Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht
Beiträge zum ausländischen öffentlichen Rech...
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Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht
Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht
Begründet von Viktor Bruns
Herausgegeben von Armin von Bogdandy · Rüdiger Wolfrum
Band 197
Angela Paul
Kritische Analyse und Reformvorschlag zu Art. II Genozidkonvention Critical Analysis and Proposal for the Revision of Art. II of the Genocide Convention (English Summary)
ISBN 978-3-540-78660-3
Springer Berlin · Heidelberg · New York
e-ISBN 978-3-540-78661-0
DOI 10.1007/978-3-540-78661-0
Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht ISSN 0172-4770 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © by Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., to be exercised by Max-PlanckInstitut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg 2008 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichenund Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Herstellung: le-tex Jelonek, Schmidt & Vöckler GbR, Leipzig Einbandgestaltung: WMX Design GmbH, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem Papier 987654321 springer.com
Für Michael
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2006 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main als Dissertation angenommen. Für die Publikation wurden Literatur und Rechtsprechung bis Juli 2007 berücksichtigt. Diese Arbeit wäre ohne die große Unterstützung, die ich von unterschiedlicher Seite erfahren habe, nicht denkbar gewesen. Mein herzlicher Dank gilt zunächst meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Michael Bothe, der dieses Dissertationsprojekt sehr gefördert und mir wertvolle Denkanstöße gegeben hat. Die wissenschaftliche Freiheit, die er mir hierbei gewährte, weiß ich sehr zu würdigen. Darüber hinaus danke ich Herrn Prof. Dr. Dr. Rainer Hofmann für die schnelle Erstellung des Zweitgutachtens. Ich bedanke mich zudem bei der Friedrich-Ebert-Stiftung für das Graduiertenstipendium, das mir die Erstellung dieser Arbeit sehr erleichterte. Den Direktoren des Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Herrn Prof. Dr. Armin von Bogdandy und Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Rüdiger Wolfrum, danke ich für die Aufnahme meiner Dissertation in die Schriftenreihe der Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht und die Übernahme der Druckkosten. Aus dem privaten Umfeld habe ich ebenfalls viel Unterstützung erfahren. Ein aufrichtiger Dank gebührt Amelie Abt und Ruth Frielingsdorf für das Korrekturlesen. Darüber hinaus geht mein herzlichster Dank an meine Mutter, Brigitte Paul, und meinen Bruder, Andrés Paul. Ihre vielfältige Unterstützung und ihren Zuspruch, die sie mir während der Dissertation sowie bereits während meines Studiums schenkten, weiß ich sehr zu schätzen. Gewidmet ist diese Arbeit meinem Lebensgefährten, Herrn Michael Helbig, der stets an ihr Gelingen geglaubt und mir den Rücken gestärkt hat. Ihm danke ich von ganzem Herzen für seine Begleitung durch die Höhen und Tiefen des Entstehungsprozesses, seine Toleranz und Geduld sowie das ausgiebige Korrekturlesen. Angela Paul
Köln, im Juli 2007
Inhaltsverzeichnis Einleitung ..................................................................................................1 1. Teil Grundlagen .............................................................................................11 I.
Historischer Entstehungskontext der Genozidkonvention ...........11 1. Völkerrechtliche Entwicklungen bis zum Ersten Weltkrieg.....11 2. Versuche der Ahndung der Gräueltaten des Ersten Weltkrieges....................................................................................15 a) Der Vertrag von Versailles und die Leipziger Prozesse .......15 b) Der ungesühnte Genozid an den Armeniern .......................17 3. Entwicklungen in der Zwischenkriegszeit .................................20 4. Raphael Lemkin als Initiator des Genozidtatbestandes............22 5. Ahndung der Gräueltaten des Zweiten Weltkrieges..................27 a) Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse.................................27 b) Tokioter Kriegsverbrecherprozesse ......................................33 c) Nürnberger Folgeprozesse ....................................................33 6. Resolution 96 (I) als Grundstein der Genozidkonvention .......39 7. Vorbereitende Arbeiten zur Genozidkonvention......................41 a) Entwurf des UN-Generalsekretärs .......................................41 b) Entwurf des ad hoc-Ausschusses...........................................44 c) Entwurf des Sechsten Ausschusses und Annahme der Genozidkonvention................................................................46 d) Bewertung der vorbereitenden Arbeiten ..............................49 II. Bedeutung der Genozidkonvention .................................................49 III. Der Prozess gegen Eichmann in Jerusalem......................................53 IV. Weitere wichtige Aktivitäten der Vereinten Nationen auf dem Gebiet des Völkerstrafrechts.............................................................55 1. Draft Code of Offences against the Peace and Security of Mankind ........................................................................................56 2. UN ad hoc-Tribunale für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda ....................................................................................59 3. Internationaler Strafgerichtshof ..................................................65 V. Auslegung von Art. II Genozidkonvention ....................................72
2. Teil Geschützte Gruppen gemäß Art. II Genozidkonvention ..............................................................................79
X
Inhaltsverzeichnis
I.
Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale......................................80 1. Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda ..............................80 a) Hintergründe des Konfliktes in Ruanda...............................81 b) Prosecutor v. Jean-Paul Akayesu...........................................84 c) Prosecutor v. Clément Kayishema und Obed Ruzindana ...............................................................................87 d) Prosecutor v. Georges Anderson Nderubumwe Rutaganda................................................................................89 e) Prosecutor v. Ignace Bagilishema ..........................................91 f) Prosecutor v. Laurent Semanza .............................................92 g) Folgerechtsprechung ..............................................................94 2. Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien ...................................................................................95 a) Hintergründe des Konfliktes im ehemaligen Jugoslawien .............................................................................95 b) Prosecutor v. Goran Jelesic ....................................................97 c) Prosecutor v. Radislav Krstic ...............................................100 d) Prosecutor v. Milomir Stakic ...............................................102 e) Folgerechtsprechung ............................................................104 3. Diskussion der Rechtsprechung................................................105 II. Reformbedarf des Schutzobjektes ..................................................118 1. Unklarheit des Schutzobjektes..................................................120 2. Schutzbedürfnis weiterer Gruppen...........................................123 a) Politische Gruppen...............................................................124 b) Soziale Gruppen ...................................................................139 c) Sonstige Gruppen .................................................................145 3. Ergebnis ......................................................................................146 III. Anknüpfungspunkte für Reformen................................................147 1. Alternativen zum Merkmal der Gruppe...................................147 2. Schutz von Mehrheiten ..............................................................150 3. Abstrakte oder enumerative Formulierung..............................153 4. Berücksichtigung der Definitionsmacht des Täters.................160 5. Positive oder negative Identifikation der Opfergruppe ..........167 6. Ersetzung oder Ergänzung der nationalen, ethnischen, rassischen und religiösen Gruppen ...........................................169 IV. Ergebnis und Reformvorschlag für das Schutzobjekt...................172
3. Teil Tathandlungen gemäß Art. II Genozidkonvention .................175 I.
Reichweite der Tathandlungen gemäß Art. II lit. a) – e) Genozidkonvention.........................................................................177
Inhaltsverzeichnis
XI
1. Tötung von Mitgliedern der Gruppe ........................................177 a) Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale ........................177 b) Diskussion der Rechtsprechung ..........................................179 2. Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe ......................181 a) Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale ........................181 b) Diskussion der Rechtsprechung ..........................................184 3. Vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen ..........................................191 a) Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale ........................191 b) Diskussion der Rechtsprechung ..........................................193 4. Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind ..............................................................................................202 a) Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale ........................202 b) Diskussion der Rechtsprechung ..........................................203 5. Gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe ....................................................................206 a) Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale ........................206 b) Diskussion der Rechtsprechung ..........................................206 II. Reformbedarf der Tathandlungen und Anknüpfungspunkte für Reformen ....................................................................................210 1. Aufnahme des kulturellen Genozids ........................................211 2. Aufnahme der ethnischen Säuberungen ...................................219 3. Aufnahme des Umweltgenozids ...............................................225 4. Beispielhafte Formulierung der Tathandlungen.......................231 5. Sprachliche Korrekturen............................................................233 III. Ergebnis und Reformvorschlag für die Tathandlungen ................234
4. Teil Subjektive Tatseite von Art. II Genozidkonvention ................237 I. Vorsatz ..............................................................................................237 II. Absichtsmerkmal .............................................................................240 1. Auslegung des Absichtsmerkmals.............................................242 a) Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale ........................242 b) Diskussion der Rechtsprechung ..........................................249 2. Reformbedarf des Absichtsmerkmals.......................................263 3. Anknüpfungspunkte für Reformen ..........................................265 a) Aufnahme einer Legaldefinition..........................................266 b) Aufnahme eines Tatplans .....................................................267
XII
Inhaltsverzeichnis
4. Ergebnis und Reformvorschlag für das Absichtsmerkmal .....272 III. Gruppe „als solche“ .........................................................................273 1. Auslegung des Merkmals „als solche“ ......................................274 a) Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale ........................274 b) Diskussion der Rechtsprechung ..........................................276 2. Reformbedarf des Merkmals „als solche“ ................................282 3. Anknüpfungspunkte für Reformen ..........................................283 a) Verzicht auf das Merkmal „als solche“ ...............................283 b) Neufassung des Merkmals „als solche“ ..............................286 c) Aufnahme des Autogenozids...............................................287 4. Ergebnis und Reformvorschlag für das Merkmal „als solche“.........................................................................................288 IV. Anforderungen an die Zerstörung..................................................288 1. Auslegung des Zerstörungsbegriffs...........................................289 a) Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale ........................289 b) Diskussion der Rechtsprechung ..........................................292 2. Erforderlicher Umfang der Zerstörung....................................298 a) Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale ........................298 aa) Prosecutor v. Goran Jelesic ..........................................300 bb) Prosecutor v. Dusko Sikirica........................................301 cc) Prosecutor v. Radislav Krstic .......................................303 b) Diskussion der Rechtsprechung ..........................................308 aa) Erforderlicher Umfang der Zerstörung ......................308 bb) Geografische Begrenzung als teilweise Zerstörung ...315 3. Reformbedarf des Merkmals der Zerstörung...........................319 4. Anknüpfungspunkte für Reformen ..........................................320 5. Ergebnis und Reformvorschlag für das Merkmal der Zerstörung ..................................................................................320
Zusammenfassung und abschließender Reformvorschlag zu Art. II Genozidkonvention .....................321 Summary................................................................................................329 Literaturverzeichnis ...........................................................................339 Dokumentenverzeichnis ...................................................................365 Sachregister ...........................................................................................371
Abkürzungsverzeichnis a.A.
andere Ansicht
Abs.
Absatz
a.F.
alte Fassung
AJIL
American Journal of International Law
Arizona JICL
Arizona Journal of International and Comparative Law
Art.
Artikel
ASIL Proceedings
American Society of International Law Proceedings
Aufl.
Auflage
AVR
Archiv des Völkerrechts
BBl.
(schweizerisches) Bundesblatt
Bd.
Band
Beschl. v.
Beschluss vom
BGBl.
Bundesgesetzblatt
BGH
Bundesgerichtshof
BGHSt
Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen
Boston UILJ
Boston University International Law Journal
bspw.
beispielsweise
BVerfG
Bundesverfassungsgericht
bzgl.
bezüglich
ca.
circa
Case No.
Case Number
ders.
derselbe
dies.
dieselbe
Draft Code
Draft Code of Offences against Peace and Security of Mankind
ECOSOC
Economic and Social Council
EJIL
European Journal of International Law
Entsch. v.
Entscheidung vom
Abkürzungsverzeichnis
XIV
et al.
et alii
etc.
et cetera
EuGRZ
Europäische Grundrechtezeitschrift
f.
folgende
ff.
fortfolgende
Fn.
Fußnote
FW
Die Friedenswarte
GA
General Assembly
gem.
gemäß
ggf.
gegebenenfalls
GYIL
German Yearbook of International Law
Houston JIL
Houston Journal of International Law
HRLJ
Human Rights Law Journal
HRQ
Human Rights Quarterly
Hrsg.
Herausgeber
HuV-I
Humanitäres Völkerrecht – Informationsschriften
ICC
International Criminal Court
ICJ
International Court of Justice
ICLQ
International and Comparative Law Quarterly
ICTR
International Criminal Tribunal for Rwanda
ICTY
International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia
ILC
International Law Commission
ILR
International Law Reports
IMT
International Military Tribunal
IMTFE
International Military Tribunal for the Far East
insbes.
insbesondere
IPBPR
Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte
i.V.m.
in Verbindung mit
JA
Juristische Ausbildung
JICJ
Journal of International Criminal Justice
JuS
Juristische Schulung
JZ
Juristenzeitung
Abkürzungsverzeichnis
KRG 10
Kontrollratsgesetz Nr. 10
lit.
littera (Buchstabe)
LJIL
Leiden Journal of International Law
XV
m.w.N.
mit weiteren Nachweisen
NGO
non-governmental organization
NJW
Neue Juristische Wochenschrift
Nr.
Nummer
NStZ
Neue Zeitschrift für Strafrecht
NStZ-RR
Neue Zeitschrift für Strafrecht – Rechtsprechungsreport
o.a.
oder auch
öStGB
Österreichisches Strafgesetzbuch
Para.
Paragraph
RBDI
Revue Belge de Droit International
Res.
Resolution
RIDP
Revue Internationale de Droit Pénal
Rn.
Randnummer
s.
siehe
S.
Satz; Seite
s.a.
siehe auch
s.o.
siehe oben
StGB
Strafgesetzbuch
str.
streitig
s.u.
siehe unten
Suppl.
Supplement
SZ
Süddeutsche Zeitung
u.a.
und andere
UN
United Nations
UN GAOR
United Nations General Assembly Official Records
UN Doc.
United Nations Document
UNESCO
United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization
UNTS
United Nations Treaty Series
Abkürzungsverzeichnis
XVI
Urt. v.
Urteil vom
U.S.C.
United States Code
v.
versus
v. Ch.
vor Christus
Verf.
Verfasser/in
vgl.
vergleiche
VN
Vereinte Nationen
Vol.
Volume
VRS
Vojska Republike Srpske (Serbische Armee Bosniens)
VStGB
Völkerstrafgesetzbuch
WVK
Wiener Vertragsrechtskonvention
www.
World Wide Web
YBILC
Yearbook of the International Law Commission
YJIL
Yale Journal of International Law
YLJ
Yale Law Journal
ZaöRV
Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht
Ziff.
Ziffer
ZÖR
Zeitschrift für öffentliches Recht
ZRP
Zeitschrift für Rechtspolitik
ZStrR
Schweizer Zeitschrift für Strafrecht
ZStW
Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft
Einleitung Die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Genozids aus dem Jahr 1948 ist vor mehr als 50 Jahren in Kraft getreten.1 Angesichts dessen, dass Gruppen, Stämme, Klans, Völker und Nationen seit dem Entstehen der Zivilisation aus verschiedensten Gründen immer wieder das Opfer von Massenvernichtungen wurden, ein relativ kurzer Zeitraum.2 Die Präambel der Konvention betitelt den Genozid zutreffend als eine verabscheuungswürdige Geißel, die der Menschheit in allen Zeiten der Geschichte große Verluste zugefügt hat. Insbesondere das 20. Jahrhundert wurde durch Genozide geprägt. Ungefähr 60 Millionen Männer, Frauen und Kinder verschiedener Rassen, Religionen, Nationalitäten, ethnischer und sozialer Gruppen aus unterschiedlichsten Ländern fanden aus willkürlichen Gründen den Tod.3 Anlass für die Erarbeitung der Genozidkonvention war der Holocaust während des Zweiten Weltkrieges. Angesichts der millionenfachen Vernichtung europäischer Juden durch die Nationalsozialisten, deren Unrechtsgehalt in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen tatbestandlich nicht angemessen erfasst werden konnte, hatte die internationale Staatengemeinschaft erkannt, dass sie nicht länger untätig bleiben konnte. Die Konvention sollte das Instrument sein, um die bestehenden Lücken zu schließen. Einerseits sollten dem Unrecht entsprechende Straftatbestände geschaffen werden, andererseits sollte der zukünftigen Begehung von Genozid entgegengewirkt werden. Es zeigt sich jedoch immer wieder, dass diese Ziele nicht erreicht werden konnten. Im Gegenteil, die Frage nach effektiven Mechanismen zur Verhütung und Bestrafung von Genozid ist noch immer von großer Relevanz. Schließlich sind auch nach dem Inkrafttreten der Konvention vielfach Angehörige unterschiedlichster Gruppen verfolgt worden. Im Gegensatz dazu wurden bislang nur verhältnismäßig wenig Täter wegen Genozids bestraft. 1
UNTS 78, S. 277 ff.; BGBl. 1954 II, S. 730.
2
Kuper, Genocide, 1981, S. 11 ff.; Chalk/Jonassohn, The History and Sociology of Genocide, 1990, S. 32 ff. 3
Vgl. Smith, Human Destructiveness and Politics: The Twentieth Century as an Age of Genocide, in: Wallimann/Dobkowski (Hrsg.), Genocide and the Modern Age, 2000, S. 21 ff.; Vest, Genozid durch organisatorische Machtapparate, 2002, S. 20 ff., m.w.N.
Einleitung
2
Die Verfolgungen im Sudan verdeutlichen auf erschreckende Art und Weise die Aktualität der Problematik. Zum Ende des 20. Jahrhunderts erschütterten die Geschehnisse im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda die Welt. Allein der Genozid in Ruanda forderte mindestens 800.000 Todesopfer. Seitens der Staatengemeinschaft verlautete seinerzeit: Nie wieder! Ein Versprechen, dessen Glaubwürdigkeit in Anbetracht dessen, dass die Vereinten Nationen die Gräueltaten im Sudan bislang nicht als Genozid anerkannten und trotz des Ausmaßes der Katastrophe weitgehend untätig blieben, fraglich ist.4 Zahlreiche andere Konflikte haben gleichermaßen deutlich gemacht, dass der Genozid bei weitem kein auf die Verfolgungen durch die Nationalsozialisten beschränktes Phänomen ist. Zu denken ist beispielsweise an die Ereignisse in Indonesien, Bangladesch, Kambodscha oder auch Äthiopien, im Zuge derer abertausende Angehörige bestimmter Gruppen massakriert wurden, Hungersnöten zum Opfer fielen oder auf andere grausame Art und Weise ums Leben kamen.5 Der Fokus dieser Arbeit liegt auf der strafrechtlichen Ahndung von Genozid. Für die Strafverfolgung ist Art. II Genozidkonvention die zentrale Vorschrift, da in der Norm legaldefiniert ist, welche Verbrechen als Genozid zu qualifizieren sind. Dergestalt entscheidet sie darüber, welche Verbrechen von den Mitgliedstaaten verhindert und bestraft werden müssen – und welches Verhalten die Staaten entsprechend der Konvention zu unterlassen verpflichtet sind.6 Die deutsche Über-
4
Die von den UN [UN Doc. S/RES/1564(2004)] eingesetzte Untersuchungskommission zu Darfur ist zu dem Ergebnis gekommen, dass in der Region kein Genozid stattgefunden hat, Report of the International Commission of Inquiry on Darfur to the Secretary-General, UN Doc. S/2005/60, para. 489 ff. Sie stellte allerdings fest, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen begangen worden waren. Auf ihre Empfehlung hin hat der UN-Sicherheitsrat den Vorgang dem ICC unterbreitet [UN Doc. S/RES/1593 (2005)]. Kritisch zur Untätigkeit des Westens im Darfur-Konflikt der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte im Sudan Baum, Der Westen versagt im Darfur-Konflikt, SZ 35 (2006), S. 2; kritisch zu Res. 1593 (2005) Condorelli/Ciampi, Comments on the Security Council Referral of the Situation in Darfur to the ICC, JICJ 3 (2005), S. 590 ff. 5
Auf die einzelnen Konflikte wird im weiteren Verlauf der Arbeit noch eingegangen. 6
Vgl. ICJ, Case Concerning the Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, Urt. v. 26. Februar 2007, para. 155 ff. (insbes. 166 ff.).
Einleitung
3
setzung, die sich an der internationalen Vorlage orientiert, hat folgenden Wortlaut: „In dieser Konvention bedeutet Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören: a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe; b) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen; d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind; e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.“7 Konkreter Gegenstand der Untersuchung ist die kritische Analyse von Art. II Genozidkonvention, auf deren Grundlage Vorschläge für die Reform der Norm präsentiert werden. Dabei werden alle Merkmale der Vorschrift analysiert: das Schutzobjekt ebenso wie die fünf Tathandlungen und die subjektive Tatseite. Dargelegt wird, dass verschiedene Tatbestandsmerkmale des Art. II Genozidkonvention der Überarbeitung bedürfen, wenn die Norm eine effektive Grundlage für die strafrechtliche Ahndung dieses Verbrechens sein soll. In der Vergangenheit ist immer wieder deutlich geworden, wie schwierig es in der Praxis ist, die Verfolgung von Angehörigen bestimmter Gruppen unter Art. II Genozidkonvention zu fassen. Als der Tatbestand im Rahmen von Strafverfahren zu wirken begann, wurden zugleich die Mängel der Vorschrift besonders ersichtlich. Deutlich wurde insbesondere, dass die Konvention als Reaktion auf den Holocaust entstanden ist und deshalb andere Konflikte vielfach nicht hinreichend erfasst. In diesem Zusammenhang sind vor allem die Verfahren vor den beiden UN ad hoc-Tribunalen für das ehemalige Jugoslawien (International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, ICTY) und für Ruanda (International Criminal Tribunal for Rwanda, ICTR) von Interesse, da sie die ersten Beispiele für eine internationale Strafgerichtsbarkeit seit dem Inkrafttreten der Genozidkonvention sind. Durch das 7
Zur englischen Originalversion s.u. 1. Teil, I. 7. c).
Einleitung
4
ICTR wurde in dem Bemühen zu einer Verurteilung wegen Genozids zu gelangen, sogar die Grenze zu der im Strafrecht unzulässigen Analogie überschritten. Es spricht für sich, dass es die Richter selbst in dem sehr offensichtlichen Fall der Verfolgung der Tutsi immer wieder vor erhebliche Schwierigkeiten stellt, die Täter für den verübten Genozid zu verurteilen. Bislang sind trotz der mindestens 800.000 Todesopfer und der umfassenden Beteiligung der Hutu-Führungsriege an den Verbrechen gegen die Tutsi 25 der Hauptverantwortlichen durch das ICTR wegen Genozids verurteilt worden. Das ICTY sprach bis dato 2 Verurteilungen wegen Genozids aus, gegen Radislav Krstic und Vidoje Blagojevic. Anzumerken ist allerdings, dass die Rechtsmittelkammer Blagojevic vom Vorwurf des Genozids freigesprochen hat.8 Die mit der Begriffsbestimmung in Art. II Genozidkonvention einhergehenden Schwierigkeiten sind vielschichtig. Teilweise wird den bestehenden Lücken eine erhebliche symbolische Bedeutung zuerkannt. Die Regelungen, die Aufnahme in die Konvention gefunden hätten, seien ebenso bedeutsam wie diejenigen, gegen deren Aufnahme man sich entschied.9 Die Vorarbeiten zur Konvention zeigen, dass von Anfang an erhebliche Kontroversen bezüglich der Fassung und Auslegung der Norm bestanden. Beispiel hierfür ist die Frage, ob politische und soziale Gruppen in den Schutzbereich der Konvention aufgenommen werden sollten, die noch heute höchst kontrovers diskutiert wird. Ebenfalls problematisch war und ist, ob der so genannte kulturelle Genozid als Zerstörung der kulturellen Besonderheiten einer Gruppe von Art. II Genozidkonvention erfasst sein soll. Das Ergebnis der Verhandlungen zu Art. II Genozidkonvention ist der kleinste gemeinsame Nenner, der in Kauf genommen wurde, um möglichst viele Mitgliedstaaten zu gewinnen. Andere Schwierigkeiten kristallisierten sich erst im Laufe der Zeit heraus. Hierzu zählt die Auslegung der Begriffe der nationalen, ethnischen, rassischen und religiösen Gruppen, die das Schutzobjekt der Konvention umschreiben. Fraglich ist insofern, ob die vier Gruppen voneinander abzugrenzen sind und durch welche Merkmale sie im Einzelnen charakterisiert werden. Umstritten ist ferner, welcher Vorsatzgrad für die genozidale Absicht erforderlich ist. Dies sind nur einige der bestehenden Kritikpunkte, die zu vielschichtig sind, als dass sie an dieser Stelle umfassend erwähnt werden könnten. 8
ICTY, Prosecutor v. Blagojevic, Case No. IT-02-60-A, Urt. v. 9 Mai 2007, para. 119 ff. 9
Orentlicher, Genocide, in: Gutman/Rieff (Hrsg.), Crimes of War, 1999, S. 153 (154).
Einleitung
5
Naturgemäß zeigt sich im Rahmen von Strafverfahren in besonderem Maße, dass die in Art. II Genozidkonvention enthaltene Legaldefinition ungeeignet ist, alle Fälle von Gruppenverfolgung mit vergleichbarem Unrechtsgehalt strafrechtlich gleich, in einer dem jeweiligen Unrechtsgehalt angemessenen Weise zu erfassen. In der vorliegenden Arbeit werden zudem solche Konflikte diskutiert, in denen es gar nicht erst zu Strafverfahren gekommen ist. Die Unzulänglichkeit der Norm wird schließlich gleichermaßen dadurch deutlich, dass die Verfolgung einer Gruppe nicht als Genozid geahndet wurde, obwohl sie vom Unrechtsgehalt her gleich zu bewerten gewesen wäre. Eines der Haupthindernisse für eine strafrechtliche Ahndung von Genozid sind natürlich realpolitische Gründe. Diese im Einzelnen zu untersuchen, würde jedoch den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. Ein besonders eklatantes Beispiel ist die bis in die jüngere Vergangenheit währende Untätigkeit der Staatengemeinschaft gegenüber den Gräueltaten der Khmer Rouge in Kambodscha. Anstatt das begangene Unrecht zu sühnen, kooperierte man mit den Khmer Rouge, die Kambodscha sogar nach ihrem Sturz in der UN vertraten. Erst 1998, mithin fast 20 Jahre später, sprach sich die Staatengemeinschaft dafür aus, die Führungskader zur Verantwortung zu ziehen.10 Es kostete jedoch weitere 5 Jahre und zähe Verhandlungen bis sich die Vereinten Nationen und die kambodschanische Regierung auf ein Abkommen über die Verfolgung der Verbrechen unter den Khmer Rouge einigen konnten.11 Das Gelingen dieser Verfahren bleibt jedoch abzuwarten. Neben den realpolitischen Gründen sind Mängel in der Begriffsbestimmung ein wesentlicher Grund für die unzureichende Verfolgung von Genozid beziehungsweise genozidähnlicher Taten. Auf die Defizite des Tatbestandes ist zurückzuführen, dass Konstellationen wie die Verfolgung politischer Gruppen nicht als Genozid geahndet werden. Die Legaldefinition spielt im Vorfeld der strafrechtlichen Ahndung zudem deshalb eine erhebliche Rolle, weil die Staatengemeinschaft im Falle ei-
10 11
UN Doc. A/RES/52/135.
UN Doc. A/RES/57/228B, Annex; anstelle eines Sondertribunals wurden an den nationalen Gerichten Kambodschas Sonderkammern eingerichtet; kritisch hierzu de Bertodano, Problems Arising from the Mixed Composition and Structure of the Cambodian Extraordinary Chambers, JICJ 4 (2006), S. 285 ff. Angemerkt sei, dass realpolitische Hindernisse den Handlungsspielraum der Justiz erneut einschränken, da die Verfahren sich auf Wunsch der kambodschanischen Regierung nur gegen die ehemaligen Führungskader richten.
Einleitung
6
nes Genozids aktiv werden muss.12 Nicht zuletzt auf diese Verpflichtung ist es zurückzuführen, dass die Zurückhaltung der internationalen Gemeinschaft so groß ist, wenn es darum geht, die Verfolgung einer Gruppe als Genozid anzuerkennen.13 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die jüngste Verurteilung Serbiens durch den Internationalen Gerichtshof (International Court of Justice, ICJ), weil Serbien seiner Verpflichtung, Genozid zu verhindern (und zu bestrafen), nicht entsprochen hat.14 Die Genozidkonvention ist entstanden, als der internationale Menschenrechtsschutz noch an seinem Anfang stand. Sie ist ein Vertrag der ersten Generation. Die sich daran anschließenden Erfahrungen im Bereich internationaler Verträge und speziell im Menschenrechtsschutz sind eine Basis, auf deren Grundlage die Vorschriften der Genozidkonvention bewertet und weiterentwickelt werden können.15 Gerade in den letzten Jahren lebten die Debatten um die Reichweite der Konvention infolge der wiederholten Begehung von Genozid wieder auf. So gab es im Rahmen der Erarbeitung des Statuts für den Internationalen Strafgerichtshof (International Criminal Court, ICC) Vorstöße, den Genozidtatbestand zu reformieren.16 Auch wenn in der näheren Zukunft nicht mit einer Änderung des Vertragstextes zu rechnen ist, gilt es insbesondere in Deutschland, die bislang vornehmlich in der angloamerikanischen Literatur geführte Reformdebatte zu verstärken. Tatsächlich sind Untersuchungen zum Reformbedarf von Art. II Genozidkonvention sowie konkrete Reformvorschläge hierzulande bis heute nur eine Randerscheinung. Die progressiven Entwicklungen im Völkerstrafrecht machen es möglich und erforderlich, über eine Reform von Art. II Genozidkonvention nach12
S. hierzu das Bekenntnis der internationalen Gemeinschaft im World Summit Outcome aus dem Jahr 2005, UN Doc. A/RES/60/1, S. 30; kritisch dazu Bannon, The Responsibility to Protect: The U.N. World Summit and the Question of Unilaterism, YLJ 115 (2006), S. 1157 ff. 13
Vgl. Schürings, Versagen im Angesicht des Völkermords, VN 2000, S. 53
(56). 14
ICJ, Case Concerning the Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, Urt. v. 26. Februar 2007, para. 425 ff. 15
Vgl. Lippman, The Drafting of the 1948 Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, Boston UILJ 3 (1985), S. 1 (64). 16
Die entsprechenden Vorschläge werden im weiteren Verlauf der Arbeit diskutiert.
Einleitung
7
zudenken. Sie sind Ausdruck der voranschreitenden Wandlung des Völkerrechts von einem Recht der Koexistenz hin zu einem Recht der Kooperation. Gerade weil die Staatengemeinschaft zunehmend bestrebt ist, die Täter völkerrechtlicher Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen, ist die Untersuchung der Effektivität der Genozidkonvention und die damit zusammenhängende Frage nach dem bestehenden Reformbedarf zum jetzigen Zeitpunkt von großem Interesse. Im ersten Teil der Arbeit werden die für die Diskussion des Reformbedarfs von Art. II Genozidkonvention relevanten Grundlagen erörtert. Dies ist zunächst der historische Entstehungskontext der Konvention, der in seinen wesentlichen Grundzügen dargestellt wird. Angesprochen werden ferner der Stellenwert, der der Genozidkonvention bei der Verfolgung des Verbrechens durch (inter)nationale Gerichte zukommt, und der Prozess gegen Eichmann in Jerusalem. Beachtung verdienen auch die Bemühungen um das Weltstrafgesetzbuch (Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind), das eine wesentliche Quelle für die Auslegung von Art. II Genozidkonvention ist.17 Des Weiteren wird die Errichtung der UN ad hoc-Tribunale für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda umrissen, deren Urteile eine tragende Rolle innerhalb der vorliegenden Untersuchung spielen. Wichtig ist ferner die Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofs, der einen Durchbruch (auch) für die Verfolgung von Genozid darstellt. Darüber hinaus werden die wichtigsten Regeln für die Auslegung von Art. II Genozidkonvention dargelegt. Im zweiten bis vierten Teil werden sämtliche Tatbestandsmerkmale von Art. II Genozidkonvention auf ihren Reformbedarf hin untersucht und – soweit erforderlich – Reformvorschläge entwickelt. Maßgebliche Grundlage der Untersuchung ist die Analyse der Rechtsprechung von ICTY und ICTR. Die unterschiedlichen Ansätze der Tribunale zur Auslegung der einzelnen Merkmale werden herausgearbeitet und diskutiert. Die Analyse konzentriert sich dabei auf die Entscheidungen, die zur Interpretation des konkreten Tatbestandsmerkmals wesentliche Aspekte beigetragen haben. Auf der Grundlage der Rechtsprechungsanalyse wird die Reformdebatte geführt, in der die einzelnen Problemfelder, welche zum Reformbedarf führen können, beleuchtet werden. Soweit der Reformbedarf gegeben ist, werden im Anschluss die denkbaren Anknüpfungspunkte für eine Reform entworfen und geprüft. Den Ab-
17
ICTY, Prosecutor v. Furundzija, Case No. ICTY IT-95-17/1-T, Urt. v. 10. Dezember 1998, para. 227.
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Einleitung
schluss bildet ein Vorschlag für die Neuformulierung des jeweiligen Merkmals. Der zweite Teil beschäftigt sich dabei mit der Problematik des Gruppenbegriffs. Zu diskutieren ist hier zunächst die Frage, ob und durch welche Merkmale die nationalen, ethnischen, rassischen und religiösen Gruppen voneinander abzugrenzen sind. Im Anschluss wird der Reformbedarf des Schutzobjektes geprüft, der sich zum einen aus der Unklarheit der Formulierung und zum anderen aus dem Schutzbedürfnis bislang nicht erfasster Gruppen ergeben kann. Für die Reform bestehen unterschiedliche Anknüpfungspunkte. Zunächst wird untersucht, ob es zum Merkmal der Gruppe denkbare Alternativen gibt und ob Mehrheiten ebenso wie Minderheiten durch die Konvention geschützt werden müssen. Diskutiert wird außerdem, ob die bestehenden Probleme durch die Aufnahme zusätzlicher konkret bezeichneter Gruppen oder aber durch eine abstrakte/generelle Formulierung gelöst werden sollten. Fraglich ist ferner, ob der Tatbestand für die Definitionsmacht des Täters geöffnet werden muss und ob die Identifikation der Gruppe durch positive oder negative Kriterien zu erfolgen hat. Zuletzt stellt sich die Frage, ob die bisherige Aufzählung der vier Gruppen durch eine den zuvor erarbeiteten Kriterien entsprechende Formulierung ersetzt oder ergänzt werden sollte. Im dritten Teil geht es um die einzelnen Verletzungshandlungen, welche in Art. II lit. a) – e) Genozidkonvention normiert sind. Zunächst wird die Reichweite jeder einzelnen Tathandlung diskutiert. Dabei weist die Tötung keine besonderen Probleme auf. Bei der Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe erhält die Problematik, ob sexuelle Gewalt ein Mittel zur Begehung von Genozid sein kann, gesonderte Aufmerksamkeit. Einer der Schwerpunkte im Rahmen der Diskussion der vorsätzlichen Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen, ist die Frage, ob und unter welcher Voraussetzung Vertreibungen den Tatbestand erfüllen. Bei der Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind, wird insbesondere beleuchtet, ob Vergewaltigungen und erzwungene Schwangerschaften als Ausführungshandlung in Betracht kommen. Zuletzt geht es um die gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe, die in der Debatte bislang wenig Aufmerksamkeit erfahren hat. Im Anschluss werden der Reformbedarf und die Anknüpfungspunkte für Reformen für alle Tathandlungen im Zusammenhang diskutiert. Denkbar ist die Aufnahme des kulturellen Genozids, dessen Anerkennung als
Einleitung
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mögliche Verletzungshandlung umstritten ist. Betrachtet werden zudem die so genannten ethnischen Säuberungen, die teilweise mit der Begrifflichkeit des Genozids gleichgesetzt werden. Diskutiert wird darüber hinaus die Möglichkeit des Umweltgenozids, der ebenfalls als denkbare Tathandlung Eingang in die Diskussion gefunden hat. Fraglich ist ferner, ob die Tathandlungen nicht länger abschließend, sondern zukünftig beispielhaft formuliert werden sollten. Zuletzt gilt es, die Notwendigkeit sprachlicher Korrekturen an der gültigen Fassung der Tathandlungen zu überprüfen. Der vierte Teil dreht sich um die subjektive Tatseite. Hierzu zählt zunächst das Erfordernis des allgemeinen Tatvorsatzes. Daran schließt sich die Diskussion des Absichtsmerkmals an. Problematisch ist hier vor allem der Grad des für die Erfüllung erforderlichen Vorsatzes. Basierend auf der Diskussion wird die Notwendigkeit der Reform des Absichtsmerkmals begründet. Als Anknüpfungspunkte kommen die Aufnahme einer Legaldefinition sowie die Normierung eines Tatplans in Betracht. Nachfolgend wird das Merkmal „als solche“ beleuchtet. Hier ist zu klären, ob das Merkmal ein Motivmerkmal kennzeichnet oder ob eine alternative Auslegung möglich ist. Anknüpfungspunkte für eine Reform sind der Verzicht auf das Merkmal „als solche“, seine Neufassung sowie die Aufnahme des Autogenozids. Zuletzt wird der Passus „ganz oder teilweise zu zerstören“ untersucht. Fraglich ist, ob die Gruppe in physisch-biologischem Sinn zerstört werden muss oder ob die Zerstörung der Gruppe als soziale Einheit ebenfalls erfasst ist. Problematisch ist außerdem, welchen Umfang der betroffene Gruppenteil haben muss, und ob die geografische Begrenzung einer Opfergruppe eine taugliche Kennzeichnung sein kann. Nach der Klärung des Reformbedarfs wird die Möglichkeit einer sprachlichen Korrektur geprüft. In den Schlussbetrachtungen werden die gewonnenen Erkenntnisse zusammengefasst und ein abschließender Reformvorschlag zu Art. II Genozidkonvention präsentiert.
1. Teil Grundlagen I. Historischer Entstehungskontext der Genozidkonvention 1. Völkerrechtliche Entwicklungen bis zum Ersten Weltkrieg Obwohl der Genozid der Menschheit zu allen Zeiten der Geschichte große Verluste zugefügt hat, besteht mit der Genozidkonvention aus dem Jahr 1948 erst seit gut fünfzig Jahren ein Instrument zur Verhütung und Ahndung dieses Verbrechens und mit dem ICC erst seit dem 1. Juli 2002 ein international zuständiger Strafgerichtshof. Die Genozidkonvention gründet auf den Entwicklungen verschiedener Bereiche des Völkerrechts. Dies sind das Völkerstrafrecht, das Recht des bewaffneten Konfliktes und der Minderheitenschutz. Einige grundlegende Aspekte sollen hier kurz angesprochen werden.1 Über die Frage, welches das erste Beispiel einer internationalen Strafgerichtsbarkeit ist, herrscht keine Einigkeit. Von manchen Autoren wird die kirchliche Strafgewalt der Päpste angeführt. Diese sei ein unabhängiges, unparteiisches und universelle Geltung beanspruchendes Rechtsprechungsorgan gewesen, das trotz seiner Beschränkung auf geistliche Angelegenheiten Einfluss auf den weltlich-politischen Bereich genommen habe.2 Andere verweisen auf den Prozess gegen Peter von Hagenbach, der im 15. Jahrhundert in Breisach geführt wurde. Von Hagenbach wurde von einem mit Richtern der alliierten Mächte des Heiligen Römischen Reiches besetzten Tribunal wegen Mord, Vergewaltigung, Meineid und anderen gegen die Gesetze Gottes und der Menschen ver1
Selbstverständlich kann hier kein erschöpfender Abriss der Völkerrechtsgeschichte erfolgen. Hierfür sei auf die Darstellungen von Ahlbrecht, Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert, 1999, und Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1988, verwiesen. 2
Jescheck, Die Verantwortlichkeit der Staatsorgane nach Völkerstrafrecht, 1952, S. 19 f.; zustimmend Becker, Der Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit, 1996, S. 20.
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1. Teil
stoßenden Verbrechen in Ausführung einer militärischen Besatzung zum Tode verurteilt.3 Triffterer kritisiert dieses Beispiel dahingehend, dass die damaligen materiell-rechtlichen Grundlagen zu weit von unseren heutigen Vorstellungen über das Völkerstrafrecht entfernt gewesen seien. Zudem habe die „internationale“ Zusammensetzung der Richter lediglich die Unparteilichkeit des Gerichts nach außen zum Ausdruck bringen sollen. Seiner Meinung nach finden sich allererste, vorsichtige Ansätze des Völkerstrafrechts in der Bekämpfung der Piraterie, da sich das bedrohte Rechtsgut bei der Piraterie strukturell mit denjenigen vergleichen ließe, die heute die Grundlage und die Rechtfertigung für das Völkerstrafrecht bilden.4 Im Kriegsrecht ist es ein alt hergebrachter Grundsatz, dass die Parteien berechtigt sind, Angehörige der feindlichen Streitkräfte vor ihre Gerichte zu stellen, soweit diese gegen die für die Führung einer bewaffneten Auseinandersetzung maßgebenden Regeln verstoßen haben.5 Maßgeblichen Einfluss hatte hier die von Augustinus (354-430) und Thomas von Aquin (1225-1274) begründete Lehre vom gerechten Krieg, nach der nur ein solcher Krieg gerecht ist, der aus einem gerechten Grund (justa causa) geführt wird.6 Auf dieser Lehre aufbauend forderten Francisco de Vitoria (~1485-1546) und Bartolomé de Las Casas (~1474-1566) angesichts des grausamen Vorgehens der Kolonialmächte bei der Kolonialisierung Mittel- und Südamerikas den Schutz der Menschenrechte zu Gunsten der Bewohner der neuen Welt.7 De Vitoria vertrat die Auffassung, dass es erlaubt sei, die Feinde wegen des von ihnen begangenen Unrechts zu bestrafen.8 Grundlage der Lehren von de Vitoria war der 3
Bassiouni, International Law and the Holocaust, California Western International Law Journal 9 (1979), S. 201 (206). 4
Triffterer, Der lange Weg zu einer internationalen Strafgerichtsbarkeit, ZStW 114 (2002), S. 321 (326 ff.). 5
Tomuschat, Von Nürnberg nach Den Haag, FW 70 (1995), S. 143 (145).
6
Vgl. Ahlbrecht, Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert, 1999, S. 20; dazu im Einzelnen Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1988, S. 133 ff. 7
Jescheck, Die Internationale Genocidium-Konvention vom 9. Dezember 1948 und die Lehre vom Völkerstrafrecht, ZStW 66 (1954), S. 193 (197 f.); de Vittoria wird auch als der Begründer des neuen Völkerrechts bezeichnet, vgl. Peglau, Francisco de Vittoria als Begründer des modernen Völkerrechts, Jura 1994, S. 344 f. 8
(145).
Vgl. Tomuschat, Von Nürnberg nach Den Haag, FW 70 (1995), S. 143
Grundlagen
13
Gedanke einer die ganze Menschheit umspannenden Völkerrechtsgemeinschaft.9 Selbst wenn die Bestrafung von Kriegsverbrechen jedoch einmal gängige Praxis gewesen sein sollte, ist diese bis zu den Schrecken des Ersten Weltkrieges wieder in Vergessenheit geraten. Amnestie und nicht Bestrafung war der in vielen Friedensverträgen des 18. und 19. Jahrhunderts vereinbarte Normalfall.10 Im 17. und 18. Jahrhundert setzten Bestrebungen der internationalen Staatengemeinschaft zum Schutz bestimmter Minderheiten ein, die sich jedoch zunächst nur auf religiöse Minderheiten bezogen und in erster Linie bilaterale Abkommen zwischen europäischen Staaten waren. Beispiele sind der Westfälische Friede von 1648 zwischen Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich, in dem den Protestanten in Deutschland die gleichen religiösen Freiheiten garantiert wurden wie den Katholiken, oder auch der Vertrag von Paris zwischen Frankreich, Spanien und Großbritannien aus dem Jahr 1763, in dem Großbritannien den Katholiken in Kanada Religionsfreiheit in den von Frankreich abgetretenen Gebieten zugestand.11 Die Schlussakte des Wiener Kongresses vom 9. Juni 1815 war das erste wichtige internationale Instrument, welches neben religiösen auch nationale Minderheiten schützte.12 Im 19. Jahrhundert fanden zudem die Interventionen der Großmächte zum Schutz der Menschenrechte unterdrückter Volksgruppen allmählich Anerkennung als völkerrechtliche Befugnis.13
9
Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1988, S. 172 ff.
10
Bothe, International Humanitarian Law and War Crimes Tribunals: Recent Developments and Perspectives, in: Wellens (Hrsg.), International Law: Theory and Practice, 1998, S. 581; vgl. dazu auch Ahlbrecht, Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert, 1999, S. 19, 30 (Fn. 16), der als Beispiel für eine solche Amnestieklausel Art. 2 des (Westfälischen) Münsteraner/Osnabrücker Friedensvertrages zwischen dem deutschen Kaiser, Frankreich und Schweden vom 24. Oktober 1648 anführt. 11
Capotorti, Study on the Rights of Persons belonging to Ethnic, Religious and Linguistic Minorities, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/384/Rev.1, 1979, S. 1 f. 12 13
Ebenda, S. 2.
Jescheck, Die Internationale Genocidium-Konvention vom 9. Dezember 1948 und die Lehre vom Völkerstrafrecht, ZStW 66 (1954), S. 193 (197 f.). Das Recht zur humanitären Intervention kam im 19. Jahrhundert zunächst besonders als Rechtfertigung für Interventionen im Osmanischen Reich zur Anwendung; Blumenwitz, Internationale Schutzmechanismen zur Durchsetzung von Minderheiten- und Volksgruppenrechten, 1997, S. 29.
1. Teil
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Die Humanitätsidee setzte sich im Völkerrecht langsam immer stärker durch, was auch in den völkerrechtlichen Kodifikationen zum Ausdruck kommt.14 Zu denken ist in diesem Zusammenhang etwa an die erste Genfer Konvention oder das erste Haager Abkommen von 1899, welches 1907 durch die Haager Landkriegsordnung abgelöst wurde.15 Diese Verträge beschränkten sich allerdings auf den Schutz von Einzelpersonen; der spezifische Schutz von Gruppen fand noch keine Berücksichtigung. In der Präambel der Haager Landkriegsordnung findet sich die so genannte Martens’sche Klausel. Nach dieser Regelung bleiben die Bevölkerung und die Kriegsführenden unter dem Schutz und der Herrschaft der Grundsätze des Völkerrechts, wie sie sich aus den unter den gesitteten Völkern feststehenden Gebräuchen, aus den Gesetzen der Menschlichkeit und aus den Forderungen des öffentlichen Gewissens ergeben, bis ein vollständigeres Kriegsrecht festgestellt werden kann. Der Text ist Ausdruck der Erkenntnis der internationalen Gemeinschaft, dass sich zunehmend ungeschriebene, transzendente Prinzipien der Humanität entwickelten, welche die Individuen vor Verletzungen seitens des Staates schützen sollten.16 Des Weiteren finden sich erste Ansätze der unmittelbaren Verantwortlichkeit von Einzelpersonen nach Völkerrecht, zum Beispiel im Falle der Verletzung eines Waffenstillstandes.17 Auch wenn diese Ansätze noch nicht gleichbedeutend mit einer eigenständigen Strafbarkeit unmittelbar aus dem Völkerrecht waren, bestand zumindest Einigkeit zwischen den Staaten bezüglich der grundsätzlichen Strafwürdigkeit einzelner Handlungen.18 Ihre Weiterführung und ihr Ausbau haben letztlich zur heutigen Konzeption des Völkerstrafrechts geführt.19
14
Becker, Der Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit, 1996,
S. 29. 15
RGBl. 1910, S. 107.
16
Lippman, The Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide: Fifty Years Later, Arizona JICL 15 (1998), S. 415 (416). 17
Triffterer, Der lange Weg zu einer internationalen Strafgerichtsbarkeit, ZStW 114 (2002), S. 321 (329). 18
Ahlbrecht, Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert, 1999, S. 23. 19
Triffterer, Der lange Weg zu einer internationalen Strafgerichtsbarkeit, ZStW 114 (2002), S. 321 (329).
Grundlagen
15
2. Versuche der Ahndung der Gräueltaten des Ersten Weltkrieges a) Der Vertrag von Versailles und die Leipziger Prozesse Angesichts der Schrecken des Ersten Weltkrieges wurde die Forderung nach einer internationalen Ahndung besonders schwer wiegender Verbrechen laut. Die alliierten und assoziierten Mächte setzten auf der Pariser Friedenskonferenz die Commission on the Responsibility of the Authors of War and on Enforcement of Penalties ein, welche damit beauftragt wurde, die von Deutschland und seinen Verbündeten, Bulgarien und der Türkei, begangenen Verbrechen zu untersuchen.20 Die Kommission kam zu dem Ergebnis, dass jene sich unter der Verletzung der Gesetze und Gebräuche des Krieges sowie der elementaren Regeln der Menschlichkeit barbarischer und rechtswidriger Methoden bedient hatten.21 Die aufgeführten Delikte umfassten einen langen Katalog von Taten, welche später als charakteristisch für Genozid angesehen wurden – Mord, Massaker, Folter, Vergewaltigung, Entführung von Frauen und Mädchen zum Zwecke der Zwangsprostitution, Internierung unter unmenschlichen Bedingungen.22 Die Kommission forderte, dass die Verantwortlichen unabhängig von ihrem Rang oder Status durch ein internationales Tribunal wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit strafrechtlich zur Verantwortung gezogen würden.23 Allerdings ging aus ihrem Bericht nicht hervor, was die Kommission unter dem Terminus „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ verstand, der den Kriegsverbrechen ohne tatbestandsmäßige Umschreibung lediglich angehängt war.24 Seitens der amerikanischen Delegation wurden verschiedene Einwände gegen die Ergebnisse der Kommission geltend gemacht. Diese bezogen sich in erster Linie auf das Konzept der Straf-
20
Commission on the Responsibility of the Authors of the War and on the Enforcement of Penalties, Report presented to the Preliminary Peace Conference, AJIL 14 (1920), S. 95. 21
Ebenda, S. 112 ff.
22
Ebenda, S. 114 f.
23
Ebenda, S. 121 f.
24
Jescheck, Die Verantwortlichkeit der Staatsorgane nach Völkerstrafrecht, 1952, S. 57.
16
1. Teil
barkeit durch Unterlassen, die Einschränkung der staatlichen Souveränität und das Konzept der Verbrechen gegen die Menschlichkeit.25 In Art. 227 des Versailler Vertrages26 wurde Kaiser Wilhelm II., dem ein Verstoß gegen das „internationale Sittengesetz“ und „die Heiligkeit der Verträge“ vorgeworfen wurde, von den alliierten und assoziierten Mächten unter öffentliche Anklage gestellt. Dem Kaiser sollte vor einem eigens dafür einzurichtenden Internationalen Gerichtshof der Prozess gemacht werden. Diese Regelung war ein Kompromiss zwischen den beteiligten Parteien, denn die Alliierten hatten selbst zum Ausdruck gebracht, dass das Verfahren nach Art. 227 Versailler Vertrag einen „Akt der hohen internationalen Politik“ darstellte und nur der Form nach als Strafprozess ausgestaltet werden sollte. Mithin wurde die Verantwortlichkeit eines Staatsoberhauptes für die Kriegspolitik seines Landes gegenüber den Feindesmächten – entgegen den amerikanischen Einwendungen – bejaht, zugleich aber auf eine politische Haftung beschränkt.27 Ein entsprechendes Verfahren wurde jedoch nie durchgeführt, da der Kaiser in die Niederlande geflohen war und diese seine Auslieferung verweigerten. Die niederländische Regierung begründete ihre Weigerung unter anderem damit, dass die Niederlande keine Partei des Vertrages von Versailles seien, und dass die dem Kaiser vorgeworfenen Taten nach niederländischem Recht nicht strafbar und überdies eher politischer als strafrechtlicher Natur gewesen seien.28 In Art. 228-230 des Versailler Vertrages erkannte die deutsche Regierung des Weiteren die Befugnis der alliierten und assoziierten Mächte an, solche Personen vor ihre Militärgerichte zu stellen, die wegen einer gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges verstoßenden Handlung angeklagt waren. Diese Bestimmung setzte voraus, dass eine Verletzung der Gesetze und Gebräuche des Krieges eine Straftat darstellte, die nach nationalem Recht von nationalen Gerichten bestraft werden konnte. Die Anerkennung eines internationalen Interesses an der Bestrafung 25
Vgl. hierzu Memorandum of Reservations Presented by the Representatives of the United States to the Report of the Commission on Responsibility, AJIL 14 (1920), S. 127 (143 ff.). 26
Treaty of Peace with Germany (Versailles Treaty), 28. Juni 1919, AJIL 13 (1919) Suppl., S. 151 (250). 27
Jescheck, Die Verantwortlichkeit der Staatsorgane nach Völkerstrafrecht, 1952, S. 60; kritisch zu Art. 227 Versailler Vertrag ebenfalls Tomuschat, The Legacy of Nuremberg, JICJ 4 (2006), S. 830 (831). 28
Die Note der niederländischen Regierung ist abgedruckt in: Grewe (Hrsg.), Fontes Historiae Juris Gentium, Bd. 3/2, 1992, S. 730 f.
