkt. Aber der Typ Weib, der seine Signale empfängt, hat sich entscheidend geändert, seit er Witwer ist. Der Schock, der ihm fast das Herz abklemmt, trifft ihn noch in derselben Minute. Er sieht Racadi und schnappt nach Atem. »You’re all right?« fragt die Französin hoffnungsvoll. Bergusson hört’s nicht. Denn auf diesen Mann hat er seit vielen Monaten gewartet, seinetwegen säuft er alles zwischen Chivas Regal und Grappa Julia und Fuselöl. Seinetwegen hat er den doppelten Boden im Koffer und fast ständig die Hand in der Tasche. Seinetwegen ist er Witwer. Der zierliche, drahtige, selbst für Mailand etwas zu modisch gekleidete Araber steht an der Information. Flottes Bärtchen, nachtschwarze, auf zehn Meter Distanz verträumt wirkende Augen, ein bißchen attraktive Brutalität in der unteren Gesichtshälfte – ganz der junge Omar Sharif aus Hollywood. Aber es ist nicht Omar Sharif aus Hollywood, sondern Femal Racadi aus Beirut – aus Beyrouth, wenn es nach der Abflugtafel geht: Femal Racadi persönlich! Aus Bergussons Mundwinkel fällt die Zigarette. So lange hat er geduldig auf der Lauer gelegen – jetzt plötzlich zittert er am ganzen Körper… Die Französin kriegt’s mit der Angst zu tun, als sie ihm ins Gesicht schaut. Sie begreift offenbar sofort: hier beginnt ein
Spiel, bei dem sie nichts zu suchen hat. Ein verrücktes, gefährliches Spiel unter Männern… also rückt sie so weit weg, daß sie vor Bergussons riesiger Schnapsfahne – und vor allem vor ihm selbst endgültig sicher ist.
Bergusson schiebt sich unauffällig zur anderen Seite. Racadi, sieht er, lächelt die Hexe mit den Porzellanzähnen an der Information an und spricht auf sie ein. Aber als Bergusson fast neben ihm steht, sagt er leider nur noch: »Mille grazie, Signorina!« Also muß er ihm dicht auf den Fersen bleiben. Und er hat Angst, daß Racadi seinen Herzschlag hören kann, der durch das ganze Gebäude dröhnt… Racadi stellt sich auf das Förderband und fährt schräg nach unten, scheinbar in den Hades, und Bergusson folgt ihm im Abstand von fünf Metern. Sie gehen durch einen gekachelten Gang, eine gelbe Höhle, die aussieht wie eine Leichenhalle… und aus tausend runden Lautsprechern dröhnt das Inferno, stereophonisch verstärkt: die Rolling Stones at their best and biggest… Stopp auf halber Strecke. Racadi bleibt stehen und löst für 500 Lire eine Fahrkarte für den Bus zum Aeroporto Forlanini, zum internationalen Flughafen Mailand-Linate. Bergusson, sein Verfolger, legt einen Tausender hin und bekommt mit dem Ticket ein paar Münzen zurück. Bergusson kennt Racadi. Aber Femal Racadi hat ihn nie gesehen – das ist für den Verfolger ein Riesenvorteil. Bergusson steigt hinter Racadi in den Bus, geht an ihm vorbei und setzt sich in die letzte Reihe. Um Punkt 13 Uhr legt der Fahrer kreischend den ersten Gang ein und fährt los. Millimeterarbeit, bis der dicke Bus sich aus dem Keller auf den
Platz des Herzogs von Aosta hochgewürgt hat. Durch den Verkehrslärm dort dann ein komisches Geräusch: Radio? Aber nein, der Fahrer singt! Ein Neapolitaner mitten in Mailand. Kinderlieb ist er auch noch. Und Bergusson in seinem Streß treibt es den Schweiß auf die Stirn, als er von hinten sieht, was der Fahrer vorn macht: Neben ihm stehen zwei Jungen. Italienische Lausebengel mit einer fetten, strahlenden Mamma. Offenbar Zwillinge, fünf oder sechs Jahre alt. Wie ein Verschwörer redet der Fahrer auf die Jungen ein, als er gefährlich dicht an einem Polizisten vorbeifährt, einer blauen Statue mit weißen Handschuhen, Tropenhelm und einem Milchgesicht. Und dann zeigt er den Gören, wie man die automatischen Türen des grünen Busses öffnet und schließt, öffnet und schließt, öffnet und schließt… sie quietschen vor Vergnügen. Aber der Bus muß alle nasenlang vor einer Ampel anhalten. Und wenn Racadi Verdacht schöpfen, wenn er mißtrauisch werden sollte – ein Satz, und er wäre verschwunden! Via Vitruvio. Markt auf der Via Benedetto Marcello. Via Plinio, ein rosa Hochzeitsstrauß vor der Tür von Plinio 37. Überall soviel Betrieb, daß Bergusson den Mann, den er verfolgt und auf jeden Fall lebend haben will, niemals wiederfinden würde… Femal Racadi jedoch bleibt ahnungslos auf seinem Platz hinter dem Fahrer sitzen, sieht dem Spiel mit den Türen zu und lächelt mit neunundzwanzig weißen und drei goldenen Zähnen amüsiert vor sich hin. Trotzdem, Bergusson hinter ihm hat schon wieder Grund zur Aufregung. Ein blauweißes Schild mit einem Flugzeugsymbol huscht vorbei: Linate. Der Fahrer beachtet es nicht… fährt er gar nicht zum Flughafen? Nicht doch: er nimmt nur eine Abkürzung. Via Gasparee Aselli. Viale Corsica. Böse Sprüche gegen den US-Präsidenten
auf einer Mauer. Daneben ein Davidstern und die Inschrift: Breshnev let my people go! Und endlich die sechsspurige Ausfallstraße… es wäre nicht Mailand, wenn nicht auch sie gleich die erste Baustelle hätte! Ist es nicht ein Wunder, daß der Bus trotzdem nach zwanzig Minuten Fahrzeit wohlbehalten mit dreißig Passagieren, darunter Racadi und Bergusson, am Flughafen Linate ankommt?
Um 13.02 Uhr hat Bergusson seinen Hangover überwunden. Bei sechsundzwanzig Grad plus im Schatten ist er ruhig geworden und kalt bis ans Herz. Von 13.03 Uhr an handelt er endlich planmäßig und überlegt. Eine Bar links vom Eingang, dem internationalen Abflug gegenüber, ist Racadis erstes Ziel. Er kauft an der Kasse einen Zettel, für den er an der Theke eine Cola bekommt; ein Handkoffer ist sein einziges Gepäck, und er ist flink wie ein Wiesel… er könnte immer noch blitzschnell verschwinden. Trotzdem. Bergusson läßt den Araber zwangsläufig für eine Minute allein, sucht sich ein freies Schließfach und deponiert dort seine Reisetasche. Dann geht auch er zur Bar, besorgt sich ebenfalls eine Cola und studiert – mit dem Rücken zur Theke, fünf Meter neben Racadi – die Tafel mit den Abflugzeiten und den vielen Schreibfehlern. Wohin wird Racadi fliegen? überlegt Bergusson. Wohin geht meine eigene Reise…? Draußen nähert sich kreischend eine Air-Nigeria-Maschine; der Kellner drinnen kontert mit einer fauchenden Espressomaschine. Von einer italienischen Durchsage hört man nur Fetzen: Decollo und Volo, Lufthansa und Boeing. Racadi rührt sich nicht, und Bergusson wird sich endgültig klar
darüber, daß er improvisieren muß. Von Mailand aus führen sechs Autobahnen und ein Dutzend Luftstraßen in alle Welt… Als die Düse draußen verstummt, hat der Kellner ein Einsehen und stellt seine Höllenmaschine ebenfalls ab. Die Durchsage wird auf deutsch wiederholt: »Achtung, bitte, Abflug Lufthansa Flug acht fünf drei nach Stuttgart und Hamburg. Die Passagiere werden gebeten, sich zur Paß- und Zollkontrolle zu begeben…« Für diesen Flug hat Bergusson ein Ticket in der Tasche, wird es aber nicht benutzen –, auch wenn er dann heute nicht mehr nach Hause kommt. Racadi nämlich fliegt mit Sicherheit woanders hin – er kann es sich gar nicht leisten, nach Hamburg zu fliegen. Außerdem, was heißt das schon für Bergusson – nach Hause…? Seine rechte Hand steckt wieder in der Hosentasche und berührt den vom vielen Anfassen längst angenehm warmen Stahl. Den Stahl einer Pistole. Einer zierlichen, unauffälligen, griffigen FN vom Kaliber 6,35, Fabrique Nationale des Armes, die er seit längerem besitzt. Tag für Tag hat er sie von einem Anzug in den anderen geräumt, wie die Brieftasche und den Kamm… und warum? Ja, eben – deshalb! Weil ich kein Zuhause mehr habe! denkt Bergusson sachlich. Und damit verschwindet ein für allemal alle Wehleidigkeit des letzten Jahres.
Es ist fast 14 Uhr, als Max Bergusson endlich einen konkreten Hinweis aufschnappt. Um 15.20 Uhr soll eine Maschine der übernationalen Gesellschaft Air Europe nach Athen und Beyrouth starten. Und um 13.55 Uhr sieht Bergusson, wie Racadi einen Flugschein von Air Europe aus der Brieftasche zieht und ihn mit den Abflugzeiten auf der Tafel vergleicht, offenbar, weil er nichts Besseres zu tun hat.
Also Beirut. Aber ist das sicher? Kann man mit einem Ticket von Air Europe nicht auch mit einer anderen Gesellschaft fliegen? Bergusson zögert: er will unbedingt auf dieselbe Maschine wie Racadi, und es starten noch Flugzeuge nach Casablanca und Kairo. Er zögert viel zu lange, kauft sich erst mal eine zweite Cola, und die Zeit verrinnt. Sie verrinnt so schnell, daß er mit einem Male in Zugzwang gerät. Um 14.28 Uhr stößt ein Italiener, der sich vielmals entschuldigt, Racadis Handkoffer um; dabei sieht Bergusson, daß am Griff des Koffers ein Anhänger für Kabinengepäck der Air Europe baumelt. Er beschimpft sich selber; er hätte eben doch früher davon ausgehen müssen, daß Racadi tatsächlich nach Beirut fliegen will. Denn jetzt hat er plötzlich soviel zu tun, daß er es in einer halben Stunde kaum schaffen kann. Bergusson möchte am liebsten rennen, um Sekunden zu sparen. Dennoch behält er die Nerven: er läßt zwar seine zweite Cola halb stehen, geht aber – im Blickfeld Racadis – absichtlich langsam und lässig nach rechts. Die gesamte Schalterreihe Prenotazione-Booking ist momentan nicht besetzt; Mailand ist ein großer, aber auch ziemlich gammeliger Flughafen. Immerhin hängt am äußersten Buchungsschalter rechts neben dem großen Alitalia-Schild auch ein kleines rotgelbes Schild der Air Europe – und dort nimmt, um 14.44 Uhr, eine makellos manikürte und geschminkte junge Dame ihren Dienst endlich wieder auf. Bergusson zwingt sich abermals zur Ruhe. »Buon giorno. Sprechen Sie Deutsch?« Sie strahlt ihn an, nickt, und ein französischer Akzent bricht durch. »Was kann isch für Sie tun, mein ‘err?« »Ich möchte einen Flugschein und einen Platz nach… nach Athen«, sagte Bergusson, »für die Air Europe, die dann nach
Beirut weiterfliegt!« Warum, hat er sich überlegt, soll er mehr Geld ausgeben als nötig? »Einen Augenblick, mein ‘err!« Sie spielt virtuos auf ihrem Buchungsautomaten. Bergusson tritt von einem Fuß auf den anderen. »Ja, das geht!« sagt sie schließlich. »Auf welchen Namen darf isch den Flugschein ausstellen?« »Martens!« sagt Bergusson, ohne zu zögern – genau, wie er es sich seit ewigen Zeiten ausgedacht hat. »Vorn mit Martha, hinten mit Siegfried!« Und während sie schreibt, erkundigt er sich scheinbar angstvoll: »Ist die Maschine sehr voll?« »Nein«, sagt das Mädchen, »warum fragen Sie?« Er gibt sich einfältig. »Es ist sicher Unsinn. Ich habe bei vollbesetzten Flugzeugen immer Angst, sie können sich nicht in die Lüfte erheben…« »In die Lüfte?« wiederholt sie verständnislos. Aber ihr Lächeln, gleich darauf, ist nachsichtig: schließlich lebt ein Flughafen von seinen komischen Vögeln. »Da können Sie ‘eute ganz zufrieden sein, Monsieur Martens. Die Air Europe sechs eins zwei ist nur ‘alb ausgebukt!« »Danke«, sagt Bergusson, »danke vielmals!« Sie nickt, ohne ihn anzusehen. »Soll der Rückflug offen bleiben?« »Kein Rückflug!« sagt er. »Bitte sehr…« Er hat die Kreditkarte schon in der Hand, steckt sie aber gleich wieder weg, erschrocken über sich selbst: fast hätte er den Flugschein für Martens mit einer Karte auf den Namen Bergusson zu bezahlen versucht! »Ich geh’ mal eben rüber und besorg mir ein paar Lire!« Er ist schon weg, als sie ihm nachruft: sie nimmt auch Mark und Dollar, im Grund sogar viel lieber. Er will indessen, in jäher Panik, vor allem sehen, wo Racadi inzwischen geblieben
ist – und er sieht erleichtert, daß der Araber immer noch an der Bar steht… Nimm dir ein Beispiel, denkt Bergusson, der Kerl hat ja wirklich die Ruhe weg! Am Bankschalter bekommt er für acht blaue Hundertmarkscheine einen Haufen Geld. Er drückt die Scheine, auf dem Weg zurück zum Buchungsschalter, mit der rechten Hand zusammen und schiebt sie mit seiner Faust in die Hosentasche. Sein Zeigefinger streckt sich dort aus und tastet Metall… das Ding ist gar nicht so schwer zu tragen, wenn man daran gewöhnt ist… Plötzlich muß er hart bremsen, um nicht mit Racadi zusammenzuprallen. Racadi geht von der Bar zum Check-in-Schalter; sekundenlang begegnen sich ihre Blicke, aber Bergusson schafft es, nicht mal mit der Wimper zu zucken. Aufatmend sieht er, daß inzwischen alle Buchungsschalter geöffnet sind – das ist kolossal wichtig für ihn. Außerdem ist momentan kaum Betrieb – auch das trifft sich gut. Und dem Mädchen, das sein Ticket ausgeschrieben hat, legt er den ganzen Lirehaufen hin: es bleibt noch einiges übrig. »Bon voyage!« sagt die junge Dame, der Einfachheit halber jetzt gleich auf französisch. Und weil sie hier die netteste ist, hat sie gleich einen neuen Kunden. Max Bergusson aber geht blitzschnell zum äußersten Booking-Schalter links. Um 15.45 Uhr, hat er gesehen, startet eine DC 9 der Alitalia nach Nizza. Er fragt die Angestellte, die hier ausschließlich Alitalia-Flüge verkauft, auf englisch, ob’s noch einen Platz nach Nizza gibt. Die mollige Blonde, offenbar eine Lombardin, sieht ihn skeptisch an. »You can only have First Class…« »But that’s all right!« entscheidet er. Was soll’s noch? In zehn Minuten soll die Air Europe abfliegen, obgleich allerdings noch keine Lautsprecherdurchsage erfolgt ist…
»Your name, please?« »Bergusson!« »Can you spell it, please? Buch-sta-bieren?« B wie Bologna, E wie Emilia, R wie Ravenna. Und G wie Genova… oder wie Gangster… Denn Bergusson weiß ja genau, warum er auf ein Ticket, das er nicht benutzen wird, seinen einstweilen noch ehrlichen Namen schreiben läßt, und auf das andere, das richtige, einen falschen: überall in der Welt hat er mit diesem Trick die besseren Chancen, durch die Kontrollen zu kommen! Ist das etwa kein Gangsterverhalten? Er zahlt diesmal mit seiner Air Travel Card, also bargeldlos. Ein Blick auf die Uhr: noch vier Minuten bis zur Startzeit der Maschine nach Athen und Beirut. »I wish you a pleasant flight to France!« sagt die mollige Blonde mit ihrem Berufslächeln für Passagiere der Ersten Klasse. Noch drei Minuten. Wo gibt’s ein Telefon? Das Postamt liegt am anderen Ende der Halle. Max Bergusson rennt hin: es ist gedrängt voll. Er schafft’s nicht mehr, denkt er verzweifelt, die Zeit ist abgelaufen, er selbst hat sie vergeudet… Aber genau zur vorgesehenen Startminute der Air Europe wird Bergusson – der vierte Mann in der Schlange vor dem Telefonschalter – durch den Lautsprecher erlöst. Erst in italienischer, dann in deutscher Sprache: »Air Europe bedauert, daß sich der Abflug Ihres Fluges 612 wegen verspäteter Ankunft der Maschine um vierzig Minuten verzögert…« Wider Erwarten doch die erste Verspätung des Tages. Und sicher dieselben dummen Sprüche wie schon bei der Erfindung des Luftverkehrs. Aber Bergusson stöhnt vor Erleichterung. Er legt den goldenen Parker zur Seite, mit dem er dem Telefonmädchen in der braunen Uniform die Nummer
aufschreiben wollte, holt in aller Ruhe seine Zigaretten aus der Tasche und zündet sich, diesmal mit beiden Händen, eine an. Dann erst malt er die Nummer auf, die er seit fast einem Jahr im Kopf hat: Hamburg 24 82 01. Und für alle Fälle auch noch die genaue Adresse: D-2000 Hamburg 1, Beim Strohhause 31. Polizeipräsidium… »Hamburg Headquarter?« fragt die Braune mit den grünen Lidschatten respektvoll, als er an der Reihe ist. »Yes, please, Signorina!« sagt Bergusson, nimmt ihr den Zettel noch einmal weg und ergänzt ihn: Paul Trimmel. In Zelle Numero Uno muß er dann doch ewig warten, bis sie gewählt und durchgestellt hat. Zehn glühend heiße Minuten lang. Aber wenig später hat er alles in der Tasche, was er möglicherweise braucht: die Quittung über ein mit Hamburg geführtes Telefonat, wenngleich das im Zeitalter des Selbstwählverkehrs im Zweifelsfall wenig beweiskräftig ist, außerdem eine Flugkarte First Class nach Nizza und eine Karte Economy nach Athen. Sekundenlang ärgert er sich, daß er statt mit Trimmel nur mit einem Kommissar vom Dienst sprechen konnte –, außerdem darüber, daß sie ihm bei der NizzaBuchung gleich einen Hin- und Rückflug angedreht haben. Aber was soll’s! denkt Max Bergusson. Vielleicht kann ich die ganzen Tickets demnächst in Zahlung geben – auf das Konto für meinen Verteidiger! Er geht zum Telefon zur Bar und von dort in den Waschraum für Herren. Normalerweise würde er jetzt die FN aus der Hosentasche nehmen und in die Reisetasche stecken, die er dann anschließend aufgeben würde… insofern war’s eine Vorentscheidung, als er die Tasche ins Schließfach packte, wo sie jetzt ewig und drei Tage liegen wird, bis man sie von Amts wegen rausholt. Jetzt jedenfalls läßt er den Aktenkoffer aufschnappen, öffnet das Geheimfach im doppelten Boden,
legt die Pistole hinein und läßt Fach und Koffer wieder zuschnappen. Passagiere nach Nizza, sagt er sich nochmals, werden an diesem heißen Nachmittag sicher nicht allzu gründlich gefilzt. Ein Risiko geht Bergusson natürlich immer ein, auch als vermeintlicher Nizza-Passagier. Aber er hat inzwischen keine Wahl mehr – und er will es so! Auf dem Rückweg zur Abfertigung geht er in die Capella, der Toilette gegenüber. Sechs Kerzen brennen, zwei Frauen sitzen vor einem stilisierten Kruzifix aus Draht. Bergusson ist versucht, zu beten; kurzfristig wird er abgelenkt… Abgelenkt geht er zur Paßkontrolle und legt mit seinem deutschen Paß den Flugschein nach Nizza vor. Der Beamte sieht ihn groß an. »Bordkarte?« Bergusson ist entsetzt über sich selbst. »Scusi, Signore…!« Der Signore lacht; Bergusson geht schleunigst zur Abfertigung. Er läßt sich dort zuerst für den Alitalia-Flug 1447 nach Nizza abfertigen, unter seinem richtigen Namen. Die Hostess schaut auf die Uhr: er ist auch hier wieder verdammt spät dran, aber es reicht gerade noch… »First Class, Herr Bergusson. Bitte steigen Sie vorn in die Maschine ein, meine Kolleginnen werden sich dort sofort um Sie kümmern!« Bergusson bemüht sich, die Frau gar nicht anzusehen. Denn seinetwegen wird die Maschine nach Nizza möglicherweise verspätet abfliegen, weil er nicht an Bord kommt… er kann nur hoffen, daß sich die Hostess hier nicht mehr an ihn erinnert, wenn sie ihn – zu einem Zeitpunkt, zu dem sie ihn vermissen – zufällig woanders sieht. Er geht in weitem Bogen zum Abfertigungsschalter für die Air Europe nach Athen und Beirut und läßt sich unter seinem falschen Namen einchecken. »Kein Gepäck? Danke. Guten Flug, Herr Martens!«
Dann wieder der Paßbeamte. Derselbe wie vorhin. Bergusson grinst ihn an: »Okay now?« Der Beamte gibt ihm seinen Paß und die rote Bordkarte nach Nizza zurück. Und jetzt kommt die eigentliche Klippe: die Gepäckkontrolle mit der Leibesvisitation. Vor Bergusson wird ein Mann mit einer grauen Bordkarte wahrhaft schauerlich gefilzt. Sie legen ihm den Inhalt seines Köfferchens neben das Köfferchen, jeden Waschlappen. Er darf selbst wieder einpacken, und anschließend verschwindet er fast zwei Minuten lang zur Leibesvisitation in der Kabine… Aber es ist doch wirklich sonnenklar: es liegt wirklich nur an der Farbe seiner Bordkarte. Graue Bordkarten nämlich gehören zum Nahost-Flug nach Athen und Beirut.
Ding-Dong… ein Aufruf in italienischer und französischer Sprache kündigt den Alitalia-Abflug nach Nizza an. Wegen des Athen-Beirut-Passagiers vor ihm steht Bergusson mit der roten Bordkarte nach Nizza immer noch an der CarabinieriKontrolle. »Nizza?« sagt der Beamte in der blauen Uniform dann reichlich vorwurfsvoll. »Hurry up!« Er läßt sich zwar den Koffer öffnen, macht ihn aber sofort selbst wieder zu und deutet auf die Kabine. Dort wird Bergusson nur oberflächlich abgetastet – und dann ist er durch, mitsamt seiner Pistole. Daß das Handgepäck der Passagiere in Mailand derzeit nicht durchleuchtet wird, hat er schon vorher gewußt. Auf einem roten Kunstledersessel, sieht Bergusson, sitzt Femal Racadi. Er raucht eine ellenlange dunkle Zigarre, dünn wie ein Getreidehalm. Dabei blickt er auf das Vorfeld, wo ein paar Maschinen aufgetankt werden: eine Boeing 727 der Air
Europe ist nicht dabei. Offensichtlich ist Racadi über die Verspätung ziemlich verärgert. 15.45 Uhr. Bergusson setzt gerade eine Sonnenbrille auf, als die Lautsprecherdurchsage kommt: »Mister Bergusson, please contact Alitalia Counter, Mister Bergusson, Passenger to Nice…« Damit hat er rechnen müssen. Aber es kommt ihm ungeheuer laut vor – und prompt sieht er, wie Racadi sich interessiert und vorsichtig umsieht: Bergusson…? Racadi ist angeblich Terrorist, und den Namen Bergusson hat er bestimmt noch nicht vergessen. Terroristen leben nicht lange, wenn sie vergeßlich sind… also, wie laut klingelt die Alarmglocke in Racadis Gehirn? »Mister Bergusson, Passenger to Nice…« Racadi lehnt sich entspannt wieder zurück. Ein Mann, der nach Nizza fliegt, kann ihm auf dem Beirut-Flug eigentlich nicht gefährlich werden, mag er denken. Bergusson sieht, wie er sich räkelt und einen neuen Zug aus seinem dünnen Strohhalm nimmt… Der Trick mit dem Flugschein nach Nizza, der Max Bergusson ohne Anstand durch die Kontrollen gebracht hat, ist ein zweites Mal nützlich und erfolgreich gewesen. Wenig später rollt die DC 9 der Alitalia ohne den Fluggast Bergusson zum Start – dieses Problem ist aus der Welt.
Ding-Dong… diesmal ist die Durchsage zwar nicht gefährlich, aber äußerst ärgerlich. »Air Europe bedauert, bekanntgeben zu müssen, daß sich der Start ihres Fluges sechs eins zwei nach Athen und Beirut weiter verzögert. Die aus Paris kommende Maschine wird voraussichtlich nicht vor siebzehn Uhr dreißig in Mailand landen, der Weiterflug nach Athen wird eine
Stunde später erfolgen. Air Europe regrets to announce…« Die nächste Mitteilung, sagen sie, ist gegen 17 Uhr zu erwarten. Zwei Dutzend Fluggäste von Air Europe, noch mehr verärgert als zuvor, stehen auf, vertreten sich die Beine, zünden sich nervös Zigaretten an, schauen still aus den Glasfenstern, schimpfen laut vor sich hin oder schlendern leise weinend zur Bar. Und zur letzten Gruppe gehört auch Femal Racadi. Max Bergusson folgt ihm eine halbe Minute später.
Fast wider alles Erwarten wird dann um 17 Uhr bekanntgegeben, daß der Start des verspäteten Air-EuropeFluges 612 endgültig um 18.45 Uhr erfolgen soll. Und kurz darauf rollt die rotgelbe Boeing, angekommen aus Paris, tatsächlich aufs Vorfeld. Bergussons Kehle ist so trocken, daß er husten muß, obgleich er inzwischen mindestens sechs Cola getrunken hat. Er zittert, weil er seit sieben Stunden ohne Alkohol lebt- und er ruft energisch: »Scotch!« Sofort ist der Kellner da – mit dem letzten harten Drink für die nächsten harten Stunden. Es wird besser gehen, wenn er wenigstens etwas frischen Alkohol im Blut hat, denkt Bergusson. Es ist besser für die Kehle, für die Hände und vor allem die Nerven. Max Bergusson kippt den Whisky hinunter und wird sofort ruhiger. Er hatte reiche Eltern, niemals Sorgen beim Studium, von Anfang an einen guten Job und eine wirklich glückliche Ehe. Er hat niemals auch nur den Gegenwert einer Briefmarke geklaut. Und jetzt… geht er, gerissen wie ein Schwerverbrecher, zur Toilette in der Abflughalle; er zerreißt die rote Bordkarte nach Nizza, die immer noch in seiner Jacke steckt, in winzige Fetzen und spült sie sorgsam ins Klo. Er nimmt die graue Karte für den Athen-Beirut-Flug heraus und
plaziert sie in die Jackentasche außen rechts, wie ein Einstecktuch: Er ist gerüstet. Bei der Flugsicherung wissen sie längst, daß die Air Europe 612 um 18.45 Uhr rausgehen wird, mehr als eine Stunde nach der Landung der Maschine. Früher wär’s schon deshalb kaum möglich gewesen, weil sich immer noch ein Dutzend silberne Vögel auf dem Radarschirm mit dem Radius 60 nautische Meilen 111 komma 12 Kilometer drängeln. Und bei jeder Umdrehung des grünen Radarstrahls springen die Flugzeugsymbole um ein winziges Stückchen zum Mittelpunkt vor – zu immerhin auch noch zwei Mailänder Flughäfen, Linatee und Malpensa. Jetzt aber rattert der Fernschreiber scheinbar unverständliche Zahlen und Buchstaben herunter: FPL AE 612 R/RI001745 A 9… Die Luftstraße Amber 9 nach Südsüdost ist für die verspätete Boeing 727 der Air Europe mit der effektiven Abflugzeit 18.45 Uhr gleich 17.45 Uhr Greenwich Time ab Mailand frei; Flugplan, Instrumentenflug, Kennzeichen, Zielflughafen. Und Weitergabe nach oben, sozusagen, zur Zentrale in der FIR, phonetisch Eff Aii Aar, Flight Information Region Neapel. Sie ist das Gehirn für den gesamten italienischen Luftraum, und ihre Computer beginnen mit der Speicherung aller Daten des Air-Europe-Fluges 612, bevor die Maschine überhaupt gestartet ist. Dann erfahren es alle: »Abflug des verspäteten Air-EuropeFluges sechs eins zwo nach Athen und Beirut. Alle Passagiere, die noch nicht zur Paß- und Zollkontrolle waren, werden gebeten, sich umgehend dorthin zu begeben. Departure of Air Europe Six One Two to Athens and Beyrouth…« Liremünzen scheppern auf die Teller für das Trinkgeld – an den Flughafenbars ist man lange nicht so großkotzig wie auf
der Terminaltoilette. Und ein großes Aufatmen geht durch die Abflughalle. Racadi wird am Ausgang zum Rollfeld aufgefordert, seine dünne Zigarre zu löschen. Er steckt sie in einen Eimer voll Sand, und da steht sie nun wie ein verkohlter Halm nach einem Steppenbrand. Max Bergusson, seit einiger Zeit wieder auf seiner Lauerposition, steckt seine Zigarette energisch daneben und zückt seine Bordkarte. Ob der Hamburger Kommissar, mit dem er vor drei Stunden telefoniert hat, Trimmel alles ausgerichtet hat? denkt er ein allerletztes Mal. Und ob Paul Trimmel sich an alles erinnert, an das er sich erinnern soll?
2
»Am Abend, bevor sie starb, kam meine Frau Marion um kurz vor sechs aus dem Büro«, erinnerte sich Bergusson, als Trimmel ihm seinerzeit den ersten Besuch abstattete; »nehmen Sie noch einen Cognac?« Trimmel schüttelte den Kopf, aber Bergusson hatte gar nicht hingesehen und schon eingeschenkt. Immerhin, es war ein sehr guter Cognac, wie fast alles in diesem noblen Haus im grünsten Hamburger Othmarschen. »Es war am zweiundzwanzigsten März«, fuhr Bergusson fort, »sie hupte dreimal, ihre übliche Tour, und ich war gestört, weil ich mir Arbeit mit nach Hause genommen hatte und schwer denken mußte. Ich ging ziemlich sauer zum Fenster, sah ihren blauen Volkswagen und machte das übliche miese Gesicht. Gott, war ich ein Arschloch!« Trimmel stand auf und sah aus dem Fenster, das Bergusson gemeint hatte. Draußen stand ein blauer Käfer, und aus einer nicht ganz geschlossenen Garage daneben ragte das Heck eines hellblauen Mercedes. »Müssen Sie nicht einen schwarzen Mercedes fahren?« fragte Trimmel. »Als Dienstwagen, ja«, meinte Bergusson, »American Oil ist da genau so konservativ wie andere Konzerne… aber das da draußen, das ist mein Privatwagen. Ich fahre meistens blaue Autos… schwarze sehen immer aus wie Särge…« Womit sie wieder beim Thema waren. »Marions kurzer Rock ärgerte mich als nächstes, als sie ausstieg«, sagte Bergusson, »sie zog immer sofort mit, wenn die Mode wieder mal kürzer wurde. Sie hatte überhaupt einen
eher jugendlichen als damenhaften Geschmack… aber sagen Sie bitte, Herr…« »Trimmel!« sagte Trimmel. »…Herr Trimmel, richtig, ich werde es jetzt nicht mehr vergessen… ich meine, ich frage mich, ob ich vielleicht zu weitschweifig bin? Ihre Kollegen haben mir ja schon Löcher in den Bauch gefragt, und Sie stellen seltsamerweise überhaupt keine Fragen…?« »Erzählen Sie weiter!« sagte Trimmel. Er setzte sich wieder hin und nebelte sich mit einer schwarzen Zigarre dunkelblau ein. »Na schön… es tut mir im Grunde sicher ganz gut, mich mal in Ruhe auszuquatschen… wo war ich stehengeblieben?« Kein Wunder, er war etwas verwirrt. »Bei den Röcken Ihrer Frau!« sagte Trimmel. »Richtig! Ob man ihr etwa ihre einundvierzig Jahre ansehen könne, fragte Marion mich häufig und sah sich dabei im Spiegel an. Natürlich würde man ihr die einundvierzig Jahre nicht ansehen, sagte ich dann, und das war weiß Gott nicht gelogen. Allerdings, eins war mir klar… Marion wäre sehr gern jünger gewesen!« »Sie war älter als Sie?« »Fünf Jahre, so gesehen nicht die Welt. Aber ich wollte Ihnen erzählen, wie wir an diesem Abend diesen Streit kriegten… eine idiotische Geschichte, wenn man von der Katastrophe am nächsten Tag absieht. Marion kam also herein und war sehr aufgeregt und sagte, sie hätten heute die Polizei im Büro gehabt. Warum das denn, fragte ich, und daraufhin erzählte sie mir die Sache mit der Bombendrohung. Zufällig war sie selbst am Telefon gewesen, als diese Frau anrief… den Teil der Geschichte kennen Sie ja…«
»Ja… aber Moment«, sagte Trimmel, »können Sie sich noch an den genauen Wortlaut erinnern? So, wie Ihre Frau ihn wiedergegeben hat?« »Jede Silbe!« meinte Bergusson. »Ich hab’ ja tausendmal über alles nachgegrübelt. Laut Marion sagte das Mädchen wörtlich: Passen Sie morgen gut auf, morgen nachmittag wird ein Attentat auf Ihr Büro verübt!« »Womit sie ja recht hatte!« sagte Trimmel. »Ja. Schrecklicherweise. Die Stimme habe sehr jung geklungen, meinte Marion noch, aber auch so seltsam, als hätte sie ein Taschentuch um die Sprechmuschel gewickelt… oder als hätte sie gerade geweint…« Bergusson schenkte abermals ein, wirkte vorübergehend abgelenkt, sah zur Haustür hinüber und sagte: »Ich glaub’, ich nehm’ lieber Whisky!« Er benahm sich an diesem letzten Märznachmittag des Vorjahres wirklich ziemlich sonderbar für einen frischen Witwer. »… jedenfalls machte ich Schwachkopf mit meiner ewigen Contenance Marion auch noch Vorwürfe, weil sie nach dem Anruf die Polizei verständigt hatte! Ich in meiner hirnverbrannten Art, möglichst kein Aufsehen… ich kann’s mir wirklich nur so erklären, Herr Trimmel, daß ich grundsätzlich nie damit einverstanden war, daß meine Frau berufstätig war. Und dann gab ein Wort das andere…« Trimmel nickte nur. »… auf der anderen Seite«, sagte Bergusson, plötzlich fast beiläufig, »soll man ja auch nichts überdramatisieren, außerdem glaubte ich im Gegensatz zu ihr nie an böse Vorahnungen. Ich konnte es einfach nicht begreifen, daß sie so hysterisch reagiert hatte und sogar immer noch hysterisch war. Das gehört doch heute zur Tagesordnung, sagte ich, daß irgendwelche Spinner mit Bomben drohen… ja, und sie schrie mich an, daß die Polizei Gott sei Dank viel vernünftiger sei als
ich, daß morgen mittag das Büro geräumt würde und anschließend alles durchsucht werden würde… na ja…« Cognac. Whisky. »Sie wissen ja, was dann passiert ist… als die Polizei kam, konnte sie nur noch einen Trümmerhaufen durchsuchen. Aber da ja nun mal die Rede von einem Attentat am Nachmittag gewesen war, kann man Ihren Kollegen vermutlich trotzdem keinen Vorwurf machen…« Stand er eigentlich unter Drogen? dachte Trimmel. Redet hier einer über einen Zeitungsbericht oder über sein eigenes tragisches Schicksal und das seiner Frau? Kann ein Mensch so verwundet sein, daß er gar nicht mehr in der Lage ist, laut zu schreien? Oder woran liegt es sonst, daß dieser Bergusson nach außen hin diese… diese Contenance an den Tag legt, obgleich man doch auf den ersten Blick sieht, daß er in Wirklichkeit überfließt vor Zärtlichkeit und Trauer? Irgendwann brach’s dann doch wenigstens kurz aus ihm heraus. »Noch weiß ja angeblich keiner, wer dahintersteckt. Aber eins sag ich Ihnen: dem, der das gemacht hat… dem brech’ ich seine sämtlichen Knochen einzeln!« Dazu wäre er möglicherweise sogar imstande, dachte Trimmel zum ersten Male beeindruckt. Irgendwie scheint der Mann doch aus Stahl zu sein, aus bestem biegsamen Stahl… vielleicht kann er nur noch nicht so aus seiner Haut wie andere. Denn es war ja immerhin in der Zeit geschehen, in der er – mit gerade sechsunddreißig Jahren – als einer der drei großen Manager von American Oil Germany wie der Herr im grauen Flanell persönlich durch die Hamburger City schritt und allergrößten Wert auf Formen legte… »Aber auch auf Marions Formen!« Bergusson lachte kurz auf. »Wenn ich daran denke, wie glücklich wir waren…« »Wie lange waren Sie verheiratet?« fragte Trimmel.
»Acht Jahre. Acht herrliche, einmalige, wunderschöne Jahre… und dann dieses Ende!« Marion Bergusson. Eine schöne Frau. Das große Ölgemälde in der Halle. Eine Frau, deren Lachen spontan ansteckend wirkte… »Wissen Sie«, sagte Bergusson, »das alles ist ja nun erst sieben Tage her, aber ich glaube, ich habe mich seitdem schon sehr verändert. Ich möchte wieder in den Außendienst, habe ich unserer Zentrale in Los Angeles schon gesagt, viel reisen auf jeden Fall… ich bin fast schon entschlossen, das Haus hier zu verkaufen…« Und so redete und redete und redete er. Er redete mit einer unheimlichen Distanz über sich und seine Frau, allerdings ununterbrochen, wie unter Zwang, den ganzen Abend lang – und Trimmel, mehr und mehr bestürzt, hörte zuletzt nur noch zu. Sie begossen sich bei alledem sehr gründlich die Nase, Bergusson noch etwas mehr als Trimmel, und am Ende befand sich Bergusson im Zustand einer fast kataleptischen Starre. Er sprach im Plauderton, lachte gelegentlich sogar auf und unterbrach sich höchstens mal selbst. Aber das alles ohne eine einzige Träne: es kam Trimmel immer wieder so vor, als spräche Bergusson von einer Person, die er gerade mal vor hundert Jahren gekannt hatte. Und so blieb’s bis zum Ende des Abends. Um wenigstens den eigenen Katzenjammer in Grenzen zu halten, nahm sich Trimmel schließlich ein Taxi und ließ seinen Ford in Othmarschen stehen.
Am 23. März – so las er, doch ziemlich verkatert, als er am Morgen nach diesem Besäufnis nochmals die Akten durchging – hatte eine Bombe das Werk der Bürouhr und die gesamte Einrichtung des Israelian Council of Art and Literature in der
City von Hamburg zerfetzt, darunter unersetzliche Manuskripte von Else Lasker-Schüler. Marion hatte dem Detonationsherd am nächsten gestanden; sie wurde bewußtlos, blutüberströmt und offenbar mit schwersten inneren Verletzungen ins Krankenhaus gebracht. Leber, Niere, Milz… wie schwer die Verletzungen tatsächlich waren, stellte sich erst drei Tage später bei der Obduktion heraus: Marion Bergusson war nicht zu retten gewesen. Trimmel, im Hamburger Präsidium zuständig für Mord und Totschlag, war im Urlaub gewesen, als es geschah. Der Generalbundesanwalt zog den Fall an sich und schickte Terrorspezialisten vom Bundeskriminalamt nach Hamburg; Trimmel wurde erst nach seiner Rückkehr, fünf Tage danach, anstandshalber in die Kommission berufen. Sehr bald wurde eine Gruppe von in Hamburg lebenden Palästinensern verdächtigt, ohne daß man mit den Leuten weiterkam. Und Trimmel dachte in einer Anwandlung von Trotz, daß ein Mord in Hamburg immer noch sein Mord war; abermals zwei Tage später war er deshalb doch selbst nach Othmarschen gefahren… Gestern nachmittag. Und von nun an ließ ihn Bergusson nicht mehr los. Er fiel ihm Tag für Tag, Woche für Woche und am Ende effektiv monatelang auf den Wecker. Er wurde manisch. Gleich am nächsten Tag legte er sich auf die Lauer und erwischte Trimmel, als der sein Auto abholen wollte. Er machte nicht mal ein Hehl daraus: »Sie mußten ja vorbeikommen, nachdem Sie gestern mit dem Taxi gefahren waren. Ich habe von meinem Fenster aus einen guten Blick auf die Straße… kommen Sie doch auf einen…« – er grinste etwas verzerrt, als habe er noch heftiges Kopfweh – »… auf einen anständigen Kaffee!« Und Trimmel ging mit ins Haus.
»Ich kann Ihnen heute allerdings auch nicht mehr sagen als die Beamten, die schon bei Ihnen waren«, sagte er, »meine Abteilung ist hier lediglich…« »…zugeordnet!« unterbrach Bergusson. »Ich weiß, man vermutet ein politisches Verbrechen, wahrscheinlich ja auch mit Recht. Aber ein Mörder ist für mich ein Mörder, und ich habe den Eindruck, daß Sie eine Menge von Ihrem Handwerk verstehen, Mörder zu ermitteln!« Er sprach bei Tageslicht eine hoch gestochenere Sprache, wie auf Bütten. Sparsamste Gesten: sozusagen wie ein Mann, der, wenn er die Wahl hat zwischen Rosen und Orchideen, ohne zu zögern Orchideen verschenkt… »Ich kann auf dieser Welt leider nichts mehr für meine Frau tun!« sprach er schließlich feierlich. »Ich werde indessen nichts, aber auch gar nichts unversucht lassen, dazu beizutragen, daß das Verbrechen gesühnt wird!« Trimmel stand auf. »Sie gehen?« fragte Bergusson. »Ja. Danke für den Kaffee!« Als Trimmel den Wohnraum verließ, blieb Max Bergusson zurück. Eine ältere Dame, offenbar als Haushälterin engagiert, kam in die Halle, um dem Besucher die Haustür zu öffnen. Und als Trimmel sich noch einmal umdrehte, sah er, daß Bergusson zur Bar gegangen war und sich einen Whisky einschenkte. Mit den Augen war der Leidtragende dabei ganz woanders: er sah Trimmel bis zuletzt nach. Genaugenommen waren die tatverdächtigen Palästinenser ja von Trimmels Leuten aufgestöbert worden, schon vor der Rückkehr ihres Chefs – libanesische und jordanische Studenten, die sich dreimal wöchentlich in einem Altbau in der Schlüterstraße versammelten. Die Terrorspezialisten hatten zunächst wenig Mühe gehabt, die jungen Männer einzeln namhaft zu machen. Aber als sie sie durch die Mangel drehten
und nach dem Zweck ihrer Zusammenkünfte fragten, gab’s immer wieder nur eine Antwort: man treffe sich ausschließlich deshalb, weil der Gastgeber, der Soziologiestudent Femal Racadi, besonders gut Homus zubereiten könne. Der allererste Tip war aus dem akademischen Underground gekommen: Racadi, hatte es geheißen, sein Freund und Landsmann Omar Bahrein und einige andere mehr seien Mitglieder einer palästinensischen Terrororganisation namens Fear for Freedom, abgekürzt FFF. Eins allerdings gab den Ermittlern von Anfang an zu denken: wenn diese Araber tatsächlich Terroristen waren, hatten sie sich ausgesprochen dilettantisch verhalten, ganz und gar nicht wie ›Berufsbomber‹ aus der internationalen Gewaltszene… Es war zwar verdächtig, daß angeblich niemand wußte, wo sich Racadi selbst aufhielt. Aber nach drei Tagen meldete er sich von sich aus und behauptete, bis jetzt, also auch zur Zeit des Bombenanschlags, privat in München gewesen zu sein; dies war ihm nicht zu widerlegen. Immerhin war in seiner Wohnung ein auseinandergenommenes Radio gefunden worden, und die Terrorfahnder wußten natürlich, daß sich Transistoren, wie sie für Rundfunkempfänger verwendet werden, vorzüglich als Bombenschalter eignen. Also fragten sie, was es mit dem Radio auf sich habe. »Oh, das kann ich Ihnen leicht erklären«, sagte Racadi in astreinem Deutsch, »ich repariere Radios für meine Freunde und verdiene mir damit zusätzlich Geld!« »Haben Sie denn einen Gewerbeschein?« fragte einer der Spezialisten. »Gewerbeschein?« staunte Racadi. »Was ist das?« Der Beamte verzichtete darauf, ihm die Struktur der bundesdeutschen Gewerbeordnung zu erläutern; er gab ihm lediglich eine diesbezügliche Ermahnung mit auf den Weg und
begnügte sich im übrigen damit, das zerlegte Radio mit Racadis Erlaubnis mitzunehmen. Es kam in die Hamburger Kriminaltechnik, und dort glaubte man, daß die Experten vom Bundeskriminalamt es abholen würden. Die Leute vom Bundeskriminalamt hingegen glaubten, das Gerät solle in Hamburg untersucht werden – und so blieb der Apparat in einer Ecke stehen, wo er sehr bald Staub ansetzte. Letztlich hatte sowieso niemand daran geglaubt, daß sich die Radioteile mit der Bombe im Israelian Council in Verbindung bringen ließen. Es wurde dann noch ermittelt, daß das orientalische Gericht Homus aus Nüssen, Öl, Gewürzen und anderen Zutaten besteht, ganz sicher nicht aus Drähten, Batterien und Sprengstoff, wie man zunächst geglaubt hatte. Und das war’s dann… Und weil sämtliche Mitglieder dieses ›Racadi-BahreinKreises‹ einwandfreie Universitätspapiere und Aufenthaltsgenehmigungen für die Bundesrepublik besaßen, blieb der Sonderkommission am Ende nichts anderes übrig: die Sache wurde als Spur 847 zu den Akten gelegt. Die ganze Angelegenheit Fear for Freedom beruhte nach Ansicht des Wiesbadener Kommissionsleiters auf einem Scheißtip und hatte nur Zeit gekostet. »Ein Windei!« sagte er, etwas förmlicher, auf einer Besprechung. Trimmel, der an der Konferenz teilnahm, sah’s allerdings ganz deutlich: der Mann wirkte bedrückt und mutlos. Und weder Trimmel noch sonst jemand wunderte sich, daß die Wiesbadener nach und nach dann auch stillschweigend abrückten.