Grundlagen
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von Verletzungen der Gesetze und Gebräuche des Krieges spiegelt einen fundamentalen Wandel in der Bewertung des Krieges als sozialer Tatsache wider, ausgelöst durch das unermessliche Leiden, welches der Erste Weltkrieg mit sich gebracht hatte.29 Die alliierten und assoziierten Staaten forderten von der deutschen Regierung die Auslieferung von 896 Personen, darunter die gesamte politische und militärische Führung Deutschlands während des Ersten Weltkrieges.30 Die deutsche Regierung konnte sich jedoch gegenüber den Alliierten mit ihrer Forderung durchsetzen, die Verfahren vor dem Reichsgericht in Leipzig stattfinden zu lassen. Befürchtet wurde, dass eine Auslieferung die wenig stabile deutsche Demokratie gefährden und eine bolschewistische Revolution nach sich ziehen könnte.31 Die ursprünglich vorgelegte Liste schrumpfte aus politischen Gründen auf nur noch 45 Angeklagte. Letztlich wurden durch das Reichsgericht nur neun Prozesse mit einem Urteil abgeschlossen, in denen von zwölf Angeklagten sechs verurteilt und sechs freigesprochen wurden.32
b) Der ungesühnte Genozid an den Armeniern Während des Ersten Weltkrieges verübte das Osmanische Reich an den Armeniern einen der größten Genozide in der Geschichte der Menschheit.33 Schätzungen zufolge fielen eine Million Menschen systematischen Massakern und Deportationen zum Opfer. Nachdem in der Nacht vom 23. auf den 24. April 1915 zahlreiche politische, intellektuelle und geistliche Führer in Konstantinopel verhaftet, deportiert und getötet worden waren, befahl Innenminister Talaat Pascha, die Zivilbevölkerung unter dem Vorwand ihrer Illoyalität aus den Kriegsgebieten in
29
Bothe, War Crimes, in: Cassese/Gaeta/Jones (Hrsg.), The Rome Statute of the International Criminal Court: A Commentary, Vol. I, 2002, S. 379 (382). 30
Jescheck, Die Verantwortlichkeit der Staatsorgane nach Völkerstrafrecht, 1952, S. 64. 31
Lippman, The Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide: Fifty Years Later, Arizona JICL 15 (1998), S. 415 (419). 32
Ahlbrecht, Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert, 1999, S. 43. 33
Dadrian, Genocide as a Problem of National and International Law, YJIL 14 (1989), S. 221 (223); vgl. zum Genozid an den Armeniern auch die ausführlichen Schilderungen bei Ternon, Tabu Armenien, 1981; und Hofmann (Hrsg.), Das Verbrechen des Schweigens, 1984.
1. Teil
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neue Siedlungsgebiete zu deportieren. Tatsächlich wurden die Männer zumeist sofort getötet und die Frauen und Kinder in Deportationszügen durch die Wüste getrieben. Aufgrund des Entzugs von Wasser und Nahrung starben sie zu Tausenden.34 Ziel war es, sich der christlichen armenischen Minderheit zu entledigen und die pluralistische osmanische Gesellschaft in eine rein türkische Gesellschaft zu transformieren.35 Der Genozid an den Armeniern wird als der erste ideologisch motivierte Genozid in der Geschichte kategorisiert.36 Sein tragisches Ergebnis war, dass das armenische Volk in seiner Heimat fast vollständig ausgerottet wurde.37 Angesichts der Gräueltaten erklärten die alliierten Kräfte im Jahr 1915, dass sie alle Mitglieder der osmanischen Regierung und ihre Handlanger für die von ihnen begangenen Massaker persönlich zur Verantwortung ziehen würden.38 Entsprechend dieser Ankündigung fanden sich im Friedensvertrag von Sèvres vom 10. August 1920 dann auch Bestimmungen zur Ahndung der durch das Osmanische Reich an den Armeniern verübten Verbrechen. So sah Art. 226 des Friedensvertrages von Sèvres die Anerkennung des Rechts der Alliierten durch die Türkei vor, Personen, die gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges verstoßen hatten, vor Kriegsgerichte zu stellen und verpflichtete sich dazu, alle angeklagten Personen auszuliefern. Art. 230 des Vertrages von Sèvres bezog sich speziell auf den an den Armeniern begangenen Genozid und sah die Möglichkeit der Schaffung eines Internationalen Strafgerichtshofes vor: „The Turkish Government undertakes to hand over to the Allied Powers the Persons whose surrender may be required by the latter as being responsible for the massacres committed during the con34
Hovannisian, Etiology and Sequelae of the Armenian Genocide, in: Andreopoulos (Hrsg.), Genocide: Conceptual and Historical Dimensions, 1994, S. 111 (123 ff.); ders., Die armenische Frage (1878-1923), in: Hofmann (Hrsg.), Das Verbrechen des Schweigens, 1984, S. 13 (23 f.). 35
Vgl. Hovannisian, Etiology and Sequelae of the Armenian Genocide, in: Andreopoulos (Hrsg.), Genocide: Conceptual and Historical Dimensions, 1994, S. 111. 36
Chalk/Jonassohn, The History and Sociology of Genocide, 1990, S. 249.
37
Hovannisian, Die armenische Frage (1878-1923), in: Hofmann (Hrsg.), Das Verbrechen des Schweigens, 1984, S. 13 (24). 38
Dadrian, Genocide as a Problem of National and International Law, YJIL 14 (1989), S. 221 (262).
Grundlagen
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tinuance of the state of war on territory which formed part of the st Turkish Empire on the 1 August, 1914. The Allied Powers reserve to themselves the right to designate the tribunal which shall try the persons so accused, and the Turkish Government undertakes to recognise such tribunal. In the event of the League of Nations having created in sufficient time a tribunal competent to deal with the said massacres, the Allied Powers reserve to themselves the right to bring the accused persons mentioned above before such tribunal, and the Turkish Government undertakes equally to recognise such tribunal.“39 Es war das erste Mal, dass Regierungsmitglieder für die von ihnen an ihrer eigenen Bevölkerung begangenen Taten zur Verantwortung gezogen werden sollten.40 Zudem trat durch diese Bestimmung die rechtliche Selbstständigkeit des Verbrechens gegen die Menschlichkeit deutlich hervor.41 Der Vertrag von Sèvres wurde jedoch aufgrund politischer Spannungen zwischen den Alliierten und den nationalistischen Strömungen in der Türkei nie ratifiziert.42 1923 wurde er durch den Vertrag von Lausanne ersetzt, in dem die Amnestie für alle Verbrechen zwischen dem 1. August 1914 und dem 20. November 1922 erklärt wurde.43 Die Armenier fanden in diesem Vertrag noch nicht einmal Erwähnung; es war, als hätten sie im Osmanischen Reich nie existiert.44 Parallel zu den internationalen Bemühungen der Strafverfolgung fanden auf Druck der Alliierten Prozesse vor dem Istanbuler Kriegsgericht statt.45 Tatsächlich bemühte sich die türkische Führung jedoch niemals ernsthaft um eine Strafverfolgung. Die Hauptverantwortlichen flohen 39
Treaty of Peace between the Allied Powers and Turkey signed at Sèvres, 10. August 1920, AJIL 15 (1921) Suppl., S. 179 ff. 40
Lippman, The Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide: Fifty Years Later, Arizona JICL 15 (1998), S. 415 (420). 41
Jescheck, Die Verantwortlichkeit der Staatsorgane nach Völkerstrafrecht, 1952, S. 57. 42
Dazu Dadrian, Genocide as a Problem of National and International Law, YJIL 14 (1989), S. 221 (281). 43
Treaty with Turkey and Other Instruments Signed at Lausanne, 24. Juli 1923, AJIL 18 (1924) Suppl., S. 1 ff. 44
Hovannisian, Etiology and Sequelae of the Armenian Genocide, in: Andreopoulos (Hrsg.), Genocide: Conceptual and Historical Dimensions, 1994, S. 111 (125). 45
Vgl. dazu Akcam, Armenien und der Völkermord, 1996.
1. Teil
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ins Ausland und wurden in Abwesenheit zum Tode verurteilt, ohne dass ein ernsthafter Versuch unternommen worden wäre, die Urteile zu vollstrecken. Viele andere angeklagte und inhaftierte Kriegsverbrecher wurden wegen des zunehmenden Nationalismus freigelassen und die Prozesse schließlich eingestellt.46 Insgesamt brachten die Istanbuler Prozesse ebenso wenig wie die Leipziger Prozesse den von den Alliierten gewünschten Erfolg.47 Angesichts der Tatsache, dass die juristische Aufarbeitung des Genozids an den Armeniern auf internationaler wie auf nationaler Seite gescheitert ist, wird dieser Genozid zutreffend auch als der vergessene Genozid bezeichnet.48 Nicht zuletzt die Straflosigkeit der Täter des Genozids an den Armeniern hat den Boden für den Holocaust an den Juden während des Zweiten Weltkrieges bereitet. Hitler selbst soll die bezeichnende Frage gestellt haben: „Wer spricht heute noch von der Vernichtung der Armenier?“49 Traurige Tatsache ist, dass der Genozid noch heute von offizieller türkischer Seite bestritten wird, obwohl die Armenier dauerhaft um seine Anerkennung kämpfen.
3. Entwicklungen in der Zwischenkriegszeit In der Folgezeit des Ersten Weltkrieges versuchten die alliierten Kräfte, die Ursachen für den kontinuierlichen Konflikt in Europa durch verschiedene Minderheitenverträge in den Griff zu bekommen.50 Sie waren der erste systematische Versuch, ein Minderheitenschutzsystem auf in-
46
Hovannisian, Etiology and Sequelae of the Armenian Genocide, in: Andreopoulos (Hrsg.), Genocide: Conceptual and Historical Dimensions, 1994, S. 111 (126 ff.); Akcam, Armenien und der Völkermord, 1996, S. 114. 47
Vgl. Dadrian, Genocide as a Problem of National and International Law, YJIL 14 (1989), S. 221 (315 f.). 48
Ebenda, S. 223 f.
49
Zu den historischen und rechtlichen Verbindungen zwischen dem Genozid an den Armeniern und dem Holocaust an den Juden eingehend Dadrian, The Historical and Legal Interconnections between the Armenian Genocide and the Jewish Holocaust, YJIL 23 (1998), S. 503 (531 ff.). 50
Lippman, The Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide: Fifty Years Later, Arizona JICL 15 (1998), S. 415 (421).
Grundlagen
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ternationaler Ebene zu errichten.51 Zwei wesentliche Ziele wurden verfolgt: Zum einen sollte den einer entsprechenden Minderheit angehörenden Individuen in jeder Hinsicht eine gleichberechtigte Position zu den anderen Staatsangehörigen zuerkannt werden; zum anderen sollte ihnen ermöglicht werden, ihre rassischen Besonderheiten, ihre Traditionen und ihre nationale Identität zu bewahren.52 Geschützt wurden rassische, sprachliche und religiöse Minderheiten. Zu den garantierten Rechten zählten das Recht auf Leben und auf Freiheit, die Garantie der Gleichheit vor dem Gesetz oder auch das Recht auf Gebrauch einer Minderheitensprache.53 Insgesamt leistete das Minderheitenschutzsystem einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung des völkerrechtlichen Minderheitenschutzes. 54 Dies nicht nur wegen des Gehalts der den Staaten auferlegten Verpflichtungen, sondern auch und vor allem, weil die staatlichen Verpflichtungen unter die Garantie des Völkerbundes gestellt wurden.55 Damit wur51
Blumenwitz, Internationale Schutzmechanismen zur Durchsetzung von Minderheiten- und Volksgruppenrechten, 1997, S. 30. Zu den im Einzelnen abgeschlossenen Verträgen vgl. Thornberry, International Law and the Rights of Minorities, 1991, S. 41 f. 52
Vgl. dazu Capotorti, Study on the Rights of Persons belonging to Ethnic, Religious and Linguistic Minorities, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/384/Rev.1, 1979, S. 18. 53
Wobei im Hinblick auf die einzelnen Rechte zwischen Staatsangehörigen und Einwohnern des betreffenden Staates unterschieden wurde. Für einen Überblick über die einzelnen Verpflichtungen vgl. ebenda, S. 17, para. 99, lit. a-g. 54
Thornberry, International Law and the Rights of Minorities, 1991, S. 48 ff.; zustimmend Lippman, The Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide: Fifty Years Later, Arizona JICL 15 (1998), S. 415 (422); trotz bestehender Kritikpunkte ebenfalls positiv Blumenwitz, Internationale Schutzmechanismen zur Durchsetzung von Minderheiten- und Volksgruppenrechten, 1997, S. 49 f. 55
Grundlage des Schutzsystems war Art. 12 des Friedensvertrages mit Polen vom 28. Juni 1919, abgedruckt bei Blumenwitz, Internationale Schutzmechanismen zur Durchsetzung von Minderheiten- und Volksgruppenrechten, 1997, S. 191. In Art. 12 Abs. 1 erkannte Polen unter anderem an, dass die Vertragsbestimmungen, soweit sie völkische, religiöse oder sprachliche Minderheiten betrafen, Verpflichtungen von internationalem Interesse begründeten und unter die Garantie des Völkerbundes gestellt wurden. Weiterhin wurde in Art. 12 Abs. 3 der Ständige Internationale Gerichtshof für die Entscheidung von Streitfragen bzgl. der einzelnen Garantien für zuständig erklärt.
22
1. Teil
de die Zugehörigkeit zu bestimmten Minderheiten stärker als jemals zuvor als eine für die menschliche Existenz schützenswerte Position anerkannt. Ein Defizit dieser frühen Regelungen war, dass sie noch keine Bestimmungen für die Bestrafung der Täter im Falle der Verletzung der entsprechenden Vorschriften vorsahen.56 Zudem ist zu kritisieren, dass die Verträge keine universelle Geltung hatten. Das Minderheitenschutzsystem wurde schließlich Opfer des Zweiten Weltkrieges.57 In der Zwischenkriegszeit gab es Bestrebungen, ein Völkerstrafrecht zu kodifizieren sowie einen Internationalen Strafgerichtshof zu schaffen. So unterbreitete das durch den Völkerbundrat eingesetzte Juristenkomitee, welches mit der Ausarbeitung der Satzung des Ständigen Internationalen Gerichtshofes betraut war, einen ersten Vorschlag, der jedoch wegen unterschiedlicher Bedenken, wie den Eingriff in die staatliche Souveränität, nicht in die Tat umgesetzt wurde. Vorläufiger Höhepunkt der Bemühungen war der von dem Völkerrechtler Pella im Auftrag der Association de droit pénal und der International Law Association im Jahr 1935 vorgelegte „code répressif mondial“, in dem in einem Allgemeinen und in einem Besonderen Teil materielles Völkerstrafrecht formuliert war. Die Völkerbundversammlung nahm diesen Entwurf allerdings nie an.58
4. Raphael Lemkin als Initiator des Genozidtatbestandes Der Begriff „Genozid“ ist eine Wortneuschöpfung des polnischen Völkerrechtslehrers Raphael Lemkin. Anlass für seine Aktivitäten war der Holocaust an den europäischen Juden durch die Nationalsozialisten, dem ungefähr sechs Millionen Menschen zum Opfer fielen.59 Noch im 56
Eine Übersicht der einzelnen Verpflichtungen der Staaten findet sich bei Caportorti, Study on the Rights of Persons belonging to Ethnic, Religious and Linguistic Minorities, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/384/Rev.1, 1979, S. 19 f., para. 104 f. 57
Zu den Ursachen des Scheiterns vgl. Thornberry, International Law and the Rights of Minorities, 1991, S. 46 ff. 58
Zu den ersten Kodifikationsbemühungen vgl. die Schilderungen bei Jescheck, Die Verantwortlichkeit der Staatsorgane nach Völkerstrafrecht, 1952, S. 89 ff.; und Ahlbrecht, Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert, 1999, S. 46 ff. 59
In der vorliegenden Arbeit wird auf eine Schilderung des Holocausts verzichtet, da eine auch nur annähernd umfassende Darstellung ihren Rahmen
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Jahr 1941 waren die von den Nationalsozialisten verübten Grausamkeiten von Churchill als „Verbrechen ohne Namen“ betitelt worden.60 Lemkin, selbst jüdischer Herkunft, hatte sich dem Ziel verschrieben, die internationale Ächtung des Genozids zu erreichen. Im Jahr 1944 prägte Lemkin den Genozid als neuen Begriff der internationalen Rechtssprache in seinem Werk „Axis Rule in Occupied Europe“ und gab ihm seine spezielle juristische Kennzeichnung.61 Zudem spielte er bei den vorbereitenden Arbeiten zur Genozidkonvention eine aktive Rolle.62 Ohne Lemkins unerlässliches Bestreben wäre die internationale Ächtung des Genozids wohl nicht Wirklichkeit geworden. Bereits 1933 hatte Lemkin auf der fünften Internationalen Konferenz zur Vereinheitlichung des Strafrechts einen Vorschlag unterbreitet, mit dem er die Zerstörung und Unterdrückung rassischer, religiöser und sozialer Gruppen zum Verbrechen nach Internationalem Recht (delictum juris gentium) erklären wollte. In diesem Vorschlag sah er die Schaffung zweier neuer internationaler Straftatbestände vor, die die teilnehmenden Staaten in ihre nationale Strafgesetzgebung aufnehmen sollten. Es handelte sich dabei um die Verbote der Barbarei und des Vandalismus. Als Barbarei sollten solche Taten bestraft werden, die aus Hass oder zum Zweck ihrer Ausrottung gegen Leben, Gesundheit, Freiheit, Würde oder wirtschaftliche Existenz einer rassischen, religiösen oder sozialen Gruppe begangen wurden; als Vandalismus die Vernichtung ihrer Kunst- oder Kulturwerke.63 Wie bei den anderen Delikten der Gruppe der delicta juris gentium, zu denen beispielsweise Frauen-, Sklaven- und Kinderhandel oder Piraterie zählen, sollte sich die Zuständigkeit nach dem Weltrechtsprinzip bestimmen. Die Vorschläge wurden von der Konferenz, vermutlich wegen zu großer Be-
sprengen würde. Im weiteren Verlauf wird auf die für die Analyse relevanten Aspekte des Holocausts jedoch Bezug genommen. Dabei werden die wesentlichen historischen Fakten als bekannt vorausgesetzt. Im Übrigen sei auf das umfassende Werk von Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 1-3, 1994, verwiesen. 60
Stillschweig, Das Abkommen zur Bekämpfung von Genocide, FW 1949,
S. 93. 61
Jescheck, Die Internationale Genocidium-Konvention vom 9. Dezember 1948 und die Lehre vom Völkerstrafrecht, ZStW 66 (1954), S. 193 (199). 62 63
Zu den vorbereitenden Arbeiten s.u. 1. Teil, I. 7.
Vgl. dazu Lemkin, Akte der Barbarei und des Vandalismus als delicta juris gentium, Internationales Anwaltsblatt 19 (1933), S. 117 ff.
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24
denken gegen die Einschränkung der staatlichen Souveränität, nicht angenommen.64 Vor dem Hintergrund der Geschehnisse in Europa verstärkte Lemkin seine Bemühungen, dieses Verbrechen, das auf die Ausrottung ganzer Gruppen als solcher gerichtet war und sich dadurch von der Tötung einzelner Individuen unterschied, in das Internationale Recht einzuführen. Er handelte in der Erkenntnis, dass die verschiedenen Nationen ein wesentliches Merkmal der Weltgemeinschaft sind und dass ihr Reichtum an Kultur und ihre intellektuelle Kraft von den verschiedenen nationalen Gruppen abhängt, aus denen sie besteht.65 Nicht zuletzt die mit der Zerstörung dieser Vielfalt einhergehenden spezifischen Verluste der Weltkultur galt es nach seiner Überzeugung, durch einen besonderen Tatbestand zu erfassen: den Tatbestand des Genozids. Der Terminus „Genozid“ ist aus dem griechischen „genos“ für Rasse, Stamm und dem lateinischen „caedere“ für töten zusammengesetzt und kennzeichnet so die Zerstörung einer Nation oder einer ethnischen Gruppe. Seine Prägung erhielt der Terminus durch eine eingehende Untersuchung der Praktiken in Hitler-Deutschland, die zur Erreichung des Ziels der Germanisierung der besetzten Gebiete eingesetzt worden waren. Lemkin entwarf folgende Definition des Genozids: „By ‘genocide’ we mean the destruction of a nation or of an ethnic group … Generally speaking, genocide does not necessarily mean the immediate destruction of a nation, except when accomplished by mass killings of all members of a nation. It is intended rather to signify a co-ordinated plan of different actions aiming at the distruction of essential foundations of the life of national groups, with the aim of annihilating the groups themselves. The objectives of such a plan would be disintegration of the political and social institutions, of culture, language, national feelings, religion, and the economic existence of national groups, and the destruction of the personal security, liberty, health, dignity, and even the lives of the individuals belonging to such groups. Genocide is directed against the national group as an entity, and the actions involved are directed against individuals, not in their individual capacity but as members of the national group.“66 64
Lemkin, Genocide as a Crime under International Law, AJIL 41 (1947), S. 145 ff. 65
Lemkin, Axis Rule in Occupied Europe, 1944, S. 91.
66
Ebenda, S. 79.
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Nach Lemkins Konzeption besteht der Genozid aus zwei Phasen. Die erste Phase umfasst die Zerstörung der nationalen Besonderheiten der unterdrückten Gruppe und die zweite die Auferlegung der nationalen Besonderheiten des Unterdrückers.67 Nach Auffassung Lemkins stand der Genozid im Gegensatz zur Rousseau-Portalis Doktrin, nach der ein Krieg gegen souveräne Staaten und ihre Armeen gerichtet ist und nicht gegen die Zivilbevölkerung. Lemkins Beobachtungen zufolge war der Genozid ein konzentrierter und koordinierter Angriff auf alle Elemente des Nationalstaats. Sich an den Maßnahmen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft orientierend entwarf Lemkin einen Katalog der vielfältigen Methoden zur Begehung des Genozids, der im Wesentlichen folgende Punkte umfasst: – politisch: Lokale Institutionen der Selbstverwaltung wurden zerstört und durch deutsche Verwaltungsstrukturen ersetzt; nationalsozialistische Parteistrukturen bei gleichzeitiger Auflösung anderer Parteien eingeführt; die besetzten Gebiete durch die Vertreibung der angestammten Bevölkerung und die Ansiedlung Deutscher kolonialisiert;68 – sozial: Örtliches Recht und örtliche Gerichte wurden durch deutsche Gesetze und deutsche Gerichte ersetzt; der soziale Zusammenhalt gestört, durch Verschleppung insbesondere der intellektuellen Elite, die als der Motor des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus angesehen wurde;69 – kulturell: Die Nutzung der eigenen Sprache wurde verboten; die Jugend getreu den Grundsätzen des Nationalsozialismus erzogen; alle kulturellen Aktivitäten rigide kontrolliert; nationale Monumente, Büchereien, Archive und Museen zerstört;70 – wirtschaftlich: Den Opfergruppen wurde die wirtschaftliche Existenzgrundlage entzogen, insbesondere durch die Konfiskation von Eigentum und die Reglementierung des Handels;71 – biologisch: Eine Politik der Entvölkerung wurde verfolgt, durch Verringerung der Geburtenrate der nicht-arischen Volksgruppe und Steigerung der Geburtenrate der Volksdeutschen;72
67
Ebenda, S. 79.
68
Ebenda, S. 82 f.
69
Ebenda, S. 83.
70
Ebenda, S. 84 f.
71
Ebenda, S. 85 f.
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– physisch: Eine spezielle Hungerpolitik wurde eingeführt, welche zu einer erhöhten Sterberate führte; den Opfern wurden gesundheitsschädigende Lebensbedingungen auferlegt; schließlich wurde vor allem an Juden, Russen und Polen ein Massenmord verübt;73 – religiös: Die Einflussmöglichkeiten der Kirche wurden vermindert durch die Zerstörung kirchlichen Eigentums und der Verfolgung des Klerus;74 – moralisch: Um den geistigen Widerstand der Opfergruppe zu schwächen, wurde eine Atmosphäre geschaffen, die geeignet war, die Moral innerhalb der Gruppe zu vermindern. Beispiel hierfür war die Steigerung des Alkoholkonsums.75 Lemkin wies darauf hin, dass viele der zur Begehung des Genozids verübten Taten durch die in der Haager Landkriegsordnung enthaltenen Artikel und die in ihrer Präambel normierten Gesetze der Menschlichkeit erfasst sind. Hierzu zählen etwa die Angriffe auf Leben, Privateigentum und Religion oder auch Gesundheitsgefährdungen. Andere Taten hingegen seien nicht durch die Haager Regelungen erfasst, etwa die Schwächung der politischen, sozialen und kulturellen Elemente der Gruppe.76 Lemkin forderte die Ergänzung der Haager Landkriegsordnung. Es sollten alle Handlungen erfasst werden, die das Leben, die Freiheit, die Gesundheit, die körperliche Integrität, die wirtschaftliche Existenz und die Ehre der Bevölkerung verletzen und wegen der Zugehörigkeit zu einer nationalen, religiösen oder rassischen Gruppe begangen wurden. Des Weiteren sollte jede Politik erfasst sein, die auf die Zerstörung einer Gruppe gerichtet ist.77 Er stellte fest, dass der Genozid ein Problem in Kriegs- und in Friedenszeiten ist. Insbesondere in Europa lebten viele Gruppen als Minderheiten innerhalb der Grenzen anderer Staaten, die ausreichend geschützt werden müssten. Lemkin schlug vor, einen multilateralen Vertrag zu erarbeiten, in dem die Staaten verpflichtet werden sollten, strafrechtliche Regelungen zur Ahndung von Genozid in ihre
72
Ebenda, S. 86 f.
73
Ebenda, S. 87 ff.
74
Ebenda, S. 89.
75
Ebenda, S. 89 f.
76
Ebenda, S. 92 f.
77
Ebenda, S. 92 f.
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Strafgesetzbücher zu integrieren.78 Die Zuständigkeit sollte sich wie bei den anderen delicta juris gentium nach dem Weltrechtsprinzip bestimmen.79 Schließlich sollte ein internationales mit bestimmten Kompetenzen ausgestattetes Kontrollorgan geschaffen werden, um beispielsweise die Lage in den besetzten Gebieten zu überwachen.80
5. Ahndung der Gräueltaten des Zweiten Weltkrieges a) Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse Die Erarbeitung der Genozidkonvention wurde durch den nationalsozialistischen Holocaust und die Versuche seiner strafrechtlichen Ahndung durch die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse ausgelöst. Die Zerstörung ganzer menschlicher Gruppen durch das deutsche Regime gab den Anstoß dazu, bestimmte Prinzipien des Internationalen Rechts zu überdenken. Insbesondere wurde die Frage laut, ob staatliche Souveränität so weit gehen kann, dass eine Regierung straflos bleibt, wenn sie ihre eigenen Staatsangehörigen vernichtet, und ob die Verfolgung dieser Taten in den innerstaatlichen Zuständigkeitsbereich gehört oder eine internationale Angelegenheit ist.81 Bereits während des Zweiten Weltkrieges hatten die Alliierten die Bestrafung der von den Angehörigen der Achsenmächte begangenen Verbrechen zu einem der wesentlichen Kriegsziele erklärt.82 Im Jahr 1943 wurde die United Nations War Crimes Commission geschaffen, welche das Mandat hatte, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit weltweit zu dokumentieren.83 Bald kam als weitere Aufgabe die Erörterung von Rechtsfragen hinzu.84 Am 8. August 1945 wurde das Londoner Abkommen über die Verfolgung und Bestrafung 78
Ebenda, S. 93.
79
Ebenda, S. 93 f.
80
Ebenda, S. 94 f.
81
Lemkin, Genocide as a Crime under International Law, AJIL 41 (1947), S. 145 ff. 82
History of the United Nations War Crimes Commission and the Development of the Laws of War, 1948, S. 111. 83 84
Im Einzelnen, ebenda, S. 112 ff.
Jescheck, Die Verantwortlichkeit der Staatsorgane nach Völkerstrafrecht, 1952, S. 129 ff.
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der Hauptkriegsverbrecher der europäischen Achsenmächte verabschiedet.85 Während der Verhandlungen führte die Frage der Verfolgung derjenigen Verbrechen, welche die Deutschen vor dem Krieg begangen hatten, sowie derjenigen, die gegen die eigene Bevölkerung gerichtet gewesen waren, zu eingehenden Diskussionen.86 In der Anlage des Abkommens fand sich das Statut für den Internationalen Militärgerichtshof (International Military Tribunal, IMT), welches Verfahrensregeln, Gerichtsverfassung und anzuklagende Straftatbestände enthielt. Gemäß Art. 6 IMT-Statut war der Gerichtshof für die Verfolgung und Aburteilung von Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit sachlich zuständig. Die Verbrechen waren in der zitierten Vorschrift wie folgt formuliert: „[…] Die folgenden Handlungen, oder jede einzelne von ihnen, stellen Verbrechen dar, für deren Aburteilung der Gerichtshof zuständig ist. Der Täter solcher Verbrechen ist persönlich verantwortlich: (a) Verbrechen gegen den Frieden: Nämlich: Planen, Vorbereitung, Einleitung oder Durchführung eines Angriffskrieges oder eines Krieges unter Verletzung internationaler Verträge, Abkommen oder Zusicherungen oder Beteiligung an einem gemeinsamen Plan oder an einer Verschwörung zur Ausführung einer der vorgenannten Handlungen; (b) Kriegsverbrechen: Nämlich: Verletzungen der Kriegsgesetze oder -gebräuche. Solche Verletzungen umfassen, ohne jedoch darauf beschränkt zu sein, Mord, Misshandlungen, oder Deportation zur Sklavenarbeit oder für irgendeinen anderen Zweck, von Angehörigen der Zivilbevölkerung von oder in besetzten Gebieten, Mord oder Misshandlungen von Kriegsgefangenen oder Personen auf hoher See, Töten von Geiseln, Plünderung öffentlichen oder privaten Eigentums, die mutwillige Zerstörung von Städten, Märkten oder Dörfern oder jede durch militärische Notwendigkeit nicht gerechtfertigte Verwüstung; (c) Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Nämlich: Mord, Ausrottung, Versklavung, Deportation oder andere unmenschliche Handlungen, begangen an irgendeiner Zivilbevölkerung vor oder während des Krieges, Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen 85
Abgedruckt in: Egbert (Hrsg.), Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Bd. I, 1947, S. 7 ff. Später traten gemäß Art. 5 IMT-Statut noch weitere 19 Staaten diesem Abkommen bei. 86
Vgl. Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 30 ff.
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Gründen, begangen in Ausführung eines Verbrechens oder in Verbindung mit einem Verbrechen, für das der Gerichtshof zuständig ist, und zwar unabhängig davon, ob die Handlung gegen das Recht des Landes verstieß, in dem sie begangen wurde, oder nicht.“87 Der Genozid bildete zu diesem Zeitpunkt noch keinen eigenen Verbrechenstatbestand. Insbesondere ein Vergleich des von Lemkin entworfenen Konzeptes des Genozids mit dem Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit verdeutlicht, dass zwischen beiden Überschneidungen bestanden. Der Nürnberger Gerichtshof trat am 20. November 1945 zur Eröffnung des Verfahrens gegen die Hauptkriegsverbrecher des Dritten Reichs zusammen.88 Insgesamt waren vor dem Nürnberger Gerichtshof 24 Personen angeklagt, sowohl Inhaber von Regierungs- und Parteiämtern als auch einzelne Wirtschaftsführer; ferner eine Reihe von Reichsbehörden, an ihrer Spitze die Reichsregierung sowie der Generalstab und das Oberkommando der Wehrmacht und diejenigen Organisationen, die am stärksten in die Verbrechenspolitik des Dritten Reiches verstrickt gewesen waren, namentlich SS, SD, SA und Gestapo.89 Zu den Angeklagten zählten beispielsweise Hermann Göring, Joachim von Ribbentrop, Julius Streicher und Karl Dönitz. Die Anklageschrift umfasste die Anklagepunkte „Gemeinsamer Plan oder Verschwörung,
87
Das IMT-Statut ist abgedruckt in: Egbert (Hrsg.), Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Bd. I, 1947, S. 10 ff. 88
Zu den Nürnberger Prozessen ausführlich Taylor, Die Nürnberger Prozesse, 1994. Die Rechtmäßigkeit des IMT und seines Statuts waren aus verschiedenen Gründen sehr umstritten. So wurde der Vorwurf der Siegerjustiz erhoben und Verstöße gegen das Rückwirkungsverbot geltend gemacht, vgl. dazu Jung, Die Rechtsprobleme der Nürnberger Prozesse, 1992; Jescheck, Die Verantwortlichkeit der Staatsorgane nach Völkerstrafrecht, 1952, S. 295 ff.; Tomuschat, The Legacy of Nuremberg, JICJ 4 (2006), S. 830 (832 ff.). Völkerrechtspolitisch haben diese Argumente erhebliches Gewicht. Sie tragen noch heute dazu bei, den geringen Stand der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit zu kennzeichnen, der mit dem IMT erreicht war, Ipsen, Völkerrecht, 2004, § 42, Rn. 19. 89
Tomuschat, Von Nürnberg nach Den Haag, FW 70 (1995), S. 143 ff.; einer der Angeklagten beging Selbstmord (Ley), ein weiterer war verhandlungsunfähig (Krupp von Bohlen und Halbach), vgl. Egbert (Hrsg.), Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Bd. I, 1947, S. 190.
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Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Humanität“.90 Während der Prozesse fand das von Lemkin entworfene Konzept schnell internationale Anerkennung. Erstmalig wurde der Vorwurf des Genozids am 8. August 1945 in der Anklageschrift gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher unter dem Anklagepunkt „Kriegsverbrechen“ erhoben: „[…] deliberate and systematic genocide; viz., the extermination of racial and national groups, against the civilian populations of certain occupied territories in order to destroy particularly Jews, Poles, and Gypsies and others.“91 Für das Verbrechen des Genozids gab es zu dieser Zeit noch keinen deutschen Begriff. In der deutschen Übersetzung der Anklage ist die Rede von „vorsätzliche[m] systematische[m] Massenmord“.92 Am Ende der Verhandlungen wurde der Vorwurf des Genozids vom französischen und englischen Ankläger noch einmal aufgegriffen. So hieß es im Schlussvortrag des französischen Anklägers Champetier de Ribes: „The real crime of these men was the conception of the gigantic plan of world domination and the attempt to realize it by every possible means. By every possible means …, above all, the scientific and systematic extermination of millions of human beings and more especially of certain national or religious groups whose existence hampered the hegemony of the German race. This is a crime so monstrous, so undreamt of in history throughout the Christian era up to the birth of Hitlerism, that the term ‘genocide’ has had to be coined to define it and an accumulation of documents and testimonies has been needed to make it credible.“93 90
Egbert (Hrsg.), Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Bd. I, 1947, S. 29 ff. 91
United States v. Herman Goring, II Trial of The Major War Criminals before the International Military Tribunal, 1947, S. 30, 45 f., indictment, zitiert nach Lippman, The Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide: Fifty Years Later, Arizona JICL 15 (1998), S. 415 (426), Hervorhebung durch die Verf. 92
Egbert (Hrsg.), Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Bd. I, 1947, S. 47. 93
Zitiert nach Ruhashyankiko, Study of the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/416, 1978, para. 25 f.
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Am 1. Oktober 1946 erging im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess das Endurteil. Zwölf der Angeklagten wurden zum Tode, drei zu lebenslanger und vier zu zeitlichen Freiheitsstrafen verurteilt, drei weitere wurden freigesprochen.94 In den Urteilen fand der Terminus „Genozid“ keine Verwendung. Der nationalsozialistische Genozid wurde als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und als Kriegsverbrechen erfasst; nach der Konzeption des Gerichts war die Ausrottung rassischer oder nationaler Gruppen eine besonders schwere Form des Mordes.95 So finden sich im Urteil gegen von Ribbentrop folgende Ausführungen: „Er spielte bei Hitlers ‚Endlösung‘ der Judenfrage eine wichtige Rolle. Im September 1942 befahl er den bei verschiedenen Vasallenstaaten der Achse akkreditierten diplomatischen Vertretern, die Deportation der Juden nach dem Osten zu beschleunigen … Am 25. Februar 1943 beschwerte sich Ribbentrop bei Mussolini über die Langsamkeit der Italiener bei der Deportation der Juden aus der italienischen Besatzungszone Frankreichs. Am 17. April 1943 nahm er an einer Besprechung zwischen Hitler und Horthy über die Deportation von Juden aus Ungarn teil; er teilte Horthy mit, dass die Juden entweder vernichtet oder in Konzentrationslager gebracht werden müssen.“96 Der Stellenwert, der der Ahndung der nationalsozialistischen Ausrottungspolitik durch den Gerichtshof eingeräumt wurde, wird dadurch deutlich, dass nicht weniger als 16 Täter wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt wurden.97 Die Gestapo, der SD, die SS und
94
Egbert (Hrsg.), Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Bd. I, 1947, S. 412 ff. Im Einzelnen wurden Todesurteile ausgesprochen gegen Göring, von Ribbentrop, Keitel, Kaltenbrunner, Rosenberg, Frank, Frick, Streicher, Sauckel, Jodl, Seyß-Inquart und Bormann (in Abwesenheit); lebenslange Freiheitsstrafen gegen Heß, Raeder, Funk; zeitige Freiheitsstrafen gegen Dönitz (10 Jahre), von Schirach (20 Jahre), Speer (20 Jahre) und von Neurath (15 Jahre); freigesprochen wurden von Papen, Fritzsche und Schacht. 95
Lippman, The Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide: Fifty Years Later, Arizona JICL 15 (1998), S. 415 (427 ff.). 96
Egbert (Hrsg.), Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Bd. I, 1947, S. 323 ff. 97
Dies waren Göring, von Ribbentrop, Keitel, Kaltenbrunner, Rosenberg, Frank, Frick, Funk, Saukel, Jodl, Seyß-Inquart, Speer, von Neurath, Streicher und von Schirach.
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die politische Leitung der NSDAP wurden zu verbrecherischen Organisationen erklärt.98 Das Nürnberger Recht hatte eine viel diskutierte Lücke: Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit konnten nur dann bestraft werden, wenn sie mit einem der anderen Tatbestände – Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen – in Zusammenhang standen. Folge dieses Akzessorietätserfordernisses war, dass der IMT die meisten Verbrechen unbestraft lassen musste, die die Nürnberger Angeklagten vor Kriegsausbruch gegen die eigene Bevölkerung begangen hatten. Diese erhebliche Beschränkung der Möglichkeit, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, wurde vielfach als unbefriedigend empfunden.99 Trotz dieser Probleme ebnete die Einführung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit ins Internationale Recht den Weg für die nachfolgende Entwicklung des Völkerstrafrechts, zu der auch und vor allem die Genozidkonvention zählt.100 Das Besondere an den Nürnberger Verfahren war, dass in ihnen erstmalig durch ein Gericht die Strafbarkeit von Einzelpersonen für schwere Verstöße gegen grundlegende internationale Regeln zur Sicherung von Frieden und Mitmenschlichkeit unmittelbar nach Völkerrecht ausgesprochen wurde, völlig unabhängig davon, wie die Gesetze ihres Landes lauteten.101 Darüber hinaus wurde es bis Nürnberg als rein innerstaatliche Angelegenheit betrachtet, wie eine Regierung ihre Bürger behandelte. Dem uneingeschränkten Grundsatz der staatlichen Souveränität, der gleichsam ein Schutzschirm für die Täter war, hat Nürnberg ein Ende bereitet.102
98
Im Gegensatz dazu waren dem Urteil entsprechend die SA, die Reichsregierung sowie das Oberkommando und der Generalstab der Wehrmacht keine verbrecherischen Organisationen. Vgl. hierzu Egbert (Hrsg.), Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Bd. I, 1947, S. 282 ff. 99
Stillschweig, Das Abkommen zur Bekämpfung von Genocide, FW 1949,
S. 93. 100
Andreopoulos, The Calculus of Genocide, in: ders. (Hrsg.), Genocide: Conceptual and Historical Dimensions, 1994, S. 1 (2). 101 102
Tomuschat, Von Nürnberg nach Den Haag, FW 70 (1995), S. 143 (144 f.). Tomuschat, The Legacy of Nuremberg, JICJ 4 (2006), S. 830 (837 f.).
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b) Tokioter Kriegsverbrecherprozesse Zusätzlich zum Nürnberger Gerichtshof wurde in Tokio ein weiterer Militärgerichtshof eingerichtet, das International Tribunal for the Far East (IMTFE). Dieses war für die Aburteilung der Kriegsverbrechen zuständig, welche von Japan auf dem asiatischen Kriegsschauplatz begangen worden waren.103 Das IMTFE-Statut entsprach im Großen und Ganzen dem Statut des Nürnberger Gerichtshofes.104 Der Vorwurf des Genozids spielte in diesen Verfahren freilich keine Rolle. Der Prozess fand vom 3. Mai 1946 bis zum 12. November 1948 statt. Angeklagt waren 28 Personen von hohem militärischem oder politischem Rang. Das IMTFE sprach alle Angeklagten schuldig, sieben wurden zum Tode und die übrigen zu größtenteils lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt.105 Im Gegensatz zu den Nürnberger Nachfolgeprozessen blieb es in Japan bei dem Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher; der ursprüngliche Plan, zusätzlich gegen Japans Industrielle als Kriegstreiber vorzugehen, wurde nicht weiter verfolgt.106 Insgesamt erfuhren die Tokioter Kriegsverbrecherprozesse nicht besonders viel Aufmerksamkeit durch die Weltöffentlichkeit und stehen bis heute im Schatten von Nürnberg.107
c) Nürnberger Folgeprozesse Nach dem Krieg kamen die alliierten Mächte überein, weitere Verfahren gegen deutsche Kriegsverbrecher durchzuführen. Es sollte all denjenigen der Prozess gemacht werden, die den Hauptkriegsverbrechern ge103
Zum IMTFE und dem Prozess vgl. Hosoya u.a. (Hrsg.), The Tokyo War Crimes Trial, 1986; sowie Röling/Cassese, The Tokyo Trial and Beyond, 1993. 104
Für einen Vergleich der beiden Statuten vgl. Röling/Cassese, The Tokyo Trial and Beyond, 1993, S. 2 f. 105
Hosoya u.a. (Hrsg.), The Tokyo War Crimes Trial, 1986, S. 7 f. Die Kritik am Nürnberger Prozess trifft aufgrund der weitgehenden Übereinstimmung des Statuts des Tokioter Tribunals mit dem des Nürnberger Tribunals sowie der in beiden Prozessen nahezu identischen Verfahrensweise auch auf den Prozess in Tokio zu. Dazu Ipsen, Das „Tokyo Trial“ im Lichte des seinerzeit geltenden Völkerrechts, in: Herzberg (Hrsg.), Festschrift für Dietrich Oehler, 1985, S. 505 ff. 106
Ahlbrecht, Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert, 1999, S. 122. 107
Vgl. Hosoya u.a. (Hrsg.), The Tokyo War Crimes Trial, 1986, S. 7.
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1. Teil
wissermaßen nachgeordnet und in deren Schreckensherrschaft eingebunden gewesen waren.108 Am 20. Dezember 1945 wurde durch die vier Besatzungsmächte das Kontrollratsgesetz Nr. 10 (KRG 10) erlassen, welches die Rechtsgrundlage dieser Prozesse bildete.109 Grundsätzlich entsprach das KRG 10 dem Statut des Nürnberger Gerichtshofes. Strafbar waren gemäß Art. II KRG 10 Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie die Zugehörigkeit zu gewissen kriminellen Vereinigungen und Organisationen.110 Das KRG 10 enthielt eine wesentliche Neuerung gegenüber dem 108
Kastner, „Der Dolch des Mörders war unter der Robe des Juristen verborgen“: Der Nürnberger Juristenprozeß 1947, JA 1997, S. 699 (700). 109
Abgedruckt in: Peschel-Gutzeit (Hrsg.), Das Nürnberger Juristen-Urteil von 1947, 1996, S. 263 ff. 110
Art. II KRG 10 lautet wie folgt: „1. Jeder der folgenden Tatbestände stellt ein Verbrechen dar: a) Verbrechen gegen den Frieden. Das Unternehmen des Einfalls in andere Länder und des Angriffskrieges unter Verletzung des Völkerrechts und internationaler Verträge, einschließlich der folgenden, den obigen Tatbestand jedoch nicht erschöpfenden Beispiele: Planung, Vorbereitung, Beginn oder Führung eines Angriffskrieges oder eines Krieges unter Verletzung von internationalen Verträgen, Abkommen oder Zusicherungen; Teilnahme an einem gemeinsamen Plan oder einer Verschwörung zum Zwecke der Ausführung eines der vorstehend aufgeführten Verbrechen. b) Kriegsverbrechen. Gewalttaten oder Vergehen gegen Leib, Leben oder Eigentum, begangen unter Verletzung der Kriegsgesetze oder -gebräuche, einschließlich der folgenden, den obigen Tatbestand jedoch nicht erschöpfenden Beispiele: Mord, Misshandlung der Zivilbevölkerung der besetzten Gebiete oder ihre Verschleppung zur Zwangsarbeit oder zu anderen Zwecken; Mord oder Misshandlung von Kriegsgefangenen oder Personen auf hoher See; Tötung von Geiseln; Plünderung von öffentlichem oder privatem Eigentum; mutwillige Zerstörung von Stadt oder Land; oder Verwüstungen, die nicht durch militärische Notwendigkeit gerechtfertigt sind. c) Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Gewalttaten und Vergehen, einschließlich der folgenden, den obigen Tatbestand jedoch nicht erschöpfenden Beispiele: Mord, Ausrottung, Versklavung, Zwangsverschleppung, Freiheitsberaubung, Folterung, Vergewaltigung oder andere an der Zivilbevölkerung begangene unmenschliche Handlungen; Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen, ohne Rücksicht darauf, ob sie das nationale Recht des Landes, in welchem die Handlung begangen worden ist, verletzen. d) Zugehörigkeit zu gewissen Kategorien von Verbrechervereinigungen oder Organisationen, deren verbrecherischer Charakter vom Internationalen Militärgerichtshof festgestellt worden ist.“
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IMT-Statut. Das Akzessorietätserfordernis, welches die Strafverfolgung durch den IMT wie dargestellt erschwert hatte, war im KRG 10 keine Tatbestandsvoraussetzung mehr. Verbrechen gegen die Menschlichkeit konnten nunmehr auch dann verfolgt werden, wenn sie nicht mit einem Kriegsverbrechen oder einem Verbrechen gegen den Frieden in Zusammenhang gestanden hatten. Damit waren die Gerichte anders als der IMT befugt, die Verfolgung der Juden in Deutschland vor dem Ausbruch des Krieges zu behandeln.111 Zu kritisieren ist allerdings, dass im KRG 10 eine eigenständige Norm zur Verfolgung von Genozid nach wie vor nicht enthalten war. Auf der Grundlage des KRG 10 führten die Alliierten unterschiedliche Prozesse in den jeweiligen Besatzungszonen durch.112 Allein vor dem US-Militärgerichtshof in Nürnberg kam es zu zwölf thematischen Verfahren, in denen Verbrechen der militärischen und zivilen Elite der Nationalsozialisten verhandelt wurden. Für die Anerkennung des Genozidtatbestandes waren der Einsatzgruppenprozess, der RuSHA-Prozess und der Juristenprozess von besonderer Relevanz. Der Einsatzgruppenprozess richtete sich gegen 24 Führer der Einsatzgruppen wegen ihrer Teilnahme an Mordaktionen in den besetzten Ostgebieten. Die Einsatzgruppen waren von Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienst für den geplanten Vernichtungskrieg im Osten eingesetzt worden. Sie sollten jeden Widerstand gegen den Nationalsozialismus auslöschen – gegenwärtigen ebenso wie vergangenen und zukünftigen. Dem Befehl des Führers folgend töteten die Angehörigen der Einsatzgruppen über eine Million Menschen: Juden, Sinti und Roma oder auch Kommunisten.113 In seiner Eröffnungsrede nahm der Ankla111
Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 48.
112
Eine Übersicht über diese Verfahren findet sich bei Rückerl, Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen 1945-1978, 1979, S. 27 ff. Teilweise wurde auch von der in Art. III Ziff. 1 lit. d) enthaltenen Ermächtigung Gebrauch gemacht, die Strafverfahren auf deutsche Gerichte zu übertragen. Zunächst weigerten sich die deutschen Gerichte wegen der Verletzung des Rückwirkungsverbotes, den Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzuwenden. Erst als die britische Besatzungsmacht massiven Druck auf die deutschen Gerichte ausübte, kam es ab 1948 zu einer hohen Zahl von Verurteilungen nach dem KRG 10; Bästlein, Der Nürnberger Juristenprozess und seine Rezeption in Deutschland, in: Peschel-Gutzeit (Hrsg.), Das Nürnberger Juristen-Urteil von 1947, 1996, S. 9 (25). 113
The United States of America against Otto Ohlendorf et al., Military Tribunal II, Case No. 9, in: Trials of War Criminals before the Nuremberg Military Tribunals under Control Council Law No. 10, Vol. IV, S. 414 ff., 427.
1. Teil
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gevertreter Benjamin Ferencz ausdrücklich Bezug auf den Terminus des Genozids: „[T]hese deeds … were the methodical execution of long-range plans to destroy ethnic, national, political and religious groups which stood condemned in the Nazi mind. Genocide, the extermination of whole categories of human beings, was a foremost instrument of the Nazi doctrine. … We charge more than murder … [N]ot since men abandoned tribunal loyalties has any state challenged the right of whole peoples to exist. And not since medieval times have governments marked men for death because of race or faith.“114 Der Genozid, als die Ausrottung ganzer Kategorien von Menschen, wurde als das wichtigste Mittel der nationalsozialistischen Doktrin eingestuft.115 Grundlage für die Verurteilung der Angeklagten waren allerdings auch im Einsatzgruppen-Prozess die Tatbestände der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und der Kriegsverbrechen.116 Der so genannte RuSHA-Prozess war gegen 14 leitende Angehörige des Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS und ähnlicher Organisationen gerichtet. Im RuSHA-Prozess tauchte der Terminus des Genozids ebenfalls auf. Den Angeklagten wurde die Teilnahme an einem systematischen Programm von Genozid mit dem Ziel der Zerstörung fremder Nationen und ethnischer Gruppen durch Ausrottung und Unterdrückung nationaler Besonderheiten vorgeworfen. Um ihr Ziel zu erreichen, hätten die Nationalsozialisten sich verschiedener Methoden bedient, wie der Kindesentführung, erzwungenen Abtreibungen, dem Verbot des Sexualkontaktes mit Deutschen, der Germanisierung der Einwohner der besetzten Gebiete durch Evakuierungen und Umsiedlungen sowie der Verfolgung und Ausrottung der Juden.117 Diese Taten wurden jedoch ebenfalls nicht als „Genozid“ verurteilt.118
114
Ebenda, S. 30 ff., Hervorhebung durch die Verf.
115
Vgl. ebenda, S. 32.
116
Ebenda, S. 496 ff.
117
The United States of America against Ulrich Greifelt et al., Military Tribunal I, Case No. 8, Trials of War Criminals before the Nuremberg Military Tribunals under Control Council Law No. 10, Vol. IV, S. 609 f. 118
The United States of America against Ulrich Greifelt et al., Military Tribunal I, Case No. 8, Trials of War Criminals before the Nuremberg Military Tribunals under Control Council Law No. 10, Vol. V, S. 152 ff.
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Der Juristenprozess richtete sich gegen 16 führende deutsche Justizjuristen – Richter, Staatsanwälte und Mitarbeiter der Justizverwaltung.119 Dieses Verfahren war das einzige der Nachkriegszeit, mit dem die Justiz des Dritten Reiches insgesamt „bewältigt“ werden sollte.120 In dem Urteil wird ausdrücklich hervorgehoben, dass es in dem Prozess nicht um an Einzelpersonen begangenes Unrecht ging. Nach Auffassung der Richter waren die Angeklagten solch unermesslicher Verbrechen beschuldigt, dass bloße Einzelfälle von Verbrechenstatbeständen im Vergleich dazu unbedeutend erschienen. Die Angeklagten wurden beschuldigt, an einem über das ganze Land verbreiteten und von der Regierung organisierten System der Grausamkeit und Ungerechtigkeit unter der Verletzung der Kriegsgesetze und der Gesetze gegen die Menschlichkeit teilgenommen zu haben – im Namen des Rechts unter der Autorität des Justizministeriums und mit Hilfe der Gerichte. Der Dolch des Mörders sei unter der Robe der Juristen verborgen gewesen.121 Im Kontext der Erläuterungen zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnete das Gericht den Genozid als vornehmlichste Illustration eines solchen Verbrechens. Als Beleg für diese These zog es die kurz zuvor ergangene Resolution 96 (I) der Generalversammlung der Vereinten Nationen heran.122 Im Einzelnen lautete die Urteilsbegründung wie folgt: „Die Generalversammlung ist zwar keine internationale gesetzgebende Körperschaft, aber sie ist das maßgebendste gegenwärtig bestehende Organ für die Auslegung der Weltmeinung. Ihre Anerkennung des Genozids als völkerrechtliches Verbrechen ist ein schlüssiger Beweis für diese Tatsache. Wir billigen ihre Schlüsse und machen sie uns zu Eigen. … wir finden, dass Personen, die wegen derartiger Verbrechen vor Gericht gestellt werden, kein Unrecht angetan wird.“123
119
Das Urteil ist in deutscher Sprache abgedruckt in: Peschel-Gutzeit (Hrsg.), Das Nürnberger Juristen-Urteil von 1947, 1996, S. 37 ff.; ausführlich zu diesem Prozess Kastner, „Der Dolch des Mörders war unter der Robe des Juristen verborgen“: Der Nürnberger Juristenprozeß 1947, JA 1997, S. 699 ff. 120
Kastner, „Der Dolch des Mörders war unter der Robe des Juristen verborgen“: Der Nürnberger Juristenprozeß 1947, JA 1997, S. 699 (700 f.). 121
Die Vereinigten Staaten von Amerika gegen Josef Altsstötter et al., in: Peschel-Gutzeit (Hrsg.), Das Nürnberger Juristen-Urteil von 1947, 1996, S. 65 f. 122 123
Zu Res. 96 (I) s.u. 1. Teil, I. 6.
Die Vereinigten Staaten von Amerika gegen Josef Altsstötter et al., in: Peschel-Gutzeit (Hrsg.), Das Nürnberger Juristen-Urteil von 1947, 1996, S. 64.
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Die Schuldsprüche lauteten im Juristenprozess wie schon in den anderen Verfahren auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit und/oder Kriegsverbrechen.124 Dennoch ist das Urteil bemerkenswert. Wenn auch als Verbrechen gegen die Menschlichkeit qualifiziert, wurde der Genozid erstmalig als völkerrechtliches Verbrechen anerkannt und Angeklagte auf dieser Grundlage verurteilt. Im Verfahren gegen Ernst Lautz, der bis zum Kriegsende Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof in Berlin gewesen war, wurde beispielsweise festgestellt, dass der Angeklagte in verbrecherischer Weise in die Durchführung der Polen- und Judenstrafrechtsverordnung verwickelt war, die die Richter als Teil des von der Regierung aufgestellten Plans zur Vernichtung dieser Rassen ansahen. Nach Meinung der Richter war Lautz ein Mittäter und gab seine Zustimmung zum Verbrechen des Genozids.125 In vergleichbarer Art und Weise wurde im Verfahren gegen den Angeklagten Rothaug ausgeführt, dass er an dem nationalen Programm rassischer Verfolgung teilgenommen habe. Er habe sich mit diesem Programm identifiziert und aufs Äußerste dafür eingesetzt, es zu erreichen. Nach Meinung der Richter war Rothaug Teilnehmer an dem Verbrechen des Genozids.126 Sowjetische, französische und britische Militärgerichte führten auf der Grundlage des KRG 10 weitere Folgeprozesse durch.127 Neben den Folgeprozessen in den Besatzungszonen nach dem KRG 10 fanden Prozesse vor nationalen Gerichten statt, in denen die Täter nach nationalem Recht für den Genozid an den europäischen Juden zur Verantwortung gezogen wurden. Von diesen Prozessen verdient unter anderem der vor dem polnischen Obersten Nationalgerichtshof verhandelte Prozess gegen Rudolf Höß, dem ehemaligen Leiter des Konzentrationslagers Auschwitz, besondere Beachtung.128 Das Tribunal kam zu der Feststellung, dass Höß das System der Auslöschung ganzer Nationen in Konzentrations- und Todeslagern eingeführt hatte, das zum Tod von ungefähr vier Millionen Menschen führte.129 Einen besonderen Schwerpunkt des Verfahrens bildeten die in Auschwitz durchgeführten 124
Ebenda, S. 185, 204.
125
Ebenda, S. 181.
126
Ebenda, S. 204.
127
Ahlbrecht, Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert, 1999, S. 100. 128
Trial of Obersturmbannführer Rudolf Franz Ferdinand Hoess, Law Reports of Trials of War Criminals, Vol. VII, Case No. 38, S. 11 ff. 129
Ebenda, S. 11, 17.
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medizinischen Experimente, wie Kastrationen, Sterilisationen und Schwangerschaftsabbrüche.130 Nach Auffassung des Gerichts waren diese Experimente vorbereitende Maßnahmen zur Durchführung des Genozids.131 Höß wurde wegen Teilnahme am Genozid am 2. April 1947 zum Tode verurteilt132 und in Auschwitz gehängt. Hingewiesen sei noch auf den Prozess gegen Amon Göth, ehemaliger Kommandant im Konzentrationslager Plaszow.133 Als solcher war er verantwortlich für den Tod von ungefähr 8.000 Menschen. Darüber hinaus war Göth an der Auflösung des Krakauer und des Tarnower Ghettos beteiligt. Allein die Schließung des Krakauer Ghettos forderte ca. 2.000 Todesopfer.134 Nach Auffassung des Gerichts wies die umfassende Vernichtung von Juden und Polen alle Merkmale des Genozids im biologischen Sinne auf und erfasste zudem die Zerstörung des kulturellen Lebens dieser Gruppen.135 Göth wurde am 13. September 1946 hingerichtet.136 Die Nürnberger Folgeprozesse spiegeln insgesamt die sich allmählich entwickelnde Akzeptanz des Genozids als besondere Verbrechenskategorie wider.
6. Resolution 96 (I) als Grundstein der Genozidkonvention Kurz nach dem Urteil des IMT in Nürnberg kam der Genozid auf Antrag Kubas, Indiens und Panamas vom 2. November 1946 auf die Agenda der Generalversammlung der Vereinten Nationen.137 Anlass dieser Initiative war die Lücke des Nürnberger Rechts, aufgrund derer viele Verbrechen, die die deutsche Regierung vor dem Krieg an der eigenen Bevölkerung begangen hatte, nicht geahndet werden konnten. Der Genozid sollte als völkerrechtliches Verbrechen normiert werden, damit 130
Ebenda, S. 14 ff.
131
Ebenda, S. 24 ff.
132
Ebenda, S. 17.
133
Trial of Hauptsturmführer Amon Leopold Goeth, Law Reports of Trials of War Criminals, Vol. VII, Case No. 37, S. 1 ff. 134
Ebenda, S. 1, 4.
135
Ebenda, S. 9.
136
Ebenda, S. 4.
137
Robinson, The Genocide Convention, 1960, S. 17.
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die entsprechenden Täter zukünftig für ihre Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden könnten.138 Die Generalversammlung erkannte die Dringlichkeit des Vorhabens. Die Frage wurde innerhalb weniger Tage diskutiert und nachfolgend an den Rechtsausschuss verwiesen, welcher nach weiteren Diskussionen der Generalversammlung den Entwurf einer Resolution zum Genozid übermittelte.139 Dieser Entwurf wurde am 11. Dezember 1946 einstimmig durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen als Resolution 96 (I) verabschiedet. In der Resolution wird der Genozid als die Leugnung der Existenzberechtigung ganzer menschlicher Gruppen definiert und bestätigt, dass eine solche Leugnung ein Verbrechen des Völkerrechts sei, gleichgültig, ob sie im Krieg oder im Frieden begangen werde. Resolution 96 (I) lautet wie folgt: „Genocide is a denial of the right of existence of entire human groups, as homicide is the denial of the right to live of individual human beings; such denial of the right of existence shocks the conscience of mankind, results in great losses to humanity in the form of cultural and other contributions represented by these human groups, and is contrary to moral law and to the spirit and aims of the United Nations. Many instances of such crime of genocide have occurred when racial, religious, political and other groups have been destroyed, entirely or in part. The punishment of genocide is a matter of international concern. The General Assembly, therefore, Affirms that genocide is a crime under international law which the civilised world condemns, and for the commission of which principals and accomplices – whether private individuals, public officials or statesmen, and whether the crime is committed on religious, racial, political or any other grounds – are punishable. Invites the Member States to enact the necessary legislation for the prevention and punishment of this crime; Recommends that international co-operation be organized between States with a view to facilitating the speedy prevention and punishment of the crime of genocide, and, to this end, 138
nd
st
th
nd
UN GAOR, 2 part of the 1 session, 6 Committee, 22 meeting, UN Doc. A/C.6/84. 139
Robinson, The Genocide Convention, 1960, S. 17.
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Requests the Economic and Social Council to undertake the necessary studies, with a view to drawing up a draft convention on the crime of genocide to be submitted to the next regular session of the General Assembly.“140 Resolution 96 (I) ist den unermüdlichen Bemühungen von Lemkin zu verdanken. Sie ist ein Meilenstein auf dem Weg zur Verhütung und Bestrafung von Genozid und bildet die Basis aller weiteren Bemühungen der Staatengemeinschaft. Die Resolution machte den Weg frei für den Schutz rassischer, religiöser, politischer und anderer Gruppen vor Verfolgung und Ausrottung, nicht nur durch fremde Regierungen, sondern auch durch ihre eigene, nicht nur in Kriegs-, sondern auch in Friedenszeiten.141 Insbesondere aber wurde in der Resolution anerkannt, dass der Genozid eine eigenständige Verbrechenskategorie ist und das im IMT-Statut geltende Erfordernis der Akzessorietät zu einem Verbrechen gegen den Frieden oder einem Kriegsverbrechen aufgegeben.
7. Vorbereitende Arbeiten zur Genozidkonvention Die Entwurfsarbeiten der Genozidkonvention gestalteten sich langwierig und problematisch. Über die wichtigsten Schritte soll in diesem Zusammenhang ein kurzer Überblick gegeben werden.142 Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den verschiedenen Entwürfen kann an dieser Stelle nicht erfolgen; die entscheidenden inhaltlichen Fragen werden im Kontext des jeweiligen Tatbestandsmerkmals diskutiert.
a) Entwurf des UN-Generalsekretärs Entsprechend Resolution 96 (I) wies der UN-Generalsekretär den Wirtschafts- und Sozialrat an, eine Konvention zur Bekämpfung von Genozid zu entwerfen. Der Wirtschafts- und Sozialrat übergab seiner140
UN Doc. A/64/Add.1.
141
Kuper, Genocide, 1981, S. 23 f.
142
Zu den Entwurfsarbeiten zur Genozidkonvention vgl. die ausführlichen Schilderungen bei Lippman, The Drafting of the 1948 Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, Boston UILJ 3 (1985), S. 1; Drost, The Crime of State, Book II: Genocide, 1959, S. 8 ff.; Robinson, The Genocide Convention, 1960, S. 17 ff.; Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 51 ff.
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seits die Angelegenheit an den UN-Generalsekretär, der mit der Hilfe von Völker- und Strafrechtsexperten einen Konventionsentwurf erarbeiten sollte. Der Generalsekretär forderte zunächst die Menschenrechtsabteilung auf, einen ersten Konventionsentwurf zu entwickeln. Dieser Entwurf wurde dann auf Einladung des Generalsekretärs von einer Kommission unter anderem bestehend aus den drei herausragenden Völkerrechtswissenschaftlern Raphael Lemkin, Donnedieu de Vabres und Vespasian de Pella weiter diskutiert. Das Ergebnis war ein umfassender Konventionsentwurf, der die Basis für eine möglichst breite Diskussion innerhalb der verschiedenen Organe der Vereinten Nationen sein sollte.143 Entsprechend umfangreich waren auch die einzelnen Vorschriften. In Art. I des Entwurfs des Generalsekretärs war der Genozid wie folgt definiert: „In this Convention, the word ‘genocide’ means a criminal act directed against any one of the aforesaid groups of human beings [racial, national, linguistic, religious or political], with the purpose of destroying it in whole or in part, or of preventing its preservation or development. Such acts consist of: 1. Causing death of members of a group or injuring their health or physical integrity by: (a) group massacres or individual executions; or (b) subjection to conditions of life which, by lack of proper housing, clothing, food, hygiene and medical care, or excessive work or physical exertion are likely to result in the debilitation or death of the individuals; or (c) mutilations and biological experiments imposed for other than curative purposes; or (d) deprivation of all means of livelihood, by confiscation of property, looting, curtailment of work, denial of housing and of supplies otherwise available to the other inhabitants of the territory concerned. 2. Restricting birth by: (a) sterilization and/or compulsory abortion; or (b) segregation of the sexes; or (c) obstacles to marriage. 3. Destroying the specific characteristics of the group by: (a) forcible transfer of children to another human group; or (b) forced and systematic exile of individuals representing the culture of a group; or (c) prohibition of the use of a national language even in private intercourse; or (d) systematic destruction of books printed in the na143
Draft Convention on the Crime of Genocide prepared by the SecretaryGeneral, UN Doc. E/447, S. 15 f.
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tional language or of religious works or prohibition of new publications; or (e) systematic destruction of historical or religious monuments or their diversion to alien uses, destruction or dispersion of documents and objects of historical, artistic, or religious value and of objects used in religious worship.“144 Nach Auffassung des Sekretariats bestand der Kern des Genozids in dem Ziel der Zerstörung einer menschlichen Gruppe. In dem begleitenden Kommentar betonte das Sekretariat die Notwendigkeit, sich strikt an diese Definition zu halten, um zu verhindern, dass das Konzept des Genozids etwa auf Kriegsverbrechen oder den Minderheitenschutz ausgedehnt werde.145 Der Konventionsentwurf bestand aus insgesamt 24 Artikeln, von denen nur einige zentrale Vorschriften genannt werden sollen. So enthielt Art. II eine Auflistung der strafbaren Handlungen, wie Versuch, Teilnahme, Verschwörung oder auch bestimmte vorbereitende Maßnahmen wie Nachforschungen zur Entwicklung neuer Techniken zur Begehung von Genozid.146 Art. III nannte zudem öffentliche Propaganda als mögliche strafbare Handlung.147 Zur Frage der gerichtlichen Zuständigkeit enthielt der Entwurf in Art. X zwei Vorschläge. Der Strafgerichtshof war alternativ entweder als ständiges internationales Gericht mit allgemeiner Zuständigkeit für alle völkerrechtlichen Verbrechen konzipiert oder als ein ausschließlich für die Ahndung von Genozid zuständiges Strafgericht.148 Bemerkenswert ist im Übrigen Art. XIII, in dem die Mitgliedstaaten verpflichtet werden sollten, den Überlebenden eines Genozids eine nach Art und Höhe von den Vereinten Nationen festzusetzende Entschädigung zu zahlen, soweit die Regierung selbst an dem Genozid beteiligt war oder es versäumt hatte, ihn zu verhindern.149 144
Ebenda, S. 5 ff.
145
Ebenda, S. 16.
146
Dazu ebenda, S. 7, 29 ff.
147
Dazu ebenda, S. 7, 32 ff.
148
Vgl. ebenda, S. 9, die entsprechenden Entwurfstexte finden sich im An-
nex. 149
Vgl. ebenda, S. 9. Zu der Idee einer zivilrechtlichen Schadensersatzpflicht des Staates finden sich bei Drost, The Crime of State, Book II: Genocide, 1959, S. 16, folgende interessante Ausführungen: „The provision for reparation to victims of genocide – naturally, the indirect victims are meant here – emanates from the idea that a population is to a certain extent answerable for the crimes
1. Teil
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Mit Resolution 77 (V) vom 6. August 1947 rief der Wirtschafts- und Sozialrat die Mitgliedstaaten an, schnellstmöglich ihre Stellungnahmen zu dem Entwurf abzugeben und beauftragte den Generalsekretär, den Konventionsentwurf mitsamt den rechtzeitig eingegangenen Stellungnahmen der Generalversammlung zu übermitteln.150 Insgesamt leisteten diesem Aufruf nur sechs Staaten Folge, nämlich Indien, Haiti, die Philippinen, Venezuela, die Vereinigten Staaten und Frankreich.151 Am 21. November 1947 nahm die Generalversammlung Resolution 180 (II) an, in der sie Resolution 96 (I) bestätigte und den Genozid zu einem internationalen Verbrechen erklärte, welches die nationale wie internationale Verantwortung von Personen und Staaten nach sich zieht. Außerdem wies sie den Wirtschafts- und Sozialrat an, seine Arbeiten fortzusetzen und einen endgültigen Konventionsentwurf vorzulegen. Das Abwarten der Stellungnahmen der Mitgliedstaaten wurde nunmehr ausdrücklich für entbehrlich erklärt.152
b) Entwurf des ad hoc-Ausschusses Der Wirtschafts- und Sozialrat bildete einen Sonderausschuss, den so genannten ad hoc-Ausschuss, bestehend aus Vertretern Chinas, Frankreichs, des Libanon, Polens, der Vereinigten Staaten, der Sowjetunion und Venezuelas, auf den er die Ausarbeitung des Konventionsentwurfes übertrug. Der Entwurf des Generalsekretärs, die Kommentare der Mitgliedstaaten und jeder andere von einem Mitgliedstaat vorgelegte Entwurf sollten dabei berücksichtigt werden.153 Der ad hoc-Ausschuss erarbeitete einen zweiten Konventionsentwurf, dessen Grundlage ein von China eingebrachter Vorschlag bildete.154 Das Ergebnis der Bemühungen des ad hoc-Ausschusses war ein Konventionsentwurf bestehend aus 19 Artikeln, der sich zum Teil erheblich von dem Entwurf des Generalcommitted by its government which it has condoned or allowed to take place. Even where no criminal intent on the part of the majority of the people of a country exists, it is just that the people as a whole should be held to account for its crimes.“ 150
UN Doc. E/573.
151
Vgl. dazu Lippman, The Drafting of the 1948 Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, Boston UILJ 3 (1985), S. 1 (20). 152
UN Doc. A/RES/180(II).
153
Res. 117(VI), UN Doc. E/734.
154
Report of the ad hoc Committee on Genocide, UN Doc. E/794, S. 1.
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sekretärs unterschied. Zunächst stellte Artikel I klar, dass der Genozid ein Verbrechen nach Internationalem Recht ist, während sich im Vorentwurf keine entsprechende Vorschrift fand. Die Definition des Genozids lautete im Entwurf des ad hoc-Ausschusses wie folgt: Article II [‘Physical and biological’ genocide]: „In this Convention genocide means any of the following deliberate acts committed with the intent to destroy a national, racial, religious or political group, on grounds of the national or racial origin, religious belief, or political opinion of its members: 1. Killing members of the group; 2. Impairing the physical integrity of members of the group; 3. Inflicting on members of the group measures or conditions of life aimed at causing their death; 4. Imposing measures intended to prevent birth within the group.“155 Article III [‘Cultural’ genocide]: „In this Convention genocide also means any deliberate act committed with the intent to destroy the language, religion or culture of a national, racial or religious group on grounds of national or racial origin or religious belief such as: 1. Prohibiting the use of the language of the group in daily intercourse or in schools, or the printing and circulation of publications in the language of the group; 2. Destroying or preventing the use of libraries, museums, schools, historical monuments, places of worship or other cultural institutions and objects of the group.“156 Ein Vergleich mit dem Entwurf des UN-Generalsekretärs ergibt, dass die Genoziddefinition statt in einem nunmehr in zwei Artikeln enthalten war. Des Weiteren übernahm der Entwurf des ad hoc-Ausschusses zwar die drei möglichen Begehungsformen für Genozid – physisch, biologisch und kulturell –, reduzierte aber die Anzahl der möglichen Tatmodalitäten. Darüber hinaus wurde der „biologische“ Aspekt des Genozids auf gewisse Weise geschwächt, indem die Geburtenbeschränkung (restriction of birth) durch die Geburtenverhinderung ersetzt wurde (prevention of birth). Aber auch die in Artikel IV enthaltenen strafbaren Handlungen wurden vermindert. Die vorbereitenden Maßnahmen und die öffentliche Propaganda fanden keine Erwähnung mehr. 155
Ebenda, S. 5.
156
Ebenda, S. 6.
1. Teil
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Schließlich war auch die gerichtliche Zuständigkeit abweichend geregelt. Gemäß Artikel VII sollte ein Gericht des Landes, in dem die Straftat begangen worden war, oder aber ein internationaler Strafgerichtshof zuständig sein.157 Der Wirtschafts- und Sozialrat beschränkte sich auf generelle Kommentare zu dem Entwurf des ad hoc-Ausschusses und leitete ihn unverändert an die Generalversammlung weiter.158
c) Entwurf des Sechsten Ausschusses und Annahme der Genozidkonvention Die Generalversammlung übergab den Konventionsentwurf dem Sechsten Ausschuss (o.a. Rechtsausschuss). Der Sechste Ausschuss untersuchte und überarbeitete den Entwurf des ad hoc-Ausschusses Artikel für Artikel.159 Das Ergebnis war ein eigener Entwurf, aus dem die noch heute gültige Fassung der Genozidkonvention entstand. Die Genozidkonvention besteht aus insgesamt neunzehn Artikeln. Artikel I entspricht dem Entwurf des ad hoc-Ausschusses und stellt klar, dass der Genozid, ob im Krieg oder im Frieden begangen, ein Verbrechen nach Internationalem Recht ist. Die endgültige, in Artikel II enthaltene Legaldefinition des Genozids unterscheidet sich hingegen von den beiden Vorversionen: „In the present Convention, genocide means any of the following acts committed with the intent to destroy, in whole or in part, a national, ethnical, racial or religious group, as such: (a) Killing members of the group; (b) Causing serious bodily or mental harm to members of the group; (c) Deliberately inflicting on the group conditions of life calculated to bring about its physical destruction in whole or in part; (d) Imposing measures intended to prevent births within the group; (e) Forcibly transferring children of the group to another group.“
157
Zu den Unterschieden zwischen den beiden Entwürfen Robinson, The Genocide Convention, 1960, S. 23 f. 158
Lippman, The Drafting of the 1948 Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, Boston UILJ 3 (1985), S. 1 (36 f.). 159
Robinson, The Genocide Convention, 1960, S. 26.
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Zunächst wurde die Zweiteilung der Definition wieder aufgegeben und die Begriffsbestimmung in einer Vorschrift vorgenommen. Des Weiteren entschied man sich dazu, die politischen Gruppen aus dem Schutzbereich der Konvention herauszunehmen.160 Zudem wurde der Zusatz „in whole or in part“ aufgenommen, um klarzustellen, dass die teilweise Zerstörung der Gruppe ausreicht.161 Die Bezugnahme auf die Motive des Täters („on grounds of … “) wurde gestrichen und an Stelle dessen die Wendung „as such“ aufgenommen.162 Darüber hinaus ergaben sich im Hinblick auf die Tatmodalitäten einige Änderungen. So wurde die Verursachung mentaler Schäden als mögliche Tatmodalität normiert. Ferner wurde in lit. e) die gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe poenalisiert, welche schon in Art. I Abs. 3 a) des Sekretariatsentwurfes als Form des kulturellen Genozids enthalten gewesen war.163 Abgesehen davon wurde der kulturelle Genozid aus dem Katalog der Tatmodalitäten gestrichen.164 Art. III enthält eine Liste der strafbaren Handlungen: Genozid, Verschwörung zur Begehung von Genozid, unmittelbare und öffentliche Anreizung zur Begehung von Genozid, Versuch Genozid zu begehen und die Teilnahme am Genozid. Gemäß Art. IV sind regierende Personen, öffentliche Beamte und private Einzelpersonen gleichermaßen für die Begehung von Genozid zu bestrafen. In Art. V verpflichten sich die Vertragsparteien dazu, die notwendigen gesetzgeberischen Maßnahmen zu ergreifen, um insbesondere eine effektive Strafverfolgung sicherzustellen. Diese Vorschrift bestätigt, dass die Vorschriften der Konvention nicht unmittelbar anwendbar beziehungsweise self-executing sind. In Art. VI ist die gerichtliche Zuständigkeit in Anlehnung an den Entwurf des ad hoc-Ausschusses geregelt. Entweder soll ein zuständiges Gericht des Landes, in dessen Gebiet die Handlungen begangen wurden, zuständig sein oder aber das internationale Strafgericht, das durch die vertragsschließenden Parteien anerkannt wurde.165 Die Notwendigkeit der vorherigen Annahme durch die Parteien wurde in Abweichung zum 160
Zum Problem der politischen Gruppen s.u. 2. Teil, II. 2. a).
161
Zum Passus „in whole or in part“ s.u. 4. Teil, IV. 2.
162
Zur Problematik des Motivmerkmals s.u. 4. Teil, III.
163
Die Tatmodalität des Art. II lit. e) wird diskutiert unter 3. Teil, I. 5.
164
Die Problematik des kulturellen Genozids wird untersucht unter 3. Teil,
III. 1. 165
Bis zur Errichtung des ICC gab es ein solches internationales Strafgericht allerdings nicht.
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Vorentwurf unter anderem deshalb aufgenommen, weil einige Delegationen sich nicht an ein internationales Tribunal binden wollten, ohne dessen Statut und Kompetenzen zu kennen.166 In Art. VII wird erklärt, dass der Genozid kein politisches Verbrechen ist. Zudem verpflichten sich die Mitgliedstaaten zur Auslieferung der Täter entsprechend dem geltenden Recht. Gemäß Art. VIII ist jede Vertragspartei dazu ermächtigt, die zuständigen Organe der Vereinten Nationen damit zu befassen, die für die Erfüllung der Konvention erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Bei Streitfällen zwischen den Vertragsparteien bezüglich der Auslegung, Anwendung oder Durchführung der Konvention, einschließlich der Frage der Staatenverantwortlichkeit, wird in Art. IX der Internationale Gerichtshof für zuständig erklärt. Die Art. X bis XIX enthalten formelle Regelungen, von denen im Kontext der vorliegenden Arbeit Art. XVI hervorzuheben ist, der die Regelung über eine Revision der Konvention enthält.167 Der Entwurf wurde am 1. Dezember 1948 mit 30 zu 0 Stimmen bei 8 Enthaltungen durch den Sechsten Ausschuss angenommen,168 der ihn zusammen mit seinem Abschlussbericht an die Generalversammlung übermittelte. Die Generalversammlung nahm den Konventionsentwurf des Sechsten Ausschusses unverändert am 9. Dezember 1948 einstimmig und ohne Enthaltungen an.169 Die Genozidkonvention ist gemäß Art. XIII am 12. Januar 1951 in Kraft getreten. Trotz der Begeisterung über die Annahme der Konvention durch die Generalversammlung brauchte es eine gewisse Zeit, bis sich dieser Vertrag als allgemein anerkanntes völkerrechtliches Instrument behaupten konnte. Insbesondere die USA waren bedauerlicherweise lange Zeit sehr skeptisch und haben die Genozidkonvention erst 1988 ratifiziert.170 Deutschland ist seit dem 22. Februar 1955 Mitgliedstaat der Konvention.171 166
rd
th
th
UN GAOR, 3 session, 6 Committee, 129 meeting, S. 664 ff.
167
Nach Art. XVI Genozidkonvention kann ein Antrag auf Revision jederzeit von einer der vertragsschließenden Parteien durch eine schriftliche Mitteilung an den UN-Generalsekretär gestellt werden. Die Generalversammlung entscheidet dann, welche Schritte ggf. auf den Antrag hin zu unternehmen sind. 168
rd
th
th
UN GAOR, 3 session, 6 Committee, 129 meeting, S. 701.
169
UN Doc. A/RES/260(III), wobei die Südafrikanische Union und El Salvador abwesend waren Robinson, The Genocide Convention, 1960, S. 27, Fn. 53. 170
Allerdings erfolgte diese Ratifikation nicht uneingeschränkt. Ihr waren zwei Vorbehalte, fünf Interpretationserklärungen und eine Deklaration beigefügt, vgl. LeBlanc, The United States and the Genocide Convention, 1991,
Grundlagen
49
d) Bewertung der vorbereitenden Arbeiten Die Berichte über die vorbereitenden Arbeiten zur Genozidkonvention veranschaulichen, wie sich die Vorschläge vom ersten Konventionsentwurf des Generalsekretärs, über den des ad hoc-Ausschusses bis hin zur endgültigen Fassung der Konvention entwickelten. Die Kontroversen über den Wortlaut der Konvention machen auf deprimierende Art und Weise deutlich, wie die Reichweite des Vertragswerks zusehends schrumpfte.172 Wie im Rahmen der Untersuchung der einzelnen Tatbestandsmerkmale des Art. II Genozidkonvention zu zeigen sein wird, wurden verschiedenste Aspekte der Legaldefinition heftig diskutiert. Besonders starke Kontroversen entstanden um das Schutzobjekt und die subjektive Tatseite. Offensichtlich wollten die Staaten die Gefahr einer zu großen Einschränkung ihrer Souveränität in jedem Fall verhindern. Insgesamt ist die Genozidkonvention der kleinste gemeinsame Nenner, der zu Gunsten einer möglichst großen Zahl von Mitgliedstaaten in Kauf genommen wurde.
II. Bedeutung der Genozidkonvention Ungeachtet der Feststellung, dass die Genozidkonvention ein Regelungswerk mit vielen Kompromissen ist, kommt ihr ein entscheidender Stellenwert im völkerrechtlichen Normengefüge zu. Die Konvention war aus unterschiedlichen Gründen eine wesentliche Fortentwicklung gegenüber dem Nürnberger Recht.173 Hervorzuheben ist, dass der Genozid in Art. I der Konvention zum Verbrechen nach Internationalem Recht erklärt wird, unabhängig davon, ob im Krieg oder im Frieden begangen. Die Bezeichnung als völkerrechtliches Verbrechen stellte klar, dass das Angriffsobjekt, menschliche Gruppen, unmittelbar unter dem Schutz des Völkerrechts steht.174 S. 1 ff. Soweit erforderlich werden die Interpretationserklärungen im weiteren Verlauf der Arbeit näher untersucht. 171
Gem. Bekanntgabe vom 14. März 1955, BGBl. II, S. 210.
172
Kuper, Genocide, 1981, S. 24.
173
Vgl. Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind, Report of the International Law Commission on the Work of its forty-eighth session, 6 May – 26 July 1996, UN Doc. A/51/10, Art. 17, para. 3. 174
Stillschweig, Das Abkommen zur Bekämpfung von Genocide, FW 1949, S. 93 (95).
1. Teil
50
Dies war ein absolutes Novum, erst durch diesen Vertrag wurde der Genozid zu einem eigenständigen Straftatbestand und war nicht länger nur ein Teilaspekt der Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Außerdem erhielt die Konvention durch Art. I eine gegenüber Art. 6 IMT-Statut erheblich größere Reichweite, da die Anwendung nicht mehr länger auf Kriegszeiten beschränkt war. Die Genozidkonvention hat ferner die Barriere der staatlichen Souveränität durchbrochen, den staatlichen Hoheitsakt aufgehoben und die internationale strafrechtliche Verantwortlichkeit auf private Individuen und öffentliche Beamte ausgedehnt. Das Instrument hat dazu beigetragen, den Schutz der Menschenrechte zu einem internationalen Anliegen zu machen und die Entwicklung des Konzeptes der Verbrechen gegen die Menschlichkeit weiter vorangetrieben.175 Von herausragender Bedeutung ist der Umstand, dass die Genozidkonvention als Referenzwerk für die gewohnheitsrechtliche Geltung des Genozidverbotes angesehen wird. Gemäß Art. 38 Abs. 1 lit. b) des Statuts des Internationalen Gerichtshofs ist das Völkergewohnheitsrecht der Ausdruck einer allgemein als Recht anerkannten Übung; entscheidend sind mithin die Staatenpraxis und die gleichzeitige Überzeugung der Staaten zu diesem Verhalten auch verpflichtet zu sein (opinio juris). Als gewohnheitsrechtliche Norm gilt das Genozidverbot auch für und gegen jene Staaten, die nicht Mitglieder der Konvention sind. Die gewohnheitsrechtliche Geltung des in der Konvention normierten Genozidverbotes wurde bereits kurz nach ihrem Inkrafttreten durch den ICJ anerkannt. In seinem Gutachten über die Zulässigkeit von Vorbehalten zur Genozidkonvention hieß es dazu im Einzelnen: „The origins of the Convention show that it was the intention of the United Nations to condemn and punish genocide as ‘a crime under international law’ involving a denial of the right of existence of entire human groups, a denial which shocks the conscience of mankind and results in great losses to humanity, and which is contrary to moral law and to the spirit and aims of the United Nations … The first consequence arising from this conception is that the principles underlying the Convention are principles which are recognized by civilized nations as binding on States, even without any conventional obligation. A second consequence is the universal character both of the condemnation of genocide and of the co-operation re-
175
Lippman, The Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide: Fifty Years Later, Arizona JICL 15 (1998), S. 415 (505).
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quired ‘in order to liberate mankind from such an odious scourge’ (Preamble to the Convention).“176 Die Qualität des Genozidverbotes als Gewohnheitsrecht ist vor allem in der jüngeren Vergangenheit durch verschiedene internationale Kodifikationen bestätigt worden. Hierzu zählen natürlich das ICC-Statut, das zumindest im Hinblick auf die materiell-rechtlichen Normen Ausdruck der opinio juris der Staaten ist, und die Statuten der UN ad hocTribunale, in denen ebenfalls nur gewohnheitsrechtlich anerkannte Verbrechen normiert sind. Auch die Völkerrechtskommission (International Law Commission, ILC) hat in ihrem Kommentar zum Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind (im Folgenden: Draft Code) die gewohnheitsrechtliche Geltung von Genozid hervorgehoben.177 Der Genozid ist in all diesen Regelungswerken einer der zentralen Verbrechenstatbestände. Art. 6 ICC-Statut, Art. 4 Abs. 2 ICTY-Statut, Art. 2 Abs. 2 ICTR-Statut und Art. 17 des Draft Code übernehmen Art. II Genozidkonvention verbatim. Das Verbot des Genozids zählt entsprechend der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs außerdem zum zwingenden Völkerrecht (jus cogens) und nimmt als solches die höchste Position in der Hierarchie der völkerrechtlichen Normen und Prinzipien ein.178 In Art. 53 S. 2 der Wiener Vertragsrechtskonvention ist eine Legaldefintion des jus cogens enthalten. Demnach ist eine zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts eine Norm, die von der internationalen Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt wird als eine Norm, von der nicht abgewichen werden darf und die nur durch eine 176
ICJ, Reservations to the Convention on the Prevention and Punishment on the Crime of Genocide, Gutachten v. 28. Mai 1951, ICJ Reports 1951, S. 23. 177
Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind, Report of the International Law Commission on the Work of its forty-eighth session, 6 May – 26 July 1996, UN Doc. A/51/10, Art. 17, para. 3. 178
ICJ, Case Concerning Armed Activities on the Territory of the Congo, Urt. v. 3. Februar 2006, para. 46; nach der Auffassung von Bassiouni, International Crimes: Jus Cogens and Obligatio Erga Omnes, Law and Contemporary Problems 59 (1996), S. 63 (67), hat der ICJ bereits in seiner Entscheidung zur Zulässigkeit von Vorbehalten zur Genozidkonvention (s.o. Fn. 177) die zwingende Natur des Verbots anerkannt. Zu den Implikationen, die die Einstufung des Genozids als Norm des jus cogens für die Rechtsdurchsetzung hat, Wouters/ Verhoeven, The Prohibition of Genocide as a Norm of Ius Cogens and Its Implications for the Enforcement of the Law of Genocide, International Criminal Law Review 5 (2005), S. 401 ff.
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spätere Norm des allgemeinen Völkerrechts derselben Rechtsnatur geändert werden kann. Gemäß Art. 53 S. 1 Wiener Vertragsrechtskonvention ist ein Vertrag nichtig, wenn er im Zeitpunkt seines Abschlusses im Widerspruch zu einer zwingenden Norm des allgemeinen Völkerrechts steht. Die Völkerrechtskommission bezeichnet den Genozid als eines der augenfälligsten Beispiele des jus cogens. Es sei nicht vorstellbar, dass ein Genozid durch eine spätere vertragliche Regelung legitimiert werden könne.179 Schließlich handelte es sich bei den gewohnheitsrechtlichen Genozidbestimmungen um Verpflichtungen erga omnes. Für die Qualität einer Vorschrift als Verpflichtung erga omnes ist die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofes im Barcelona Traction-Fall grundlegend. Verpflichtungen erga omnes sind solche Verpflichtungen, die einen Staat gegenüber der ganzen Staatengemeinschaft treffen und nicht nur gegenüber einzelnen anderen Staaten, weil alle Staaten ein gleiches, rechtlich geschütztes Interesse an ihrer Erfüllung haben. Solche Verpflichtungen resultieren, so der Gerichtshof, beispielsweise aus dem Verbot des Genozids.180 Damit entfaltet die Genozidkonvention eine materielle Schutzwirkung über den Kreis der Vertragsstaaten hinaus – zugunsten von Völkern und Volksgruppen, die in Nichtmitgliedstaaten ansässig sind.181 Die Bedeutung von Art. II Genozidkonvention spiegelt sich in der Tatsache wider, dass nicht nur die internationalen Kodifikationen, sondern auch die nationalen Strafgesetze in starker Anlehnung, wenn nicht gar identisch, zu Art. II Genozidkonvention formuliert sind.182 Hinzuweisen ist etwa auf § 6 Völkerstrafgesetzbuch (VStGB). Durch das VStGB soll das deutsche Strafrecht an das Statut des Internationalen Strafge-
179
Vgl. YBILC 1966, Vol. II, S. 247 (248).
180
ICJ, Barcelona Traction, Light and Power Company, Limited, Urt. v. 5. Februar 1970, ICJ Reports 1970, S. 3 (32); bestätigt durch ICJ, Case Concerning Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, Urt. v. 11. Juli 1996, para. 31; kritisch zu diesem Urteil Hillgruber, Die Jurisdiktionsgewalt des IGH nach Art. IX Genozidkonvention und ihre Grenzen, ZÖR 53 (1998), S. 363 (375 ff.). 181
Hillgruber, Die Jurisdiktionsgewalt des IGH nach Art. IX Genozidkonvention und ihre Grenzen, ZÖR 53 (1998), S. 363 (377). 182
Die innerstaatlichen Regelungen können hier natürlich nicht insgesamt zitiert werden. Teilweise werden sie im weiteren Verlauf der Arbeit jedoch untersucht.
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richtshofs angepasst und die vorrangige innerstaatliche Strafverfolgung erleichtert werden.
III. Der Prozess gegen Eichmann in Jerusalem Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden einige große Kriegsverbrecherprozesse vor nationalen Gerichten durchgeführt.183 Israel hatte natürlich ein besonders Interesse daran, dass die Verbrechen gegen sein eigenes Volk angemessen bestraft wurden. Der Eichmann-Prozess wird als das spektakulärste Beispiel nationaler Strafgerichtsbarkeit bewertet, da Israel die Bestrafung der Kriegsverbrecher in die eigenen Hände nahm.184 Der Prozess wurde vom 11. April bis zum 11. Dezember 1961 vor dem District Court of Jerusalem geführt.185 Unmittelbar nach Beginn des Zweiten Weltkrieges war Eichmann Leiter des Referats „Auswanderung und Räumung“ im Reichssicherheitshauptamt geworden. Damit hatte er eine zentrale Stellung im Rahmen der Deportation von über vier Millionen Juden in die Ghettos und Konzentrationslager eingenommen. Er wurde nach dem Nazis and Nazi Collaborators Law wegen Verbrechen gegen das jüdische Volk, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen angeklagt. Die Textvorlage für den Tatbestand der Verbrechen gegen das jüdische Volk bildete Art. II Genozidkonvention. Eine entscheidende Abweichung bestand allerdings darin, dass Art. 1 (b) des Nazi and Nazi Collaborators Law allein auf die Verbrechen am jüdischen Volk anwendbar sein sollte.186 183
Zur Strafverfolgung – und Nichtverfolgung – durch die bundesdeutsche Justiz und speziell zum Auschwitz-Prozess Werle/Wandres, Auschwitz vor Gericht, 1995. 184
Bothe, International Humanitarian Law and War Crimes Tribunals: Recent Developments and Perspectives, in: Wellens (Hrsg.), International Law: Theory and Practice, 1998, S. 581 (583). 185
Zum Eichmann-Prozess ausführlich Arendt, Eichmann in Jerusalem, 1964; Nellessen, Der Prozess von Jerusalem, 1964. 186
Section 1(a) des Nazis and Nazi Collaborateurs Law (5710/1950) hatte folgenden Wortlaut: „A person who has committed one of the following acts – (1) done, during the period of the Nazi regime in an enemy country, an act constituting a crime against the Jewish people; … is liable to death penalty.“
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54
Die Anklage wegen der Verbrechen am jüdischen Volk umfasste vier Punkte entsprechend der ersten vier Tatmodalitäten des Art. II Genozidkonvention. Eichmann wurde in allen vier Anklagepunkten für schuldig befunden. Im Hinblick auf den ersten Anklagepunkt führte der District Court aus, dass Eichmann im Zeitraum von August 1941 bis Mai 1945 in Deutschland, in den Achsenländern und in den von Deutschland und den Achsenmächten besetzten Gebieten und in Gebieten, die der deutschen Herrschaft oder der Herrschaft der Achsenmächte unterstanden, gemeinsam mit anderen die Tötung von Millionen von Juden zum Zwecke der Verwirklichung des so genannten Plans zur „Endlösung“ der Judenfrage verursacht hat, und zwar in der Absicht, das jüdische Volk zu vernichten. Entsprechend lautete die Begründung für die Anklagepunkte zwei, drei und vier.187 Der District Court erklärte sich nach dem Weltrechtsprinzip für die Verurteilung Eichmanns zuständig. Art. VI Genozidkonvention, der vom Territorialitätsprinzip ausgeht, stand dem nach Auffassung des Gerichts nicht entgegen, weil hierdurch für die Mitgliedstaaten der Konvention lediglich ein obligatorisches Minimum begründet würde. Die Zuständigkeit nach dem Weltrechtsprinzip ergebe sich hingegen aus Völkergewohnheitsrecht. Unter anderem mit Hinweis auf die Ausführungen des ICJ im Verfahren zu den Vorbehalten zur Genozidkonvention begründete das israelische Gericht seine Auffassung damit, dass der Genozid bereits Teil des Völkergewohnheitsrechts gewesen sei, als die Nationalsozialisten ihre Verbrechen begingen. Entsprechend der Prin-
Der Tatbestand der Verbrechen gegen das jüdische Volk war in Section 1 (b) wie folgt definiert: „Crime against the Jewish people’ means any of the following acts, committed with intent to destroy the Jewish people in whole or in part: (1) killing Jews; (2) causing serious bodily or mental harm to Jews; (3) placing Jews in living conditions calculated to bring about their physical destruction; (4) imposing measures intended to prevent births among Jews.“ Abgedruckt in Attorney General of the Government of Israel v. Eichmann, District Court of Jerusalem, Urt. v. 12. Dezember 1961, ILR 36 (1968), S. 18 (20, 30). 187
Ebenda, S. 273 ff.
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zipien des Völkerrechts sei die Zuständigkeit über derartige Verbrechen universal.188 Am 15. Dezember 1961 wurde gegen Eichmann die Todesstrafe verhängt. Das Urteil wurde durch den Israelischen Supreme Court bestätigt. In den Urteilsfeststellungen führte der Supreme Court aus, dass in der menschlichen Sprache die Worte fehlen würden, um die Taten Eichmanns zu beschreiben. Ebenso gäbe es keine Strafe, die seine Schuld hinreichend sühnen könne.189 Eichmann wurde am 1. Juni 1962 hingerichtet. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist das Eichmann-Urteil vor allem deshalb von besonderer Bedeutung, weil hierauf insbesondere von den UN ad hoc-Tribunalen an verschiedenen Stellen im Rahmen der Auslegung von Art. II Genozidkonvention Bezug genommen wird.190
IV. Weitere wichtige Aktivitäten der Vereinten Nationen auf dem Gebiet des Völkerstrafrechts Neben der Verabschiedung der Genozidkonvention, ist auf weitere Aktivitäten der Vereinten Nationen zu verweisen, welche durch den Zweiten Weltkrieg und die Kriegsverbrecherprozesse von Nürnberg und Tokio ausgelöst wurden und die von großer Bedeutung für die Entwicklung des Völkerstrafrechts allgemein und für die Ahndung von Genozid speziell sind. Wichtig sind in diesem Zusammenhang die Bemühungen um das Weltstrafgesetzbuch, die in der Formulierung des Draft Code of Offences against the Peace and Security of Mankind durch die Völkerrechtskommission ihren Abschluss fanden. Darüber hinaus stellen die beiden UN ad hoc-Tribunale für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda in verschiedener Hinsicht einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung des Völkerstrafrechts dar. Vorläufiger Höhe188
Ebenda, S. 34 ff.; zur zitierten Entscheidung des ICJ s.o. 1.Teil, II.
189
Attorney General of the Government of Israel v. Eichmann, Supreme Court, Urt. v. 12. Mai 1962, ILR 36 (1968), S. 277 (341). 190
Siehe bspw. ICTR, Prosecutor v. Akayesu, Case No. ICTR-96-4-T, Urt. v. 2. September 1998, para. 503, 542 ff.; ICTY, Prosecutor v. Jelesic, Case No. IT95-10-T, Urt. v. 14. Dezember 1999, para. 61 (Fn. 80), para. 68; ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-T, Urt. v. 2. August 2001, para. 508; ICTY, Prosecutor v. Blagojevic, Case No. IT-02-60-T, Urt. v. 17. Januar 2005, para. 646.
1. Teil
56
punkt der Entwicklungen ist der seit dem 1. Juli 2002 bestehende Internationale Strafgerichtshof der Vereinten Nationen in Den Haag. Wie bereits erwähnt ist der Genozid in all diesen Regelungswerken einer der zentralen Verbrechenstatbestände.
1. Draft Code of Offences against the Peace and Security of Mankind Vor dem Hintergrund der Nürnberger und Tokioter Kriegsverbrecherprozesse setzten die Bemühungen der Staatengemeinschaft um ein internationales Strafgesetzbuch ein. Am 11. Dezember 1946 bestätigte die Generalversammlung der Vereinten Nationen in Resolution 95 (I) die dem Statut des Nürnberger Gerichtshofs und seinem Urteil zugrunde liegenden Prinzipien des Internationalen Rechts.191 Diese Anerkennung hatte allerdings mehr eine moralisch verpflichtende als eine rechtlich bindende Wirkung.192 Mit Resolution 177 (II) wurde die Völkerrechtskommission beauftragt, die Nürnberger Prinzipien zu kodifizieren sowie ein Strafgesetzbuch der Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit zu entwerfen.193 Die Kodifikation der sieben Nürnberger Prinzipien war 1950 abgeschlossen.194 Hervorzuheben ist die Normierung der unmittelbaren strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Individuen nach Völkerrecht, unabhängig von ihrer amtlichen Position oder der nationalen Rechtsordnung. Das Kernstück der Prinzipien bildete die Auflistung der drei in der Charta des IMT enthaltenen Verbrechenstatbestände.195 Ein eigenständiger Genozidtatbestand fand sich in den Prinzipien mithin noch nicht. Wegen massiver Meinungsverschiedenheiten, insbesondere über die individuelle Verantwortlichkeit für völkerrechtliche Verbre-
191
UN Doc. A/RES/95(I).
192
Triffterer, Völkerstrafrecht im Wandel?, in: Vogler (Hrsg.), Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck, Bd. 2, 1985, S. 1477 (1486). 193
UN Doc. A/RES/177(II).
194
Abgedruckt in YBILC 1950, Vol. II, S. 364 (374 ff.).
195
Tomuschat, Die Arbeit der ILC im Bereich des materiellen Völkerstrafrechts, in: Hankel/Stuby (Hrsg.), Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen, 1995, S. 270 (271).
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57
chen, wurden die Prinzipien niemals in eine Resolution übernommen.196 Der erste Entwurf des auf der Grundlage der Nürnberger Prinzipien erarbeiteten Strafkodex wurde der Generalversammlung 1951 zugeleitet.197 Er ist durch eine Bestätigung, eine teilweise genauere Formulierung und eine Erweiterung der Nürnberger Grundsätze gekennzeichnet.198 Der Genozid war in diesem Entwurf als eigenständiger Tatbestand enthalten, allerdings in einer im Vergleich zu Art. II Genozidkonvention modifizierten Fassung. Der größte Unterschied bestand darin, dass der Katalog der Tathandlungen anders als in der Konvention nicht abschließend, sondern beispielhaft formuliert war.199 Der Entwurf wurde den Mitgliedstaaten für ihre Stellungnahme zugeleitet. Unter Berücksichtigung dieser Stellungnahmen wurde er von der Völkerrechtskommission überarbeitet und im Jahr 1954 erneut der Generalversammlung vorgelegt.200 Der Genozidtatbestand entsprach der Version des Jahres 1951. Innerhalb der Generalversammlung konnte über den Draft Code keine Einigkeit erzielt werden und das Vorhaben wurde zunächst nicht weiter verfolgt. Die offizielle Begründung hierfür lautete, dass zunächst eine allgemeingültige Definition für den Tatbestand der Aggression entwickelt werden müsse, dem eine zentrale Stellung innerhalb der Straftatbestände zukomme. Tatsächlich waren es wohl die Spannungen des Kalten Krieges, welche das Interesse an dem Rechtssetzungsvorhaben erlahmen ließen. Obwohl die Generalversammlung bereits 1974 die Definition der Aggression angenommen hatte, forderte sie die Völkerrechtskommission erst 1981 dazu auf, ihre Arbeit am Draft Code fort-
196
Blanke/Molitor, Der Internationale Strafgerichtshof, AVR 39 (2001), S. 142 (143). 197
Veröffentlicht in YBILC 1951, Vol. II, S. 43 (58).
198
Triffterer, Der lange Weg zu einer internationalen Strafgerichtsbarkeit, ZStW 114 (2002), S. 321 (349). 199
Der Genozidtatbestand lautete im Einzelnen wie folgt: „Acts committed by the authorities of a State or by private individuals, with intent to destroy in whole or in part, a national, ethnical, racial or religious group as such, including, … “, die Tathandlungen entsprechen den lit. a) – e) des Art. II Genozidkonvention, YBILC 1951, Vol. II, S. 59, Art. 1, 8, Hervorhebung durch die Verf. Zur Problematik der exemplarischen Ausgestaltung der Tathandlungen s.u. 3. Teil, II. 4. 200
Veröffentlicht in YBILC 1954, Vol. II, S. 149 ff.
1. Teil
58
zusetzen.201 Der Draft Code sollte auf dem Entwurf des Jahres 1954 aufbauen und ihn der völkerrechtlichen Entwicklung anpassen.202 Diesem Ersuchen folgend setzte die Völkerrechtskommission den Senegalesen Doudou Thiam als Berichterstatter ein, der von 1983 an in jährlichen Abständen einen Bericht vorlegte.203 Der Draft Code aus dem Jahr 1991 wurde durch die Kommission angenommen.204 In Art. 19 des Entwurfes war der Genozid dem Wortlaut des Art. II Genozidkonvention entsprechend formuliert. Insbesondere wegen der materiell-rechtlichen Tatbestände erfuhr der Entwurf Kritik durch die Mitgliedstaaten,205 die sich allerdings nicht auf den Genozidtatbestand bezog. 1996 legte die ILC dann den – vorläufig – letzten Entwurf des Draft Code vor.206 In diesem wurde der Katalog der Straftaten auf die Kernverbrechen reduziert. Zu diesen zählte freilich auch der Genozid, der in Art. 17 wie sein Vorgänger verbatim die Formulierungen der Genozidkonvention übernimmt. Das Schicksal des Draft Code ist ungewiss. Da in der Zwischenzeit das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs in Kraft getreten ist, wird der Draft Code vermutlich nie in Kraft treten. Denn im ICC-Statut sind diejenigen völkerrechtlichen Verbrechen positivrechtlich normiert, für die die Zuständigkeit des Gerichtshofs begründet ist. Mit einer 201
Tomuschat, Die Arbeit der ILC im Bereich des materiellen Völkerstrafrechts, in: Hankel/Stuby (Hrsg.), Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen, 1995, S. 270 (272); ders., Das Strafgesetzbuch der Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit, EuGRZ 1998, S. 1 (2). 202
UN Doc. A/RES/36/106.