Bergusson hingegen, der auf Trimmel immer mehr seine ganze Hoffnung zu setzen schien, kam eines Nachmittags ins
Polizeipräsidium und sagte energisch und entschlossen: »Ich lege noch fünfzigtausend zu!« »Das wären dann hunderttausend!« stellte Trimmel fest… hundert Mille Belohnung für Hinweise zur Aufklärung des Verbrechens. »Ganz recht!« nickte Bergusson. »Ist das der einzige Grund Ihres Besuchs?« »Nein, nein«, sagte Bergusson, »wie Sie sehen, habe ich mich etwas verändert…« Er machte eine Pause und gab Trimmel Gelegenheit, seinen New Look zu begutachten. »Ich habe mich beurlauben lassen und werde mich nun vorerst nicht rasieren. Außerdem habe ich meine alten Jeans und Rollkragenpullover rausgekramt…« »Und was soll das?« »Ich bin in die Szene gegangen«, erklärte Bergusson, »mit Schlips und Kragen konnte ich mich da wohl kaum blicken lassen. Ich habe mir in den Kneipen und Discos die Leute mal aus der Nähe angeguckt… Sie glauben gar nicht, was da für eine ultralinksprogressive Mischpoke rumläuft und was die alles wissen. Übrigens, bis ich dahintergekommen bin, daß die meist nur Cola trinken, habe ich mich halb totgesoffen, um mit den Typen ins Gerede zu kommen…« »Gehascht haben Sie sicher auch?« vermutete Trimmel, in dem der Zorn aufstieg. »Auch«, sagte Bergusson nachsichtig, »aber eigentlich mehr Speedies, jede Menge. Wenn schon, denn schon… jedenfalls habe ich was rausgekriegt…« »Nämlich?« »Ich habe erfahren, daß ein Jordanier oder Libanese namens Femal Racadi eine palästinensische Organisation leiten soll, FFF, Fear for Freedom! Und ich darf Sie ersuchen, die Sache von Amts wegen sofort zu überprüfen!«
Da setzte Trimmel sich kerzengerade hin und wurde dienstlich. Er war sowieso von Anfang an sauer gewesen, weil er äußerst ungern mit fremden Dienststellen zusammenarbeitete – und nun war Bergusson bereits die dritte Partei, mit der er seine spärlichen Erkenntnisse teilen sollte. »Es hat noch niemand Hasch und Speedies konsumiert und dabei Erleuchtungen über einen Mörder gekriegt!« sagte er wütend. »Lassen Sie hier sofort die Finger davon! Gehen Sie zum Friseur und von mir aus zum Schneider, wenn Ihnen Ihre Anzüge nicht mehr gefallen… aber versuchen Sie nicht, uns die Arbeit zu klauen und sich dabei womöglich noch ‘ne Kugel ins Kreuz schießen zu lassen!« Bergusson schüttelte den Kopf, mehr verwundert als verärgert. »Es ist mein Kreuz! Und es ist Ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit, meinem Hinweis nachzugehen!« »Femal Racadi ist tagelang überprüft worden!« sagte Trimmel noch lauter. »Fear for Freedom ist ein albernes Hirngespinst! Hauen Sie ab und schminken Sie sich ein für allemal die Meinung ab, wir würden vierundzwanzig Stunden am Tag filzen! Das Bundeskriminalamt schläft sowieso nie, und nun lassen Sie mich in Frieden!« Als Bergusson, doch ziemlich konsterniert, gegangen war, kam Höffgen in Trimmels Büro. »War das der Witwer, den Sie da so angebrüllt haben?« »Ja, das war der Witwer!« sagte Trimmel, immer noch mit rotem Kopf. »Hat inzwischen auf eigene Faust ermittelt!« »Also, der Generalbundesanwalt hätte wahrscheinlich gar nichts dagegen, wenn ihm einer auf die Sprünge hilft!« meinte Höffgen nachdenklich. »Sicher«, sagte Trimmel, etwas ruhiger, »aber doch nicht Bergusson! Der und Detektiv spielen… lächerlich!«
Bergusson indessen, durch die Abfuhr letztlich doch kaum länger als fünf Minuten entmutigt, ging weder zum Schneider, noch rasierte er sich. Vielmehr verlängerte er seinen Urlaub, in dem er sich, zu seinem Leidwesen, nach der Beerdigung seiner Frau um schrecklich viele Formalitäten kümmern mußte, auf unbestimmte Zeit. Er recherchierte in seinen alten Klamotten weiter – und erstaunlich unamerikanisch zeigte American Oil dabei größtes Verständnis. Bergusson verkaufte sein Haus tatsächlich – zum Jahresende, wie Trimmel erfuhr. Und Trimmel vermutete mit Recht: er verkaufte es mit Verlust. Dann trat der auf so ungewöhnliche Weise trauernde Witwer von seiner leitenden Position zurück und bekam einen Job, den es in seiner Firma bis dahin nicht gegeben hatte: eine Art Sonderbotschafter und Troubleshooter. Überall dort, wo American Oil Germany in Europa Schwierigkeiten hatte, sollte Max Bergusson eingesetzt werden; zunächst kam’s allerdings noch gar nicht dazu, denn vorerst hatte Bergusson nichts anderes im Sinn als seine verrückten Kneipenbesuche. Daß er mit seinem Rücktritt nur noch das halbe Gehalt bekam, tat er mit einem Schulterzucken ab: Er bekam monatlich immer noch den Gegenwert eines Mittelklassewagens. Und buchstäblich Nacht für Nacht war er unterwegs. Wahllos, scheinbar, schlief er mit Discogängerinnen und Mädchen aus der Szene; ihren Boys war er ein stets parater Saufgenosse. Er hielt seinen Promillespiegel ständig um die Nullkommaacht; gleich dreimal stoppte ihn die Funkstreife, und zweimal mußte er pusten. Beide Male kam er gerade noch um den Führerscheinentzug herum. So wäre es schon Ende Mai sicherlich sinnvoll gewesen, wenn sich ein Psychotherapeut um Bergusson gekümmert hätte. Aber schließlich galt er damals ja nicht als
gemeingefährlich; wer also hätte den Seelenarzt denn bemühen können, wenn Bergusson nicht selbst das Bedürfnis hatte?
»Sie haben ein neues Auto!« stellte Trimmel fest. Das Garagentor draußen in Othmarschen stand halb offen, Bergusson weilte ausnahmsweise mal wieder in dem Haus, das ihm sowieso nur noch kurze Zeit gehörte; er hatte anscheinend nicht nur Marions blauen VW-Käfer, sondern auch seinen blauen Mercedes abgestoßen. »Es freut mich«, sagte Bergusson, der Ringe unter den Augen hatte, »durch Ihren Besuch zu erfahren, daß Sie sich doch noch mit dem Tod meiner Frau beschäftigen!« Trimmel trat näher und sah sich den Wagen an. Einen kleinen Alfa, allerdings den mit der stärkeren Maschine. Rot. »Ich konnte das Blau nicht mehr sehen«, sagte Bergusson hinter ihm, »Schwarz allerdings schon gar nicht, nach wie vor nicht…« »Ganz hübsch!« urteilte Trimmel. »Ja. Und nun? Gibt’s was Neues?« Trimmel blickte ihn bekümmert an. »Nein. Bei mir nicht. Aber sagen Sie mal – wollen Sie sich nicht doch mal wieder auf die Hinterbeine stellen?« »Sind Sie deshalb gekommen?« »Ja!« gab Trimmel zu. »Schade!« Bergusson sah auf die Uhr. »Es tut mir leid, Verehrtester, aber ich habe gerade gestern nacht eine ganz wichtige Brumme aufgetan. Ich würde sie ungern sitzenlassen, wenn es nicht was ganz Wichtiges ist…« »Sie werden schon sehen, wohin das führt!« brummte Trimmel, als er das Haus verließ.
Im Juni hatte sich Bergusson in den Kiffhäusern, wie er die Kneipen nannte, in denen er verkehrte, schon so an Pot und Gras und auch Speedies gewöhnt, daß er Pickel bekam und auffällige Schwierigkeiten mit der Sexualität. Ihn selbst allerdings schien es kaum zu stören: er traf in seinen neuen Kreisen sowieso fast nur Mädchen, die ihm keinerlei Initiative abverlangten. Trimmel erkannte ihn oft kaum wieder: er hatte glänzende Augen, redete mehr denn je wie unter Zwang und gestikulierte wie ein Kokainist… Harte Drogen jedoch nahm Bergusson tatsächlich nie. Denn natürlich vergaß er nie länger als allenfalls mal drei Stunden, was er eigentlich wollte: Er speicherte mit monomanischer Verbissenheit jede Kleinigkeit, die mit Femal Racadi zu tun haben konnte. Er beobachtete Racadi bei jeder Gelegenheit, wobei er sorgfältig darauf achtete, daß Racadi ihn nicht sah… alles, was sich sonst noch in seinem exzessiv gewordenen Leben ereignete, vergaß er sofort. Denn im mittlerweile krassen Gegensatz zu den Ermittlungsbehörden war er felsenfest davon überzeugt, daß Racadi und niemand sonst für den Bombenanschlag verantwortlich war – und er war besessen von der Idee, Racadi zu überführen. Dafür, sagte er Trimmel mehrfach, würde er sogar mit Freuden sterben.
Einmal ging er zu Trimmel und berichtete: »Ich habe Racadis Zahnarzt aufgetrieben. Ich kenne ihn über einen gemeinsamen flüchtigen Bekannten. Deshalb hat er mir erzählt, daß Racadi letztes Jahr drei Goldzähne gekriegt hat!« »Und?« fragte Trimmel.
»Racadi ist in keiner Krankenkasse. Für die Behandlung hat er weit über dreitausend Mark berappen müssen, aus eigener Tasche!« »Ja, aber deshalb…« »Herr Trimmel! Wirklich, ich bitte Sie! Offiziell hat der Mensch überhaupt kein Einkommen! Und der Zahnarzt erklärte mir klipp und klar, daß es durchaus auch ohne Gold gegangen wäre, um mehr als die Hälfte billiger!« »Trotzdem«, sagte Trimmel vergrämt, »ich seh’ da keinen neuen Anhaltspunkt. Die Geldquellen dieser Leute sind immer undurchsichtig. Warum sollte Racadi nicht im Lotto gewonnen haben?« »Tja, warum nicht?« meinte Bergusson bitter. Nachdem der Zahnarzt die Geschichte bestätigt hatte, nahm Trimmel sie dann wenigstens zu den Akten – ebenso wie die Aussage des Mannes, daß Racadi ihm erzählt habe, er bekäme regelmäßig ziemlich viel Geld von seiner Familie. Aber Bergusson stocherte weiter: Irgendwann fiel es ihm auf, daß Racadi sich gar nicht mehr sehen ließ, nicht mal in dem alten Haus in der Schlüterstraße. Kurzentschlossen ging er zum Hausmeister und fragte auf blauen Dunst: »Stimmt es, daß bei Ihnen eine Wohnung frei wird?« »Ja und nein«, sagte der Mann, »da ist zwar son Araber ausgezogen, aber es zieht gleich wieder einer ein. Da biste zu spät dran…« »Schade!« meinte Bergusson. Es handelte sich tatsächlich um Racadis Wohnung, erfuhr er. Und sofort fuhr er zu Trimmel, wie üblich in panischer Angst, es könne alles zu spät sein. »Der Kerl hat sich abgesetzt!« sagte er hysterisch. »Er ist verschwunden!« »Vielleicht ist er umgezogen?« vermutete Trimmel. »Ja, wieso denn?« schrie Bergusson, fassungslos über soviel Unverständnis. »Glauben Sie etwa, daß er von seinem
Lottogewinn eine Eigentumswohnung am Schwanenwyk gekauft hat?« Trimmel gab ihm einen Schnaps aus dem eigenen Bestand. Er brachte Bergusson zwar von Anfang an ziemlich viel Sympathie entgegen, fühlte sich jedoch über Gebühr von ihm bedrängt; außerdem glaubte er, gegen Racadi nach wie vor keine Handhabe zu besitzen. Bergusson hingegen kippte das Glas in sich hinein, argwöhnte jedoch, Trimmel wolle ihn auf diese Weise schnell loswerden. Und total überraschend flippte er plötzlich fast aus – sicher aus keinem anderen Grund erzählte er Trimmel plötzlich mit Worten, die er noch nie gebraucht hatte, seine allerintimste Geschichte.
»Soll ich Ihnen mal genau sagen, was ich verloren habe?« fragte er, sofort aggressiv, heiser vor Erregung. »Wollen Sie’s mal genau wissen, wie ich meine kleine geile Marion in Erinnerung habe?« Trimmel sagte weder ja noch nein. »Das war nämlich nicht mal zwei Wochen vor ihrem Tod«, sagte Bergusson ohne Punkt und Komma, »ich seh’ das ständig vor mir, wie der Dicke im Fernsehen seine Spätnachrichten runterleiert, ich lag schon im Bett, und da kommt Marion ins Schlafzimmer und schaukelt mit den Hüften und wippt mit den Titten… mein lieber Mann… und dann läuft der Fernseher immer noch, wir liegen zusammen im Bett, ich voll auf ihr, und sie schreit mit einem Mal, als wär’s das erste Mal… nach acht Jahren Ehe! Mich haut’s um wie nie… das können Sie sich gar nicht vorstellen, was da los war…« »… ich glaub’s Ihnen ja«, murmelte Trimmel hilflos. »Sie?« höhnte Bergusson, endgültig ohne alle Hemmungen. »Sie wissen doch höchstens, wie man bumst! Aber ich hab’ sie doch angebumst, verstehen Sie? Angebumst! Ich hab’ nicht
drei Nummern gemacht, ich hab’ acht Nummern gemacht, und dann wird’s hell, und ich weiß noch, wie sie sagt, sie will mir was verraten, aber ich bin so kaputt, ich fall’ rückwärts um und schlaf ein… bis mittags. Das Büro war mir scheißegal, alles war scheißegal außer… außer uns… dann gibt’s Tomatensaft und so was zum Frühstück, und dann spießt sie sich ein Gürkchen heraus und kichert fürchterlich und sagt: willste denn überhaupt nicht wissen, was ich dir verraten will? Na, was schon? sag’ ich… oh, was bist du doof? sagt sie. Und streckt ihren flachen Tennisbauch raus und sagt: magst du vielleicht doch mal so ‘n richtig schönen dicken Bauch, so ‘n richtig kugelrundes Bäuchlein mit Baby drin, klitzekleines Baby, unser Baby? Ich kann Ihnen sagen… ich hab’ sie nur noch angestarrt und dann gelacht und geheult…« Er heulte wie ein Schloßhund. Putzte sich umständlich Augen und Nase, sah die Schnapsflasche und goß sich gleich zwei nacheinander ein. »Ich habe geglaubt, sie spinnt«, sagte er dann, wieder in seinem üblichen Tonfall, »bis dahin hatte es nie geklappt, und sie war ja nun weiß Gott einundvierzig. Und in dem Alter… na ja, aber der Arzt hat es eine Woche später tatsächlich bestätigt!« Trimmel, eine Akte unter dem Arm, war aufgestanden und stand mit dem Rücken zu Bergusson am Fenster. »Was suchen Sie?« fragte Bergusson, als er sah, daß Trimmel in der Akte blätterte. »Ach… nur so…« »Den Obduktionsbericht?« »Ja!« sagte Trimmel. »Aber ich kenne ihn doch«, sagte Bergusson, »es steht nichts drin von Schwangerschaft! Ich sage Ihnen doch, es ist erst zehn Tage vor ihrem Tod… ihrem Tod passiert…« Trimmel kam zum Schreibtisch zurück und setzte sich; er klappte die Akte zu.
»Können Sie jetzt wenigstens begreifen, warum ich diesen Scheiß mache?« fragte Bergusson. »Ja. Trotzdem…« Bergusson stand auf und lief im Zimmer herum, die Hände in den Taschen vergraben. »Sicher… ich hätte’s mir ja denken können! Einen Mord oder zwei Morde, Abtötung einer Leibesfrucht oder wie das heißt… juristisch ist es egal, einmal oder zweimal lebenslänglich macht ja kaum einen Unterschied…« »Trotzdem…«, wiederholte Trimmel. Bergusson blieb vor ihm stehen. »Trotzdem müssen Sie es zu Protokoll nehmen, meinen Sie?« »Ja!« Da nahm Bergusson die Akte vom Tisch und wog sie in der Hand. »Zwei Kilo… lauter Mist! Sie nehmen es mir nicht übel – lauter Mist! Warum gehen Sie nicht endlich los? Warum suchen Sie Racadi nicht und drehen ihn durch den Wolf, bis er endlich zugibt, was er mir angetan hat?« »Ich kann ihn doch nicht persönlich köpfen!« sagte Trimmel laut. »Selbst, wenn er’s war… meinen Sie, er wär’ der erste Mörder, der uns durch die Lappen geht? Was soll ich denn machen?« »Ich kann es Ihnen ja mal vormachen!« sagte Bergusson mit erstickter Stimme. Er ging ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer, abermals mit Tränen in den Augen. Mit Tränen hilfloser Wut.
Diese Nacht verbrachte er dann bei einer Gelegenheitsliebschaft namens Lisette; sie schien sich zu freuen, als er kam, und er ließ ihr den Glauben, er sei ihretwegen gekommen. Tatsächlich war ihm eingefallen, daß Lisette mal was von einer Freundin Racadis erzählt hatte –
irgendwas, das erst jetzt wichtig wurde, nachdem Racadi sich so verdächtig rar machte; am nächsten Morgen kam er wie beiläufig darauf zu sprechen, und Lisette erklärte sich bereit, ihm auf die Sprünge zu helfen. Als die Dunkelheit hereinbrach, zogen sie von Kneipe zu Kneipe und gerieten schließlich in ein Kellerlokal, in dem außer Speed Gott sei Dank auch noch Alkohol und leichte Drogen serviert wurden. Angeblich, hatte ein Typ gesagt, verbringe Racadis Mädchen – eine gewisse Angelica Wagner – derzeit hier ihre Abende. »Da kommt sie!« sagte Lisette, als sie bereits das dritte Bier bestellt hatten. Angelica Wagner trug ein Stirnband mit einer Feder wie Winnetous Erbin, als sie ins Lokal schneite; ansonsten war sie, soweit man es im Zwielicht des Kellers erkennen konnte, etwas weniger struppig als die Mehrzahl der Szene-Mädchen. »Und du weißt nicht, wo sie wohnt?« fragte Bergusson. Lisette, deren Energie verbraucht zu sein schien, schüttelte träge den Kopf. Daraufhin legte Bergusson Geld auf den Tisch und ließ sie sitzen, was sie lediglich mit einem schwachen Schulterzucken quittierte. Er ging nach draußen, um in seinem roten Alfa zu warten: Entweder auf Racadi, falls auch er wider Erwarten auftauchen würde. Oder darauf, daß Angelica Wagner ihn wieder auf seine Spur bringen würde. Fast drei Stunden dauerte es, bis das Mädchen herauskam; die im Laternenschein eigentlich recht attraktive junge Dame ging zu Fuß in Richtung Klosterstern, und Bergusson stieg aus und folgte ihr bis zum Jungfrauenthal. Dort verschwand sie in einem Souterrain, in dem kurz darauf das Licht aufflammte; Gardinen gab’s nicht, und Bergusson, der Angelica auch auf das Grundstück gefolgt war, sah, wie sie sich ungeniert auszog.
Er ging zurück zur Straße, setzte sich auf ein Mäuerchen und wartete die ganze Nacht… aber Racadi erschien nicht, Angelica Wagner schlief allein. Und steifgefroren ging Bergusson zurück zum Auto und fuhr in das Apartment in Barmbek, das er sich zu Beginn seiner Streifzüge gemietet hatte.
»Also gut«, sagte Trimmel, nachdem er sich am nächsten Mittag Bergussons Erlebnisse angehört hatte, »wir werden uns das Mädchen mal ansehen!« Später berichtete er, Angelica Wagner sei als Rauschgiftverdächtige polizeibekannt und auch schon mal erkennungsdienstlich behandelt, also fotografiert worden. »Und?« fragte Bergusson. »Wir haben ihre Wohnung durchsucht, sogar morgens um sieben, weil möglicherweise Gefahr im Verzuge war… sie hat ganz schön gezetert, von wegen Nacht-und-Nebel-Aktion. Klar kennt sie Racadi, hat sie zugegeben, aber mit der Bombe hätte er nach ihrer Ansicht nix zu tun. Allerdings würd’ sie auch dann zu ihm halten, wenn er was damit zu tun hätte… so gesehen ‘n halbweg ehrliches Mädchen. Jedenfalls ist er angeblich seit Wochen nicht mehr bei ihr gewesen, was nicht heißen würde, daß er weg ist – das käm’ öfter vor. Wenn er wiederkommt, will sie uns anrufen; er hätte nix zu befürchten… und was machen wir, wenn sie uns tatsächlich anruft?« »Nichts, wie ich Sie kenne!« sagte Bergusson reichlich unverschämt. »Es lebe der Rechtsstaat! Ich bin sehr enttäuscht von Ihnen, Herr Trimmel!« Bei Licht besehen hatte Max Bergusson ja sogar recht mit seiner am Ende maßlosen Kritik: der Rechtsstaat fand ein möglicherweise entscheidendes Beweisstück gegen Femal
Racadi tatsächlich erst zu einem Zeitpunkt, an dem es definitiv zu spät war! Irgend jemand in der Kriminaltechnik hatte sich schließlich doch damit abgemüht, aus den Trümmern des Bombenanschlags im Israelian Council millimetergroße Splitter herauszusuchen, die sich zu einem Transistor zusammensetzen ließen – nicht größer als die Kuppe eines Kugelschreibers. Es war dann noch möglich, die Herstellerfirma festzustellen – und daß sich Transistoren vorzüglich als Bombenschalter eignen, wußte man sowieso… Aber während man sich noch freute über das gelungene Puzzle, kam der Hammer: präzise ein Transistor wie der, den man jetzt rekonstruiert hatte, fehlte in dem auseinandergenommenen Radio, das seinerzeit bei Racadi beschlagnahmt worden war! Für einen deutschen Haftbefehl hätte es ausgereicht; effektiv dreimal, wie Höffgen meinte. Racadi aber konnte nicht mehr verhaftet werden. Bisher war er unvorsichtig gewesen und hatte sich mal hier, mal da versteckt. Jetzt jedoch hatte er, schon sehr nervös geworden durch den Besuch der Kripo bei seiner Freundin, Hamburg und der Bundesrepublik wenige Stunden vor dem Erscheinen der Kripo endgültig den Rücken gekehrt.
Bergusson wußte es natürlich schon, als er, am Nachmittag dieses schwarzen Mittwochs, einmal mehr im Präsidium auftauchte – in Trimmels Augen wie der Teufel aus der Kiste. »Jetzt ist er weg!« sagte Bergusson dramatisch. »Jetzt müssen Sie’s glauben… Todsichere Quelle!« »Ja, ich hab’s gehört«, sagte Trimmel deprimiert, »er ist in Österreich!«
»So, in Österreich… und Sie haben ihn einfach so ins Flugzeug steigen lassen…« »Er ist mit dem Auto gefahren!« sagte Trimmel. »So, so… na, gute Nacht! Interessiert es Sie trotzdem, daß mir einer gesagt hat, was Sache ist?« »Mich interessiert alles«, sagte Trimmel, wirklich niedergeschlagen wie selten, »sogar dann, wenn’s von Ihnen kommt…« Bergusson, in diesem Moment merkwürdigerweise gefaßter als Trimmel, berichtete, er habe in einem türkischen Quartier am Ise-Kanal einen Jugoslawen getroffen. Der habe ihm mitgeteilt, er wisse hundertprozentig, daß Femal Racadi in Hamburg vorrangig Bombenbau studiert habe und nicht Soziologie – und daß er und tatsächlich niemand sonst die Bombe gelegt und gezündet habe, mit der Marion Bergusson gen Himmel gefahren sei! »Sagen Sie das noch mal!« sagte Trimmel. »Racadi und niemand sonst hat die Bombe gelegt, mit der meine Frau gen Himmel gefahren ist!« sagte Bergusson, einmal mehr fast im Plauderton. »Wie reden Sie denn?« fragte Trimmel verstört. »Ich habe Ihnen wörtlich das wiederholt, was mir mitgeteilt worden ist!« antwortete Bergusson. »Im übrigen soll Racadi mit seiner Organisation einen Riesenärger gekriegt haben, weil das Attentat ein Menschenleben forderte… wahrscheinlich ist das sogar der eigentliche Grund, daß er sich jetzt dünne gemacht hat…« Trimmel nickte. »Wie heißt Ihr Informant?« »Ibrahim Popovic. Ein Moslem, aus Krusovo. Klar und deutlich, Herr Trimmel… Racadi war ein Einzeltäter, hat er mir gesagt, diesen Bahrai, von dem die Rede war, und Racadis Freundin Angelica können Sie vergessen! Ich kann Sie mit
Popovic zusammenbringen, er ist bereit, auch vor der Polizei auszusagen…« Trimmel war schon aufgestanden. Drei Minuten später waren sie unterwegs nach Eppendorf. Allerdings trafen sie Ibrahim Popovic weder dort noch sonstwo, weder an diesem Tag noch irgendwann später. Er hatte, als er Bergusson die ebenso wahre wie verrückte Geschichte mit Racadis Einzeltäterschaft verpfiff, anscheinend ein Gras zuviel geraucht – und er war gleich nach dem Aufwachen für immer verduftet. Es war ja von Anfang an nicht Trimmels Fall allein gewesen, sagte sich Bergusson hinterher immer wieder – sogar dann noch, als er erfuhr, daß sich die Polizei dieses Ding mit dem Transistor geleistet hatte und wenig Interesse erkennen ließ, gegen Omar Bahrein und Angelica Wagner vorzugehen. Racadis Genossen und Genossinnen blieben ungeschoren, Angelica wurde sogar von der Drogenfahndung nicht mehr behelligt – es gab offenbar wichtigeres zu tun. Und trotzdem blieb Trimmel Bergussons letzte Hoffnung: ein Strohhalm nur, aber das letzte, an dem er sich noch festhalten konnte. Auf der anderen Seite quälte sich Trimmel im stillen Kämmerlein zwar mehrfach mit dem Gedanken herum, ob der Fall nicht doch ziemlich verschludert worden war. Aber er schob’s letztlich von sich – vielleicht, weil ihn Bergusson bei aller Sympathie doch mehr strapaziert hatte, als er ertragen konnte. Jedenfalls saß die Karre im Dreck. Der Generalbundesanwalt hatte die Österreicher gebeten, Racadi festzusetzen, kam jedoch viel zu spät: Racadi hatte Österreich längst wieder verlassen, bevor die diplomatischen Schritte zum Tragen kommen konnten; er war in die Schweiz geflogen, wie die Kantonspolizei Zürich mitteilte, von dort jedoch ebenfalls gleich wieder verschwunden – diesmal mit unbekanntem Ziel.
»Und jetzt?« fragte Bergusson bei seinem vorerst letzten Besuch bei Trimmel. »Interpol?« »Ja, Interpol!« sagte Trimmel, höhnisch und brutal ehrlich. »Wollen wir wetten, daß die gar nichts tun? Daß die den Kerl als angeblich politischen Täter selbst dann laufen lassen, wenn sie über ihn stolpern?« »Ach so!« sagte Bergusson, verdächtig friedlich. Aber irgend etwas in ihm schien endgültig zu zerbrechen. »Na schön… ich werde mir das dann mal in aller Ruhe überlegen. Kann ja nicht schaden, wenn ich über ihn stolpere…« Er sagte: »Auf Wiedersehen!«, als er ging, und auf dem Weg nach Barmbek besuchte er einen Mann, mit dem er schon seit Wochen, bislang etwas halbherzig, über eine Pistole verhandelte. Aber heute kaufte er sie: eine kleine, gutgeölte und angeblich nicht registrierte FN 6,35 zum Freundschaftspreis von 400 Mark.
Noch im Juni fingen sie bei American Oil Germany allmählich an, sich Gedanken darüber zu machen, was auf die Dauer mit dem aus dem Ruder gelaufenen Exmanager Bergusson geschehen sollte. Das dreiköpfige Direktorium, dem Bergusson ja bis vor kurzem noch selbst angehört hatte, kam überein, ein halb privates, halb offizielles, auf jeden Fall jedoch offenes Wort mit ihm zu reden. Aber dazu kam’s nicht mehr – denn von einem Tag zum anderen verwandelte sich Bergusson zurück. Er nahm sich den Bart ab und ein paar tragische Attitüden dazu, und er krempelte sich – dabei jungenhaft lächelnd, wie in seinen besten Tagen – die wieder weißen Ärmel auf: »So, Jungs. Wo steht das Klavier?« Das erste Klavier stand in Spanien. Bergusson flog hin und räumte, ausgestattet mit erheblichen Vollmachten, die
Schwierigkeiten auf Anhieb aus dem Weg. Ein Bezirksgouverneur hatte die Fertigstellung einer im Bau befindlichen AO-Raffinerie verhindern wollen – möglicherweise, weil ihm die Konkurrenz mehr Peseten als üblich in die Tasche gesteckt hatte. Nach einem ausgedehnten feuchten Abendessen mit ›Don Maximilian‹ jedoch war von einer Bauverzögerung überhaupt nicht mehr die Rede. Don Maximilian löste anscheinend ein Problem nach dem anderen für American Oil; er war das Wunderkind wie eh und je. Und nur zwei, selten drei Leute wußten, warum er immer einen Tag länger wegblieb als unbedingt nötig: wenn wieder mal alles gelaufen war, ging Max Bergusson mit einer Flasche Chivas Regal ins Bett und drehte ihr entschlossen den Hals um. Aber sie gönnten es ihm: »Soll der doch! Er spart uns Millionen!« Um das eigentliche Problem dieses Mannes jedenfalls kümmerte sich nach wie vor keiner: Bergusson war zum Paranoiker geworden, obgleich er gar nicht so aussah. Er schleppte ständig seine geladene FN in der Hosentasche mit sich herum, und nur während seiner vielen Flüge verbarg er sie in dem Gepäck, das er aufzugeben pflegte. Als weiteres Requisit für sein merkwürdiges Doppelleben hatte er sich in Istanbul den Krokodillederkoffer mit dem doppelten Boden zugelegt – für den Tag X, wie er sich sagte, den Tag, mit dem er ständig rechnete… Und so unglaublich es klingt: Bergusson erzielte seinen Dauererfolg für American Oil tatsächlich nur deshalb, weil er dadurch ständig auf Reisen sein konnte. Umgekehrt: er war nur deshalb ständig auf Reisen, weil er Tag und Nacht hoffte, irgendwo unterwegs Femal Racadi zu begegnen. Und dann? fragte er sich manchmal selbst. Wollte er ihn…?
Nein, nicht doch! Umlegen wollte er Racadi eigentlich nur im äußersten Notfall. Denn seltsamerweise zog er die irdische Gerechtigkeit immer noch der himmlischen vor.
Anfang April nächsten Jahres. Schwierigkeiten für American Oil in Italien: das schwarze Fabeltier auf gelbem Grund, das Symbol lateinischer Größe auf dem Ölmarkt, hatte sich quergelegt. Berührt waren nicht nur deutsche, sondern auch multilaterale Interessen. »Das kann nur Bergusson!« hieß es. Sie kauften ihm ein Ticket Hamburg-Mailand und zurück, First Class. Treffpunkt war dann ein verschwiegenes, verwunschenes Häuschen in Corsico, gleich südlich der Mailänder City. Die smarten Manager, die das schwarze Fabeltier repräsentierten, wußten ganz genau, was sie von Bergusson zu halten hatten. Denn so was spricht sich schnell in der Branche rum: keine Callgirls, und keine Tricks. Nur Schnaps, jede Menge, obgleich er den in der Regel selbst hatte. Anfangs lachte Bergusson dröhnend über den Witz, den ihm einer seiner italienischen Kontrahenten in so schlechtem Englisch erzählt hatte, daß er kein Wort verstand. Aber anschließend wurde es ernst. »Gentlemen«, sagte Bergusson mit hanseatischer Direktheit, »wir sind hier nicht zum Spaß, wie Sie wissen. Und wenn Sie mir jetzt bitte noch einen Whisky geben würden, bevor wir es hinter uns bringen…« Sie gaben ihm flugs einen dreistöckigen Whisky, sicher nicht den ersten an diesem Tag – und sie wußten, daß es jetzt, so oder so gleich vorbei sein würde. »Alsdann«, sagte Bergusson, »ich bin beauftragt, Ihnen im Namen des Vorstandes von American Oil Germany wie auch
der Zentrale klipp und klar auszurichten, daß die letzte deutsche Mark aus dem italienischen Ölgeschäft mit seinen vielen Verpflichtungen…« »Aber das können Sie doch nicht machen!« schrie der Mann mit dem schlechten Englisch. »… verschwindet!« vollendete Bergusson. »American Oil ist sich da einig mit allen anderen…« »Sie bluffen doch nur!« sagte der Hauptsprecher der Gegenseite. Plötzlich konnte er, anders als noch vor fünf Minuten, sogar Deutsch sprechen. »Erkundigen Sie sich, ob ich bluffe!« sagte Bergusson, tatsächlich ein hervorragender Bluffer. »Aber das ist Erpressung!« »Sehr richtig!« sagte Bergusson. »Ihr Deutsch ist übrigens excellent!« Erpressung hin, Bluff her: um drei Uhr früh hatte der Mann aus Hamburg gewonnen. Noch ein paar markige Händedrucke, dann ging er schlafen, aufrecht wie ein sehr geübter Betrunkener. Die Italiener fuhren eilig davon; nur ihr Obermotz trank verärgert und allein weiter und ließ sich erst bei Tagesanbruch durch seinen Fahrer von diesem ekelhaften Bergusson entfernen… Immerhin gehörte die kleine Villa in Corsico Bergusson am Morgen allein. Mit dem gesamten Inventar- und den Grappa Julia fand er schon um zehn nach neun in der Küche. Und eine Stunde später war er überhaupt nicht mehr das, was man einen ausgebufften Jungen nennt, sondern das heulende Elend persönlich. Die ältere Beschließerin, die ihm das Taxi besorgte, sah ihn an wie einen Kinder- und Kirchenschänder und machte drei Kreuze hinter ihm her. Genau wie immer, dachte Max Bergusson mit dem Rest von Verstand, der ihm noch geblieben war: In Kürze würde er sinnlos betrunken sein und es bis zur Landung in Hamburg
bleiben. Dort würde er, mit oder auch gerade noch ohne Hilfe der Stewardeß, aus der Maschine stolpern, mit Geld und guten, wenngleich schweren Worten ein Taxi anheuern, das ihn trotz seines Zustandes zu seiner möblierten, stinkteuren Wohnung am Rondeel bringen würde, wo er inzwischen hauste – und schlafen. Am nächsten Morgen würde er aus dem Dschungel auftauchen und zur Berichterstattung ins Konzerngebäude fahren… »Alter Freund«, würden sie sagen, »du hast ja jetzt noch eine Fahne!« Ach ja, die lieben Kollegen Manager… Aber dann kam, wahr und wahrhaftig, Femal Racadi des Weges, und alles kam anders. Bergusson würde, wenn überhaupt, stocknüchtern in Hamburg landen – nüchtern und zugleich mit den Nerven am Ende. Er würde – Gott sei Dank – am Ende eines langen Weges angekommen sein.
Im Zweiten Deutschen Fernsehen präparierten sich die Wetterfrösche für die erste heute-Sendung an diesem Abend auf einen Fortbestand des Hochs über der gesamten Landkarte. Das Hoch präsentierte sich nicht stückweise, wie so oft, sondern es lag wie ein riesiger Pfannkuchen über Mitteleuropa, Westeuropa, Südeuropa und Kleinasien. Das war dann die Stunde, in der sich Max Bergusson anschickte, den Mailänder Flughafen wieder zu verlassen. Den Männern, die für die Sicherheit auf Europas Luftstraßen sorgen müssen, stand einiges bevor. Vor allem deshalb, weil der Mann, der hier ein aberwitziges Ding drehen wollte, von dem Ding im Grunde viel zuwenig verstand.
3
Am Ausgang ist Femal Racadi der dritte Mann vor Max Bergusson, im Bus zur Maschine stehen sie fast auf Tuchfühlung. An der hinteren Treppe zu der ganz in den AirEurope-Farben Rot-Gelb-Metallic gestrichenen Boeing 727 läßt sich Bergusson vorsichtshalber wieder drei Plätze zurückfallen. Racadi, hört Bergusson, sagt »Bonjour!« zu der Stewardeß am Eingang, und sie antwortet routinemäßig auf deutsch: »Guten Tag!« Aber Bergusson will es genau wissen, denn es erleichtert seine Pläne, wenn später Deutsch gesprochen werden kann. Und deshalb fragt er die rotgelbe Hosteß ebenso freundlich wie beiläufig: »Na, kommt ihr denn alle von der guten, alten Lufthansa?« »Komplett«, lächelt sie. »Auch der Captain?« »Allesamt…« Racadi sitzt inzwischen auf Platz 22a, am Notausgang über der rechten Tragfläche; Bergusson geht, scheinbar völlig uninteressiert, an ihm vorbei und setzt sich auf Platz 15d am Mittelgang. Zu seinem Glück bleiben die Plätze 15a, b, c, e und f frei, und bei einem flüchtigen, mustergültig zufälligen Blick nach hinten sieht er, daß auch Racadi in seiner Reihe 22 alleingeblieben ist. Da stellt Bergusson seinen Handkoffer mit dem doppelten Boden ab und schließt seinen Sitzgurt. Er schließt zu der angenehm einschläfernden Musik aus dem Lautsprecher – Wiener Blut – sogar die Augen. Komisch, denkt er, daß diese Musik vor hundert Jahren die Leute erotisiert haben soll.
Im Cockpit sitzt der Captain auf dem linken Platz und macht mit seinem Copiloten den letzten Check. Die Stewardeß Gaby, die vorhin die Faxe, die Passagiere, an der Treppe begrüßt hat, kommt herein. Die Instrumente zeigen an, daß die Außentüren der Maschine geschlossen sind – es kann niemand mehr einoder aussteigen. Auch Racadi nicht… Gaby beugt sich interessiert über Captain Feininger, als wolle sie den Treibstoffstand ablesen; Copilot Söltner hat den Eindruck, daß es ausschließlich ein Vorwand für körperlichen Kontakt ist. »Na, wie sieht’s aus?« fragt Gaby. Feininger brummt: »Ich möchte einmal wieder pünktlich ins Bett kommen!« Gaby lächelt. Sie sieht den Captain nicht an, aber das Lächeln gilt ihm. Mit schwingenden Hüften verläßt sie das Cockpit, und Feininger grinst. »Ich weiß zufällig, daß die Dame in festen Händen sein soll!« sagt Söltner frech. »Wer ist das nicht?« grinst Feininger. Währenddessen geht Gaby den Mittelgang entlang und zählt mit den Augen zum letzten Mal die Passagiere. Niemand fällt ihr besonders auf, weder Racadi noch Bergusson oder sonst jemand. In Gedanken ist sie schon weit über Mailand hinaus – tatsächlich in einem sehr guten Hotel im klimatisch so angenehmen Beirut. Hotel Phoenica vielleicht. Tatsächlich im Bett mit dem Captain.
Sobald Gaby vorbei ist, greift Bergusson nach dem Krokodillederkoffer; es ist die Reflexbewegung, mit der starke Raucher nach der Zigarette greifen, sobald sie eine längere Zwangspause hinter sich haben. Er öffnet ihn und hält das Schloß fest, damit es kein Geräusch gibt… dann nimmt er,
noch vorsichtiger, die Pistole aus dem Geheimfach und steckt sie in die Hosentasche. Wer kriegt eigentlich die Riesenbelohnung für die Aufklärung des Hamburger Bombenattentats und die Ergreifung der Täter? denkt Bergusson. Er bestimmt nicht – abgesehen davon, daß die Hälfte des Geldes ohnehin von ihm stammt… Du hast Sorgen! sagt er zu sich selbst. »Pregiatissimi passegeri«, sagt der Bordlautsprecher mit seiner weichen Mädchenstimme, »benvenuti a bordo del Boeing Europa Jet Air Europe… Consigliamo di tenere allaciate le cinture anche durante il volo…« Höflichkeitshalber zuerst auf italienisch. Dann auf deutsch: »Lassen Sie Ihren Sitzgurt bitte während des ganzen Fluges locker angeschnallt!« So seht ihr aus! denkt Max Bergusson grimmig. Kaum hat sich der Vogel, nachdem die plärrenden Klänge – inzwischen von Silvery Moon – verstummt sind, endlich nach über dreistündiger Verspätung in die Lüfte erhoben, als er sofort den Anschnallgurt öffnet. Dann knackt’s im Lautsprecher. »Guten Abend, meine Damen und Herren, hier spricht Ihr Kapitän…« Nacheinander auf italienisch, englisch und deutsch. Daß der Mann Feininger heißt, hat vorhin schon die Stewardeß gesagt; seine Stimme hört sich zuverlässig an, fast auch ein bißchen gemütlich: »… so daß Sie sich jetzt trotz der ärgerlichen Verspätung bei uns wie zu Hause fühlen sollen!« Pause. »Ich gebe Ihnen jetzt ein paar Informationen über unseren Flug. Wir fliegen jetzt über den Golfo di Genova, werden dann aber leicht links einschwenken, vom Südkurs etwas südöstlich abweichen, aber immer noch weit genug vom Festland entfernt bleiben, ausreichend entfernt vom wieder mal überfüllten
römischen Luftraum über dem Flughafen Fiumicino-Leonardo da Vinci. Später machen wir einen weiteren Linksknick, fliegen um Neapel herum nach Brindisi und wieder aufs Meer… in die Straße von Otranto und direkt nach Athen… ich danke Ihnen und melde mich später wieder…« Bergusson lehnt sich zurück. Bis zur Straße von Otranto dürfte es noch eine gute halbe Stunde dauern, wenn nicht sogar eine ganze, überlegt er. Und in dieser Zeit wird die Boeing der Air Europe, eine Maschine der nach dem Modell der skandinavischen SAS gegründeten Luftverkehrsgesellschaft der Europäischen Gemeinschaft, knapp tausend Kilometer zurücklegen, vom Start an gerechnet, und viertausend Liter Sprit verbrauchen… als Ölfachmann weiß man so was. Anschließend kann das Flugzeug immer noch ein paar Stunden in der Luft bleiben, denn es hat eine offizielle Reichweite von fast dreieinhalbtausend und eine inoffizielle von viertausend Kilometern… wenn das immer noch nicht reicht, denkt Bergusson böse, soll’s eben in Gottes Namen runterfallen! Vollgetankt jedenfalls ist der Vogel bis zur Halskrause – er hat allen Sprit in den Tanks, den er von Mailand bis Beirut braucht. Flugbenzin ist zur Zeit in Italien erheblich billiger als in Griechenland.
In der Bordküche klappern sie mit den ersten Vorbereitungen für das Abendessen. Bergusson richtet sich halb auf und riskiert einen Blick nach hinten – aber er muß erst seine ganzen 185 Zentimeter auseinanderfalten, bis er Femal Racadi im Halbprofil sieht. Und dann spürt er mit einem Male ein Gefühl, das er in der letzten Zeit, ja sogar noch in den letzten Stunden fast vergessen hatte: Haß! Wütenden, blinden Haß…
Noch in der Mailänder Abflughalle war das anders gewesen – da hatte er Racadi durch die dunklen Gläser der Sonnenbrille studiert wie ein Objekt. Wie ein Chirurg den Körper besichtigt, den er gleich operiert… wie ein Richter seinen Angeklagten ansieht, ein Anatom eine Leiche, ein Henker das Opfer, das da vor ihm rumzappelt… aber weiß Gott, denkt Bergusson, im Moment könnte ich ihm glatt den Schädel wegpusten! Er setzt sich rasch wieder hin. Er hat allen Ernstes das Gefühl, daß der Mann sofort begreift, was hier läuft, wenn er ihm nur in die Augen sieht… Brauche ich vielleicht diesen Haß? denkt Max Bergusson. Wie ein Körper das Blut braucht oder eine Maschine, ein Motor, Diesel oder Benzin?
»Wir haben jetzt unseren Steigflug beendet und befinden uns über dem Mittelmeer vor dem Luftraum Pisa-Florenz!« sagt die Stimme des Captains. Fahrplanmäßig nach Verspätung, denkt Bergusson. Wahrscheinlich sind wir immer noch auf dem Mailänder Radarschirm. Er hat die Augen gerade wieder für einen Moment geschlossen, als die Stewardeß an ihm vorbeigreift und sein Tischchen herunterklappt. Er schreckt zusammen und klappt es sofort wieder hoch. »Danke!« sagt er. »Ich habe überhaupt keinen Appetit!« Sie geht mit dem Servierwagen weiter. Bergusson muß untätig sitzenbleiben, weil der Wagen seine Sitzreihe blockiert – gerade jetzt. Und gerade jetzt beugt sich das andere Mädchen zu ihm: »Möchten Sie vielleicht was trinken?« »Nein, nein!« sagte er hastig. »Oder vielleicht doch… ja, bitte…« »Bier? Whisky?«
»Nein, Tee…« Er trinkt ihn so schnell, daß er sich den Gaumen verbrennt, und stellt den leeren Plastikbecher unter den Sitz. Inzwischen stehen die Mädchen mit ihrem Wagen zwischen seiner Sitzreihe und der von Racadi. Es gibt nichts mehr auf der ganzen Welt, das ihn aufhalten könnte – aber plötzlich hat Bergusson Angst. Vor Racadi etwa? Angst um sein Leben…? Viel schlimmer. Max Bergusson hat entsetzliche Angst, die Tür zum Cockpit könne, wie es manche Gesellschaften auf dem Höhepunkt der Flugzeugentführungen eingeführt haben, abgeschlossen sein! Er steht auf und möchte sein Gesicht am liebsten verstecken… es ist vor Anstrengung verzerrt. Zentner lasten auf ihm… wieviel wiegt eine Flugzeugentführung? geht’s ihm durch den Kopf. Er marschiert los. Der Weg zur vorderen Toilette ist frei, niemand lungert im Gang herum. Die Toilette selbst ist ebenfalls frei: ein grünes Lämpchen leuchtet… Bergusson zieht die Tür hinter sich zu, und beim Vorschieben des Riegels wird das Dämmerlicht automatisch heller. Bergusson sieht im Spiegel, daß ihm der Schweiß in Strömen von der Stirn läuft… er schwitzt wie ein Affe. Er hat Kopfschmerzen; eine Nachwirkung von zuviel Alkohol. Er soll der scharfe Hund gewesen sein, der gestern nacht das schwarze Fabeltier, diese Ölfritzen, so fürchterlich verbellt und verbissen hat? American Oil… der Vertrag, den Bergusson abgeschlossen hat, ist gültig. Allerdings wird ihn sich der Syndikus von American Oil aus dem Gefängnis abholen müssen; vielleicht wird man auch versuchen, ihn anzufechten… Mein Kopf! denkt Bergusson. Er nimmt eine Tablette aus einer goldenen Pillendose. Er sieht das Schild Kein
Trinkwasser und trinkt trotzdem einen großen Schluck, aus der hohlen Hand. Dann trocknet er sich die Hände ab, holt die kleine Pistole aus der Hosentasche und untersucht sorgfältig jede einzelne Feder.
Racadi trinkt Whisky zum Steak mit Erbsen und Möhren; jeder nach seiner Façon. Er wirkt wie einer, der mit sich und der Welt zufrieden ist, und er ist es auch. Er hat sich damit abgefunden, daß er nicht gerade mit militärischen Ehren empfangen wird – wahre Patrioten, so etwa denkt er, werden häufig verkannt. Außerdem: er wird es den Leuten schon zeigen! Racadi winkt der Stewardeß, die vorhin von ihrer Kollegin Ully genannt worden ist. »Noch einen Whisky!« Er muß dann eine ziemliche Weile warten, bis er ihn bekommt. Das liegt allerdings nur daran, daß Ully, wie viele in ihrem Beruf, manchmal doch ziemlich vergeßlich ist.
Bergusson öffnet die Toilettentür; das Licht wird sofort wieder dunkel. Er macht ein Pokergesicht, als er den Gang entlang nach hinten sieht. Die Stewardessen sind weitergefahren; niemand beachtet ihn. Von Racadi ist nicht mal der Haaransatz zu sehen. Da macht Bergusson ein paar schnelle Schritte und greift nach dem Türknopf… Offen! Das Cockpit ist nicht abgeschlossen! Aber es ist erstaunlich, wie eng es ist – und daß sich die Piloten nicht mal nach ihm umdrehen…
Bergusson hat die Pistole – gut geölt, geladen und entsichert – aus der Tasche genommen und spuckt’s endlich aus: »Ü… Überfall!« Nichts passiert. Und außerdem: warum stottert Bergusson? Wo bleibt seine sonstige souveräne Überlegenheit, seine bei American Oil fast sprichwörtliche Härte? Sie kommt erst allmählich wieder. Und in den Sekunden bis dahin hätten sie ihn bei El Al, beispielsweise, wahrscheinlich schon erledigt… Aber hier schielt zunächst der rechts sitzende Mann im Cockpit über die Schulter nach hinten. Er sieht die Pistole: es handelt sich also tatsächlich um einen Flugzeugentführer! Um einen Hijacker allerdings, der stottert… aber vielleicht ist er deshalb besonders gefährlich. Kein Profi, der trainiert worden ist… vielleicht ein Irrer? Bergusson sagt: »Ich… ich werde Ihnen alles erklären, sobald…« »Sobald was?« fragt der rechte Pilot. »Bitte, tun Sie alles, was ich sage!« sagt Bergusson hastig, als habe er Angst vor der eigenen Courage. Der linke Mann im Cockpit, Captain Feininger, schaut aufreizend stur nach vorn. »Was wollen Sie?« Bergusson, etwas sicherer: »Nach Hamburg!« Das ist so verblüffend, daß Feininger sich dann doch zu Bergusson umdreht. »Nach Hamburg?« Bergusson hat sofort die Pistole auf den Captain gerichtet. »Machen Sie keinen Quatsch!« »Quatsch machen Sie doch!« sagt Feininger fast milde und blickt wieder geradeaus. Copilot Söltner sieht den Captain an. Sie scheinen die Sache noch nicht ernstzunehmen. »Ob die Pistole wirklich geladen ist?« »Ruhe!« schreit Bergusson.
Und als sich auch Söltner umdreht, sieht er die Mündung der Pistole wenige Zentimeter vor sich. Bergusson hat seine Waffe in Söltners Richtung geschwenkt – und man sieht der Mündung wirklich nicht an, ob im Lauf eine Kugel steckt oder nicht… »D… die ist d… durchgeladen!« behauptet Max Bergusson, auf diesem Flug zum letzten Mal stotternd. »Lassen Sie es bitte nicht darauf ankommen!« Zum Zeitpunkt ihrer Entführung ist die Boeing 727 der Air Europe mit dem Kennzeichen A-LBO mit Captain Feininger, seinem Copiloten Wolfgang Söltner, den Stewardessen Gaby Schlitter und Ully Mesterling, dem Hijacker Bergusson und dreiundzwanzig weiteren Passagieren besetzt, Femal Racadi eingeschlossen. Die Maschine ist also, vom Standpunkt der Besatzung aus gesehen, eigentlich so gut wie leer. Femal Racadi versucht, ein Gespräch mit der momentan beschäftigungslosen Gaby in Gang zu bringen. Er hatte sie bereits – vergeblich – angequatscht, als sie sich, noch in Mailand, auf dem Weg zum Briefing, zur Einsatzbesprechung der Besatzung vor dem Start, kurz am Zigarettenstand aufhielt. »Ruhiger Flug?« fragt er jetzt. »Wie bitte?« sagt sie abwesend. »Ich fragte«, sagt Racadi mit einem reichlich schiefen Grinsen, »ob ich Ihnen heute abend Beirut zeigen darf? Ich kenne die Stadt sehr gut…« »Ich gehe nie mit Fluggästen aus!« sagt Gaby brüsk. Und rauscht davon – in die Galley, ihre Küche und ihren Hafen.
»Henri, die ist aber keß!« sagt der wie ein Trapper in braunes Leder gekleidete stämmige Typ zwei Reihen hinter Racadi zu seinem aufgeputzten, eleganten Begleiter.
»Ja, nicht wahr?« flüstert der ziemlich schwul wirkende Henri Lempp. »Der arme Scheich… wo wir die Leute doch so dringend brauchen…« Instinktiv greifen er und der Trapper, ein gewisser Klaus Lange, nach ihren Brieftaschen. Dort stecken dicke Geldbündel: grüne Scheine, Unmengen Dollars in großen Noten; bestimmt zum Ankauf und zur Vorbereitung des Transports erheblicher Mengen Haschisch aus dem Vorderen Orient nach Norddeutschland. »Ich weiß nicht, ob ich mir das an seiner Stelle gefallen lassen hätte…«, sinniert Lempp. »Ausgerechnet du?« stichelt Lange. Die beiden Handlungsreisenden, die mit einem ziemlich kriminellen Spezialauftrag unterwegs sind, lächeln. Sie ahnen nicht, daß es zwischen ihnen und diesem ›Scheich‹ eine seltsame, über Hamburg führende Querverbindung gibt. Vor allem aber kommt es ihnen nicht mal im Traum in den Sinn, daß sie sich schon wenig später buchstäblich alles gefallen lassen müssen.
Noch zwei Reihen dahinter sitzt ein dicker Mitfünfziger namens Dr. Emil Holtzmann. Er ist Anwalt und hat in Beirut die Interessen einer deutschen Klientin zu vertreten, die ihren geschiedenen arabischen Ehemann zur Herausgabe des gemeinsamen Kindes veranlassen möchte. Dr. Holtzmann ist bereits in Frankfurt mit dem Gefühl losgefahren, in das Abenteuer seines Lebens zu reisen. Tausendundeine Nacht in drei Nächten: Basare, Beduinen, Bauchtänze. Nun denn – er wird sein Abenteuer erleben, wenn auch ohne Bauchtanz. Es hat sogar schon angefangen. Er weiß es nur noch nicht.
Vierzehn männliche und fünf weibliche Passagiere außerdem. Sie träumen, rauchen und lesen. Geschäfte, Besuche, Urlaub, Liebe; Studien in zwei Fällen: der Steinsarg des Königs von Achiram ist eine Reise wert. Allerdings wird, nach Lage der Dinge, auch hier eine zweite Reise erforderlich sein.
Bergusson hat Feininger an der Stimme aus dem Lautsprecher erkannt: männlich, zuverlässig, gemütlich. Daß Feininger auch ungemütlich werden kann, wenn es ernst wird, weiß Bergusson bisher nicht. Feininger sagt sehr ruhig: »Wir fliegen morgen vormittag schon zurück nach Hamburg, Mister…« »… Bergusson!« hätte Bergusson jetzt antworten müssen. Weil er es nicht tut, bleibt der Mister in der Luft hängen und wird zur ständigen Anrede für den Entführer. Bergusson sagt: »Es muß leider heute sein!« »Ja, aber warum denn? Kommt’s Ihnen wirklich auf die paar Stunden…« Copilot Söltner unterbricht: »Sie müssen ja ‘ne ziemlich scharfe Tante in Hamburg haben!« »So ähnlich…«, sagt Bergusson krampfhaft. Aber Feininger sieht Söltner strafend an. »Wenn ich nächstens bitte ausreden darf, Wolfgang…« »Bitte sehr, Captain!« Nur keine Zwietracht im Cockpit angesichts der bewaffneten feindlichen Streitmacht! denkt Feininger. Erst mal schweigt er. »Wird’s bald?« sagt der Entführer.
Das Personal von Air Europe hat, in Übereinstimmung mit fast allen anderen Luftverkehrsgesellschaften, strikte Anweisung, eventuellen Entführern zu gehorchen. Hier wie fast überall gibt
es keine Himmelspolizisten an Bord, wie sie General Davis auf dem Höhepunkt der Hijackings in Amerika ausgebildet hatte – stramme Kerle mit kurzläufigen Handfeuerwaffen und weicher Munition, die Menschen, aber keinen Flugzeugrumpf durchlöchert. Es gibt keine Minipistole, keine Antiterrorspezialisten, keine Karatemeister an Bord von AE 612.
»Hören Sie, Mister«, sagt Feininger, »Sie können ja viel reden, aber ich muß trotzdem weiter geradeaus fliegen, weil ich sonst…« »Sie sollen umdrehen!« befiehlt Bergusson. »…weil wir sonst überhaupt nirgendwo ankommen«, fährt Feininger fort, »oder wollen Sie, daß ich hier als Geisterfahrer rumkurve?« Sie fliegen direkt auf den Mond zu. Feininger macht tatsächlich keine Anstalten, die Maschine in eine Kurve zu legen und eine Kursänderung vorzunehmen. »Verdammt, drehen Sie um!« schreit Bergusson. »Es geht nicht«, sagte Feininger, fast unnatürlich gelassen, »zumindest geht’s noch nicht! Soll ich’s Ihnen mal genau erklären?« Bergusson nickt, mit verzerrtem Gesicht. »Na schön. Wir befinden uns hier auf dem sogenannten Airway Amber siebzehn, Upper Amber Seventeen. Und wenn wir da wirklich runter sollen, muß ich erst mal dem Controller in Brindisi sagen, daß er uns eine andere Luftstraße freimacht. Es sei denn, Sie überlegen es sich doch noch mal…« Aber als er Bergusson über die Schulter anblickt, sieht er, daß es keinen Zweck hat. »Haben Sie genug Sprit bis Hamburg an Bord?« fragt Bergusson. »Sie haben doch vollgetankt, oder?«
»Das ja«, sagte Feininger, »so gesehen kämen wir auch bis Teneriffa. Das Problem ist der Crash, wenn Sie es endlich begreifen würden…« »Schalten Sie bitte Ihren Sprechfunk auf Zimmerlautstärke!« befiehlt Bergusson. »Das geht nicht!« sagt Söltner rasch. »Natürlich geht es!« sagt Bergusson. »Das geht sogar in einem Sportflugzeug… ich habe es schon mal mit eigenen Ohren gehört!« Resignierend macht Feininger eine Kopfbewegung hin zu seinem Copiloten. »Also, versuch’s mal, Wolfgang…« Die Boeing fliegt immer noch geradeaus. Söltner legt die Check-Liste, die er sich schon für die Landung in Athen zurechtgelegt hatte, beiseite… genau gesagt feuert er sie wütend in eine Ecke. Dann drückt er auf einen Knopf mitten unter den tausendunddrei Knöpfen, Schaltern und Meßinstrumenten… und dann endlich hört man im Cockpit jedes Wort zwischen A-LBO, dem großen Vogel am Himmel, und der bis zu dieser Sekunde noch ahnungslosen Kontrolle von LIBR – von Brindisi, ganz hinten am Absatz des Italienischen Stiefels. »Brindisi Control, this is Air Europe Six Two on emergency. My position is ten decimal two three miles south Brindisi vectoring zero nine eight heading Korfu and Athens… Flight Level three zero zero. Brindisi Control, how do you read me…?« Copilot Söltner sagt’s sogar zweimal: er meldet Position und Flughöhe und außerdem den eingetretenen Notfall; er hat die Erlaubnis des Entführers nicht mehr abgewartet. Bergusson macht den Mund auf, aber Söltner sagt nur kurz und unmißverständlich: »Schnauze!« Bergusson sagt nichts.
Aber während sie auf die Antwort aus Brindisi warten, versucht es Feininger ein letztes Mal im guten. »Wir haben zwar Anweisung, Mister, in solchen Situationen keinen Widerstand zu leisten… aber ich hoffe sehr, daß Sie sich über die Konsequenzen Ihres Handelns im klaren sind!« »Ja!« sagt Bergusson. »Und?« »Ich muß es tun, Captain!« sagt der Pistolenheld beinahe feierlich. Dann sagt eine Geisterstimme in leicht italienisch gefärbtem Englisch: »Air Europe Six One Two, this is Brindisi Control, I read you five by five, positive identification. What about your emergency?« Die Stimme zittert, um Festigkeit bemüht; logisch, daß der Mann erst mal wissen will, um welche Art von Notfall es sich handelt. Söltner sagt in sein Mikro: »It’s a funny Situation. We are being hijacked. I’m forced to turn north and to fly directly to Hamburg. Help me as soon as possible and give me another clearance!« »Roger«, sagt der Controller, ohne Gemütsbewegung. »Air Europe Six One Two, I’ll call you back, stand by!« Es knackt und rauscht in der Leitung, die keine ist, und Feininger hat den Kurs immer noch um keinen Strich geändert. Athen kommt immer näher, so gesehen… »Sparen Sie sich doch Ihre Witze auf meine Kosten!« sagt Bergusson plötzlich. »Im Gegensatz zu Ihnen finde ich diese… diese Entführung überhaupt nicht funny!« »Ich schon!« sagt Söltner sarkastisch. »Darf man rauchen, Mister?« Die Waffe hebt sich wieder. »Bitte. Aber keine falsche Bewegung!« Söltner greift sehr langsam in die rechte Uniformtasche, holt in Zeitlupe Zigaretten und ein Feuerzeug heraus und zeigt’s
vor. »Ich bin kein Selbstmörder«, sagt er, »merken Sie sich das, Mister!« »Um so besser!« sagt Bergusson. Söltner reicht die Packung nach hinten, in Richtung Pistole. »Auch eine?« »Trick siebzehn!« sagt Bergusson, und es klingt höhnischer, als es klingen sollte. »Danke, ich kann bis Hamburg darauf verzichten!« »Wie Sie wollen!« Söltner läßt das Feuerzeug aufschnappen. Und zwischen den ersten beiden Zügen schätzt er dann doch seine Chancen bei einem Überrumpelungsversuch ab: er erkennt, daß sie gleich Null sind. Auch eine kleinkalibrige Pistole – eine 6,35, schätzt Söltner richtig – macht auf kurze Entfernung tiefe, tödliche Löcher.
Bis Hamburg, denkt Bergusson. Keine Zigarette bis Hamburg, kein einziger Drink. Ob sie überhaupt jemals nach Hamburg kommen? Er steht, die Pistole in der Hand, mit dem Rücken zur Tür des Cockpits – einen halben Meter von Feiningers Rücken entfernt, etwas mehr als einen Meter von Söltners Rücken entfernt. Er rechnet jeden Moment damit, daß sich die Tür des Cockpits öffnet – und daß er sich mit seiner kleinen Waffe gleich nach drei Seiten absichern muß… Aber die Tür bleibt vorerst zu. Die Maschine ist weiter im Anflug auf Athen. »Dauert das mit Brindisi immer so lange?« fragt Bergusson. »Mann Gottes«, sagte Söltner grob, »haben Sie nicht mitgekriegt, daß er five by five gesagt hat?« »Was heißt das?« fragt Bergusson.
»Das ist ja scharf!« höhnt Söltner. »Warum haben Sie nicht wenigstens Nachhilfe in Funksprechverkehr genommen, bevor Sie hier rumfuchteln?« »Schluß jetzt!« sagt Feininger. Wer am falschen Ende einer Pistole sitzt, sollte nicht unhöflich sein. »Laß den Scheiß!« »Ich?« fragt Söltner aggressiv. Bergusson ist momentan friedlicher. »Ich hatte bis vor kurzem nicht die Absicht, Ihr Flugzeug zu entführen…« »Und warum tun Sie es?« »Sie begreifen es doch nicht«, sagt Bergusson. »Und wenn Sie mir jetzt nicht sofort sagen, was Sie da mit Brindisi Control geredet haben…« Die Luft lädt sich auf. Fehringer dreht sich abermals zu seinem Hijacker um. Die Luft ist elektrisch. Sogar Söltner hält seine vorlaute Klappe. »Es geschieht hier nichts hinter Ihrem Rücken!« sagt der Captain. »Five by five heißt, daß der Mann in Brindisi uns klar und deutlich verstanden hat. How do you read me… da haben wir gefragt, ob sie uns hören können…« »Aha!« sagt Bergusson. Dann, endlich, ist die Stimme wieder da. »This ist Brindisi Control. Air Europe Six One Two, how do you read?« »Five by five…« sagt Söltner. Der Controller: »Roger, Captain, you are on Upper Amber Seventeen now… you really want to go to Hamburg?« Was heißt hier wollen? denkt Söltner – wir müssen! »We have to go, Brindisi!« Wieder der Controller in Zimmerlautstärke. »You can’t send them to hell?« »Laß mich mal!« sagt Feininger. Bergussons Augen gehen von einem zum anderen. Feininger nimmt das Mikro und fährt dem Controller über das Maul. »I’m not in a position to send any people to hell,
Brindisi Control… It’s just one man here in the cockpit. He’s standing behind me with a gun, and he understands every word… The only thing I want is to proceed to Munich and from there to Hamburg!« Zehn Sekunden Funkstille. Bergusson hat’s verstanden: man wird definitiv nicht versuchen, ihn zur Hölle zu schicken, man hat endgültig und dringend verlangt, die Luftweichen nach Hamburg zu stellen. Bergusson ist beruhigt und sagt: »Thank you very much, Captain!« Vermutlich war’s sogar bei Brindisi Control zu hören. Und Brindisi meldet sich zum drittenmal. »Roger, Captain, you are cleared to turn left now and proceed on Airway Upper Blue Two Three to Treviso via Viesta, Falconara, Chioggia. Then go ahead to Upper Amber Twelve to Innsbruck via Bolzano… Good luck, Captain… Arrivederci!« Die neue Route liegt fest. »Bene Arrivederci!« sagt Feininger grimmig. »Thank you, Brindisi Control…« Er faßt das Steuer fest mit beiden Händen. Three zero zero: dreißigtausend Fuß Höhe. »Danke, Captain!« wiederholt Bergusson. »Bitte, bitte!« Captain Richard Feininger legt sein Flugzeug in eine ziemlich enge Linkskurve. Die Boeing mit all den guten und bösen Menschen an Bord gehorcht und marschiert dann vorwärts – oder rückwärts? – wie eine Eins.
4
Bergussons nichtsahnendes erstes Opfer in Hamburg ist der Kriminalhauptmeister Edmund Höffgen. Es ist Dienstag; Höffgen hat früh Feierabend gemacht, weil er Überstunden abfeiern mußte, und die Mörder hatten ein Einsehen. Jedenfalls hat sich Trimmels rechte Hand ein Mädchen aus der Registratur mit nach Hause genommen, was er seit langem sorgfältig geplant hatte, und dort unter anderem den Versuch gestartet, Ravioli zu kochen. Aber gegen 18 Uhr läutet das Telefon – erst mal für eine ganze Weile. »Ja?« sagt Höffgen schließlich vergrämt. Es ist die Kriminalwache – nur die Kriminalwache, wie er meint. Und sie gibt nur eine Nachricht durch, scheinbar die Nachricht eines Irren. »Ist sicher nicht wichtig«, sagt der Kollege im Präsidium, »aber ich wollt’s dir nicht vorenthalten. Um fünfzehn Uhr fünfunddreißig hat hier jemand aus Mailand angerufen, hat er jedenfalls behauptet, und euern Trimmel oder Vertreter verlangt…« »Ein Mann?« fragt Höffgen. »Ja. Die Verbindung war sehr schlecht… so was wie Feldhoff oder Bergmann hab’ ich verstanden, kann aber auch noch anders geheißen haben…« »Und?« »Trimmel soll sich die Nummer fünfzehn der Zeitschrift ECHO besorgen, vom vorigen Jahr… dann wüßte er Bescheid. Hat getan, als wäre er ein alter Bekannter von Trimmel… er käme auch noch selbst, er freut sich schon auf Trimmels Gesicht. Jedenfalls soll Trimmel man gleich zum Flughafen fahren!«
»Zum Flughafen Mailand?« fragt Höffgen schnell. »Nee, nee«, sagt der Schreibstubenmensch, »davon war nun leider nicht die Rede. Nur von hier… von Fuhlsbüttel!« »Na schön. Hiermit ernenne ich dich zum Vertreter von Trimmels Vertreter!« Höffgen hängt ein und geht – entschlossen, die Sache zu vergessen – zurück zu seiner Fee in die Küche. Aber er ist und bleibt abgelenkt.
Es ist wirklich der einzige Tag im Jahr, an dem auch Trimmel selbst seine Bude um 15 Uhr dichtgemacht hat. In einem Anfall von Besorgnis um seine Gesundheit ist er um die Alster marschiert und hat beschlossen, wenigstens einmal auf die Leute zu hören, die ihn für einen Alkoholiker halten. Mit anderen Worten: er wird ein Buch lesen und pasteurisierte Milch trinken. Es trifft ihn insofern nicht sehr hart, als Höffgen ihn dann doch anruft, abends um Viertel vor sieben, auf Seite elf eines Krimis. »Wer ist da? Ach du… was ist denn passiert?« »Da hat ein Mann namens Feldhoff oder Bergmann…«, beginnt Höffgen. Aber Trimmel unterbricht ihn. »Ich versteh’ kein Wort!« Höffgen ärgert sich jetzt schon schwarz, daß er seinem Gewissen gefolgt ist; immerhin, er gibt der jungen Dame aus der Registratur, die bereits ihren Gürtel gelockert hat, einen Wink, und sie stellt den Plattenspieler leiser. »Is’ schließlich Feierabend!« sagt er bitter. »Also, da hat ein gewisser Feldhoff oder so aus Mailand angerufen und bestellen lassen, Sie sollen mal die Zeitung lesen…« »Von heute?« fragt Trimmel.
»Nee, das ECHO Nummer fünfzehn vom letzten Jahr. Außerdem sollen Sie nach Fuhlsbüttel fahren, zum Flughafen. Er würde Sie kennen… aber ist doch Käse…« »Wann war das?« »Der Anruf?« Höffgens zögert. »Halb vier…« »Und warum erfahr’ ich das jetzt erst?« »Meine Güte«, sagt Höffgen. »Hätt ich Ihnen bloß überhaupt nix gesagt!« Trimmel denkt nach. Er sieht die Milch auf dem Tisch an und außerdem paßt ihm Höffgens Ton nicht. Und dann gibt er Höffgen, wider Erwarten und gegen alle Vernunft, den Auftrag, die betreffende ECHO-Ausgabe sofort rauszusuchen und durchzublättern! »Warum machen Sie’s nicht selber?« schlägt Höffgen vor, pampiger denn je. »Ich?« sagt Trimmel scheinheilig. »Ja, soll ich denn nicht zum Flughafen fahren? Willste mich da nicht anrufen, wenn du was gefunden hast?«
Auf dem Weg dorthin hat er seltsamerweise das Gefühl von unverdauten Muscheln in der Magengegend. Vom Parkplatz bis zum Flughafen-Hauptgebäude muß er hundert Meter zu Fuß gehen: es wird nicht besser. Er studiert die Tafeln mit den Starts und Landungen. Die Landungen vor allem, die erwarteten Auskünfte für den heutigen Abend und die paar, die schon hier sind: Mailand. Eine Maschine der Lufthansa, sagt der Plan, ist um 16.20 Uhr via Stuttgart in Hamburg eingetroffen. Eine Alitalia, eine DC 9 vermutlich, soll um 22.10 Uhr aus Mailand ankommen. Und sonst? Sonst kommt aus dieser Richtung nur noch eine Lufthansa aus Rom, flugplanmäßig angekündigt für 21.50 Uhr.
Trimmels Uhr zeigt 19.46 Uhr; auf den Uhren des Flughafens ist es schon zwei Minuten später. Zwei oder drei Minuten lang tritt Trimmel unschlüssig von einem Bein auf das andere. Dann geht er zum nächsten Informationsschalter. »Wo ist hier die Flugsicherung?« »Rechts runter«, sagte die Informantin zwischen zwei Telefonen, »gegenüber der Post!« Und Trimmel geht hin. Er könnte auch zur Gepäckermittlung oder zum Übergepäckschalter gehen, aber irgendwie erscheint ihm die Flugsicherung sinnvoller. Er steigt ein paar Treppen hoch, geht durch eine Tür mit der Aufschrift Zutritt für Unbefugte verboten und zeigt, als ihn jemand dumm anquatschen will, seine Hundemarke vor: »Kriminalpolizei!« »Ja, bitte…?« sagt der Mann beeindruckt. »Wir haben einen anonymen Anruf gekriegt«, behauptet Trimmel, »gibt’s irgendwelche Störungen im Luftverkehr zwischen Italien und hier?« Der Beamte wirkt geschockt. »Nicht… nicht, daß ich wüßte… was soll denn passiert sein?« »Ich weiß auch nicht«, sagt Trimmel ehrlich. »Eine Bombendrohung?« Aber Trimmel zuckt nur die Schultern: vielleicht war’s tatsächlich schwachsinnig, hierher zu fahren. Er baut sich vor einer riesigen Wandkarte mit den Luftstraßen über Europa auf. Sein Blick geht schräg nach unten: Mailand sieht auf der Karte aus wie eine dicke Spinne im Netz. Es gibt allerdings noch viele andere, zum Teil noch dickere Spinnen. »Was passiert denn hier?« fragt er, nur, um überhaupt was zu sagen. »Hier ist nur der Beratungsraum«, erklärt der Beamte eifrig. »Wettermeldungen und so…« »Aha!« sagt Trimmel, wie immer, wenn er nicht weiter weiß. Eine idiotische Situation. »Haben Sie was dagegen, wenn ich
‘ne Weile hierbleibe? Ich erwarte einen Anruf. Sagen Sie doch bitte der Zentrale Bescheid – « Der Mann in seiner Verwirrung gehorcht sofort. Und für die nächste knappe halbe Stunde dreht Trimmel Däumchen.
Im Schrittempo hat sich Höffgen durch den Theater- und Kinoverkehr gequält; endlich stoppt er vor dem Verlagsgebäude des ECHO. Als er aussteigt, fliegt in mäßiger Höhe eine Düsenmaschine über die Stadt. Das Mädchen aus der Polizeiregistratur klettert an der anderen Seite aus dem Auto, läuft um den Wagen herum und küßt Höffgen ab, als würde sie ihn nie mehr wiedersehen. »Ich ruf dich an«, verspricht Höffgen, »nimm dir ein Taxi und fahr nach Hause…« Im ECHO-Haus unterläuft er sämtliche Kontrollen mit seinem Polizeiausweis, wird in die Zentraldokumentation gebracht und sagt zu dem Spätdienst, einem in Ehren ergrauten ehemaligen Redakteur aus der Politik: »Ich brauch’ dringend die Nummer fünfzehn vom vergangenen Jahr.« »Was wollen Sie denn?« fragt der Angestellte. »Lesen!« knurrt Höffgen. Wenn der Mann verärgert ist, läßt er es sich nicht anmerken. Er schleppt binnen einer halben Minute einen dicken Band an, schlägt ein lila und gelbes Titelbild auf, ein reichlich nacktes Mädchen, und sagt zuvorkommend: »Bitte sehr!« Höffgen blättert um. Seite 2 bis Seite 13, lauter Krimskram. Dann die Seite 14 und folgende… »Ach, du Scheiße!« stöhnt Höffgen. »Was ist denn?« fragt der Dokumentationsmensch. »Der Band ist beschlagnahmt!« sagt Höffgen. »Geben Sie mir sofort ein Telefon.«
Trimmel redet inzwischen mit dem Wachleiter der Flugsicherung, dem zur Zeit die Aufsicht führenden Controller Stallberg, als der Anruf kommt. »Ich weiß, wer aus Mailand angerufen hat, Chef«, sagt Höffgen mit Grabesstimme, »von wegen Feldhoff oder Bergmann oder so…« »Wer denn?« »Halten Sie sich fest. Max Bergusson!« »Bist du verrückt?« »Nee, leider nicht… Er ist in dieser ECHO-Nummer unser einziger Kunde. Außerdem, Bergmann…« »Okay. Komm sofort hier raus und melde dich bei der Flugsicherung.« Die Alitalia aus Mailand kommt 22.10 Uhr, und die automatische Uhr hier oben springt gerade auf 20.29 Uhr. Was immer passiert – die Zeit wird verdammt knapp… Trimmel legt den Hörer auf. »Was ist denn nun?« fragt der Wachleiter Stallberg. »Ich weiß nicht«, sagt Trimmel zögernd, »so ganz ohne Grund ruft ja eigentlich niemand von Mailand aus die Hamburger Polizei an. Am besten holen Sie doch mal Ihren Chef aus dem Bett!« Nur widerstrebend greift sich Stallberg das Telefon. »So früh schläft der eigentlich selten…«, mault er.
Und während dann über Hamburg der Mond aufgeht, der aus größerer Höhe – three zero zero – schon längst zu sehen ist, während die goldenen Sternlein an einem der schönsten Frühlingsabendhimmel seit langem prangen, während 2000 Kilometer südlich bei allerbestem Flugwetter, ein ganz mieses Ding am Himmel stattfindet… während all dieser himmlischen
Ereignisse passiert in der Zweimillionenstadt Hamburg unter anderem folgendes: Ein 29jähriger Mann fährt vom Schlump aus mit der U-Bahn zum Dienst, bei dem er keine Tropfen Alkohol trinken darf, dafür aber um so mehr Zigaretten rauchen kann und dies auch tun wird. Der Mann heißt Jürgens und ist seelisch ziemlich down, weil er – nicht ganz ohne Grund – eifersüchtig ist auf seine Freundin, die sich zur Zeit auf einer Dienstreise befindet. Ein 27jähriger Mann hat Feierabend und liegt der Länge nach auf seiner Couch; Spätdienst gibt es für ihn nicht. Er liest einen broschierten Tatsachenbericht über die deutschen Fliegerhelden des Zweiten Weltkriegs, wie nahezu an jedem Abend… er ist geradezu süchtig nach diesen Heftchen. Seine Frau stopft derweil Strümpfe und würde unheimlich gern mit ihm schlafen. Das kinderlose Ehepaar heißt Bodenberg und wohnt in Finkenwerder, jenseits der Elbe, von Fuhlsbüttel aus gesehen. Schließlich wird diesseits der Elbe, in einer eleganten Seitenstraße der parallel zur Außenalster verlaufenden Sierichstraße in Uhlenhorst, Sex, Hasch und Champagner sowie Whisky à gogo angeboten, also in Hülle und Fülle: Eine zwielichtige Party, die am Spätnachmittag begonnen hat, erreicht ihren ersten Höhepunkt. Und alles hat, direkt oder indirekt, mit AE 612 zu tun, sogar diese Orgie für 36 geladene Gäste… Auf einem Tisch tanzen vier Flaschen und ein Mädchen. Das Mädchen hat es sich – Auftrag vom Gastgeber – in den Kopf gesetzt, sich zu den Klängen von Soft Machine nackt auszuziehen und dabei keine der vier Flaschen vom Tisch zu stoßen. Und es ist ihr fast schon gelungen. »Mona!« ruft der Gastgeber, ein gewisser Olaf, seiner allein und angeödet in einem Nebenzimmer vor dem Fernseher sitzenden Lebensgefährtin zu.
Mona erscheint. »Was ist?« »Sieh dir das an…« Die Flaschentänzerin öffnet die zweite von zwei Schlaufen an einem goldenen Slip, ihrem letzten Kleidungsstück. Dann ist das Denkmal enthüllt, und die Leute klatschen gedämpft, aber herzlich… ein kunstbegeisterter Vierziger hebt die vor Anstrengung dampfende nackte Statue vorsichtig vom Tableau. Ein Handel bahnt sich an, ein Kunsthandel. »Na schön… es geht tatsächlich ohne Koks!« sagt Mona gelangweilt und geht wieder vor die Glotze. Olaf indessen sagt zu seiner Partyattraktion und ihrem neuen Typ: »Wenn ihr bumsen wollt, geht nach oben!« In seinen nicht gerade eng gezogenen Grenzen hält er hier nämlich mehr auf Zucht und Ordnung: an Kleinigkeiten soll’s nicht liegen, wenn er mit der Polente aneinandergerät.
Der Polizist Höffgen schleppt in Fuhlsbüttel den Zeitschriftenband die Treppen zur Flugsicherung hoch, mit der anderen Hand zusätzlich eine Aktentasche. Er stürzt in den für Unbefugte verbotenen Raum der Kundenberatung und sieht Trimmel rittlings auf einem Stuhl sitzen. »Endlich…«, sagt Trimmel. Höffgen schlägt zuerst den Band auf. Quer über eine Doppelseite mit Fotos von Bombentrümmern und einem Porträt von Marion Bergusson läuft die balkenhohe Schlagzeile: NAHOST-KRIEG IN HAMBURG! Das ECHO geht immer scharf ran, und die Story war ja auch nicht von Pappe, ebensowenig wie die Bombe im Israelian Council for Art and Literature selbst. Die Story, geht es Trimmel durch den Kopf, hatte vom Standpunkt der
Zeitschriftenmacher aus nur einen einzigen kleinen Schönheitsfehler: Es gab nie ein Foto von Max Bergusson! Die Reporter waren hinter einem Bild von ihm hergewesen wie der Teufel hinter der armen Seele. Aber sie kriegten keins, nachdem sie es versäumt hatten, ihn bei der Beerdigung ›abzuschießen‹: die distinguierten Freunde der Familie hatten keins rausgerückt, und Bergusson selbst war natürlich überhaupt nicht daran interessiert, daß sein Konterfei veröffentlicht wurde, nachdem er nun mal auf eigene Faust auf Mörderjagd gegangen war. Und so sehr ihm die Fotografen auch noch Wochen später aufgelauert hatten – sie hatten ihn in seiner Verkleidung, Bart und Gammellook und entsprechende Accessoires, nie erkannt. »Was ist da drin?« fragt Trimmel und deutete auf Höffgens Aktentasche. »Die Handakten!« sagt Höffgen, stolz auf seinen Einfall, auf dem Weg zum Flughafen am Präsidium vorbeizufahren und sie mitzubringen. Die Handakten über den Mord zum Nachteil Marion Bergusson und den Bombenanschlag zum Nachteil Israelian Council. In den Handakten Polizeifotos von Angelica Wagner und ein Amateurfoto von Femal Racadi. Das deutsch-arabische Liebespaar, dessen weibliche Hälfte seinerzeit von Max Bergusson entdeckt worden war… Ein Schatten fällt über die Akten und Fotos. Ein hagerer großer Mann in einem Parka ist in den Beratungsraum gekommen; Trimmel sieht auf, mit einem abwesenden, fast verstörten Gesichtsausdruck. »Darf ich bekannt machen«, sagt der Wachleiter Stallberg förmlich, »der Leiter der Flugsicherung, Herr Oberregierungsbaurat Lindemann… Herr Kriminalhauptkommissar Trimmel…«
»Wieso Baurat?« fragt Trimmel, während er dem Hageren die Hand schüttelt. »Damit nicht soviel Mist gebaut wird«, sagt Lindemann. »Also, was liegt an?« »Sie hatten sicher was Besseres vor«, beginnt Trimmel, »trotzdem, ich…« Lindemann winkt ab. Er sieht sich auf zwei Meter Distanz den aufgeschlagenen Zeitschriftenband an. »…die Sache ist nämlich die«, fährt Trimmel fort, »ich fang’ am besten mal mit dieser Zeitungsgeschichte an… es geht am schnellsten…« »Diese Bombenaffäre kenne ich!« sagt Lindemann. »Ich habe die Berichte damals besonders aufmerksam verfolgt, weil ich Frau Bergusson mal auf einem Senatsempfang flüchtig kennengelernt hatte…« »Um so besser!« sagt Trimmel. Es vereinfacht die groteske Situation: er kann sich darauf beschränken, Bergussons Ankündigung vom vergangenen Jahr, den mutmaßlichen Mörder seiner Frau selbst zu jagen, und seinen Anruf vom heutigen Tag aus Mailand zu schildern. Lindemann nickt. »Sie halten es also für möglich, daß Bergusson diesen Menschen…« »Racadi!« »… diesen Racadi heute in Mailand getroffen hat und ihn nach Hamburg bringen will? Beziehungsweise, daß er Ihnen sagen wollte, Racadi sei schon unterwegs nach Hamburg… aber warum dann eine so verschlüsselte Nachricht?« »Ja, warum?« fragt Trimmel. »Denken Sie an… Gewaltanwendung?« »Ich kann’s nicht ausschließen. Ich würd’ mich ja gern irren… aber wenn ich daran denke, was Bergusson damals schon angestellt hat, um Racadi zu überführen…«
»Abenteuerlich!« murmelt Lindemann. Es sieht nicht so aus, als habe Trimmel ihn überzeugt. Während Lindemann vor sich hin grübelt, nimmt Trimmel die Fotos von Angelica Wagner aus der Akte. »Sieh zu, daß du die inzwischen auftreibst!« sagt er zu Höffgen. »Warum das denn?« fragt Höffgen erstaunt. »Für alle Fälle!« sagt Trimmel unbestimmt. »Ich hab’ einfach ein dummes Gefühl. Wenn der Fall jetzt tatsächlich wieder hochkocht, bin ich wahrscheinlich dankbar für jeden greifbaren Zeugen!« »Aber gerade das Mädchen…?« Höffgen sieht sich die Fotos an; die haben doch immer die hübschesten Puppen! denkt er. »Gerade das Mädchen!« sagt Trimmel. »Fahr sie holen!« Höffgen verschwindet. Stallberg sieht unverwandt zwischen Trimmel und seinem Chef hin und her. Aber gleich darauf hat Lindemann seinen Denkvorgang abgeschlossen. »Also gut«, sagt er zu Trimmel, »gehen wir mal in mein Büro. Ich bin zwar immer noch nicht ganz auf Ihrem Dampfer, aber schaden kann’s ja nicht, wenn wir mal ein bißchen recherchieren… ermitteln, meine ich!«
Weiter geht’s bei Olaf: es gibt kaum noch jemanden auf seiner Party, der es vermißt, daß er seit längerem kein Kokain mehr gesnifft hat. Denn dafür gibt’s, neben allem anderen, Hasch vom besten in allen Variationen… es setzt zwar nicht diese Menge Power frei wie Koks, aber es sind doch schon eine ganze Anzahl von Jungen und Mädchen zu zweit nach oben gegangen – oder auch, weil’s abwechslungsreicher ist, zu dritt oder viert.