203
Tomuschat, Die Arbeit der ILC im Bereich des materiellen Völkerstrafrechts, in: Hankel/Stuby (Hrsg.), Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen, 1995, S. 270 (273). 204
Report of the International Law Commission on the work of its fortythird Session, 29 April – 19 July 1991, UN Doc.A/46/10, S. 238 ff. 205
Ambos, Zum Stand der Bemühungen um einen ständigen Internationalen Strafgerichtshof und ein Internationales Strafgesetzbuch, ZRP 1996, S. 263 (266). 206
Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind, Report of the International Law Commission on the Work of its forty-eighth session, 6 May – 26 July 1996, UN Doc. A/51/10, S. 9 ff. Zum Draft Code von 1996 ausführlich Tomuschat, Das Strafgesetzbuch der Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit, EuGRZ 1998, S. 1 ff.; Allain/Jones, A Patchwork of Norms: A Commentary on the 1996 Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind, EJIL 8 (1997), S. 100 ff.
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Ausnahme sind dies dieselben Verbrechen, die im Draft Code formuliert sind. In beiden Regelungswerken finden sich der Genozid, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression – wobei Letzteres im ICC-Statut noch definiert werden muss. Zusätzlich sind im Draft Code die Verbrechen gegen die Vereinten Nationen und ihr Personal normiert.207 Bassiouni urteilte insofern zutreffend, dass es von jeher eine ungünstige Konstellation gewesen sei, beide Mandate parallel laufen zu lassen.208 Der Draft Code ist dennoch nicht bedeutungslos. So betonte das ICTY im Fall Furundzija, dass er ein maßgebliches Instrument des Internationalen Rechts ist und vor allem als Nachweis für Völkergewohnheitsrecht dienen kann: „The Draft Code was adopted in 1996 by the United Nations International Law Commission, a body consisting of outstanding experts in international law, including governmental legal advisers, elected by the United Nations General Assembly … the Trial Chamber considers that the Draft Code is an authoritative international instrument which, depending upon the specific question at issue, may (i) constitute evidence of customary law, or (ii) shed light on customary rules which are of uncertain contents or are in the process of formation, or, at the very least, (iii) be indicative of legal views of eminently qualified publicists representing the major legal systems of the world.“209
2. UN ad hoc-Tribunale für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda Anfang der 90er Jahre zwangen die Gräueltaten auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens und die Massaker an den Tutsi in Ruanda die 207
Teilweise unterscheiden sich die einzelnen Vorschriften voneinander, wobei der Draft Code für das ICC-Statut offensichtlich Modell gestanden hat. Zum ICC-Statut s.u. 1. Teil, IV. 3. 208
Bassiouni, Recent United Nations Activities in Connection with the Establishment of a Permanent International Criminal Court and the Role of the Association Internationale de Droit Pénal (AIDP) and the Instituto Superiore Internazionale die Science Criminali (ISISC), RIDP 67 (1996), S. 127 ff. 209
ICTY, Prosecutor v. Furundzija, Case No. ICTY IT-95-17/1-T, Urt. v. 10. Dezember 1998, para. 227.
1. Teil
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Staatengemeinschaft, tätig zu werden. Das Ergebnis ihrer Bemühungen war ein Durchbruch auf dem Gebiet des Völkerstrafrechts: Die Einsetzung der beiden UN ad hoc-Tribunale. Das ICTY ist der Vorreiter der Tribunale. Im Oktober 1992 sah sich der UN-Sicherheitsrat mit Berichten über massive Verletzungen des humanitären Völkerrechts auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien konfrontiert, einschließlich Massentötungen und ethnischer Säuberungen. Angesichts der sich zuspitzenden Lage ersuchte der Sicherheitsrat den UN-Generalsekretär, eine unabhängige Expertenkommission zur Untersuchung der Verletzungen des humanitären Völkerrechts einzusetzen.210 Besagte Kommission bestätigte die Berichte und stellte fest, dass auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens schwere Verletzungen der Genfer Konventionen und andere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht stattgefunden hatten, insbesondere ethnische Säuberungen durch Massentötungen, Folter und sexuelle Gewalttaten.211 Am 25. Mai 1993 entschied der UN-Sicherheitsrat mit Resolution 827: „[…] to establish an international tribunal for the sole purpose of prosecuting persons responsible for serious violations of international humanitarian law committed in the territory of the former Yugoslavia between 1 January 1991 and a date to be determined by the Security Council upon the restoration of peace and to this end to adopt the Statute of the International Tribunal annexed to the above mentioned report … “212 Das Tribunal wurde nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen als „Maßnahme zur Wahrung und Wiederherstellung des Weltfrie-
210
UN Doc. S/RES/780; zu den Hintergründen des Konfliktes s.u. 2. Teil, I. 2. a). 211
Interim Report of the Commission of Experts established pursuant to Security Council Resolution 780 (1992), UN Doc. S/25274, para. 55 ff. 212
UN Doc. S/RES/827; gemeint ist hier der Bericht des UN-Generalsekretärs, vgl. Report of the Secretary-General pursuant to Paragraph 2 of Security Council Resolution 808 (1993), UN Doc. S/25704; zur Errichtung des ICTY und seinem Statut ausführlich Bassiouni/Manikas, The Law of the International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, 1996; zum Statut außerdem Oellers-Frahm, Das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs zur Verfolgung von Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien, ZaöRV 54 (1994), S. 416 ff.; und Shraga/Zacklin, The International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, EJIL 5 (1994), S. 360 ff.
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61
dens und der internationalen Sicherheit“ eingesetzt, welche der Sicherheitsrat durch die Situation im ehemaligen Jugoslawien bedroht sah.213 Das ICTY hat seinen ständigen Sitz in Den Haag/Niederlande. Seine Zuständigkeit ist nicht nur lokal und temporär auf die im ehemaligen Jugoslawien nach dem 1. Januar 1991 begangenen Verbrechen begrenzt, sondern auch sachlich. Das Tribunal wendet mit Rücksicht auf das Prinzip des nullum crimen sine lege nur solche Normen des humanitären Völkerrechts an, die ohne Zweifel Bestandteil des Völkergewohnheitsrechts sind.214 Gemäß Art. 2 bis 5 des ICTY-Statuts sind dies schwere Verletzungen der Genfer Konventionen, Verstöße gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges, Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der in Art. 4 ICTY-Statut normierte Tatbestand des Genozids übernimmt wörtlich Art. II und III Genozidkonvention.215
213
Die rechtliche Befugnis des Sicherheitsrates, eine Gerichtsinstanz ins Leben zu rufen, ist zum Teil vehement kritisiert worden. So Graefrath, Jugoslawientribunal – Präzedenzfall trotz fragwürdiger Rechtsgrundlage, Neue Justiz 47 (1993), S. 433; ders., Jugoslawien und die Internationale Strafgerichtsbarkeit, in: Hankel/Stuby (Hrsg.), Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen, 1995, S. 295 ff. Die Rechtsmittelkammer des Jugoslawien-Tribunals hat die Rechtmäßigkeit der Maßnahme bestätigt, vgl. ICTY, Prosecutor v. Tadic, Case No. ICTY IT-94-1-AR72, Entsch. v. 2. Oktober 1995, para. 31 ff.; kritisch hierzu Heintschel von Heinegg, Die Errichtung des Jugoslawien-Strafgerichtshofes durch Resolution 827 (1993), in: Fischer/Lüder (Hrsg.), Völkerrechtliche Verbrechen vor dem Jugoslawien-Tribunal, nationalen Gerichten und dem Internationalen Strafgerichtshof, 1999, S. 63 ff.; zu dieser Entscheidung auch Kreß, Friedenssicherungs- und Konfliktvölkerrecht auf der Schwelle zur Postmoderne. Das Urteil des Internationalen Straftribunals für das ehemalige Jugoslawien (Appeals Chamber) im Fall Tadic vom 2. Oktober 1995, EuGRZ 1996, S. 638 ff. Für die Rechtmäßigkeit der Tribunale sprechen sich Bothe, International Humanitarian Law and War Crimes Tribunals: Recent Developments and Perspectives, in: Wellens (Hrsg.) International Law: Theory and Practice, 1998, S. 581 (586); und Roggemann, Der Internationale Strafgerichtshof der Vereinten Nationen von 1993 und die Balkankriegsverbrechen, ZRP 1994, S. 297 (299), aus. 214
Vgl. Report of the Secretary-General pursuant to Paragraph 2 of Security Council Resolution 808 (1993), UN Doc. S/25704, para. 33 ff.; zum Prinzip des nullum crimen sine lege sogleich 1.Teil, V. 215
Article 4 [Genocide]:
„1. The International Criminal Tribunal shall have the power to prosecute persons committing genocide as defined in paragraph 2 of this article or committing any of the other acts enumerated in paragraph 3 of this article.
1. Teil
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Der ICTY besteht gemäß Art. 11 ICTY-Statut aus insgesamt drei Organen: einem Rechtsprechungsorgan, einem Strafverfolgungsorgan und einem Sekretariat. Das Rechtsprechungsorgan ist wiederum in drei Strafkammern und eine Rechtsmittelkammer untergliedert. Die Rechtsmittelkammer kann gemäß Art. 25 ICTY-Statut im Falle eines Rechtsoder Tatsachenirrtums angerufen werden. Gut ein Jahr nach der Errichtung des ICTY eskalierte die Situation in Ruanda. Bekanntermaßen sind allein im Zeitraum von April bis Juli 1994 ungefähr 800.000 Menschen ums Leben gekommen. Vor dem Hintergrund der Ereignisse wurde eine Expertenkommission eingesetzt, welche die Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und den möglichen Genozid in Ruanda untersuchen sollte.216 Die Kommission kam zu dem Ergebnis, dass an den Tutsi Tathandlungen im Sinne des Genozids begangen worden waren und weitere systematische Verletzungen des humanitären Völkerrechts stattgefunden hatten. Sie empfahl die Ergänzung des ICTY-Statuts, um die Ruanda betreffenden Fälle vor dem ICTY verhandeln zu können.217 Am 8. November beschloss der UN-Sicherheitsrat mit Resolution 955 die Einsetzung des ICTR; ebenfalls als Zwangsmaßnahme nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen. Allerdings unterschied sich die politische Lage zum Zeitpunkt der Einsetzung des ICTR erheblich von der zur Zeit der Errichtung des ICTY. Als das ICTR eingesetzt wurde, hatte die Situation sich bereits weitestgehend beruhigt, während der Konflikt im ehemaligen Jugoslawien bei der Errichtung des ICTY in
2. Genocide means any of the following acts committed with intent to destory in whole or in part, a national, ethnical, racial or religious group, as such: (a) killing members of the group; (b) causing serious bodily or mental harm to members of the group; (c) deliberately inflicting on the group conditions of life calculated to bring about its physical destruction on whole or in part; (d) imposing measures intended to prevent birth within the group; (e) forcibly transferring children of the group to another group. 3. The following acts shall be punishable: (a) genocide; (b) conspiracy to commit genocide; (c) direct and public incitement to commit genocide; (d) attempt to commit genocide; (e) complicity in genocide.“ 216 217
UN Doc. S/RES/935.
Preliminary Report of the Independent Commission of Experts established in accordance with Security Council Resolution 935 (1994), UN Doc. S/1994/1125, para. 44 ff., 84 ff.,152; Final Report of the Commission of Experts established pursuant to Security Council Resolution 935 (1994), UN Doc. S/1994/1405, para. 58 ff., 101 ff., 179.
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vollem Gange war. Ein weiterer wesentlicher Unterschied bestand darin, dass Ruanda den Sicherheitsrat um die Einsetzung des Gerichtshofes angesucht hatte, während das ICTY gegen den Willen der Konfliktparteien im ehemaligen Jugoslawien errichtet worden war.218 Nach Ansicht des Sicherheitsrates stellte die Situation aber dennoch eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit dar. Die Zuständigkeit des ICTR ist ebenfalls lokal, temporär und sachlich begrenzt. Es wurde eingesetzt: „[…] for the sole purpose of prosecuting persons responsible for genocide and other serious violations of international humanitarian law committed in the territory of Rwanda and Rwandan citizens responsible for the genocide and other such violations committed in the territory of neighbouring States, between January 1994 and 31 December 1994 and to this end to adopt the Statute of the International Criminal Tribunal for Rwanda annexed hereto; … “219 Der Sitz des ICTR ist in Arusha/Tansania. Sachlich ist das Tribunal gemäß Art. 2 bis 4 ICTR-Statut für die Ahndung von Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und schweren Verstößen gegen den gemeinsamen Art. 3 der Genfer Konventionen sowie gegen das zweite Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen aus dem Jahr 1977 zuständig. Im Gegensatz zum ICTY ist das ICTR folglich nicht für die Ahndung von Kriegsverbrechen zuständig, was darauf zurückzuführen ist, dass es sich beim Bürgerkrieg in Ruanda nicht um einen internationalen Konflikt handelte.220 Der Genozidtatbestand in Art. 2 ICTRStatut stimmt mit dem des Art. 4 ICTY-Statut überein. Das ICTR wurde im Wesentlichen dem ICTY nachgebildet, was in der weitgehenden Übereinstimmung der beiden Statuten zum Ausdruck kommt. Gemäß Art. 10 ICTR-Statut besteht das Tribunal aus dem Rechtsprechungsorgan, das in drei Strafkammern und eine Rechtsmittelkammer untergliedert ist, einem Ankläger und einer Gerichtskanzlei. In vielerlei Hinsicht sind die beiden Gerichte institutionell miteinander verwoben. So besteht für beide nur eine Anklagebehörde und die Beru-
218
Vgl. dazu Shraga/Zacklin, The International Criminal Tribunal for Rwanda, EJIL 7 (1996), S. 501 (505). 219
UN Doc. S/RES/955; zum ICTR ausführlich Morris/Scharf, The International Criminal Tribunal for Rwanda, 1998. 220
Vgl. Meron, International Criminalization of Internal Atrocities, AJIL 89 (1995), S. 554 (574).
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fungskammer des ICTY ist gleichzeitig Rechtsmittelinstanz bei Verfahren vor dem ICTR.221 Die beiden Tribunale haben in vielerlei Hinsicht einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung des Völkerstrafrechts geleistet. Schon ihre bloße Existenz ist, unabhängig von der durch sie ausgesprochenen Zahl von Verurteilungen, ein Signal.222 Durch sie hat die Staatengemeinschaft deutlich gemacht, dass sie bei schwersten Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht nicht länger untätig bleiben würde. Auch dann nicht, wenn es sich wie im Falle von Ruanda um einen ausschließlich innerstaatlichen Konflikt handelt. Die Tribunale haben die Rechtsentwicklung stimuliert und der Idee eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofs nach jahrzehntelangem Ringen neuen Aufschwung gegeben. Ohne sie würde es den ICC wohl nicht geben.223 Zudem hat die Rechtsprechung der Tribunale in besonderer Weise zur Weiterentwicklung und Präzisierung des Völkerstrafrechts beigetragen.224 Von besonderer Bedeutung ist die Auswirkung der Rechtsprechung auf den Nachweis von Völkergewohnheitsrecht. Auf dem Gebiet der Verfolgung von Einzelpersonen wegen Verstößen gegen das Völkerstrafrecht und ihrer entsprechenden Aburteilungen hat es seit den Verfahren von Nürnberg und Tokio kaum ein überzeugenderes Maß an Staatenpraxis gegeben.225 Obwohl die Errichtung eines internationalen Strafgerichts bereits in Art. VI vorgesehen war, war die Konvention bis zur Rechtsprechung der Tribunale gleichsam ein Museumsstück. Bemerkenswert ist zudem, dass die Tribunale durch die Staatengemeinschaft eingesetzt wurden und Täter aller Konfliktparteien gleichermaßen strafrechtlich verfolgt werden. Es handelte sich bei ihnen mithin
221
Vgl. Art. 15 Abs. 3 ICTR-Statut und Art. 12 Abs. 2 ICTR-Statut, dazu Werle, Völkerstrafrecht, 2003, S. 21, Rn. 53. 222
Meron, International Criminalization of Internal Atrocities, AJIL 89 (1995), S. 554 (555). 223
Spieker, Die Bedeutung der ad hoc-Tribunale bei der Errichtung des ständigen Internationalen Strafgerichtshofs – einige völkerrechtliche Aspekte, HuV-I 1999, S. 216. 224 225
Werle, Völkerstrafrecht, 2003, S. 20 f., Rn. 51, 54.
Spieker, Die Bedeutung der ad hoc-Tribunale bei der Errichtung des ständigen Internationalen Strafgerichtshofs – einige völkerrechtliche Aspekte, HuV-I 1999, S. 216 (217).
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nicht mehr wie in Nürnberg und Tokio um einen Fall der heftig kritisierten Siegerjustiz.226 Die Verfahren vor dem ICTY und dem ICTR machen, wie im weiteren Verlauf der Arbeit zu zeigen sein wird, jedoch auch die Defizite des Genozidtatbestandes deutlich. Diese Defizite stellen beide Gerichte immer wieder vor erhebliche Schwierigkeiten, wenn es darum geht, die Täter für das von ihnen begangene Unrecht zur Rechenschaft zu ziehen. Und dies obwohl seitens der Staatengemeinschaft – zumindest im Falle von Ruanda – seinerzeit kein Zweifel daran bestand, dass es zu einem Genozid an den Tutsi gekommen war.
3. Internationaler Strafgerichtshof Am 1. Juli 2002 hat der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag seine Arbeit aufgenommen. Mit dem ICC als erstem ständigem internationalem Strafgerichtshof ist eine neue Epoche des Völkerstrafrechts angebrochen.227 Diese positive Feststellung gilt ungeachtet dessen, dass der Gerichtshof weder das Allheilmittel gegen die unzureichende Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen durch die Staaten sein kann, noch die alleinige Antwort auf die von den Staaten verfolgten realpolitischen Interessen.228 Angesichts seiner Beschränkungen ist allenthalben Enttäuschung in der internationalen Gemeinschaft zu spüren.229 Entscheidend ist jedoch, dass der ICC ein Beitrag zur Lösung der bestehenden Probleme und Verringerung der Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit sein kann.230 226
Simonovic, The Role of the ICTY in the Development of International Criminal Adjudication, Fordham International Law Journal 23 (1999), S. 440 (453, 457). 227
Zum Internationalen Strafgerichtshof und dem ihm zugrunde liegenden Statut vgl. den Überblick bei Ambos, Zur Rechtsgrundlage des Internationalen Strafgerichtshofs, ZStW 111 (1999), S. 175 ff.; Blanke/Molitor, Der Internationale Strafgerichtshof, AVR 39 (2001), S. 142 ff.; Seidel/Stahn, Das Statut des Weltstrafgerichtshofs, Jura 1999, S. 14 ff.; Cassese, The Statute of the International Criminal Court: Some Preliminary Reflections, EJIL 10 (1999), S. 144 ff. 228
Bassiouni, The ICC – Quo Vadis?, JICJ 4 (2006), S. 421 ff. (insbes. 426 f.).
229
Vgl. bspw. Cassese, Is the ICC Still Having Teething Problems?, JICJ 4 (2006), S. 434 ff. 230
So auch Bassiouni, The ICC – Quo Vadis?, JICJ 4 (2006), S. 421 ff. (426).
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Dem Internationalen Strafgerichtshof geht ein langer Entstehungsprozess voraus. Die Einsicht in die Notwendigkeit eines wirksamen Systems internationaler Justiz ist jedoch erst in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts stetig gewachsen. Es bedurfte der schrecklichen Geschehnisse im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda, um die Idee eines ständigen internationalen Strafgerichts Wirklichkeit werden zu lassen.231 Schon Art. VI Genozidkonvention sah die mögliche Zuständigkeit eines internationalen Strafgerichts zur Ahndung von Genozid vor. Im Jahr 1951 setzte die Generalversammlung einen Ausschuss ein, der mit der Aufgabe betraut war, ein Statut für einen Internationalen Strafgerichtshof zu entwerfen.232 Auch dieses Unternehmen ruhte in der Zeit des Kalten Krieges, erst die Perestroika und die damit einhergehende Annäherung zwischen Ost und West brachten die Wende. 1992 beauftragte die Generalversammlung die Völkerrechtskommission erneut mit der Ausarbeitung eines Entwurfs für einen Internationalen Strafgerichtshof,233 welcher 1994 angenommen und der Generalversammlung vorgelegt wurde.234 Nachfolgend setzte die Generalversammlung einen ad hoc-Ausschuss ein, der das Konzept der Völkerrechtskommission weiter diskutierte. Das Ergebnis der Beratungen war, dass ein ständiger internationaler Strafgerichtshof wünschenswert sei.235 1995 wurde dann der so genannte Vorbereitungsausschuss gebildet,236 der den Auftrag hatte, den Statutenentwurf für eine diplomatische Bevollmächtigtenkonferenz vorzubereiten, auf der das Statut abschließend diskutiert und verabschiedet werden sollte.237 Besagte Staatenkonferenz fand 1998 in 231
Kaul, Towards a Permanent International Criminal Court: Some Observations of a Negotiator, HRLJ 18 (1997), S. 169. 232
Dazu Ahlbrecht, Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert, 1999, S. 140 ff. 233
UN Doc. A/RES/47/33.
234
Report of the International Law Commission on the work of the fortysixth session, 2 May – 22 July 1994, UN Doc. A/49/10, S. 23 ff. 235
Vgl. Report of the Ad hoc Committee on the Establishment of an International Criminal Court, UN Doc. A/50/22, para. 12, 255 ff. 236 237
UN Doc. A/RES/50/46.
Zur Tätigkeit des Vorbereitungsausschusses vgl. Report of the Preparatory Committee on the Establishment of an International Criminal Court, Vol. I: Proceedings of the Preparatory Committee During March-April and August 1996, UN Doc. A/51/22; Report of the Preparatory Committee on the Establishment of an International Criminal Court, Vol. II: Compilation of Pro-
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Rom statt. Nach fünfwöchiger Dauer nahm die Konferenz am 17. Juli 1998 das Statut für einen Internationalen Strafgerichtshof mit 120 JaStimmen bei 7 Gegenstimmen und 21 Enthaltungen an.238 Für die Annahme des ICC-Statuts waren zahlreiche Kompromisse erforderlich, standen sich doch teilweise sehr kontroverse Auffassungen gegenüber. Ungeachtet dessen ist das Ergebnis ein großer Erfolg. Schließlich ist es gelungen, das Völkerstrafrecht unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Strafrechtssysteme der Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen mit ihren jeweiligen Traditionen in einer einheitlichen Kodifikation zusammenzuführen und fortzuentwickeln.239 Ferner wird das Statut insgesamt als tragfähige Grundlage für einen ausreichend starken und unabhängigen Strafgerichtshof angesehen.240 Die Hauptfunktion des ICC besteht darin, Individuen für Verbrechen zur Verantwortung zu ziehen, die wegen ihrer Schwere nicht nur die unmittelbaren Opfer selbst, sondern die internationale Gemeinschaft als solche berühren.241 Gemäß Art. 25 Abs. 2 ICC-Statut ist derjenige nach Maßgabe des Statuts individuell verantwortlich und strafbar, der ein der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegendes Verbrechen begeht. Anerkannt wird folglich, dass es Pflichten des Einzelnen gegenüber der posals, UN Doc. A/51/22; sowie den Überblick bei Hall, The First Two Sessions of the UN Preparatory Committee on the Establishment of an International Criminal Court, AJIL 91 (1997), S. 177 ff.; ders., The Third and Fourth Session of the UN Preparatory Committee on the Establishment of an International Criminal Court, AJIL 92 (1998), S. 124 ff.; ders., The Fifth Session of the UN Preparatory Committee on the Establishment of an International Criminal Court, AJIL 92 (1998), S. 331 ff.; und Kaul, Towards a Permanent International Criminal Court: Some Observations of a Negotiator, HRLJ 18 (1997), S. 169 ff.; eine umfassende Zusammenstellung aller wichtigen Dokumente präsentiert Bassiouni, The Statute of the International Criminal Court, 1998. 238
Rome Statute of an International Criminal Court adopted by the United Nations Diplomatic Conference of Plenipotentiaries on the Establishment of an International Criminal Court, UN Doc. A/CONF.183/9. Eine deutsche Übersetzung des Statuts ist abgedruckt in EuGRZ 1998, S. 618 ff. Dagegen stimmten die USA, China, Irak, Israel, Jemen, Katar und Libyen; enthalten haben sich vor allem weitere arabische Staaten und Indien; Kaul, Durchbruch in Rom – Der Vertrag über den Internationalen Strafgerichtshof, VN 1998, S. 125. 239
Blanke/Molitor, Der Internationale Strafgerichtshof, AVR 39 (2001), S. 142 (169). 240
Kaul, Durchbruch in Rom – Der Vertrag über den Internationalen Strafgerichtshof, VN 1998, S. 125 (129). 241
Seidel/Stahn, Das Statut des Weltstrafgerichtshofs, Jura 1999, S. 14 (15).
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internationalen Gemeinschaft als Ganzem gibt.242 Im Hinblick auf den immer wieder zitierten und in den Art. 22 und 23 ICC-Statut geregelten Grundsatz des nullum crimen, nulla poena sine lege wurden zunächst nur diejenigen Verbrechen in das Vertragswerk aufgenommen, deren Strafbarkeit eine feste rechtliche Grundlage im allgemeinen Völkerrecht hat.243 Gemäß Art. 5 Abs. 1 ICC-Statut sind dies Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression.244 Im Hinblick auf die Verbrechenstatbestände bestätigt und präzisiert das ICC-Statut das Völkergewohnheitsrecht.245 Der in Art. 6 ICC-Statut normierte Genozid spiegelt den Wortlaut von Art. II Genozidkonvention wider. Dabei gab es während der Vorarbeiten Vorstöße, den Genozidtatbestand für das ICC-Statut zu reformieren – vorgeschlagen wurde beispielsweise den Schutzbereich auf die politischen und sozialen Gruppen zu erweitern246 oder auch das Absichtsmerkmal legal zu definieren.247 Diese Vorschläge waren aus Gründen des politischen Pragmatismus und wegen der internationalen Anerkennung des zwingenden Charakters des Genozidtatbestandes nicht durchsetzbar. Die Delegierten befürchteten, dass durch die Wiedereröffnung der historischen Debatten um die Formulierung des Genozids der Konsens der Staaten oder zumindest die weite Anerkennung des Rom-
242
Vgl. Stahn, Zwischen Weltfrieden und materieller Gerechtigkeit: Die Gerichtsbarkeit des Ständigen Internationalen Strafgerichtshofs (IntStGH), EuGRZ 1998, S. 577 (591). 243
Ebenda, S. 579.
244
Die Zuständigkeit für das Verbrechen der Aggression steht allerdings unter der Voraussetzung, dass im Einklang mit den Artikeln 121 und 123 eine Bestimmung angenommen wird, die dieses Verbrechen definiert (Art. 5 Abs. 2 ICC-Statut). Ob es jemals dazu kommt, wird allerdings bezweifelt, Tomuschat, The Legacy of Nuremberg, JICJ 4 (2006), S. 830 (842). 245
Werle, Völkerstrafrecht, 2003, S. 58 f., Rn. 141 ff.
246
Report of the Ad hoc Committee on the Establishment of an International Criminal Court, UN Doc. A/50/22, para. 61; Report of the Preparatory Committee on the Establishment of an International Criminal Court, Vol. I: Proceedings of the Preparatory Committee During March-April and August 1996, UN Doc. A/51/22, S. 17, para. 60; Report of the Preparatory Committee on the Establishment of an International Criminal Court, Vol. II: Compilation of Proposals, UN Doc. A/51/22, S. 56 f. 247
Report of the Ad hoc Committee on the Establishment of an International Criminal Court, UN Doc. A/50/22, 1995, para. 62.
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Statuts gefährdet werden könnte.248 Man war der Auffassung, dass das ICC-Statut nicht der richtige Ort sei, um den Genozidtatbestand zu reformieren. Bezeichnend ist insofern die Stellungnahme des irischen Delegierten während der Vorarbeiten zum ICC-Statut. Dieser vertrat die Auffassung, dass die Definition verbessert werden könne, wenn eine neue Genozidkonvention entworfen würde. Solange dies aber nicht der Fall sei, sei es besser, an der bestehenden Definition festzuhalten.249 Das Ergebnis der Verhandlungen war – wieder einmal – der kleinste gemeinsame Nenner, auf den die Staatengemeinschaft sich im Lichte des Ziels, einen Internationalen Strafgerichtshof zu schaffen, einigen konnte. Ungeachtet dessen sind die Debatten um eine Reform der Legaldefinition von Genozid ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Tatbestand als verbesserungswürdig und -fähig angesehen wurde. Es wäre daher verfehlt, die wörtliche Übernahme des Genozidtatbestandes aus der Konvention als Zeichen gegen den Reformbedarf der Norm zu werten. Schließlich ist das Statut das Ergebnis eines jahrelangen politischrechtlichen Verhandlungsprozesses, der durch die Suche nach konsensfähigen Lösungen und Kompromissbereitschaft geprägt war. Dies vor allem deshalb, weil die Strafverfolgung grundsätzlich der staatlichen Hoheitsgewalt unterliegt. Mit dem ICC-Statut wird dieser Schutzwall durchbrochen und die internationale strafrechtliche Verantwortlichkeit des einzelnen Individuums für bestimmte Verbrechen hergestellt. Staatliche Souveränität, Gesetzeshoheit oder Immunität können nicht länger zur Deckung bestimmter Verbrechen geltend gemacht werden. Der Widerstand vieler Staaten gegen die Ausweitung internationaler Straftatbestände ist eben deshalb besonders groß, weil damit eine Durchbrechung des Souveränitätsgrundsatzes verbunden ist. Das Verhältnis des Gerichts zu den nationalen Strafverfolgungsorganen wird maßgeblich durch das Komplementaritätsprinzip bestimmt, das dem Statut in Abs. 10 der Präambel und in Art. 1 als institutioneller Leitsatz vorangestellt ist und in Art. 17 ICC-Statut präzisiert wird.250 Demnach ergänzt der Gerichtshof die nationale Strafverfolgung und darf nur dann tätig werden, wenn der für die Strafverfolgung zuständige Staat nicht willens oder fähig ist, die Strafverfolgung ernsthaft durchzuführen. Auf diese Weise wird der staatlichen Souveränität und der staatlichen Strafhoheit 248
Shah, The Oversight of the Last Great International Institution of the Twentieth Century, Emory International Law Review 16 (2002), S. 351 (376 f.). 249
Hinweis bei Schabas, Art. 6: Genocide, in: Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Court, 1999, Rn. 6. 250
Seidel/Stahn, Das Statut des Weltstrafgerichtshofs, Jura 1999, S. 14 (16).
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Rechnung getragen. Ambos weist darauf hin, dass die Gratwanderung zwischen effizienter Strafverfolgung und angemessener Berücksichtigung der staatlichen Souveränitätsinteressen sich gerade in den politisch besonders bedeutsamen Teilen des Statuts, insbesondere den einzelnen Verbrechenstatbeständen, zeige.251 Immerhin riskieren die Regierungen durch die Ratifizierung des Statuts, selbst wegen völkerrechtlicher Verbrechen vor dem ICC angeklagt zu werden. Gemäß Art. 9 ICC-Statut werden zusätzlich die so genannten Verbrechenselemente (Elements of Crimes) in das Statut inkorporiert, die dem Gerichtshof bei der Auslegung und Anwendung der Artikel 6, 7 und 8 ICC-Statut helfen sollen. Die Verbrechenselemente haben letztlich eine deklaratorische und systematisierende Funktion.252 Sie wurden durch die Vorbereitungskommission (Preparatory Commission) ausgearbeitet, welche die praktische Umsetzung des ICC-Statuts vorbereiten sollte.253 Angemerkt sei in diesem Kontext, dass die Tätigkeit der Vorbereitungskommission deutlich machte, dass die Zustimmung zum ICC-Statut nicht alle Detailfragen umfasst hatte. Gab es doch innerhalb der Kommission Bemühungen, durch eine Reihe von Vorschlägen noch etwas am ICC-Statut zu ändern.254 Zwar können über den Wortlaut der einzelnen Tatbestände hinaus keine neuen Tatbestandselemente eingeführt werden, aber die den Tatbeständen zu Grunde liegenden Konstruktionen bieten genügend Anlass für Ansätze einer restriktiven oder extensiven Interpretation, je nachdem, was aus (kriminal-) politischen Gründen erstrebt wird.255 Diese Bemühungen betrafen insbesondere auch 251
Ambos, Zur Rechtsgrundlage des Internationalen Strafgerichtshofs, ZStW 111 (1999), S. 175 (176). 252
Ambos, „Verbrechenselemente“ sowie Verfahrens- und Beweisregeln des Internationalen Strafgerichtshofs, NJW 54 (2001), S. 405 f. 253
Eingesetzt durch die Schlussakte von Rom: Final Act of the United Nations Diplomatic Conference of Plenipotentiaries on the Establishment of an International Criminal Court, UN Doc. A/CONF.183/10, Annex I, Resolution F. Die Verbrechenselemente wurden am 30. Juni 2000 durch die Vorbereitungskommission angenommen, Proceedings of the Preparatory Commission at its fifth session, 12-13 June 2000, UN Doc. PCNICC/2000/L.3/Rev.1, para. 11, und sind veröffentlicht unter Report of the Preparatory Commission for the International Criminal Court, Finalized Draft Text of the Elements of Crimes, UN Doc. PCNICC/2000/1/Add.2. 254
Triffterer, Der lange Weg zu einer internationalen Strafgerichtsbarkeit, ZStW 114 (2002), S. 321 (345). 255
Ebenda, S. 368.
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den Genozidtatbestand.256 Kriterien, die einen Tatbestand einschränken würden, sind aber schon deshalb abzulehnen, weil in Art. 9 Abs. 3 ICC-Statut normiert ist, dass die Verbrechenselemente und ihre Änderungen mit dem Statut vereinbar sein müssen.257 Am 1. Juli 2002 ist das ICC-Statut durch Hinterlegung der sechzigsten Ratifikationsurkunde in Kraft getreten. Zur Anpassung des deutschen materiellen Strafrechts an das ICC-Statut und zur Erleichterung der innerstaatlichen Strafverfolgung wurde in Deutschland das Völkerstrafgesetzbuch geschaffen.258 Der Genozid ist in Art. 6 VStGB normiert.259 256
Zu derartigen Bemühungen in Bezug auf den objektiven und subjektiven Tatbestand des Genozids vgl. Triffterer, Kriminalpolitische und dogmatische Überlegungen zum Entwurf gleichlautender „Elements of Crimes“ für alle Tatbestände des Völkermordes, in: Schünemann u.a. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin, 2001, S. 1415 (1424 ff.). 257
Ebenda, S. 1417. Zum Verhältnis der Verbrechenselemente zu den Normen des ICC-Statuts vgl. auch Fronza, Genocide in the Rome Statute, in: Lattanzi/Schabas (Hrsg.), Essays on the Rome Statute of the International Criminal Court, Vol. I, 1999, S. 105, 114 ff.; und Ambos, „Verbrechenselemente“ sowie Verfahrens- und Beweisregeln des Internationalen Strafgerichtshofs, NJW 54 (2001), S. 405 ff. 258
Einen Überblick über das deutsche Völkerstrafgesetzbuch gibt Zimmermann, Auf dem Weg zu einem deutschen Völkerstrafgesetzbuch, ZRP 35 (2002), S. 97 ff.; zum Anpassungsbedarf des deutschen Strafrechts an das Statut des Internationalen Strafgerichtshofes, der durch die Ratifikation des ICCStatuts entstanden war, Hermsdörfer, Zum Anpassungsbedarf des deutschen Strafrechts an das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, HuV-I 1999, S. 22 ff. 259
§ 6 VStGB lautet wie folgt:
„(1) Wer in der Absicht eine nationale, rassische, religiöse oder ethnische Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören, 1. ein Mitglied der Gruppe tötet, 2. einem Mitglied der Gruppe schwere körperliche Schäden, insbesondere der in § 226 des Strafgesetzbuches bezeichneten Art, zufügt, 3. die Gruppe unter Lebensbedingungen stellt, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen, 4. Maßregeln verhängt, die Geburten innerhalb der Gruppe verhindern sollen, 5. ein Kind der Gruppe gewaltsam in eine andere Gruppe überführt, wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft. (2) in minder schweren Fällen des Absatzes 1 Nr. 2 bis 5 ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter 5 Jahren.“
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Art. 6 VStGB ersetzt den bis dahin gültigen, zur Umsetzung der Genozidkonvention geschaffenen § 220 a StGB a.F., wobei beide Normen sich nahezu wörtlich entsprechen. Die bestehenden Unterschiede sind rein sprachlicher Art.260 Somit kann bei der Interpretation des § 6 VStGB auf die Rechtsprechung und Literatur zu § 220 a StGB a.F. zurückgegriffen werden.261
V. Auslegung von Art. II Genozidkonvention Kernpunkt der Diskussion um die Aktualität des Art. II Genozidkonvention ist die Frage, welche denkbaren Erscheinungsformen dieses Verbrechens durch den Vertrag in seiner gegenwärtigen Form erfasst werden. Die Grundregeln für die Auslegung der Genozidkonvention sollen hier kurz erläutert werden. Für die Auslegung der Genozidkonvention sind die Regelungen zur Vertragsauslegung der Art. 31 und 32 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (WVK)262 grundlegend, die Ausdruck des Gewohnheitsrechts sind.263 Wegen ihrer gewohnheitsrechtlichen Geltung müssen die Art. 31 und 32 WVK auch bei der Auslegung der Statuten der UN ad hoc-Tribunale herangezogen werden, obwohl diese keine völkerrechtlichen Verträge sind.264 Die zitierten Regelungen gel-
Zu den Besonderheiten von § 6 VStGB gegenüber Art. 6 ICC-Statut Gropengießer, The Criminal Law of Genocide – The German Perspective, International Criminal Law Review 5 (2005), S. 329 ff. 260
Bspw. ist in Anlehnung an den Wortlaut des Art. 6 ICC-Statut das in § 220 a StGB a.F. verwendete Tatbestandsmerkmal „durch ihr Volkstum bestimmte“ Gruppe durch den Begriff „ethnisch“ ersetzt worden, vgl. Zimmermann, Auf dem Weg zu einem deutschen Völkerstrafgesetzbuch, ZRP 35 (2002), S. 97 (101). 261
Gropengießger, Völkermord, in: Eser/Kreicker (Hrsg.), Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen, Band 1, 2003, S. 92 (95); ders., The Criminal Law of Genocide – The German Perspective, International Criminal Law Review 5 (2005), S. 329 (331 f.). 262
Vienna Convention of the Law of Treaties, in Kraft getreten am 27. Januar 1980; der deutsche Wortlaut ist abgedruckt in BGBl. 1985 II, S. 926. 263 264
Werle, Völkerstrafrecht, 2003, S. 64, Rn. 160.
Vgl. Bassiouni/Manikas, The Law of the International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, 1996, S. 258 f.; ICTY, Prosecutor v. Jelesic, Case No.
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ten zudem mittelbar für die Auslegung von § 6 VStGB, da der deutsche Gesetzgeber den Wortlaut auf das Engste an den der Konvention angelehnt hat.265 Die Genozidkonvention ist dementsprechend nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, ihren Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte ihres Ziels und Zwecks auszulegen.266 Zum Zusammenhang in diesem Sinne zählen in erster Linie der Vertragswortlaut samt Präambel und Anlagen,267 außerdem jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrages aus der die Übereinstimung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht.268 Zusätzliche Auslegungsmittel sind die vorbereitenden Arbeiten zur Genozidkonvention und die Umstände des Vertragsabschlusses.269 Ausgangspunkt der Auslegung ist der Wortlaut, d. h. der übliche Bedeutungsgehalt der verwendeten Begriffe.270 Entscheidend ist die gewöhnliche Bedeutung eines Vertragstextes, soweit sie zu einer akzepIT-95-10-T, Urt. v. 14. Dezember 1999, para. 61; ICTY, Prosecutor v. Tadic, Case No. IT-94-1-A, Urt. v. 15. Juli 1999, para. 303. 265
MK-StGB-Kreß, § 220 a/§ 6 VStGB, Rn. 28.
266
Art. 31 Abs. 1 WVK; zur Auslegung des Genozidtatbestandes ausführlich ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-T, Urt. v. 2. August 2001, para. 541; ICTY, Prosecutor v. Jelesic, Case No. IT-95-10-T, Urt. v. 14. Dezember 1999, para. 61. 267
Art. 31 Abs. 2 WVK.
268
Beispielsweise berief sich Judge Lauterpacht in seiner abweichenden Stellungnahme zum Antrag Bosnien-Herzegowinas auf Anordnung vorsorglicher Maßnahmen gegen Jugoslawien auf die spätere Übung der Vertragsstaaten, als er die Meinung vertrat, dass die Verpflichtung zur Verhütung des Genozids nicht die Verpflichtung zur militärischen Intervention enthalte. ICJ, Case concerning Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, Further Request for the Indication of Provisional Measures, Entsch. v. 13. September 1993, ICJ Reports 1993, S. 324 (444 f.). 269
Art. 32 WVK: „Ergänzende Auslegungsmittel, insbesondere die vorbereitenden Arbeiten und die Umstände des Vertragsabschlusses, können herangezogen werden, um die sich unter Anwendung des Artikels 31 ergebende Bedeutung zu bestätigen oder die Bedeutung zu bestimmen, wenn die Auslegung nach Artikel 31 a) die Bestimmung mehrdeutig oder dunkel lässt oder b) zu einem offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnis führt.“ 270
Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, Band I/3, 2002, S. 640 f.
1. Teil
74
tablen Lösung verhilft. Den Worten eines Vertrages kommt im Zweifel die Bedeutung zu, die sie zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses hatten.271 Berücksichtigt werden müssen dabei nach der teleologischen Methode Sinn und Zweck des Vertrages.272 Auf diese Methode bezog sich auch der ICJ in seinem Gutachten zur Zulässigkeit von Vorbehalten zur Genozidkonvention.273 Bei der teleologischen Auslegung geht es darum, unter den möglichen Auslegungen des Vertragstextes diejenige zu bestimmen, die der Erreichung der Vertragsziele am Besten dient.274 Unter Umständen kann die teleologische Auslegung auch zum Vehikel für eine dynamische Vertragsinterpretation werden und so den Vertrag an die veränderten Gegebenheiten anpassen.275 Im Abschlussbericht der Expertenkommission zur Situation im ehemaligen Jugoslawien hieß es dazu, dass die Genozidkonvention nach dem Willen der Autoren auf alle zukünftigen Formen, die zur physischen Zerstörung der Gruppe entwickelt werden würden, anwendbar sein sollte.276 Werle weist darauf hin, dass im Völkerstrafrecht eine weitere spezifische Auslegungsregel zu beachten ist: Vertragsnormen sind, soweit sie sich auf eine Norm des Gewohnheitsrechts zurückführen lassen, entsprechend dieser korrespondierenden Norm des Gewohnheitsrechts zu interpretieren (sog. gewohnheitsrechtskonforme Auslegung).277 Zu dem zitierten Grundsatz heißt es im Tadic-Urteil des ICTY: „[…] the principle whereby, in case of doubt and whenever the contrary is not apparent from the text of a statutory or treaty provision, such a provision must be interpreted in light of, and in conformity with, customary international law.“278 271
Ipsen-Heintschel von Heinegg, Völkerrecht, 2004, § 11, Rn. 6; ICJ, Case concerning Rights of Nationals of the USA in Morocco, Urt. v. 27. August 1952, ICJ Reports 1952, S. 176 (189). 272
Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, Band I/3, 2002, S. 644.
273
ICJ, Reservations to the Convention on the Prevention and Punishment on the Crime of Genocide, Gutachten v. 28. Mai 1951, ICJ Reports 1951, S. 24. 274
Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, Band I/3, 2002, S. 644.
275
ICJ, Legal Consequences for States of the Continued Presence of South Africa in Namibia, Gutachten v. 21. Juni 1971, ICJ Reports 1971, S. 184. 276
Vgl. Final Report of the Commission of Experts Established pursuant to Security Council Resolution 780, UN Doc. S/1994/674, para. 89. 277 278
Werle, Völkerstrafrecht, 2003, S. 65, Rn. 162.
ICTY, Prosecutor v. Tadic, Case No. IT-94-1-A, Urt. v. 15. Juli 1999, para. 287.
Grundlagen
75
Der Grundsatz ist in der vorliegenden Arbeit zu beachten, da es sich bei Art. II Genozidkonvention um kodifiziertes Gewohnheitsrecht handelt.279 Wichtige Quelle für den Nachweis der gewohnheitsrechtlichen Geltung des Genozids sind die einschlägigen Urteile der UN ad hocTribunale.280 Darüber hinaus gilt es die Gesetzgebung und die Urteile der Vertragsstaaten zu beachten, welche in der vorliegenden Arbeit ergänzende Berücksichtigung finden. Aber auch die einschlägige Praxis internationaler Organisationen muss einbezogen werden. Hierzu zählt insbesondere der Bericht der Völkerrechtskommission zum Weltstrafgesetzbuch. Diesbezüglich führte die Kammer im Fall Krstic aus, dass der Bericht zwar bereits im Jahr 1996 fertig gestellt worden sei, dass er jedoch das Ergebnis mehrerer Jahre der Reflexion der Völkerrechtskommission sei, die das Ziel gehabt habe, das geltende Gewohnheitsrecht, insbesondere auch in Bezug auf den Genozidtatbestand, zu kodifizieren.281 Von entscheidender Bedeutung ist ferner das Statut des Internationalen Strafgerichtshofes einschließlich der Verbrechenselemente, das sehr hilfreich zur Bestimmung geltenden Gewohnheitsrechts ist.282 Eine weitere wichtige Quellen für die Feststellung der gewohnheitsrechtlichen Geltung von Genozid sind schließlich die Studien zur Genozidkonvention der beiden UN-Sonderberichterstatter der Unterkommission gegen die Verhütung von Diskriminierung und zum Schutz von Minderheiten, Nicodème Ruhashyankiko und Benjamin Whitaker, aus den Jahren 1978283 und 1985.284 In beiden Studien wird
279
Zur gewohnheitsrechtlichen Geltung der Genozidkonvention s. o. 1.Teil,
II. 280
ICTY, Prosecutor v. Kupreskic, Case No. IT-95-16-T, Urt. v. 14. Januar 2000, para. 540. 281
ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-T, Urt. v. 2. August 2001, para. 541; so auch ICTY, Prosecutor v. Jelesic, Case No. IT-95-10-T, Urt. v. 14. Dezember 1999, para. 61. 282
ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-T, Urt. v. 2. August 2001, para. 541. Zum ICC-Statut ausführlich s.o. 1. Teil, IV. 3. 283
Ruhashyankiko, Study of the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/416, 1978. 284
Whitaker, Revised and Updated Report on the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/ 1985/6.
1. Teil
76
der Bedeutungsgehalt der Vorschriften der Konvention im Einzelnen untersucht.285 Nach der effet-utile-Regel soll die Interpretation gewählt werden, welche einer Vorschrift zu größtmöglicher Wirksamkeit verhilft.286 Dieser Grundsatz gilt freilich nicht uneingeschränkt. So darf dem Vertragstext keine Bedeutung verliehen werden, welche eine Revision der Bestimmung zur Folge hätte.287 Dies gilt naturgemäß insbesondere dann, wenn der zu interpretierende Text eine strafrechtliche Norm umschreibt. Im Strafrecht muss das Prinzip des nullum crimen sine lege beachtet werden. Nach dem nullum crimen-Grundsatz ist eine Person nur dann strafrechtlich verantwortlich, wenn das fragliche Verhalten zur Zeit der Tat den Tatbestand eines Verbrechens erfüllt. Der völkerrechtliche Tatbestand muss hinreichend bestimmt sein und streng ausgelegt werden. Verboten sind eine rückwirkende Bestrafung und die Erweiterung des Anwendungsbereichs durch Analogie.288 Im Fall Delalic wurde der nullum crimen-Grundsatz bestätigt und zur Frage der Auslegung strafrechtlicher Vorschriften die folgenden zutreffenden Ausführungen gemacht: „The rule of strict construction requires that the language of a particular provision shall be construed such that no cases shall be held
285
Angemerkt sei in diesem Zusammenhang, dass beide Autoren schon seinerzeit zu dem Ergebnis gelangten, dass die Konvention nur ein Ausgangspunkt für effektive Maßnahmen zur Verhütung und Bestrafung von Genozid sein könne, Ruhashyankiko, Study of the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/416, 1978, insbes. para. 440; Whitaker, Revised and Updated Report on the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/ 1985/6, para. 71; auf die konkreten Kritikpunkte wird an der entsprechenden Stelle im weiteren Verlauf der Arbeit eingegangen. 286
So ausdrücklich im Hinblick auf die Genozidkonvention, Report of the International Commission of Inquiry on Darfur to the Secretary-General, UN Doc. S/2005/60, para. 494. 287
Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, Band I/3, 2002, S. 644 f. So auch ICJ, Certain Expenses of the United Nations (Article 17, paragraph 2, of the Charter), Gutachten v. 20. Juli 1962, separate opinion of Judge Sir Percy Spencer, ICJ Reports 1962, S. 151 (185). 288
Vgl. dazu Lamb, Nullum Crimen, Nulla Poena Sine Lege in International Criminal Law, 2002, in: Cassese/Gaeta/Jones (Hrsg.), The Rome Statute of the International Criminal Court: A Commentary, Vol. I, 2002, S. 733 ff.; Cassese, International Criminal Law, 2003, S. 139 ff.
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77
to fall within it which do not fall both within the reasonable meaning of its terms and within the spirit and scope of the enactment. In the construction of a criminal statute no violence must be done to its language to include people within it who do not ordinarily fall within its express language. The accepted view is that if the legislature has not used words sufficiently comprehensive to include within its prohibition all the cases which should naturally fall within the mischief intended to be prevented, the interpreter is not competent to extend them. The interpreter of a provision can only determine whether the case is within the intention of a criminal statute by construction of the express language of the provision.“289
289
ICTY, Prosecutor v. Delalic et al., Case No. IT-96-21-T, Urt. v. 16. November 1998, para. 402 ff. (410); vgl. auch ICTR, Prosecutor v. Rutaganda, Case No. ICTR-96-3-T, Urt. v. 6. Dezember 1999, para. 86.
2. Teil Geschützte Gruppen gemäß Art. II Genozidkonvention Schutzobjekt der Genozidkonvention sind gemäß Art. II nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppen. Die Festlegung des Schutzobjektes bot während der Vorarbeiten besonders großen Anlass zu Kontroversen. Der endgültigen Formulierung gingen langwierige Debatten innerhalb der Vereinten Nationen voraus, in denen hart um die Bestimmung des Schutzobjektes gerungen wurde.1 Die Diskussionen um den Gruppenbegriff sind bis heute nicht abgebrochen. Im Gegenteil, aus der konventionsrechtlichen Literatur ergibt sich, dass der Gruppenbegriff noch immer einer der zentralen Diskussionspunkte innerhalb der Debatten ist. Diese drehen sich zum einen um die Auslegung der vier verschiedenen Schutzgruppen und zum anderen um den Reformbedarf des Tatbestandsmerkmals. Insgesamt ist der Gruppenbegriff wohl das problematischste Merkmal des Genozidtatbestandes. Grund hierfür ist vor allem, dass die nationalen, ethnischen, rassischen und religiösen Gruppen in der Begriffsbestimmung des Art. II Genozidkonvention nicht legaldefiniert sind und keine klaren Kriterien für die Auslegung des Schutzobjektes vorgegeben werden. Daher ist die Feststellung, ob eine Opfergruppe durch die Konvention geschützt ist oder nicht, im Rahmen der Rechtsanwendung häufig besonders schwierig. Im Folgenden soll zunächst dargestellt werden, wie der Gruppenbegriff in der bisherigen Rechtsprechung von ICTR und ICTY ausgelegt worden ist, um im Anschluss daran die verschiedenen Auslegungsmodelle zu diskutieren und zu werten. Vor diesem Hintergrund wird der im
1
Zu den Debatten um den Gruppenbegriff vgl. insbesondere Ruhashyankiko, Study of the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/416, 1978, para. 49 ff.; Lippman, The Drafting of the 1948 Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, Boston UILJ 3 (1985), S. 1 ff.; Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 51 ff.
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2. Teil
Hinblick auf das Schutzobjekt bestehende Reformbedarf illustriert und ein Vorschlag für eine Neuformulierung erarbeitet.
I. Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale Die bisherige Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale zum Genozidtatbestand bestätigt, dass die Auslegung des Gruppenbegriffs erhebliche Schwierigkeiten beinhaltet und eine besonders kritische Aufgabe für die entscheidenden Richter darstellt. Dies zeigt sich darin, dass nicht nur seitens der beiden Tribunale unterschiedliche Positionen im Hinblick auf die Auslegung des Gruppenbegriffs vertreten werden, sondern vor allem zu Anfang auch die einzelnen Urteile voneinander abwichen. Diskussionspunkt ist und war nicht nur die Frage, ob die nationalen, ethnischen, rassischen und religiösen Gruppen überhaupt voneinander abgegrenzt werden müssen, sondern auch, welche Merkmale die Gruppen im Einzelfall charakterisieren und ob für die Auslegung auf subjektive und/oder objektive Kriterien abgestellt werden sollte. Beim objektiven Ansatz wird die Gruppe zunächst definiert und dann geprüft, ob die Opfer zu ihr gehören. Beim subjektiven Ansatz ist es hingegen unerheblich, ob die Gruppe tatsächlich in objektivem Sinn existiert. Entscheidend sind Sichtweise und Absicht der Täter.2 Obwohl die einzelnen Standpunkte sich in der Folgerechtsprechung immer mehr aneinander angenähert haben, hat sich die Rechtsprechung noch nicht zu einer einheitlichen Linie verdichtet. Im Folgenden werden die wichtigsten Urteile der UN ad hoc-Tribunale zur Auslegung des Gruppenbegriffs ausführlich dargestellt. Die Folgerechtsprechung wird in einem gesonderten Punkt jeweils zusammenfassend kurz umrissen.
1. Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda Im Hinblick auf den Gruppenbegriff liegt der Fokus dieser Arbeit auf den durch den Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda ausgesprochenen Urteilen in den Fällen Akayesu, Kayishema und Ruzindana, Rutaganda, Bagilishema und Semanza. Wegen der Komplexität des den 2
Schabas, Prosecutor v. Akayesu, Commentary, in: Klip/Sluiter (Hrsg.), Annotated Leading Cases of International Criminal Tribunals, Vol. II, 2001, S. 539 (541).
Geschützte Gruppen gemäß Art. II Genozidkonvention
81
Verfahren zu Grunde liegenden Konfliktes, der entgegen der landläufigen Meinung nur vordergründig ethnisch motiviert war, gilt es, vor der Darstellung der Urteile einige Anmerkungen zu seinen Hintergründen zu machen.
a) Hintergründe des Konfliktes in Ruanda Gegenstand der Genozid-Verfahren vor dem ICTR ist der im Jahr 1994 in Ruanda von der Bevölkerungsgruppe der Hutu an der Bevölkerungsgruppe der Tutsi verübte Genozid. Auslöser des Genozids war der Abschuss eines Flugzeuges am 6. April 1994, in dem sich der ruandische Staatspräsident Habyarimana und sein burundischer Amtskollege Ntyamira befanden. Keiner der Insassen überlebte. Direkt nach dem Attentat begann die systematische Genozid- beziehungsweise Mordkampagne gegen die Tutsi-Minderheit (und die Hutu-Opposition).3 Der gesamte Staatsapparat einschließlich der Präsidentengarde und anderen Teilen der Nationalarmee, örtlicher Polizeikräfte sowie der Zivilverwaltung waren an dem Genozid beteiligt. Zusätzlich stifteten sie Massen von Zivilisten an, sich ebenfalls zu beteiligen. Die Hutu-Miliz Interahamwe verübte einen Großteil der Massaker, errichtete Straßensperren und verteilte Waffen an Zivilisten, welche für ihre Mitarbeit belohnt wurden.4 Ungefähr eine Million Männer, Frauen und Kinder wurden verfolgt und regelrecht abgeschlachtet. Der Spezialberichterstatter der UN-Menschenrechtskommission zur Situation in Ruanda, Rene Degni-Segui, vertrat in seinem Bericht aus dem Jahr 1995 die Ansicht, dass die Ursache für den Konflikt nicht so sehr ethnisch, sondern politisch gewesen sei. Das Ziel sei die Aufrechterhaltung der politischen Macht durch die Repräsentanten einer ethnischen Gruppe [der Hutu] gewesen, die jedes Mittel einsetzte, um ihr Ziel zu erreichen – bis hin zur Ausrottung der Tutsi und der politischen Opposition innerhalb der eigenen Gruppe.5
3
Vgl. Report on the Situation of Human Rights in Rwanda submitted by Mr. R. Degni-Ségui, UN Doc. E/CN.4/1995/7, para. 18 ff. 4
Ferstman, Domestic Trials for Genocide and Crimes against Humanity: The Example of Rwanda, African Journal of International and Comparative Law 9 (1997), S. 857 (859). 5
Report on the Situation of Human Rights in Rwanda submitted by Mr. R. Degni-Ségui, UN Doc. E/CN.4/1995/7, para. 56.
82
2. Teil
Die ruandische Bevölkerung setzte sich ehemals aus ca. 85% Hutu, 15% Tutsi sowie 1% Twa zusammen.6 Vor ungefähr vierhundert Jahren kamen die Tutsi aus dem Norden Afrikas nach Ruanda, wo bereits Hutu und Twa lebten. Die Gruppen leben mithin seit vielen Generationen gemeinsam in Ruanda. Sie teilen jedoch nicht nur die Staatsangehörigkeit, sondern gehören auch der gleichen Religion an, sprechen die gleiche Sprache und sind durch eine gemeinsame Weltanschauung und Kultur geprägt.7 Optisch ließen die beiden Gruppen sich ursprünglich voneinander unterscheiden. Die Tutsi waren groß und schlank, hatten feine Gesichtszüge und oftmals hellere Haut als die meisten Afrikaner, während die Hutu kleiner und gedrungen waren, mit dunkler Haut und negroiden Merkmalen.8 Diese ererbten physischen Unterschiede zwischen den Hutu und den Tutsi verschwanden inzwischen weitestgehend durch Generationen von Mischehen.9 Vor der Kolonialzeit wurde die Unterscheidung zwischen Hutu und Tutsi nach sozioökonomischen Gesichtspunkten getroffen. Die Bezeichnung Tutsi oder Hutu bezog sich nicht so sehr auf Gruppen, sondern auf einzelne Individuen. Traditionell waren die Tutsi wohlhabender als die Hutu. Erstere lebten von der Viehzucht, während Letztere Landwirtschaft betrieben. Die Trennlinie war durchlässig, der Einzelne konnte je nach Wohlstand von einem Status zum anderen wechseln.10 Erst durch die Kolonialisierung verfestigte sich die vormals soziologische Kategorisierung zu einem Mittel der ethnischen Identifikation. 11 Zum Zweck der Etablierung indirekter Herrschaft wurden die Hutu
6
ICTR, Prosecutor v. Akayesu, Case No. ICTR-96-4-T, Urt. v. 2. September 1998, para. 83. 7
Vgl. ICTR, Prosecutor v. Kayishema & Ruzindana, Case No. ICTR-951-T, Urt. v. 21. Mai 1999, para. 34. 8
Vgl. dazu Prunier, The Rwanda Crisis 1959-1994, 1995, S. 5 ff.; Chalk/ Jonassohn, The History and Sociology of Genocide, 1990, S. 384 ff. 9
Vgl. Magnarella, Some Milestones and Achievements at the International Criminal Tribunal for Rwanda, Florida Journal of International Law 11 (1997), S. 517 (530). 10
Sunga, The First Indictments of the International Criminal Tribunal for Rwanda, HRLJ 18 (1997), S. 329; Nygren Krug, Genocide in Rwanda, Nordic Journal of international Law 67 (1998), S. 165 (170); Prunier, The Rwanda Crisis 1959-1994, 1995, S. 13 f. 11
ICTR, Prosecutor v. Kayishema & Ruzindana, Case No. ICTR-95-1-T, Urt. v. 21. Mai 1999, para. 35.
Geschützte Gruppen gemäß Art. II Genozidkonvention
83
und die Tutsi zu Ethnien mit unterschiedlichem kulturellem Niveau stilisiert und auf dieser Basis provozierend ungleich behandelt.12 Über lange Zeit bevorzugten die belgischen Kolonialherren die Tutsi, da ihrer Meinung nach nur diese Gruppe für das Herrschen und Regieren geeignet war.13 Die Belgier führten ein System von Ausweiskarten ein, in die auch die Ethnie eingetragen werden musste. Der ethnische Ursprung entsprechend den ruandischen Gesetzen bestimmte sich nach der Anzahl von Vieh, welches der Familie des Betreffenden gehörte.14 Die Trennlinie zwischen den Gruppen wurde zunehmend starrer. Die systematische Bevorzugung durchdrang die ruandische Gesellschaft und schuf eine Kultur, die durch das Gefühl der Über- und Unterlegenheit geprägt war.15 Aus den ersten freien Wahlen im Jahr 1961 ging die Hutu-Partei Parmehutu als klarer Sieger hervor. Die neuen Eliten setzten nach der Unabhängigkeit im Jahre 1962 die koloniale Ethnisierung von Gesellschaft und Politik fort. Die interne Spaltung der Nation in ethnisierte Gruppen wurde politische Realität.16 Diese Realität zeigte sich auf brutale Art und Weise darin, dass es immer wieder zu gewaltsamen rassisch motivierten Übergriffen – in erster Linie gegen die Tutsi – kam. Anfang der 90er Jahre setzte sich dann eine Gewaltspirale in Gang, die schließlich in den Genozid von 1994 mündete.17
12
Scherrer, Ethnisierung und Völkermord in Zentralafrika: Rwanda und Burundi – Länder der Tausend Massengräber, in: Förster/Hirschfeld (Hrsg.), Genozid in der modernen Geschichte, 1999, S. 101. 13
Schürings, Rwanda: Hintergründe der Katastrophe, Opfer, Täter und die internationale Gemeinschaft, VN 1994, S. 125 (127); Nygren Krug, Genocide in Rwanda, Nordic Journal of International Law 67 (1998), S. 165 (170). 14
Schabas, ILSA Journal of International and Comparative Law (2000), S. 375 (379). 15
Sunga, The First Indictments of the International Criminal Tribunal for Rwanda, HRLJ 18 (1997), S. 329 (330). 16
Scherrer, Ethnisierung und Völkermord in Zentralafrika: Rwanda und Burundi – Länder der Tausend Massengräber, in: Förster/Hirschfeld (Hrsg.), Genozid in der modernen Geschichte, 1999, S. 101 f. 17
Sunga, The First Indictments of the International Criminal Tribunal for Rwanda, HRLJ 18 (1997), S. 329 (330 f.). Die internationale Staatengemeinschaft erwies sich als unfähig oder Unwillens, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um den Genozid aufzuhalten. Obwohl die UN bereits im August 1993 einen alarmierenden Bericht des Sonderberichterstatters der Menschenrechtskommission, Waly Bacre Ndiaye, über Massaker und andere Menschen-
2. Teil
84
b) Prosecutor v. Jean-Paul Akayesu Gegen Jean-Paul Akayesu erging die erste Verurteilung wegen Genozids durch ein internationales Strafgericht. Schon deshalb ist dieses ein besonderes Verfahren. Akayesu wurde am 2. September 1998 durch die erste Strafkammer des Ruanda-Strafgerichtshofes wegen Genozid, wegen unmittelbarer und öffentlicher Anreizung zur Begehung von Genozid sowie wegen der Begehung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.18 Das Urteil wurde am 1. Juni 2001 durch die Rechtsmittelkammer bestätigt.19 Gegenstand des Verfahrens waren die Ereignisse in der Gemeinde Taba zwischen Anfang April und Ende Juni 1994. Akayesu war zur Tatzeit Bürgermeister der Gemeinde. In dem betreffenden Zeitraum wurden in Taba unter anderem mindestens 2000 Tutsi getötet, Frauen vergewaltigt
rechtsverletzungen in Ruanda veröffentlicht hatte, in dem sogar die Frage des Genozids aufgeworfen und Präventionsmaßnahmen vorgeschlagen worden waren, blieb die Staatengemeinschaft untätig. Erst im Oktober wurde die UNMission UNAMIR entsandt, die dem UN-Generalsekretär Boutros-Ghali wiederum verschiedentlich Rückmeldung über den sich anbahnenden Genozid machte. Trotz der bereits begonnenen Massaker entschied der Sicherheitsrat am 21. April 1994, das UNAMIR-Kontingent zu verringern. Erst am 17. Mai wurde die Entsendung von UNAMIR II mit einer Erhöhung der Zahl der Blauhelmsoldaten auf 5500 und der Verhängung eines Waffenembargos über Ruanda beschlossen. Das Ergebnis war mager, zwei Monate später erreichte die Truppenstärke lediglich 550 Soldaten. Ab dem 23. Juni führte Frankreich mit Zustimmung des Sicherheitsrats die so genannte humanitäre Intervention „Operation Türkis“ mit 2500 Mann im Südwesten Ruandas durch. Im Juli 1994 ergriffen Rebellentruppen der Tutsi die tatsächliche und politische Macht in Ruanda. Am 19. Juli 1994 erklärten sie den Krieg für beendet. Angesichts des unglaublichen Versagens der Staatengemeinschaft sowie ihres Organs – der UN – setzte der UN-Generalsekretär im Mai 1999 eine Kommission ein, die mit der „unabhängigen Untersuchung“ der Reaktion der Vereinten Nationen auf den Genozid in Ruanda beauftragt wurde. Vgl. mit kritischer Stellungnahme zu den Versäumnissen Schürings, Versagen im Angesicht des Völkermords, VN 2000, S. 53 ff.; kritisch zur Rolle des UN-Sicherheitsrates Melveren, The Security Council in the Face of Genocide, JICJ 3 (2005), S. 847 ff. (insbes. 852 ff.). 18
Vgl. im Einzelnen ICTR, Prosecutor v. Akayesu, Case No. ICTR-96-4-T, Urt. v. 2. September 1998, para. 638 ff., i.V.m. Strafzumessung v. 2. Oktober 1998. 19
2001.
ICTR, Prosecutor v. Akayesu, Case No. ICTR-96-4-A, Urt. v. 1. Juni
Geschützte Gruppen gemäß Art. II Genozidkonvention
85
und/oder ihnen in anderer Form körperliche Gewalt angetan beziehungsweise mit solcher Gewalt oder dem Tod gedroht. Im Rahmen der Auslegung des Genozidtatbestandes gestaltete sich die Beantwortung der Frage, ob die Tutsi zu den durch die Konvention geschützten Gruppen gehörten, besonders schwer. Zunächst stellte die Kammer auf der Grundlage einer Analyse der vorbereitenden Arbeiten zur Genozidkonvention fest, dass durch die Konvention stabile, dauerhafte Gruppen geschützt werden, in denen die Mitgliedschaft durch die Geburt bestimmt ist. Im Gegensatz dazu sah sie veränderliche Gruppen, in denen die Gruppenzugehörigkeit auf dem freien Willen der Mitglieder beruht, als nicht erfasst an. Gemeinsames Merkmal der geschützten Gruppen sei, dass die Mitgliedschaft in diesen Gruppen normalerweise nicht durch die Mitglieder selbst geändert werden könne, die ihnen durch ihre Geburt automatisch in einer dauerhaften und oft unabänderlichen Art und Weise angehören würden.20 Im Anschluss entwickelten die entscheidenden Richter eine gesonderte Definition für jede der vier Schutzgruppen. Die nationalen Gruppen wurden mit Hinweis auf die Nottebohm-Entscheidung des Internationalen Gerichtshofes als eine Ansammlung von Personen definiert, welche in der allgemeinen Wahrnehmung aufgrund ihrer gemeinsamen Staatsbürgerschaft gekoppelt mit wechselseitigen Rechten und Pflichten eine gemeinsame rechtliche Verbindung haben.21 Zu den ethnischen Gruppen zählte die Kammer solche Gruppierungen, deren Mitglieder eine gemeinsame Sprache oder Kultur teilen.22 Die rassischen Gruppen sah sie als durch bestimmte ererbte physische Merkmale gekennzeichnet an, welche oftmals mit einer bestimmten geografischen Region gleichgesetzt würden, unabhängig von sprachlichen, kulturellen, nationalen oder religiösen Faktoren.23 Die Mitglieder einer religiösen Gruppe würden dieselbe Religion, Konfession oder Form der Verehrung teilen.24 Der Versuch, die Tutsi in eine der vier Kategorien von Schutzgruppen einzuordnen, erwies sich als erfolglos. Ihre Kategorisierung als nationale, rassische oder religiöse Gruppe schied von vornherein aus, da die 20
ICTR, Prosecutor v. Akayesu, Case No. ICTR-96-4-T, Urt. v. 2. September 1998, para. 511. 21
Ebenda, para. 512.
22
Ebenda, para. 513.
23
Ebenda, para. 514.
24
Ebenda, para. 515.
2. Teil
86
Tutsi und die Hutu die gleiche Staatsangehörigkeit haben, die gleiche Religion praktizieren und sich äußerlich oftmals kaum voneinander unterscheiden. Problematisch ist zudem, dass die Tutsi sich weder in ihrer Kultur vom Rest der ruandischen Bevölkerung unterscheiden noch eine eigene Sprache sprechen.25 Aufgrund dessen lehnte die Kammer es ab, die Tutsi objektiv als ethnische Gruppe im Sinne der vorgenannten Definition zu qualifizieren.26 Die Kammer prüfte weiterhin, ob die Zerstörung einer Gruppe als solcher auch dann nach der Konvention strafbar ist, wenn die in Rede stehende Gruppe zwar stabil und die Mitgliedschaft in ihr durch die Geburt bestimmt ist, sie aber nicht zu den vier ausdrücklich geschützten Gruppen zählt. Nach Auffassung der Kammer war es vor allem wichtig, den Willen der Autoren der Konvention zu berücksichtigen. Dieser sei entsprechend der Vorarbeiten offenkundig darauf gerichtet gewesen, jede gleichermaßen dauerhafte und stabile Gruppe zu schützen.27 Sie stellte fest, dass eine Reihe objektiver Indikatoren dafür sprechen, dass die Tutsi eine Gruppe mit eigener Identität waren. Zur Begründung verwies sie zunächst auf die von den Belgiern eingeführten Ausweiskarten, auf denen auch die Zugehörigkeit zur ethnischen Gruppe der Hutu, der Tutsi oder der Twa eingetragen war. Als einen weiteren Hinweis wertete sie den Umstand, dass die 1994 in Ruanda geltenden Gesetze, einschließlich der Verfassung, die ruandische Bevölkerung anhand ihrer ethnischen Gruppenzugehörigkeit unterschieden.28 Zuletzt sei die Gruppenzugehörigkeit durch die Geburt bestimmt gewesen und nach dem in Ruanda gültigen Gewohnheitsrecht patrilinear vererbt worden. Mittels dieser Indikatoren kam die Kammer zu dem Ergebnis, dass die Identifikation einer Person aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe der Hutu, der Tutsi (oder der Twa) gewohnheitsrechtlich in der ruandischen Kultur verankert war. Ergänzend fügte die Kammer hinzu, 25
Ebenda, para. 170; zur Abgrenzung von Tutsi und Hutu s. o. 2. Teil, I.
1. a). 26
ICTR, Prosecutor v. Akayesu, Case No. ICTR-96-4-T, Urt. v. 2. September 1998, para. 702. 27 28
Ebenda, para. 516.
Ebenda, para. 170; vgl. Art. 16 der Verfassung der Republik Ruanda vom 10. Juni 1991: „All citizens are equal before the law, without any discrimination, notably, on ground of race, colour, origin, ethnicity, clan, sex, opinion, religion or social position.“ und Art. 118 des Zivilgesetzbuches aus dem Jahr 1988, nach dem Geburtsurkunden unter anderem die ethnische Gruppenzugehörigkeit des Kindes enthalten müssen.
Geschützte Gruppen gemäß Art. II Genozidkonvention
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dass die Tutsi auch von den Tätern als eigenständige ethnische Gruppe wahrgenommen wurden.29 Mithin gelangte die Kammer im Fall Akayesu auf der Grundlage von objektiven Definitionskriterien zu dem Ergebnis, dass die Tutsi jedenfalls zur Tatzeit eine dauerhafte und stabile Gruppe waren.30 Da nach ihrer Meinung die Konvention auf alle dauerhaften und stabilen Gruppen anwendbar ist, fielen auch die Tutsi in den Schutzbereich.
c) Prosecutor v. Clément Kayishema und Obed Ruzindana Clement Kayishema und Obed Ruzindana wurden am 21. Mai 1999 von der zweiten Strafkammer des Ruanda-Strafgerichtshofes des Genozids für schuldig befunden. Kayishema war zur Tatzeit der Präfekt von Kibuye und Ruzindana Geschäftsmann.31 Gegenstand des Verfahrens waren die Massaker in verschiedenen Gemeinden der Region Kibuye in der Zeit von Anfang April bis Ende Juni 1994, im Zuge derer Tausende von Männern, Frauen und Kindern getötet und unzählige Personen misshandelt und verletzt wurden.32 Kayishema wurde zu einer lebenslangen und Ruzindana zu einer 25-jährigen Haftstrafe verurteilt.33 Die Rechtsmittelkammer bestätigte das Urteil am 1. Juni 2001.34 Die entscheidende Kammer suchte in diesem Verfahren zur Beantwortung der Frage, ob die Tutsi in den Schutzbereich des Genozidtatbestandes fallen, ebenfalls nach einer gesonderten Definition für die vier geschützten Gruppen. Sie übernahm jedoch nicht die im Fall Akayesu aufgestellten Kriterien. Vor allem für die ethnischen Gruppen entwickelte sie eine eigene Definition:
29
ICTR, Prosecutor v. Akayesu, Case No. ICTR-96-4-T, Urt. v. 2. September 1998, para. 171 f. 30
Ebenda, para. 698, 701 f.
31
ICTR, Prosecutor v. Kayishema & Ruzindana, Case No. ICTR-95-1-T, Urt. v. 21. Mai 1999, para. 6 ff. 32
Vgl. zu den Ereignissen im Einzelnen ICTR, Prosecutor v. Kayishema & Ruzindana, Case No. ICTR-95-1-T, Urt. v. 21. Mai 1999, para. 314 ff. 33
ICTR, Prosecutor v. Kayishema & Ruzindana, Case No. ICTR-95-1-T, Urt. v. 21. Mai 1999. 34
ICTR, Prosecutor v. Kayishema & Ruzindana, Case No. ICTR-95-1-A, Urt. v. 1. Juni 2001.
2. Teil
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„An ethnic group is one whose members share a common language and culture; or, a group which distinguishes itself, as such (self identification); or, a group identified as such by others, including perpetrators of the crimes (identification by others).“ Im Hinblick auf die rassischen und die religiösen Gruppen stimmte die Kammer im Wesentlichen mit dem Begriffsverständnis des AkayesuUrteils überein. Die rassischen Gruppen sah sie als durch bestimmte ererbte physische Merkmale gekennzeichnet an, die oftmals mit einer geografischen Region gleichgesetzt würden. Die religiösen Gruppen definierte sie als Gruppe von Menschen, die Konfession und Art der Verehrung teilen oder einen gemeinsamen Glauben haben.35 Der Begriff „nationale Gruppe“ wurde in diesem Urteil nicht erläutert. Die Kammer verwies darauf, dass die Tutsi und die Hutu auf dem gleichen Staatsgebiet leben, die gleichen kulturellen Traditionen pflegen, die gleiche Sprache sprechen und an dieselben Legenden glauben. Grundsätzlich seien diese gemeinsamen Merkmale gleichbedeutend mit einer gemeinsamen ethnischen Gruppenzugehörigkeit.36 Die Kammer kam aber dennoch zu dem Ergebnis, dass die Tutsi eine eigenständige ethnische Gruppe waren.37 Bezug nehmend auf die von der Regierung ausgestellten Ausweiskarten, auf denen die Gruppenzugehörigkeit vermerkt war, stellte sie fest, dass die Tutsi als ethnische Gruppe angesehen wurden.38 Darüber hinaus wies sie darauf hin, dass die Ethnie nach in Ruanda gültigem Gewohnheitsrecht patrilinear vererbt wurde.39 Die Gruppenzugehörigkeit sei in Ruanda ein sehr trennendes Moment gewesen.40 Auch die Überlebenden hätten sich selbst als Tutsi identifiziert. Aus der Urteilsbegründung ergibt sich folglich, dass nach Auffassung der Kammer zur Bestimmung der Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe objektive und subjektive Kriterien herangezogen werden können.
35
ICTR, Prosecutor v. Kayishema & Ruzindana, Case No. ICTR-95-1-T, Urt. v. 21. Mai 1999, para. 98. 36
Ebenda, para. 34, Hervorhebung durch die Verf.
37
Ebenda, para. 522 ff.
38
Ebenda, para. 523 und para 35.
39
Ebenda, para. 523.
40
Ebenda, para. 524.
Geschützte Gruppen gemäß Art. II Genozidkonvention
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d) Prosecutor v. Georges Anderson Nderubumwe Rutaganda Georges Rutaganda wurde am 6. Dezember 1999 durch die erste Strafkammer des Ruanda-Strafgerichtshofes wegen Genozids und wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft verurteilt.41 Rutaganda war zur Tatzeit stellvertretender Vizepräsident der HutuMiliz Interahamwe.42 Gegenstand des Verfahrens waren die Ereignisse in der ruandischen Präfektur Kigali in der Zeit von Anfang April bis Ende Dezember 1994, während derer Tausende Männer, Frauen und Kinder getötet wurden und anderen Gewaltanwendungen zum Opfer fielen.43 Zu diesen Ereignissen zählten auch die Massaker an den Tutsi, die auf das Gelände der Ecole Technique Officielle geflohen waren. Die Massaker fanden statt, nachdem sich die belgischen UNAMIR-Soldaten am 11. April 1994 von dem Gelände zurückgezogen hatten. Die Verurteilungen wegen Genozids und Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurden am 26. Mai 2003 durch die Rechtsmittelkammer bestätigt. Zusätzlich befand sie Rutaganda wegen Verstoßes gegen den gemeinsamen Art. 3 der Genfer Konventionen für schuldig.44 Im Rahmen der Urteilsfindung wies die Kammer zunächst ausdrücklich darauf hin, dass sie an der im Akayesu-Urteil entwickelten Definition des Genozids festhalten würde.45 Tatsächlich wich sie aber von dieser Entscheidung ab, was insofern bemerkenswert ist, als die Kammer in derselben Besetzung wie im Fall Akayesu entschied. Die Richter stellten fest, dass es trotz eingehender Untersuchungen keine allgemeine, international anerkannte, präzise Definition der vier durch den Tatbestand geschützten Gruppen gebe. Deshalb müsse jede Gruppe im Kontext ihres politischen, sozialen und kulturellen Zusammenhangs begriffen werden. Die Gruppenmitgliedschaft im Sinne der Genozidkonvention sei eher ein subjektives als ein objektives Konzept, da das Opfer durch den Täter der zur Zerstörung vorgesehenen Gruppe zugeordnet würde. In manchen Fällen könne das Opfer sich auch selbst
41
ICTR, Prosecutor v. Rutaganda, Case No. ICTR-96-3-T, Urt. v. 6. Dezember 1999, 7. 42
Ebenda, para. 30.
43
Ebenda, para. 176 ff.
44
ICTR, Prosecutor v. Rutaganda, Case No. ICTR-96-3-A, Urt. v. 26. Mai
2003. 45
ICTR, Prosecutor v. Rutaganda, Case No. ICTR-96-3-T, Urt. v. 6. Dezember 1999, para. 48.
2. Teil
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als der entsprechenden Gruppe zugehörig empfinden. Die Kammer sprach sich dennoch gegen eine rein subjektive Bestimmung der Opfergruppe aus, da eine solche unzureichend sei. Aus den vorbereitenden Arbeiten ergebe sich, dass die Konvention dazu dienen sollte, verhältnismäßig stabile und dauerhafte Gruppen zu schützen. Insgesamt müsse die Entscheidung, ob eine Gruppe durch den Genozidtatbestand geschützt ist, von Fall zu Fall unter Berücksichtigung der Beweislage sowie der politischen und kulturellen Zusammenhänge getroffen werden.46 Im Rahmen der Subsumtion verwies die Kammer zunächst in Übereinstimmung mit dem Akayesu-Urteil darauf, dass die Tutsi keine eigene Sprache sprechen und sich auch kulturell nicht vom Rest der ruandischen Bevölkerung unterscheiden. Dennoch würden eine Reihe objektiver Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Tutsi eine Gruppe mit einer eigenen Identität seien. Als ein solcher Indikator wurden zunächst die bereits erwähnten und vor 1994 obligatorischen Ausweiskarten bewertet. Zudem wurde in diesem Urteil ebenso wie im Urteil gegen Akayesu darauf abgestellt, dass die ruandischen Gesetze und die Verfassung im Jahr 1994 die Bevölkerung unter Bezugnahme auf ihre ethnische Gruppenzugehörigkeit identifizierten. Schließlich zitierte die Kammer die gewohnheitsrechtlich patrilineare Vererbung der ethnischen Gruppenzugehörigkeit. Die Kammer war der Ansicht, dass durch diese Faktoren: „The identification of persons as belonging to the group of Hutu or Tutsi or Twa had … become embedded in Rwandan culture, and can, in the light of the travaux préparatoires of the Genocide Convention, qualify as a stable and permanent group, in the eyes of both the Rwandan Society and the international community. In Rwanda in 1994, the Tutsi constituted an ethnic group.“47 Noch heute würden sich die meisten Ruander ebenso wie vor 1994 anhand ihrer ethnischen Gruppenzugehörigkeit identifizieren.48 Dementsprechend kam die Kammer insgesamt unter der Berücksichtigung objektiver und subjektiver Kriterien zu dem Ergebnis, dass die 46
Ebenda, para. 56 ff.; diese Kriterien wurden im Urteil ICTR, Prosecutor v. Musema, Case No. ICTR-96-13-T, Urt. v. 27. Januar 2000, para. 160 ff., nahezu wörtlich übernommen. 47
ICTR, Prosecutor v. Rutaganda, Case No. ICTR-96-3-T, Urt. v. 6. Dezember 1999, para. 374. 48
Ebenda, para. 375.
Geschützte Gruppen gemäß Art. II Genozidkonvention
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Tutsi durch ihre Stabilität und Dauerhaftigkeit charakterisiert sind und in Ruanda als eigenständige ethnische Gruppe akzeptiert werden. Sie seien somit durch die Genozidkonvention und das ICTR-Statut geschützt.49 Unklar bleibt bei dieser Urteilsbegründung, ob für die Einordnung in den Schutzbereich die Qualifizierung der Tutsi als ethnische Gruppe oder aber als dauerhafte und stabile Gruppe entscheidend war.
e) Prosecutor v. Ignace Bagilishema Ignace Bagilishema wurde am 7. Juni 2001 durch die erste Strafkammer des Ruanda-Strafgerichtshofes vom Vorwurf des Genozids aus Mangel an Beweisen freigesprochen.50 Dies war der erste Freispruch durch das ICTR. Bagilishema war wegen Genozid, Teilnahme am Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie wegen schweren Verstößen gegen den gemeinsamen Art. 3 der Genfer Konventionen angeklagt.51 Gegenstand des Verfahrens waren die Ereignisse in verschiedenen Gemeinden der Präfektur Kibuye zwischen Anfang April und Ende Juli 1994, in denen unzählige Tutsi getötet wurden und anderen Gewaltanwendungen zum Opfer fielen. Zu diesen Ereignissen gehörten unter anderem die Massaker in der Stadt Kibuye an Tausenden von Tutsi, die in der katholischen Kirche und im nahe gelegenen Gatwaro Stadion Zuflucht gesucht hatten. Zur Tatzeit war Bagilishema Bürgermeister der Gemeinde Mabanza.52 Bei der Definition des Genozidtatbestandes verwies die Kammer zunächst darauf, dass der Genozidtatbestand in der Rechtsprechung des Ruanda-Strafgerichtshofes bereits zuvor interpretiert worden war.53 Sodann wies sie darauf hin, dass sie an den entwickelten Definitionen festhalten würde, ohne sich jedoch auf einen der vertretenen Ansätze festzulegen. Tatsächlich entwickelte die Kammer die bisherigen Auslegungsmodelle weiter.54
49
Ebenda, para. 377.
50
ICTR, Prosecutor v. Bagilishema, Case No. ICTR-95-1A-T, Urt. v. 7. Juni 2001, VI. 51
Ebenda, Annex A, Amended Indictment.
52
Ebenda, para. 7.
53
Ebenda, para. 55.
54
Vgl. hierzu ebenda, para. 65.
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2. Teil
Die Kammer stimmte mit den Urteilen gegen Rutaganda und Musema darin überein, dass mangels einer generellen, international anerkannten Definition für die vier Schutzgruppen, jedes der Konzepte im Lichte seines speziellen politischen, sozialen, historischen und geschichtlichen Kontextes beurteilt werden müsse. Ferner war sie mit den Vorentscheidungen darin einer Meinung, dass, auch wenn die Mitgliedschaft in der Zielgruppe ein objektives Merkmal in der betroffenen Gesellschaft sein müsse, sie dennoch eine subjektive Dimension aufweise.55 Dies begründete die Kammer damit, dass eine Gruppe unter Umständen keine genau definierten Grenzen habe und Situationen denkbar seien, in denen es schwierig ist, eine definitive Antwort darauf zu geben, ob ein Opfer das Mitglied einer der geschützten Gruppen war oder nicht. Des Weiteren sei es möglich, dass die Täter des Genozids die Opfergruppe auf eine Art und Weise charakterisieren, die nicht mit der generellen Wahrnehmung der Gruppe oder der Wahrnehmung durch andere Teile der Gesellschaft übereinstimme. Die Kammer vertrat die Auffassung, dass für den Fall, dass das Opfer vom Täter als einer der geschützten Gruppen zugehörig angesehen werde, dieses Opfer aufgrund der Beweislage auch von der Kammer zum Zwecke des Genozidtatbestandes als Mitglied der Schutzgruppe angesehen werden könne. Folglich befürworteten die Richter grundsätzlich den subjektivobjektiven Ansatz. Unter bestimmten Umständen hielten sie jedoch – erstmalig – den rein subjektiven Ansatz ebenfalls für zulässig. Wegen des Freispruchs wurde in diesem Urteil letztlich nicht darüber entschieden, ob die Tutsi zu den durch die Konvention geschützten Gruppen zählen oder nicht.
f) Prosecutor v. Laurent Semanza Am 15. Mai 2003 wurde Laurent Semanza wegen Teilnahme am Genozid sowie wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch das Ruanda-Strafgericht zu 24 Jahren und 6 Monaten Haft verurteilt.56 Während 55
Diesbzgl. verweist die Kammer ausdrücklich auf die Expertenkommission zu Ruanda, welche festgestellt hatte, dass es für die Anerkennung der Existenz von Diskriminierungen aus rassischen und ethnischen Gründen nicht erforderlich sei, auch die Existenz von Rassen und Ethnien an sich als wissenschaftlich anerkannte objektive Tatsache zu postulieren; ICTR, Prosecutor v. Bagilishema, Case No. ICTR-95-1A-T, para. 65, Fn. 63. 56
ICTR, Prosecutor v. Semanza, Case No. ICTR-97-20-T, Urt. v. 15. Mai 2003, VIII.
Geschützte Gruppen gemäß Art. II Genozidkonvention
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des Genozids war Semanaza Mitglied des Zentralkomitees der Partei des ehemaligen Präsidenten Habyarimana (Movement Républicain National et Démocratique) und als Repräsentant für die Nationalversammlung nominiert. Verfahrensgegenstand waren auch in diesem Fall Massaker und andere Gewalttaten an Tutsi im April 1994, die unter anderem in den Kirchen Rahanga und Musha in der Gemeinde Gikoro Zuflucht gesucht hatten.57 Die Rechtsmittelkammer kam zu einem in Teilen abweichenden Ergebnis. Nach ihrer Auffassung war Semanza schuldig wegen Genozid, Teilnahme am Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und wegen Verstoßes gegen den gemeinsamen Art. 3 der Genfer Konventionen und das II. Zusatzprotokoll. Das Strafmaß wurde auf 35 Jahre erhöht.58 In diesem Urteil fasste die Kammer die in den bisherigen Entscheidungen der Tribunale vertretenen Auslegungen des Gruppenbegriffs noch einmal zusammen und verdeutlichte einmal mehr die mit der Begrifflichkeit einhergehende Problematik. Sie hob hervor, dass das Statut des Tribunals keinen Hinweis darauf enthält, ob die in Rede stehende Gruppe durch subjektive oder objektive Kriterien bestimmt werden muss oder durch eine, wie die Kammer es nannte, hybride Formulierung.59 Im Ergebnis stimmte sie mit den anderen Urteilen darin überein, dass die Frage, ob eine Gruppe durch den Genozidtatbestand erfasst ist oder nicht, von Fall zu Fall unter Bezugnahme auf die objektiven Besonderheiten des bestehenden sozialen und historischen Kontextes und die subjektive Wahrnehmung der Täter entschieden werden müsse.60 In der Urteilsbegründung erkannte die Kammer es als offenkundig an, dass die Staatsbürger Ruandas zum Zeitpunkt der Tat entsprechend der ethnischen Klassifizierung als Hutu, Tutsi oder Twa identifiziert wur57
ICTR, Prosecutor v. Semanza, Case No. ICTR-97-20-T, Urt. v. 15. Mai 2003, para. 410 ff. 58
ICTR, Prosecutor v. Semanza, Case No. ICTR-97-20-A, Urt. v. 20. Mai 2005, IV. 59
ICTR, Prosecutor v. Semanza, Case No. ICTR-97-20-T, Urt. v. 15. Mai 2003, para. 317. 60
Zitiert wurden die Urteile: ICTR, Prosecutor v. Akayesu, Case No. ICTR- 96-4-T, Urt. v. 2. September 1998, para. 702; ICTR, Prosecutor v. Kayishema & Ruzindana, Case No. ICTR-95-1-T, Urt. v. 21. Mai 1999, para. 98; ICTR, Prosecutor v. Rutaganda, Case No. ICTR-96-3-T, Urt. v. 6. Dezember 1999, para. 56 ff.; ICTR, Prosecutor v. Musema, Case No. ICTR-96-13-T, Urt. v. 27. Januar 2000, para. 161 ff.; ICTR, Prosecutor v. Bagilishema, Case No. ICTR-95-1A-T, Urt. v. 7. Juni 2001, para. 65.
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den.61 Dementsprechend sei es für diesen Fall erwiesen, dass die Tutsi in Ruanda eine ethnische Gruppe waren. Zu diesem Ergebnis gelangte die Kammer durch eine Kombination aus subjektiven und objektiven Kriterien. Dabei machten die Richter es sich insofern leicht, als sie auf einen eigenen Begründungsaufwand verzichteten und stattdessen das in den anderen Urteilen gefundene Ergebnis übernahmen.
g) Folgerechtsprechung Im Hinblick auf die Folgerechtsprechung ist zu vermerken, dass die Kammern sich mit der Problematik der Auslegung des Gruppenbegriffs nicht ausführlich auseinandersetzten. In den Urteilen gegen Juvenal Kajelijeli, Jean de Dieu Kamuhanda und Sylvestre Gacumbitsi schloss die zweite Strafkammer des ICTR sich der Auffassung an, dass das Kriterium der Gruppenmitgliedschaft im Kontext der Genozidkonvention eher ein subjektives als ein objektives Konzept sei, da das Opfer durch den Täter der zur Zerstörung vorgesehenen Gruppe zugeordnet werde. Die Einstufung der jeweiligen Gruppe müsse von Fall zu Fall unter Bezugnahme auf beide Kategorien von Kriterien getroffen werden.62 In den Urteilen gegen Elizaphan und Gerard Ntakirutimana,63 Eliezer Niyitegeka,64 Ferdinand Nahimana et al.,65 Samuel Imanishimwe,66 Emmanuel Ndindabahizi67 und Mikaeli Muhimana68 wurden die Tutsi 61
ICTR, Prosecutor v. Semanza, Case No. ICTR-97-20-T, Urt. v. 15. Mai 2003, para. 422. 62
ICTR, Prosecutor v. Kajelijeli, Case No. ICTR-98-44A-T, Urt. v. 1. Dezember 2003, para. 811; ICTR, Prosecutor v. Kamuhanda, Case No. ICTR-9554A-T, Urt. v. 22. Januar 2004, para. 630; ICTR, Prosecutor v. Gacumbitsi, Case No. ICTR-2001-64-T, Urt. v. 17. Juni 2004, para. 254. 63
ICTR, Prosecutor v. Elizaphan & Gerard Ntakirutimana, Case Nos. ICTR-96-10 & ICTR-96-17-T, Urt. v. 21. Februar 2003, para. 75, 789, 792 f. 64
ICTR, Prosecutor v. Niyitegeka, Case No. ICTR-96-14-T, Urt. v. 16. Mai 2003, para. 419. 65
ICTR, Prosecutor v. Nahimana et al., Case No. ICTR-99-52-T, Urt. v. 3. Dezember 2003, para. 946 ff. 66
ICTR, Prosecutor v. Imanishimwe et al., Case No. ICTR-99-46-T, Urt. v. 25. Februar 2004, para. 661 ff. 67
ICTR, Prosecutor v. Ndindabahizi, Case No. ICTR-2001-71-I, Urt. v. 15. Juli 2004, para. 452 ff.
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ohne weitere Ausführungen zum Gruppenbegriff als ethnische Gruppe qualifiziert.
2. Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien Durch den Jugoslawien-Strafgerichtshof wurde bis Januar 2005 nur ein Täter, Radislav Krstic, wegen Genozids verurteilt. Im Januar 2005 folgte dann die Verurteilung von Vidoje Blagojevic, die allerdings von der Rechtsmittelkammer wieder aufgehoben wurde.69 Das Urteil gegen Krstic spielt bei der Analyse der Rechtsprechung des ICTY zum Genozidtatbestand naturgemäß eine maßgebliche Rolle. Von Bedeutung für die Auslegung des Gruppenbegriffs sind zudem die Freisprüche gegen Goran Jelesic sowie Milomir Stakic.70 Angesichts des schrecklichen Kriegsgeschehens im ehemaligen Jugoslawien, im Zuge dessen unzählige Angehörige bestimmter Gruppen vertrieben, misshandelt und getötet wurden, ist die Bilanz der Verurteilungen wegen Genozids traurig.
a) Hintergründe des Konfliktes im ehemaligen Jugoslawien Natürlich können im Kontext dieser Arbeit die sehr komplexen Zusammenhänge, welche zum Zusammenbruch der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien geführt haben, nicht umfassend untersucht werden.71 Deshalb wird die Darstellung auf einige für das Ver-
68
ICTR, Prosecutor v. Muhimana, Case No. ICTR-95-1B-T, Urt. v. 28. April 2005, para. 511 f. 69
ICTY, Prosecutor v. Blagojevic, Case No. ICTY-IT-02-60-A, Urt. v. 9. Mai 2007, para. 119 ff. 70
Mit Spannung erwartet wurde das Urteil gegen den ehemaligen serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic, der unter anderem wegen Genozids an den bosnischen Muslimen und den bosnischen Kroaten angeklagt war (ICTY, Prosecutor. v. Milosevic, Indictment, 22. November 2001, ICTY-01-51-I, para. 32), jedoch zwischenzeitlich verstorben ist. Dieses Urteil hätte einen wesentlichen Beitrag zur Einordnung der Balkankriegsverbrechen leisten können. 71
Eine ausführliche Schilderung der historischen Hintergründe findet sich im Urteil ICTY, Prosecutor v. Tadic, Case No. IT-94-1-T, Urt. v. 7. Mai 1997, para. 53 ff.; sowie in der Literatur bei Roggemann, Die Internationalen Strafgerichtshöfe, 1998, S. 97 ff.; und Bassiouni/Manikas, The Law of the International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, 1996, S. 5 ff.
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ständnis der nachfolgenden Untersuchungen erforderliche Aspekte beschränkt. Von 1945 bis 1990 bestand Jugoslawien aus sechs Republiken: BosnienHerzegowina, Kroatien, Mazedonien, Montenegro, Serbien und Slowenien. Einige Republiken waren hauptsächlich von einer ethnischen Gruppe bewohnt. Beispielsweise stellten die Serben die Bevölkerungsmehrheit in Serbien und die Kroaten in Kroatien. In Bosnien-Herzegowina fanden sich die meisten ethnischen Gruppen; vor dem Krieg bestand die Bevölkerung aus 44 % Muslimen, 31 % Serben und 17 % Kroaten.72 Relative Ruhe und friedliche interethnische Beziehungen prägten die Jahre 1945 bis 1990. In den späten 80er Jahren gaben der wirtschaftliche Zusammenbruch und das Ende der kommunistischen Herrschaft dem Nationalismus und ethnischen Konflikten neuen Aufwind. Im Juni 1991 erklärten Slowenien und Kroatien ihre Unabhängigkeit. Nach kurzen Kämpfen mit der „jugoslawischen Volksarmee“ war Sloweniens Status gesichert, der bewaffnete Konflikt in Kroatien erstreckte sich über mehrere Monate. Mazedonien wurde im September 1991 unabhängig. Nachfolgend erklärte Bosnien-Herzegowina am 15. Oktober 1991 seine Souveränität. Trotz Anerkennung der Republik Bosnien-Herzegowina durch die Europäische Gemeinschaft und die Vereinigten Staaten im April 1992 entstanden heftige Kämpfe um die Gebietsherrschaft zwischen den drei großen ethnischen Gruppen in Bosnien: den Muslimen, den Serben und den Kroaten. Im Osten Bosniens war der Konflikt zwischen bosnischen Serben und bosnischen Muslimen besonders heftig.73 Insgesamt fanden allein im Krieg auf dem Gebiet Bosnien-Herzegowinas zwischen 1992 und 1995 ungefähr 200.000 Menschen den Tod. Problematisch ist im Hinblick auf die Anwendung des Genozidtatbestandes durch das ICTY, dass der Genozid in Jugoslawien ein anderes Gesicht hatte als der Nazi-Holocaust oder die Verfolgungen der Tutsi in Ruanda. Schon früh wurde deutlich, dass die serbischen Verbände Rest-Jugoslawiens die von ihnen eroberten und besetzten Gebiete von nicht-serbischen Ethnien „säuberten“, erkennbar gelenkt von einer gezielten Politik staatlicher Organe.74 Im ehemaligen Jugoslawien wurde jedoch in der Regel selektiv getötet und nicht eine bestimmte Gruppe 72
ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-T, Urt. v. 2. August 2001, para. 7. 73
Ebenda, para. 8 ff.
74
Zur Problematik der ethnischen Säuberungen s.u. 3. Teil, II. 2.
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unterschiedslos verfolgt. Nach Auffassung des damaligen deutschen Außenministers Klaus Kinkel wurden in Bosnien im Jahr 1992 in ganz erheblichem Ausmaß Tathandlungen im Sinne des Genozidtatbestandes von den serbischen militärischen Organisationen in der Absicht begangen, die muslimische und kroatische Bevölkerung in weiten Gebieten Bosniens als ansässige Volksgruppe auszulöschen. An der Qualifikation der Massaker und Vertreibungen als „Völkermord“ dürften, so Kinkel, kaum Zweifel bestehen.75 Wie die gerichtliche Praxis des ICTY belegt ist der rechtliche Nachweis der scheinbar so offensichtlichen Taten dennoch problematisch. Die Schwierigkeit besteht darin, dass der Genozid nicht das Endziel der Handlungen war, sondern nur ein Werkzeug zur Erreichung des Endziels, das in der Schaffung eines ethnisch reinen Staates bestand. Der Genozid war Teil der Vertreibungspolitik der so genannten „ethnischen Säuberungen“.76
b) Prosecutor v. Goran Jelesic Goran Jelesic wurde in der mündlichen Verhandlung vom 19. Oktober 1999 durch die erste Strafkammer des Jugoslawien-Strafgerichtshofes vom Vorwurf des Genozids freigesprochen.77 Das Urteil erging gemäß Regel 98 bis a.F. der Verfahrens- und Beweisregeln. Danach sollte eine Strafkammer den Angeklagten nach Abschluss des so genannten Prosecutor’s Case – in jedem Fall vor der Präsentation von Beweismitteln durch die Verteidigung – auf Antrag oder proprio motu freisprechen, wenn sie die beigebrachten Beweismittel als nicht ausreichend für eine Verurteilung ansah.78 Die schriftliche Urteilsbegründung erging am 14. Dezember. 75
Zitiert bei Oeter, Kriegsverbrechen in den Konflikten um das Erbe Jugoslawiens, ZaöRV 53 (1993), S. 1 (32 f.). 76
Diese Problematik wird von der Vertreterin der Anklagebehörde der beiden UN ad hoc-Tribunale Uertz-Retzlaff geschildert: Über die praktische Arbeit des Jugoslawien-Strafgerichtshofes, in: Fischer/Lüder (Hrsg.), Völkerrechtliche Verbrechen vor dem Jugoslawien-Tribunal, nationalen Gerichten und dem Internationalen Strafgerichtshof, 1999, S. 87 (93 f.). 77
ICTY, Prosecutor v. Jelesic, Case No. IT-95-10-T, Urt. v. 14. Dezember 1999, para. 16. 78
Regel 98 bis [Motion for Judgement of Acquittal] a.F.: „(A) An accused may file a motion for the entry of judgement of acquittal on one or more offences charged in the indictment within seven days after the close of the Prosecutor’s case and in any event, prior to the presentation of evidence by the de-
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Verfahrensgegenstand waren die Ereignisse in der Stadt Brzko und dem in Brzko gelegenen Gefangenenlager Luka in Bosnien-Herzegowina im Mai 1992. Jelesic war wegen der Ermordung von mindestens 13 bosnischen Muslimen, der Misshandlung von mindestens vier bosnischen Muslimen sowie wegen des Diebstahls von Eigentum der Gefangenen angeklagt.79 Jelesic wurde mangels des Nachweises der Zerstörungsabsicht vom Vorwurf des Genozids freigesprochen.80 Wegen Verstoßes gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges sowie wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit bekannte er sich schuldig und wurde zu 40 Jahren Haft verurteilt.81 Die Anklagebehörde legte unter anderem wegen des Freispruchs vom Vorwurf des Genozids Rechtsmittel ein.82 Die Rechtsmittelkammer bestätigte indessen das erstinstanzliche Urteil.83 Im Rahmen der Auslegung des Gruppenbegriffs stellte die Kammer zunächst unter Hinweis auf die vorbereitenden Arbeiten fest, dass durch die Genozidkonvention stabile Gruppen geschützt werden, die anhand objektiver Kriterien identifizierbar sind und in denen die Mitgliedschaft nicht vom Willen des Einzelnen abhängt.84 Sodann erklärte sie jedoch den Versuch, die nationalen, ethnischen und rassischen Gruppen durch objektive, wissenschaftlich tadellose Kriterien zu definieren, zu einem gefährlichen Unterfangen, dessen Ergebnis nicht notwendigerweise mit der Wahrnehmung der durch die Kategorisierung betroffenen Personen übereinstimme.85 Angemessener sei es, den Status einer nationalen, eth-
fence pursuant to Rule 85 (A) (ii). (B) The Trial Chamber shall order the entry of judgement of acquittal on motion of an accused or proprio motu if it finds that the evidence is insufficient to sustain a conviction on that or those charges.“ 79
ICTY, Prosecutor v. Jelesic, Case No. IT-95-10-T, Urt. v. 14. Dezember 1999, para. 3. 80
Ebenda, para. 108.
81
Ebenda, para. 24, 139.
82
Vgl. ICTY, Prosecutor v. Jelesic, Case No. IT-95-10-A, Urt. v. 5. Juli 2001, para. 11 ff. 83
Ebenda.
84
ICTY, Prosecutor v. Jelesic, Case No. IT-95-10-T, Urt. v. 14. Dezember 1999, para. 69. 85
Wobei die Kammer eine Ausnahme macht, indem sie ausdrücklich darauf hinweist, dass die objektive Bestimmung einer religiösen Gruppe möglich sei – gleichwohl nimmt sie diese Bestimmung nicht vor, ICTY, Prosecutor v. Jelesic, Case No. IT-95-10-T, Urt. v. 14. Dezember 1999, para. 70.