Es ist eine richtig große und gelungene PR-Party für eine neue Firma. Für den neuen Großhandel von Olaf, der eine Art Marktlücke entdeckt zu haben glaubt: Es wird die letzte Zeit soviel von Kokain geredet, daß Hasch fast aus der Mode zu kommen droht. Auf die Konkurrenz aus Südamerika ist man zwangsläufig sogar in Nahost aufmerksam geworden; man hat nach Westeuropa signalisiert, daß man große Mengen Haschisch zu sensationell günstigen Preisen auf den Markt bringen möchte, um die Kundschaft bei der Stange zu halten. Hasch contra Koks, eine hochinteressante Variante im Drogengeschäft… Olaf, ohnehin im Begriff, sich vom mittleren endlich zum ganz großen Dealer hochzuarbeiten, hat die Signale aufgefangen. Er hat, wie er meint, begriffen, daß sich hier unheimliche, auch politisch mitverursachte Verdienstquellen auftun: gewisse Gruppierungen im Vorderen Orient brauchen dringend Geld, ohne Rücksicht auf die Moral… und so hat er denn Kapital locker gemacht und seine Spezis Henri Lempp und Klaus Lange als Kuriere nach Beirut geschickt, seine derzeit besten Leute, wie er meint. Und es sieht gut aus, lauteten die letzten Nachrichten schon von jenseits der Alpen. Und hier in Uhlenhorst gibt’s heute zwar alles umsonst, aber eben nur heute: die Leute finden Geschmack an der Sache – das Geschäft mit diesen ungeheuren Verdienstspannen wird blühen! Zu den wenigen, denen diese ›Umerziehung‹ überhaupt nicht schmeckt, gehört Femal Racadis Hamburger Freundin Angelica Wagner. Auch sie ist geladen… sie ist in der Szene nach wie vor bestens bekannt. Aber Olaf hat nicht ahnen können, daß sie Sex unter mehr als vier Augen zum Kotzen findet und bei aller Ziellosigkeit, aller Planlosigkeit, aller Verlorenheit in der grellen Welt im Grunde ihres Herzens ein cooles Mädchen geblieben ist. Ganz abgesehen davon, daß Hasch für sie als die letzte Kinderei gilt…
Racadis Exgeliebte wird immer unruhiger. Und dann haut sie ab, um daheim im Jungfrauenthal erst mal eine Linie zu ziehen – um zu koksen, auf deutsch gesagt.
Trimmel im Chefbüro der Flugsicherung kaut mit sorgenvollem Gesicht auf seiner Zigarre. Lindemann telefoniert an zwei Apparaten gleichzeitig. »Hallo, Lufthansa? Könnt ihr bitte mal ganz schnell feststellen, ob auf eurer Boeing heute nachmittag aus Mailand ein gewisser Bergusson… Moment mal – Alitalia? Ja, sicher, ja, Augenblick… Lufthansa, schauen Sie mal nach, ja? Ja, genau, Bergusson; außerdem ein gewisser Racadi, ja, mit Richard; ja, ich warte… So, Buona sera, Freund; hier Lindemann, Flugsicherung; zu Hause alles unter Kontrolle? Also, ich müßt mal wissen, ob euer Vogel heute abend aus Mailand pünktlich kommt und ob ihr einen Fluggast Bergusson auf der Passagierliste habt, Berta Emil Richard, außerdem einen namens Racadi, ja, beide…« »Rom!« erinnert Trimmel. Lindemann hält nicht mal die beiden Hörer zu. »Sie meinen die Lufthansa aus Rom? Nee, nee, wenn schon Mailand, dann bleiben wir erst mal dabei!« Drei Minuten später tut sich tatsächlich die erste heiße, wenn auch noch dünne Spur auf. »Sind Sie noch dran, Herr Lindemann?« fragt der Stationsleiter der Lufthansa. »Also, Racadi ist Fehlanzeige. Aber Bergusson… da war zwar keiner auf der Mailänder Maschine, allerdings…« »Was denn?« fragt Lindemann hastig. »Gebucht war er!« »Ach… Moment!« Lindemann wendet sich an Trimmel. »Racadi nein. Bergusson, ja… der wollte tatsächlich mittags
nach Hamburg fliegen, hat aber verschlafen oder sonstwas und ist nicht gekommen…« Trimmel scheint sich kaum zu wundern. »Sie hatten gefragt, ob die Maschine pünktlich gestartet ist…?« »Seid ihr nach Plan raus in Mailand?« fragt Lindemann ins Telefon. »Ja, was denn sonst… wie immer!« sagt der Mann von der Lufthansa im Brustton der Überzeugung. Lindemann grinst schwach. »Gib man nicht so an… okay, schönen Dank auch!« Die nächste Auskunft, die er kriegt, ist scheinbar ziemlich enttäuschend. In der Alitalia, die pünktlich um 22.10 Uhr in Hamburg landen wird, vielleicht sogar ein paar Minuten früher, sitzt niemand namens Bergusson oder Racadi. Und niemand, der so heißt, hat das Flugzeug verpaßt… »Kann man nicht feststellen«, fragt Trimmel, »ob einer der beiden irgendwann am Nachmittag mit einer anderen Maschine von Mailand abgeflogen ist?« Es verschlägt Lindemann glatt die Sprache. »Haben Sie eine Ahnung«, sagt er dann, »was in Mailand heute schon gestartet ist?« »Das nicht, aber…« »Ich nämlich auch nicht«, gibt Lindemann zu, »ich weiß nur, daß es entsetzlich viel ist. Und daß es fast unmöglich ist, bei drei Dutzend Gesellschaften auf die Schnelle einen Namen rauszukriegen!« Aber er kennt Trimmel nicht – Trimmel mit seiner Hartnäckigkeit. »Wenn man die italienischen Inlandsflüge und die nach Afrika und Übersee ausklammert? Wenn man nur die nach Deutschland und Nahost nimmt… soviel können das doch gar nicht sein?« »O Gott«, sagt Lindemann, »daß die Leute immer glauben, wir hätten rote Telefone und heiße Drähte…«
»Versuchen Sie’s doch wenigstens!« »Ja, ich versuch’s«, sagt Lindemann gottergeben, »aber machen Sie mir keine Vorwürfe, wenn ich’s nicht schaffe, bevor die Maschine in Hamburg ist!«
An Angelica Wagners Souterrainwohnung hängt ein Zettel mit der Aufschrift Blueboy. Ein Zettel von Omar Bahrein, Racadis Freund, der inzwischen, nach Racadis Flucht, auch ihr Freund geworden ist… aber zunächst geht sie, wie geplant, rein und bringt sich in die richtige Form. Es kribbelt heftig, nachdem sie geschnupft hat, die, vertraute Betäubung zwischen Nase und Rachen wird spürbar; ein paar Augenblicke später hat sie das Gefühl, daß sie heute abend noch Bäume ausreißen wird. Sie ist sehr aktiv und setzt sich ab sofort über die Kleinigkeiten des Daseins souverän hinweg… Den Zettel Blueboy sieht sie deshalb gar nicht mehr, als sie die Wohnung wieder verläßt.
Und Höffgen findet ihn, als er kurz darauf vor der Kellertür steht. Blueboy – ein stadt- und polizeibekannter schräger Schuppen mit Musik und Anfassen. Eine Irrsinns-Disco, deren Gäste im Verlauf zahlloser Razzien eine natürliche Feindschaft gegen die Polizei entwickelt haben; Höffgen ahnt, was ihn erwartet. Aber er fährt hin. Zum Glück lungert, wie meist in dieser Gegend zwischen Pferdemarkt und Reeperbahn, ein Peterwagen in der Nähe des Blueboy herum. Die beiden uniformierten Beamten sichern daraufhin den Eingang des Schuppens, und Höffgen kämpft sich in dem ohrenbetäubenden Lärm zur Tanzfläche durch… Die Leute haben den Mann von der Schmiere längst gegen den Wind gerochen – sie hätten ihn ausgemacht auch ohne
seine Eskorte. »Bullen…«, sagt schreiend einer zum anderen, »Bullen… Bullen…« Aber Höffgen ist ein stabiler Mann und macht rücksichtslos von seinen Ellbogen Gebrauch. Er erkennt Angelica Wagner im psychedelischen Zwielicht; sie tanzt mit Omar, von dem Höffgen kein Foto hat. »Bullen…«, hört Omar. Und als ihm Höffgen seine Dienstmarke unter die Nase hält, leistet er erst mal handgreiflich Widerstand gegen die Staatsgewalt. Angelica verkrümelt sich in der Menge, Höffgen merkt es zu spät… Die Musik bricht ab. Der harte Beat tat weh, aber die jähe Stille schmerzt noch mehr. Dann wird’s wieder laut… Give peace a chance! dröhnt es durch das Lokal. Immer noch der passende Hit für solche Gelegenheiten. Irgendein Punker kommt Omar Bahrein zu Hilfe und stellt sich Höffgen in den Weg. Höffgen, in die Enge getrieben, schickt ihn mit einem Hieb in den Magen zu Boden… gleich darauf müssen ihm die Kollegen vom Eingang zu Hilfe kommen, damit er nicht niedergemacht wird. Er hält Angelicas Tänzer im Polizeigriff fest, als er sich, mit einer Hand boxend, gemeinsam mit den Uniformierten zurück zum Eingang prügelt. Der Araber neben ihm kratzt und beißt und spuckt… aber trotz und alledem, die hundertprozentige Schlägerei will im Blueboy anscheinend niemand riskieren. Die drei Polizisten mit ihrer Beute – Omar Bahrein – kommen mäßig lädiert wieder nach draußen. Höffgen, schwer atmend, entschließt sich, Bahrein erst mal zur Vernehmung ins Präsidium zu schaffen. Mit dem Mädchen nämlich ist nichts… Angelica Wagner ist in einem Schleier aus Schweiß und Lärm vor ihnen verschwunden.
Ohne Rücksicht auf die Staatsfinanzen hat Trimmel von der Flugsicherung aus ein Gespräch zum Wiener Sicherheitsbüro angemeldet; Lindemann ist irgendwo – wo, weiß der Himmel – im Haus verschwunden. Und Trimmel sitzt im Lichtkreis von Lindemanns Lampe, vor sich die Akten, die tatsächlich alles andere sind als ein Ruhmesblatt der deutschen Polizei. Die Sache mit dem Transistor vor allem, eine der größten Pannen der Terrorfahndung von rechts bis links, auch wenn’s noch nie an die große Glocke geraten ist… Wo mag Bergusson jetzt stecken? denkt Trimmel trübe. Ob er tatsächlich doch noch durchgedreht hat, nachdem’s so lange ruhig geblieben ist? Gott sei Dank schrillt das Telefon, bevor Trimmels lange verdrängter, jetzt um so heftiger aufbrechender Schuldkomplex ins Uferlose wächst. »Ihre Anmeldung Wien…« Inspektor Woratschek vom Sicherheitsbüro am Apparat. Der Kripo-Kollege, ein Mann mit einem phänomenalen Gedächtnis, erinnert sich sofort an Racadi, der seinerzeit von Hamburg nach Österreich türmte; er weist zwar immer wieder darauf hin, man habe INTERPOL und damit auch der deutschen Polizei längst alles mitgeteilt, was aus österreichischer Sicht zu sagen sei. Aber Trimmel löchert ihn bis zum Gehtnichtmehr – er will buchstäblich alles über jede Stunde wissen, die Racadi nach seiner Flucht aus der Bundesrepublik auf österreichischem Boden verbracht hat. Racadi, sagt Woratschek, hat gleich nach seiner Ankunft in Wien arabische und kommunistische Ausländerkreise kontaktiert, die von den österreichischen Behörden laufend kontrolliert werden. Racadi hat auch die PLO-Vertretung aufgesucht, galt aber nach den amtlichen Erkenntnissen dort als unerwünscht… »Ja, und sonst?« drängt Trimmel.
Woratschek zögert. »Er soll geprahlt haben, demnächst werde das jüdische Immigrationsbüro in Wien in die Luft fliegen… nur deshalb sei er hier…« »Geprahlt?« »Schaun S’«, sagt Woratschek, »wir haben den Mann nie persönlich sprechen können, Herr Kolleg, dazu war er, wie gesagt, zu schnell wieder weg. Aber was wir dann über ihn gehört haben… wenn Sie mich fragen, ich halt’ ihn eigentlich nicht für einen knallharten internationalen Terroristen… eigentlich mehr für einen Einzelgänger ohne jeden politischen Anspruch, sozusagen…« »Aber das Attentat in Hamburg?« »Sie wissen doch selbst«, sagt Woratschek fast nachsichtig, »daß uns diese Spinner oft viel mehr Ärger machen als die harten Profis… aber wenn ich jetzt auch mal was fragen darf… warum interessieren Sie sich eigentlich ausgerechnet heute für diesen Mann?« Alles auf Staatskosten, denkt Trimmel. Immerhin, er gibt Woratschek eine Kurzfassung der Situation, die eigentlich noch gar keine ist… Gleich darauf jedoch wird’s eine. »Ich bekomme hier gerade ein Telex auf den Tisch«, sagt Woratschek, »die Flugsicherung unseres Airports Schwechat teilt dem Sicherheitsbüro routinemäßig mit, daß im italienischen Luftraum ein Verkehrsflugzeug entführt worden ist… es hat jetzt Kurs nach Norden. Es dürfte bei Beibehaltung dieses Kurses am Rande des hiesigen Radarbereichs gesichtet werden, deshalb werden wir informiert… kann es sein, daß Sie das ebenfalls interessiert?«
Trimmel weiß dreißig Sekunden später schon nicht mehr, wie er aus der Leitung gekommen ist; wahrscheinlich hat er den
Österreicher, der offenbar die Höhe husten hört, in seiner Fassungslosigkeit einfach abgehängt. Und vierzig Sekunden später kommt Lindemann in sein Büro gerannt, erregt und mit rotem Kopf. »Eine Air Europe ist entführt worden, Flug von Mailand über Athen nach Beirut… aber das gibt’s doch gar nicht, ich glaub’ immer noch nicht, daß das irgendwas mit Ihren idiotischen Vorstellungen von Kriminalität…« Das Telefon läutet und unterbricht ihn. »Die Maschine hat Kurs nach Norden…«, sagt Trimmel fatalistisch. »Woher wissen Sie das?« fragt Lindemann perplex. »Sie wird irgendwann über Wien gesichtet werden…«, sagt Trimmel. »Gottverdammich, ich…« »Ich weiß es aus Wien selbst!« Das Telefon schrillt ununterbrochen, und Lindemann geht erst mal dran. »Ja?« Trimmel sieht, daß er weiß wird, aber gleich darauf auch wieder rot, während er zuhört; die Gelenke geraten ihm grotesk außer Kontrolle, er springt hin und her und zappelt wie ein Hampelmann. Und zwingt sich dennoch fast gewaltsam zur Ruhe… »Sie sind ganz sicher?« fragt Lindemann knapp. »Hundertprozentig!« sagt der Mann am anderen Ende – laut genug, daß auch Trimmel es hört. »Danke!« Lindemann legt auf. Er sieht Trimmel an wie eine häßliche Kröte – einen Unheilskünder, der recht behalten hat. »Racadi ist nachweislich an Bord der entführten Maschine. Von einem Bergusson weiß man nichts. Der Captain hat gesagt, er wird mit einer Waffe bedroht und gezwungen, nach Hamburg zu fliegen…« Trimmel nickt. »Also tatsächlich nach Hamburg!«
Und Lindemann schreit: »Ja, und was sollen wir dann machen, verdammt noch mal?« »Am besten gründen wir ‘ne Art Krisenstab…«, sagt Trimmel müde. Mehr fällt ihm momentan nicht ein, mit seinem abgrundtief schlechten Gewissen. Und das, denkt er, muß ich sogar noch für mich behalten.
5
Eine gute halbe Stunde nach dem Einschwenken auf die Luftstraße Upper Amber 23, zwischen den Funkfeuern Vieste und Falconara, kommt die Boeing 727 über der Adria, in Höhe der Stadt Pescara, erst mal auf den Radarschirm von Rom. Sie fliegt ruhig, auf einer wie mit dem Lineal gezogenen Linie, auf Kurs drei eins vier, das heißt nicht genau nach Norden, sondern in nordwestlicher Richtung. Bei jeder Umdrehung des Antennenzeigers dringt das grüne Flugzeugsymbol ein paar Millimeter weiter vor; es hinterläßt dabei einen nicht schaden, wenn die NATO ihren Flugbetrieb heute abend von der Luftstraße Upper Amber 23 fernhält. Die NATO ist zwar sofort gutwillig, aber es wird sich erst noch zeigen, ob sie Ruhe geben wird, wo Ruhe erwünscht ist. Ein amerikanischer Drei-Sterne-General schaltet sich gleich persönlich ein: er entschließt sich, sofort das nächste SOC, das für Italien zuständige Sector Operation Center 5, zu alarmieren, und das eben nicht nur nachrichtlich… Es wird deswegen sicher nicht gleich Krieg geben. Aber wirklichkeitsnahe Planspiele sind den Militärs in allen Ländern und Bündnissen immer hochwillkommen. Bergusson kann insofern gar nicht ahnen, was er da angerichtet hat, jetzt schon, im Frühstadium der Aktion: Er hat im möglichen Flugbereich des Air-Europe-Fluges 612 – die Flugnummer wird auch jetzt noch beibehalten, Ordnung muß sein – fünf alliierte Jagdgeschwader mit jeweils vier startbereiten Abfangjägern in Bereitschaft versetzt. Es sind, letztlich auf seine Initiative hin, acht Hubschrauberstaffeln der alliierten Search-and-Rescue-Abteilung alarmiert worden – die
Luftrettungseinheiten in Neubiberg bei München, Leipheim bei Ulm, Bremgarten im Südwesten und Pferdsfeld bei Kreuznach, Ahlhorn an der Hansa-Linie und die Spezialhubschrauber auf den NATO-Flugplätzen Jever, Nörvenich und Hopsten. Die Mühlen können im Ernstfall, ebenso wie die Jäger, innerhalb von drei bis maximal fünf Minuten in der Luft sein. Ferner schreckt Bergusson, ohne es zu wissen, im außermilitärischen Bereich die Zentrale der Bundesanstalt für Flugsicherung in Frankfurt auf, die zuständigen Leute der deutschen FIR-Bereiche in München, Frankfurt und Hannover sowie nahezu sämtliche Flugsicherungsstellen in der Bundesrepublik einschließlich aller Kontrolleure für etliche Dutzend Funkfeuer. »Hinsetzen!« sagt Bergusson scharf; er hat sich wieder gefaßt. Zwischen seiner Pistole und Feiningers Bauch – es kann auch Ullys Bauch sein, so genau läßt sich das in dem Gewühl nicht feststellen – ist ein Zwischenraum von nur wenigen Zentimetern. Wenn die Pistole jetzt doch losginge, wäre es fast ein aufgesetzter Nahschuß. Aber sie geht nicht los. Feininger geht jetzt doch erst mal pinkeln, in aller Gemütsruhe; solange er weg ist, sagt niemand ein Wort. Dann, als er zurückkommt, zwängt er sich an Bergusson vorbei und klettert wieder auf seinen Sitz. Dabei redet er beschwörend auf die beiden Mädchen ein: »Wir können alles gebrauchen, aber keine Panik! Wir werden ganz klammheimlich in Hamburg landen und den Leuten dann erst was sagen! Also tut mir den Gefallen und dreht nicht durch! Die eine Stunde… Okay?« Die Mädchen nicken. »Und nun geh zu dem Araber«, sagt Feininger zu Ully, »und sag ihm, wir wären im Holding und hätten noch keine Landeerlaubnis für Athen!«
»Was ist, wenn der Mann ‘ne Uhr hat?« fragt Söltner sarkastisch. Feininger überlegt. »Okay… sag ihm, es kann noch was dauern… in Athen ist einer von der Piste gekommen und blockiert die Landebahn, irgend so was. Erzähl ihm irgendein Märchen, aber sag ihm auch, daß wir genug Sprit dabei haben, damit er nicht noch deswegen nervös wird…« Das mit dem Sprit stimmt – aber es ist weiß Gott auch das einzige, was stimmt. Dennoch, Ully marschiert tapfer wieder los. Gaby geht in gebührendem Abstand – bloß keine Hektik – betont lässig hinter ihr her.
Tatsächlich hat bisher niemand außerhalb des Cockpits etwas vom veränderten, fast entgegengesetzten Kurs der Maschine bemerkt. Sogar Femal Racadi sieht nach wie vor zufrieden aus, nachdem Ully bei ihm gewesen ist. Er zerdrückt einen seiner schwarzen Strohhalme im Aschenbecher – es ist nicht voll heute; die Stewardeß hat schon vorher entschieden, daß er seine stinkenden Dinger rauchen kann – und schließt die Augen für ein Holding-Nickerchen. Henri Lempp, zwei Reihen hinter Racadi, klopft sich ein winziges Stäubchen vom dunkelblauen Blazer und wartet, bis von Ully nichts mehr zu sehen ist. Dann holt er heimlich, als sei’s bei Todesstrafe verboten, eine Flasche Dimple aus dem Duty-Free-Shop-Beutel, knackt den Verschluß und nimmt einen kräftigen Schluck. »Prost!« sagt der Trapper Lange neben ihm. »Aaahh…«, sagt Lempp, weil er sonst husten muß. »Du solltest vorsichtig sein, Henri…« »Aber Klaus, ich bitte dich!« Henri nimmt gleich noch einen Schluck. »Bis Beirut bin ich dreimal wieder okay!« Dabei
greift er in den Blazer und spielt zum Ärger seines Kumpels mit seinen Dollars. »Laß das!« sagt Klaus Lange böse. Henri Lempp lacht nur. »Wenn ich mir diese Kohlen anseh’… damit könnte man fast abhauen!« Das alles geschieht so leise, daß es nahezu den Charakter einer Pantomime hat: man könnte es ohne Worte begreifen. Nur sieht es niemand, wie Lange aufatmend feststellt; wenigstens er behält hier die Übersicht. »Sie hätten dich schnell wieder am Arsch!« flüstert er Henri zu. »Pfui!« sagt Henri prompt. Und entschuldigt sich immerhin wegen seiner bösen Gedanken: »Ich leg’ Olaf doch nicht aufs Kreuz, ich doch nicht… war doch nur Spaß, Süßer!«
Dr. Emil Holtzmann glaubt irrtümlich, daß er zu diesem Zeitpunkt schon ziemlich nahe an Beirut herangekommen ist; er ist nervös vor lauter Vorfreude auf den Abend und die nächsten Tage. Ständig schlafen kann man sowieso nicht, sagt er sich, vor allem nicht in der zweiten Lebenshälfte… also steht er auf und geht etwas spazieren, mal nach vorn, dann wieder nach hinten. Ausgerechnet dadurch weckt er fatalerweise Femal Racadis Aufmerksamkeit. Denn der Araber hat die Augen wieder aufgeschlagen und deutet das Hin- und Herwandern von Dr. Holtzmann fälschlich als Nervosität ganz anderer Art… Er beschließt, allenfalls noch solange zu warten, bis der Dicke sich wieder hinsetzt. Was, im übrigen, nützen die besten Erfindungen, wenn sie nicht richtig realisiert werden? denkt Richard Feininger im Cockpit der Boeing, während er das Steuer festhält und verbittert nach Nordwesten steuert. Den Knopf im Cockpit,
einen besonderen Knopf für besondere Fälle, hat er längst gedrückt, ohne daß Bergusson hinter ihm was gemerkt hätte. Und auf den Radarschirmen, die eine entsprechende Empfangseinrichtung haben, müßte das Symbol für Flug AE 612 blinken, wie eine silberne Morselaterne: Mayday, Mayday… Das Notsignal. Aber Brindisi beispielsweise, wo es am ehesten hätte blinken können, hat derzeit überhaupt kein Radar, und Mailand hat keinen Empfang für Blinker… Rom vielleicht, aber das weiß nicht mal Feininger so genau. Im Grunde, denkt der Captain als nächstes, hat diese ganze Blinkerei sowieso überhaupt keinen praktischen Wert. Denn selbst dann, wenn man sie geortet hat – soll man eine entführte Verkehrsmaschine etwa mit der Flak abschießen? Wenig später wird Feininger ausgesprochen schläfrig. Die Schläfrigkeit, hat er den Eindruck, kriecht durch die ganze Maschine… er denkt momentan kaum noch an den Mann mit der Pistole dicht hinter ihm. Reisen bildet, denkt Feininger schläfrig, Fliegen dagegen fördert selbst im Normalfall sogar den menschlichen Fatalismus.
Drei-Sterne-General Perlborg zieht mit zehntausend Mann ins Manöver und hält ständigen Kontakt mit dem Präsidenten. Es muß ja nicht gerade der amerikanische sein, wenn in Europa was los ist; immerhin bringt es Perlborg fertig, auf eigene Faust den deutschen Bundeskanzler und den französischen Staatspräsidenten zu informieren, beide – über ihre Referenten – sogar persönlich, denn Perlborg spricht ziemlich fließend Deutsch und Französisch. Jedenfalls ist AE 612 möglicherweise von allen guten Geistern, keinesfalls aber von der stets wachsamen NATO verlassen.
Perlborg, der höchste zur Zeit diensttuende Würdenträger der Luftverteidigung Mitteleuropa, hätte nach der Alarmierung des Sector Operation Centers 5 die Hände eigentlich wieder in den Schoß legen und in aller Ruhe auf weitere Nachrichten über das entführte Flugzeug warten können. Denn jedes SOC ist im Rahmen der NATO-Luftverteidigung in seinem riesigen Bereich für die Planung und Leitung aller Maßnahmen am Himmel eigenverantwortlich, außerdem für die Flugsicherheit unter allen Wetterbedingungen. Vor allem aber – und das hätte den US-General mit dem französischen Tick und dem britischen Schnurrbart endgültig beruhigen können – muß ein SOC engstens mit allen Nachbardienststellen zusammenarbeiten, lückenlos, einander sogar überschneidend. So ist es dann ja auch geschehen – und trotzdem hat General Perlborg den Fall zu seinem eigenen erklärt und die Fäden in der Hand behalten. Der diensttuende Offizier im SOC, ein italienischer Oberstleutnant, hat über seine direkt geschalteten Telefone sofort die deutschen SOC-Zentralen 3, 2 und 1 angerufen. Obristen und Majore aus vier Nationen wissen damit Bescheid: auf dem Erbeskopf, dem höchsten Berg im Hunsrück, bei jedem an der deutsch-holländischen Grenze und in Brockzetel bei Aurich in Friesland. Lediglich Drachenbronn im nördlichen Elsaß, das frühere SOC 4, hat keine Antwort mehr gegeben, weil es vor längerem dem Krach zwischen Charles de Gaulle und der NATO zum Opfer gefallen ist und seine Aufgabe ans SOC 3 im Hunsrück abgetreten hat. »Ein unverzeihlicher Fehler, dieser Ausfall!« sagt General Perlborg, der lückenlose Generalstäbler; die NATO wird die dumme Entscheidung der Franzosen nie verkraften. »Zum Glück steht der Feind heute rechts!«
Damit meint er östlich. Und damit hat er diesmal – unabhängig von der Tatsache, daß er ein Korinthenkacker ist – für den heutigen Abend eine erstaunliche Prophetie bewiesen.
Femal Racadi drückt abermals eine seiner schwarzen Stricknadeln aus und steht auf, als wolle jetzt er sich etwas die Beine vertreten. Er wandert ein paar Meter vor und zurück, sieht ein paar Fluggäste schlafen und einen anderen – Henri Lempp – Whisky trinken. Und sieht außerdem einen leeren Platz… und ob er nun ein Spinner ist oder nicht, er ist darauf gedrillt, gewisse Dinge um ihn herum nicht zu übersehen. Er spult in seinem Gehirn einen Film ab, erst zurück, dann wieder vor… Kein Zweifel mehr. Vor einer ganzen Weile hat ein sehr großer Mann – wenigstens wirkte er sehr groß – aus der Reihe 15 seinen Platz am Mittelgang verlassen und ist zur vorderen Toilette gegangen. Vielleicht kriegt er inzwischen das Türschloß nicht auf, vielleicht ist ihm schlecht geworden, oder er ist gestorben – von der Toilette zurückgekehrt ist er jedenfalls nicht. Racadi sieht nach vorn: ein grünes Lämpchen zeigt an, daß die Toilette frei ist. Oder jedenfalls nicht abgeschlossen. Er geht nach vorn, geht auf die Toilette – sie ist wirklich frei, und es finden sich keinerlei Spuren des großen Mannes aus Reihe 15.
Da wird Racadi doch ziemlich mißtrauisch. Er macht ein paar Schläge Schattenboxen vor dem Toilettenspiegel, geht wieder hinaus, schlendert zurück und setzt sich, scheinbar gelangweilt und einfach nur so, auf den Fensterplatz rechts in der 15. Reihe.
Draußen sieht man nichts, außer den Sternen. Der Mond steht auf der anderen Seite, hier ahnt man ihn nur. Aber auf Platz 15 liegt ein schickes schwarzes Aktenköfferchen mit einem Nummernschloß. Man könnte es leicht öffnen, wenn man den Trick kennt und ein paar Minuten Zeit zur Verfügung hat. In diesem Fall jedoch hat Racadi keine Zeit, und es genügt ihm vorerst, daß am Koffergriff eine Lasche mit einer Visitenkarte baumelt, die sich leicht herausziehen läßt: MAX BERGUSSON. In Versalien und Kupfertiefdruck. Man sieht auf den ersten Blick, daß es keine billige Visitenkarte ist. Aber das interessiert Racadi nicht besonders… er weiß schon genug. Er stöhnt leise auf und geht schnell zurück auf seinen Platz, wo die schwarzen Halme liegen, die ihm, wie er meint, das Denken erleichtern.
Drei-Sterne-General Perlborg denkt so gut wie nie, überläßt allerdings auch nichts dem Zufall oder dem Risiko, daß auch nur ein Mitarbeiter eine menschliche Schwäche zeigt. »This is Air Defence Notification Center«, sagt er im telefonischen Rundspruch, auf dem er bestanden hat. »Senior Controller speaking. First, Sector Operation Center three, did you register hijacked, non scheduled Air Europe Six One Two in the meantime, and did you really inform the other Sector Operation Centers about the Situation?« Der Apparat, auf den es ankommt, steht in einem spartanischen Bürozimmer, und der Mann, der den Hörer am Ohr hat, heißt von Rosen und ist Oberstleutnant. »This is Sector Operation Center three, Sir«, sagt er geduldig, »the Sector Controller…« Er bestätigt dem General, daß man – was inzwischen halb Europa weiß – über die Flugzeugentführung informiert ist.
Auch habe man in der Angelegenheit tatsächlich den Kontakt mit SOC Two und SOC One hergestellt; selbstverständlich sei die Meldung ebenso an Search and Rescue sowie alle Tactical Forces weitergegeben worden. »Roger!« sagt Perlborg. »Fine!« Von Rosen legt den Hörer auf und sagt zu einem Major am anderen Schreibtisch: »Das gibt ‘ne lange Nacht; bleib mal gleich hier. Mister General möchte laufend persönlich informiert werden…« Immerhin hat General Perlborg jetzt schon auch solche Leute hochgescheucht, die normalerweise noch gar nicht dran wären. In Ramstein sagt ein diensttuender Colonel in ein Mikrofon: »Ramstein Alert Force, ready for Air Control, Ramstein Alert Force, ready for Air Control…« Eine Gruppe von Männern in Fliegerkombinationen geht daraufhin, fertig zur ›Luftkontrolle‹, auf der drei vor einem Hangar stehenden Phantom-Jäger zu. Und in Hopsten bei Rheine wiederum, viel weiter nördlich, kommt es sogar fast zu einem Konflikt unter Waffenbrüdern. Ein paar Engländer spielen dort ein komisches, für Nichtbriten unbegreifliches Kartenspiel – und einer von ihnen sagt, mit starkem Akzent, ausgesprochen wütend zu einem nervösen deutschen Offizier: »Reg dich endlich ab, Hänschen! Search and Rescue hat noch keinen verhungern lassen!« Dann allerdings spielt er seelenruhig eine neue Karte aus und läßt General Perlborg erst einmal einen guten Mann sein.
Bei Treviso, nordnordwestlich von Venedig, endet die Luftstraße Upper Amber 23. Seit Brindisi ist Flug 612, was das Ziel Beirut anbelangt, jetzt knapp eineinhalb Stunden lang in der falschen Richtung unterwegs; Captain Feininger hat sich an den Funkfeuern orientiert und den Sprechverkehr auf
Bergussons Befehl hin auf ein Minimum reduziert. Die Präzisionsuhren der Piloten zeigen 21.22 Uhr. Feininger kennt den italienischen Luftraum gut genug, um zu wissen, daß er etwa zwischen Rimini und Ravenna den römischen Radar-Bereich verlassen hat und vermutlich knapp auf dem Rand der Mailänder Schirme sichtbar geworden ist; am Ende von Upper Blue 23, in diesen Minuten, dürfte er auch für die Mailänder wieder verschwinden. Es ist immer noch eine ungewöhnlich sternklare Nacht, registriert der Captain, und sie fliegen immer noch auf Level three zero zero, das heißt 30000 Fuß oder rund 10 Kilometer hoch; die Außentemperatur beträgt minus 49 Grad Celsius. Auch weiter nördlich, sagen die Wetterberichte, wird die unfreiwillig beflogene Strecke vom Mond voll ausgeleuchtet sein.
»Im übrigen«, doziert General Perlborg inzwischen vor der eilig einberufenen Krisenkonferenz der Stabsoffiziere im atomsicheren Kommandobunker, »kann die Lage innerhalb kürzester Zeit sehr kritisch werden!« Der General, der niemals auch nur einen Zentimeter Historie gestrickt hat, reibt sich das Kinn. Ausgerechnet heute – und das ahnt er noch gar nicht in vollem Umfang – macht er mit seinen Binsenweisheiten zur Lage Luftfahrtgeschichte. »Natürlich gibt es auch schon Handovers« – vorsorgliche Warnungen – »an unsere und an die zivilen Flugsicherungen aller eventuell betroffenen Länder… Frankreich, die Schweiz, Österreich, vorsichtshalber auch Benelux…« Aber, meint der General, was für uns – den Westen – viel wichtiger ist: Auch die östlichen Nachbarn verfolgen mit riesigen Antennenohren, was da westlich des Eisernen Vorhangs gerade im Gange ist. Ein Luftzwischenfall wie
dieser führt automatisch zu Bereitschaftsbefehlen an alle Luftstreitkräfte des Warschauer Pakts, soweit sie auf dem Territorium der DDR stationiert sind. »Und die warten doch nur darauf«, sagt Perlborg dramatisch, fast kriegerisch, »daß der Vogel falsch fliegt und ihren MIGJägern vor die Flinte kommt!« Die einzigen Konferenzteilnehmer, die nur mit halbem Interesse zuhören, sind die Stabsoffiziere der Bundeswehr. Denn die Bundesluftwaffe hat – nach dem Potsdamer Abkommen, das den Alliierten die Lufthoheit über Deutschland sichert – einstweilen nichts mit dieser Affäre zu tun. Die bundesdeutschen Jäger greifen erst ein, wenn eine Krisensituation bereits bis kurz vor Kriegsausbruch gediehen ist… »Soweit allerdings«, sagt letztlich sogar General Perlborg, »wird es der Hijacker dann ja doch wohl nicht kommen lassen!«
MAX BERGUSSON. Schön gedruckt, auf sehr gutem Papier… Racadi steht auf und schlendert von Reihe 22 nach hinten. MAX BERGUSSON… ein Zufall kann das nicht sein! Außerdem stimmt das doch nie im Leben, daß in Athen die Landebahn blockiert ist… also, was läuft hier eigentlich? Racadi setzt sich in die letzte Reihe, auf den mittleren Platz rechts. Er krempelt vorsichtig, um die Bügelfalte zu schonen, das rechte Hosenbein hoch und nimmt aus einer Lasche, die in den Schaft des halbhohen Stiefels eingenäht worden ist, den Lauf einer zierlichen Pistole. Aus einem Brillenetui nimmt er zwei Griff stücke… noch ein paar unauffällige Metallteile aus dem breiten Ledergürtel, und er kann eine komplette Pistole zusammensetzen. Ebensowenig eine Kanone wie die FN 6,35
von Bergusson, von der er nichts weiß. Ebenso wie Bergussons Waffe auf kurze Distanz äußerst zuverlässig. Aus der anderen Seite des Gürtels nestelt Racadi ein Magazin. Sechs Patronen vom Kaliber 22 gleich 5,6 Millimeter; wenn er jemals mehr braucht, hat er sich schon vor Jahren gesagt, kann er sowieso gleich aufgeben. Aber jetzt… jetzt legt er die kleine Selbstladepistole, ein ziemlich neues Modell, griffbereit rechts neben sich; von links, vom Gang her kann man sie nicht sehen. Und dann läutet er nach der Stewardeß. Gaby sieht von der Gallery aus nach hinten und erkennt das Lichtsignal an der letzten Reihe. »Hat da vorhin schon einer gesessen?« fragt sie Ully, die immer noch vor Angst schlottert. »Ich weiß nicht…«, sagt Ully. Gaby ist da robuster. Sie raucht zwar erst mal ihre Zigarette zu Ende. Aber wenn der Mensch, der dahinten momentan sitzt, Durst hat – bitte sehr, wir sind immer für Sie da!
Die Boeing A-LBO fliegt nun seit fünf Minuten in der gleichen Höhe wie bisher auf der Upper Amber 12: über Bozen, auf das italienisch-österreichische Grenzgebiet am Brenner zu, in Richtung Innsbruck und Bad Tölz, dem ersten deutschen Funkfeuer. Möglicherweise, überlegt Feininger, können sogar die Wiener vom Flughafen Schwechat aus das heute abend interessanteste Flugzeug über Europa gerade noch auf ihrem Radarschirm sehen… er hat ja keine Ahnung, daß die Wiener schon länger auf der Lauer liegen. Bergusson lehnt hinter Feininger an der Cockpitwand. Die Pistole hat er immer noch in der Hand… aber wenn Feininger sich umdrehen würde, könnte er sehen, daß er müde ist wie ein Hund – daß er gleich
einzuschlafen droht, womit sich das Problem unerwartet von selbst lösen würde… Feininger jedoch dreht sich nicht um. »Halb sind Sie jetzt zu Hause!« sagt er. Bergusson schreckt zusammen. »Wa… wieso…?« »Wir überfliegen gerade die deutsche Grenze!« Bergusson unterdrückt mühsam ein Gähnen. Er sieht auf die Uhr. Es geht inzwischen auf zehn… mehr als zwölf Stunden seit dem ersten Grappa, kaum weniger als fünf Stunden seit dem letzten Whisky… »Wie… wie geht’s dann weiter?« fragt er. Seine Stimme klingt undeutlich. Da begreift Feininger, daß ausgerechnet er seinen Hijacker vor dem Einschlafen bewahrt hat – gerettet kann man hier schon sagen. »Sag du es ihm, Wolfgang!« knurrt er verärgert. Und Söltner sagt grimmig, jeden einzelnen Buchstaben betonend: »TOL MUN WLD DKB… Ein Funkfeuer nach dem anderen…« »Halten Sie die Klappe!« schreit Bergusson böse. »Meinen Sie, ich mach’ das hier zum Spaß?«
Racadi hat doch ein zweites Mal den Rufknopf drücken müssen, dann erst geht Gaby nach hinten. Ein paar Reihen vor Racadi erkennt sie, wer geklingelt hat. Und da sie inzwischen weiß, daß Racadi – der mit dem Bärtchen – auf irgendeine Weise mit der Entführung zu tun hat, bekommt sie einen ziemlichen Schreck… am liebsten würde sie sich auf dem Absatz umdrehen. Verkrampft lächelnd jedoch steht sie dann vor ihm. Wenn er sich wieder mit ihr verabreden will, in Beirut oder wo immer, wird sie sofort zusagen. Vorläufig sagt sie wohlerzogen: »Sir…?«
Racadi deutet aus dem Fenster: »What’s that, out there?« Draußen ist natürlich überhaupt nichts zu sehen, abgesehen von einem Stück Flugzeug im Sternenlicht. Aber Gaby, die Stewardeß mit den besten Prüfungsbeurteilungen ihres Lehrgangs, beugt sich aus schierer Höflichkeit halb über ihn zum Fenster. Niemand vorn achtet in diesem Augenblick darauf, was ganz hinten passiert. Niemand sieht, wie Racadi das Mädchen mit einem Judogriff über sich hinweg auf den Sitz am Fenster schleudert, ohne Rücksicht darauf, daß er ihr dabei fast den Schädel zerschmettert. »Kein Wort!« zischt er. »Was ist los?« »N… nichts…«, sagt Gaby, halb bewußtlos vom Aufprall und halb tot vor Angst, »ich weiß n… nicht, w… was…?« Racadi, noch leiser, noch böser, fragt: »Wo sind wir? Wohin fliegen wir?« Sie muß lügen, geht’s ihr durch den Kopf, lügen für Richard, für Feininger… er will nicht, daß irgend jemand die Wahrheit erfährt. »Nach… nach Athen…« Da sieht sich Femal Racadi nochmals sorgsam in der Umgebung um, ob nicht zufällig doch jemand auf ihn aufmerksam geworden ist oder gerade zur hinteren Toilette gehen will. Und dann gibt er dem Mädchen mit der linken Hand – mit der rechten drückt er ihr die Pistole unter die Brust – eine brutale Ohrfeige. »Wohin?« zischt er. Gaby stöhnt. »Nach Hamburg…« »Nach Hamburg?« sagt er fassungslos. Sie nickt. Und fängt lautlos an zu weinen. Ihr Gesicht tut weh, und auf der Stirn bildet sich eine dicke Beule. Aus der Nase tropft Blut auf ihre Uniform.
»Na schön«, sagt Feininger im Cockpit, »wenn Sie uns tatsächlich nicht zum Spaß entführen… was ist denn los mit diesem Araber? Was wollen Sie denn mit dem in Hamburg?« »Er ist ein Mörder«, erklärt Bergusson, »er hat meine Frau getötet!« »Aha!« stöhnt Söltner. »Eifersuchtsdrama!« Bergusson schüttelt den Kopf, was niemand sehen kann, und sagt im selben ernsthaften Tonfall wie bisher: »Meine Frau hat keinen anderen geliebt, als sie starb!« Irgend etwas in dieser Stimme beeindruckt Feininger. »Erzählen Sie doch mal mehr! Wollen Sie den Mann etwa in Hamburg bei der Polizei abliefern?« »Genau!« sagt Bergusson. »Er hat eine Bombe gelegt, dabei ist meine Frau umgekommen! Angeblich politisch… die Polizei hat sich kaum drum gekümmert! Die hat weniger rausgekriegt als ich, und mir… mir haben sie dauernd zu verstehen gegeben, daß ich ihnen auf die Nerven gehe! Ich soll doch praktisch selber sehen, wie ich ihn zu fassen kriege… ja, und nun hab’ ich ihn! Können Sie das nicht begreifen?« Feininger ist so verblüfft, daß er nicht gesehen hat, wie Bergussons Pistole immer tiefer gesunken ist. »Sind Sie denn… wenigstens sicher, daß dieser… dieser…« »Racadi!« »… daß er der richtige Mann ist?« »Sagen Sie mal«, sagt Bergusson, »glauben Sie, ich spinne? Wollen Sie mich verarschen?« »Sicher nicht… ich meine nur… ich mein’, das ist ja tatsächlich ‘ne irre Geschichte…« Gerade jetzt, als Feininger endlich merkt, daß er eine Chance hat, sagt Söltner mißbilligend: »Trotzdem. Das ist alles kein Grund, um ‘ne komplette Verkehrsmaschine in Schwierigkeiten zu bringen! Aber das interessiert Sie ja wahrscheinlich weniger…«
Bergusson schluckt. »Ich mach’ das, was ich tun muß! Ich werde Ihnen in Hamburg meine Pistole aushändigen. Einstweilen bin ich… bin ich sogar ganz froh, daß es ziemlich viel Wirbel geben wird!« »Wieso das nun wieder?« »Können Sie sich das nicht denken?« fragt Bergusson höhnisch. »Ist doch sonnenklar… die Polizei hat ja doch einiges über Racadi rausgekriegt, nachdem er ihr entkommen war. Aber wie ich sie und die Justiz einschätze… vielleicht sind die Herren immer noch der Ansicht, daß es noch zu wenig ist, um ihn zu verurteilen. Da kann’s doch nur gut sein, wenn’s jetzt Schlagzeilen gibt… Bombenattentäter per Flugzeugentführung nach Hamburg ausgeliefert… also, nachdem das passiert ist, müssen sie ihn ja in die Zange nehmen, laufenlassen ist da nicht mehr drin!« Der Mann ist tatsächlich verrückt! denkt Feininger. Aber trotzdem… einen Sinn hat das Ganze. »Sie sind sich sicher klar darüber, daß Sie selbst als erster eingesperrt werden, sobald Sie Ihren Mann in Hamburg abliefern?« »Das ist mir egal!« antwortet Bergusson. Hellwach ist er wieder, in der Form seines Lebens. »Wann haben wir’s hinter uns?« »Wann wir landen, meinen Sie?« »Ja. TOL und DKB und so…« »Ach so… Tölz haben wir passiert… München, Walda, Dinkelsbühl, König, die Funkfeuer auf Upper Blue One Richtung Hamburg… können Sie sich fast selbst ausrechnen; eine Stunde, paar Minuten plus minus…« »Danke, Captain!« sagt Bergusson höflich.
Und Racadi hinten sitzt in der Falle. Racadi hat böse, grausame Angst… er weiß selbst am besten, daß er in der Falle sitzt. Das
Kommandounternehmen, bei dem der Feind kommandiert… Ab nach Hamburg! kommandiert der Feind. Hat er tatsächlich seinetwegen dieses Flugzeug entführt? Er kennt diesen Bergusson nicht, dessen Frau damals dummerweise zu Tode gekommen ist; er kennt den Namen effektiv nur aus der Zeitung und den Vernehmungen durch die Polizei. Aber er weiß doch, daß der Mann schon in Hamburg hinter ihm hergewesen ist… warum ist er bloß vorhin in Mailand, als sie Bergusson aufriefen, trotzdem auf seinem Hintern sitzen geblieben, statt abzuhauen und einen späteren Flug nach Beirut zu nehmen? Max Bergusson. Ölmanager oder so was. Racadi kann’s immer noch nicht glauben – ein absurder Gedanke, daß ein Ölmanager, ein richtiges Kapitalistenschwein, Trouble macht wie ein ausgebildeter Friedenskämpfer. Aber er muß es ja glauben… es hilft alles nichts… Racadi drückt der Stewardeß Gaby, die mit ihrem blutverschmierten Gesicht neben ihm sitzt und starr vor sich hinsieht, die kleine Pistole fester in die Rippen. »Was hat der Mann dem Captain gesagt?« »Ich hab’s Ihnen doch schon gesagt…«, flüstert Gaby. »Noch mal!« »Der Mann will Ihretwegen nach Hamburg…« »Und warum meinetwegen?« »Ich weiß nicht…« Sie weiß es wirklich nicht, denkt Racadi – sie nicht. Aber er weiß es. Er weiß es von Omar Bahrein, den er ein paarmal angerufen hat, daß die Hamburger Polizei Material gegen ihn gefunden hat… es war ein Riesenfehler, das Radio, aus dem er den Transistor ausgebaut hatte, nicht verschwinden zu lassen. Und Bergusson kennt die Geschichte todsicher auch. Bergusson spielt hier den Bullen – das ist es! Bergusson will ihn in Hamburg ausliefern!
Aber noch haben sie mich nicht! denkt Racadi. Noch ist Hamburg weit weg… und noch bin ich nicht unten! Er knufft Gaby brutal in die Rippen. »Kollegin rufen!« Gaby reagiert wie eine Puppe. Sie streckt den Arm aus und drückt den Rufknopf. Diesmal kommt die Bedienung sofort. Ully wäre kurz darauf sogar von selbst gekommen, trotz ihrer Angst, weil sie sich wunderte, daß ihre Kollegin solange wegblieb… Jetzt wundert sie sich nicht mehr – jetzt bleibt auch ihr der Schrei in der Kehle stecken. »Was macht Mann im Cockpit?« fragt Racadi drohend. Ully starrt Gaby an, die mit ausgelaufenem Make-up und mit Blut am Kinn neben dem Araber sitzt… »Sag’s ihm…«, sagt Gaby. »Er… er spricht mit dem Captain…«, sagt Ully. »Spricht mit Captain!« sagt Racadi höhnisch. »Und Captain spricht mit Mann, er fliegt nach Hamburg! Sie« – er deutet für Sekunden mit der Waffe auf Ully – »gehen sofort zu Captain! Er sofort fliegt zurück nach Beirut, oder ich töte Kollegin!« Ully macht kehrt und will losrennen. »Halt!« ruft Racadi. In Zeitlupe dreht sie sich wieder um. Die Pistole, sieht sie, wird Gaby auf die Brust gedrückt. »Captain soll sagen über Lautsprecher, daß er erfüllt die Bedingung!« befiehlt Racadi. In seiner Erregung spricht er mit viel stärkerem Akzent als bisher. Ully rennt, jetzt ohne Rücksicht auf die Nerven der Passagiere, in Richtung Cockpit. Mehrere Leute werden nun wach, andere erheben sich neugierig von ihren Sitzen und sehen, wie die Stewardeß die Cockpit-Tür hinter sich zuschlägt. »Mann, hat die’s eilig!« sagt Klaus Lange.
»Ja… das bedeutet nichts Gutes!« sagt Henri Lempp, ahnungsvoll und ängstlich, trotz seiner inzwischen mittleren Trunkenheit. In Windeseile breitet sich das Unbehagen im ganzen Flugzeug aus, wie die Pocken. Wenn das sonst so lässige Personal plötzlich zu rennen beginnt, ist tatsächlich meist der Teufel los – da hat der Rauschgifthändler an Bord völlig recht.
6
In Erich Lindemanns Chefbüro bei der Hamburger Flugsicherung läuft der Farbfernseher. Irgendwo zwischen Hamburg und Italien muß es eine undichte Stelle gegeben haben, irgendwie ist die Nachricht, viel schneller als sonst, in irgendein TV-Studio geraten: »… die Maschine«, sagt der Tagesschau-Sprecher, »soll von einem mit einer Pistole bewaffneten deutsch sprechenden Mann gewaltsam zu einer Kursänderung nach Norden gezwungen worden sein. Bisher lehnt die betroffene Fluggesellschaft jede Stellungnahme mit der Begründung ab, bis zur Stunde habe auch sie noch keine Einzelheiten des Zwischenfalls in Erfahrung bringen können…« Trimmel kommt ins Zimmer; ausgerechnet jetzt hat er sich eben mal neue Zigarren gekauft. Und als er sich neben den viel zu dicht am Fernseher sitzenden Lindemann stellt, kündigt der Sprecher an: »Wir hoffen, bis zur Spätausgabe der Tagesschau über die weitere Entwicklung berichten zu können. Und jetzt ins Ausland…« Lindemann steht auf. Er läßt das Bild stehen, schaltet jedoch den Ton ab. »Ich hab’ inzwischen die Passagierliste der Maschine. Nichts mit Bergusson…« 23 Namen. Holtzmann, E. Lange, K. Lempp, H. Racadi, F. sowie 19 andere. Schiller und Christensen und Martens – kein einziger Name, bei dem es in Trimmels Gehirn klickt. »Wenn Bergusson trotzdem an Bord ist«, sagt Lindemann neben ihm, »muß er von Anfang an mit falschem Namen operiert haben. Und dafür spricht einiges… der Name Bergusson taucht in Mailand heute zweimal auf…«
»Ach nee?« Lindemann nickt. »Außer für die Lufthansa nach Hamburg hat ein Mensch namens Bergusson einen Alitalia-Flug nach Nizza gebucht. First Class… dadurch war’s einfacher, ihn zu finden. Aber nach Nizza ist Bergusson ebensowenig geflogen wie nach Hamburg… können Sie sich darauf noch Ihren Vers machen?«
In Olafs Haus ist die Party inzwischen mehr und mehr auf ihren harten Kern geschrumpft, aber dafür ist man endlich ungeniert unter sich. Die Kleidung der verbliebenen Gäste ist kaum noch als gelockert zu bezeichnen; selbst Mona hat sich anstandshalber freigemacht und sieht von Zeit zu Zeit oben ohne nach dem rechten; schwül genug ist es… »Komm mal mit!« sagt sie, als sie wieder mal erscheint. »Grade jetzt?« mault Olaf. Aber als er sieht, daß sie überraschenderweise wieder einen Pullover trägt, folgt er ihr sofort nach nebenan. »Beschwören kann ich’s nicht«, sagt Mona, »hier versteht man ja sein eigenes Wort nicht. Da haben sie im Fernsehen was von einer Maschine gesagt, die angeblich nach Deutschland entführt worden ist… die Air Europe, die von Mailand nach Beirut heute nachmittag…« Olaf starrt sie entsetzt an. »Du bist verrückt… die von Henri und Klaus?« »Ja, sicher… ich glaub’ nicht, daß ich mich da verhört hab’; Mailand und Air Europe auf jeden Fall…« »Oh, Scheiße«, sagt Olaf, der ziemlich benebelt ist, aber durch den Schock fast schlagartig wieder klar wird, »wieso nach Deutschland entführt?« »Wegen uns sicher nicht!« giftet Mona.
»Vielleicht… vielleicht haben die Jungs ja ein anderes Flugzeug genommen«, sagt Olaf zaghaft, »ich mein’, wir wissen ja nichts Genaues…« »Komm, hör auf!« sagt Mona. »Ich hab’ ihnen die Tickets selbst gebucht. Es gibt überhaupt keinen Grund dafür, daß sie umbuchen… schließlich wissen sie ja, was auf dem Spiel steht und welchen Ärger sie kriegen würden…« Henri Lempp und Klaus Lange. Rein äußerlich zwei skurrile Typen. Dabei war Henri mal einer der besten Leutnants in der amerikanisch straff ausgerichteten Frankfurter Unterwelt, bis er im vergangenen Jahr einem gleichgestellten Konkurrenten so auf die Füße und anderswohin trat, daß der Mensch im Krankenhaus starb. Anschließend war er froh, daß er durch die Vermittlung seines Kumpels Klaus Lange im aufstrebenden Hamburger Drogengeschäft, bei Olaf, neu Fuß fassen konnte… irgendwie werden sich die beiden doch zu helfen wissen! denkt Olaf verzweifelt. »Wir müssen zum Flughafen!« sagt Mona entschlossen. »Da kriegen wir am ehesten was raus! Also, zieh dich an, ich bin Gott sei Dank stocknüchtern!« Als sie drei Minuten später, von den engagierten Gästen unbemerkt, aus dem Haus rennen, hält ein Taxi vor der Tür. Angelica Wagner steigt aus. »Ich wollt’ gerade wiederkommen. Wohin wollt ihr?« »Zum Flughafen!« sagt Olaf – nach Monas Ansicht reichlich unvorsichtig. »Ist denn schon Feierabend?« Mona sitzt bereits in ihrem Porsche. Sie kann diese prüde Puppe sowieso nicht leiden, und sie flippt ziemlich gehässig aus. »Geh doch rein«, sagt sie böse, »ist noch genug zum Vögeln da. Mach dich ruhig schon mal frei… Olaf ist gleich wieder da!« Sie rast los, mit quietschenden Reifen.
»Die vögelt doch gar nicht!« schreit Olaf durch den Lärm des heulenden Motors. »Mußte die so anmachen?« Der Wagen röhrt bei Fast-noch-Gelb über sämtliche Verkehrsampeln. Stapelweise Hundertdollarnoten und Tausendmarkscheine in den Taschen dieser Haschknaben, denkt Mona… ich werde verrückt, mehr als eine halbe Million D-Mark, umgerechnet zum Tageskurs… »Da denkt man, man ist besonders schlau«, sagt Olaf, als habe er ihre Gedanken erraten, »und dann steht man da wie ne Oma, die ihr Geld im Strickstrumpf hat!« Sie gibt noch mehr Gas… zum dritten oder vierten Male rammt sie fast – aber nur fast – einen entgegenkommenden Wagen. Ihr Glück, daß die Polizei auf der Airport-Strecke heute nicht auf der Lauer liegt. »Fahr doch nicht ganz so verrückt!« bettelt Olaf. »Halt’s Maul!« Schließlich ist das Geld, das Lempp und Lange in der Tasche haben, zum großen Teil auch ihr Geld. Die Vorstellung, daß es derzeit vielleicht in einem entführten Flugzeug international transferiert wird, ist unerträglich.
Trimmels ganze Mannschaft, von Höffgen auftragsgemäß hochgejagt, sucht derweil in allen Winkeln der Hansestadt nach Mitgliedern des ehemaligen ›Racadi-Kreises‹ – ein müßiges Unterfangen, weil nur die wenigsten in Hamburg geblieben sind. Höffgen selbst hat länger mit Trimmel telefoniert und redet im Präsidium auf den frisch gefangenen Omar Bahrein ein – drohend und zugleich mit Engelszungen. Im Grunde gibt’s ja, bei aller Geschäftigkeit, für die Polizei noch wenig zu tun. Deshalb konzentriert sich Höffgen ganz auf die Frage, wohin Angelica Wagner aus dem Blueboy geflüchtet ist. Wo sie jetzt steckt, will er wissen, wo er sie möglichst
unverzüglich in Empfang nehmen kann – einfach, weil Trimmel sie haben will. »Ich weiß nicht!« sagt Bahrein stur. »Natürlich wissen Sie’s!« knirscht Höffgen. »Nein!« wiederholt der kleine Araber. Er hat einen jordanischen Paß und hundserbärmliche Angst, wenn er sich anfangs auch noch ziemlich lässig gibt. Und zwanzigmal dasselbe von hinten bis vorn. Beim einundzwanzigsten Mal jedoch gibt’s – zufällig – eine neue Variante. Höffgen, langsam zornig, vergißt, daß man Verdächtige und erst recht Zeugen in einer Vernehmung niemals unzulässig bedrohen, täuschen und einschüchtern darf – und er schreit Omar Bahrein plötzlich an, daß das Polizeihochhaus wackelt: »Du wirst schon sehen, was du von deiner Lügerei hast… du und deine Puppe… daß ihr lebenslänglich kriegt, dafür sorg’ ich persönlich… das versprech’ ich dir, du Scheißkerl!« »Lebenslänglich?« staunt Bahrein. »Dreimal!« schreit Höffgen. »Aber… aber wofür denn?« »Das fragst du noch? Meinst du, ihr könnt uns noch mal auf die Nudel schieben?« »Bitte… wofür?« drängt Bahrein. »Wegen der Bombe! Weswegen denn sonst?« Der Araber, anscheinend total aus der Fassung gebracht, sieht ihn verstört an. »Sie meinen Bombe… Bombe in Hamburg gegen Israelis…?« »Bombe gegen Frau Bergusson!« sagt Höffgen, nach wie vor sehr laut. »Racadis Bombe, an der ihr mitgebastelt habt, Angelica und du!« »Nein!« sagt Bahrein heftig. »Nix Bombe!« Höffgens Wutanfall geht urplötzlich zu Ende. Er wundert sich, daß der Araber, der bis dahin astrein Deutsch gesprochen
hat, vor lauter Nervosität wieder ins Radebrechen geraten ist. Und dieses NEIN vor allem, dieses NIX klang irgendwie so überzeugend… vor allem so erleichtert… Wieso eigentlich, fragt sich Höffgen, fängt der Junge in dieser Disco diese Schlägerei an und fragt dann hinterher nicht mal nach dem Grund, weswegen wir ihn suchen – ihn und diese Angelica? »Sagen Sie mal«, sagt Höffgen und siezt ihn wieder, »was glauben Sie eigentlich… warum sitzen wir hier und unterhalten uns?« Bahrein, äußerst wachsam, starrt ihn aus schwarzen Knopfaugen an, sagt aber nichts. »Glauben Sie vielleicht«, fährt Höffgen fort, »ich wär’ hinter dem Mädchen her, weil ich sie verhaften will… weil sie kokst?« »Glauben Sie, was Sie wollen!« sagt Bahrein. Aber Höffgen – das ist ihm jetzt völlig klar – hat ins Schwarze getroffen. So grotesk es ist: der Kerl hat offenbar durch die jüngsten knallharten Urteile gegen Hamburger Drogenhändler die Hosen gestrichen voll… er hat eine Heidenangst, daß man ihn und vor allem Angelica in Sachen Rauschgift hopsnehmen will! Die Bombe vom letzten Jahr ist dagegen in seinen Augen ein Klacks… Racadi hat das ja wohl wirklich im Alleingang gemacht, und Bahrein und Angelica waren allenfalls Mitwisser… »Also ehrlich!« sagt Höffgen. »Mein lieber Mann… das darf doch alles nicht wahr sein!« Er bietet Omar Bahrein eine Zigarette an, und der nimmt sie. Er gibt ihm Feuer… die Situation ist seltsamerweise viel entspannter, ausgerechnet durch das böse Geschrei. Lebenslänglich! denkt Höffgen. Natürlich gibt’s für Rauschgiftdelikte mittlerer Größenordnung in der Bundesrepublik nicht lebenslänglich, das wissen auch Araber!
»Ich geb’ Ihnen mein Ehrenwort, daß ich über Drogen kein Wort mehr verliere«, sagt Höffgen hinterhältig, »allerdings müssen Sie mir über diese Bombengeschichte endlich mal die Wahrheit sagen…« »Ist wirklich wahr?« fragt Bahrein – noch mißtrauisch, aber halb schon dort, wo Höffgen ihn haben will. »Ehrenwort, sag’ ich… wenn Sie mir in dem Punkt helfen, könnt ihr euch von mir aus totkoksen!« Omar Bahrein zieht nachdenklich an der Zigarette. Wie’s aussieht, kämpft er mit seinen letzten Skrupeln. Und Höffgen rutscht unruhig hin und her. Zeit ist das wenigste, was er hat, denkt er… aber er schafft’s sowieso nie mehr, das Mädchen aufzustöbern, bevor die entführte Maschine gelandet ist; so oder so, da kann Trimmel sich auf den Kopf stellen. Dafür hat er jetzt eine einmalige Chance, den Fall als solchen aufzuklären; er kennt schließlich die Akten: sicherlich gibt’s da zwar das dicke Indiz mit dem Transistor, und es gibt gegen Femal Racadi auch noch die Hörensagenaussage des Jugoslawen Popovic, die Bergusson damals angeschleppt hat. Aber wenn jetzt tatsächlich ein Prozeß gegen Racadi ins Haus steht, wenn er nun schon mal nach Hamburg befördert wird… ja, dann ist und bleibt es doch ein Glücksspiel, ob sich das Schwurgericht überzeugen läßt und Racadi verurteilt! Popovic ist spurlos verschwunden, und ein cleverer Verteidiger wird bis zuletzt darauf herumreiten, daß hinter dem Transistor-Indiz nur ein dummer Zufall steckt… »Geben schriftlich, was wir haben besprochen?« fragt Omar Bahrein, ein letztes Mal mißtrauisch. »Scheiße, nein!« sagt Höffgen, rüde, aber goldrichtig im Ton in diesem Moment. Klammheimlich, laut hustend, damit man das Knacken nicht hört, schaltet er den für Bahrein unsichtbaren Kassettenrecorder auf seiner Seite des
Schreibtischs an. Das ebenfalls unsichtbare Mikrofon, weiß er, ist das leistungsfähigste, das derzeit auf dem Markt ist – auch auf größere Distanz liefert es einwandfreie Aufnahmen, wie jüngste Erfahrungen gezeigt haben. »Dürfen nicht schriftlich geben?« fragt Bahrein. »Natürlich nicht!« sagt Höffgen, jetzt sanft. »Das müssen Sie doch einsehen…« Dann endlich kriegt er tatsächlich das, was er ursprünglich gar nicht haben wollte – Bahreins wahrheitsgetreue Aussage, mit der die Akten Racadi endgültig gekrönt werden. Die Aussage, daß Femal Racadi im Alleingang die Bombe gebaut und gegen den Willen seiner Kumpane das Israelian Council und Marion Bergusson in die Luft gesprengt hat… sicher nichts, was die Polizei nicht schon zu wissen glaubte, aber zugleich alles, um Racadi die letzte juristische Hintertür vor der Nase zuzuschlagen. Das Attentat und der Mord waren einzig und allein das Werk eines verrückten Fanatikers! Als Bahrein fertig ist, sagt Höffgen beiläufig: »Sind Sie damit einverstanden, daß das, was Sie uns erzählen, auf Tonträger aufgenommen wird?« Auch dieser Satz wird durch den Tonträger im Schreibtisch für die Nachwelt festgehalten. »Ja!« sagt Omar Bahrein deutlich. Auch die Antwort… damit ist der Form Genüge getan, die Gerechtigkeit wird siegen. »Kann ich gehen?« fragt Bahrein. »Nein!« sagt Höffgen. »Warum nicht?« Höffgen zögert. Was kann’s schaden? denkt er. Und dann erzählt er Bahrein die ganze Geschichte, soweit er selbst sie übersieht… daß Bergusson zu Lasten von Femal Racadi wahrscheinlich ein aberwitziges Hijacking gestartet hat, daß
Racadi unterwegs nach Hamburg ist, wenn Trimmel nicht völlig daneben liegt… »Racadi… Racadi landen in Hamburg?« fragt der Araber, plötzlich viel entsetzter als zuvor. »Ja!« sagt Höffgen zufrieden. »Deshalb brauchen wir Sie noch. Sie und Angelica… aber was ist denn? Racadi kann Ihnen doch gar nichts tun?« Bahrein zittert am ganzen Körper. »Angelica… Angelica lieben Racadi immer noch…« »Tatsächlich?« staunt Höffgen. »Ist nix zum Lachen… Racadi müssen… müssen eingesperrt werden, für immer… lebenslänglich!« »Ja, Moment mal…«, sagt Höffgen; er hat mit einem Male eine hervorragende Idee. »Weiß Angelica auch, daß Racadi die Bombe gelegt hat?« Bahrein nickt. »Ja, dann müssen wir ihr ja nicht sagen, daß Racadi nach Hamburg kommt… aber was wir ihr sagen können, ist doch das, daß wir sie mit ihrem Koks in Ruhe lassen, wenn sie dasselbe aussagt wie Sie? Und wenn sie’s tut – das ist doch ganz in Ihrem Sinn, oder?« Ein tückischer Vorschlag. Wenngleich es ja tatsächlich nichts schadet, Racadi im Prozeß mit zwei gleichlautenden Aussagen einzumauern… für immer – ganz, wie Bahrein es wünscht… »Haben noch Zigarette?« fragt Bahrein. Natürlich kriegt er sie. Höffgen drängt: »Sie wissen doch, wo sie ist?« Bahrein inhaliert tief. »Ja!« »Können Sie sie anrufen?« »Das ja…« »Ja, dann tun Sie’s doch endlich!« Da steht Bahrein mit schweren Beinen auf und ruft eine sechsstellige Nummer an – er besteht allerdings darauf, daß Höffgen sich abwendet. Angelica Wagner ist offenbar gleich
am Apparat – es hat fast den Anschein, als habe sie auf den Anruf gewartet. »Was machen?« fragt Bahrein ins Telefon. Sein Gesicht verfinstert sich, während er zuhört; irgendwie scheint es ihm überhaupt nicht zu passen, was Angelica macht. Aus dem Hintergrund dringt Musik durch den Hörer, aufpeitschende, grelle Musik, man hört’s bis hier… mir soll’s nur recht sein, sagt sich Höffgen, wenn Bahrein sauer ist! »Aber du… du nicht nackt?« fragt Bahrein. Wieso denn nackt? denkt Höffgen. Wieso kriegt der Typ plötzlich diesen mörderischen Blick in die Augen? »Ich dir gleich sagen«, zetert Bahrein, »du nicht wieder hingehen! Ich dich abholen, in zehn Minuten, hörst du? Geh sofort weg aus dem Haus!« Als er auflegt, fragt Höffgen kumpelhaft: »Ärger?« »Deutsche manchmal Schweine«, sagt Bahrein, »machen Schweinefest heute abend…« »Drogenparty?« Das überhört Bahrein. »Haben Angelica eingeladen, wollen bumsen… aber sie nicht wollen, sie sich wehren!« »Und warum geht sie dann erst hin?« fragt Höffgen. »Erst Angelica nicht wissen, daß Schweinefest… sie geht weg. Dann, als Polizei kommt in Blueboy, wir wissen nicht, was machen… Angelica wieder hin, damit verabreden können mit mir…« »Aha!« sagt Höffgen. Bahrein, sieht er, zittert jetzt vor Angst um sein Mädchen und vor Wut über ihre möglichen Schänder… das sind vielleicht Terroristen! denkt er. »Ich müssen jetzt gehen!« wiederholt der Araber. »Klar!« sagt Höffgen und steht wie selbstverständlich mit auf. An der Tür sagt er tröstend: »Wenn sie Ihnen erzählt, was los ist… das zeugt doch von Vertrauen!«
Im Fahrstuhl jedoch zittert Bahrein immer noch. Und es ist ihm wirklich definitiv egal, daß der Bulle mitkommt. Eifersucht macht blind sogar gegen die schlimmsten natürlichen Feinde… kann’s nicht sogar sein, daß er insgeheim dankbar ist. Inzwischen hat auch die heute-Sendung des ZDF die Nachricht von der Flugzeugentführung ausgestrahlt – eine ungewöhnliche Nachricht, vor allem deshalb, weil die Bundesrepublik bisher zwar nicht ganz ungeschoren, aber selbst auf dem Höhepunkt dieser Verbrechen im Gegensatz zu anderen Teilen der Welt weitgehend von so was verschont geblieben ist. »Zur Zeit soll sich die Maschine der Fluggesellschaft Air Europe im Luftraum nördlich von München befinden«, hat der Nachrichtensprecher mitgeteilt, »über den Ablauf und die Hintergründe des Zwischenfalls gibt es nach wie vor nur widersprechende Meldungen. Und nun zu den sportlichen Großereignissen des Tages…« Diesmal hat Trimmel den Ton abgeschaltet. Er ist froh, daß das Stichwort Hamburg nicht gefallen ist, weil sonst die wenigen Straßen nach Fuhlsbüttel sicher innerhalb von zehn Minuten heillos verstopft wären. Durch die zum Flur hin offene Tür hört man gedämpfte, aber erregte Stimmen. Lindemann ist vor ein paar Minuten mit einem ziemlich bedrückten jungen Mann, den er als Jürgens vorgestellt hatte, aus dem Zimmer gegangen; offenbar wollte er keine Ohrenzeugen. Jetzt hört Trimmel ein kurzes, lautes, höhnisches Lachen – und dann kommt Lindemann allein zurück, leicht enerviert. »Was ist denn los?« fragt Trimmel. »Was Privates!« sagt Lindemann kurz. »Jetzt?« fragt Trimmel verständnislos. Lindemann setzt sich und stützt den Kopf in die Hände; er massiert sich nervös die Stirn. »Behalten Sie es für sich«, sagt
er dann, »Jürgens ist Controller… er lebt zusammen mit einer Stewardeß an Bord dieser Air Europe, vielleicht sollten Sie’s deshalb wissen. Er wär’ an der Reihe gewesen, den Anflug der Boeing hier in Fuhlsbüttel zu führen und zu überwachen… er hat sich jetzt aufgeregt, weil ich ihm gesagt hab’, daß ich ihn am Radarschirm ablösen lasse… vergessen Sie es!« Trimmel nickt. »Sicher. Verstehen kann man’s ja…« »Irgendwie gibt es hier übrigens möglicherweise einen Anhaltspunkt über Bergusson«, sagt Lindemann dann vorsichtig, »normalerweise würde ich es gar nicht aussprechen. Aber nachdem ich Ihre Kombinationsgabe kenne…« Trimmel starrt auf das Papier, das Lindemann gelesen hatte, bevor Jürgens kam, und das er ihm jetzt hinhält. »Wahrscheinlich wird es Ihnen so nicht viel sagen«, erklärt Lindemann, »meist Computerdaten. Aber hier, dieser Martens… der einzige auf dieser verdammten Maschine, der nur einen Hinflug ohne Rückflug gebucht hat, ganz kurzfristig und auch nur bis Athen…« »Das können Sie da alles rauslesen?« fragt Trimmel ungläubig. »Ach was… ich hatte schon mit Air Europe in Mailand telefoniert! Leider war die Angestellte nicht mehr da, die das Ticket verkauft hat…« Der Gedanke, den Lindemann hatte, ist gar nicht so abwegig. »Bisher sind wir ja davon ausgegangen, daß Bergusson ursprünglich ein Ticket nach Hamburg in der Tasche hatte und sich dann eins nach Nizza kaufte«, überlegt Trimmel, »das sind schon mal zwei. Geld genug hat er ja… doch, doch, wenn er schon zwei kauft, kann er sich ja auch noch das dritte kaufen!« »Und warum?« »Nu ja… entweder war er sturzbesoffen; das war er im letzten Jahr öfter, hat er mir selbst gesagt. Oder er war
stocknüchtern, kauft sich erst diesen Martens-Flugschein für die Maschine nach Beirut und dann den nach Nizza, damit er besser durch die Personenkontrolle kommt… Handgepäck und Leibesvisitation und so…« »… besser als mit seinem Flugschein nach Hamburg?« sagt Lindemann skeptisch. Trimmel schüttelt den Kopf; ein merkwürdiger Eifer hat ihn gepackt. »Nizza oder Hamburg ist wahrscheinlich dasselbe, was die Kontrollen betrifft. Aber bei Nahostmaschinen muß er ja davon ausgehen, daß sie ihn bis aufs Hemd filzen, im Gegensatz zu innereuropäischen Flügen. Und wenn wir dann noch davon ausgehen, daß er ‘ne Pistole an Bord bringen will…« Lindemann glaubt’s immer noch nicht. »Okay… Personenkontrollen sind nicht immer das, was sie sein sollen. Kann ja sein, daß sie bei Beirut schärfer hinsehen als bei Nizza. Trotzdem, ich kann mir nicht vorstellen…« »Erstens«, sagt Trimmel hartnäckig, »bin ich neulich mal nach Nürnberg geflogen und hatte echt vergessen, daß ich meine Dienstwaffe in der Tasche hatte… hat keiner gemerkt von den Brüdern. Zweitens geben Sie mir mal Ihr schlaues dickes Buch…« Er weiß inzwischen, wie man Flugpläne liest; er begreift schnell, wenn’s drauf ankommt. Und aus Lindemanns dickem internationalen Flugplan schreibt er sich ein paar Daten heraus: Abflug Lufthansa 853, Mailand-Stuttgart-Hamburg, planmäßig ab Mailand um 13.40 Uhr. Abflug Alitalia 1447, Mailand… Das Telefon klingelt und stört ihn. Lindemann hebt den Hörer ab. »Ja?« Trimmel versucht, gar nicht hinzuhören. Abflug Alitalia 1447, Mailand-Nizza, nach Plan zwei Stunden später um… »Für Sie!« sagt Lindemann.
Höffgen steht in einer Telefonzelle an der Sierichstraße, hundert Meter von Olafs Wohnung entfernt. Neben ihm steht, verbiestert und verstockt, mit einer Feder im dunkelblonden Haar, Angelica Wagner. Sie fühlt sich verraten und verkauft, seit sie von der Party zum zweiten Mal weggerannt ist und plötzlich nicht nur Omar, sondern auch den Bullen traf, der vorher im Blueboy war… sie ist dann zwar mitgezogen, weil sie eher ein passiver Typ ist, aber Höffgen läßt sie vorsichtshalber nicht aus den Augen. Omar, dieser Jammerlappen, wartet im Auto; den Schlüssel hat Höffgen abgezogen. »Ich hab’ sie!« sagt Höffgen voller Stolz. Aber weil Angelica neben ihm ja mithört, ergänzt er: »Ich hab’ Fräulein Wagner getroffen!« »Und?« sagt Trimmels Stimme vom Flughafen her. »Ja… wieso und? Ich wollte Ihnen Bescheid sagen!« Und das tut Höffgen dann auch: ohne Rücksicht auf Trimmels spürbare Ungeduld erzählt er lang und breit, was und wie er’s geschafft hat. »Schön«, sagt Trimmel, »aber sag mal, wo ich dich gerade habe. Bei dem Anruf aus Mailand heute nachmittag… der hat doch mich oder meinen Vertreter direkt sprechen wollen? Ich mein’, wörtlich… oder?« »Trimmel oder Vertreter, richtig!« sagt Höffgen, jetzt doch zähneknirschend. »Aber ich steh’ hier mit Fräulein Wagner, verstehen Sie? Angelica Wagner!« »Komm, rausch her!« sagt Trimmel nervös. »Vielleicht haben wir dann mehr Zeit. Im Augenblick…« Höffgen knallt den Hörer auf die Gabel, daß die Telefonzelle ächzt. »Ich kann ja dann verduften…«, sagt Angelica Wagner, die mitgekriegt hat, woher der Wind weht.
»Nee, nee«, sagt Höffgen mit dem Rest seiner Konzilianz, »dazu war ich ja nun zu lange hinter Ihnen her!«
Also noch mal von vorn. Und diesmal wird Trimmel nicht mehr gestört – diesmal kommt er, mit drei Flugplan-Daten, Bergussons Machenschaften am Mailänder Flughafen Linate fast haargenau auf die Schliche. Effektiv bis auf ein paar winzige, nebensächliche Kleinigkeiten. Abflug Lufthansa 853, Mailand-Stuttgart-Hamburg, planmäßig ab Mailand um 13.40 Uhr. Abflug Alitalia 1447, Mailand-Nizza, nach Plan zwei Stunden später um 15.45 Uhr. Dazwischen, kurz vor der Nizza-Maschine, der Abflug Air Europe 612, Mailand-Athen-Beirut, nach Plan um 15.20 Uhr und real um 18.45 Uhr… »Verstehen Sie?« fragt Trimmel erregt. Lindemann zögert. »Nicht ganz…« »Aber das ist doch…« »… beispielsweise versteh’ ich nicht, warum sich Bergusson den Nizza-Flugschein auf seinen richtigen Namen und den nach Athen auf den Namen Martens gekauft haben soll. Warum er überhaupt einen Falschnamen benutzt…« »Also, das ist doch naheliegend!« sagt Trimmel irritiert. »Wenn im Computer zweimal fast gleichzeitig derselbe Name für verschiedene Flüge auftaucht, muß er doch davon ausgehen, daß es automatisch Komplikationen gibt! Da schreit der Computer doch sofort Feuer!« »Vermutlich schreit er gar nicht!« sagt Lindemann, der gelegentlich nicht allzuviel Vertrauen in die Datentechnik setzt. »Aber bitte, wollen’s unterstellen… aus seiner Sicht konnte Bergusson damit rechnen…«
»Eben!« sagt Trimmel mit rotem Kopf. »Eben sagt mir übrigens Höffgen, daß Bergusson offensichtlich vor seiner Aktion ausdrücklich mich oder meinen Vertreter sprechen wollte… das ist doch ein Hilfeschrei! Nicht irgendwen bei der Polizei wollte er sprechen, sondern mich! Stellen Sie sich vor, er hätt’ mich erreicht… ich bin fast sicher, ich hätt’ ihn ruhigstellen können!« »Ich nicht!« sagt Lindemann kurz angebunden. »Ich seh’ nur eins… daß da oben einer mit ner Knarre rumgurkt!« »Und ich seh’ das so, daß er da reingestolpert ist… geplant war das nie!« Trimmels Ton ist mit einem Mal so sanft, als müsse er ein Kind überzeugen. »Das war doch wohl so… Bergusson trifft Racadi, als er rechtzeitig für die Lufthansa zum Airport kommt, ganz zufällig, und er wird daraufhin erst aktiv! Zufällig, verstehen Sie? Dann erst läßt er die Lufthansa nach Hamburg sausen, kauft sich ein Ticket für Racadis Maschine, eben für die Air Europe nach Hamburg, und dreht das Ding mit dem Nizza-Ticket! Nur so ist es logisch… Bergusson sieht Racadi, überlegt sich jetzt erst, daß er ihn nach Hamburg bringen könnte, und schaltet schnell! Sehr schnell, zugegeben… aber absolut typisch für ne Affekthandlung! Eindeutig!« Lindemann sieht ihn nachdenklich an. Dann verzieht er das Gesicht. »Also, daher weht der Wind…« »Wieso Wind?« »Hübsche Verteidigungsrede für Herrn Bergusson…« »Ich?« sagt Trimmel, halb empört, halb mit schlechtem Gewissen. »Ich soll Bergusson verteidigen?« »Mein lieber Herr Trimmel«, sagt Lindemann sarkastisch, »ich bin im allgemeinen in der Lage, zwei und zwei zusammenzuzählen. Ich habe den Eindruck, daß es Ihnen sehr recht ist, wenn Bergusson hier einen Mörder anschleppt, der Ihnen bislang durch die Lappen gegangen ist! Aber lassen Sie
sich eines gesagt sein… meine Interessen liegen da anders! Es gibt nichts, was diese… diese Gefährdung des Luftverkehrs rechtfertigt! Und Ihr… Ihr Held ist mir scheißegal – ich will eine Katastrophe verhindern und sonst nichts!« »Sind Sie fertig?« fragt Trimmel, mehr erstaunt als betroffen. »Nicht ganz! Ich darf Sie unmißverständlich darauf hinweisen, daß ich Ihre Ansichten für absurd halte. Spontan ist da gar nichts passiert – das war alles von langer Hand vorbereitet. Herr Bergusson hat Ihnen selbst gesagt, daß er in bezug auf Racadi zur Selbstjustiz greifen wolle. Und die Tatsache, daß er eine Schußwaffe besaß, spricht wohl für sich… oder glauben Sie, daß er sich den Colt in Mailand am Zeitungsstand gekauft hat, als er ihn brauchte?« Da senkt Trimmel den Kopf. Er geht die drei Schritte zum Fenster und sieht hinaus auf das hellerleuchtete Hamburger Vorfeld… fünf oder sechs Maschinen stehen herum, drei von der Lufthansa, eine Finnair, eine Air France. Sämtliche Flüge haben inzwischen stundenlange Verspätungen; einen Grund hat man den Passagieren sicher noch nicht mitgeteilt. Und das alles hat Max Bergusson ja nun tatsächlich von langer Hand vorbereitet, sozusagen billigend in Kauf genommen… Lindemann hat ja recht, natürlich hat er recht! Bergusson hat sein Schießeisen ja weiß Gott nicht zufällig, sondern mit beachtlicher krimineller Energie ins Flugzeug geschmuggelt… »Trotzdem. Verstehen kann ich ihn trotzdem. Irgendwie tut er mir leid!« Er bekommt keine Antwort und dreht sich um: das Büro ist leer. Lindemann, vielleicht selbst überrascht durch seinen Ausbruch, ist zum Radarraum gegangen; da wird er jetzt bleiben. Und da gehört er jetzt hin – an den heißen Draht nach Frankfurt und Hannover und demnächst zum Himmel selbst. In der winzigen Zeitspanne, die noch bleibt, geht’s ausschließlich darum, den Emergency-Flug heil vom Himmel zu holen.
7
Einer da oben verliert die Nerven. Ausgerechnet derjenige, der bis dahin noch nie welche gehabt hatte. »Ihr habt doch wohl echt nicht mehr alle Tassen im Schrank!« brüllt Feininger ins Mikrofon. »Ich bin ja wohl der erste Captain in der Welt, der zwei von diesen Arschlöchern an Bord hat… könnt ihr mir mal erzählen, wie zwei Strolche mit zwei Knarren auf einmal durch die verdammten Kontrollen kommen können?« »Air Europe Six One Two, do you read me? Air Europa Six One Two, give me immediately full information about your Situation!« »Leck mich am Arsch!« brüllt der Captain auf deutsch weiter, gegen alle Regeln der Funkdisziplin; es hallt wie aus einem Megaphon durch die Frankfurter Kontrollzentrale. »My Situation, zu deiner full information, ist beschissen, kapiert? Erst kommt dieser Privatkrieger, dieser Ehrenmensch, dieser, dieser…« »Bergusson!« sagt Bergusson im Cockpit höflich im Hintergrund; man hört’s gerade noch in Frankfurt. »… kommt ins Cockpit gerast und will nach Hamburg, wo ich sowieso morgen hin will, und jetzt krallt sich dieser… dieser Kameltreiber meine beste Stewardeß und verlangt, ich soll nach Beirut, wo ich sowieso heute hin will… sag mal, könnt ihr euch nicht ausrechnen, daß ich mit meinem Sprit nicht mal mehr bis Rom kommen kann, wenn ich jetzt schon wieder die Kurve kratz’? Ich kann euch eins sagen, ich geh’ nie wieder ohne Fallschirm an Bord, ganz egal wo, und das
könnt ihr schriftlich haben, wenn ich jemals in der Lage bin…« »Feininger!« Da gibt es tatsächlich einen, der noch lauter brüllt als der außer sich geratene Captain von Air-Europe-Flug 612. »Ja, was ist?« »Captain Feininger«, sagt die laute Stimme, »hier ist Jochims von Frankfurt Control. Captain, ich weiß nicht, wer da alles oben bei Ihnen mithört, und ich kann Ihre Wut sehr gut verstehen. Aber bleiben Sie bitte auf Kurs… bitte, klären Sie die Lage…« Feininger kennt den Mann. Noch aus der Zeit, als die Fliegerei ein gemütlicher Familienbetrieb war, als jeder jeden kannte an deutschen Flughäfen, als Feininger noch bei der Hansa war und Jochims, heute stellvertretender Boß von Frankfurt Control, noch Wachleiter. Der Captain wird tatsächlich friedlicher. Man hört förmlich in Frankfurt, wie er Luft holt. »Okay, Jochims. Ich bin in drei Minuten wieder da!«
In den nächsten drei Minuten tut Feininger vernünftigerweise gar nichts. Er hat beide Hände am Steuer und starrt in das Stück Mondnacht vor dem Flugzeug. Söltner schaut ihn von rechts an, Bergusson von hinten. Bergussons Waffe zeigt nach unten. Und hinter Bergusson steht die Stewardeß Ully, die die Schreckensnachricht gebracht hat, zitternd und bebend wie Espenlaub. Feininger greift wieder zum Mikrofon. »Frankfurt Control, this is Air Europe Six One Two…« »Air Europe Six One Two, this is Frankfurt Control…« »Sie haben ja recht, Jochims«, sagt Feininger, »alles der Reihe nach. Ich flieg’ erst mal weiter auf Upper Blue One in
Ihrer Richtung und werde versuchen, mit dem Burschen hinten zu reden…« »Ja, tun Sie das!« sagt die Frankfurter Stimme. »Und halten Sie uns auf dem laufenden!« Erst mal redet Feininger mit dem Burschen vorn: er dreht sich voll zu Bergusson um. »Vielleicht hab’ ich ja ein Vorurteil bei Ihnen. Immerhin haben Sie den Anfang gemacht. Trotzdem… irgendwie trau’ ich Ihnen mehr Verstand zu als dem da hinten…« Bergusson hat überrascht die Waffe gehoben, läßt sie jedoch wieder sinken und sagt nichts. »Die Lage hat sich verändert!« fährt Feininger fort, einen Tick zu feierlich. »Geben Sie auf… Denken Sie daran, daß es eine höhere Gerechtigkeit gibt! Unser aller Leben kann jetzt nur von Ihnen abhängen… außerdem kann man Mord nicht mit Mord vergelten!« Bergusson explodiert. »Mord?« schreit er. »Sie… Sie wollen mir unterstellen, daß ich jemand ermorden will?« »Ich hab’ nur an Ihre Vernunft appelliert!« sagt der Captain. »Wenn Sie das…« »Sparen Sie sich Ihre Scheißsprüche! Mich kriegen Sie nicht rum! Sie wollten ja sowieso mit Racadi reden… fragen Sie den doch, ob er seinen zweiten Mord auch noch riskiert! Warum holt der wohl ‘ne Pistole raus?« Da beginnt Ully zu heulen. Söltner hebt sich im Sitz, als wolle er Bergusson trotz der Pistole an den Hals. Aber er läßt sich schlaff wieder zurücksinken. »Haben Sie nicht doch einen besseren Tip, wie wir hier rauskommen?« sagt der Copilot wütend. »Oder sind Sie müde vom langen Stehen?«
Das ist, wie gesagt, immer noch der Airway UB 1, Upper Blue One, eine der breitesten, auf den Flugkarten mit einem Punktraster markierten Luftstraßen im oberen Luftraum. Von München nach Frankfurt. Normalerweise ein Betrieb wie auf der Autobahn. Hier darf’s keine Lücken mehr in der Radarüberwachung geben – die Bereiche der Rundsicht-Radaranlagen überschneiden sich: München, die Neunkircher Höhe südlich von Darmstadt, später, auf dem nächsten Airway, die DeisterStation, sind jeweils mit einem Radius von 120 nautischen Meilen ausgestattet, von 222 Kilometern. Und überall hängen die Fluglotsen, wenn sie nur eine halbe Minute Zeit haben, in Trauben vor den Schirmen. Jedes Wort der Gespräche zwischen den Kontrollzentralen und Air Europe 612 geht automatisch auf Band, wie alle Gespräche zwischen Himmel und Erde. »Frankfurt Control, this ist Air Europe Six One Two, calling again…« Es herrscht wieder Funkdisziplin. Wieder simples, technisches Englisch. »Air Europe Six One Two, this is Frankfurt Control… new frequency one one three decimal two – and good luck to you all!« Viel Glück auf der neuen Frequenz. »Und paß gut auf dich auf, Feininger… altes Rübenschwein!« »Thank you, thank you!« – ein kurzes Auflachen auf Frequenz 113,2. Das letzte für längere Zeit. Gelegentlich haben die Fluglotsen auch in Deutschland ja schon mal Bummelstreik gemacht. Aber heute abend würden sie Überstunden machen noch und noch und schneller arbeiten als je zuvor, freiwillig und sicher sogar unbezahlt, wenn sie Air Europe 612 damit helfen könnten. Und Kapitäne, Navigatoren, Stewardessen, Gepäckarbeiter und Taxifahrer drücken den Menschen in der entführten Maschine die Daumen, seit sich
das Ereignis, zunächst hinter der hohlen Hand, an den Flughäfen herumgesprochen hat, sind Millionen aufgeschreckt. Millionen Deutsche, die heute später als sonst ins Bett gehen werden. In einer späten Messe im Odenwald erfleht ein Pfarrer den Schutz des Herrn ›für den Flugpiloten und all unsere Schwestern und Brüder zwischen Himmel und Erde‹ – sicherlich im Namen aller.