Geschützte Gruppen gemäß Art. II Genozidkonvention
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nischen oder rassischen Gruppe vom Standpunkt derer zu beurteilen, die die Gruppe auslöschen möchten. Es sei die Stigmatisierung einer Gruppe als bestimmte nationale, ethnische oder rassische Einheit durch die Gemeinschaft, welche es erlaube festzustellen, ob die angegriffene Bevölkerung in den Augen der vermeintlichen Täter eine nationale, ethnische oder rassische Gruppe sei.86 Die Kammer wählte zur Bestimmung der Mitgliedschaft in einer dieser Gruppen dementsprechend den subjektiven Ansatz. Die Urteilsbegründung hat insofern einen Bruch, da die Kammer die Gruppen mittels subjektiver Kriterien definierte, obwohl sie zuvor festgestellt hatte, dass nach Ansicht der Autoren der Konvention die Gruppen objektiv zu definieren sind.87 Zusätzlich führte die Kammer ein neues Kriterium zur Bestimmung der Gruppenzugehörigkeit ein. Entsprechend der Urteilsbegründung kann eine Gruppe in der geschilderten Art und Weise durch positive oder negative Kriterien stigmatisiert werden: „A ‘positive approach’ would consist of the perpetrators of the crime distinguishing a group by the characteristics which they deem to be particular to a national, ethnical, racial or religious group. A ‘negative approach’ would consist of identifying individuals as not being part of the group to which the perpetrators of the crime consider that they themselves belong and which to them displays specific national, ethnical, racial or religious characteristics.“ Es entspricht dem Sinn und Zweck der Konvention, so die Kammer, durch Ausschlusskriterien definierte Gruppen in den Fällen in ihren Schutzbereich einzubeziehen, in denen sie von den Tätern auf diese Weise stigmatisiert wurden.88 Auf diese Weise würden alle Individuen, welche nicht zur Gruppe der Täter gehören, durch Ausschluss eine eigenständige Gruppe bilden. Damit unterschied sich das Urteil deutlich von der Rechtsprechung des ICTR. Die Frage, ob die bosnischen Muslime durch die Konvention er-
86
ICTY, Prosecutor v. Jelesic, Case No. IT-95-10-T, Urt. v. 14. Dezember 1999, para. 70; dabei verwies die Kammer auf die im Fall ICTR, Prosecutor v. Kayishema & Ruzindana, Case No. ICTR-95-1-T, Urt. v. 21. Mai 1999, para. 98, entwickelte Definition der ethnischen Gruppen. 87
Vgl. ICTR, Prosecutor v. Semanza, Case No. ICTR-97-20-T, Urt. v. 15. Mai 2003, Fn. 538. 88
ICTY, Prosecutor v. Jelesic, Case No. IT-95-10-T, Urt. v. 14. Dezember 1999, para. 71.
2. Teil
100
fasst sind, wurde von der Kammer aufgrund des Freispruchs nicht entschieden.
c) Prosecutor v. Radislav Krstic Radislav Krstic wurde am 2. August 2001 durch die erste Strafkammer des Jugoslawien-Strafgerichtshofes wegen Genozid, wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie wegen Verstoßes gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges zu 46 Jahren Haft verurteilt.89 Krstic war, wie erwähnt, der erste Täter, der durch das ICTY wegen Genozids verurteilt wurde. Verfahrensgegenstand war die Beteiligung Krstics an den Gräueltaten in der UN-Schutzzone Srebrenica in Bosnien-Herzegowina im Juli 1995, die die Welt in Schrecken versetzten. Hierzu zählten als erster Tatkomplex die humanitäre Krise und die terroristischen Verbrechen im UN-Stützpunkt Potocari sowie der anschließende gewaltsame Bevölkerungstransfer von Frauen, Kindern und Alten in bosnisch-muslimisches Gebiet. Der zweite Komplex umfasste die Massenexekutionen von 7.000 bis 8.000 bosnisch-muslimischen Männern aus Srebrenica im wehrfähigen Alter.90 Krstic war zur Tatzeit General-Major und Kommandeur des Drina Korps der bosnisch-serbischen Armee (VRS).91 Die Rechtsmittelkammer änderte das erstinstanzliche Urteil in ihrer Entscheidung vom 19. April 2004 teilweise ab. Die Strafkammer war der Auffassung gewesen, dass Krstic sich als Haupttäter einer gemeinsamen Straftat gemäß Art. 7 Abs. 1 ICTY-Statut verantworten musste. Nach Ansicht der Rechtsmittelkammer durfte er jedoch lediglich als Gehilfe gemäß Art. 7 Abs. 1 ICTY Statut verurteilt werden.92 Das Strafmaß wurde von 46 auf 35 Jahre reduziert.93 Bei der Auslegung des Gruppenbegriffs wich die Kammer deutlich von der bisherigen Rechtsprechung der Tribunale ab. Bemerkenswert ist insofern, dass zwei der drei Richter der Kammer bereits im Verfahren gegen Jelesic angehört hatten. Die Kammer wählte zum Zwecke der Interpretation des Gruppenbegriffs einen „ganzheitlichen“ Ansatz. In 89
ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-T, Urt. v. 2. August 2001,
IV. 90
Ebenda, para. 1 ff., 606 ff.
91
Ebenda, para. 297 ff.
92
ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-A, Urt. v. 19. April 2004, para. 135 ff. 93
Ebenda, VI.
Geschützte Gruppen gemäß Art. II Genozidkonvention
101
deutlicher Anlehnung an die Studie „Genocide in International Law“ von Schabas94 stellte die Kammer zunächst fest, dass durch die Genozidkonvention nicht jede menschliche Gruppe geschützt werde, sondern die Anwendung des Vertrages auf nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppen beschränkt sei.95 Sodann wies sie darauf hin, dass die vier Gruppen weder in der Konvention noch an anderer Stelle deutlich definiert werden.96 Im Gegenteil, die vorbereitenden Arbeiten zur Genozidkonvention und die Arbeiten der internationalen Gremien zum Minderheitenschutz würden zeigen, dass die Konzepte der geschützten Gruppen und der nationalen Minderheiten sich teilweise überschnitten und zuweilen synonym zueinander seien. Zur Erläuterung führte die Kammer aus, dass europäische Menschenrechtsinstrumente in der Regel die Terminologie „nationale Minderheiten“ verwenden, während die universellen Instrumente im Allgemeinen auf „ethnische, religiöse und sprachliche Minderheiten“ Bezug nehmen, wobei beide Wendungen anscheinend dieselben Ziele hätten.97 Aus den vorbereitenden Arbeiten zur Konvention ergebe sich, dass durch die Liste der Schutzobjekte ein einziges Phänomen beschrieben werden sollte, welches ungefähr mit dem Verständnis der „nationalen Minderheiten“ vor dem Zweiten Weltkrieg übereinstimme und nicht verschiedene Prototypen von Gruppen. Dementsprechend stünde der Versuch, die genannten Gruppen anhand wissenschaftlicher objektiver Kriterien voneinander abzugrenzen, im Widerspruch zum Sinn und Zweck der Konvention.98 Nach Meinung der Kammer müssen die kulturellen, religiösen, ethnischen oder nationalen Charakteristika einer Gruppe anhand des soziohistorischen Kontextes, in dem sie lebt, identifiziert werden.99 Für die Einordnung war nach ihrer Auffassung die subjektive Identifikation der Opfergruppe entscheidend. Maßgebliches Kriterium sei, wie die betroffene Gruppe – insbesondere durch die Täter – auf Grund ihrer empfun94
Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 102 ff.
95
ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-T, Urt. v. 2. August 2001, para. 554. 96
Ebenda, para. 555.
97
Beispielhaft nimmt die Kammer in diesem Zusammenhang auf die Europäische Menschenrechtskonvention und den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte Bezug, vgl. ebenda, para. 555, Fn. 1228 f. 98
Ebenda, para. 556.
99
Ebenda, para. 557.
2. Teil
102
denen nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Besonderheiten stigmatisiert werde.100 Die Opfergruppe, über deren Schutz durch die Genozidkonvention in diesem Verfahren entschieden werden musste, waren die bosnischen Muslime.101 Ursprünglich als religiöse Gruppe angesehen, wurden die bosnischen Muslime im Jahr 1963 durch die jugoslawische Verfassung als „Nation“ anerkannt. Nach Ansicht der Kammer ergab die Beweislage in dem Verfahren eindeutig, dass die bosnischen Muslime im Jahr 1995 von den höchsten politischen Autoritäten der bosnischen Serben und den in Srebrenica operierenden bosnisch-serbischen Streitkräften als spezifische nationale Gruppe angesehen wurden.102 Dergestalt kam die Kammer mittels des ganzheitlichen Ansatzes auf der Grundlage einer subjektiven Zuordnung der Opfergruppe zu dem Ergebnis, dass die bosnischen Muslime durch Art. 4 ICTY-Statut und Art. II Genozidkonvention erfasst sind.103
d) Prosecutor v. Milomir Stakic Milomir Stakic wurde am 31. Juli 2003 durch die zweite Strafkammer des Jugoslawien-Strafgerichtshofes vom Vorwurf des Genozids freigesprochen, da von der Anklagebehörde nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden konnte, dass im Jahr 1992 in Prijedor ein Genozid stattgefunden hatte.104 Verfahrensgegenstand waren die Verbrechen, welche in der
100
Ebenda, para. 557 unter ausdrücklichem Hinweis auf die Verfahren ICTY, Prosecutor v. Nikolic, Case No. IT-94-2-R61, Review of Indictment Pursuant to Rule 61 of the Rules of Procedure and Evidence, 20. Oktober 1995, para. 27; und ICTY, Prosecutor v. Jelesic, Case No. IT-95-10-T, Urt. v. 14. Dezember 1999, para. 70. 101
ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-T, Urt. v. 2. August 2001, para. 560; die Anklage hatte zunächst ebenfalls die bosnischen Muslime, dann die bosnischen Muslime in Srebrenica und schließlich die bosnischen Muslime aus Ost-Bosnien als Zielobjekte der Vernichtung ausgemacht, ebenda, para. 558. Diese örtlichen Beschränkungen der bezeichneten Opfergruppe wurden von der Kammer nicht übernommen. Zur Problematik der durch geografische Kriterien begrenzten Opfergruppe siehe unten 4. Teil, IV. 2. 102
Ebenda, para. 559.
103
Ebenda, para. 560.
104
ICTY, Prosecutor v. Stakic, Case No. IT-97-24-T, Urt. v. 31. Juli 2003, para. 544 ff.
Geschützte Gruppen gemäß Art. II Genozidkonvention
103
Zeit von Ende April bis Ende September 1992 in der Region Prijedor in Bosnien-Herzegowina, in erster Linie in den Konzentrationslagern Omarska, Keraterm und Trnopolje, verübt worden waren. Dazu zählten Tötungen und unmenschliche Behandlungen wie regelmäßige (sexuelle) Gewaltanwendungen. Stakic ist Arzt und war zur Tatzeit VizePräsident der Serbischen Demokratischen Partei in Prijedor.105 Wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie wegen der Verletzung der Gesetze und Gebräuche des Krieges wurde Stakic zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.106 In der Rechtsmittelentscheidung wurde das Strafmaß auf 40 Jahre verringert.107 Zur Auslegung des Gruppenbegriffs erfolgten in diesem Urteil nur wenige Ausführungen. Das Urteil ist dennoch beachtlich, weil es dem Urteil im Fall Jelesic ausdrücklich darin widerspricht, dass die Opfergruppe durch negative Kriterien als eine Gesamtgruppe identifiziert werden kann, wenn die Opfergruppe aus mehreren Gruppen zusammengesetzt ist: „In cases where more than one group is targeted, it is not appropriate to define the group in general terms, as, for example, ‘non-Serbs’. In this respect, the Trial Chamber does not agree with the ‘negative approach’ taken by the Trial Chamber in Jelesic … Conversely, a targeted group may be distinguishable on more than one basis and the elements of genocide must be considered on relation to each group separately, e.g. Bosnian Muslims and Bosnian Croats.“108 Als Opfergruppe wurden hier die bosnischen Muslime ausgemacht.109 Für die Annahme eines gesonderten Angriffs auf die bosnischen Kroaten war die Beweislage nicht ausreichend. Die Frage, ob eine Opfergruppe durch negative Kriterien definiert werden kann, war auch Gegenstand der Rechtsmittelentscheidung, wobei die Rechtsmittelkammer sich der Auffassung der 1. Instanz anschloss. Wenn Individuen angegriffen würden, weil sie bestimmte nationale, ethnisch, rassische oder religiöse Merkmale nicht hätten, dann sei die
105
Ebenda, para. 1 ff.
106
Ebenda, V.
107
ICTY, Prosecutor v. Stakic, Case No. IT-97-24-A, Urt. v. 22. März 2006, para. 428. 108
ICTY, Prosecutor v. Stakic, Case No. IT-97-24-T, Urt. v. 31. Juli 2003, para. 512. 109
Ebenda, para. 545.
2. Teil
104
Absicht nicht darauf gerichtet, eine bestimmte Gruppe wegen ihrer spezifischen Identität zu zerstören, sondern schlicht darauf Individuen zu zerstören, die bestimmte Merkmale nicht hätten. Zudem verweist die Kammer darauf, dass es dem Willen der Autoren der Konvention zuwiderlaufen würde, negativ identifizierte Gruppen zu erfassen.110
e) Folgerechtsprechung In der Rechtsprechung des ICTY hat sich der im Fall Krstic vertretene ganzheitliche Auslegungsansatz zwischenzeitlich zunehmend durchgesetzt. Zunächst hat sich die im Fall Brdjanin entscheidende zweite Strafkammer dem Krstic-Urteil ausdrücklich darin angeschlossen, dass der Versuch, die vier Schutzgruppen auf der Grundlage objektiver wissenschaftlicher Kriterien voneinander abzugrenzen, im Widerspruch zum Sinn und Zweck der Konvention steht.111 Des Weiteren stimmte sie mit der sich in der Rechtsprechung der Tribunale abzeichnenden Tendenz überein, dass für die Identifikation der jeweils geschützten Gruppe das subjektive Kriterium der Stigmatisierung der Gruppe, insbesondere durch die Täter, entscheidend ist.112 Im Gegensatz zum Krstic-Urteil schränkten die Richter den subjektiven Ansatz jedoch wieder ein, indem sie subjektive Kriterien allein als für die Bestimmung der Opfergruppe nicht ausreichend erklärten.113 Es müssten sowohl objektive als auch subjektive Kriterien herangezogen werden. Schließlich sprach sich auch diese Kammer gegen die im Fall Jelesic vertretene negative Festlegung der Opfergruppe aus.114 Der im Brdjanin-Urteil vertretenen Auslegung des Gruppenbegriffs schloss sich die im Fall Blagojevic entscheidende erste Strafkammer im Wesentlichen an. Insbesondere befürwortete auch sie die im Fall Krstic vertretene ganzheitliche Auslegung des Gruppenbegriffs.115
110
ICTY, Prosecutor v. Stakic, Case No. IT-97-24-A, Urt. v. 22. März 2006, para. 20 ff. 111
ICTY, Prosecutor v. Brdjanin, Case No. IT-99-36-T, Urt. v. 1. September 2004, para. 682. 112
Ebenda, para. 683.
113
Ebenda, para. 684.
114
Ebenda, para. 685 f.
115
Vgl. ICTY, Prosecutor v. Blagojevic, Case No. IT-02-60-T, Urt. v. 17. Januar 2005, para. 667.
Geschützte Gruppen gemäß Art. II Genozidkonvention
105
3. Diskussion der Rechtsprechung Die Gegenüberstellung der Urteile verdeutlicht, dass sich nicht nur die Rechtsprechung der beiden Tribunale in ihrer Auslegung des Gruppenbegriffs unterscheidet, sondern vor allem zu Anfang auch in den einzelnen Urteilen unterschiedliche Standpunkte eingenommen wurden. Dabei ist eine deutliche Entwicklung von einer anfänglich vor allem auf objektiven Kriterien beruhenden Auslegung hin zu einer immer stärkeren Berücksichtigung subjektiver Elemente zu verzeichnen. Im Urteil gegen Akayesu wurde maßgeblich eine rein objektive Sichtweise unter lediglich ergänzender Berücksichtigung subjektiver Kriterien propagiert.116 In den nachfolgenden Urteilen gegen Kayishema und Ruzindana, Rutaganda, Bagilishema und Semanza erhielt die subjektive Dimension der Identifikation einer Opfergruppe zusehends mehr Gewicht. Die Urteile des ICTY in den Fällen Jelesic und Krstic trieben den subjektiven Ansatz weiter voran, indem sie ausschließlich auf subjektive Kriterien abstellten. Diese Sichtweise konnte sich bislang allerdings nicht vollständig durchsetzen, da in der Folgerechtsprechung beider Tribunale betont wurde, dass subjektive ebenso wie objektive Kriterien berücksichtigt werden müssten. Eine weitere maßgebliche Entwicklung war die zunehmende Abkehr von der Notwendigkeit der Abgrenzung der vier Opfergruppen. Die Urteile stimmen – mit Ausnahme der Entscheidung im Fall Akayesu – in ihrer Einschätzung überein, dass es schwierig ist, die vier verschiedenen Schutzgruppen trennscharf voneinander abzugrenzen. Im KrsticUrteil wurde die Abgrenzung dann ausdrücklich für entbehrlich erklärt und eine ganzheitliche Auslegung des Gruppenbegriffs befürwortet. Die Vorentscheidungen hatten lediglich Andeutungen in Richtung eines Verzichts auf die Abgrenzung der Schutzgruppen gemacht, ohne die letztendliche Konsequenz zu ziehen. Die ganzheitliche Auslegung des Gruppenbegriffs hat in der Folgerechtsprechung des ICTY sowohl im Brdjanin- als auch im Blagojevic-Urteil Zustimmung gefunden. Nicht durchsetzen konnte sich die im Fall Jelesic propagierte negative Identifikation der Opfergruppe.
116
Ebenfalls von einer Mischung objektiver und subjektiver Kriterien spricht im Hinblick auf das Akayesu-Urteil Cassese, International Criminal Law, 2003, S. 96 (101). Im Gegensatz dazu geht Werle, Völkerstrafrecht, 2003, S. 207, Rn. 550, davon aus, dass seitens des Tribunals in diesem Fall eine dezidiert objektive Auslegung verfolgt wurde.
2. Teil
106
Zu diskutieren ist nunmehr die Frage, welches der in der Rechtsprechung vertretenen Auslegungsmodelle das sinnvollste ist. Neben der Tatsache, dass in der Genozidkonvention keine Definition der vier Schutzgruppen enthalten ist, werden die mit der Auslegung verbundenen Schwierigkeiten dadurch potenziert, dass die einzelnen Termini sich überschneiden und teilweise austauschbar eingesetzt werden.117 Die Frage des Schutzobjektes wurde während der Vorarbeiten zur Genozidkonvention besonders kontrovers diskutiert. Nach langwierigen Debatten einigte man sich schließlich auf die noch immer aktuelle Formulierung.118 In Resolution 96 (I) waren „rassische, religiöse, politische und andere Gruppen“ als Schutzobjekte vorgesehen. In Abweichung dazu verzichtete der Entwurf des UN-Generalsekretärs auf die „anderen Gruppen“ und erfasste stattdessen „rassische, nationale, linguistische, religiöse und politische Gruppen“. Der Konventionsentwurf des ad hoc-Ausschusses übernahm wiederum die „nationalen, rassischen, religiösen und politischen Gruppen“, die „sprachlichen Gruppen“ fanden keine Erwähnung mehr. Innerhalb des Sechsten Ausschusses wurden dann die „politischen“ durch die „ethnischen Gruppen“ ersetzt. Die Formulierung des Art. II Genozidkonvention entspricht dem Entwurf des Sechsten Ausschusses.119 Hingewiesen sei noch einmal darauf, dass die Formulierung des Schutzobjektes in Art. 6 ICC-Statut und in den Statuten der UN ad hoc-Tribunale derjenigen des Art. II Genozidkonvention entspricht. Die Verbrechenselemente zum ICC-Statut geben keinen Hinweis auf die Auslegung des Gruppenbegriffs. Im Gegensatz dazu wird in der Genozidgesetzgebung der USA ebenso wie im Fall Akayesu der Versuch unternommen, die nationalen, ethnischen, rassischen und religiösen Gruppen voneinander abzugrenzen und legal zu definieren.120 Hin117
Nsereko, Genocide: A Crime against Mankind, in: MacDonald/SwaakGoldman (Hrsg.), Substantive and Procedural Aspects of International Criminal Law, Vol. I, 2000, S. 117 (131). 118
Ruhashyankiko, Study of the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/416, 1978, para. 49 ff.; Lippman, The Drafting of the 1948 Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, Boston UILJ 3 (1985), S. 1 ff.; Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 51 ff. 119 120
Zu Res. 96 (I) und zu den Vorarbeiten s.o. 1. Teil, I. 6. und 7.
18 U.S.C. § 1093 [Definitions]: „As used in this chapter – … (2) the term ‘ethnic group’ means a set of individuals whose identity as such is distinctive in terms of common cultural traditions or heritage; … (5) the term ‘national
Geschützte Gruppen gemäß Art. II Genozidkonvention
107
zuweisen ist zudem auf die Rechtsprechung der spanischen Audiencia Nacional, in der das Merkmal der nationalen Gruppe sehr weit ausgelegt wird. Als nationale Gruppe soll jede differenzierte menschliche Gruppe, die durch irgendein Merkmal charakterisiert und Teil einer größeren Gemeinschaft ist, erfasst werden. Nach Auffassung der Audiencia Nacional kann das Schweigen der Konvention im Hinblick auf andere als die konkret bezeichneten Gruppierungen nicht mit deren striktem Ausschluss gleichgesetzt werden.121 Die deutsche Rechtsprechung hat sich mit der Problematik der Auslegung der vier Gruppenattribute bislang nicht vertieft auseinandergesetzt. Die Auslegung des Gruppenbegriffs ergibt, dass die Aufzählung der nationalen, ethnischen, rassischen und religiösen Gruppen dazu dienen sollte, ein einziges Phänomen zu beschreiben und nicht dazu, auf mehrere verschiedenartige Gruppen Bezug zu nehmen.122 Dem in den Fällen Krstic, Brdjanin und Blagojevic vertretenen ganzheitlichen Ansatz ist mithin am ehesten zuzustimmen. Ausgangspunkt der Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrages ist der Vertragswortlaut im Lichte seines Zieles und Zweckes. Irreführend ist im Hinblick auf den Gruppenbegriff, dass der Wortlaut des Art. II Genozidkonvention darauf hindeutet, dass jede der vier Schutzgruppen einen eigenständigen Bedeutungsgehalt hat, da die nationalen, ethnischen, rassischen und religiösen Gruppen gleichwertig nebeneinander stehen. Im Gegensatz dazu findet sich in der Formulierung kein Hinweis darauf, dass durch die Konvention nur ein einziges Phänomen und nicht verschiedene Kategorien von Schutzgruppen erfasst werden sollten. Grundsätzlich hätten Überschneidungen der Anwendungsbereiche verdeutlicht werden müssen. Dieses Versäumnis ist jedoch als „Redaktionsversehen“ zu werten und nicht als Hinweis darauf, dass die vier Gruppen tatsächlich trennscharf voneinander abgegrenzt werden sollen. Die mangelnde Klarheit der Formulierung verdeutlicht einmal mehr, group’ means a set of individuals whose identity as such is distinctive in terms of nationality or national origins; (6) the term ‘racial group’ means a set of individuals whose identity is as such is distinctive in terms of physical characteristics or biological descent; (7) the term ‘religious group’ means a set of individuals whose identity as such is distinctive in terms of common religious creed, beliefs, doctrines, practices, or rituals; … “ abgedruckt in: Paust u.a. (Hrsg.), International Criminal Law: Cases and Materials, 2007, S. 798 (799). 121
Audiencia Nacional, Urt. v. 5. November 1998, in: Ahlbrecht/Ambos (Hrsg.), Der Fall Pinochet(s), 1999, S. 94. 122
Zur Vertragsauslegung ausführlich s.o. 1. Teil, V.
2. Teil
108
dass die Entwicklung des Internationalen Rechts zum Zeitpunkt der Erarbeitung der Konvention erst an ihrem Anfang stand. Denn für die Auslegung ist nach geltendem Gewohnheitsrecht der objektive Parteiwille maßgeblich, wie er im Vertragstext zum Ausdruck kommt. Im Zweifel wird den Bestimmungen dabei die Bedeutung zuerkannt, die sie bei Vertragsschluss hatten. Legt man den nationalen, ethnischen, rassischen und religiösen Gruppen die Bedeutung zugrunde, die sie bei Vertragsschluss hatten, so wird deutlich, dass durch diese Aufzählung ein einziges Phänomen beschrieben und nicht auf mehrere verschiedenartige Gruppen Bezug genommen werden sollte. Die Bedeutung der vier Schutzgruppen im Jahr 1948 wird von Schabas in seiner Studie „Genocide in International Law“ ausführlich untersucht. Der Autor illustriert im Kontext der Diskussion der geschützten Gruppen, dass diese im Jahr 1948 weitgehend synonym zueinander verstanden wurden und die vier Eckpfeiler eines Bereiches waren, in dem eine Myriade von Gruppen Schutz finden sollten. Die vier Termini würden sich nicht nur überschneiden, sondern auch helfen, sich gegenseitig zu definieren.123 Neben Schabas haben auch andere Autoren auf die Schwierigkeiten hinsichtlich einer trennscharfen Definition der vier Schutzgruppen hingewiesen.124 Verhoeven hat in Bezug auf die in Rede stehende Problematik im Jahr 1991 zutreffend festgestellt, dass keiner der bis zu diesem Zeitpunkt unterbreiteten Abgrenzungsversuche überzeugend sei, weil die Konzepte der rassischen, ethnischen und nationalen Gruppen a priori unpräzise seien.125 In der deutschen Literatur vertritt insbesondere Werle die Auffassung, dass eine abschließende Zuordnung einer Opfergruppe zu einem bestimmten Merkmal nicht notwendig sei, da alle im Tatbestand genannten Gruppen gleichermaßen geschützt würden. Dar123
Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 109 ff.
124
Ruhashyankiko, Study of the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/416, 1978, para. 55 ff.; Whitaker, Revised and Updated Report on the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/1985/6, para. 30; Shaw, Genocide and International Law, in: Dinstein (Hrsg.), International Law at a Time of Perplexity, 1989, S. 797 (806 f.); Selbmann, Der Tatbestand des Genozids im Völkerstrafrecht, 2002, S. 172; Campbell, § 220 a StGB: Der richtige Weg zur Verhütung und Bestrafung von Genozid?, 1986, S. 102; vgl. auch Gil Gil, Derecho Penal Internacional, 1999, S. 205 f. 125
Verhoeven, Le crime de génocide, originalité et ambiguïté, RBDI 24 (1991), S. 5 (21).
Geschützte Gruppen gemäß Art. II Genozidkonvention
109
über hinaus sei eine scharfe begriffliche Abgrenzung der Gruppen nicht möglich, da letztlich die soziale Wahrnehmung über die Konstitution von Gruppen entscheide; zudem würden die Anwendungsgebiete sich vielfach überlagern.126 Im Hinblick auf die nationalen Gruppen stellt Schabas fest, dass dem Akayesu-Urteil entsprechend mit den nationalen Gruppen die Bevölkerung eines Nationalstaats gemeint sei. Die Bedeutung des Merkmals „national“ sei jedoch nach allgemeinem Verständnis nicht auf die politisch-rechtliche Zuordnung einer Gruppe beschränkt. Im Gegenteil, unter den Begriff „national“ werde die Zugehörigkeit zu einer Rasse ebenso subsumiert wie bestimmte historische und kulturelle Merkmale oder der Ursprung einer Gruppe.127 Zudem sei das Hauptanliegen der Autoren der Konvention der Schutz der „nationalen Minderheiten“ im Sinne der Minderheitenschutzverträge nach dem Ersten Weltkrieg gewesen. Der Terminus der nationalen Minderheiten habe jedoch ebenfalls einen weiten Anwendungsbereich. Erfasst seien gemeinsame ethnische, religiöse und sprachliche Faktoren.128 Hingewiesen werden muss außerdem darauf, dass es in der im Akayesu-Urteil angeführten Nottebohm-Entscheidung nicht um die Definition der Mitgliedschaft in einer nationalen Gruppe, sondern um die Feststellung der Nationalität ging.129 Des Weiteren geht aus den Vorarbeiten zur Genozidkonvention hervor, dass das Wort „national“ zum damaligen Zeitpunkt zumindest nicht ausschließlich im politisch-rechtlichen Sinn verstanden wurde, sondern auch im soziologischen. Es gab verschiedene Vorstöße, eine entsprechende Klarstellung in den Text zu integrieren, die letztendlich jedoch nicht aufgenommen wurde, da man sie für nicht erforderlich hielt. Die Gegner führten an, dass die Wendung „nationaler Ursprung“ in vielen internationalen Instrumenten und in der Literatur in Bezug auf
126
Werle, Völkerstrafrecht, 2003, S. 207, Rn. 458; so auch Lüders, Die Strafbarkeit von Völkermord nach dem Römischen Statut für den Internationalen Strafgerichtshof, 2004, S. 82 f. 127
In diese Richtung auch Nsereko, Genocide: A Crime against Mankind, in: MacDonald/Swaak-Goldman (Hrsg.), Substantive and Procedural Aspects of International Criminal Law, Vol. I, 2000, S. 117 (131). 128
Zur Frage der nationalen Gruppen Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 114 ff. 129
Vgl. ICJ, Nottebohm Case, Second Phase, Urt. v. 6. April 1955, ICJ Reports 1955, S. 1 ff.
2. Teil
110
solche Personen verwendet wurde, die eine bestimmte Kultur oder Sprache teilen.130 Im Kontext der rassischen Gruppen erläutert Schabas, dass deren Bedeutungsgehalt bei Erlass der Konvention zweifellos breiter war als heute. Es seien sowohl nationale, ethnische und religiöse Gruppen als auch solche Gruppen erfasst gewesen, die durch ererbte physische Merkmale charakterisiert sind. Als Nachweis weist der Autor beispielsweise darauf hin, dass im Kontext der Ahndung der nationalsozialistischen Verbrechen die Juden als „Rasse“ bezeichnet wurden.131 Ähnlich weit wird das Merkmal der Rasse in dem Internationalen Übereinkommen zur Beseitigung aller Formen von rassischer Diskriminierung verstanden. Gemäß Art. 1 des Übereinkommens bezeichnet der Ausdruck „Rassendiskriminierung“ jede auf der Rasse, der Hautfarbe, der Abstammung, dem nationalen Ursprung oder dem Volkstum beruhende Unterscheidung, Ausschließung, Beschränkung oder Bevorzugung.132 Das Merkmal ist mithin nicht auf gemeinsame physische Merkmale beschränkt. Innerhalb der Vorarbeiten zur Genozidkonvention vertraten verschiedene Delegierte die Auffassung, dass die rassischen und die ethnischen Gruppen identisch seien.133 Später wurden entsprechende Ansichten geäußert. Beispielsweise wurde in einer Studie der UNESCO der Vorschlag gemacht, den Terminus „Rasse“ aufzugeben und von ethnischen Gruppen zu sprechen.134 In den Strafgesetzen von Bolivien,135 Paraguay136 und der Elfenbeinküste137 werden die rassischen Gruppen nicht erwähnt.
130
Vgl. dazu Ruhashyankiko, Study of the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/416, 1978, para. 59 ff. 131
Zur Frage der rassischen Gruppen Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 123 ff. 132
UNTS 660, S. 195 ff.
133
UN GAOR, 3 session, 6 Committee, 75 meeting.
rd
th
th
134
Vgl. dazu Ruhashyankiko, Study of the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/416, 1978, para. 69 ff. 135
Art. 138 Bolivianisches Strafgesetz, <www.preventgenocide.org/es/derecho/codigos/bolivia.htm>. 136
Art. 319 Paraguayisches Strafgesetz, <www.preventgenocide.org/es/derecho/codigos/paraguay.htm>.
Geschützte Gruppen gemäß Art. II Genozidkonvention
111
In diesem Sinne kommt Schabas im Rahmen der Untersuchung der ethnischen Gruppen zu dem Ergebnis, dass diese ebenfalls im Wesentlichen als synonym zu den anderen Elementen der Aufzählung anzusehen seien.138 Ohnehin wurden die „ethnischen Gruppen“ auf Vorschlag Schwedens im Sechsten Ausschuss nur aufgenommen, um sicherzustellen, dass die „nationalen“ nicht mit den „politischen“ Gruppen verwechselt würden.139 Die Aufnahme der ethnischen Gruppen fand nur eine sehr knappe Mehrheit,140 was nicht zuletzt auf die fragliche Notwendigkeit angesichts der begrifflichen Identität zu den rassischen Gruppen zurückzuführen sein dürfte. Zuletzt ist Schabas der Meinung, dass der Terminus der religiösen Gruppen weit verstanden werden muss. Nach dem Willen der Autoren der Genozidkonvention hätten sie den ethnischen oder nationalen Gruppen entsprochen. Die Mitgliedschaft sei in diesem Fall zwar theoretisch freiwillig, tatsächlich seien diese Gruppen historisch gesehen aber ebenso unveränderlich gewesen wie die ethnischen oder rassischen Gruppen. Um den Bedeutungsgehalt der religiösen Gruppen zu bestimmen, sei es erforderlich, den Begriff der Religion an sich zu definieren.141 Im Kontext der Vorarbeiten zur Konvention gegen Religiöse Diskriminierung wurde hierzu ausgeführt, dass der Begriff der Religion theistische ebenso wie atheistische Gruppen erfasse.142 Ohnehin kann die religiöse Überzeugung einer Gruppe oftmals nicht von der Zugehö137
Kouassi/Paulenz, Côte d’Ivoire, in: Eser/Sieber/Kreicker (Hrsg.), Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen, Band 4, 2005, S. 19 (28 f.), mit dem ausdrücklichen Hinweise, dass bei extensiver Auslegung der ethnischen Gruppe kein Defizit zu verzeichnen ist. 138
Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 123 ff.
139
UN GAOR, 3 session, 6 Committee, 73 – 75 meeting, Mr. Petren.
140
rd
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th
th
UN GAOR, 3 session, 6 Committee, 75 meeting, S. 116, 18 Ja-Stimmen bei 17 Nein-Stimmen und 11 Enthaltungen. 141
Zur Frage der religiösen Gruppen Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 127 ff. 142
Dazu Ruhashyankiko, Study of the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/416, 1978, para. 77. Die Konvention gegen Religiöse Diskriminierung ist jedoch nie in Kraft getreten. Ebenfalls für den Schutz atheistischer Gruppen Lippman, The Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide: Fifty Years Later, Arizona JICL 15 (1998), S. 415 (456); kritisch Shaw, Genocide and International Law, in: Dinstein (Hrsg.), International Law at a Time of Perplexity, 1989, S. 797 (807).
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112
rigkeit zu einer nationalen beziehungsweise ethnischen Gruppe getrennt werden, da die unterschiedlichen Elemente einer Gesellschaft oftmals miteinander verwoben sind. Diese These wird durch die Äußerung eines irakischen Prälaten bestätigt, nach der die Zugehörigkeit zur Gruppe der Christen heute im Irak eher eine Art „Stammeszugehörigkeit“ ist als Ausdruck der Zugehörigkeit zu einer Kirche.143 Die von Schabas vertretene Lesart entspricht dem ursprünglichen Konzept des Genozids von Lemkin, der wiederholt auf „nationale Gruppen“ Bezug nahm.144 Dabei ist zu bedenken, dass sich für Lemkin der Genozid in erster Linie auf die Zerstörung der Juden bezog, die keineswegs eine nationale Gruppe nach dem aktuellen engen Verständnis sind.145 Vor dem Hintergrund, dass durch die vier Schutzgruppen ein einziges Phänomen – im Sinne der von Schabas angeführten vier Eckpfeiler eines Bereiches – beschrieben werden sollte, verleiht man der Terminologie eine andere Bedeutung als sie bei Erlass des Vertrages hatte, wenn man jeder einzelnen Schutzgruppe einen eigenständigen Bedeutungsgehalt zuerkennt. Dieses Vorgehen ist vor allem deshalb problematisch, weil die Konsequenz einer solchen Auslegung letztlich eine Begrenzung der Reichweite der Konvention wäre. Es ist nicht nur überflüssig, im Einzelnen zu bestimmen, ob die konkret betroffene Gruppe national, ethnisch, rassisch oder religiös ist, sondern die Suche nach eigenständigen Definitionen für die vier Begriffe birgt auch die Gefahr, dass der übergreifende Sinn der Aufzählung im Gesamten geschwächt wird.146 Im Hinblick auf die rassischen und ethnischen Gruppen ist auch Shaw daher zu Recht dafür eingetreten, diese im Zusammenhang zu beurteilen, um nicht durch eine Abgrenzung unglückliche Lücken zu riskieren.147 Das angesprochene Problem der Begrenzung der Reichweite der Konvention wird deutlich bei der Untersuchung der Urteilsbegründung im Fall Akayesu, in dem die Kammer jede der vier Schutzgruppen geson143
Sgrena, Gottes verfolgte Kinder, Die Zeit 44 (2004), S. 10.
144
Lemkin, Axis Rule in Occupied Europe, 1944, S. 79 ff.
145
Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 113.
146
Ebenda, S. 112.
147
Shaw, Genocide and International Law, in: Dinstein (Hrsg.), International Law at a Time of Perplexity, 1989, S. 797 (807); vgl. dazu auch Campbell, § 220 a StGB: Der richtige Weg zur Verhütung und Bestrafung von Genozid?, 1986, S. 103, nach dessen Auffassung die ethnischen Gruppen eine Unterart der rassischen Gruppen sind.
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dert definierte. Durch die Abgrenzung der einzelnen Begriffe schränkten die Richter ihren Beurteilungsspielraum erheblich ein. Problematisch war, dass die Hutu und die Tutsi in keine der von der Kammer zuvor entwickelten Kategorien passten. Grundsätzlich hätte die Kammer mithin zu dem Ergebnis gelangen müssen, dass ein Genozid, so wie er in der Konvention und im ICTR-Statut definiert wird, in Ruanda nicht stattgefunden hat.148 Bemerkenswert ist der Spagat, den die Kammer macht, um doch noch zu dem gewünschten Ergebnis zu gelangen. Wie dargestellt lehnte die Kammer es ab, die Tutsi als ethnische Gruppe im objektiven Sinn zu qualifizieren, obwohl sie von der Allgemeinheit als ethnische Gruppe identifiziert wurden.149 Die dadurch entstandene Lücke schloss sie dadurch, dass sie den Tatbestand unter Berufung auf den Willen der Autoren der Genozidkonvention auf alle stabilen und dauerhaften Gruppen für anwendbar erklärte, zu denen ihrer Auffassung nach die Tutsi zählten. Die Tatsache, dass die Tutsi im Allgemeinen als ethnische Gruppe angesehen werden, zog sie als Nachweis ihrer Stabilität und Dauerhaftigkeit heran. Diese Konstruktion sieht sich verschiedenen Einwänden ausgesetzt. Zunächst erweiterte die Kammer die Reichweite des Art. II Genozidkonvention beträchtlich, indem sie alle dauerhaften und stabilen Grup148
Magnarella, Some Milestones and Achievements at the International Criminal Tribunal for Rwanda, Florida Journal of International Law 11 (1997), S. 517 (530). 149
Kritisch dazu Schabas, Prosecutor v. Akayesu, Commentary, in: Klip/ Sluiter (Hrsg.), Annotated Leading Cases of International Criminal Tribunals, Vol. II, 2001, S. 539 (543); Shah, The Oversight of the Last Great International Institution of the Twentieth Century, Emory International Law Review 16 (2002), S. 351 (369 f.), kommt bei seiner Analyse des Urteils hingegen zu dem Ergebnis, dass das Tribunal die Tutsi im Endeffekt als eigenständige ethnische Gruppe angesehen hätte. Der Autor kritisiert das Gericht, weil es seiner eigenen Definition der ethnischen Gruppen widersprechen und das Urteil in einem Zirkelschluss enden würde. Seine Auffassung begründet der Autor damit, dass das Gericht zunächst feststellte, dass ethnische Gruppen die gleiche Sprache sprechen und eine gemeinsame Kultur haben, dann aber doch zu dem Ergebnis kam, dass Hutu und Tutsi zwei verschiedene ethnische Gruppen dargestellt hätten, obwohl sie Sprache und Kultur teilen. Shah missversteht das Urteil offensichtlich. Es ist zwar richtig, dass das Gericht auf die Wahrnehmung der Tutsi als eigenständige ethnische Gruppe Bezug nimmt. Dies geschieht jedoch nur, um zu belegen, dass die Tutsi zu den dauerhaften und stabilen Gruppen zählten, auf die die Kammer die Reichweite des Genozidtatbestandes ausweitete.
114
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pen zum Schutzobjekt erklärte.150 Wenn die Autoren tatsächlich beabsichtigt haben sollten, jede dauerhafte und stabile Gruppe zu schützen, warum formulierten sie die Norm dann nicht entsprechend? Aus der Genese der Genozidkonvention ergibt sich jedenfalls nicht, dass durch den Vertrag alle dauerhaften und stabilen Gruppen geschützt werden sollten.151 Eine derartige Erweiterung des Tatbestandes ist zum einen deshalb abzulehnen, weil sie zu einer Revision des Vertragstextes führt. Die vorbereitenden Arbeiten und der vermeintliche Wille der Autoren dürfen nicht als Vorwand dafür herangezogen werden, einem Vertrag eine Bedeutung zu verleihen, die ursprünglich nicht gewollt war.152 Zum anderen enthält diese Auslegung eine im Strafrecht unzulässige Analogie. Die in Rede stehenden Regelungen des Art. II Genozidkonvention beziehungsweise des Art. 2 ICTR-Statut sind Vorschriften des Völkerstrafrechts, sodass die rechtsstaatlichen Grundsätze des nullum crimen, nulla poena sine lege Anwendung finden.153 Des Weiteren suggerierte die Kammer, dass eine enge Beziehung zwischen der objektiven und der subjektiven Konzeption einer Gruppe besteht, indem sie die Tatsache, dass die Tutsi im Allgemeinen als ethnische Gruppe angesehen werden, als Nachweis für ihre Stabilität und Dauerhaftigkeit heranzog. Das Gegenteil ist jedoch der Fall: Je mehr die
150
So auch Kreß, The Crime of Genocide under International Law, International Criminal Law Review 6 (2006), S. 461 (474 f.); ebenso bereits früher Magnarella, Some Milestones and Achievements at the International Criminal Tribunal for Rwanda, Florida Journal of International Law 11 (1997), S. 517 (531). 151
Dazu Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 130 ff.; ders., Groups Protected by the Genocide Convention, ILSA Journal of International and Comparative Law 6 (2000), S. 375 (380). 152
Vgl. Schabas, Prosecutor v. Akayesu, Commentary, in: Klip/Sluiter (Hrsg.), Annotated Leading Cases of International Criminal Tribunals, Vol. II, 2001, S. 539 (542 f.); ders., Groups Protected by the Genocide Convention, ILSA Journal of International and Comparative Law 6 (2000), S. 375 (380). 153
Ebenfalls kritisch Cassese, International Criminal Law, 2003, S. 96 (101); ders., Genocide, in: ders./Gaeta/Jones (Hrsg.), The Rome Statute of the International Criminal Court: A Commentary, Vol. I, 2002, S. 335 (345); Akhavan, The Crime of Genocide in the ICTR Jurisprudence, JICJ 3 (2005), S. 989 (1001).
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Existenz einer Gruppe auf reiner Subjektivität beruht, umso instabiler ist sie.154 Die im Akayesu-Urteil entwickelte Lösung ist aus den genannten Gründen abzulehnen. Zu Recht wurde sie in der Folgerechtsprechung nicht aufrechterhalten. Die in der Folgerechtsprechung entwickelten Versuche der Abgrenzung der vier Schutzgruppen überzeugen allerdings ebenfalls nicht. Sie sehen sich wie das Akayesu-Urteil dem Einwand ausgesetzt, dass die jeweilige Opfergruppe nicht notwendigerweise unter die von ihnen entwickelten Kriterien subsumiert werden kann. Zur Lösung des Problems entfernten die Richter sich immer weiter von der Bestimmung der Opfergruppe anhand objektiv definierbarer Kriterien und stellten zunehmend auf die subjektive Wahrnehmung der Opfergruppe durch die Täter ab. Zudem wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass die Entscheidung über die Qualität der Opfergruppe von Fall zu Fall unter Berücksichtigung der Beweislage sowie der politischen, sozialen und kulturellen Besonderheiten des Einzelfalles getroffen werden müsse. Augenscheinlich sollte eine Festlegung auf eine konkrete Auslegung der vier Gruppenattribute vermieden werden. Diese Entwicklung ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass das Problem der Abgrenzung der nationalen, ethnischen, rassischen und religiösen Gruppen nicht zufrieden stellend lösbar ist. Der Untersuchungsbericht der Vereinten Nationen zu den Verfolgungen in der sudanesischen Region Darfur verdeutlicht einmal mehr, dass die Abgrenzung der vier Schutzgruppen zu unglücklichen Lücken des Vertrages führt. In dieser Studie wird unter anderem die Frage diskutiert, ob Stammesgruppen unter den Schutz der Genozidkonvention fallen. Auf der Grundlage der Abgrenzung der nationalen, ethnischen, rassischen und religiösen Gruppen vertrat die Kommission die Auffassung, dass Stammesgruppen an sich nicht durch die Konvention geschützt seien, da sie nicht per se einer der vier Schutzgruppen entsprechen würden. Sie seien nur dann durch die Konvention erfasst, wenn sie zugleich die spezifischen Merkmale einer der vier Schutzgruppen aufweisen würden. Des Weiteren heißt es dazu: „It is apparent that the international rules on genocide are intended to protect from obliteration groups targeted not on account of their
154
In diesem Sinne Schabas, Prosecutor v. Akayesu, Commentary, in: Klip/ Sluiter (Hrsg.), Annotated Leading Cases of International Criminal Tribunals, Vol. II, 2001, S. 539 (543).
2. Teil
116
constituting a territorial unit linked by some community bounds (such as kinship, language, lineage), but only those groups – whatever their magnitude – which show the particular hallmark of sharing a religion or racial or ethnic features and which are targeted precisely on account of their distinctiveness.“155 Im Gegensatz dazu hatte die ILC in ihrem Kommentar zum Draft Code Stammesgruppen als durch die Konvention erfasst angesehen, ohne dies weiter zu problematisieren.156 Dem ist mit Schabas zuzustimmen, nach dessen Auffassung es nicht schwer zu verstehen ist, warum Stammesgruppen unter den Schutz der Genozidkonvention fallen.157 In der Tat kann es keinen wertungsmäßigen Unterschied machen, ob eine Stammesgruppe zusätzlich zu den für sie typischen Merkmalen wie eine gemeinsame Verwandtschaft, Sprache oder Abstammung noch die Merkmale einer der Schutzgruppen erfüllt. Zudem können Stammesgruppen unproblematisch dem durch die Autoren der Konvention intendierten großen Bereich der Schutzgruppen zugeordnet werden. Doch um diesem Willen zu entsprechen, muss man wie dargelegt von der Abgrenzung der nationalen, ethnischen, rassischen und religiösen Gruppen Abstand nehmen. Festgehalten werden kann daher, dass unter den verschiedenen in der Judikatur propagierten Auslegungsmodellen der im Fall Krstic erstmalig vertretenen ganzheitlichen Auslegung des Gruppenbegriffs grundsätzlich zuzustimmen ist. Diese Einschätzung wird dadurch unterstützt, dass diese Auslegung in der Zwischenzeit verschiedentlich Zustimmung in der Rechtsprechung des ICTY gefunden hat. Darüber hinaus deutet auch die Rechtsprechung des ICTR teilweise darauf hin, dass eine Abgrenzung der vier Schutzgruppen für entbehrlich gehalten wird.158 155
Report of the International Commission of Inquiry on Darfur to the Secretary-General, UN Doc. S/2005/60, para. 495 ff. 156
Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind, Report of the International Law Commission on the Work of its forty-eighth session, 6 May – 26 July 1996, UN Doc. A/51/10, Art. 17, para. 9. 157 158
Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 112.
Dieses Textverständnis entspricht dem völkerrechtlichen Auslegungsgrundsatz, nach dem kein Wort und keine Bestimmung eines Vertrages außer Acht gelassen oder als überflüssig behandelt werden darf, es sei denn, dies ist absolut notwendig, um den Worten im Ganzen zur Wirksamkeit zu verhelfen. Vgl. ICJ, Certain Expenses of the United Nations (Article 17, paragraph 2 of the Charter), Gutachten v. 20. Juli 1962, separate opinion of Judge Sir Percy Spender, ICJ Reports 1962, S. 151 (186). So liegt der Fall hier. Wie erläutert, ist
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Eine Einschränkung ergibt sich allerdings dahin gehend, dass im KrsticUrteil zur Bestimmung der geschützten Gruppen auf das Konzept der nationalen Minderheiten nach dem Zweiten Weltkrieg Bezug genommen wird. Dem kann so nicht gefolgt werden, da, wie zu zeigen sein wird, durch Art. II Genozidkonvention Mehrheiten ebenso wie Minderheiten geschützt werden.159 Das Krstic-Urteil ist auch insofern überzeugend, als in diesem für die Identifikation der Gruppe auf die Sicht des Täters abgestellt wird. Wie im Rahmen der Untersuchung der Anknüpfungspunkte für die Reform des Gruppenbegriffs dargelegt werden wird, müssen auch diejenigen Fälle durch die Konvention erfasst werden, in denen die Gruppe aufgrund subjektiver Kriterien definiert wird. Die Definitionsmacht des Täters spielt im Rahmen von Genozid eine maßgebliche Rolle. Daher erfasst man den Unrechtsgehalt der Tat nicht vollständig, wenn man die objektive Existenz zur – wenn auch zusätzlichen – Voraussetzung der Tat macht.160 Vor dem Hintergrund der Entwicklungen in der internationalen Rechtsprechung sprach sich auch die Untersuchungskommission zu Darfur für die subjektive Identifikation der Opfergruppe aus: „[…] the approach taken to determine whether a group is a (fully) protected one has evolved from an objective to a subjective standard to take into account that ‘collective identities, … , are by their very nature social constructs, ‘imagined’ identities entirely dependent on variable and contingent perceptions, and not social facts, which are verifiable in the same manner as natural phenomena or physical facts’.“161
es erforderlich, den Sinn der Aufzählung im Ganzen zu ermitteln, da die Suche nach einer autonomen Bedeutung für eine jede der vier Gruppen, den übergreifenden Sinn der Aufzählung schwächen und so den Bereich der geschützten Gruppen entgegen dem Willen der Autoren unzulässig beschränken würde. A.A. MK-StGB-Kreß, § 220 a/§ 6 VStGB, Rn. 36; ders., The Crime of Genocide under International Law, International Criminal Law Review 6 (2006), S. 461 (475 f.). 159
Dazu s.u. 2. Teil, III. 2.
160
S.u. 2. Teil, III. 4.
161
Report of the International Commission of Inquiry on Darfur to the Secretary-General, UN Doc. S/2005/60, para. 499, mit Hinweis auf Verdirame, The Genocide Definition in the Jurisprudence of the ad hoc Tribunals, ICLQ 49 (2000), S. 578 (592).
2. Teil
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Abzulehnen ist die im Fall Jelesic befürwortete negative Identifikation der Opfergruppe, da sie im Wortlaut des Art. II Genozidkonvention keine Stütze findet.162 Schließlich überzeugt auch die von der spanischen Audiencia Nacional vertretene Auslegung nicht. Zwar besticht das Ziel, die bestehenden Lücken der Genozidkonvention zu schließen, der Zweck heiligt jedoch nicht die Mittel. Mit der Einbeziehung jeder durch irgendein Merkmal gekennzeichneten Gruppe als nationale Gruppe würde die Absicht der Autoren, den Anwendungsbereich der Konvention zu beschränken, unterlaufen. Denn wenn Gruppen aufgrund ihrer sozialen oder ideologischen Besonderheiten oder aufgrund eines anderen beliebigen Merkmals, das sich nicht auf ihre nationale Identität bezieht, verfolgt werden, dann ist der Angriff eben nicht gegen nationale Gruppen gerichtet, sondern gegen soziale, ideologische oder andere Gruppen, welche gerade nicht in den Schutzbereich der Konvention einbezogen wurden.163
II. Reformbedarf des Schutzobjektes Der Reformbedarf des Schutzobjektes von Art. II Genozidkonvention ist umstritten. Zunächst gibt es noch immer Autoren, die seine Ausgestaltung für ausreichend halten. Argumentiert wird dahin gehend, dass die Norm innerhalb der verwirrenden Fülle von Vorschlägen für eine Neuformulierung eine anwendbare Kerndefinition enthalte, die von der Mehrzahl der Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen ratifiziert sei.164 An anderer Stelle wird darauf abgestellt, dass die Essenz der Genozidkonvention darin bestehe, bestimmte zusammenhängende, anerkannte Gruppen als solche vor der Gefahr der Vernichtung zu schützen und nicht Individuen als solche oder formlose Zusammenschlüsse von Men162
Hierzu ausführlich s.u. 2. Teil, III. 5.
163
Gil Gil, Derecho Penal Internacional, 1999, S. 184 f.; kritisch ebenfalls Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 150; MK-StGB-Kreß, § 220 a/ § 6 VStGB, Rn. 38. 164
Kuper, Theoretical Issues Relating to Genocide: Uses and Abuses, in: Andreopolous (Hrsg.), Genocide: Conceptual and Historical Dimensions, 1994, S. 31; in diese Richtung gehend schon früh Ruhashyankiko, Study of the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/416, 1978, para. 87, mit der Begründung, dass die Aufnahme weiterer Gruppen einige Staaten an der Ratifikation der Konvention hindern könnte.