Flugpilot Feininger hat sich zu einer der längsten Reden in seiner Karriere entschlossen. Es knackt im Lautsprecher, gerade als Femal Racadi hinten in der letzten Reihe eine erste menschliche Regung zeigt. »Meine Damen und Herren«, sagt Feininger, »hier spricht Ihr Kapitän. Ich muß Ihnen etwas mitteilen, was Sie zunächst vielleicht erschrecken wird, aber ich versichere Ihnen, es gibt keinerlei Grund zur Panik…« Racadi bietet Gaby, seiner Geisel, eine seiner schwarzen, gertenschlanken, giftigen Zigarren an, und sie schüttelt erst stumm den Kopf und nimmt sie dann doch, um ihn nicht zu vergrätzen. »… keinerlei Grund zur Panik!« wiederholt die Stimme des Captains. »Und nun wende ich mich zunächst an einen einzelnen Herrn unter Ihnen, der weiß, daß er gemeint ist… er soll mir auf jeden Fall zunächst zuhören und nichts unternehmen. Wir versprechen ihm, daß wir seinen Wünschen soweit wie möglich entgegenkommen…« Die meisten Fluggäste schielen verstört und verstohlen hin zu ihren Nachbarn und Vorderleuten – wer ist gemeint? Auf Racadi kommt im Moment niemand, weil er weder Vorderleute noch Nachbarn auf der anderen Seite der letzten Sitzreihe hat.
»Ich warte jetzt eine Minute«, fährt der Captain ruhig fort, »wenn sich der betreffende Herr bis dahin nicht meldet, werde ich weitersprechen!« Racadi denkt nicht daran, sich zu melden. Er gibt Gaby seelenruhig Feuer, und sie beginnt fürchterlich zu husten. Racadi, der sofort wieder nach vorn geschaut hat, kriegt einen Schreck, greift automatisch zur Pistole, erwischt sie nicht, stößt sie vom Nebensitz, auf dem sie gelegen hat… sie fällt entsichert zu Boden. Gott sei Dank geht sie nicht los… Racadi taucht hinterher und bekommt die Waffe just in dem Augenblick zu fassen, in dem sich Dr. Emil Holtzmann umdreht… Der dicke Rechtsanwalt sitzt am zweitweitesten hinten, Racadi am nächsten, und wollte wissen, wer da ausgerechnet jetzt so laut hustet – gerade jetzt, wo sich nach der Rede des Captains natürlich doch das Entsetzen breit macht, wo es auf jedes Wort ankommt. Die Pistole, die Racadi schnell wieder auf den Sitz legt, sieht Holtzmann nicht; er sieht zunächst nur, daß der Araber dahinten einer neben ihm sitzenden, hustenden Stewardeß heftig auf den Rücken klopft. Aber dann sieht er auch, daß das Mädchen offenbar überhaupt nicht freiwillig neben dem Mann sitzt – und daß es Blut im Gesicht hat!
Die Minute ist um. »Danke, mein Herr!« sagt Feininger vorn im Cockpit. »Also, meine Damen und Herren, die Sache ist die. Zunächst hat uns ein… ein Herr, der seine Gründe dafür hat und außerdem eine Schußwaffe, gezwungen, statt nach Athen und Beirut nach Hamburg zu fliegen; deshalb natürlich, wie Sie sich denken können, sind wir noch nicht in Athen gelandet. Das ist nun sicher sehr ärgerlich, aber nicht schlimm. Denn unsere
Maschine ist nach wie vor völlig intakt, da gebe ich Ihnen mein Ehrenwort, und wir haben auch mehr als genügend Treibstoff…« Er räuspert sich. »… aber nun kommt bedauerlicherweise ein zweiter Herr und läßt mir durch meine Stewardeß etwas ausrichten: Er verlangt, daß wir nicht nach Hamburg, sondern eben doch nach Beirut fliegen. Ja, und dazu ist dann in der Tat einiges zu sagen…« Gaby, die gedankenlos ein zweites Mal an dem schwarzen Glimmstengel gezogen hat, muß wieder husten. Jemand im hinteren Flugzeug schreit: »Ruhe!« Aber Feininger hat gerade jetzt eine Kunstpause gemacht: seine Zuhörer verpassen nichts. »Da ist zweierlei zu bedenken«, sagt der Captain, »zum einen sind wir inzwischen schon über Frankfurt und wären in Kürze in Hamburg, und mit einer Landung in Hamburg könnten wir wenigstens einem unserer beiden aufgeregten Gäste seinen Wunsch erfüllen…« Er macht’s hervorragend, denkt Söltner, als er Feininger eine angezündete Zigarette reicht; der Captain, der sonst kaum raucht, nimmt sie dankbar an und macht einen tiefen Zug und gleich auch den zweiten. »…zweitens aber«, sagt er dann, »muß ich dem anderen Herrn, der mit Gewalt nach Beirut will, in aller Deutlichkeit sagen, daß wir ihm seinen Wunsch leider nicht so direkt erfüllen können. Nach Beirut kämen wir auf gar keinen Fall ohne Zwischenlandung, die der betreffende Herr offenbar vermeiden möchte; dazu reichen unsere Spritvorräte bei weitem nicht aus…« Noch ein gieriger Zug an der Zigarette. »… es wäre also für uns alle, gerade auch für den Herrn selbst, das einzig Wahre, wenn er einem Kompromißvorschlag zustimmen würde, den ich ihm hiermit mache. Ich schlage vor,
daß wir zunächst in Hamburg landen, alle Passagiere, die es möchten, aussteigen lassen und gleich nach dem Auftanken, in der Nacht oder am frühen Morgen wieder starten und nach Beirut fliegen…« Er sieht sich um und überzeugt sich davon, daß Ully noch im Cockpit steht. »Ich gebe also dem Herrn, der nach Beirut will, jetzt eine Bedenkzeit und werde ihm eine Stewardeß schicken… eine direkte Verbindung gibt es nicht, wir müssen eine Art Botendienst organisieren. Jedenfalls soll der Herr mir nach Ablauf dieser zehn Minuten verbindlich erklären, ob er im Interesse der übrigen Passagiere mit meinem Vorschlag einverstanden ist. Das ist momentan alles… ich danke Ihnen!« Ende der Durchsage. Zehn Minuten Bedenkzeit sind zehn Minuten näher an Hamburg. Copilot Söltner hat schon die Frequenz der Funkfeuer Nauheim (NAH), Warburg (WAB), Rodenberg (ROD) und Bartelsdorf (BDZ), alle auf dem Wege nach Hamburg, aufgeschlagen auf seinem Schoß liegen.
Gaby drückt das widerliche schwarze Ding entschlossen aus; Racadi scheint nichts dagegen zu haben. Gabys Gesicht ist völlig ausdruckslos; sie beobachtet den Araber aus den Augenwinkeln, lauert auf eine Reaktion auf das, was Feininger gesagt hat… sie kann nicht mal erkennen, ob er überhaupt alles verstanden hat. Ihr Kopf tut irrsinnig weh. Die Strafe, denkt sie. Der Streit mit Elmar… Elmar Jürgens. Sie liebt ihn doch, sie wollte doch nicht ernsthaft… warum ist Elmar so entsetzlich weit weg? Aber der Captain. Richard… Richard Feininger. Er ist nicht weit weg, er muß mich retten, er darf mich nicht im Stich lassen…
Die Strafe! denkt sie. Das Mühlrad im Kopf. Und der Kopf tut so weh… »Der Feininger will dich doch nur umlegen«, hat Elmar gesagt, »der legt doch jede um!« »Du spinnst doch!« »Ich spinn’ nicht…« »Na und? Seit wann hat du was gegen Umlegen?« Böse Worte. Jetzt die Todesangst. Der Mann neben ihr… dieser grauenhafte Mensch mit der Pistole… Die Strafe, denkt Gaby.
Die Bullen, denkt Racadi. Das Wort, das er zuerst gelernt hat, als er in die Bundesrepublik kam. Die Bullen haben ihn in diese Falle gelockt… doch nicht Bergusson allein! Bergusson handelt doch nur in ihrem Auftrag! Erinnerungsfetzen in seinem Gehirn: Die Bombe. Auch der Schreck, als er’s erfuhr… NAHOST-KRIEG IN HAMBURG FORDERT TODESOPFER. Die Flucht. Verhöre. Wieder die Flucht… die eigenen Brüder jagen ihn. Österreich. Dann die Schweiz, dann Italien… das Geld ist fast alle, die Familie läßt ihn im Stich, die Geldsäcke schreiben ihn ab. Endlich doch das Angebot, angeblich von der PLO… jeder Mann wird gebraucht, und Fear for Freedom ist mit einem Mal kein Hirngespinst mehr… Und jetzt dies… ausgerechnet jetzt! Femal Racadi kennt das Gefühl, wenn einem der Boden zu heiß wird. Aber der Boden in diesem Flugzeug ist der heißeste, auf dem er jemals gestanden hat.
»Bartelsdorf«, sagt Copilot Söltner, der das Steuer zwischen Warburg und Rodenberg wieder an Feininger abgegeben hat, »wenn wir bloß schon Bartelsdorf drauf hätten!« Es klingt fast sehnsüchtig: dann läge Hamburg direkt vor der Cockpit-Tür. Wenn sie auch sicher nicht sofort landen können… immer dasselbe, bis die da unten ihr Empfangskomitee zusammen haben… »Bartelsdorf kenn’ ich«, sagt Bergusson plötzlich, »liegt bei Rotenburg… da war ich mal mit meiner Frau!« Ach ja – den gibt’s ja auch noch. Den Pistolenhelden hier vorn. »Werden Sie eigentlich in Hamburg abgeholt?« fragt Feininger, fast schon mit Galgenhumor. »Natürlich!« sagt Bergusson. »Ich hab’ die Polizei ja selbst benachrichtigt, die kommt hundertprozentig! Hab’ ich Ihnen doch gesagt…« »So, so!« sagt Feininger. Wird wohl stimmen. Vielleicht ist das ja sogar der Grund, wenn sie tatsächlich in den Warteraum müssen. Bergusson sieht die Gesichter der Piloten im Halbprofil, kalkweiß, mit grünlichen Streifen von der Armaturenbeleuchtung. »Oder glauben Sie etwa im Ernst, ich lass’ Sie mit Racadi wieder nach Beirut starten?« fragt er. »Bloß weil ich Sie vorhin nicht unterbrochen habe?« »Ich hatte es tatsächlich gehofft!« sagt Feininger. »Und ich frag’ noch mal…« »Schluß jetzt!« sagt Bergusson hart. »Ich will’s nicht mehr hören!«
Dr. Emil Holtzmann zittert vor Aufregung. Wenn niemand den Mut hat, muß er es tun… außerdem, sagt er sich mit
Herzklopfen, ist er der einzige, der weiß, wo der Feind sitzt. Nämlich hinten. Die anderen Passagiere, vorn im Flugzeug, hängen apathisch in ihren Sitzen. Ihre Angst kann jeden Moment in Panik umschlagen… Holtzmann sieht im Geist schon sein Bild in der Zeitung, die Balkenüberschriften: ANWALT ÜBERWÄLTIGT ENTFÜHRER… MASSEN-HYSTERIE IN 10000 METER HÖHE TODESMUTIG VERHINDERT… Dr. Holtzmann steht auf, absichtlich schwerfällig. Er geht an Racadi vorbei auf die von vorn gesehen linke hintere Toilette. Macht die Tür geräuschvoll zu und nach einer Weile so leise wie möglich wieder auf… Racadi sitzt gut einen Meter vor ihm. Holtzmann nähert sich auf Zehenspitzen. Er wird ihn mit einem Schlüsselbund von hinten auf den Schädel hauen… der Bursche merkt noch gar nichts; er schaut zum Fenster hinaus – so was Idiotisches! denkt Holtzmann. Bei Nacht kann er doch überhaupt nichts… Der Schlag trifft Holtzmann in die Magengrube, ehe ihm klar wird, daß Fenster nachts auch in matt erleuchteten Räumen wie Spiegel wirken – gerade auch Flugzeugfenster. Der Schlag nimmt ihm die Luft und zieht ihm die Füße weg… Racadi haut ihm, als er zu Boden kracht, überflüssigerweise noch die Pistole über den Kopf und reißt ihm mit einem weiteren Hieb das ganze Gesicht auf. Holtzmann sieht nur noch einen roten Schleier und durch den Schleier eine schreiende, wildfremde Frau, die ihm Unmengen Kleenex ins Gesicht drückt… dann verliert er das Bewußtsein… Die meisten Passagiere sind wie gelähmt. Die Frau mit dem Kleenex schreit nicht mehr, und in die Stille hinein sagt Henri Lempp vernehmlich: »Guck ma – Opa schlafn gegangen?« Dann rülpst er herzhaft.
Langsam steht ein Mann auf und geht, Schritt für Schritt ebenfalls zu dem Verletzten. Er hält die Hände gut sichtbar halb hoch und sagt zu Racadi, ohne ihn aus den Augen zu lassen: »Ich bin Arzt…« Racadi brüllt: »Schaff ihn weg – Weg freimachen!«
»This is Air Europe Six One Two. Frankfurt Control, how do you read…?« »Five by five«, sagt Jochims hastig, »was Neues?« »Da gibt’s…«, sagt Feiningers Stimme… sie bricht ab, und in Frankfurt hört man aus dem Flugzeug oben einen Mann schreien, offenbar vom anderen Ende der Maschine durch die offene Cockpit-Tür; verstehen kann man nichts. »Feininger, was ist passiert?« sagt Jochims laut. Das Gebrüll von oben hört auf. »Da gibt’s einen Helden an Bord«, sagt Feiningers Stimme, »genau das, was wir brauchen können…« »Sind Sie… ist jemand verletzt?« »Mir scheißegal. Ja – ein Passagier… der Held. Ich geh’ jetzt von Upper Blue One runter auf die Upper Amber Nine… nach Hamburg!« »Aber kann ich…« »Nichts! Was wollen Sie denn machen?« »Sie müssen…« »… nichts muß ich. Ich muß selber erst mal sehen, was los ist!« »Dann viel Glück auf Upper Amber Nine!« sagt Jochims hilflos.
Lempp ist unterdessen – im Rahmen des Möglichen – klargeworden, warum Opa schlafen gegangen ist. Er sieht
entsetzt, wie der Dicke immer noch blutet; er sieht’s mit erheblicher Verzögerung. Er setzt die Flasche noch länger als vorher an den Hals… »Laß das Saufen!« zischt Lange. »Wenn ich schon runterfall, dann wenigstens besoffen…« Aber dann kommt Lempp ein Einfall. »Ich hab’ ja noch ‘ne Flasche…« Er steht taumelnd auf. Sein Kumpel Lange kann ihm die zweite Flasche gerade noch aus der Hand reißen, bevor er sie nach Racadi wirft. »Sauf sie doch auch noch aus!« flüstert er wütend. Nie wieder wird er mit Henri Lempp auf Tournee gehen… Racadi steht breitbeinig einen Meter hinter der letzten Sitzreihe und hält mit der Pistole die Passagiere in Schach. Wenn die Rasche geflogen wäre – er hätte zurückgeschossen. »Hinsetzen!« schreit er. »Alles hinsetzen! Niemand mehr aufstehen, oder ich schieße!« Die Bedenkzeit ist abgelaufen. Sowieso. Vielleicht wäre er sogar auf den Vorschlag des Captains eingegangen… in Hamburg hätte man immer noch sehen können, wie’s tatsächlich weitergeht. Es gibt meistens immer noch eine letzte, eine allerletzte Chance, und Glück gibt’s auch, hat’s für Racadi immer gegeben… immer ist er gerade noch davongekommen, immer, wenn sie wieder mal hinter ihm her waren, um eine Nasenlänge von drei Sekunden, bevor die Grenzen dicht waren… aber jetzt… Jetzt kann doch niemand mehr klar denken! Das ist die Gefahr! Jetzt spielen alle verrückt, nicht nur Bergusson! Warum hat der Captain in diesem verdammten Flugzeug nicht mal seine Passagiere im Griff? Racadi macht einen hastigen Schritt nach vorn und drückt den Rufknopf über dem Kopf der in sich zusammengesunkenen Geisel Gaby. Die letzte Chance… dreimal drückt er, fünfmal, achtmal, immer wieder… dabei
steht die Stewardeß Ully Mesterling, die der Captain nach hinten gejagt hat, schon die ganze Zeit in Hörweite! »Sofort nach Osten!« brüllt Racadi. »Landen in Berlin, in DDR… Airport Schönefeld. Sofort Ostkurs… sonst erschieße ich Kollegin in fünf Minuten!« Ully rennt nach vorn und wartet dabei auf die Kugel ins Kreuz. Aber die Kugel kommt nicht – zu ihrem Erstaunen.
»Sag das noch mal!« sagt Feininger, unnatürlich ruhig. Ully tut’s. »Noch mal!« verlangt er. »Wir sollen sofort den DDR-Zentralflughafen Schönefeld anfliegen…« »… sonst knallt er uns Gaby ab!« vollendet der Captain. Außerdem werden wir sowieso noch ein Fall für die NATO! denkt er. Sobald wir abdrehen… wenn wir abdrehen. Amen. Zum Scheißeschreien fehlt ihm einfach die Kraft. »Gibst du mir noch ‘ne Zigarette?« fragt Feininger seinen Copiloten, ohne den Nordkurs zunächst auch nur einen Strich zu ändern. Söltner reicht sie ihm rüber. »Vielleicht kann Herr Bergusson mal was dazu sagen…« »Ich kann warten!« sagt Bergusson, weil ihm auch nichts Besseres einfällt.
8
Trimmel raucht Kette mit Zigarren. Er kommt sich überflüssig vor… und schlimmer noch: er ist es momentan tatsächlich. Er steht im toten Winkel, im Windschatten der Ereignisse, ahnt, daß sie sich überschlagen, weiß aber nicht, wie… und um ihn herum ist mittlerweile totale Funkstille. In der Anflug- und Landephase einer entführten Verkehrsmaschine hat die Kriminalpolizei überhaupt kein Recht auf Information; wenn man sich dann noch mit dem Flugsicherungschef anlegt, ist der Ofen ganz aus. Als Höffgen mit Bahrein und Angelica in Lindemanns Büro erscheint, starrt Trimmel die drei verständnislos an. »Da sind wir!« sagt Höffgen, wieder munter. Er stellt feierlich seinen Kassettenrecorder auf den Tisch. »Herrn Bahreins Aussage habe ich gleich mitgebracht!« »Ach so, ja…« Lindemann ist nach wie vor im Radarraum. »Geht mal irgendwo nach nebenan!« sagt Trimmel. »Sie« – zu Angelica – »nehmen mal Platz…« Sie sitzt schon. Sie ist ziemlich verbiestert und außerdem seltsam zappelig. »Sie kennen mich noch?« fragt Trimmel. »Sicher«, sagt sie aggressiv. »Sie haben mir ja damals die Bude auf den Kopf gestellt. Spezialist für Nacht und Nebel, oder?« Trimmel schüttelt den Kopf. »Meine Güte, wir können uns Tageszeit und Wetter meistens nicht aussuchen. Ich hab’ Ihnen das damals ziemlich genau erklärt, glaub’ ich…«
»Ja, ja«, sagt sie höhnisch, »Gefahr im Verzug. Was ist denn jetzt wieder gefährlich?« »Na, was schon… Racadi, was sonst?« »Also, darauf wär’ ich nie gekommen!« sagt sie noch höhnischer. »Deshalb holen Sie… deshalb stören Sie mein Privatleben ausgerechnet heute?« Sie ist auf ihre freche Tour eigentlich ein ziemlich gescheites Mädchen, denkt Trimmel. Schlagfertig ist sie auch, langweilig ist es nicht, mit ihr zu reden, zu tun ist sonst sowieso nichts; aber muß sie eigentlich so pampig sein, nach Lage der Dinge? »Also«, fragt sie kategorisch, »was liegt an?« »Ich fang’ mal vorn an…«, sagt Trimmel; das Tempo, immerhin, bestimmt immer noch er. »Sie haben mir an dem Morgen damals gesagt, Sie wüßten überhaupt nichts über diese Bombe, die Racadi konstruiert hat. Ich hab’ Ihnen damals nicht geglaubt, und ich hab’ ja nun« – er deutet auf den Recorder – »wieder mal recht gehabt…« . »Sie haben nicht recht gehabt!« sagt sie erregt. »Was interessiert mich der Scheiß von diesem Omar?« »Mein liebes Kind«, sagt Trimmel nachdrücklich, »wenn ich mir das so…« »Ich bin nicht Ihr Kind!« »…wenn ich mir das so überlege, sitzen Sie mit und ohne diesen Scheiß ziemlich in der Tinte. Wenn Racadi vor Gericht kommt… also, spätestens dann sind Sie auch dran, mindestens wegen Nichtanzeige eines Verbrechens oder wegen Strafvereitelung. Da können Sie im Extremfall leicht fünf Jahre einfangen…« »Und wenn er nicht vor Gericht kommt?« »Dann kann’s Ihnen genauso passieren. Im Grunde können Sie sogar froh und dankbar sein, daß wir und die Staatsanwaltschaft gepennt haben, nachdem wir Racadi am Ende doch auf die Schliche gekommen waren!«
»Kapier’ ich nicht…«, sagt sie kopfschüttelnd. »Das kapieren Sie nicht? Also… da bleibt mir doch die Spucke weg!« Wenn sie unsicher geworden ist, läßt sie es sich nicht anmerken. »Sie waren doch damals bei der Kripo«, sagt sie wie im Plauderton, »sind Sie jetzt zur Flughafenpolizei versetzt worden?« »Ja, zwangsläufig!« sagt Trimmel. »Aber tun Sie mir einen Gefallen. Tun Sie endlich nicht mehr so, als wüßten Sie nicht, daß Racadi hier gleich in Hamburg landet!« Sie schnappt nach Luft. »Racadi in… Femal Racadi in… landet in Hamburg?« »Ja, und?« sagt er erstaunt. »Sie lügen!« schreit sie. Trimmel steht auf. »Das wollen wir doch mal wissen!« Er geht nach draußen und nach nebenan, findet Höffgen mit Bahrein zwei Zimmer weiter, ruft Höffgen auf den Flur und fragt ungläubig: »Sag mal, weiß die wirklich nicht, was Sache ist?« »Ach wo!« sagt Höffgen fast heiser. »Ja, aber dieser Bahrein…« »Bahrein… der hat ne Heidenangst, daß sie ihm durch die Lappen geht, sobald sie Racadi nur von weitem sieht! Der muß unheimlich an ihr hängen. Bahrein, mein’ ich… ja, und sie an Racadi, der muß mindestens Weltmeister sein!« »Trotzdem…« »… nee, nee… Bahrein wär’ doch bescheuert, wenn er ihr sagen würde, daß ihr Hauptmacker im Anflug ist!« »Ist doch nicht zu fassen!« sagt Trimmel, als er zu Angelica Wagner zurückkehrt. Sie springt ihn fast an. »Sagen Sie mir sofort, was los ist! Ist Racadi verhaftet worden? Wird er ausgeliefert?«
»So ähnlich!« sagt Trimmel. »Einer, der ihn schon lange sucht, hat ihn gefunden. Und nun sitzen wir hier und warten, daß er ihn abliefert. Die Sache ist nämlich die…« Die Sache ist die, daß bei der Flugsicherung auch nur Menschen sind. Der Mensch Jochims von Frankfurt Control hat den Menschen Lindemann von Hamburg Control angerufen und ihn vorab verständigt: »Halten Sie sich fest… da oben fuchteln jetzt zwei Entführer rum! Einer will nach Hamburg, der andere zurück nach Beirut… der arme Captain!« »Das gibt’s doch nicht…« »… doch, doch. Der zweite hat die Stewardeß Schlitter als Geisel… es gibt schon Schlägereien…« »Gaby Schlitter?« »Ja… deshalb ruf ich Sie ja direkt an. Angeblich hat die Dame ja was mit einem von Ihren Leuten… Ist das nur Gequatsche, oder ist da was dran?« »Ja, leider… okay, ich seh’ mal zu!« Lindemann übergibt die Aufsicht sofort an Stallberg, sagt ihm hastig, daß der Captain von AE 612 sich als erster in der ganzen Luftfahrtgeschichte mit zwei Strolchen rumschlagen muß, und schlägt vor, den Anflug unauffällig erst mal zu verzögern. Dann greift er sich den nervös in der Gegend herumlungernden Controller Jürgens. »Kommen Sie mal mit nach draußen!« »Warum?« fragt Elmar Jürgens störrisch. »Bitte…« Jürgens kommt zwar mit, sagt aber gleich: »Was wollen Sie denn noch? Ist doch alles klar… Sie haben mich abgelöst, obgleich’s meine Schicht ist, basta! Vielleicht haben Sie ja sogar recht…« »Natürlich hab’ ich recht«, sagt Lindemann, »inzwischen dreifach. Ehe Sie’s von anderen erfahren… in der Maschine
oben ist irgendwie der Teufel los. Sie wissen ja, was bisher los war… aber jetzt…« »Jetzt was?« fragt Elmar Jürgens erstickt. »Jetzt gibt’s zwei Entführer… der zweite hat sich Ihre Freundin als Geisel genommen…« »Gaby?« flüstert er. »Ja…« »Ist sie… ist sie tot?« »Ach wo! Der Kerl will sie in Hamburg sofort wieder laufenlassen, vorausgesetzt, daß er zurück nach Beirut fliegen kann, gleich nach dem Auftanken. Air Europe ist einverstanden, müssen sie ja, ich hab’ mich gleich mit denen in Verbindung gesetzt… jedenfalls, ich versprech’ Ihnen hundertprozentig, Jürgens: die Polizei redet uns da nicht drein! Wenn die die Maschine stürmen wollen – nur über meine Leiche!« Jürgens starrt ihn an. »Ich halte Sie über jede neue Entwicklung auf dem laufenden. Sie können auch gleich mit rausfahren, wenn der Vogel gelandet ist…« Da nickt der Junge wie ein Automat. Und denkt ebenso automatisch, daß seine Zigaretten alle sind und daß er noch ein Päckchen in seiner Jacke hat.
Die Jacke hängt – ausgerechnet – in dem Zimmer, in dem sich Höffgen und Omar Bahrein inzwischen anöden. Höffgen hat was Nützliches zu tun versucht und kriegt nach einigem Hin und Her gerade einen leitenden Mann von AO an die Strippe, von American Oil Germany; der Mann heißt Russmeyer, und Höffgen fragt ihn, was Bergusson in Mailand eigentlich zu tun hatte.
»Er mußte geschäftlich was erledigen!« sagt Russmeyer – keine sehr erschöpfende Auskunft. »Wann erwarten Sie ihn zurück?« »Morgen. Das heißt… doch ja – morgen. Ist ja noch vor Mitternacht…« »Danke!« sagt Höffgen und will auflegen. Da fragt Russmeyer, Direktor und direkter Nachfolger Bergussons im Management: »Warum wollen Sie das eigentlich so genau wissen?« »Oooch… nur eine Überprüfung…« »Von Bergusson?« »Gott, ja«, sagt Höffgen zögernd, »er hat ein Flugzeug entführt…« Klick! sagt’s. Offenbar hat Russmeyer den Hörer auf die Gabel geknallt, weil er sich veräppelt fühlte; Höffgen muß unwillkürlich grinsen. Und dann erscheint, seltsam geistesabwesend, der Controller Jürgens. Er greift sich seine Zigaretten, will schon wieder raus, dreht sich aber plötzlich um und sagt: »Was machen Sie hier eigentlich?« »Kripo!« sagt Höffgen wichtig. »Empfangskomitee für den Herrn Hijacker!« Jürgens erstarrt sekundenlang zur Salzsäule. »Hauen… hauen Sie sofort ab!« Er geht drohend auf Höffgen zu. »Ich dreh’ Ihnen den Hals um, wenn Sie nicht sofort…« »Sagen Sie mal, spinnen Sie?« fragt Höffgen fassungslos; vorsichtshalber weicht er zurück hinter den Schreibtisch. Bahrein zieht sich in eine Ecke zurück. Jürgens bleibt stehen. »Der Mann fliegt nach Beirut zurück! Sie halten sich da raus! Kapiert?« Höffgen begreift überhaupt nichts mehr. »Sie sind doch wohl besoffen! Der Kerl ahnt doch gar nicht, daß er gleich eingesperrt wird! Außerdem…«
»Der ahnt nichts?« schreit Jürgens. »Der hat meine Freundin als Geisel! Der legt sie um, wenn Sie Zicken machen!« »Ogottogott!« sagt Höffgen. »Seit wann das denn?«
Er platzt bei Trimmel rein, der immer noch auf Angelica Wagner einredet, legt ihm einen Zettel hin – und Trimmel liest ihn und ist genauso erschrocken. »Ist das amtlich?« Höffgen nickt. »Okay… ich kümmer’ mich drum!« Aber nichts ist okay – das sieht auch Angelica. Trimmel schiebt ihr den Zettel über den Tisch, als Höffgen wieder draußen ist. »Lesen Sie mal…« Sie liest ihn – und fällt fast vom Stuhl Racadi spielt verrückt, hat Stewardeß als Geisel! Sie liest es immer wieder und kann’s nicht begreifen. Trimmel jedoch muß ausgerechnet in diesem Moment schrecklich grinsen. Das Mädchen! denkt er – endlich weiß ich, warum ich so hinter diesem Mädchen her war – er hält sich die Hand vors Gesicht, damit sie’s nicht sieht… »Was… was machen Sie jetzt?« fragt Angelica. »Was wohl?« fragt er zurück. »Beten!« »Werden Sie… werden Sie ihn…« »… umlegen?« Er nimmt die Hand wieder runter und schüttelt den Kopf. »Das ist nicht meine Entscheidung…« »Ja… wessen denn?« Laß sie schmoren! denkt er. »Racadi entscheidet selbst, was mit ihm passiert. Im übrigen… ich weiß ja, daß Sie mich für ne Ratte halten. Aber glauben Sie nicht, daß er… daß er Ihre Liebe gar nicht verdient?« Sie starrt ihn an und weiß nicht, was er will.
»Sie sind doch im Grunde ‘n ganz gutes Mädchen«, fährt Trimmel fort, »ich persönlich würd’s Ihnen beispielsweise immer hoch anrechnen, daß Sie damals am Tag vor der Bombenexplosion die Frau Bergusson sogar noch angerufen und gewarnt haben…« »Ich? Ich Frau Bergusson?« »Nu ja«, sagt er, »die Frau, die da zu Tode gekommen ist. Ich kenn’ doch meine Akten… das waren Sie doch und kein anderer, der da in diesem Büro angerufen hatte… geben Sie’s doch zu! Wenigstens das!« »Ich kenn’ keine Frau Bergusson…« »Quatsch! Erstens haben Sie’s in der Zeitung gelesen, wer umgebracht worden ist, zweitens isses auch völlig egal. Jedenfalls ist der Anruf auf Tonband aufgenommen worden, wie alle Anrufe bei den Juden. Ich hab’ das Band leider erst gehört, nachdem ich kurz mal mit Ihnen gesprochen hatte… aber jetzt, wo ich länger mit Ihnen rede, da fällt’s mir doch wie Schuppen von den Augen!« Eine windige Argumentation. Aber sie nickt, ohne den Kopf zu heben – sie fällt drauf rein und gibt auf. Wenigstens in diesem Punkt. »Na, sehen Sie«, sagt Trimmel befriedigt, »und nun komm’ ich darauf zurück, was ich vorhin gesagt hab’. Sie konnten ja nur anrufen, wenn Sie wußten, was Racadi am nächsten Tag vorhatte. Wenn das kein Beweis ist, daß Sie über alles voll im Bilde waren…« »Reden Sie mal weiter!« sagt sie, wieder wachsam. »Ach«, sagt er, »Sie denken, ich bluffe? Daß das nur meine hirnverbrannte Idee ist? Nee, nee, Mädchen, da wird Ihnen jeder Amtsrichter sagen, daß es Ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit gewesen wäre, zur Polizei zu laufen, statt da bloß lahmarschig anzurufen! Aber nicht mal hinterher, als die arme Frau tot war, haben Sie uns die Wahrheit gesagt… das hätten
Sie sich zwar alles leisten können, wenn Sie mit Racadi verwandt wären, aber bloß zusammen pennen – das reicht nicht! Und deshalb kriegt Racadi lebenslänglich, und Sie kommen nebenan in die Kiste! Es sei denn…« »Was?« fragt sie zögernd. »Es sei denn, Sie könnten mildernde Umstände geltend machen. Dann gäb’s vielleicht nur Geldstrafe… da gäb’s sicher Möglichkeiten…« Die alte Masche; Angelica ist eigentlich intelligent genug, um dieses Gras wachsen zu hören. Trotzdem, ihre Situation ist ja nun tatsächlich alles andere als rosig – und nachdem sie eine allerletzte Minute lang nachgedacht hat, sagt sie entschlossen: »Also gut. Ich gebe zu, daß ich Herrn Racadi von seinem Vorhaben abzubringen versucht habe, leider vergebens. Reicht das?« Trimmel schüttelt den Kopf. »Wann haben Sie von dem Plan gehört?« »Einen Tag vorher!« behauptet sie. »Ich hab’s nur per Zufall aufgeschnappt, als Femal mit Omar sprach… sie dachten, ich versteh’ kein Arabisch. Versteh’ ich auch nicht, aber ein paar Brocken kriegt man so mit…« »Gut. Aber für mildernde Umstände reicht’s noch nicht… da müßten Sie schon noch was mehr tun!« »Und was?« fragt sie lauernd. Damit wird’s ernst. »Okay, ich sag’s Ihnen. Sobald die Maschine mit Racadi gelandet ist, werden Sie und ich hingehen und mit ihm reden. Fallen Sie ihm um den Hals, oder machen Sie sonstwas, lenken Sie ihn ab… wie das genau läuft, weiß ich auch nicht, aber ich werd’ versuchen…« »Ihn umzulegen!« sagt sie totenblaß. »…ihm die Knarre aus der Hand zu schlagen! Herrgott, sehen Sie denn nicht ein, daß das tatsächlich seine einzige Chance ist?«
»Ich als Judas…«, sagt sie fassungslos. »Also das seh’ ich anders…« »Ja, ja… Sie denken einzig und allein an meine mildernden Umstände. Mann, sind Sie ‘n Schleimscheißer!« »Ist das Ihr letztes Wort?« »Gucken Sie mal aus dem Fenster!« sagt sie überraschend. »Warum?« »O je… blind sind Sie auch noch!« Er ahnt natürlich Schreckliches. Er ahnt, daß er hier im hellichten Neonschein zur Nichtanzeige einer Straftat verführt werden soll… und dennoch, er steht auf und sieht aus dem Fenster… Fünf oder sechs Maschinen stehen immer noch herum, drei von der Lufthansa, eine Finnair, eine Air France. Das Vorfeld ist hell erleuchtet, es sieht alles verdächtig ruhig aus. Aber Air Europe 612 müßte doch eigentlich schon gelandet sein… ich muß sofort zum Tower! denkt Trimmel in plötzlicher Panik. Als er sich wieder zu Angelica Wagner umdreht, sieht er gerade noch, wie sie ihre Koksutensilien wegpackt, nachdem die Linie gezogen ist. »Okay«, sagt sie und bemüht sich erfolgreich, nicht zu niesen, »ich mach’s. Aber bestimmt nicht Ihretwegen!« In diesem Augenblick schrillt das Telefon. »Kommen Sie mal in den Tower!« sagt Lindemann. »Sofort!« »Wollt’ ich sowieso… ist es soweit?« »Nein!« sagt er nur und hängt ein. Trimmel bringt Angelica zu Höffgen; sollen sie und Bahrein sich doch angiften und mürbe machen! Dann stürmt er raus und gerät gegen seine Gewohnheit ins Laufen. »He, Sie!« ruft einer, der die Treppen zur Flugsicherung hochstolpert. Hinter ihm eine Frau – noch jung, aber mit scharfen Zügen, eine Goldkette um den Rollkragen…
irgendwie unerfreuliche Zeitgenossen, gleich auf den allerersten Blick. »Was ist?« fragt Trimmel nervös. »Olaf Dingsbums!« stellt der Mann sich vor – irgend so was. »Sind Sie hier für diesen Verein zuständig?« »Also, was… ich hab’s eilig…« »Ich auch!« sagt er frech. »Hören Sie, ich werd’ hier von Hölzchen nach Stöckchen geschickt… mein Bruder ist auf dieser entführten Air Europe, und ich hab’ ja wohl ein Anrecht darauf…« »Sie soll gleich landen!« sagt Trimmel, um die Leute loszuwerden. Ich weiß nicht, woher, aber die Visage von dem Typ kommt mir bekannt vor! denkt er im Weiterlaufen, vergißt es aber erst mal wieder. Er platzt dann nämlich mitten in die nächste Krisenkonferenz.
»Die Maschine ist zum zweitenmal entführt worden!« informiert ihn Lindemann fatalistisch. »Ja, ich weiß, aber…« »Nichts wissen Sie. Sie soll jetzt nach Ost-Berlin fliegen!« »Bergusson?« fragt Trimmel und spürt, daß sein Herz stolpert. »Nein. Der Araber. Dreht jetzt endgültig durch…« »Und?« fragt Trimmel. »Hat sie schon abgedreht?« »Nein… wir verzögern den Anflug. Zeit gewinnen erst mal. Aber jetzt…« Jetzt diskutiert er mit Stallberg und auch Jürgens, mit zwei weiteren Controllern, dem Kommandeur der Bereitschaftspolizei am Flughafen und zwei Leuten mit dem Air-Europe-Abzeichen am Ärmel die neue Lage – die bisher kritischste. Jetzt braucht er vielleicht auch Trimmel und dessen Leute… als Reserve, sagt er, für alle Fälle. Nur den
Flughafendirektor haben sie vergessen, sagt er… zu spät, um ihn jetzt noch anzurufen. »Es ist und bleibt die Entscheidung des Captains, wie er reagiert!« resümiert Lindemann knapp. »Nach unseren Informationen reichen die Treibstoffvorräte bis Schönefeld aus. Unser Alarmplan bleibt auf alle Fälle in Kraft und wird ergänzt durch die Bereitstellung von Hubschraubern auf dem Vorfeld. Weiß der Kuckuck, wo wir da noch hin müssen!« »Ihre oder unsere Hubschrauber?« fragt der Boß der Bereitschaftspolizei. »Alles, was fliegt!« Außerdem Mannschaftswagen, Krankenwagen, Tankwagen, Feuerwehrwagen, Funkwagen und Panzerwagen und Jeeps, egal, von wem – alles, was fährt. Man weiß ja gar nicht, wo die jemals runterkommt… »Ich hab’ Racadis Freundin unten«, sagt Trimmel vorsichtig, »sie könnte ihn ablenken, wenn er aussteigt…« »Ablenken? Wozu?« fragt Lindemann, sehr scharf. »Nu ja… vielleicht können wir ihn doch…« »Nichts können Sie! Noch hab’ ich hier zu sagen! Und solange ich hier zu sagen hab’…« »Regen Sie sich ab!« sagt Trimmel laut. »Ob und wie wir das Mädchen einsetzen, ist ‘ne andere Frage. Jedenfalls sollten wir froh sein…« »…okay, okay! Aber sorgen Sie dafür, daß sie in Ihren Hubschrauber kommt!« »Wer sind denn Sie?« fragt der Wachleiter Stallberg plötzlich entgeistert. Ein Mädchen steht im Raum, Ende Zwanzig mit einem für die späte Tageszeit bemerkenswert frischen Make-up. »Wie kommen Sie denn hier rein?«
»Durch die Tür«, sagt sie frech, »die war doch offen! Ich bin vom ECHO und wollte mal wissen, was hier eigentlich los ist. Außerdem hat das Fernsehen ja auch schon…« Trimmel ist auf sie zugegangen. »Ihren Presseausweis!« Sie reicht ihn hin. »Rita Lohmann… wieso haben Sie Wind von der Sache gekriegt? Was haben Sie hier mitgekriegt?« »Na… alles!« sagt sie ehrlich. »Ich war zufällig bei uns im Archiv, als ein Polizeibeamter einen Band beschlagnahmte. Da bin ich der Sache nachgegangen… ist das etwa verboten?« Erst mal muß sie raus. Aber dann entscheidet Lindemann, daß sie trotz allem noch mehr mitkriegen wird: sie wird hierbleiben und damit unter Kontrolle sein. Und in Null Komma nix hat sie draußen schon ein paar gerade wachfreie Controller in eine heftige Diskussion verwickelt… die Stimme des gehobenen Volkes, die sie später sicher noch brauchen kann… »Ist ein Mann, der ein Flugzeug entführt, um seine ermordete Frau zu rächen, nicht um sechs Ecken herum irgendwie im Recht?« fragt sie wichtig. »Es gibt keine guten oder schlechten Flugzeugentführer«, sagt ein Controller, noch ernsthaft, »ich halte die Frage für falsch gestellt!« »Und warum gibt es keine strenge Trennung zwischen Cockpit und Kabine… warum setzt man keine bewaffneten Flugbegleiter ein?« »Komm, Mädchen, hör auf!« sagt einer. »Dann wär’ die Boeing heute abend wahrscheinlich schon längst runtergefallen! Haste wohl mal was gelesen… aber das sind doch alte Hüte! Wie lange gibt’s denn schon Flugzeugentführungen?« Sie schreibt und schreibt. »Alte Hüte, sehr schön… aber meinen Sie nicht, daß man Staaten, die Hi… Hijacker noch
schützen, boykottieren sollte? Einfach nicht mehr anfliegen und landen?« »Da haste recht!« sagt der erste Controller grimmig. »Ist zwar nicht unser Bier, aber da haste leider völlig recht! Immer noch… bin mal gespannt, was mit den beiden Typen da oben passiert, wenn sie unten sind. Wahrscheinlich wieder nix!«
9
Querbeet nach Osten, hat der eine Typ – Racadi – verlangt. »Gleich nach Moskau?« hat Söltner höhnisch gefragt, nach dem ersten Aufruhr und seinem Schlagabtausch mit Bergusson. »Oder mit Zwischenlandung?« Feininger, hypernervös, aber angestrengt ruhig: »Sie haben es doch gehört – Schönefeld!« »Ja. Nichts einfacher als das…« Zuerst ist dasselbe Spielchen vonstatten gegangen wie mit Bergusson über Süditalien. Über Bordlautsprecher diesmal, ohne Rücksicht auf die Nerven der Fluggäste. »Hier spricht der Captain. Ich möchte dem Herrn hinten, der uns zu einer neuen Kursänderung veranlassen will, mitteilen, daß wir seinen Absichten nachzukommen versuchen. Ich muß allerdings noch so lange auf Kurs bleiben, bis die Bodenkontrolle uns den Weg frei macht. Anderenfalls riskieren wir den Crash… damit ist niemand geholfen. Ende!« Zeit gewinnen – das ist es, abgesehen davon, daß was dran ist. Auf jeden Fall nicht zu weit nach Norden, wenn’s am Ende doch querbeet in die DDR gehen muß… Also zehn Minuten geradeaus. Dann – unmerklich -Schleife um Schleife mit dem weitesten Radius, den die Flugsicherheit zuläßt. Zeit gewinnen – für die Leute unten und vor allem hier oben. Und Ruhe. Ruhe muß wieder einkehren an Bord. Wenn auch bei der nervenzermürbenden Warterei die Gefahr, daß noch mehr Leute explodieren, von Minute zu Minute größer wird.
Der neue Ärger beginnt dann vorn und setzt sich nach hinten fort. Feininger wendet sich an Bergusson: »Kann ich mal nach hinten gehen und selber mit dem Mann reden?« »Nein!« schreit Bergusson sofort und fuchtelt mit der Pistole herum. »Sie wollen mit Racadi gemeinsame Sache machen! Sie wollen mich reinlegen!« »Völliger Schwachsinn… aber bitte!« sagt der Captain in aller Ruhe. Er befiehlt Ully: »Geh du hin und sag ihm, sobald wir da drüben einfliegen, kriegen wir Ärger mit den Russen. Hör dir an, was er sagt… und versuch Gaby zu helfen!« Ully rennt los und stoppt drei Meter vor Racadi. »Ich soll Ihnen sagen, die Russen würden uns abschießen…« Racadi aber reagiert genau wie Bergusson – er fuchtelt mit der Pistole. »Russen schießen nicht!« schreit er. »Russen gute Menschen… Luftstraße jetzt frei, jetzt sofort nach Osten, oder ich schieße sofort!« Ully sieht entsetzt, wie er Gaby die Pistole an die Schläfe hält. Sie rennt zurück, vorbei an den Passagieren, die sie hilflos anstarren… »Abdrehen!« ruft sie Feininger zu, schon vor dem Cockpit… und dann rutscht sie der Länge nach hin, denn der Captain, der Racadis Geschrei schon selbst gehört hat, legt die Maschine bereits in eine scharfe Rechtskurve… Feininger schaltet den Bordlautsprecher ein: »Okay, Sie da hinten! Sie sehen, daß wir den Kurs ändern! Aber ich sag’ Ihnen, das gibt Schwierigkeiten, da müssen wir sehr bald noch mal drüber reden. Ende!«
»Air Europe Six One Two, hier ist Hannover Control, Sie sind auf Ostkurs, Zero nine zero! Sind Sie wahnsinnig geworden?« Vor Aufregung redet der Controller in Hannover Deutsch und Englisch durcheinander.
Der Mann mit dem wuchernden Bart heißt Grath, trägt Turnschuhe, Jeans und einen zerlumpten Pullover; er gilt als ungewöhnlich zuverlässig. Feininger brüllt ihn an: »Sie wissen doch, was läuft! Und wenn ich zehn Jahre nach Sibirien muß – ich lass’ mir doch meine Stewardeß nicht abknallen!« Auf dem Radarschirm sieht Grath im selben Moment, wie der Kurs ganz langsam, fast unmerklich wieder von Ost nach Nordost wechselt… Das ganze Manöver ist nur ein Trick. »Okay, Captain!« sagt Grath aufatmend, ebenso wie seine Kollegen ringsum. Auch Feininger atmet tief durch. Bloß nicht bei Heiligenstadt in die DDR einfliegen, hat er überlegt, besser bei Duderstadt oder noch besser zwischen Goslar und Wernigerode… da ist man wenigstens einigermaßen auf dem Luftkorridor! Jetzt gibt er – wieder in englischer Sprache, denn ab sofort sind auch die militärischen Stellen wieder mehr als nur interessierte Beobachter – erneut seine Position, seine Flughöhe und seine augenblickliche wahre Flugrichtung an Hannover Control: im Augenblick schreit dann niemand mehr, weder oben noch unten. Bergusson im Cockpit scheint friedlicher zu sein als während des ganzen Flugs. Darum erklärt Feininger ihm in aller Ruhe, daß er versuchen wird, so lange wie möglich in dieser nordöstlichen Richtung parallel zur DDR-Grenze zu fliegen. Aber bei Wernigerode spätestens muß er, wie gesagt, doch rüber, wenn er den Araber nicht doch noch überreden kann… Ully schlägt schüchtern vor: »Und wenn wir ihn täuschen und einfach doch in Hamburg landen?« Feininger schüttelt den Kopf und macht wortlos die Geste des Halsabschneidens; Ully kriegt eine Gänsehaut und sagt lieber nichts mehr.
Während Hannover Control dem Captain noch den einwandfreien Empfang seiner Durchsage bestätigt, geht die NATO erstmals offiziell dazwischen. Die Anweisung kommt wieder von General Perlborg persönlich. Und der Senior Operations Officer vom SOC 3, selbst Brigadegeneral, Oberstleutnant von Rosens Vorgesetzter, spricht vom Erbeskopf (Kennwort Springtime) auf der Emergency-Frequenz 245 ein militärisches Machtwort: »Air Europe Six One Two, turn west immediately! You will be entering the ADIZ! Your distance to the eastern border is only fifty-two miles! I repeat: this is Radar Station Springtime. Turn west immediately!« Captain Feininger sagt mit seiner inzwischen fast unheimlichen Ruhe: »Roger. Will do what I can. Right now I can’t help it. Will call you back!« »Turn west immediately…« Feininger sagt auf deutsch: »Kreuzweise!« und schaltet ab. Mit zwei durchgeladenen Pistolen an Bord können einem offenbar weder die Kollegen Genossen von vorn noch die Kollegen Alliierten von hinten imponieren. Auch nicht 52 Meilen vor der Grenze. Eins allerdings muß auch Feininger akzeptieren: der Sprit wird jetzt doch merklich knapper.
Das Wort ADIZ ist eine der besonders kritischen Vokabeln aus dem manchmal unverständlichen Slang-Sprachschatz der zivilen und militärischen Kontrollstellen. Es heißt Air Defence Identification Zone, ist nur scheinbar harmlos und bezeichnet einen 30 nautische Meilen breiten Sicherheitsgürtel entlang der Grenze zwischen NATO und Warschauer Pakt. Wer über die ADIZ hinaus in die Ostblockländer fliegt, vor allem in die Deutsche Demokratische Republik, und wer sich
dort nicht mit ordentlicher Voranmeldung in einem der drei Luftkorridore nach Berlin bewegt, riskiert Kopf und Kragen. Es hat zwar schon, beispielsweise, den einen oder anderen Bundeswehr-Starfighter gegeben, der sich in die DDR verflog – einer kam sogar bis in den Raum Leipzig – und sich dann im Tiefflug wieder nach Westen mogelte. Aber es hat auch Abschüsse gegeben, darunter eine C 47 der US-Luftwaffe, eine militärische Version der guten alten DC 3. Insofern ist die Sorge um den Air-Europe-Flug 612 sicher nicht aus der Luft gegriffen. Und die derzeit in die Wege geleiteten kriegerischen Maßnahmen dienen unter anderem sicherlich auch der Menschlichkeit.
Henri Lempp oben versucht’s nochmals – unkriegerisch. »Du besoffenes Schwein!« zischt Klaus Lange, als er sieht, was der andere plant; aber diesmal kommt er zu spät. Lempp torkelt auf Racadi zu. Der hebt warnend die Pistole. »Sir«, bettelt Henri, »lassen Sie uns doch leben!« Dabei wedelt er mit einem grünen Geldbündel hin und her. »Verschwinden!« sagt Racadi heftig. »Zehntausend Dollar…«, lallt Henri. »Und noch viel, viel mehr, Sir, wer tot ist, braucht nix mehr…« »Let him go«, ruft Lange, »er ist betrunken!« »Verschwinden, los!« Aber Lempp versucht, Racadi zu umarmen. »Brüder, ihr tötet doch keine…« Er kriegt von Racadi eine Linke voll auf die Nase. Das Nasenbein splittert, das Blut schießt heraus wie aus einem Springbrunnen. Im Fallen wirft Henri Lempp schreiend sein Geldbündel von sich. Hundertdollarnoten segeln durch das Flugzeug.
»Ein Arzt, ein Arzt…« Der Arzt, der schon Dr. Holtzmann versorgt hat, kommt wieder nach hinten. Er hat schon lange nicht mehr außerhalb seiner Branche gearbeitet. Er ist Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten . »Darf ich das Geld aufsammeln?« bittet Klaus Lange aus der Distanz. Racadi spuckt ihm vor die Füße, genau in die Blutlache. Lange sucht die Scheine zusammen. Zwei, direkt unter Racadis Pistole, läßt er liegen. Jemand fängt an, laut zu beten.
General Perlborg steht derweil vor einer riesigen beleuchteten Spezialkarte und kommandiert, nacheinander auf englisch, französisch und deutsch: »Nachrichten an SHAPE, Air North, United Kingdom Home Defence, French Home Defence. Einsatz-Nachricht an Air Cent und die Headquarters der taktischen Luftflotten…« Als ob das Hauptquartier der alliierten Streitkräfte in Europa nicht schon längst Bescheid wüßte! denkt Colonel Lassitter, der die Befehle entgegennimmt. Als ob sich die englische und französische Luftverteidigung dienstlich für AE 612 interessieren würden! Als ob Luftflotten mobil machen müßten, wo ein paar Jäger genügen! Aber Perlborg sieht das anders. »Dafür ist das Air Defence Notification Center schließlich da«, doziert er, den langen Zeigestock in der Rechten, »oder sehen Sie das etwa anders? Sobald der zivile oder militärische Flugverkehr politische Grenzen überschreitet, ist es unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit…« »Aye, aye, Sir!« sagt Lassitter. Er kommt von den Marinefliegern.
»Hannover Control«, meldet sich Feininger müde, »tut mir einen Gefallen, ganz egal, wo wir landen, bestellt ein paar Krankenwagen, von mir aus bei den Russen. Hier schlagen sich die Leute die Schädel ein…« »Air Europe«, sagt der kleine Grath, »mach’ ich! Schwere Verletzungen?« »Ich hab’s auch noch nicht voll im Griff«, sagt Feininger lakonisch, »noch keine Toten!«
Von Perlborg über Lassitter kommt der ›Einsatzbefehl bei Bedarf‹ an den Sector Controller vom SOC 3 auf dem Erbeskopf, an Springtime. Die Telefone sind direkt geschaltet. Auch das Telefon von Springtime zum britischen Militärflughafen Gütersloh. »This is SOC three, sector controller speaking«, sagt der Oberstleutnant von Rosen; sein Brigadegeneral, ein Kommißkopf, den nichts mehr erschüttert, hat sich wieder zur Ruhe begeben. »Gütersloh: alert force on battle station!« Eine Spur von Erregung in der Stimme. Solche Situationen gibt es – zum Glück für den Frieden – doch ziemlich selten. Der Oberstleutnant schickt über ein paar hundert Kilometer hinweg die Alarmbereitschaft, die dem entführten Flugzeug momentan am nächsten liegt, auf Gefechtsstation. In Gütersloh rollen innerhalb der nächsten zwei Minuten zwei Abfangjäger vom Typ Lightning Mark VI auf die Startbahn. Die Phantoms in Ramstein bleiben in Reserve. Ein englischer Colonel bestätigt dem deutschen Oberstleutnant: »SOC three, this is Gütersloh. Roger. Two Lightnings scrambled for battle Station!« »Thank you!« sagt von Rosen, erregt und erleichtert. Im Notfall sind die schnellen Jäger in etwa zwanzig Minuten im DDR-Grenzbereich. Und rechts oben auf dem Radarschirm im
atomsicheren SOC-Bunker kann von Rosen immerhin erkennen, daß sich AE 612 jetzt doch in nordöstlicher Richtung davonstiehlt – in Richtung Grenze, bestimmt nicht aus freiem Entschluß des Flugkapitäns. Fast gleichzeitig kommt die Meldung von der Radarstation auf der Wasserkuppe, vom sogenannten CRC: von der Rhön aus kann man deutlich Luftbewegungen im Raum Erfurt ausmachen. Vier schnelle Objekte, vermutlich MIG-Jäger der Russen, nähern sich von Osten her der Grenze. Die Präzisionsuhr des Oberstleutnants zeigt 23.23 Uhr. Und eine MIG nach der anderen kreuzt dann den Luftkorridor nach und von Berlin zwischen dem Harz und dem Thüringer Wald. Im Grunde ein Spielchen… von beiden Seiten oft und gern gespielt, um die andere Seite zu ärgern und auf Kosten zu treiben: Schnelle Maschinen starten, fliegen blitzschnell auf die Grenze zu, drehen unmittelbar vor ihr, fast schon auf der Grenzlinie steil ab – man könnte meinen, die Piloten auf dem Radarschirm grinsen zu sehen: sie ziehen voller Schadenfreude den inzwischen auf der anderen Seite gestarteten Abfangjägern eine lange Nase. Aber diesmal ist es ernster. AE 612 fliegt noch immer im spitzen Winkel der Grenze entgegen… Und von Rosen handelt. »Gütersloh, scramble alert force immediately! Zero nine zero. Flight level three zero zero. Call Springtime for further control!« Der Startbefehl – in Sekunden ausgeführt. Während über dem Flugplatz Gütersloh sicher noch das Donnern der gestarteten Lightning-Jäger zu hören ist, hört Springtime schon die Stimme des ersten Piloten: »This is alert force Gütersloh. Heading, zero nine zero. Climbing…« Der nächste Befehl kommt sofort. Von Rosens Einsatzbefehl:
»This is Springtime. Roger. Positive identified. You are scrambled to make Air Europe Six One Two turn west immediately. Position is overhead Höxter, Holzminden. Find it AND GET IT BACK!«
BRINGT DAS FLUGZEUG ZURÜCK! Feininger im Cockpit der Boeing 727 kann sich ausmalen, daß und wie er mit Gewalt zur Umkehr gezwungen werden soll. Er sieht auf die Treibstoffanzeige: Immer weniger Sprit. Lange geht’s nicht mehr, denkt er. So oder so nicht. Wegen Gaby. Wegen dieser Verrückten. Wegen der Verletzten… Und dieser ganze Trouble wegen zwei Pistolen! denkt Feininger. Wegen zwei Pistolen gibt’s demnächst kleine Luftkämpfe und den großen Krieg! Bald ist es zu Ende. Sicher – so oder so. Aber im Grunde darf das doch alles gar nicht wahr sein… Die nächstgelegene deutsche Kontrollzentrale, Hannover, tut immerhin das ihre im drohenden Ost-West-Konflikt: Hannover alarmiert mit höchster Dringlichkeit die zivile alliierte Flugsicherung in Berlin. »Air Europe Six One Two approaching Eastern Territory… will enter approximately between Wolfenbüttel and Halberstadt. Aircraft is hijacked, on non-scheduled flight. Please inform Russian Military Agencies immediately…« Sie sollen um jeden Preis verhindern, daß von östlicher Seite übereifrig geschossen wird; alles andere wird sich ausbügeln lassen. »This is Berlin Control. Roger, Hannover. Wilco as soon as possible. See you later, Alligator…« »In a while, Crocodile!« Die Berliner tun, was sie können. Und sie tun’s schnell.
Aber schon in der gleichen Minute starten ein paar MIG 21 auch im Raum Brandenburg und formieren sich zur gebührenden Begrüßung einer leibhaftigen Boeing. Spielchen hier wie dort… und immer die Gefahr, daß irgendein Idiot, hier oder dort, auf den Knopf drückt – den Schießknopf.
»Springtime, Springtime, this is alert force Gütersloh overhead Einbeck. Can’t see Air Europe Six One Two!« Nichts zu sehen von dem unfreiwilligen Ausreißer querbeet. Aber noch gibt’s Hoffnung, die Jäger werden radargeleitet. »Zero eight zero…« Der neue Kurs. Die Lithtnings rasen weiter durch die Nacht und suchen zwischen dem Mond und den Sternen irgend etwas, das blinkt, und sei’s auf ihrem Bordradar. Suchen und suchen und finden immer noch nichts. Es ist wie verhext. Wenn’s so weitergeht, gibt’s zwischen Hamburg und München am Ende noch die totale Mobilmachung. Der kleine Controller Grath, dessen Pullover total durchgeschwitzt ist, hat in Bremen und Hannover tatsächlich Krankenwagen und Polizei alarmiert; Hamburg hat mitgeteilt, man sei sowieso schon an Deck. Außerdem aber wirbelt Grath wie ein Irrer. Die aus dem Kurs geratene Boeing kommt auf ihrem Ostkurs völlig unplanmäßig in die Nähe der Äste der Luftstraße Blue 29. Das ist zwar nicht ganz so schlimm – hier wird in niederer Höhe der Verkehr zwischen Berlin und den Flughäfen KölnBonn und Düsseldorf abgewickelt, da dürfte sich um die Zeit nichts abspielen. Kritisch jedoch ist UG 5, Upper Green Five: dieser Airway verläuft fast parallel zu Upper Amber Nine, von dem die Air-Europe-Boeing abgewichen ist, und im übrigen genau zwischen Upper Amber Nine und der DDR-Grenze.
Controller Grath donnert zunächst den Piloten einer Postmaschine an, der von Berlin nach Lohausen unterwegs ist und gleich nach der Grenze – um Sprit zu sparen – um Erlaubnis zum Steigflug gebeten hat; zu diesem Zeitpunkt war er aber bei guter Sicht schon 3000 Fuß auf eigene Faust geklettert. Jetzt muß er seine Mühle wie einen Stuka auf den Kopf stellen und schimpft darüber wie ein Rohrspatz, natürlich bei abgeschaltetem Mikrofon, denn er selbst ist ja der Lümmel… Inzwischen dirigiert Grath bereits eine späte DC 8, eine große Frachtmaschine von Hamburg nach München, aus dem potentiellen Kollisionskurs. »Make a left turn«, sagt er dem Piloten, »climb two thousand feet immediately, non scheduled plane is crossing your flight level… Watch it! And good luck…« »Roger!« sagt der Pilot der DC 8. »I’ve heard about that damned hijacking – wish I could help!« »You can!« sagt Controller Grath aggressiv. »Get out of the way in a hurry!« Beeil dich, sonst hilfst du nicht mal dir selbst… Dann endlich hat Hannover die gefährliche Strecke frei – die gefährliche Strecke nach Osten, die eigentlich gar keine ist. Menschlicher Voraussicht nach kann es jetzt wenigstens keinen ›normalen‹ Crash mehr geben.
»Springtime, Springtime!« ruft der erste Lightning-Pilot erregt. »This is alert force Gütersloh overhead Goslar. I see Air Europe Six One Two on radar and straight ahead!« Er will wissen, was er tun soll, nachdem er die Boeing endlich gepackt hat – eine berechtigte Frage. »Stand by!« sagt Springtime. »Just a minute!«
Und auch Feininger meldet sich – auch er hat die Jäger gesehen. Er hat um jeden Zentimeter Kurs gekämpft, um kostbare Minuten – es ist ausschließlich sein Verdienst, daß er noch nicht drüben ist. »Hannover Control«, sagt er erregt. »Air Europe hier. Ich seh’ da ‘n paar ganz schnelle Vögel vor mir rumfliegen, müßten noch westliche sein. Kannst du denen nicht sagen, sie sollen mir ruhig mal ‘n paar Feuerstöße vor den Bug schießen?« »Ist das Ihr Ernst?« fragt Grath. »Ja… wieso? Muß ja nicht zu dicht sein…« »Okay… ich versuch’s, Captain!« Grath versucht tatsächlich alles. Er verständigt den Leiter der Kontrollstelle Hannover, der kennt den Draht zum ADNC – und von da aus geht die ungewöhnliche Bitte des Captain über das SOC an Gütersloh und seine Alert Force… Es könnte klappen, wenn die Militärs mitspielen. Eigentlich schießen sie ja immer ganz gern.
Feininger dreht sich um zu Bergusson. »Wenn Sie jetzt nicht mitspielen, kriegen Sie Ihren Burschen nie nach Hamburg!« »Und?« fragt Bergusson mißtrauisch. »Ich müßte ihm über Bordlautsprecher sagen, daß Sie einverstanden sind, mit allen übrigen Passagieren in Hamburg auszusteigen. Daß Sie ihn laufenlassen…« »Sie sind ja nicht gescheit!« »Sie vielleicht?« »Okay«, sagt Bergusson schließlich, »sagen können Sie viel. Aber ich tu’s deshalb noch längst nicht – nur, damit Sie Bescheid wissen!« Feininger nimmt sofort das Bordmikrofon. »Der Herr da hinten… wenn Sie aus dem Fenster sehen, können Sie zwei
Jagdflugzeuge sehen – britische oder amerikanische. Die machen gleich todsicher Lining up! Einer setzt sich vor uns, der andere über uns – dann schießen sie uns eine Warnung vor den Bug…« Hoffentlich tun sie’s, denkt er. Und hoffentlich tun sie’s mit Leuchtspur. Ully läuft nach hinten, um Racadis Antwort zu holen. Die Jäger machen tatsächlich Lining up. Aber schießen… schießen tun sie nicht. Ully kommt zurück gerast. »Wir sollen weiterfliegen… er hält Gaby immer noch die Pistole an den Kopf, ich glaub’, sie ist bewußtlos…« Feininger ins Mikrofon: »Sie da hinten, seien Sie doch vernünftig! Selbst wenn wir hier rauskommen – über der DDR werden wir in jedem Fall abgeschossen!« Ully läuft wieder hin und her. Cockpit – Kabine. Von Hijacker zu Hijacker. »Drei Minuten bis zur Grenze!« sagt Feininger ins Mikrofon. »Jetzt mein allerletzter Vorschlag. Ihr Feind hier im Cockpit ist nicht ganz so hirnverbrannt wie Sie… er ist in der DDR politisch unerwünscht und will da nicht verhaftet werden. Er ist bereit, Sie in Hamburg in Ruhe zu lassen. Er will’s Ihnen selbst sagen… ich übergebe an Mister Bergusson!« Bergusson denkt, er hört nicht recht. Und sieht nicht recht… das Mikrofon vor seiner Nase, und seine Pistole vor Feiningers Nase! »Los! Machen Sie schon!« Und in diesem Moment machen die Lightnings tatsächlich nicht mehr nur Lining up… in diesem Moment sprüht aus der rechten ein orangefarbener Feuerstoß! »Haben Sie’s gesehen?« brüllt Feininger – diesmal zu beiden Pistolenhelden. »Sie knallen uns ab!«
Da nimmt Bergusson das Mikrofon in die linke Hand, räuspert sich – und spricht. »Es… es stimmt, Racadi«, spricht er, »es stimmt, was der Captain sagt…« Hinten ist Racadi aufgesprungen. Einen Moment sitzt Gaby – sie ist doch nicht bewußtlos – allein in der letzten Reihe. Gehetzt sieht sie sich um: soll sie…? Aber wohin? Die Toilette? Nein – es hat keinen Zweck; das Schloß kriegt er mit einem Schuß kaputt… Ully rennt den Gang entlang. Racadi geht ihr hastig zwei Schritte entgegen. »Captain soll fliegen nach Hamburg und dann nach Beirut! Bergusson hat versprochen und muß halten… ich immer noch Kollegin…« Ully macht auf dem Absatz kehrt und rast nach vorn. Bergusson sieht ihr entgegen… die Piloten könnten ihn fertigmachen – aber sie merken’s gar nicht… »Abdrehen!« schreit Ully. »Sofort abdrehen – er ist einverstanden!« Captain Feininger steuert die schärfste Linkskurve seines Fliegerlebens; Bergusson kann sich gerade noch festhalten. Zu seinem Glück allerdings geht’s den anderen nicht besser… die Passagiere hängen schräg in der Luft, Ully hängt an der Tür… »Oh, Scheiße!« sagt Söltner. Bis zur Grenze sind es tatsächlich nur noch drei oder vier Kilometer gewesen.
»Springtime, Springtime – this is alert force Gütersloh… Air Europe Six One Two has turned west! Looks like she’s heading for Hamburg, after all!« Der Lightning-Pilot – man hört’s durch den Äther – dreht fast durch… die Boeing dreht ab, geht auf Hamburg-Kurs, er hat seinen ersten Luftkampf gewonnen! »Springtime – what shall we do now, Springtime?«
Von Rosen im Springtime-Bunker reagiert unverzüglich: »Alert force Gütersloh, shadow Air Europe Six One Two to Hamburg!« »Roger!« sagt der Lightning-Pilot. Neuer Kurs Nordnordwest. Der reine Geleitzug… über die Autobahn, über die City von Hannover hinweg, wieder auf die Upper Amber Nine mit den letzten Funkfeuern. Erst, wenn die Boeing in Hamburg zur Landung ansetzt, darf ihr JägerKonvoi nach Hause fliegen. Von Rosen gibt die Entwarnung für die NATO und General Perlborg und all seine Manöverkameraden; die Beschattung für alle Fälle ist die letzte militärische Aktion. Hannover gibt die Entwarnung für die alliierte Flugsicherung in Berlin, der’s zuletzt doch ziemlich blümerant gewesen ist. Und die Russen – die entwarnen sich selbst. Die Russen sind im Grunde die einzigen Dummen. Die Russen nämlich können hier sicher nicht kassieren. Die anderen aber… die werden dem Hijacker Max Bergusson – neben allem anderen, was auf ihn zukommt – diesen Teil des Manövers mit zehntausend Mark pro Start und Lightning-Jäger in Rechnung stellen.
Die Tagesschau, von den letzten dramatischen Ereignissen doch überrollt, wiederholt fast zur selben Zeit lediglich das, was sie schon früher berichtet hat. Immerhin, sie berichtet – und normalerweise hätte Fritz Bodenberg in Finkenwerder wenigstens die Spätnachrichten gehört, nachdem er sein Weltkrieg-Zwei-Fliegerheftchen endlich ausgelesen und zur Seite gelegt hatte. Aber ausgerechnet heute kommt’s anders. Ausgerechnet heute abend gelingt es seiner frustrierten Ehefrau Annegret, ihn nach einem kleinen Abendessen ins frisch bezogene Ehebett zu locken…
Die Glotze bleibt kalt, von AE 612 erfährt das Ehepaar Bodenberg nach wie vor nichts. Wer kann ahnen, daß das für die armen Hunde am Himmel in aller Kürze nochmals brandgefährlich wird? Daß der nächste Alarm dadurch schon vorprogrammiert ist?
10
Links unten auf dem runden Schirm wird die Maschine im Radarraum der Hamburger Anflugkontrolle sichtbar. Stallberg winkt seinen Chef heran, ohne sich umzusehen: »Hier! Gleich bei Bartelsdorf!« Das allerletzte Funkfeuer vor Hamburg – endlich. Praktisch schon im Nahverkehrsbereich – doch noch. Als Hannover überflogen war, hat Captain Feininger mit dem Sinkflug begonnen. Und jetzt hat außer Stallberg eigentlich niemand mehr was zu sagen. Stallberg sitzt vor dem Radarschirm, beobachtet, wie der Leuchtstrahl kreist, trommelt mit den Fingern der rechten Hand auf das Telefon und bewacht die Schalttafel mit den Leuchtzeichen wie ein Oberbeleuchter. Hinter ihm stehen Lindemann, die beiden Leute von Air Europe und nach wie vor die Kripo persönlich – Trimmel. Stallberg nimmt das Mikrofon und sagt: »Air Europe Six One Two, this is Hamburg Approach… Are you all right? Do you read me?« Er sieht auf dem Schirm, wie die britischen Lightnings, die AE 612 begleitet haben, abdrehen und wieder in Richtung Gütersloh davonzischen. Was soll jetzt noch passieren? denkt er. »I read you five by five«, krächzt Feininger müde, »aber tu mir einen Gefallen, Brother. Der Kamerad neben mir kann zwar Englisch, aber unseren Slang versteht er nicht. Er will lieber, daß wir Deutsch reden, wenn’s recht ist!«
»Klar, Captain!« sagt Stallberg. »Wir haben’s ja gleich geschafft, Sie sind genau auf dem richtigen Kurs. Na, Sie waren ja schon öfter hier…« »Weiß Gott!« sagt Feininger. »Unten die Lichter rechts von mir… das ist doch Winsen?« »Genau, Captain, Winsen Luhe… Leichter Westwind, merken Sie ja. Üblicher Anflug von Nordost. Alles klar?« »Roger, Amigo. Ich bin ganz schön groggy. Sag mir sofort Bescheid, wenn ich ‘n Strich vom Kurs abkomm’…« Die Autobahn. Das Horster Dreieck. Hamburgs südliche Stadtteile. Bergdorf bleibt östlich liegen. Lichter auf der Lübecker Autobahn, wo die östliche Umgehung mündet. Wellingsbüttel. Jetzt langsam westlich… Der Kurs stimmt haargenau, und im Nahverkehrsbereich über Hamburg herrscht – abgesehen von AE 612 – absolute Funkstille und Verkehrsruhe. Seit Hannover ist niemand mehr näher als 200 Meilen an Feiningers Vogel herangekommen. »Jetzt leicht einschwenken!« sagt Fritz Stallberg ruhig und zieht an der Zigarette, die ihm Lindemann angezündet und hingereicht hat. Feininger geht in die weite Linkskurve. Landekurs. »Altitude fifteenhundred feet…« »Du Arschloch sollst Deutsch reden!« »Okay, Captain… Höhe fünfzehnhundert Fuß!« Stallberg hebt plötzlich den Kopf und schnuppert wie ein Kaninchen. Dann weiß er, woher der leise Alkoholgeruch weht; er braucht sich nicht erst umzudrehen… »Jürgens«, flüstert Lindemann, »wollen Sie nicht rübergehen?« Stallberg hat’s trotzdem gehört. Er hält sein Mikro zu. »Im Augenblick hat er wenig davon, wenn er im Tower rumsteht!« Lindemann zuckt nur die Schultern.
»Schönen Dank auch!« will Elmar Jürgens sagen, aber er bewegt nur die Lippen. Niemand sieht, wie er den Rest Bier aus der Büchse in einen Papierkorb schüttet und wie es unten herausläuft.
Dann passiert eben doch noch was. AE 612 ist noch 400 Meter hoch, als Feininger fragt: »Ist bei euch ein gewisser Trimmel?« Überrascht sieht Lindemann nach rechts. Überrascht ist auch Trimmel selbst. Stallberg, noch abgelenkt von Jürgens, sagt fast automatisch: »Ja, ist er!« »Er soll sich selbst melden«, sagt Feiningers Stimme, »der Herr neben mir will’s so…« Stallberg dreht sich mit dem Mikro um. Trimmel nimmt’s ihm aus der Hand und sagt ruhig: »Hier spricht Trimmel…« Sofort hört man Bergussons Stimme, leicht verzerrt, weil er sich wahrscheinlich nicht allzu weit vorbeugen kann, ohne daß man ihm die Waffe aus der Hand schlägt: »Herr Trimmel, Sie wollen Racadi ja auch haben… ich hab’ vor, in Finkenwerder runterzugehen, da kommt er schlecht wieder weg…« Und Trimmel antwortet in derselben Sekunde: »Mensch, ja… das ist ‘ne Idee!« Lindemann und Stallberg zugleich reißen ihm das Mikrofon weg, und durch den Raum dröhnt die Stimme von Richard Feininger: »Schmeißt sofort diesen Halbaffen aus dem Fenster! Ich hab’ Fuhlsbüttel direkt unter mir, und ihr könnt mir nicht mal diesen Idioten vom Hals halten, ihr Hengste, ihr Arschgeigen, ihr…« – seine Stimme schnappt über, er wird gleich ersticken. Bergussons Stimme, verzerrt und undeutlich: »Abschalten! Sofort!« Funkstille.
Bergussons Stimme hinter dem Captain, verzerrt und überdeutlich: »Sie landen in Finkenwerder, oder ich knall’ Sie jetzt noch ab!« »Knallen Sie doch!« schreit Feininger. »Ist doch egal… Finkenwerder ist viel zu kurz!« »Finkenwerder ist lang genug!« »Finkenwerder hat keine Landebahnbefeuerung!« »Aber Sie haben Scheinwerfer! Außerdem…« »Sie sind…« Wahnsinnig. Bergusson drückt dem Captain die Pistolenmündung brutal ins Genick – genau in dem Moment, in dem Ully, reichlich spät, die Passagiere auffordert, sich zur Landung in Fuhlsbüttel anzuschnallen. Wahnsinn mit Methode. Bergusson hat zwar zwischen Brindisi und Hamburg kein Funkchinesisch gelernt, aber soviel verstand er vorher doch schon von der Fliegerei: eine nicht mal zur Hälfte besetzte Boeing 727 kann in Finkenwerder eher landen als auf einem Kartoffelacker! Er hat sich während dieses ADIZ-NATO-Theaters erinnert, daß vor Jahren irrtümlich sogar mal eine vierstrahlige Coronado auf dem Platz der Flugzeugwerke auf der Halbinsel Finkenwerder runtergegangen ist – daß sich die Hamburger Zeitungen sogar halb totgelacht haben. Er ist irgendwann auch mal draußen gewesen auf dem Gelände, beruflich… da haben sie ihm die Geschichte einer Flutnacht erzählt, in der das Elbhochwasser das Flugfeld zu überspülen drohte: sie wollten die Start- und Landebahn von Autoscheinwerfern ausleuchten lassen, weil sie keine Nachtstartbeleuchtung hatten und fürchteten, sie müßten ihre Werksmaschinen rausfliegen… es war letztlich zwar nicht nötig, aber hochziehen können sie sich daran heute noch… Die Idee kam Bergusson dann fast zwangsläufig, als er im Leuchtspurgewitter der NATO-Jäger seine Felle wegschwimmen sah:
Landen kann die Boeing, die er hier unter Kontrolle hat, in Finkenwerder. Aber wenn er Feininger zwingt, bis zur äußersten Ecke der Landebahn zu rollen – dann kann er vermutlich nicht wieder starten! Und dann ist es eben doch aus für Racadi!
Aber die verdammte Boeing sinkt und sinkt, inzwischen auf unter hundertfünfzig Meter. Feininger, den Stahl im Nacken, rührt keinen Muskel. Copilot Söltner, der die Landung macht, hat die Bahn von Fuhlsbüttel direkt vor sich und fixiert schon den Punkt, an dem er aufsetzen will… hundert Meter nach dem Beginn der prächtigen, einladenden Fuhlsbütteler Landebahnfeuerung… »Gas rein!« brüllt Bergusson, lauter denn je, seit er ins Cockpit gekommen ist. »Steigflug! Weiter nach Finkenwerder! Ich zähl’ bis fünf… dann knallt’s!« Bei zwei schreit Söltner: »Was soll ich denn machen?« Drei… der Captain sagt keinen Ton. Bei vier schreit Söltner los wie ein Stier… »… setz auf!« schreit der Captain. »Nein!« schreit Bergusson… jetzt schreien sie alle drei, aber die Düsen heulen plötzlich dazwischen, die Schwerkraft drückt ihnen die Füße auf den Boden… sie sinken nicht mehr – sie steigen!
Die Boeing gewinnt an Höhe; A-LBO schweigt. Stallberg schreit, Lindemann springt im Kreis wie ein Derwisch… Trimmel zieht den Kopf zwischen die Schultern: sie werden ihn totschlagen noch vor Bergusson.
»Ihr könnt keine Landeerlaubnis für Finkenwerder kriegen!« schreit Stallberg. »Feininger… hörn Sie doch! Sie gehen ungespitzt in den Modder!« »Sagen Sie’s dem Kerl doch selbst!« kreischt die Stimme des Captain. »Finkenwerder darf nur bis Sonnenuntergang angeflogen werden!« schreit Stallberg. »Mister, das gibt ‘n Massenmord!« »NEIN«, gellt’s von oben – endgültig nicht mehr menschenähnlich. Sekundenlang Totenstille. Endlich wieder Feininger, müde, resignierend: »Komm, gib mir die Landeerlaubnis!« »Nein!« sagt Stallberg kraftlos. »Dann geh’ ich ohne Landeerlaubnis runter… wie lang ist die Bahn?« Stallberg schlägt die Hände vors Gesicht. Lindemann hat das Luftfahrthandbuch aufgeblättert und legt’s neben den Radarschirm. Stallberg nimmt die Hände wieder weg… das hat doch kein Mensch im Kopf, AIP I GERMANY, magische Ziffern und Buchstaben, Kennzeichen für Finkenwerder… »AGA drei… COM zwei…«, murmelt Stallberg. »EDHI…« »Lauter!« verlangt der Captain. »Die Landebahn ist dreizehnhundertsechzig Meter lang und dreißig Meter breit!« Ich hätte lügen sollen! denkt Stallberg – aber weiß ich denn, wieviel dieses Arschloch tatsächlich von der Fliegerei versteht? »Das reicht aus, sagt er!« höhnt Feininger. »Unser Mister kennt die Coronado-Geschichte, er weiß besser Bescheid als wir…« »Sagen Sie ihm, das war am hellen Mittag!« »Mensch, hab’ ich doch!« sagt der Captain niedergeschlagen. Die Boeing donnert im leichten Steigflug über Niendorf und Stellingen, Nähe Fernsehturm, Volkspark und Hauptfriedhof Altona.
Und ausgerechnet Elmar Jürgens tut inzwischen unter den Augen von Lindemann das einzig Vernünftige: er alarmiert die Flugplatzwache von Finkenwerder: »Die entführte Air Europe will bei euch runter! Besetzt den Tower… jagt die Feuerwehr raus!« »Ach, du Scheiße!« sagt der Mann vom Bereitschaftsdienst Finkenwerder – der Hundertste oder Zweihundertste, den das Entsetzen packt an diesem Abend.
»Was ist nun?« sagt Feininger. Er hat das Steuer wieder übernommen. »Soll ich gleich in die Elbe fliegen?« »Ziffer fünf der Prozedur!« sagt Stallbergs Stimme lakonisch. »Was heißt das?« »Platzrunden in tausend Fuß GND. Sobald es soweit ist, erfolgt Ihre Landefreigabe durch den Kontrollturm Finkenwerder, im Bedarfsfall durch Lichtzeichen, wechselseitig in beiden Richtungen…« »Soll das heißen, daß die da nicht mal Funksprechverkehr haben?« »Doch, doch… steht hier nur im Handbuch für alle Fälle…« »Aha… und warum kann ich nicht sofort runter?« »Der Controller wird noch geholt…« »Haben die denn nur einen?« »Ja, normalerweise ist das ja auch…« »Ja. Normalerweise. Ihr denkt dran, daß wir sowieso gleich runterfallen, weil der Sprit alle ist?«
Controller Bodenberg wohnt in Finkenwerder zwischen dem Neß- und dem Norderdeich, genau auf deren Grenze. Er ist happy und etwas erschöpft und raucht mit seiner Frau die vermeintlich letzte Zigarette des Tages, als es Sturm läutet.
Bodenberg reißt das Schlafzimmerfenster auf. »Is ‘n los?« »Komm Se sofort!« schreit der Mensch draußen, einer vom Bereitschaftsdienst. »Dieser Hijacker will bei uns runter!« »Hijacker?« sagt Bodenberg fassungslos. »Ja, sicher… das Fernsehen ist doch voll davon…« »… Fernsehen?« »Komm Se gleich!« fleht der Mann. »Der Captain hat keinen Sprit mehr… es brennt!« Bodenberg greift über seine Frau hinweg nach Hose und TShirt. »Es brennt«, sagt er in Panik, »zieh dir was an, fahr die Karre raus…« Mitten in der Bewegung bleibt er stehen, mit der Hose auf halber Höhe. Karre raus! denkt er… gerade vorhin hat er doch noch gelesen, wie sie im Rußlandkrieg nachts ihre Kameraden rausgeholt und mit deren Scheinwerfern die Rollbahn beleuchtet haben, wenn jemand landen mußte… Er ruft die Flugplatzwache an. Die Geschichte der Flutnacht hat er nie gehört; den Job hier draußen hat er erst ein paar Jahre. »Gib Großalarm!« schreit er. »Alle Autos zum Flugplatz… wir müssen ne Landebahnbefeuerung organisieren!« »Mensch, das ist doch das erste, was wir organisiert haben!« sagt der Mann am anderen Ende. »Sag mir lieber, wieso dein Telefon jetzt wieder funktioniert…« Keine Antwort mehr. Das Ehepaar Bodenberg, vom Lager geschreckt und notdürftig bekleidet, rennt nacheinander zur Garage – Telefon wieder funktioniert! Mein lieber Mann, denkt Bodenberg, wenn unsereiner schon mal vögelt! Das glaubt mir keiner, daß ich das Gebimmel nicht gehört habe, wenn der Vogel tatsächlich den Bach runtergeht!
Trimmel und Lindemann rennen aufs Vorfeld – zum Polizeihubschrauber, der am nächsten steht. Höffgen und Angelica Wagner sitzen schon neben dem Piloten; mit fünf Personen ist die kleine Mühle überlastet. »Mach dich mal klein, Mädchen!« Trimmels erstes Wort, seit er dazu beigetragen hat, daß der neue Horror hochkam. Mensch, ja… das ist ne Idee! Er hat in derselben Sekunde begriffen, daß er falsch getickt hat. Bloß: was hilft’s jetzt? Sie sind in drei Minuten oben und sehen deutlich die Blinklichter der AE 612. Die Boeing kreist über dem Schweinesand. Lindemann schaut nach unten. Noch knattern sie über Flottbek, Othmarschen, den Jenisch-Park – dann kommt Teufelsbrück. Finkenwerder voraus… sie erkennen es mit bloßem Auge: es sieht dort aus wie bei einem Nachtstart in Le Mans.
Controller Bodenberg springt vor dem Tower von Finkenwerder aus dem Auto. Seine Frau fährt gleich weiter zur Piste: jedes Auto wird dort gebraucht. Bodenberg läuft die 117 Stufen im Tower hoch, der mit seinen rotweißen Querstreifen wie ein Leuchtturm aussieht, und denkt erbittert: Flugzeuge können sie bauen hier draußen, aber keinen Fahrstuhl! Die Post, die nachmittags immer unten abgelegt wird, bis sie einer mit nach oben nimmt, hat er liegenlassen. Dann drückt er seine Knöpfe und Schalter; sie haben hier ebenso ihre eigene Frequenz wie in Fuhlsbüttel. Er versucht es erst gar nicht auf englisch, sondern spricht den Captain gleich deutsch an: »Hallo, Captain. AE sechs eins zwo, hier ist der Kontrollturm Finkenwerder… hören Sie mich?« »Natürlich hör’ ich Sie. Sind Sie endlich an Deck?«
Bodenberg überhört’s. »Wir sind dabei, die Landebahn zu befeuern. Haben Sie Positionsfragen?« »Verdammt, nein! Roger, Amigo!« »Dann dürfte es in zehn Minuten soweit sein. Anflug von Nordost. Setzen Sie direkt auf der Höhe des Towers auf – da, wo die Notbefeuerung beginnt…« »Ja, ja. Ich kann ja auch segeln!« sagt Feininger müde.