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119
schen zu verteidigen.165 Zudem wird befürchtet, dass mit einer Verwässerung der Definition die Gefahr einhergeht, den Horror des Verbrechens zu trivialisieren.166 Im Gegensatz dazu sehen viele Autoren die aktuelle Fassung des Schutzobjektes als einen der entscheidenden Schwachpunkte des Vertrages an. Kritisiert wird, dass die mangelnde Klarheit über die Reichweite der vier Schutzgruppen die Wirksamkeit der Konvention insgesamt beeinträchtige.167 Des Weiteren wird vielfach beanstandet, dass der eng begrenzte Katalog der Schutzgruppen andere schutzbedürftige Gruppen schutzlos lasse.168 Die Kritik bezieht sich vor allem auf die Auslassung der politischen Gruppen, aber auch die Aufnahme anderer Gruppen, wie sozialer und sexueller Gruppen beziehungsweise durch körperliche oder geistige Behinderung stigmatisierter Menschen, wird gefordert. Im Folgenden wird der Reformbedarf des Schutzobjektes erörtert. Im Rahmen dessen wird zunächst die Problematik der Unklarheit des Gruppenbegriffs diskutiert und im Anschluss daran das Schutzbedürfnis weiterer, bislang nicht durch die Konvention geschützter Gruppen untersucht. 165
Shaw, Genocide and International Law, in: Dinstein (Hrsg.), International Law at a Time of Perplexity, 1989, S. 797 (809). 166
Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 114; ders., Groups Protected by the Genocide Convention, ILSA Journal of International and Comparative Law 6 (2000), S. 375 (386); gegen eine Ausweitung ebenfalls Werle, Völkerstrafrecht, 2003, S. 212, Rn. 568. 167
Whitaker, Revised and Updated Report on the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/ 1985/6, para. 30. 168
Vgl. Chalk/Jonassohn, The History and Sociology of Genocide, 1990, S. 9 ff.; Ternon, Der verbrecherische Staat, 1996, S. 40; Simon, Defining Genocide, Wisconsin International Law Journal 15 (1996-97), S. 243 (244); Abrams, The Atrocities in Cambodia and Kosovo: Observations on the Codification of Genocide, New England Law Review 35 (2001), S. 303 (308 f.); Vest, Genozid durch organisatorische Machtapparate, 2002, S. 129 ff.; Lippman, The Crime of the Century. The Jurisprudence of Death at the Dawn of the New Millenium, Houston JIL 23 (2001), S. 467 (484 f.); ders. The Drafting of the 1948 Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, Boston UILJ 3 (1985), S. 1 (62); Hübner, Das Verbrechen des Völkermordes im internationalen und nationalen Recht, 2004, S. 118 ff.; schon früh wurde diese Kritik geäußert von Drost, The Crime of State, Book II: Genocide, 1959, S. 122 ff.; und Glaser, Droit international pénal conventionnel, 1970, S. 109 ff.
2. Teil
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1. Unklarheit des Schutzobjektes Die missverständliche Formulierung des Schutzobjektes ist ein wesentlicher Kritikpunkt an Art. II Genozidkonvention. Die Diskussion der Urteile der UN ad hoc-Tribunale hat ergeben, dass die ganzheitliche Auslegung unter den verschiedenen Auslegungsmodellen vorzugswürdig ist. Die nationalen, ethnischen, rassischen und religiösen Gruppen haben folglich eine übergreifende Bedeutung, sodass eine Zuordnung zu den einzelnen Gruppenattributen entbehrlich ist. Wie erläutert deutet die Formulierung des Art. II Genozidkonvention im Gegensatz dazu darauf hin, dass vier verschiedene Gruppen geschützt werden, welche im Einzelnen voneinander abzugrenzen sind.169 Dabei wird als eine der eklatantesten Schwachstellen des Regelungswerkes kritisiert, dass die einzelnen Schutzgruppen im Konventionstext selbst nicht näher definiert werden.170 Erschwerend wirkt in diesem Zusammenhang, dass es sich bei den nationalen, ethnischen, rassischen und religiösen Gruppen um soziologische Konstrukte handelt, die von vornherein unpräzise und deshalb schwer zu definieren sind. In Anbetracht der Tatsache, dass ihr Bedeutungsgehalt sich je nach der sozialen Wahrnehmung des Betrachters unterscheidet, ist es nicht weiter verwunderlich, dass es keine generelle, international anerkannte Definition der vier geschützten Gruppen gibt, obwohl seit der Erarbeitung der Konvention immer wieder Autoren versucht haben, Licht in das Dunkel zu bringen.171 Die Analyse der Urteile belegt, dass die Folge der missverständlichen Formulierung erhebliche Abweichungen in den Urteilsbegründungen sein können. Schließlich unterscheiden sich die Urteile nicht nur in der Frage, ob die nationalen, ethnischen, rassischen und religiösen Gruppen überhaupt voneinander abgegrenzt werden müssen, sondern auch darin, ob für die Auslegung des Gruppenbegriffs auf subjektive und/oder objektive Kriterien abgestellt werden sollte beziehungsweise welche Merkmale die Gruppen im Einzelfall charakterisieren. Im Hinblick auf die unklare Formulierung des Schutzobjektes ist zudem problematisch, dass es mangels eindeutiger Kriterien eng oder weit ausgelegt und der Tatbestand so an das sich verändernde politische und soziale Klima anpasst werden kann. So besteht die Gefahr, dass be169
S.o. 2. Teil, I. 3.
170
Cassese, International Criminal Law, 2003, S. 96 f.
171
Vgl. dazu schon früh Glaser, Droit international pénal conventionnel, 1970, S. 111 f.; jüngst ebenfalls MK-StGB-Kreß, § 220 a/§ 6 VStGB, Rn. 36 ff.
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stimmte Gruppen – beispielsweise durch Abgrenzung – aus dem Anwendungsbereich herausdefiniert werden. Nach dem rechtlichen Empfinden des einzelnen Betrachters mag das Ergebnis im konkreten Fall trotz Widersprüchlichkeiten innerhalb der Rechtsprechung durchaus „gerecht“ und die Flexibilität insofern „positiv“ sein. Der erhebliche Ermessensspielraum ist dennoch kritisch zu bewerten. Widersprüche und Abweichungen in der Judikatur sowie unklare Urteilsbegründungen gefährden das Vertrauen in die Rechtsprechung. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rechtsprechung weniger um eine rechtlich korrekte Lösung als um ein bestimmtes Ergebnis bemüht zu sein scheint. Zumindest grenzwertig war insofern das Urteil im Fall Akayesu, in dem die Kammer die geschilderte fragwürdige Konstruktion wählte, um zu dem gewünschten Ergebnis der Bestrafung Akayesus zu gelangen. Wie dargelegt kann gegen die Ausweitung des Tatbestandes auf alle dauerhaften und stabilen Gruppen insbesondere der Einwand erhoben werden, dass sie eine im Strafrecht unzulässige Analogie beinhaltet. Des Weiteren darf die potentielle Gefahr nicht ignoriert werden, dass bestimmte Interessengruppen den bestehenden Ermessensspielraum für sich nutzen können, indem sie Druck auf die Rechtsprechungsorgane ausüben und so das Ergebnis einer Entscheidung unter Umständen beeinflussen können. In diesem Sinne hat Renate Winter, Richterin am Special Court for Sierra Leone, kritisch geäußert, dass Recht und Macht immer eng miteinander verwoben waren. Richter und Staatsanwälte müssten immer wieder gegen Machtgefüge beziehungsweise gegen die Beeinflussung ihrer Entscheidungen und für ihre Unabhängigkeit kämpfen. Sie befänden sich gleichsam im „Würgegriff der Macht“, die in den Händen von Politik, Wirtschaft und organisierter Kriminalität konzentriert sei.172 Gerade weil die politische Führung eines Staates in aller Regel an der Begehung von Genozid beteiligt ist, ist die Wahrscheinlichkeit besonders groß, dass im Rahmen der innerstaatlichen Strafverfolgung die Machthaber auf eine bestimmte Auslegung des Tatbestandes hinwirken, um sich selbst und ihre Handlanger vor einer Verurteilung zu schützen. Diese Gefahr betrifft natürlich in erster Linie diktatorische und korrupte Systeme und nicht demokratische Staaten mit einer gewachsenen Rechtskultur. Leider können sich aber auch unabhängige Gerichte nicht 172
Die zitierte Stellungnahme erfolgte im Rahmen einer Podiumsdiskussion an der Universität zu Köln zu dem Thema „Zähmung der Politik durch Internationales Recht?“ am 3. Juni 2004.
122
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vollständig einer Beeinflussung entziehen. Selbst bei den UN ad hocTribunalen steht zu befürchten, dass seitens der Staatengemeinschaft Druck auf diese ausgeübt wurde. Die Tribunale sind Unterorgane der Vereinten Nationen. Als solche stehen sie etwa im Hinblick auf die verfolgten Grundsätze und die Finanzierung in Abhängigkeit zum UNSicherheitsrat als dem Hauptorgan, das sie errichtet hat.173 Die beiden Tribunale wurden mit dem Ziel der Ahndung des Genozids errichtet. Somit war von Beginn an klar, dass man von der tatsächlichen Begehung eines Genozids in den jeweiligen Konflikten ausging. Die Tribunale standen dementsprechend unter erheblichem Druck, die Begehung von Genozid nachzuweisen und entsprechende Verurteilungen vorzulegen. Wäre die Kammer im Fall Akayesu zu dem Ergebnis gelangt, dass die Tutsi keine durch die Konvention geschützte Gruppe waren, so hätte sie ihn vom Vorwurf des Genozids freisprechen müssen. Dann hätte sie jedoch den Sinn und Zweck des Tribunals – und damit auch ihre eigene Existenzberechtigung – in Frage gestellt.174 Dem entging sie durch die rechtlich problematische Ausweitung des Schutzbereichs. Wobei hier die in Art. 11 und 15 ICTR-Statut beziehungsweise Art. 14 und 16 ICTY-Statut garantierte Unabhängigkeit der Richter und der Anklage beider Tribunale selbstverständlich nicht in Abrede gestellt werden soll. Zukünftig muss das Schutzobjekt des Art. II Genozidkonvention so formuliert werden, dass konzeptionelle Überdehnungen des Begriffs von vornherein verhindert und damit zugleich die potentielle Gefahr allzu abweichender oder gar widersprüchlicher Ergebnisse in der Rechtsprechung von vornherein ausgeräumt wird. Die bestehenden Probleme können nicht im Wege der Auslegung bewältigt werden – auch nicht durch die ganzheitliche Auslegung. Sie ist zwar unter den seitens der UN ad hoc-Tribunale gewählten Methoden vorzugswürdig, letztlich kann aber auch auf diese Weise die grundsätzliche Problematik
173
Zur Stellung der Tribunale innerhalb der Vereinten Nationen siehe van Boven, Autonomy and Independence of United Nations Judicial Institutions: A Comparative Note, in: Wellens (Hrsg.), International Law: Theory and Practice, 1998, S. 679 ff. Diese Ausführungen beziehen sich zwar auf das ICTY, gelten für das ICTR jedoch gleichermaßen. 174
Vgl. Scott, On the Road to Disaster, International Legal Perspective 10 (1998), S. 111 (116), der die These aufstellt, dass die klare Botschaft der UN an die Tribunale gelautet habe: „Verfolgen und Verurteilen!“. Von einer vorherrschenden Angst der Gerichtshöfe, die Ausrottung von fast einer Million Tutsi als etwas anderes als Genozid zu charakterisieren, spricht Akhavan, The Crime of Genocide in the ICTR Jurisprudence, JICJ 3 (2005), S. 989 (1003).
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der Unklarheit des Gruppenbegriffs nicht gelöst werden. Schon deshalb nicht, weil allein im Wege der Auslegung kein international einheitlicher Standard bei der Rechtsanwendung in den Mitgliedstaaten erreicht werden kann, selbst dann nicht, wenn die Rechtsprechung der UNGerichtshöfe sich auf einen einheitlichen Kurs festlegen würde.
2. Schutzbedürfnis weiterer Gruppen Art. II Genozidkonvention hat noch einen weiteren entscheidenden Schwachpunkt, welcher nicht im Wege der Auslegung bewältigt werden kann. Der Tatbestand erfasst nicht alle schutzbedürftigen Gruppen. Im Gegenteil, wesentlich mehr Gruppen bedürfen des Schutzes durch die Konvention als derzeit erfasst sind. Es ist weder rechtlich noch logisch überzeugend, schwere, lang anhaltende und weit verbreitete Gewalt gegen bestimmte Gruppierungen auszuschließen, nur weil die Gewalt nicht gegen eine der vier Schutzgruppen der Genozidkonvention gerichtet ist.175 Bei der Formulierung des Schutzobjektes hatten die Autoren der Genozidkonvention den Idealtypus der stabilen, dauerhaften Gruppe vor Augen, in der die Mitgliedschaft nicht auf dem freien Willen der Mitglieder beruht.176 Diese Gruppen sollten leicht identifizierbar sein, weil sie aufgrund ihrer gemeinsamen Merkmale klar bestimmbare Gemeinschaften waren.177 Es zeigt sich jedoch, dass das Schutzobjekt sogar bei dem in dieser Arbeit befürworteten ganzheitlichen Auslegungsansatz nicht umfassend genug ist. Selbst wenn die Gruppen als nicht voneinander trennbar, sondern im Sinne von Schabas als Eckpfeiler für einen Bereich verstanden werden, ist nicht sichergestellt, dass weitere im Folgenden darzustellende Gruppen nicht aus dem Gruppenbegriff herausfielen und somit zu Unrecht nicht geschützt wären.
175
Lippman, The Crime of the Century. The Jurisprudence of Death at the Dawn of the New Millenium, Houston JIL 23 (2001), S. 467 (525). 176
rd
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UN GAOR, 3 session, 6 Committee, 69 meeting; dazu auch MKStGB-Kreß, § 220 a/§ 6 VStGB, Rn. 34; LeBlanc, The United States and the Genocide Convention, 1991, S. 60 ff. 177
Ruhashyankiko, Study of the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/416, 1978, para. 55 ff.
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124
a) Politische Gruppen Die politischen Gruppen haben im Rahmen der Debatten um die nicht geschützten Gruppen bislang die meiste Aufmerksamkeit erfahren. Die Tatsache, dass sie nicht durch die Konvention geschützt werden, bietet seit den Vorarbeiten immer wieder Anlass zu Diskussionen. Die Frage der Aufnahme der politischen Gruppen in den Katalog des Art. II Genozidkonvention wurde bereits während der Vorarbeiten höchst kontrovers diskutiert. In Res. 96 (I) sowie im nachfolgenden Entwurf des Sekretariats waren die politischen Gruppen noch als Schutzobjekt enthalten. Während der Diskussionen innerhalb der Expertengruppe entstanden dann erhebliche Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Problematik,178 welche sich im ad hoc-Ausschuss179 und im Sechsten Ausschuss180 fortsetzten. Da bis zum Abschluss der Vorarbeiten keine Einigkeit in der Frage des Schutzes der politischen Gruppen erzielt werden konnte, entschied man sich schließlich gegen ihre Einbeziehung. 22 Delegierte stimmten gegen die Einbeziehung, 6 dafür und 12 enthielten sich.181 Hauptgegner der Einbeziehung der politischen Gruppen war die Sowjetunion.182 In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass die Konvention erarbeitet wurde, als die stalinistischen Säuberungsaktionen gegen verschiedene soziale und politische Gruppen bereits begonnen hatten. Eine Zusammenfassung der wesentlichen, von den Gegnern der Einbeziehung der politischen Gruppen angeführten Argumente findet sich im zweiten UN-Sonderbericht von Ruhashyankiko: „(a) a political group had no stable, permanent and clear-cut characteristics in that it did not constitute an inevitable and homogenous grouping, being based on the will of its members and not on factors independent of that will; (b) the inclusion of political groups would 178
Draft Convention on the Crime of Genocide prepared by the SecretaryGeneral, UN Doc. E/447, S. 21 f. 179 180
Report of the ad hoc Committee on Genocide, UN Doc. E/794. rd
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UN GAOR, 3 session, 6 Committee, 69 , 74 , 75 , 128 meeting; vgl. hierzu Whitaker, Revised and Updated Report on the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/ 1985/6, para. 35, Fn. 26. 181 182
rd
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UN GAOR, 3 session, 6 Committee, 128 meeting, S. 663 f.
Vgl. Whitaker, Revised and Updated Report on the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/ 1985/6, para. 35.
Geschützte Gruppen gemäß Art. II Genozidkonvention
125
preclude the acceptance of the Convention by the greatest possible number of States and the acceptance of an international criminal jurisdiction, because it would involve the United Nations in the internal political struggles of each country; (c) such inclusion would create difficulties for legally established Governments in their preventive actions against subversive elements; (d) the protection of political groups would raise the question of protection under the Convention for economic and professional groups; (e) the protection of political and other groups should be ensured outside the Convention, under national legislation and the United Nations declaration of Human Rights.“183 Trotz der Vielzahl von Sachargumenten war der tatsächliche Grund für den Ausschluss der politischen Gruppen im letzten Stadium der Entwurfsarbeiten, dass viele Regierungen in jedem Fall vermeiden wollten, ihrerseits wegen Genozids belangt zu werden.184 Von einigen Autoren wird angesichts dessen die freilich provokante These aufgestellt, dass die betreffenden Regierungen sich der politischen Opposition ohne Einmischung der Staatengemeinschaft – gewaltsam – entledigen können wollten.185 Vor allem als die heute in Art. VI Genozidkonvention enthaltene Schaffung eines Internationalen Strafgerichtshofs vorgesehen wurde, wurde die Gefahr der Einmischung in die innerstaatlichen Angelegenheiten als umso größer beurteilt. Andere Argumente, wie das besonders häufig zitierte Stabilitätserfordernis oder die Freiwilligkeit der Gruppenzugehörigkeit, dienten vor allem als Vorwand. Letztendlich wurden die politischen Gruppen das Opfer eines politischen Kompromisses, da auf ihre Einbeziehung im Gegenzug für die Vorschrift über den Internationalen Strafgerichtshof verzichtet wurde.186 Für diesen Entwurf sollte eine möglichst große Anzahl von Mitgliedstaaten 183
Ruhashyankiko, Study of the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/416, 1978, para. 80. 184
Vgl. Kuper, Genocide, 1981, S. 29 f.; Orentlicher, Genocide, in: Gutman/ Rieff (Hrsg.), Crimes of War, 1999, S. 153 (154); Robinson, The Genocide Convention, 1960, S. 59; van Schaak, The Crime of Political Genocide, YLJ 106 (1997), S. 2259 (2266 ff.). 185
Kuper, The Prevention of Genocide, 1985, S. 16; Bassiouni, Commentaries on the International Law Commission’s 1991 Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind, Nouvelles Études Pénales 11 (1993), S. 1 (234). 186
Van Schaak, The Crime of Political Genocide, YLJ 106 (1997), S. 2259 (2267 f.); LeBlanc, The United Nations Genocide Convention and Political Groups, 13 YJIL (1988), S. 268 (277 ff.).
2. Teil
126
gewonnen werden. Angesichts der Tatsache, dass in der Konvention ein Internationaler Strafgerichtshof nicht zwingend vorgesehen war und bis zu seiner Errichtung über 50 Jahre vergingen, ist dies ein hoher Preis. Teilweise wird die Auffassung vertreten, dass der Schutz politischer Gruppen gewohnheitsrechtlichen Charakter habe.187 Diesem Ansatz kann nicht gefolgt werden. Zunächst ist in Anbetracht der Vorarbeiten der Konvention davon auszugehen, dass die politischen Gruppen absichtlich und nicht versehentlich nicht als Schutzobjekt normiert wurden.188 Ferner spricht schon die wörtliche Übernahme des tradierten (engen) Wortlauts der Bestimmung in allen neuen internationalen Rechtsquellen gegen diese Interpretation.189 Zuletzt ist es vor dem Hintergrund des nullum crimen-Grundsatzes, insbesondere aus Gründen der Bestimmtheit, bedenklich, wenn die Auslegung eines bestimmten Tatbestandes keine Stütze mehr im Wortlaut der Vorschrift findet.190 Die Problematik der Einbeziehung der politischen Gruppen in den Schutzbereich des Art. II Genozidkonvention ist nach wie vor umstritten. Einige Autoren sprechen sich noch immer gegen die Aufnahme der politischen Gruppen in den Katalog der Schutzgruppen aus. Neben dem Hinweis auf die bereits während der Vorarbeiten vorgebrachten Argumente wird zu bedenken gegeben, dass es nicht möglich sei, die politischen Gruppen allgemeingültig zu definieren.191 Außerdem bestünde die Möglichkeit, dass politische Gruppen feindselig seien und die Sicherheit des Staates bedrohen würden. Unter solchen Umständen 187
Van Schaak, The Crime of Political Genocide, YLJ 106 (1997), S. 2259 (2280). 188
Vest, Die bundesrätliche Botschaft zum Beitritt der Schweiz zur Völkermord-Konvention, ZStrR 1999, S. 351 (361), Fn. 42. 189
Vest, Genozid durch organisatorische Machtapparate, 2002, S. 130.
190
Ambos, Der Fall Pinochet und das anwendbare Recht, JZ 1999, S. 16; allerdings äußerte sich Ambos in: Straflosigkeit in Argentinien für während der Militärdiktatur (1976-1983) begangene Taten des „Verschwindenlassens“?, EuGRZ 1998, S. 468 (470), noch zustimmend zu der von van Schaak vertretenen Auslegung. 191
Shaw, Genocide and International Law, in: Dinstein (Hrsg.), International Law at a Time of Perplexity, 1989, S. 797 (808 f.); zustimmend Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 144 f.; LeBlanc, The United Nations Genocide Convention and Political Groups, 13 YJIL (1988), S. 268 (292 ff.); Legters, The Soviet Gulag: Is It Genocidal?, in: Charny (Hrsg.), Toward the Understanding and Prevention of Genocide, 1984, S. 60 (63). Zur Problematik der Definition politischer Gruppen s.u. 2. Teil, III. 3.
Geschützte Gruppen gemäß Art. II Genozidkonvention
127
sei es durchaus denkbar, dass Gewalt gegen politische Gruppen legitim sein könne.192 Schließlich wird die Meinung vertreten, dass die im Hinblick auf die politischen Gruppen bestehende Lücke durch andere internationale Instrumente, wie den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR), geschlossen werden könne.193 Von der überwiegenden Mehrheit der Autoren ist die Nichteinbeziehung der politischen Gruppen seit dem Erlass der Konvention hingegen kritisiert worden.194 Der Ausschluss der politisch motivierten Massentötungen wird zu Recht als eine schwerwiegende Schwachstelle und das offensichtlichste Versäumnis der Konvention bewertet. Auch während der Vorarbeiten zum ICC-Statut wurde die Forderung nach der Einbeziehung politischer Gruppen in Art. 6 ICC-Statut wieder laut, blieb jedoch bedauerlicherweise ungehört.195 Für die Einbeziehung der politischen Gruppen in den Schutzbereich der Konvention sprechen unterschiedliche Argumente. Zunächst einmal hat die vermeintliche Konturenlosigkeit politischer Gruppen die Täter 192
LeBlanc, The United Nations Genocide Convention and Political Groups, 13 YJIL (1988), S. 268 (291). 193
Shaw, Genocide and International Law, in: Dinstein (Hrsg.), International Law at a Time of Perplexity, 1989, S. 797 (808 f.), Hervorhebung durch die Verf.; zustimmend Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 144 f. 194
Van Schaak, The Crime of Political Genocide, YLJ 106 (1997), S. 2259 ff.; Glaser, Droit international pénal conventionnel, 1970, S. 112; Drost, The Crime of State, Book II: Genocide, 1959, S. 122 ff.; Charny, Toward a Generic Definition of Genocide, in: Andreopoulos (Hrsg.), Genocide: Conceptual and Historical Dimensions, 1994, S. 64 (70); Chalk, Redefining Genocide, in: Andreopoulos (Hrsg.), Genocide: Conceptual and Historical Dimensions, 1994, S. 47 (50); Lippman, The Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide: Fifty Years Later, Arizona JICL 15 (1998), S. 415 (505); Kuper, Genocide, 1981, S. 39; Vest, Die bundesrätliche Botschaft zum Beitritt der Schweiz zur Völkermord-Konvention, ZStrR 1999, S. 351 (357 ff.); Selbmann, Der Tatbestand des Genozids im Völkerstrafrecht, 2002, S. 188; Abrams, The Atrocities in Cambodia and Kosovo: Observations on the Codification of Genocide, New England Law Review 35 (2001), S. 303 (308 f.); Verhoeven, Le crime de génocide, originalité et ambiguïté, RBDI 24 (1991), S. 5 (21); Jescheck, Die Internationale Genocidium-Konvention vom 9. Dezember 1948 und die Lehre vom Völkerstrafrecht, ZStW 66 (1954), S. 193 (212); Porter, Genocide is a New Word for an Old Crime, in: ders. (Hrsg.), The Sociology of the Holocaust and Genocide, 1999, S. 1 (6 f.); Basler Kommentar-Wehrenberg, Art. 264, Rn. 22. 195
Dazu s.o. 1. Teil, IV. 3.
2. Teil
128
in der Vergangenheit nicht daran gehindert, ihre Opfer zu identifizieren.196 Im Gegenteil: Politische Gruppen waren in der Menschheitsgeschichte sehr häufig das Opfer von Verfolgungen. Die Beispiele sind so zahlreich, dass hier nur eine beschränkte Auswahl dargestellt werden kann. Da eine ausführliche Erläuterung des jeweiligen Konflikts den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde, muss sich die Darstellung auf wenige Aspekte beschränken, welche nicht für sich beanspruchen, den jeweiligen Konflikt in seiner Relevanz und Tragweite vollständig zu erfassen. Schon die Nationalsozialisten verfolgten nicht nur Millionen von Menschen aufgrund ihrer Rasse oder Nationalität. Sie töteten zusätzlich ihre politischen Gegner, insbesondere die Kommunisten und die Sozialdemokraten.197 Insgesamt wurden in den Jahren 1933 bis 1939 ca. 20.000 aktive Linke in den Lagern und Gefängnissen ermordet.198 Nicht zuletzt aufgrund dieser Erfahrungen waren die politischen Gruppen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in Resolution 96 (I) als Schutzobjekte vorgesehen. Aber auch nach dem Zweiten Weltkrieg sind politische Gruppen in vielen Fällen verfolgt und massakriert worden.199 Ein historisches Beispiel für die Verfolgung politischer Gruppen sind die schweren Menschenrechtsverletzungen an den oppositionellen Gruppen in Kambodscha durch die Khmer Rouge in den Jahren 1975 bis 1979.200 Während der Herrschaft der Khmer Rouge wurden neben ethnischen und religiösen 196
Vgl. Kuper, The Prevention of Genocide, 1985, S. 15 f.
197
Kuper, Genocide, 1981, S. 24.
198
Courtois, Die Verbrechen des Kommunismus, in: ders. u.a. (Hrsg.), Das Schwarzbuch des Kommunismus, 2000, S. 11 (26). 199
Eine tabellarische Übersicht von Fällen der Verfolgung politischer Gruppen gibt Harff, Recognizing Genocides and Politicides, in: Fein (Hrsg.), Genocide Watch, 1992, S. 27 (32 ff.). 200
Zu den Verbrechen während der Herrschaft der Khmer Rouge grundlegend Kiernan, The Cambodian Genocide: Issues and Responses, in: Andreopoulos (Hrsg.), Genocide: Conceptual and Historical Dimensions, 1994, S. 191 ff.; ders., The Cambodian Genocide – 1975-1979, in: Totten/Parsons/Charny (Hrsg.), Century of Genocide, 2004, S. 339 ff.; Hannum, International Law and Cambodian Genocide: The Sounds of Silence, HRQ 11 (1989), S. 82 ff.; Chalk/ Jonassohn, The History and Sociology of Genocide, 1990, S. 398 ff.; Margolin, Kambodscha: Im Land der unfassbaren Verbrechen, in: Courtois u.a. (Hrsg.), Das Schwarzbuch des Kommunismus, 2000, S. 643 ff.; Ternon, Der verbrecherische Staat, 1996, S. 158 ff.
Geschützte Gruppen gemäß Art. II Genozidkonvention
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Gruppen, wie den muslimischen Cham und dem buddhistischen Klerus, unter anderem weite Teile der Bevölkerungsgruppe der Khmer ausgelöscht. Dem Khmer-Regime fielen im Rahmen dieses Autogenozids ungefähr 1,5 Millionen Menschen zum Opfer.201 Die Opfer wurden erschossen, zu Tode gefoltert, verhungerten oder starben in Arbeitslagern. Sie wurden zu Opfern wegen ihrer realen, potentiellen oder vermeintlichen politischen Gegnerschaft, die dem Ziel der Khmer Rouge entgegenstand, eine souveräne, selbstständige und reine Bauerngesellschaft zu errichten.202 Ein weiteres Beispiel ist die Ermordung von schätzungsweise 500.000 indonesischen Kommunisten in den Jahren 1965 und 1966. Nach der Unabhängigkeit war die Indonesische Kommunistische Partei (PKI) eine der vier größten politischen Parteien des Landes und gewann trotz starker Feindseligkeiten der Armee zunehmend an Einfluss. Im Jahr 1965 übernahm die Armee nach einem gescheiterten Putschversuch die Kontrolle über das Land. Zugleich begannen die Massentötungen von Mitgliedern der PKI, welche bis in das Jahr 1966 andauerten. In der ersten Hälfte der 60er Jahre war die PKI das stärkste organisierte Gegengewicht zur Armee. Der starke Wettbewerb zwischen den beiden Gruppierungen führte zu den Massakern, nach deren Ende die PKI verboten blieb und die Armee die volle Kontrolle über die militärische und politische Situation behielt. Die Armee hatte mit der PKI eine politische Gruppe ausgelöscht, welche sie als Bedrohung ihrer eigenen Machtstellung empfand.203
201
Kiernan, The Cambodian Genocide: Issues and Responses, in: Andreopoulus (Hrsg.), Genocide: Conceptual and Historical Dimensions, 1994, S. 191 (193); Hawk, The Cambodian Genocide, in: Charny (Hrsg.), Genocide: A Critical Bibliographic Review, Vol. I, 1988, S. 137 (140). Unter Autogenozid versteht man die Tötung von Mitgliedern der tätereigenen Gruppe; zur Problematik des Autogenozids ausführlich unten 4. Teil, III. 3. c). 202
Ratner/Abrams, Accountability for Human Rights Atrocities in International Law, 2001, S. 268; Chalk/Jonassohn, The History and Sociology of Genocide, 1990, S. 398 (402 ff.). Teilweise wird der Genozid an den Khmer auch als ein Genozid an einer nationalen Gruppe qualifiziert, so Hannum, International Law and Cambodian Genocide: The Sounds of Silence, HRQ 11 (1989), S. 82 (103 ff.); kritisch dazu Vest, Die bundesrätliche Botschaft zum Beitritt der Schweiz zur Völkermord-Konvention, ZStrR 1999, S. 351 (356); ders, Genozid durch organisatorische Machtapparate, 2002, S. 121 f. 203
Chalk/Jonassohn, The History and Sociology of Genocide, 1990, S. 378 ff.
130
2. Teil
Erwähnt werden muss ferner der Genozid durch West-Pakistan in Bangladesch, dem vormaligen Ost-Pakistan, im Jahr 1971. Seit der Unabhängigkeit von Indien hatten Spannungen zwischen West- und Ostpakistan bestanden. Der Westen war industrialisiert und wohlhabend, im Osten lebten die armen, Export produzierenden Bauern, die das Gefühl hatten, weiterhin unter Kolonialherrschaft zu stehen. Auslöser des Genozids war der Sieg der Awami Liga, der nationalistischen bengalischen Partei, bei den Parlamentswahlen und ihr friedliches Streben nach regionaler Autonomie und finanzieller Unabhängigkeit. Die Militärregierung West-Pakistans unter General Yahya Khan wollte die Bestrebungen nach Autonomie um jeden Preis verhindern und griff OstPakistan im März 1971 mit einem gewaltigen Militärschlag an. Umgebracht und terrorisiert wurde unter anderem jeder, der sezessionistischer Bestrebungen verdächtig war. Dazu zählten naturgemäß die Aktivisten der Awami Liga und ihre Anhänger. Aber auch andere mutmaßliche Nationalisten waren das Ziel der Angriffe, beispielsweise Studenten, Intellektuelle und Hindus.204 Die Schätzungen über Opferzahlen schwanken erheblich. Es werden Angaben von einer bis zu drei Millionen Toten gemacht. Dank der Intervention Indiens im Dezember 1971 gewann Bangladesch den Krieg und wurde unabhängig.205 Desgleichen wurden in Äthiopien unter Mengistu Mitte bis Ende der 70er Jahre die politischen Gegner verfolgt. Nach dem Untergang des Kaiserreichs 1974 übernahm der „Provisorische Militärische Verwaltungsrat“ (Derg) unter der Führung von Mengistu Haile Mariam die Macht. Mengistu strebte für Äthiopien offen den Sozialismus an und war bestrebt, die politischen Gegner des Derg zu beseitigen. Während des von 1976 bis 1978 dauernden Roten Terrors wurden die Mitglieder der Revolutionären Partei des Äthiopischen Volkes und die der Sozialistischen Panäthiopischen Bewegung festgenommen, gefoltert, ermordet oder verschwanden. Allein in der Hauptstadt Addis Abeba war von mehr als 10.000 politischen Morden die Rede. Zusätzlich wurden vermeintliche Aufständische in den ländlichen Regionen vernichtet. Ster-
204
Es wäre deshalb falsch von einem rein politisch motivierten Genozid zu sprechen. Es gab einen „Motivmix“. Politische, ökonomische aber in Teilen sicherlich auch rassische Motive spielten je nach Opfergruppe eine Rolle. 205
Zu diesem Konflikt Jahan, Genocide in Bangladesh, in: Totten/Parsons/ Charny (Hrsg.), Century of Genocide, 2004, S. 295 ff.; Chalk/Jonassohn, The History and Sociology of Genocide, 1990, S. 394 ff.; Kuper, Genocide, 1981, S. 76 ff.
Geschützte Gruppen gemäß Art. II Genozidkonvention
131
ben musste, wer der Machtkonsolidierung des Despoten hinderlich sein konnte.206 Als letztes Beispiel ist der Genozid in Ruanda zu nennen. 1994 wurde nicht nur die Tutsi-Bevölkerung verfolgt und massakriert, sondern auch bestimmte Teile der Gruppe der Hutu. Betroffen waren die moderaten Hutu, welche mit den Tutsi sympathisierten und gegen deren Ausrottung protestierten – mithin eine politische Gruppe. Schätzungen zufolge fielen diesem Genozid ca. 200.000 Menschen zum Opfer. Das Beispiel verdeutlicht die mit dem Ausschluss der politischen Gruppen aus dem Schutzbereich der Konvention einhergehende Widersprüchlichkeit in besonderem Maße. Während der Genozid an den Tutsi nach Art. 2 ICTR-Statut bestraft wurde, konnte die Ausrottung der Hutu wegen der politischen Motivation lediglich als Verbrechen gegen die Menschlichkeit geahndet werden. Beispiel für die gerichtliche Praxis ist das Urteil des ICTR im Fall Akayesu, in dem die Kammer entschied, dass die Verbrechen an bestimmten Opfern als Genozid bestraft worden wären, wenn es sich bei den Opfern um Tutsi gehandelt hätte. Da sie jedoch Mitglieder der Gruppe der Hutu waren, kam nur eine Bestrafung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Betracht.207 Aus den geschilderten Fallbeispielen ergibt sich die irritierende Konsequenz, dass politisch motivierte Terrormaßnahmen von Potentaten dann Genozid sind, wenn sie nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppen als solche erfassen, während vergleichbare oder weit schwerwiegendere Aktionen, sofern sie sich gegen politische Gegner aus der eigenen Gruppe richten, „nur“ ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen. Diese Unterscheidung vermag nicht zu überzeugen, weil auf diese Weise im Wesentlichen gleich gelagerte Verbrechen ungleich behandelt werden.208 Darüber hinaus sind auch der Hinweis auf die Instabilität politischer Gruppen und das mit diesem verbundene Element der Freiwilligkeit 206
Vgl. dazu Santamaria, Formen des Afrokommunismus: Äthiopien, Angola, Mocambique, in: Courtois u.a. (Hrsg.), Das Schwarzbuch des Kommunismus, 2000, S. 748 ff.; Mayfield, The Prosecution of War Crimes and Respect for Human Rights: Ethiopia’s Balancing Act, Emory International Law Review 9 (1995), S. 553 ff. 207
ICTR, Prosecutor v. Akayesu, Case No. ICTR-96-4-T, Urt. v. 2. September 1998, para. 712, 721. 208
Vest, Genozid durch organisatorische Machtapparate, 2002, S. 130; in diese Richtung auch Bassiouni, Crimes Against Humanity in International Criminal Law, 1999, S. 203 f.
2. Teil
132
der Gruppenzugehörigkeit nicht stichhaltig. Zunächst sind politische Gruppierungen typischerweise durch eine gemeinsame Überzeugung und gemeinsame Visionen miteinander verbunden.209 Diese Verbindungen sind oftmals besonders intensiv und stehen unter Umständen in puncto Stabilität einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe in nichts nach. Nicht umsonst werden wegen politischer Überzeugungen Kriege geführt, in denen die Opfer für ihre Überzeugung bewusst ihre Verfolgung riskieren, anstatt die entsprechende Gruppierung zu verlassen. Oftmals wird die Verbindung zwischen den Mitgliedern einer politischen Gruppe im Falle der Verfolgung sogar umso intensiver. Die politische Gesinnung kann ferner zu einem ebenso dauerhaften und unveränderlichen Stigma werden wie ihr ethnischer oder rassischer Ursprung.210 Als ein solches Stigma kann die politische Gesinnung in gleichem Maße wie andere Stigmata als Rechtfertigung für die Verfolgung und Ermordung einer Person missbraucht werden. Beispiel hierfür ist der zitierte Genozid unter den Khmer Rouge. Die Kampagne der Khmer Rouge ging über die Zerstörung einer möglichen politischen Opposition weit hinaus. Die Khmer Rouge behandelten den politischen Hintergrund einer Person im Grunde so, als sei dieser ein biologisches Merkmal. Die so genannte „totale Reinigung“ war die Umsetzung einer speziellen Sichtweise des Menschen. Nach Einschätzung der Khmer Rouge konnte sich eine Person, die einmal durch ein korruptes Regime verdorben worden war, nicht mehr bessern, sondern musste physisch eliminiert werden.211 Berichten zufolge töteten die Khmer Rouge oftmals ganze Familien, um zu verhindern, dass die politische Gegnerschaft durch das geistige Erbe der Eltern an die nachfolgenden Generationen weitergegeben würde.212 Die kambodschanischen Massentötungen waren symptomatisch für den verzweifelten Versuch des Regimes, sich vor einer potentiellen Opposition zu schützen.213 Im Hinblick auf
209
Lippman, The Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide: Fifty Years Later, Arizona JICL 15 (1998), S. 415 (464). 210
Vgl. Kuper, The Prevention of Genocide, 1985, S. 127.
211
Chalk/Jonassohn, The History and Sociology of Genocide, 1990, S. 404.
212
Kuper, The Prevention of Genocide, 1985, S. 127.
213
Duffy, Toward A Culture of Human Rights in Cambodia, HRQ 16 (1994), S. 82 (87).
Geschützte Gruppen gemäß Art. II Genozidkonvention
133
die anti-kommunistischen Massaker in Indonesien ist ebenfalls von der Exekution ganzer Familien die Rede.214 Im Gegensatz dazu sind mindestens zwei der vier Schutzgruppen des Art. II Genozidkonvention nicht so stabil und dauerhaft wie oftmals argumentiert wird.215 Hierbei handelt es sich zum einen um die nationalen und zum anderen um die religiösen Gruppen.216 Die Zugehörigkeit zu einer nationalen Gruppe (im politisch-rechtlichen Sinn) kann beispielsweise im Zuge von Grenzverschiebungen modifiziert werden. Zudem hat gemäß Art. 15 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte jedermann das Recht, seine Staatsangehörigkeit zu wechseln.217 Natürlich ist der Wechsel der Staatsangehörigkeit nicht so problemlos und schnell möglich wie die Aufgabe der Mitgliedschaft in einer politischen Gruppierung. Nichtsdestotrotz ist ein solcher Wechsel denkbar und wird regelmäßig vollzogen. Desgleichen kann gemäß Art. 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte jeder Mensch frei über seine Religionszugehörigkeit entscheiden.218 Es ist zu beobachten, dass nicht alle Menschen an ihrer Konfession ein Leben lang festhalten. Vor allem in liberalen Gesellschaften geht die Entwicklung immer mehr dahin, dass die von den Eltern übernommene Konfession nicht unbedingt beibehalten wird. Darin, dass der persönliche Glaube eine höchstpersönliche Frage ist, die jeder Mensch für sich beantwortet und seine Meinung auch innerhalb seines Lebens ändern mag, ähnelt die religiöse Überzeugung der politischen. Folglich werden weder die Nationalität noch die Religionszugehörigkeit durch die Geburt unabänderlich festgelegt. Die Nichtaufnahme der politischen Gruppen ist des Weiteren deshalb zu kritisieren, weil dadurch suggeriert wird, dass Massentötungen geschützter Gruppen aus politischen Gründen gerechtfertigt sein können.219 Das Argument, subversiven oder revolutionären Gruppen in214
Kuper, The Prevention of Genocide, 1985, S. 127.
215
Vgl. dazu auch Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 132 f.; ders., Groups Protected by the Genocide Convention, ILSA Journal of International and Comparative Law 6 (2000), S. 375 (382). 216
So bereits der englische Delegierte Sir Hartley Shawcross während der rd th th Vorarbeiten im Sechsten Ausschuss, UN GAOR, 3 session, 6 Committee, 69 meeting, S. 60. 217
GA Res. 217 A (III), UN Doc. A/810.
218
Ebenda.
219
Lane, Mass Killing by Governments: Lawful in the World Legal Order?, International Law and Politics 12 (1979), S. 239 (261 f.).
2. Teil
134
nerhalb eines Staates dürfe nicht die Möglichkeit eingeräumt werden, sich auf den rechtlichen Schutz der Konvention zu berufen, zielt von vornherein ins Leere. Der Schutz des menschlichen Lebens hört nicht bei denjenigen auf, die mit der politischen Auffassung ihrer Regierung nicht übereinstimmen, sondern er erstreckt sich auf alle potenziellen Opfer des Genozids, und zwar auch dann, wenn es sich bei den Opfern um feindselige Gruppen handelt, welche die Sicherheit eines Staates bedrohen.220 Der bedrohte Staat muss sich in solchen Situationen natürlich verteidigen können. Die Verteidigung muss aber notwendiger Weise immer auf solche Mittel beschränkt bleiben, die nicht genozidal sind, um ihrerseits rechtsstaatlichen Ansprüchen zu genügen.221 Schließlich ist es ein entscheidendes Kriterium des Rechtsstaats, dass er für alle gilt, einschließlich der Täter. Durch die Beschränkung auf rechtsstaatliche Verteidigungsmittel werden die Staaten auch nicht rechtlos gestellt, da sie über ausreichend legitime Mittel verfügen, um ihre innere Sicherheit zu schützen. Drost hat zutreffend festgestellt, dass der Ausschluss politischer und anderer Gruppen aus dem Schutzbereich der Konvention ein weites und gefährliches Schlupfloch des Vertrages darstellt. Nach seiner Einschätzung ermöglicht die Fassung der Genozidkonvention es jeder Regierung, ihre Verpflichtungen unter der Konvention zu umgehen, indem sie einen Genozid unter dem Deckmantel der staatlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung oder jedem anderen staatlichen Grund verübt.222 In der Vergangenheit hat sich wiederholt gezeigt, dass diese Befürchtungen allzu gerechtfertigt waren. Regierungen verschleierten verschiedentlich politische Massenmorde unter dem Vorwand der vermeintlichen Legalität. Ein beliebtes Mittel ist das Berufen auf den Ausnahmezustand, die Störung des Friedens und der inneren Sicherheit sowie sofortige Sicherheitsmaßnahmen. Ergebnis dessen ist, dass Individuen der Tyrannei des Staates unter Missachtung der Menschenrechte direkt ausgesetzt werden, obwohl durch das Internationale Recht das Recht auf
220
Vgl. Harff, Genocide and Human Rights: International Legal and Political Issues, 1984, S. 17. 221
So schon früh Glaser/Possony, Victims of Politics, 1979, S. 39; zustimmend LeBlanc, The United Nations Genocide Convention and Political Groups, 13 YJIL (1988), S. 268 (291). 222
Drost, The Crime of State, Book II: Genocide, 1959, S. 123.
Geschützte Gruppen gemäß Art. II Genozidkonvention
135
Leben geschützt wird, die Folter verboten ist und der Genozid geächtet wird.223 Ein Beispiel für die Geltendmachung der Legalität entsprechender Völkerrechtsverletzungen ist der Genozid an der Bevölkerungsgruppe der Maya in Guatemala zwischen 1981 und 1983. Die Wahrheitskommission zu Guatemala bestätigte diesbezüglich, dass die guatemaltekische Armee Gruppen der Maya-Bevölkerung als innerstaatlichen Feind identifizierte. Sie verdächtigte die Maya, die Guerillabewegung durch materielle Versorgung, als Quelle für Rekruten sowie durch Verstecken der Guerilleros zu unterstützen. Auf diese Weise entwarf die Armee eine Definition des innerstaatlichen Feindes, die über Sympathisanten der Guerilla, Kombattanten oder andere militante Kräfte hinausging, um auch zivile Mitglieder bestimmter ethnischer Gruppen erfassen zu können.224 Ein weiteres Beispiel ist Argentinien, das seine Gräueltaten durch die Berufung auf den Belagerungszustand des Landes rechtfertigte. Die Kampagne des Verschwindenlassens „subversiver Elemente“ traf weite Teile der Gesellschaft, sogar Kinder wurden verschleppt.225 Desgleichen ist in Bezug auf Kambodscha die Vermutung aufgestellt worden, dass weite Teile der Bevölkerung nicht ausgerottet wurden, weil sie Verräter waren, sondern, dass sie des Verrats bezichtigt wurden, weil sie ausgerottet werden sollten.226 Die Einbeziehung der politischen Gruppen in den Schutzbereich der Konvention ist in Anbetracht dieser Praktiken unbedingt erforderlich, da den Tätern dadurch die Möglichkeit genommen würde, ihre Taten durch den Vorwand politischer Spannungen zu verschleiern.227 Erschwerend kommt hinzu, dass der Genozid häufig eine politische Dimension hat. Jene Menschen, die aufgrund ihrer Rasse, Religion oder Nationalität verfolgt werden, werden in der Regel Opfer, weil die ver223
Kuper, Prevention of Genocide, 1985, S. 145.
224
Guatemala – Memory of Silence, Report of the Commission for Historical Clarification: Conclusions and Recommendations, February 1999, abgedruckt in FW 74 (1999), S. 511 (539). Eine Bilanz der Arbeit der Wahrheitskommission in Guatemala zieht Tomuschat, Fehlschlag oder Erfolg?, FW 74 (1999), S. 433 ff., der Mitglied der Kommission war. 225
Kuper, Prevention of Genocide, 1985, S. 142 ff.
226
Hannum, International Law and Cambodian Genocide: The Sounds of Silence, HRQ 11 (1989), S. 82 (89). 227
So auch van Schaak, The Crime of Political Genocide, YLJ 106 (1997), S. 2259 (2290).
2. Teil
136
folgte Gruppe von der Regierung als unzuverlässig oder verräterisch wahrgenommen wird.228 Speziell in pluralistischen Gemeinschaften ist es oftmals schwer auszumachen, welcher Grund ausschlaggebend für die Viktimisierung einer speziellen Gruppe war. Genozide können eine Folge von politischen Konflikten oder eng mit diesen verbunden sein.229 Umgekehrt ist politische Gewalt oft durch eine unterschwellige ethnische oder rassische Abneigung bedingt.230 Weil die Zugehörigkeiten zu den entsprechenden Gruppen in Konfliktsituationen politisiert werden und die politische Einteilung in zunehmendem Maße mit dem ethnischen, rassischen oder religiösen Ursprung der Gruppen übereinzustimmen scheint, wird es immer schwieriger, die Motive trennscharf voneinander abzugrenzen beziehungsweise festzulegen, ob es sich um einen politisch motivierten Massenmord oder um einen Genozid nach dem herkömmlichen Verständnis gehandelt hat.231 Ein Beispiel hierfür ist der zitierte Genozid in Indonesien in den Jahren 1965 und 1966. Auch wenn dieser Genozid sich gegen eine politische Partei richtete, hatte er zugleich einen ethnischen, religiösen und wirtschaftlichen Anstrich. Ethnisch, weil die Angriffe sich auf viele Chinesen erstreckten, welche nicht nur als Ausländer, sondern als Repräsentanten des kommunistischen China angesehen wurden; religiös, weil die Kommunisten in den Augen der Muslime und einiger Christen Feinde Gottes waren; und wirtschaftlich, weil einerseits den chinesischen Händlern vorgeworfen wurde, sich auf Kosten der armen Massen zu bereichern, und andererseits die PKI die Konfiszierung des Landbesitzes und die Neuverteilung unter den Bauern befürwortete.232 Schließlich vermag das Argument, dass die im Hinblick auf die politischen Gruppen bestehende Lücke durch andere internationale Instrumente, wie den IPBPR,233 geschlossen werden kann, nicht zu überzeu-
228
Fullerton, A Comparative Look at Refugee Status Based on Persecution Due to Membership in a Particular Social Group, Cornell International Law Journal 26 (1993), S. 505 (551). 229
Vgl. Kuper, Genocide, 1981, S. 39.
230
Lippman, The Crime of the Century. The Jurisprudence of Death at the Dawn of the New Millenium, Houston JIL 23 (2001), S. 467 (525). 231
Vgl. in diese Richtung auch schon Kuper, The Prevention of Genocide, 1985, S. 127. 232
Chalk/Jonassohn, The History and Sociology of Genocide, 1990, S. 382.
233
BGBl. 1973 II, S. 1534.
Geschützte Gruppen gemäß Art. II Genozidkonvention
137
gen.234 Zunächst findet die im Rahmen der Gruppenzerstörung maßgebliche kollektive Komponente im IPBPR keine Berücksichtigung. Durch den Pakt wird die politische Auffassung des Einzelnen in ihrem Bestand geschützt und nicht politische Gruppierungen als solche. Außerdem verpflichten sich die Vertragsstaaten im IPBPR nicht dazu, die Verfolgung und Ausrottung politischer Gruppen zu verhindern und zu bestrafen. Die Verpflichtung der Staaten ist gemäß Art. 2 IPBPR darauf beschränkt, die in dem Pakt anerkannten Rechte den in ihrem Gebiet befindlichen und ihrer Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen unabhängig von ihrer politischen Anschauung zu gewährleisten. Zu den zentralen Rechten zählt das in Art. 6 IPBPR garantierte Recht eines jeden Menschen auf Leben oder auch das in Art. 7 IPBPR normierte Folterverbot. Für die Umsetzung müssen die Vertragsstaaten die erforderlichen Schritte unternehmen, um den in dem Pakt anerkannten Rechten Wirksamkeit zu verleihen. Folge eines Verstoßes gegen die vertraglichen Verpflichtungen ist jedoch „nur“ ein fakultatives Beschwerdeverfahren vor dem Ausschuss für Menschenrechte, vorausgesetzt, der betreffende Vertragsstaat hat die Zuständigkeit des Ausschusses anerkannt.235 Im Gegensatz dazu gehen die Durchsetzungsmechanismen bei der Genozidkonvention wesentlich weiter. Die Vertragsstaaten sind gemäß Art. V Genozidkonvention dazu verpflichtet, die notwendigen gesetzgeberischen Maßnahmen zu ergreifen, um die Anwendung der Bestimmungen der Konvention sicherzustellen und insbesondere wirksame Strafen für Personen vorzusehen, die sich des Genozides schuldig machen. Gemäß Art. IV Genozidkonvention sind Personen, die Genozid begehen, zu bestrafen, gleichviel, ob sie regierende Personen, öffentliche Beamte oder private Einzelpersonen sind. Seit der Errichtung des ICC besteht zudem das in Art. VI Genozidkonvention vorgesehene Internationale Strafgericht zur Ahndung von Genozid. Ferner kann nach Art. VIII Genozidkonvention jede Vertragspartei die zuständigen Organe der Vereinten Nationen damit befassen, gemäß der UN-Charta die zur Verhütung und Ahndung von Genozid geeigneten Maßnahmen zu 234
So aber Shaw, Genocide and International Law, in: Dinstein (Hrsg.), International Law at a Time of Perplexity, 1989, S. 797 (808 f.); zustimmend Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 144 f. 235
Vgl. dazu Art. 28 ff. IPBPR, insbesondere Art. 40 ff. IPBPR. Im IPBPR selbst ist nur die Staatenbeschwerde vorgesehen. Zusätzlich gibt es ein Fakultativprotokoll, durch das auch die Möglichkeit der Individualbeschwerde eröffnet wird. Beide Beschwerden müssen vom jeweiligen Vertragsstaat anerkannt werden.