Es ist fast genau derselbe Anflugwinkel wie in Fuhlsbüttel. Wenn sie richtiges Licht hätten in Finkenwerder, hätte die Boeing einfach geradeaus fliegen und landen können. Die Leute von den Nachtschichten in den Hangars, in denen derzeit der Hansa-Jet HFB 30, der Transall-Transporter, der Teilrumpf für Fokker und Teile für den Airbus A 300 B gebaut werden, schwärmen aus. »Siehste«, sagt einer, den man aufgefordert hat, mit seinem Auto an die Piste zu fahren, »jetzt könn’se froh sein, daß wir immer gemeckert haben, bis wir vernünftige Parkplätze gekriegt haben!« Frick, der Leiter der Werksfeuerwehr, regelt den Einsatz. »Das erste Fahrzeug ans Ende der Piste und querstellen. Die anderen neben der Landebahn beidseitig schrägstellen, immer anschließen. Abstand von der Piste fünfzig Meter, Scheinwerfer schräg nach innen voll aufblenden…« So donnern sie los. Wie nachts in Le Mans. In zehn Minuten ist die Landebahn tatsächlich erleuchtet – ein bißchen streifig wie ein nicht ganz richtig eingestelltes Fernsehbild, aber aus der Luft von vorn bis hinten deutlich zu erkennen, besser als je in Rußland… »Ich geh’ jetzt runter«, sagt Feininger, »mein Sprit steht auf Null, ich muß runter…« Er muß und soll. Hoffentlich kann er auch.
Aber jetzt sieht man erst, welche Qualitäten der Flugkapitän Richard Feininger besitzt, wenn’s darauf ankommt. Er bastelt eine Landung sanft wie ein Cremetörtchen: Über Teufelsbrück hat er noch 50 Meter Höhe. Zwischen Elbe und Rüschkanal schneidet er die Landzunge an, das äußerste nordwestliche Ende des Geländes der Deutschen Werft; er donnert dicht über Dächer, im Neßkanal schäumt das Wasser auf, die Weiden am Ufer biegen sich. Zwei große X in Leuchtfarbe rasen heran… Weich wie Butter setzt er auf. Dann allerdings mit roher Gewalt – mit einer solchen Umkehrung des Schubs, daß der Riesenvogel mit den grellen Scheinwerfern aufheult wie eine mit dem MG zusammenkartätschte Elefantenherde. Zwei Männer, die entgegen der Weisung von Feuerwehrchef Frick in ihren Autos sitzengeblieben sind, werden für Stunden taub sein. »Er schafft’s!« schreit Lindemann, inzwischen oben im rotweißen Tower. Trimmel neben ihm zündet die kalt gewordene Zigarre umständlich neu an und sieht gar nicht hin. Höffgen ebenfalls nicht; er besieht sich Angelica schräg von der Seite und denkt: jetzt ist sie gleich dran. Und 1300 Meter entfernt, auf dem Wendeplatz über der großen Ziffer 05, dreht sich Feiningers Boeing auf der Stelle. Sie rollt gemächlich, immer noch mit vollem Scheinwerferlicht, die Bahn zurück, nach dem Lärm von vorhin fast unhörbar… rechts vorbei an den Kompensationsständen der Transallund den Motorprüfständen der Noratlas-Maschinen. Der Windsack zeigt ganz leichten Westwind an. »Stop!« schreit Bodenberg entsetzt.
Aber Feininger hat die kleine FN-Pistole wieder im Genick. Er spürte das warme Metall. Bergusson sagt: »Weiter… noch weiter… weiter…« Meter für Meter. Über die Höhe Tower hinaus, das letzte Stückchen der Landebahn. Feininger ist längst alles egal: er wird auch den Zaun niederwalzen, wenn Bergusson es verlangt, über die Straße rollen und die Boeing kopfüber in den Kanal stürzen lassen, mit dem Cockpit zuerst… Die Piste ist zu Ende. Noch ein Stückchen Beton bis zum Zaun, gerade noch so breit wie der Radstand der Boeing. »Weiter! Oder ich drück’ ab…!« Du schon! denkt Feininger. Er glaubt ihm aufs Wort, weil er ja weiß, warum er rollt: die Maschine darf hier nicht mehr raus, nicht aus eigener Kraft… alles kann für Bergusson umsonst gewesen sein, immer noch… Das Flugzeug bleibt mit den Rädern im eisernen Zaun hängen. Das Bugrand ragt weit in die Straße entlang des Flugfelds. »Weiter!« knirscht Bergusson. »Durch den Zaun! Den bezahl’ ich schon!« »Mister«, sagt Feininger, »ob Sie’s glauben oder nicht, es ist so weit. Ohne Sprit kann ich nicht mal rollen…« »O Gott!« sagt Bergusson leise. Feininger sackt, von der Pistole weg, über dem Steuer zusammen. Söltner stellt die Triebwerke ab, Sekunden, bevor sie von selbst ausgehen. »Was nun?« Hackfleisch machen aus Bergusson, wenn’s nach ihm geht. Bergusson ist zwar zwei Schritte zurückgetreten, hat aber die Pistole immer noch in der Hand und im Anschlag. Wie ein Sarg steht A-LBO in der Nacht. Immer noch mit voll aufgeblendeten Scheinwerfern. Der Tankwagen und selbst der Sanitätswagen bleiben in respektvoller Entfernung stehen.
Ebenso die Versorgungswagen, die fahrbare Treppe für die vordere Tür… Okay, die Maschine fliegt nicht mehr – aber das ist der einzige Unterschied. Sowohl die vordere als auch die hintere Tür bleiben geschlossen. Lindemann und Trimmel und ein paar Leute mehr stehen eng wie die Heringe im Kontrollturm. Funksprechverkehr: nach wie vor die einzige Möglichkeit, mit dem Captain zu sprechen. »Warum öffnen Sie die Türen nicht, Captain?« fragt Bodenberg. Er ist nervös, obgleich ihm gerade ein Riesenstein vom Herzen gefallen ist. »Was ist mit Ihren Verletzten… was ist los?« Feininger: »Er hat gemerkt, daß wir nicht in Fuhlsbüttel gelandet sind!« Bodenberg: »Wen meinen Sie?« Feininger: »Racadi… den hinteren!« Bodenberg: »Woher wissen Sie das?« Feininger: »Meine Stewardeß… nein, nicht Gaby, die andere! Sie hat ihn gefragt… er hat sie angebrüllt und es ihr gesagt…« Bodenberg: »Weiß der Mann denn auch, daß Sie mitten im Dreck stecken?« Pause. Dann Feininger, leise: »Ich glaub’ nicht…« »Also, dann ist doch alles relativ klar!« sagt der Controller Bodenberg. »Dann muß er doch einsehen, daß die Maschine erst mal leer werden muß!« »Okay«, sagt Feininger, »ich versuch’s…«
Die Passagiere hängen apathisch in ihren Sitzen. Racadi hat Wasser und Licht gesehen – man hätte die ganze Elbe verdunkeln müssen, um das zu verhindern, Schiffe und Kräne,
den Hafen und die Menschen mit ihren Autos wegzaubern müssen… es mußte so kommen. Die Maus in der Falle? Racadi gibt trotzdem nicht auf. »Toilette!« herrscht er Gaby an. In der Toilette stellt er sich direkt neben die Tür, die offenbleibt – Gaby hält er als Schutzschild vor sich. Es knackt im Lautsprecher; der Captain: »Mister Racadi, wir sind in Hamburg – ich schwör’s Ihnen, wir sind nur auf einem kleineren Flugplatz gelandet, in Finkenwerder, auf Anweisung der Flugsicherung. Aber wir können auch von hier aus wieder starten, nur muß die Maschine ganz leer sein… alle Menschen, alle Koffer müssen raus, sonst ist die Startbahn zu kurz…« Ully, die Botin zwischen den Pistolen, tritt wieder in Aktion. »Leute aussteigen lassen!« schreit Racadi ihr entgegen. »Aber nur vorne Tür auf!« Ully rennt zurück. Und endlich öffnet sich die vordere Tür für die Rolltreppe.
Als erster wird der von Racadi über den Schädel geschlagene Dr. Holtzmann von Ully herausgeführt, unkenntlich unter einem dicken Kopfverband, und den eilig herbeilaufenden Sanitätern übergeben. Dann folgen die anderen – jammervolle, übernächtigte Gestalten. Klaus Lange stützt den blutverschmierten Henri Lempp, der eine Gehirnerschütterung hat und außerdem mindestens noch zwei Promille. O ja! denkt Ully auf dem Weg zurück ins Flugzeug, wo sie noch gebraucht wird. Dieses besoffene Schwein… das ist doch einer von denen, die den Araber wütend gemacht und uns das Ding mit der DDR eingebrockt haben!
Sie ist schon halb die Treppe hoch, als sie kehrt macht und zu einem Boot der Wasserschutzpolizei läuft, das mit zwei. Beamten an Bord im Neß dümpelt, nur ein paar Meter vor dem Bug der Maschine. »Die da!« sagt sie rachsüchtig und zeigt auf Lange und den blutverkrusteten Lempp. »Die haben kiloweise mit Dollars rumgeschmissen… kümmern Sie sich mal um die!« Die Polizisten sehen sich an; Ully läuft wieder weg. »Komm!« sagt der eine. »Man weiß ja nie…« Diese Sache fliegt dann sehr schnell auf. Lange hätte ja noch alles abgestritten… aber Lempp, schnell zu Trimmel gebracht, zetert lallend was von Rauschgift und schmeißt abermals mit Dollars um sich, Trimmel direkt vor die Füße… Trimmel hat weiß Gott was anderes zu tun. Aber als der Betrunkene die Namen Olaf und Mona nennt, fällt’s ihm wie Schuppen von den Augen: der Typ, der vorhin die Treppen zur Flugsicherung hochrannte! Olaf Dingsbums! »Festhalten!« schreit er, schon auf dem Weg zur Boeing draußen. »Auf jeden Fall festhalten, die beiden!«
Woher er das Megaphon hat, weiß er selbst nicht. Er hat’s schon vergessen, als er auf die Boeing zugeht… wuchtig, einsam, entschlossen wie Gary Cooper in High Noon, vorverlegt auf nachts um zwei. Aber das sieht nur so aus. Trimmel hat fürchterliche Angst vor dem Sterben, gar nicht mal so sehr vor dem eigenen… Was ist, wenn diesem Mädchen, Racadis Geisel, doch noch was passiert? Wenn irgendwo an Bord doch noch eine versteckte Handgranate hochgeht… ein Mensch durchlöchert wird, der Captain oder auch nur Bergusson? Seine Schuld wär’s. Unter anderem seine Schuld. Mensch ja… das ist ne Idee!
Riesengroß ragt die Boeing vor ihm auf. Seine gottverdammte Idee. Hinter ihm folgen in sicherer Entfernung Lindemann, Höffgen und das Mädchen Angelica. Ein paar Schritte weiter zurück Elmar Jürgens, der es irgendwie geschafft hat, in einen Hubschrauber reinzukommen. Noch ein paar Meter dahinter Rita Lohmann, die Reporterin mit ihrer kleinen Yashica-Kamera. Für sündhaft teures Geld ist sie mit dem Taxe hergerast, durch den Autobahn-Elbtunnel und über Waltersdorf – zäh wie eine Klette bei der bisher größten Geschichte ihres Lebens. Dabei immer noch taufrisch wie der junge Morgen. Gleich knallt’s! denkt sie. Und es läuft ihr kalt über den Rücken.
11
Die haßerfüllten Blicke der letzten ausgestiegenen Passagiere haben ihn durchlöchert. Verkrustetes Blut klebt auf zwei blutverschmierten Hundertdollarscheinen vor ihm auf dem Boden. Aber Gaby in seiner Gewalt… den stärksten Trumpf hat Racadi immer noch. Die Geisel – und seine Pistole. Draußen geht Trimmel mit dem Megaphon bis dicht neben die Treppe, neben die offene Tür. Dann klettert er noch zwei Stufen hoch. »Herr Racadi?« Die Stimme, durch das Megaphon verstärkt, hallt durch die Nacht und bricht sich an den Gebäuden. »Herr Racadi, vielleicht kennen Sie mich… ich heiße Trimmel und bin von der Polizei. Nehmen Sie sich eine Flüstertüte und sagen Sie mir, ob Sie mich verstehen können!« Racadi sieht Gaby an. »You shall get the megaphone…«, sagt Gaby und deutet auf die Hutablage. »Da, das Megaphon…« Racadi nimmt’s und pustet zweimal hinein. »Ja, ich höre Sie!« Leicht verzerrt, aber deutlich zu verstehen. »Okay. Also passen Sie auf: was der Captain gesagt hat, stimmt. Bloß kann die Maschine hier nicht drehen in Richtung Startbahn. Sie können nicht starten von hier aus. Aber ich sorge dafür – Sie kommen trotzdem raus!« »Nehmen Sie Traktor!« »Gibt keinen Traktor in Finkenwerder! Aber es…« »Sie holen Traktor! Oder ich töte Mädchen!«
»Das tun Sie nicht! Das gibt ne Riesenschießerei, dabei werden Sie selber umgelegt, das garantier’ ich Ihnen! Dem Mädchen darf nichts passieren!« Pause. Dann, hartnäckig nochmals: »Sie holen Traktor! Oder kein Traktor in ganz Hamburg?« Wieder Pause. Als Trimmels Stimme sich dann meldet, klingt sie resigniert, trotz des Echos. »Okay, wir holen den Traktor. Aber es kostet viel Zeit…« »Sie nicht versuchen Trick?« »Nein!« dröhnt Trimmels Stimme. »Also, was Sie wollen?« »Nichts! Ich will Sie laufenlassen, nach Beirut fliegen lassen…« »Aber warum Entführung?« »Ich hab’ Sie nicht entführt! Ich hab’ Sie nicht nach Hamburg geholt… ist das klar?« »Glaub’ nicht. Aber ist egal…!«
Bergusson hört atemlos zu. Als Ully rausgegangen ist – die letzte Person, die an Bord jetzt nicht mehr gebraucht wird –, hat sie die Cockpit-Tür nicht richtig geschlossen. Bergusson hört jedes Wort. Trimmel will Racadi laufenlassen? denkt er. Eher legt er sie beide um, wenn sie ihm vor die Mündung kommen… sogar das nimmt er jetzt in Kauf. Nur nicht den Traktor und den neuen Start und Racadis Flucht… Feininger hat die beiden Enden des Steuers umklammert und hängt kraftlos vornüber, immer noch. Söltner schiebt sich, Millimeter für Millimeter, von seinem Sitz in Richtung Bergusson. Feininger merkt’s, Bergusson noch nicht… Bergusson späht nach hinten und sieht Racadi, durch die Stewardeß allerdings gut gedeckt…
Ein Feuerzeug fällt zu Boden, und Bergusson fährt herum – gerade noch rechtzeitig, um Söltners Angriff zu bemerken und zu parieren. Bergusson schießt… der Schuß geht in die Armaturen über den Pilotensitzen… dann starren sich alle drei an. Dann kommt Bergusson eine Idee: er hebt die Waffe und jagt fünf weitere Schüsse in die Armaturen; es dröhnt grauenhaft – aber diese Maschine wird vorerst tatsächlich nicht mehr starten! Söltner und Feininger haben sich zur Seite geduckt. Aber Söltner hat mitgezählt… erst ein Schuß und dann noch fünf, also insgesamt sechs Schüsse… es ist ihm jetzt egal, ob eine siebente Patrone im Lauf war, wahrscheinlich ist das Magazin leer… Auch Bergusson begreift’s. Und als Söltner aufspringt, hat er schon verloren: Söltner reißt Bergusson zu Boden und dreht ihm im Fallen den Arm um. Die Pistole rutscht über den Boden, Söltner schlägt Bergusson mit aller Gewalt auf den Unterarm und dann erst ins Gesicht. Feininger kommt zu Hilfe… dann haben sie Bergusson überwältigt! Dann muß Feininger gegen Söltner kämpfen, um zu verhindern, daß er Bergusson totschlägt.
Es knallt nochmals. Noch zweimal: zwei sinnlose Schüsse von Racadi in Richtung Cockpit, als Söltner den zusammengeschlagenen Bergusson nach draußen schleppt. Die Schüsse treffen nicht auf die Distanz von hinten bis vorn – und mehr als zweimal schießt Racadi auch nicht; leider nicht mehr als zweimal, denkt Feininger: nach dem sechsten Schuß wäre er nach hinten gerannt wie ein Stier.
Die Sanitäter ziehen Bergusson weg zum Krankenwagen, während Trimmel schreit: »Racadi… wer hat geschossen?« Grausame fünf Sekunden… ossen… ossen… ossen… hallt es von den Hangars zurück. »Ist jemand getroffen worden… jemand verletzt? Ihre Geisel? Antworten Sie, Racadi!« Und endlich tut er’s. »Mädchen gesund. Bergusson auf mich geschossen, ich auf Bergusson… ich nicht getroffen!« »Aber Sie haben gewonnen, Racadi! Ihr Feind ist erledigt… überwältigt! Bewahren Sie Ruhe!« »Was ist mit Traktor?« Trimmel zögert. »Ich melde mich wieder…«
Er kann den Krankenwagen vor der Abfahrt gerade noch stoppen. »Was genau ist da drin passiert?« fragt er Bergusson hastig. Der grinst verzerrt – aber vielleicht sieht es auch nur so aus durch das Blut in seinem Gesicht. »Die Armaturen sind kaputt… er kommt so und so nicht mehr hoch, ich hab’ sie kaputtgeschossen!« Trimmel rennt zurück zur Treppe, nimmt das Megaphon – und weiß nicht weiter. Alle warten gespannt. Elmar Jürgens: verrückt vor Angst. Rita Lohmann von der Presse: nervös, weil sie neben dem Tower ein Auto von der Konkurrenz gesehen hat. Und Lindemann, der Jürgens versprochen hat, daß die Maschine nur über seine Leiche gestürmt wird – Lindemann ist scheinbar die Ruhe selbst. Dabei steht inzwischen mindestens eine Hundertschaft vom Mobilen Einsatzkommando in der Nähe des Flugzeugs herum, viele mit kugelsicheren Westen. Alle Boote der Wasserschutzpolizei haben Einsatzbefehl nach Finkenwerder
bekommen, hängen am Steg oder dümpeln vor der Halbinsel im Strom. Funkstreifenwagen, wohin man sieht im ersten Zwielicht des Morgens. Ein Heerlager in Finkenwerder. Ein ganzes Heer gegen den letzten, der eine Geisel hat.
Trimmel hebt das Megaphon. »Herr Racadi… Bergussons Schüsse vorhin… die haben irgendwelche Leitungen zerstört, die Maschine ist flugunfähig! Wir müssen einen anderen Weg finden…« »Nehmen Hubschrauber! Bringen mich und Geisel zu anderem Airport, dort neues Flugzeug!« »Ja, das geht!« sagt Trimmel. Scheiße! denkt er; ich muß es ihm ausreden, entkommen soll er ja nicht… »Sie antworten!« dröhnt Racadis Stimme. »Ich antworte ehrlich!« sagt Trimmel ins Megaphon. »Sie können wirklich abhauen von mir aus… aber ein Hubschrauber ist für Sie viel zu gefährlich!« »Warum?« »Viel zu eng… keine Chance für Sie. Ich mach’ Ihnen einen anderen Vorschlag…« »Welchen?« »Sie kommen raus mit Ihrer Geisel. Wir sind hier auf ‘ner Art Insel. Sie und das Mädchen werden mit einem Boot ans andere Ufer gebracht. Von dort per Auto zum Flughäfen… alles klar?« Nichts ist klar. Aber Racadis Stimme dröhnt nur noch müde: »Sie müssen trauen!« Die letzte Pause. Dann Racadi: »Gut. Ich lebenslänglich, wenn ich töte. Aber großer Skandal, wenn ich töte Stewardeß, großer Skandal für Polizei!« Trimmel: »Es gibt keinen Skandal!«
Racadi: »Gut. Ich komme mit Mädchen. Ich sofort schießen, wenn…« Trimmel: »Nicht schießen!« Racadi: »Los!« Trimmel schreit den Captain an, Feininger, den einzigen Mann außer Racadi, der noch an Bord ist und im Cockpit wartet, wie’s weitergeht: »Captain… Sie haben’s gehört, er will raus! Er soll raus! Öffnen Sie die hintere Tür!« Feininger öffnet die hintere Tür; Gott sei Dank ist wenigstens diese Mechanik nicht zerschossen worden. Erst kommt Gaby, dann die Pistole, dann Racadi, ohne Abstand dazwischen. Gleich kommt Angelica! denkt Trimmel.
Lindemann steht jetzt neben Trimmel. Der Himmel wird jetzt deutlich heller. Trimmel murmelt: »Bis die den am Flughafen haben…« Lindemann sagt scharf: »Denken Sie an das Mädchen!« Trimmel gähnt vor Anstrengung. »Überlassen Sie doch einmal was der Polizei!«
Als Gaby Schlitter Elmar Jürgens sieht, sackt sie zusammen. Trimmel, die Arme halb hoch, ruft ihr zu: »Steh auf… er tut dir nichts!« Sie kommt wieder auf die Beine. Und sie gehen weiter, in der alten Reihenfolge, um das Flugzeug herum: Gaby, die Pistole, Racadi. Verdammt, denkt Trimmel, warum hat Höffgen nicht dafür gesorgt, daß wenigstens dieser Jürgens sich nicht ranmogeln konnte? Soviel hat er ja mit Angelica nun auch nicht zu tun – die läuft hier bestimmt nicht weg!
Racadi sieht Trimmel – den Mann mit dem Megaphon und den erhobenen Armen. »Vorangehen!« sagt Racadi. Ein Fall für Scharfschützen? Der umstrittene Todesschuß… Racadi ins Gehirn schießen, bevor er abdrücken kann? Trimmel geht voran, Richtung Bootssteg, und hofft inständig, daß keiner auf dumme Ideen kommt. Bis zum Bootssteg ist es eine ganze Ecke zu laufen.
Dann reißt sich Angelica Wagner von Höffgen los und rennt quer über das Vorfeld auf Racadi zu. »Femal!« schreit sie. »Ich bin’s, Femal… Angie…« Höffgen macht zwei Laufschritte hinter ihr her und bleibt stehen. So doch nicht! denkt Trimmel entsetzt. Auch er bleibt stehen – und mit ihm stoppen zwangsläufig Gaby und Racadi. Bis Angelica heran ist… Es läuft total schief. Racadi hat die Pistole in der rechten Hand und drückt Gaby die Mündung in den Rücken. Als Angelica die Arme ausbreiten und ihn umarmen will, tritt er ihr mit aller Kraft in den Bauch. Sie stolpert und stürzt, rutscht zwei Meter über den Beton und bleibt liegen. »Femal«, wimmert sie, »Femal…« Irgend jemand hebt sie auf und schleppt sie zu Höffgen. Die Karawane ist schon weitergezogen – Trimmel, Gaby, die Pistole und Racadi.
Der Morgen ist da – aber kein Autobesitzer in Finkenwerder denkt daran, seine Scheinwerfer auszuschalten. Nur die Scheinwerfer am Flugzeug verlöschen… dann wankt Feininger
aus der Boeing. Er wankt zum ersten Mal, seit er vier Streifen am Ärmel hat… und jetzt nimmt er die Flasche, die ihm jemand reicht, und trinkt, ganz egal, was. Er sieht Gaby und ihre Eskorte, die sich langsam entfernt… Lieber Gott! denkt er. Laß sie am Leben bleiben!
Das Wasserschutzboot. Das vorderste, das sofort abfahren kann. Ein einziger Polizist in Uniform ist an Bord. Trimmel dreht sich um. »Gleich das da!« Racadi sagt: »Los!« Er schiebt Gaby mit der Pistole über den winzigen Steg und springt gleichzeitig mit ihr an Bord. Trimmel will nachkommen. »Nein!« sagt Racadi. »Sie hierbleiben!« Da sagt der Wasserschutzpolizist am Steuer fast gemütlich: »Irgendeinen brauch’ ich aber, der die Leinen losmacht, Bester!« »Kein Polizist!« sagt Racadi. Er sieht sich um, entdeckt einen Zivilisten und winkt ihn mit der Pistole heran… Trimmel stockt der Atem. Jürgens… wie ist er nun auch noch hierhergekommen? Elmar Jürgens springt leichtfüßig auf den Steg und sagt lässig: »Das mach’ ich schon!« Er hat’s wahrscheinlich noch nie gemacht, aber vielleicht kann er ein bißchen segeln, oder er hat mal zugesehen. Jedenfalls kriegt er die Leinen los und springt gerade noch in das Boot, das sofort losrauscht, auf die offene Elbe zu. Gaby starrt ihn an wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt… er wirkt gelockert, wirklich wie ein zufälliger, freiwilliger Helfer, der mit der Sache im Grunde nichts zu tun hat. Nicht mal einen Lidschlag gönnt er ihr als Gruß. Die offene Elbe. Und die Bugwelle schäumt auf in Richtung Teufelsbrück: das Boot wird kleiner.
Der zerschlagene Bergusson im Krankenwagen murmelt: »Hunger!« Ausgerechnet Söltner hat ihm unmittelbar vor seinem Abtransport einen Apfel auf die Trage gelegt… er greift danach. Aber er hat Schwierigkeiten mit dem Beißen; ein Sanitäter nimmt ihm den Apfel wieder weg. Und auch das passiert in diesen Minuten: Russmeyer von der American Oil, der sich nach Höffgens Anruf doch informiert hatte und dann sofort nach Finkenwerder gerast ist, wird in der Nähe der Boeing von einem Polizisten grob zur Seite gedrängt: »Hauen Sie ab! Die Show ist vorbei!« Im Gegensatz zu seinem Amts Vorgänger Bergusson, der immer auf den Punkt genau zur Stelle war, ist Russmeyer zu spät gekommen; da hilft alles Protestieren nichts. Rita Lohmann vom ECHO haut freiwillig ab – froh und glücklich, daß sie wenigstens Bergussons dramatischen Abgang aus der Maschine noch als exklusives Foto hat, nachdem inzwischen die Reporter zuhauf da sind, sogar das Fernsehen. Das Fernsehen hat sich Bodenberg gegriffen und vor die leere Boeing gestellt. »Also, man sollte das sicher nicht zur Regel machen mit dieser Art von Landebahnbefeuerung«, sagt Bodenberg in die Kamera, »aber die alten Tricks aus Rußland haben ja doch mal wieder hingehauen, nicht wahr? Wobei man natürlich noch nicht weiß, wie die Sache an sich zu Ende geht…« Trimmel, schließlich, steht am Hubschrauber und hat Teufelsbrück auf Empfang und Sendung. »Fahrt den Kerl zum Flughafen, dort trefft ihr mich, ich starte gerade. Und – paßt um Gottes willen auf das Mädchen auf!«
Vor Teufelsbrück fällt die Bugwelle dann in sich zusammen. Letzte krause Wasserwirbel. Der Mann, der steuert, macht eine harte Anlege – eine Anlege wie eine Boeing bei einer Aufsetze bei Windstärke neun… Gaby stolpert, Racadi stolpert. Und genau in dieser Zehntelsekunde, in der das Boot an die Anlegestelle kracht, springt Elmar Jürgens. Er fliegt drei Meter weit durch die Luft und erwischt Racadis rechte Hand – die Hand mit der Pistole… Die Pistole geht los – ins Leere. Der Knall dröhnt in den Ohren nach. Sie prügeln sich. Racadi prügelt sich um seine Freiheit und um sein Leben. Jürgens prügelt sich um sein Mädchen und um sein Leben. Dann prügelt er sich nur noch um sein Leben – Racadi ist stärker. »Halt ihn fest!« schreit der Bootsführer. Aber Racadi ist jünger… doppelt so stark – doppelt so gewandt und brutal… Da läßt der Wasserschutzpolizist das Steuer, los und das Boot treiben. Er geht breitbeinig hin, zerrt Racadi, der auf Jürgens liegt, hoch und schlägt ihn systematisch zusammen. Erst, als der Mann bewußtlos ist, steuert er sein Boot an den Steg zurück, wo jetzt fünf Polizisten mit gezogenen Dienstwaffen stehen… »Steckt man weg!« ruft der Bootsführer. Einer steckt sofort weg und springt an Bord. Er wirft dem nächsten, der weggesteckt hat, die Leine zu. Währenddessen liegt der freiwillige Helfer von vorhin jetzt über Gaby. Elmar Jürgens hat sein Mädchen umklammert, als wolle er es nie mehr loslassen. Und beide schluchzen. Der Bootsführer sieht’s und steckt sich gelassen eine Zigarette an. Dann sagt er allen Ernstes: »Wat mut, dat mut!«
»An Ihrer Stelle würde ich mir darauf überhaupt nichts einbilden!« sagt Lindemann laut durch das Hubschraubergeknatter ringsum in Fuhlsbüttel. »Sie glauben nicht im Ernst, daß das nicht noch das notwendige Nachspiel hat… Ihr verdammter Sieg!« »Ja, ich weiß!« schreit Trimmel zurück. Sie gehen über das Fuhlsbütteler Vorfeld zurück zur Flugsicherung. Diesmal sind sie getrennt geflogen, haben es aber beide über Funk gehört, noch in der Luft… »Ihre Superideen!« giftet Lindemann. Er bleibt stehen; erst nach und nach wird der Schock spürbar. Er platzt gleich, denkt Trimmel… »Haben Sie da eigentlich den Verstand verloren?« fragt der Leiter der Flugsicherung. »Können Sie mir wenigstens annähernd erklären, was Sie sich dabei gedacht haben? Statt dem Kerl diese Scheißidee mit Finkenwerder auszureden?« Trimmel schweigt. »Also nicht!« Lindemann geht weiter. Und bleibt gleich schon wieder stehen. »Bergusson und Racadi kommen ins selbe Krankenhaus. Werden Sie ihnen wenigstens Doppelposten vor die Tür stellen?« Nebenan landet mit ihrem Geknatter der nächste Hubschrauber. »Klar!« schreit Trimmel. »Da passiert nix!«
12
Düsenmaschinen donnern über die Stadt, als die ersten dicken Schlagzeilen erscheinen; AE 612 in 24 Zentimeter großen Lettern, sieben Stunden später. Weiße Streifen am Himmel kreuzen sich und zerfließen, wenn wieder Flugzeuge gestartet sind und bevor sie landen – nur in Fuhlsbüttel natürlich; in Finkenwerder laden sie – Höffgen ist dabei – die Boeing gerade erst aus und ziehen sie aus dem Dreck. Ihr Captain, Feininger, schläft und schläft und wird gar nicht mehr wach am Tag seiner Wiedergeburt und seines Triumphes; Söltner dagegen trinkt ein Bier schon zum Frühstück. Und Gaby schläft mit Elmar Jürgens in seiner Bude am Schlump; er hat sie um neun Uhr früh einfach aus dem Krankenhaus mit zu sich nach Hause genommen. »Es ist nichts passiert!« hat sie gesagt. Es ist das Understatement des Jahrhunderts – aber er hat natürlich begriffen, was sie meint. Er hat nichts gefragt; er hat sie einfach in den Arm genommen. Ein Amtsrichter stellt Haftbefehle aus für Max Bergusson und Femal Racadi. Omar Bahrein und Angelica Wagner bleiben auf freiem Fuß; gute Anwälte allerdings werden sie möglicherweise noch dringend brauchen. Der beste und teuerste Strafverteidiger Hamburgs ist schon weg: American Oil – Russmeyer persönlich – hat ihn für Bergusson angeheuert. Im übrigen kommt eine Meldung aus dem Polizeibericht angesichts der großen Hijacking-Geschichte zu kurz weg in den Lokalteilen der Mittagszeitungen:
RAUSCHGIFTHÖHLE AUSGEHOBEN! Nähe Sierichstraße… immerhin ein paar durchaus pikante Einzelheiten über halbnackte Mädchen und angeblich prominente Teilnehmer am großen Joint bei Olaf und Mona. Daß das mit der Fluggeschichte zu tun hat, daß Olaf und Mona ihre Festnahmen gleich bei der Heimkehr Lange und vor allem Lempp zu verdanken haben, zwei Passagieren von AE 612, von denen einer noch im Krankenhaus liegt – das hat nicht mal eine so clevere Reporterin wie Rita Lohmann rausgekriegt. Stoff also auch noch für die nächsten Tage.
Trimmel muß nachmittags um drei zum Polizeipräsidenten persönlich. »Gratuliere! Aber daß Sie da wenigstens teilweise für die Landung in Finkenwerder verantwortlich sind…« Augenzwinkern: »… das hätte ja doch leicht ins Auge gehen können, wie ich höre…« »Sie wissen also…?« »Ich weiß alles!« sagt der Präsident jovial. Hoffentlich stimmt das nicht. Hoffentlich hat Lindemann die heraufbeschworene Katastrophe wenigstens nicht allzu grell ausgemalt… aber das hat er ja wohl nicht, denkt Trimmel, sonst hätte ihm der Präsident mit Sicherheit schon ein Disziplinarverfahren angekündigt.
Und dann muß es ja sein. »Vorführen!« Zuerst Racadi. Auf dem Weg vom Krankenhaus in die Zelle; selbst nach Ansicht der vorsichtigen Ärzte ist er nicht
lazarettreif. Aber er sagt kein Wort, nicht mal seinen Namen oder guten Tag. »Hauen Sie ab!« sagt Trimmel ungnädig. Aber eben das kann Racadi ja nicht – zu seinem allergrößten Leidwesen… Dann Bergusson. »Machen wir’s heute kurz!« sagt Trimmel. Sein Herz schlägt schneller als sonst. »Ich danke Ihnen!« sagt Bergusson feierlich und streicht sich über die Pflaster auf seiner Stirn und am Kinn. »Bitte, bitte!« Hinterher erst geht’s Trimmel durch den Kopf, daß er damit den Dank eines verbrecherischen Luftpiraten angenommen hat… denn das ist er ja nun mal für den Rest seines Lebens, der ehemalige Herr im ehemaligen grauen Flanell aus der City. »Ich hätt’s nie für möglich gehalten«, sagt Trimmel lahm, »Sie hätten’s nicht tun sollen…« »Doch, doch«, sagt Bergusson, und um seinen Mund spielt ein fast entrücktes Lächeln, »ich bin wie erlöst!« Trimmel sieht ihn lange an. Er geht zum Schrank und holt die Flasche heraus, was er bei Bergussons vielen Besuchen früher nur ein einziges Mal getan hatte. »Sicher«, sagt er fast unhörbar, »ich auch. Trotzdem…« »Trotzdem was?« »Sie sind fürchterlich dran!« sagt Trimmel. »Sie kriegen mehr, als die Sache wert ist… zum Wohl!« Sie trinken, ohne sich zuzutrinken. »Ich hab’ wirklich noch versucht, mich in Ihren Kopf zu versetzen, als Sie da oben waren, als wir Ihnen auf die Schliche gekommen sind! Ich will wirklich ehrlich sein… wenn Se irgendwo mildernde Umstände hätten, ich hätt’ se gefunden! Ich hab’ mich Ihretwegen mit der Flugsicherung angelegt, ich weiß ja, was Sie durchgemacht haben, und ich weiß auch, was ich… aber ich hab’ mir ‘ne Blase gelaufen wie
noch nie. Alles schön und gut… Sie sehen in Mailand da diesen Racadi rumlaufen, und da drehen Sie durch, da klinkt’s aus, ganz spontan; bis dahin wär’ ja noch alles zu verstehen. Aber woher haben Sie die Pistole? Wieso laufen Sie offenbar seit Monaten mit ‘m Colt durch die Gegend? Da gibt’s doch nur die eine Antwort… Sie haben seit Monaten geplant, genau das Ding zu drehen, das Sie jetzt gedreht haben! Und da sind die Richter verdammt empfindlich!« Bergusson nickt. Er hat mehrfach genickt, ohne den Versuch zu machen, Trimmel ins Wort zu fallen. »Nu sagen Sie doch mal selber was!« sagt Trimmel entnervt. »Ja, was denn?« sagt er. »Die Pistole, ach Gott… was meinen Sie, was in meinem Job manchmal los ist! Die hab’ ich seit Jahren, nicht erst seit Monaten! Ich bin nur nie dazu gekommen, mir den Waffenschein zu besorgen… jedenfalls brauch’ ich die Waffe zu meinem persönlichen Schutz!« »Ach!« höhnt Trimmel. »Sie fliegen doch viel… Angst vor Flugzeugentführern?« »Jawohl!« sagt Bergusson fest. Er lügt, ohne rot zu werden. »Angst vor Flugzeugentführern und Terroristen und Kidnappern! Ist das so absurd in meiner ehemaligen und jetzigen Position?« Trimmel starrt ihn an. »Lassen Sie mich mal nachdenken… vielleicht ist das…« »Natürlich ist es das!« sagt Bergusson, jetzt fast heftig. »Und jetzt ist es mir scheißegal, ob Sie das eines Tages gegen mich verwenden oder nicht… ich bin stinknormal, und ich hab’ mir das Recht rausgenommen, das mir zusteht! Und ich würd’ das, was ich getan habe, immer wieder tun! Das ist das eine…« Er nimmt sich ungefragt den zweiten Schnaps; genau wie damals, denkt Trimmel – er hat die Situation von damals vor Augen, als wär’s gestern gewesen…
»Das andere ist das. Ich geh’ so lange ins Gefängnis, wie der Staat es für richtig hält, aber keinen Tag länger! Ich werde genau das rausholen für mich, was rauszuholen ist… beispielsweise das hier…« Er fingert in seiner rechten Jackenaußentasche herum, grinst plötzlich, fingert und fingert und holt durch ein Loch im Futter einen zerknüllten Zettel zum Vorschein. Trimmel nimmt ihn und streicht ihn glatt. Eine Telefonquittung oder so was vom Flughafen Milano-Linate. Polizeipräsidium Hamburg. D – 2000 Hamburg 1. Beim Strohhause 31. 248301. Paul Trimmel. Darunter ein Siegel der italienischen Post, eindrucksvoller als jedes deutsche. »Was ist das?« »Der Beweis, was sonst?« sagt Bergusson. »Daß ich in Mailand Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt habe, um Sie zu sprechen! Sie hätten ja dann die Carabinieri in Mailand anspitzen können, damit Racadi festgenommen wird… so hatte ich mir das ja vorgestellt! Aber ich hab’ Sie doch nicht erreicht, das wissen Sie doch besser als ich! Und dann erst bin ich verrückt geworden… verrückt, verstehen Sie?« Mindestens eine Minute lang sagt Trimmel nichts. Dann erst sagt er, und er weiß nicht, ob er dabei lachen oder heulen soll: »Ja, ich verstehe!« Er läßt Höffgen und eigens noch einen Stenografen kommen, um Bergussons Aussage zu Protokoll zu nehmen; das Tonband läuft sowieso, das stellt er eigenhändig ab. Er achtet wie ein Luchs darauf, das nichts, was Bergusson auch nur im entferntesten entlasten kann, nicht erwähnt wird… am liebsten, denkt er, würde ich sein Verteidiger sein. Aber dann müßte ich meinen Job an den Nagel hängen und Jura studieren; grotesk! Und bis ich soweit wäre, gehört der Prozeß Bergusson längst der Geschichte an, der Kriminalgeschichte und der Geschichte der Verkehrsfliegerei…
»Chef?« sagt Höffgen. Er schreckt zusammen; am Ende sind seine Gedanken doch wieder abgeschweift. »Ja… was ist?« »Herr Bergusson besteht darauf, daß wir eine Entschuldigung von ihm gegenüber allen Betroffenen ins Protokoll aufnehmen…« »Ja. Und?« Feininger. Gaby Schlitter. Söltner. Lindemann. Ully Mesterling, Holtzmann, Dr. jur. und Gelegenheitsheld. Vielleicht sogar noch Lempp, der Ganove, der immerhin eine zerschlagene Nase davongetragen hat. »Soll er doch…«, sagt Trimmel. »Soll er doch von mir aus namentlich…« Der Stenograf zückt den Bleistift. »…nur die Polizei soll er rauslassen!«
Er hält die Hände auf dem Rücken, als Bergusson abgeführt wird; Verbrechern gibt man nicht die Hand – ein bißchen paranoid ist Paul Trimmel auch. Aber er wird ihn noch mehrfach vernehmen müssen, und vielleicht rutscht ihm dabei dann doch mal ein Händedruck raus. Bergusson würde sich freuen wie ein König. »Wiedersehen!« ruft Trimmel hinter ihm her. Dann geht er merkwürdig heiter und müde mit Höffgen in dessen Büro. Und erstarrt – auf der Ablage steht ein großer Plastikbeutel mit einem viereckigen kastenförmigen Gegenstand. »Wo haste das her… was ist das?« »Bergussons Aktenkoffer«, sagt Höffgen, »hab’ ich beim Ausladen der Maschine gefunden. Will ihn gleich noch bei der Spurensicherung abgeben…« »Laß man«, sagt Trimmel, gespielt gleichgültig, »ich muß da sowieso noch hin!«
Er geht zurück in sein Zimmer und schließt die Tür zu, bevor er – ohne jede Rücksicht auf Fingerabdrücke – das Köfferchen auspackt. Ein gutes Stück, ein Stück vom Krokodil… daß der Koffer, wie Trimmel sofort vermutete, einen doppelten Boden besitzt, sieht er erst bei sorgfältigster Untersuchung. Jetzt ist doch alles aus für den Meister! denkt er. Sie werden zuerst Racadi wegen der Bombe im Israelian Council drankriegen, wegen des Mordes an Marion Bergusson; Max Bergusson wird man als Zeugen laden. Dann aber werden sie Bergusson selbst den Prozeß machen; diesmal wird der bis dahin vermutlich verurteilte Racadi als Zeuge geladen… und dann wird dieser Koffer, dieses außerordentlich gut zum Verbergen einer gemeingefährlichen Waffe geeignete Beweisstück auf dem Richtertisch liegen, und alles ist aus! Nie im Leben wird sich Bergussons Verteidigung noch damit rausreden können, daß man alles doch im milderen Licht sehen müsse… daß ihr Mandant aus einem affektüberfluteten Entschluß heraus und somit im Zustand verminderter Schuldfähigkeit gehandelt habe, als er den für den Tod seiner geliebten Frau verantwortlichen Racadi sah und ein Flugzeug entführte… Alles aus. Es sei denn, denkt Trimmel als nächstes, daß einer das nächste Ding dreht. Nämlich er – Trimmel – persönlich.
Spätabends steht die aus dem Modder gezogene und reparierte Boeing 727 auf der Piste in Finkenwerder und ist startklar für den nächsten Morgen. Und spätabends fährt Trimmel an die Elbe – nicht nach Finkenwerder, da sei Gott vor: er fährt dahin, wo die Elbe nach seiner Ansicht am schmutzigsten und am tiefsten ist. Noch weiter raus. Viel weiter.
Lindemann, überlegt er immer noch, als er die Elbchaussee längst hinter sich hat… wird Lindemann nicht zum Amokläufer, wenn er hier jemals Lunte riecht? Nachdem er für seine Verhältnisse schon einmal halb ausgeflippt ist, vor vierundzwanzig Stunden in seinem Büro, als AE 612 noch wie ein Irrlicht am europäischen Himmel herumgeisterte? Höffgen, überlegt Trimmel, schon hinter Wedel… wird Höffgen nicht irgendwann dumme Fragen stellen, irgendwann dumm quatschen mit irgendwelchen Spurensicherern an irgendeinem langweiligen Tatort? Man kann nicht alles berechnen. Lindemann hat auch ohne Flugzeugentführung viel um die Ohren. Höffgen ist manchmal ein sensationell vergeßlicher Mensch… Alsdann. Kein Fleet in ganz Hamburg war Trimmel heute abend tief genug. Keiner der schlammigen Elbufersteine, die er in Bergussons Koffer packt, ist ihm zu dreckig. Hauptsache, sie sind schwer genug: wie ein Betonklotz sinkt das Beweismittel mit dem doppelten Boden auf den Grund des Stroms.