138
2. Teil
ergreifen. Schließlich werden Streitfälle zwischen den Vertragsparteien hinsichtlich der Auslegung, Anwendung oder Durchführung der Konvention auf Antrag einer der beteiligten Parteien gemäß Art. IX Genozidkonvention dem Internationalen Gerichtshof unterbreitet. Mithin sind die Regelungen und Durchsetzungsmechanismen des IPBPR insgesamt weniger weitreichend als die der Genozidkonvention, sodass dieser Vertrag für den Schutz politischer Gruppen keine Alternative darstellt. Vielmehr besteht Grund zu der Annahme, dass auf den IPBPR oftmals verwiesen wird, um die Gemüter mit dem Hinweis zu beruhigen, dass die politischen Gruppen nicht rechtlos gestellt sind. Insgesamt vermögen die gegen die Einbeziehung der politischen Gruppen in den Schutzbereich der Genozidkonvention vorgebrachten Argumente nicht zu überzeugen. Vielmehr gewinnt das Argument, dass in einer Zeit ideologischer Konflikte die Menschen aus ideologischen Gründen verfolgt werden, an Gewicht.236 Der Schutz politischer Gruppen ist deshalb essentiell. In diesem Sinne hat Jescheck bereits zu einem früheren Zeitpunkt darauf hingewiesen, dass die Konvention durch den Ausschluss der politischen Gruppen ganz wesentlich an Tragweite verliere, denn wo heute der Vorwurf des Genozids erhoben werde, beziehe er sich auf Ausschreitungen und Verfolgungen, die politisch Andersdenkende beträfen.237 Eine Feststellung, die ungebrochene Gültigkeit für sich beanspruchen kann. In einer Welt, in der einerseits die Nationalität und die Religionszugehörigkeit relativ leicht verändert werden können, und andererseits die politische Überzeugung ein ebenso wesentlicher Bestandteil der Identität einer Person sein kann wie ihre religiösen Ansichten oder das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Staat, lässt sich die Unterscheidung aufgrund von Kriterien wie der Stabilität oder Freiwilligkeit nicht länger aufrechterhalten.238 Zudem sollten Individuen nicht dazu gezwungen werden, ihre Zugehörigkeit zu einer politischen Gruppe beziehungsweise ihre politische Überzeugung aufzugeben, um einer Verfol-
236
Whitaker, Revised and Updated Report on the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/ 1985/6, para. 36. 237
Jescheck, Die Internationale Genocidium-Konvention vom 9. Dezember 1948 und die Lehre vom Völkerstrafrecht, ZStW 66 (1954), S. 193 (212). 238
Abrams, The Atrocities in Cambodia and Kosovo: Observations on the Codification of Genocide, New England Law Review 35 (2001), S. 303 (308 f.).
Geschützte Gruppen gemäß Art. II Genozidkonvention
139
gung zu entgehen. Denn der Ausdruck der politischen Überzeugung ist einer der Kernpunkte der fundamentalen Menschenrechte.239 Einige Länder haben die Notwendigkeit des Schutzes politischer Gruppen erkannt. So sind politische Gruppen in den Strafgesetzbüchern Äthiopiens,240 der Elfenbeinküste,241 Panamas,242 Costa Ricas243 und Polens244 ausdrücklich als Schutzobjekt der Konvention benannt. Ein großer Erfolg ist, dass der frühere Präsident Äthiopiens Mengistu Haile Mariam und Mitglieder seines Regimes jüngst durch äthiopische Gerichte auf der Grundlage von Art. 281 Äthiopisches Strafgesetzbuch wegen Genozids an einer politischen Gruppe verurteilt wurden.245
b) Soziale Gruppen Der Ausschluss der sozialen Gruppen aus dem Schutzbereich der Genozidkonvention ist ein weiteres Beispiel, das im Zusammenhang mit der Lückenhaftigkeit des Vertrages diskutiert wird. Während der Vorarbeiten zur Genozidkonvention wurde die Problematik der sozialen Gruppen nur am Rande erörtert. Es gab vereinzelte Vorschläge für ihre Einbeziehung, welche jedoch nicht durchdrangen.246 Bei den Vorarbeiten zum ICC-Statut wurden die Vorschläge zwar wieder aufgegriffen, die sozialen Gruppen letztlich aber nicht einbezogen.247
239
Van Schaak, The Crime of Political Genocide, YLJ 106 (1997), S. 2259 (2288). 240
Art. 281 Äthiopisches Strafgesetzbuch, <www.preventgenocide.org/law/ domestic/ethiopia.htm>. 241
Kouassi/Paulenz, Côte d’Ivoire, in: Eser/Sieber/Kreicker (Hrsg.), Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen, Band 4, 2005, S. 19 (28 f.). 242
Art. 311 Panamaisches Strafgesetzbuch, <www.preventgenocide.org/es/ derchos/codigos/panama.htm>. 243
Art. 127 Costaricanisches Strafgesetzbuch, <www.preventgenocide.org/ es/derechos/codigos/costarica.htm>. 244
Weigend, Polen, in: Eser/Kreicker (Hrsg.), Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen, Band 2, 2003, S. 77 (86 f.). 245
Ausführlich zu diesem Verfahren Kebede, The Mengistu Genocide Trial in Ethiopia, JICJ 5 (2007), S. 513 ff. 246
rd
ing. 247
th
th,
nd
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Vgl. etwa UN GAOR, 3 session, 6 Committee, 69 72 and 74 meetS.o. 1. Teil, IV. 3.
140
2. Teil
Festgestellt werden kann, dass die sozialen Gruppen schutzbedürftig sind. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ist in der Vergangenheit für unzählige Menschen zum Todesurteil geworden. Als Beispiel ist zuvorderst die stalinistische Liquidierung der so genannten Kulaken während der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft unter Stalin in den späten 20er und frühen 30er Jahren des 20. Jahrhunderts zu nennen. Stalins Ziel war es, die von ihm befürchteten zentrifugalen Tendenzen auf dem Land zu beseitigen.248 Die Kulaken sollten als eine dem Sozialismus und dem Proletariat feindlich gegenüberstehende Klasse zerstört werden. Als Kulak galt, wer zur Steuerklasse der Bauernwirtschaften mit individueller Besteuerung zählte.249 Im Januar/Februar 1930 konnte man die ursprünglich für einen Kulaken-Betrieb gültigen Kriterien nicht mehr anwenden, da die Betriebe der Kulaken während des Jahres 1929 durch immer höhere Steuerlasten stark verarmt waren. Weil die äußeren Zeichen des Reichtums fehlten, mussten die entscheidenden Kommissionen auf meist alte und unvollständige Steuerlisten, auf Informationen der politischen Polizei der Sowjetunion (GPU) oder auf die Denunzierung von Nachbarn zurückgreifen. In Wahrheit wurden nicht nur die Kulaken „aus dem Verkehr gezogen“, sondern lokale Vertreter der GPU nutzten die Gelegenheit, ihre Distrikte zugleich von anderen „in sozialer Hinsicht fremden Elementen“ zu „reinigen“. Zu diesen zählten Polizisten des alten Regimes, weiße Offiziere, Geistliche, Nonnen, Bauern mit Handwerksbetrieben,
248 249
Chalk/Jonassohn, The History and Sociology of Genocide, 1990, S. 291.
Dazu heißt es in Art. 28 des Gesetzes über die einheitliche Landwirtschaftsteuer vom 21. April 1928: „1. Die Festsetzung der Höhe des mit der einheitlichen Landwirtschaftssteuer zu belegenden Einkommens im individuellen Verfahren wird bei den besonderen Einzelbauernwirtschaften durchgeführt, die durch ihren nichtwerktätigen Charakter und die Höhe ihrer Einkünfte aus der Gesamtmasse der Bauernwirtschaften der betreffenden Gegend hervorstechen. Zu den Kennzeichen, die den nichtwerktätigen Charakter der Wirtschaften und das Vorliegen nicht vollständig erfassbarer Einkünfte festlegen, gehören allgemein Ankauf und Verkauf, Wucher, das Vorhandensein komplizierter landwirtschaftlicher Maschinen zu dem Zweck, aus ihrer Vermietung Gewinn zu erzielen, Führung der Landwirtschaft durch systematische Beschäftigung von Lohnarbeitern, das Vorhandensein eines gewerblichen Nebenbetriebs …“ Auszüge aus den Regeln des Volkskommissariats für Finanzen der UdSSR vom 28. April 1928, in: Merl (Hrsg.), Sowjetmacht und Bauern, 1993, S. 222.
Geschützte Gruppen gemäß Art. II Genozidkonvention
141
ehemalige Händler sowie Mitglieder der örtlichen Intelligenz.250 Die Kulaken wurden zwangsenteignet, Unzählige anschließend in den Norden des Landes oder den Gulag deportiert.251 Allein der Entkulakisierung sollen 6,5 Millionen Menschen zum Opfer gefallen sein.252 Ein weiteres Beispiel für einen Genozid an sozialen Gruppen sind die mit dem erstrebten sozialen Wandel in Kambodscha verbundenen Massaker durch die Khmer Rouge, die desgleichen verschiedene soziale Gruppen trafen. Nach ihrer Machtergreifung fingen die Khmer Rouge an, unter anderem all diejenigen umzubringen, die nicht in bestimmte soziale Kategorien passten. Diejenigen, die durch ihre Erziehung oder Klasse zum alten System als unheilbar verdorben angesehen wurden, wurden identifiziert und eliminiert.253 Die kambodschanische Nation sollte von solchen Elementen gereinigt werden, die weiterhin den Gedanken des Privateigentums propagierten. Insbesondere wurde das ganze Land nach gut ausgebildeten Menschen durchsucht, die eine westlich orientierte Vergangenheit hatten.254 Tatsächlich wurde jeder missliebigen Person vorgeworfen, ehemals Lehrer oder Student gewesen zu sein, und das war ihr Todesurteil.255 Von den Intellektuellen befürchteten die Khmer Rouge, sie könnten unter dem Einfluss fremder Elemente stehen oder potentielle Konterrevolutionäre sein.256 Schon das Tragen einer Brille reichte aus, um verdächtig zu sein, zur Klasse der Intellektuellen zu gehören.257 In den Augen der Khmer Rouge waren die Opfer nicht
250
Werth, Ein Staat gegen sein Volk: Gewalt, Unterdrückung und Terror in der Sowjetunion, in: Courtois u.a. (Hrsg.), Das Schwarzbuch des Kommunismus, 2000, S. 51 (165 ff.). 251
Legters, The Soviet Gulag: Is It Genocidal?, in: Charny (Hrsg.), Toward the Understanding and Prevention of Genocide, 1984, S. 60 (65). 252
Conquest, The Harvest of Sorrow, 1987, S. 306.
253
Chalk/Jonassohn, The History and Sociology of Genocide, 1990, S. 404.
254
Duffy, Toward A Culture of Human Rights in Cambodia, HRQ 16 (1994), S. 82 (88). 255
Ebenda, S. 88.
256
Abrams, The Atrocities in Cambodia and Kosovo: Observations on the Codification of Genocide, New England Law Review 35 (2001), S. 303 (305). 257
Schabas, Problems of International Codification – Were the Atrocities in Cambodia and Kosovo Genocide?, New England Law Review 35 (2001), S. 287 (290).
2. Teil
142
nur Feinde, sondern Untermenschen.258 Das Bestreben der kambodschanischen Regierung, soziale Kategorien in den Tatbestand für die Verfolgung der Khmer Rouge aufzunehmen, hatte keinen Erfolg. Die UN-Delegation lehnte diesen Vorstoß als zu weit von der Genozidkonvention abweichend und unter Hinweis auf das Verbot rückwirkender Gesetze ab.259 Die geschilderten Beispiele belegen, dass auch die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oftmals nicht freiwillig ist. Die Betroffenen hätten die jeweilige Gruppe nicht verlassen können, um auf diese Weise ihrer Verfolgung zu entgehen. So beruhte die Zugehörigkeit zur Gruppe der Kulaken grundsätzlich auf Fremdwahrnehmung, niemand trat ihr freiwillig bei.260 Denn letztlich waren es die Partei und ihre Aktivisten, die bestimmten, wer als Kulake eliminiert wurde. In ähnlicher Weise vollzog sich der soziale Zuschreibungsprozess bei den Säuberungsaktionen unter Pol Pot. Wie bereits bei der Diskussion der politischen Gruppen erläutert, wurde von einer einmal durch bestimmte Einflüsse verdorbenen Person angenommen, dass sie nicht mehr verändert werden konnte. Die einzige Lösung war, sie physisch zu eliminieren.261 Ein freiwilliger Wechsel der Gruppe war deshalb von vornherein ausgeschlossen. Die Situation während der Kulturrevolution in China war vergleichbar. Ehemalige Grundherren und ehemalige reiche Bauern wurden ebenso verfolgt wie die aktuellen Mitglieder dieser Gruppen. Darüber hinaus erstreckte sich die Verfolgung dieser Gruppen oftmals auf deren Kinder und Enkelkinder, die offensichtlich unfreiwillig Mitglieder der entsprechenden Gruppen geworden waren.262 Insofern hat Legters die zutreffende Auffassung vertreten, dass, wenn eine sozialistische Gesellschaft, deren vorrangige Form der Einordnung von Personen die der Klasse ist, eine real existierende (oder erfundene) Gruppe mit dem Ziel der Ausrottung angreift, dieses Vorgehen als Ge-
258
Hannum, International Law and Cambodian Genocide: The Sounds of Silence, HRQ 11 (1989), S. 82 (89). 259
Dazu Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 145 f.
260
Vest, Die bundesrätliche Botschaft zum Beitritt der Schweiz zur Völkermord-Konvention, ZStrR 1999, S. 351 (357). 261 262
Chalk/Jonassohn, The History and Sociology of Genocide, 1990, S. 404.
Fullerton, A Comparative Look at Refugee Status Based on Persecution Due to Membership in a Particular Social Group, Cornell International Law Journal 26 (1993), S. 505 (515).
Geschützte Gruppen gemäß Art. II Genozidkonvention
143
nozid anerkannt werden muss, damit der Terminus „Genozid“ nicht seine Relevanz verliert.263 Angemerkt sei, dass die Feststellung, dass niemand einer unterprivilegierten Gruppe freiwillig angehört, nicht nur für die soziale Zuschreibung kommunistischer Schreckensregime gilt. Sie gilt auch im Hinblick auf andere Gesellschaftsformen. Für gewöhnlich wird man in eine unterprivilegierte Gruppe hineingeboren und gehört ihr sein Leben lang an.264 Ein Kind kann die soziale Gruppe, der es angehört, nicht frei wählen. Es verbleibt im wirtschaftlichen Status seiner Eltern, bis es die Möglichkeit hat, seine wirtschaftliche Situation zu verändern.265 Es gibt noch immer Gesellschaftsformen, in denen der soziale Status per se unveränderlich ist. Zu diesen zählt etwa die in Indien vorherrschende Kastenordnung, in der der Hinduismus seinen soziostrukturellen Ausdruck findet. Genau in solchen Systemen ist die Gefahr besonders groß, dass eine bestimmte Gruppe stigmatisiert wird. In modernen demokratischen Gesellschaften ist die Gefahr der gewaltsamen Verfolgung sozialer Gruppen zwar nicht zu befürchten, ungeachtet dessen sei jedoch darauf hingewiesen, dass die Stabilität sozialer Rangabstufungen und Hierarchien sogar in diesen erstaunlich ist.266 Der durch den familiären Hintergrund bedingte soziale Status einer Person ändert sich in aller Regel kaum. Weitere Argumente für das Schutzbedürfnis sozialer Gruppen ergeben sich aus der Genfer Flüchtlingskonvention.267 Als Flüchtlinge gelten nach Art. 1 UN-Flüchtlingskonvention auch solche Personen, die wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe begründete Furcht vor einer Verfolgung haben. Ursprünglich war der Schutz sozialer Gruppen nicht in der Flüchtlingskonvention vorgesehen. Auf Vorschlag Schwedens wurden sie doch noch einbezogen. Der Vorschlag wurde damit begründet, dass in der Vergangenheit bestimmte Flüchtlinge wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe 263
Legters, The Soviet Gulag: Is It Genocidal?, in: Charny (Hrsg.), Toward the Understanding and Prevention of Genocide, 1984, S. 60 (65); für den Schutz von gesellschaftlichen Klassen und sozialen Gruppen ebenfalls Basler Kommentar-Wehrenberg, Art. 264, Rn. 22. 264
Shah, The Oversight of the Last Great International Institution of the Twentieth Century, Emory International Law Review 16 (2002), S. 351 (382 f.). 265
Ebenda, S. 383.
266
Vgl. Feldmann, Soziologie Kompakt, 2006, S. 98 ff.
267
BGBl. 1953 II, S. 560.
144
2. Teil
verfolgt worden waren.268 Davon abgesehen geben die vorbereitenden Arbeiten zur Flüchtlingskonvention keinen Aufschluss über den Grund für die Einbeziehung der sozialen Gruppen. Teilweise wird die Auffassung vertreten, dass in der später verfassten Flüchtlingskonvention deshalb mehr Gruppen geschützt werden als in der Genozidkonvention, weil Letztere von Beginn an als zu eng kritisiert wurde.269 Die beiden abweichenden Definitionen des Gruppenbegriffs in der Genozid- und der Flüchtlingskonvention haben das paradoxe Ergebnis zur Folge, dass die Menschen, die vor einem Genozid fliehen, Flüchtlinge im Sinne der Flüchtlingskonvention sind, während diejenigen, die vor demselben Genozid nicht fliehen können, nicht als Opfer anerkannt werden. Für das Schutzbedürfnis sozialer Gruppen spricht aktuell insbesondere, dass es guten Grund zu der Annahme gibt, dass die sich vergrößernde globale Kluft zwischen Armen und Reichen in eine Periode des Wettstreits um politische und wirtschaftliche Ressourcen einmünden wird.270 Damit geht die Gefahr einher, dass Konflikte zwischen sozialen Gruppen beziehungsweise Schichten angeheizt werden, welche zum Genozid eskalieren können. Bei dem Konflikt im Kongo im Sommer 2003 ging es beispielsweise nur vordergründig um die gesellschaftliche Vormacht mittels ethnischer Säuberungen. Tatsächlich ging es um unermessliche Bodenschätze. Nach der Einschätzung des Afrikaexperten Grill waren die vermeintlichen Stammeskriege nur die perversen Auswüchse eines Krieges, der zugleich ein politischer Machtkampf um die Hegemonie im Zentrum Afrikas und eine Verteilungsschlacht um die ökonomischen Ressourcen der Region war.271 Gleichermaßen war die Ursache der ethnischen Säuberungen in Darfur nur vordergründig die 268
Fullerton, A Comparative Look at Refugee Status Based on Persecution Due to Membership in a Particular Social Group, Cornell International Law Journal 26 (1993), S. 505 (508 f.). 269
Helton, Persecution on Account of Membership in a Social Group As a Basis for Refugee Status, Columbia Human Rights Law Review 15 (1983), S. 39 (42 f.). 270
Lippman, The Crime of the Century. The Jurisprudence of Death at the Dawn of the New Millenium, Houston JIL 23 (2001), S. 467 (532); vgl. hierzu auch Bittner, Die Klima-Kriege, Die Zeit 19 (2007), S. 3, nach dessen Einschätzung der Klimawandel die Konflitke um Rohstoffe, Ressourcen und Lebensraum weiter verschärfen wird. 271
Grill, Der Krieg im Kongo hat mindestens zwei Millionen Menschen das Leben gekostet. Ein Stammeskrieg? Nein – es geht um Rohstoffe, vor allem für den Westen, Die Zeit 23 (2003), S. 6.
Geschützte Gruppen gemäß Art. II Genozidkonvention
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Konkurrenz zwischen arabischen und afrikanischen Volksgruppen. Tatsächlich spielte auch hier der Kampf um die immer knapper werdenden Ressourcen der Region eine zentrale Rolle. Als Ergebnis ist dementsprechend festzuhalten, dass soziale Gruppen schutzbedürftig unter der Genozidkonvention sind. Im peruanischen,272 costaricanischen,273 slowenischen274 und estländischen Strafgesetzbuch275 sind die sozialen Gruppen bereits als Schutzobjekt der Genozidkonvention normiert.
c) Sonstige Gruppen Bleibt ein abschließender Hinweis auf sonstige schutzbedürftige Gruppierungen, welche nicht durch die Genozidkonvention erfasst sind. Dazu zählen etwa wegen ihrer mentalen oder physischen Konstitution oder aber wegen ihrer sexuellen Vorlieben stigmatisierte Menschen. Gefordert wird die Einbeziehung körperlich oder geistig Behinderter, Homosexueller und alter Menschen.276 Auch diese Gruppen sind dauerhaft und unveränderlich und die Mitgliedschaft in ihnen ist unfreiwillig. 272
Art. 319 Peruanisches Strafgesetzbuch, <www.preventgenocide.org/es/ derechos/codigos/peru.htm>. 273
Art. 127 Costaricanisches Strafgesetzbuch, <www.preventgenocide.org/ es/derechos/codigos/costarica.htm>. 274
Korosec, Slowenien, in: Eser/Sieber/Kreicker (Hrsg.), Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen, Band 3, 2004, S. 329 (338 f.). 275
§ 611 Estländisches Strafgesetzbuch, <www.preventgenocide.org/law/ domestic/estonia.htm>; dazu Parmas/Ploom, Estonia, in: Eser/Sieber/Kreicker (Hrsg.), Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen, Band 5, 2005, S. 89 (96 f.). 276
Lippman, The Drafting of the 1948 Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, Boston UILJ 3 (1985), S. 1 (62); Whitaker, Revised and Updated Report on the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/1985/6, para. 30; Vest, Genozid durch organisatorische Machtapparate, 2002, S. 130 f.; Verhoeven, Le crime de génocide, originalité et ambiguïté, RBDI 24 (1991), S. 5 (22); Shah, The Oversight of the Last Great International Institution of the Twentieth Century, Emory International Law Review 16 (2002), S. 351 (382 f.); Porter, Genocide is a New Word for an Old Crime, in: ders. (Hrsg.), The Sociology of the Holocaust and Genocide, 1999, S. 1 (6 f.); Basler KommentarWehrenberg, Art. 264, Rn. 22.
146
2. Teil
Ein historisches Beispiel für die Verfolgung Behinderter sind die Euthanasie-Morde unter den Nationalsozialisten in Deutschland. In den späten 30er Jahren und während des Zweiten Weltkrieges wurden Schwerbehinderte und chronisch Geisteskranke als nutzlose Esser und lebensunwertes Leben systematisch eliminiert. Schätzungen zufolge fielen diesen Euthanasie-Morden mehr als 200.000 Menschen zum Opfer. Die offiziell sanktionierte Kampagne begann im Jahr 1939. Sie wurde als Euthanasie bezeichnet, obwohl die meisten Opfer weder unheilbar krank waren noch unerträgliche Schmerzen erlitten, noch sterben wollten. Die Befürworter des Programms zogen verschiedene Argumente zu ihrer Rechtfertigung heran: Mitleid, Eugenik, wirtschaftliche Gründe sowie die Reinheit der Rasse. Die offizielle Kampagne wurde zwar aufgrund von Massenprotesten der Bevölkerung im Sommer 1941 gestoppt, dennoch fuhren viele Ärzte mit der Tötung der hilflosen Menschen fort. Die im Zuge der Euthanasie-Kampagne entwickelten Techniken des Massenmordes wurden später zur Vernichtung der Juden angewandt.277 Hingewiesen sei noch auf den estnischen Genozidtatbestand, der zusätzlich „a group resisting occupation“ erfasst,278 und den polnischen Genozidtatbestand, von dem unter anderem solche Gruppen geschützt werden, die eine bestimmte Weltanschauung vertreten.279
3. Ergebnis Aus der vorstehenden Untersuchung folgt, dass das Schutzobjekt des Art. II Genozidkonvention reformbedürftig ist. Der Reformbedarf ergibt sich einerseits daraus, dass die Formulierung des Schutzobjektes als nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe unklar ist, und andererseits daraus, dass bei weitem nicht alle schutzbedürftigen Gruppen durch Art. II Genozidkonvention erfasst werden.
277
Vgl. hierzu Gallagher, Holocaust: Disabled Peoples, in: Totten/Parsons/ Charny (Hrsg.), Century of Genocide, 2004, S. 205 ff. 278
Parmas/Ploom, Estonia, in: Eser/Sieber/Kreicker (Hrsg.), Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen, Band 5, 2005, S. 89 (96 f.). 279
Weigend, Polen, in: Eser/Kreicker (Hrsg.), Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen, Band 2, 2003, S. 77 (86 f.).
Geschützte Gruppen gemäß Art. II Genozidkonvention
147
III. Anknüpfungspunkte für Reformen Nunmehr stellt sich die Frage, wie das Schutzobjekt im Sinne von Art. II Genozidkonvention formuliert werden muss, um die aufgezeigten Probleme auszuräumen. Ziel ist es, den Gruppenbegriff so zu gestalten, dass denkbare zeitgenössische und zukünftige Erscheinungsformen von Genozid ohne fragwürdige juristische Konstruktionen erfasst werden können. Für die Zukunft soll sichergestellt werden, dass die Grenze zwischen Analogie und Auslegung auch bei der Verfolgung solcher Gruppen gewahrt bleibt, die nicht national, ethnisch, rassisch oder religiös sind. Die Frage, wie das Schutzobjekt des Genozidtatbestandes formuliert werden sollte, plagt das internationale Recht. In der Literatur gibt es seit der Verabschiedung der Konvention Stimmen, die eine Reform des Schutzobjektes fordern und die gerade in Anbetracht des wiederholten Auftretens von Genozid zunehmend lauter werden. Angesichts der komplexen Problematik überrascht es nicht, dass die das Schutzobjekt betreffenden Reformvorschläge sehr vielschichtig sind. Aus der Debatte um die Aktualität des Gruppenbegriffs ergeben sich verschiedene Anknüpfungspunkte für die Reform dieses Merkmals, die im Folgenden dargelegt und diskutiert werden.
1. Alternativen zum Merkmal der Gruppe Ein erster Ansatzpunkt für eine Reform des Schutzobjektes besteht darin, auf das Merkmal der Gruppe in Zukunft zu verzichten. Zu diskutieren ist dementsprechend, ob der Gruppenbegriff in einem reformierten Tatbestand für die Umschreibung des Schutzobjektes beibehalten werden sollte oder ob für die Begehung von Genozid die beabsichtigte Zerstörung jedweder Mehrzahl von Individuen ausreichend sein soll, selbst wenn diese keine Gruppe bilden. Charny tritt für eine allgemeine Definition des Genozids ein. Nach seiner Auffassung darf im Rahmen des Genozids kein Fall des Massenmordes von Menschen ausgeschlossen oder gleichgültig behandelt werden, unabhängig davon, welcher rassischen, nationalen, ethnischen, biologischen, kulturellen, religiösen oder politischen Gruppe die Opfer angehören, und sei es, dass sie überhaupt nicht Mitglieder einer homo-
2. Teil
148
genen Gruppe sind.280 Seine Hauptkritik an der aktuellen Legaldefinition des Art. II Genozidkonvention besteht darin, dass die menschliche Zivilisation einen Punkt in ihrer ethischen Evolution erreicht hat, in dem einerseits der Mord an einer einzelnen Person als abscheuliche Tat anerkannt wird und andererseits unter bestimmten Bedingungen die Tötung von Millionen von Menschen in eine definitorische Lücke fallen kann, wenn die Opfer einer heterogenen Gruppe angehören.281 Charnys allgemeine Definition erfasst als Genozid jede Massentötung einer substantiellen Anzahl von Personen unter der wesentlichen Bedingung der Schutz- und Hilflosigkeit der Opfer, soweit sie nicht im Verlauf militärischer Aktionen gegen die militärischen Kräfte eines erklärten Feindes begangen wird.282 Dem Ansatz von Charny kann nicht gefolgt werden. Es ist nicht sinnvoll, den Gruppenbegriff aus der Formulierung des Art. II Genozidkonvention auszuklammern, da der Genozidtatbestand durch die Absicht der Zerstörung einer Gruppe seine wesentliche Kennzeichnung erfährt. Eine „Gruppe“ ist eine durch gemeinsame Merkmale dauerhaft verbundene Mehrzahl von Menschen, die sich durch diese Merkmale von anderen Teilen der Bevölkerung unterscheidet.283 Die besondere Verwerflichkeit des Genozids liegt gerade darin, dass der Täter es sich zum Ziel setzt, eine Mehrheit von Personen auszurotten, die ein gemeinsames Charakteristikum hat, und sei es von ihm erdacht. Die gruppenkonstituierenden Merkmale bedingen die besondere Strafwürdigkeit des Genozids. Die Gemeinsamkeiten, aufgrund derer die Opfer von den Tätern im Falle der Verfolgung stigmatisiert werden, machen Gruppen besonders schutzwürdig. Mit anderen Worten: Gegenstand des Verbrechens ist nicht das Leben oder ein Individuum an sich, sondern das Individuum in seiner Eigenschaft als ein Mitglied einer Gruppe von Personen. Die Taten gegen die einzelnen Gruppenmitglieder sind lediglich das Mittel zur Erreichung des letztendlichen Zieles, die Gruppe zu zerstören.284
280
Charny, Toward a Generic Definition of Genocide, in: Andreopoulos (Hrsg.), Genocide: Conceptual and Historical Dimensions, 1994, S. 64 (74). 281
Ebenda, S. 71.
282
Ebenda, S. 75.
283
Robinson, The Genocide Convention, 1960, S. 63.
284
Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind, Report of the International Law Commission on the Work of its forty-eighth session,
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Das Merkmal der Gruppenmitgliedschaft muss auch in Zukunft beibehalten werden, da der besondere Strafgrund des Genozids bei der Zerstörung zufällig konstituierter Personenmehrheiten nicht erfüllt ist. Denn diese weisen abgesehen von der Opfereigenschaft in der Regel kein gemeinsames Merkmal auf. Mithin gingen der besondere Charakter und die besondere Strafwürdigkeit von Genozid verloren, wenn man auf das Merkmal der Gruppenzugehörigkeit verzichtete. Genau das ist aber nicht das Ziel einer Reform von Art. II Genozidkonvention. Vielmehr ist beabsichtigt, unter der Beibehaltung der grundsätzlichen Deliktsstruktur eine praxistaugliche Vorschrift zu entwerfen. In Anbetracht dieses Zieles ist es gerade bei einem so schwerwiegenden Vorwurf wie dem des Genozids erforderlich, konzeptionelle Klarheit zu bewahren und ihn nicht zu generalisieren. Alle Fälle von Massentötungen von Menschen gleichzustellen und zum Genozid zu erklären, ist nicht der richtige Weg. Denn die Gefahr, dass mit einer derartigen Generalisierung die schleichende Banalisierung des Verbrechens einhergehen könnte, ist nicht von der Hand zu weisen. Es trifft zwar zu, dass eine weniger eingeschränkte Fassung des Schutzobjektes erforderlich ist, die Anwendung des Genozidtatbestandes darf jedoch nicht uferlos werden. Um konzeptionelle Klarheit zu bewahren, muss die Vorschrift in gewissem Umfang beschränkt werden. Aus diesem Grund ist es erforderlich, am Gruppenbegriff als dem zentralen Merkmal der Norm festzuhalten. Darüber hinaus spricht die Entstehungsgeschichte des Art. II Genozidkonvention gegen den Verzicht auf den Gruppenbegriff. Der Gruppenbegriff zählte von Beginn an zu den zentralen Elementen der Norm, wenn er nicht sogar das zentralste Element war. Schon nach dem Konzept Lemkins sollten (nationale) Gruppen im Sinne einer Einheit das Schutzobjekt des Genozids sein.285 Auch in Res. 96 (I) war statuiert, dass der Genozid die Verneinung der Existenzberechtigung ganzer menschlicher Gruppen ist, wohingegen unter Mord die Verneinung des Rechts auf Leben einzelner Menschen verstanden wurde. Weiterhin hieß es in der Resolution, dass die Verneinung des Existenzrechts der Gruppen das Gewissen der Menschheit schockiere und ihr große Verluste in der Form der durch diese Gruppen repräsentierten kulturellen und anderen Beiträge zufüge. Sie stünde in Widerspruch zu den moralischen Gesetzen sowie dem Geist und den Zielen der Vereinten Natio-
6 May – 26 July 1996, UN Doc. A/51/10, Art. 17, para. (6). Ausführlich dazu s.u. 4. Teil, III. 285
Lemkin, Axis Rule in Occupied Europe, 1944, S. 79.
2. Teil
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nen.286 Obwohl während der Vorarbeiten zur Genozidkonvention umstritten war, welche Gruppen durch die Konvention geschützt werden sollten, herrschte doch Einigkeit darüber, dass Gruppen mit bestimmten gemeinsamen Merkmalen das Schutzobjekt der Genozidkonvention sein sollten. Die Schlussfolgerung Charnys, dass Unterscheidungen in der Bewertung die Exklusivität und hierarchische Überlegenheit einiger Opfergruppen bedingen und andere mit Gleichgültigkeit strafen, ist verfehlt. Zunächst einmal implizieren Unterscheidungen in der juristischen Kategorisierung bestimmter Verbrechen keine Bewertung der Opfer. Darüber hinaus ist die unterschiedliche Behandlung von Verbrechen und Ereignissen notwendig und sowohl wissenschaftlich als auch moralisch gerechtfertigt, um zu überzeugenden rechtlichen Bewertungen zu gelangen. Deshalb ist es erforderlich anzuerkennen, dass der Genozid die maximale Eskalation der Verletzung des Rechts auf Leben ist, aber nicht jede Verletzung des Rechts auf Leben zum Genozid führt.287 Schließlich ist der Verzicht auf das Merkmal der Gruppe auch aus dem Aspekt der Praktikabilität nicht erforderlich. Da die Anforderungen an die gruppenkonstituierenden Merkmale nicht hoch sind, stellt der Gruppenbegriff kein unüberwindliches Hindernis bei der Anwendung der Norm dar. Für den Bestand einer Gruppe reicht es aus, wenn sich eine Personenmehrheit in ihrer Gesamtheit durch gemeinsame Merkmale von der übrigen Bevölkerung abhebt. Nicht erforderlich ist, dass die Gruppe von Seiten des Staates oder anderen Bevölkerungskreisen anerkannt wird oder auch nur räumlich vereint ist.288
2. Schutz von Mehrheiten Fraglich ist außerdem, ob der Genozidtatbestand zukünftig auf den Schutz von Minderheiten beschränkt werden sollte oder ob Mehrheiten weiterhin in den Schutzbereich einzubeziehen sind.
286
Zu Res. 96 (I) s.o. 1. Teil, I. 6.
287
Fein, Genocide, Terror, Life Integrity and War Crimes: The Case for Discrimination, in: Andreopoulos (Hrsg.), Genocide: Conceptual and Historical Dimensions, 1994, S. 95 (100 f.). 288
LK-Jähnke, § 220 a, Rn. 9.
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Nach Ansicht der überwiegenden Mehrheit der Autoren sind Mehrheiten ebenso wie Minderheiten durch die Konvention erfasst.289 Dieser Auffassung ist zuzustimmen. Sie entspricht dem Wortlaut von Art. II Genozidkonvention, nach dem durch den Gruppenbegriff Mehrheiten ebenso geschützt werden wie Minderheiten. Wie dargestellt ist eine Gruppe im Sinne der Genozidkonvention eine durch gemeinsame Merkmale dauerhaft verbundene Mehrzahl von Menschen, die sich durch diese gemeinsamen Merkmale von anderen Teilen der Bevölkerung unterscheiden. Da die genaue Festlegung des Minderheitenbegriffs mangels einer international anerkannten Definition problematisch ist, wird im Allgemeinen die von Caportorti im Jahr 1979 entwickelte Definition als Leitlinie verwandt. Nach dieser Definition ist eine Minderheit eine dem Rest der Bevölkerung zahlenmäßig unterlegene Gruppe, die keine beherrschende Position inne hat und deren Mitglieder zwar im rechtlichen Sinne Staatsangehörige sind, jedoch ethnische, religiöse oder sprachliche Merkmale aufweisen, die sie vom Rest der Bevölkerung unterscheiden, und die – wenn auch nur implizit – einen Sinn von Solidarität demonstrieren, der darauf gerichtet ist, ihre Kultur, Traditionen, Religion oder Sprache zu bewahren.290 Eine Analyse der Definitionen für den Begriff der Gruppe und für den der Minderheiten ergibt, dass keine begriffliche Identität zwischen beiden Termini besteht. Ex contrario folgt daraus, dass Mehrheiten ebenso wie Minderheiten durch den Gruppenbegriff erfasst werden. Die Feststellung, dass der Begriff der Gruppe im Sinne der Genozidkonvention nicht synonym zu dem der Minderheiten ist, wird durch die vorbereitenden Arbeiten zur Genozidkonvention bestätigt. Zwar war die Verfolgung der Juden, mithin einer Minderheit, der Anlass für 289
Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 108; Whitaker, Revised and Updated Report on the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/1985/6, para. 30; Ratner/Abrams, Accountability for Human Rights Atrocities in International Law, 2001, S. 35; LK-Jähnke, § 220 a StGB, Rn. 9; Basler Kommentar-Wehrenberg, Art. 264, Rn. 16; Stillschweig, Das Abkommen zur Bekämpfung von Genocide, FW 1949, S. 93 (96). 290
Capotorti, Study on the Rights of Persons belonging to Ethnic, Religious and Linguistic Minorities, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/384/Rev.1, 1979, para. 568: „A group numerically inferior to the rest of the population of a State in a nondominant position, whose members – being national of the State – possess ethnic, religious or linguistic characteristics differing from those of the rest of the population and show, if only implicitly, a sense of solidarity, directed towards preserving their culture, traditions, religion or language.“
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die Erarbeitung der Konvention. Außerdem stellten die Minderheitenschutzverträge aus der Folgezeit des Ersten Weltkrieges wichtige rechtliche Vorläufer der Konvention dar. Der Begriff der „Minderheit“ war jedoch bereits bei Erlass der Konvention ein geläufiger Begriff in der internationalen Rechtssprache, sodass davon auszugehen ist, dass die Vertragsparteien den Minderheitenbegriff absichtlich nicht in den Vertragstext aufgenommen haben.291 Darüber hinaus ergibt sich aus den vorbereitenden Arbeiten, dass der kulturelle Genozid unter anderem deshalb nicht in die Konvention aufgenommen wurde, weil er mit dem Schutz der Minderheitenrechte gleichgesetzt wurde, welcher nach Ansicht der betreffenden Delegierten in den Zuständigkeitsbereich der UN-Kommission zum Minderheitenschutz gehörte.292 Die Genozidkonvention hatte folglich gerade nicht den spezifischen Minderheitenschutz zum Ziel.293 Das Schutzbedürfnis von Mehrheiten ergibt sich ferner aus teleologischen Gründen, da ein Genozid an einer Mehrheit ebenso denkbar ist, wie der an einer Minderheit. Minderheiten können ebenso wie Mehrheiten die militärische oder politische Kontrolle über eine andere Gruppe oder einen Staat innehaben. Im Falle dessen ist kein Grund dafür ersichtlich, warum die erstrebte Ausrottung einer Mehrheit weniger strafwürdig sein sollte als die einer Minderheit.294 Das Szenario der Viktimisierung einer Mehrheit durch eine Minderheit ist kein hypothetisches Konstrukt. Ein Beispiel hierfür ist die Verfolgung der Hutu durch die Tutsi in Burundi.295 Im Jahr 1972 tötete die durch die Tutsi kontrollierte burundische Regierung zwischen 100.000 und 200.000 Mitglieder der Bevölkerungsmehrheit der Hutu, welche vor den Übergriffen 85% der Gesamtbevölkerung ausgemacht hatte. Ausgelöst wurden die Gewaltaktionen durch die Tötung von Tutsi seitens der Hutu-Rebellen, die den Sturz der Regierung anstrebten. Die 291
Hannum, International Law and Cambodian Genocide: The Sounds of Silence, HRQ 11 (1989), S. 82 (105). 292
rd
th
rd
UN GAOR, 3 session, 6 Committee, 83 meeting; zum kulturellen Genozid s.u. 3. Teil, II. 1. 293
Hannum, International Law and Cambodian Genocide: The Sounds of Silence, HRQ 11 (1989), S. 82 (106 f.). 294 295
Ebenda, S. 105 f.
Zu diesem Konflikt vgl. Lemarchand, Burundi: The Politics of Ethnic Amnesia, in: Fein (Hrsg.), Genocide Watch, 1992, S. 70 ff.; Chalk/Jonassohn, The History and Sociology of Genocide, 1990, S. 384 ff.
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Regierung wollte ihrerseits den eigenen Machterhalt sichern, indem sie alle potentiellen Führer der Hutu eliminierte. Zu diesem Zweck sollten alle für die Regierung tätigen Hutu getötet werden und alle, die über ausreichenden Reichtum für eine potentielle Führerschaft verfügten. Schließlich trafen die Gewaltaktionen alle gebildeten Hutu, sodass fast alle Hutu-Universitätsstudenten, viele Hutu, die auf weiterführende Schulen gingen, und etwa die Hälfte der Hutu-Lehrer getötet wurden. Aus den genannten Gründen sollte der Schutzbereich der Genozidkonvention auch in Zukunft nicht auf den Schutz von Minderheiten beschränkt werden.
3. Abstrakte oder enumerative Formulierung Fraglich ist, ob die bestehenden Probleme durch die Aufnahme weiterer konkret bezeichneter Gruppen gelöst werden sollten oder aber ob das Schutzobjekt durch eine abstrakte/generelle Formulierung ersetzt oder zumindest ergänzt werden sollte. Die Möglichkeit der abstrakten Formulierung des Schutzobjektes wurde bereits während der Vorarbeiten zur Konvention kontrovers diskutiert. Seinerzeit entschied man sich gegen die abstrakte Formulierung, weil es sich beim Genozidtatbestand um ein neues Konzept handelte und befürchtet wurde, dass eine generelle Definition Verwirrung stiften könnte. Die Möglichkeit einer abstrakten Definition verschob man auf einen späteren Zeitpunkt, zu dem der Genozidtatbestand verbreitet und allgemein anerkannt sein würde.296 Einige Autoren sprechen sich noch immer dafür aus, die enumerative Ausgestaltung des Schutzobjektes beizubehalten und schlagen vor, die Lücken durch die Aufnahme weiterer konkret bezeichneter Gruppen in den bestehenden Katalog zu schließen.297 In erster Linie beziehen sich
296
Vgl. zu den Diskussionen die Darstellung bei Ruhashyankiko, Study of the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/416, 1978, para. 43 ff. 297
Whitaker, Revised and Updated Report on the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/ 1985/6, para. 34 ff., wobei der Autor, falls kein diesbezüglicher Konsens erreicht werden kann, vorschlägt, den Schutz mittels eines freiwilligen Zusatzprotokolls zu gewährleisten; Legters, The Soviet Gulag: Is It Genocidal?, in: Charny (Hrsg.), Toward the Understanding and Prevention of Genocide, 1984, S. 60
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diese Vorschläge auf die Einbeziehung der politischen und sozialen Gruppen, deren Auslassung als unlogisch und mit der erhabenen Aufgabe der Konvention unvereinbar beurteilt wird.298 Wie erwähnt wurde diese Forderung auch während der Vorarbeiten zum ICC-Statut erhoben. Die große Mehrheit der Autoren tritt mittlerweile allerdings für eine – zumindest teilweise – abstrakte Ausgestaltung des Gruppenbegriffs ein.299 Dem ist zuzustimmen. Das Modell der ausschließlich konkreten Auflistung einzelner Schutzgruppen ist überholt, da mit einer solchen Auflistung der im Hinblick auf den Gruppenbegriff bestehende Reformbedarf nicht ausgeräumt werden kann. So würde die Problematik der Unklarheit des Gruppenbegriffs durch die Ergänzung des Art. II Genozidkonvention um weitere konkret bezeichnete Gruppen nicht gelöst, sondern potenziert, da jede Kategorisierung menschlicher Gruppen zu einem wesentlichen Teil auf soziologischen Konstrukten beruht. Folglich sind alle denkbaren Kategorien von Schutzgruppen a priori unpräzise und einer klar umgrenzten Definition unzugänglich. Die politischen und die sozialen Gruppen sind hierfür anschauliche Beispiele.
(64 f.); Hübner, Das Verbrechen des Völkermordes im internationalen und nationalen Recht, 2004, S. 118 ff. 298
Zum Schutzbedürfnis politischer und sozialer Gruppen s.o. 2. Teil, II. 2. a) und b). 299
Vest, Die bundesrätliche Botschaft zum Beitritt der Schweiz zur Völkermord-Konvention, ZStrR 1999, S. 351 (357 ff.); Selbmann, Der Tatbestand des Genozids im Völkerstrafrecht, 2002, S. 188; Simon, Defining Genocide, Wisconsin International Law Journal 15 (1996-97), S. 243 ff.; Shah, The Oversight of the Last Great International Institution of the Twentieth Century, Emory International Law Review 16 (2002), S. 351 (381 ff.); Lippman, The Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide: Fifty Years Later, Arizona JICL 15 (1998), S. 415 (464); ders. The Drafting of the 1948 Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, Boston UILJ 3 (1985), S. 1 (62); Chalk, Redefining Genocide, in: Andreopoulos (Hrsg.), Genocide: Conceptual and Historical Dimensions, 1994, S. 47 (52); Fein, Genocide, Life Integrity and War Crimes: The Case for Discrimination, in: Andreopoulos (Hrsg.), Genocide: Conceptual and Historical Dimensions, 1994, S. 95 (97); Chalk/Jonassohn, The History and Sociology of Genocide, 1990, S. 23 ff.; Abrams, The Atrocities in Cambodia and Kosovo: Observations on the Codification of Genocide, New England Law Review 35 (2001), S. 303 (308 f.); oder auch schon Drost, The Crime of State, Book II: Genocide, 1959, S. 122 ff.; zustimmend Ternon, Der verbrecherische Staat, 1996, S. 40.
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Im Hinblick auf die politischen Gruppen sei zunächst angemerkt, dass schon der Begriff der Politik nicht mittels klarer Abgrenzungskriterien umschrieben werden kann. Unter Politik versteht man gemeinhin ein besonders im staatlichen Bereich auf die Durchsetzung bestimmter Ziele und auf die Gestaltung des öffentlichen Lebens gerichtetes Handeln von Regierungen, Parlamenten, Parteien, Organisationen und Ähnlichem.300 Dementsprechend lässt sich nicht genau festlegen, worauf das Engagement einer Gruppe gerichtet sein und welchen Umfang es haben muss, damit sie eine politische Gruppe im Sinne der Konvention ist. Während der Vorarbeiten wurde die Auffassung vertreten, dass politische Parteien ein anschauliches Beispiel für politische Gruppen sind. Obwohl das zutrifft, sind sie eben doch nicht mehr als ein Beispiel.301 Ausschließlich politische Parteien als politische Gruppen anzuerkennen, würde die Reichweite der politischen Gruppen zu stark begrenzen, da es auch außerhalb des Parteienspektrums viele Gruppierungen gibt, die politische Ziele verfolgen. Hierzu zählen beispielsweise Nichtregierungsorganisationen, welche sich für die verschiedensten politischen Zwecke einsetzen, wie amnesty international, Greenpeace oder auch Attac. Diese Gruppen sind bereits deshalb mindestens ebenso schutzbedürftig wie die klassischen politischen Parteien, weil sie oftmals keine staatliche Lobby haben und als Kritiker des staatlichen Handelns auftreten. In dieser Funktion nehmen sie weltweit, vor allem auch in Entwicklungsländern, eine zunehmend wichtige Stellung ein. Aufgrund der Tatsache, dass der Umfang ihrer Mitgliederzahl ebenso unterschiedlich sein kann wie Umfang und Zielrichtung ihrer Aktivitäten, sind die politischen Gruppierungen außerhalb des Parteienspektrums einer allgemeingültigen Definition ebenfalls unzugänglich. Insgesamt ist deshalb der Meinung beizupflichten, nach der es im Hinblick auf den Sinn und Zweck der Konvention unmöglich ist, eine akzeptable Definition für die politischen Gruppen zu entwickeln.302 Die Terminologie der sozialen Gruppen entzieht sich gleichermaßen einer allgemeingültigen Definition. Im Rahmen der Diskussionen um die 300
Duden, Fremdwörterbuch, 2007.
301
LeBlanc, The United Nations Genocide Convention and Political Groups, 13 YJIL (1988), S. 268 (292). 302
Ebenda, S. 293; a.A. Adarkar, der politische Gruppen auf der Grundlage ihres „i) criticism of; ii) interference with; iii) refusal to participate in; [or] iv) refusal to co-operate with, the political activities, or the realization of the political aims, of a persecutor“ definiert, zitiert bei van Schaak, The Crime of Political Genocide, YLJ 106 (1997), S. 2259 (2283 f.), Fn. 149.
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UN-Flüchtlingskonvention wurde vertreten, dass eine Definition der sozialen Gruppen unmöglich ist. Sie seien jedoch durch gemeinsame Interessen oder Werte oder einen gemeinsamen Hintergrund gekennzeichnet: „In determining whether a particular group of people constitutes a ‘social group’ within the meaning of the Convention, attention should be therefore given to the presence of linking and uniting factors such as ethnic, cultural, and linguistic origin; education; family background; economic activity; shared values, outlook, and aspirations. Also highly relevant are the attitude to the putative social group of other groups in the same society and, in particular, the treatment accorded to it by the State authorities.“ Dergestalt sei der Begriff der sozialen Gruppen in gewisser Weise unbeschränkt und könne zugunsten einer Vielfalt von Gruppen erweitert werden, die anfällig für Verfolgungen sind.303 An anderer Stelle hieß es in ähnlicher Weise, dass das Konzept der sozialen Gruppen weiter ist als das der Rasse, Religion oder des ethnischen Hintergrundes – obwohl es die genannten Kategorien umfassen könne. Das Konzept der sozialen Gruppen sei in die Flüchtlingskonvention aufgenommen worden, um Verfolgungen aus unvorhersehbaren Gründen erfassen zu können.304 Im Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, herausgegeben vom Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Verfolgungen vielschichtige Gründe haben können. Die Verfolgung aufgrund der Mitgliedschaft in einer sozialen Gruppe überschneide sich häufig mit der Verfolgung aus anderen Gründen, wie Rasse, Nationalität, Religion oder politische Einstellung.305 Im Rahmen der Diskussion der Genozidkonvention werden die sozialen Gruppen im Gegensatz zu
303
Goodwin-Gill, The Refugee in International Law, 1996, S. 47.
304
Zu den Diskussionen ausführlich Fullerton, A Comparative Look at Refugee Status Based on Persecution Due to Membership in a Particular Social Group, Cornell International Law Journal 26 (1993), S. 505 ff. 305
Office of the UN High Commissioner for Refugees, Handbook on Procedures and Criteria for Determining Refugee Status Under the 1951 Convention and 1967 Protocol Relating to the Status of Refugees, UN Doc. HCR/ PRO/4 (1979), para. 77, zitiert bei Fullerton, A Comparative Look at Refugee Status Based on Persecution Due to Membership in a Particular Social Group, Cornell International Law Journal 26 (1993), S. 505 (518 f.).
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diesen sehr weiten Definitionen oftmals als Äquivalent zu den sozialen Schichten verstanden.306 Derartige Abgrenzungsschwierigkeiten würden durch die Ersetzung oder Ergänzung der nationalen, ethnischen, rassischen und religiösen Gruppen durch eine Generalklausel ausgeräumt und auf diese Weise zugleich größerer Rechtssicherheit Vorschub geleistet. Des Weiteren kann durch eine (zumindest zusätzliche) abstrakte Fassung des Gruppenbegriffs das Problem der Lückenhaftigkeit der Konvention einer Lösung zugeführt werden. Die Ergänzung der vier Schutzgruppen um weitere konkret bezeichnete Gruppen ist hingegen unzureichend, um die bestehenden Lücken zu schließen. Diese Einschätzung beruht auf der Tatsache, dass jede abschließende Auflistung der Opfergruppen von vornherein dazu verdammt ist, lückenhaft zu sein, und sei sie noch so detailliert. Schließlich können nicht alle denkbaren Erscheinungsformen des Genozids antizipiert werden. Drost stellte in diesem Sinne bereits im Jahr 1959 fest, dass eine Genozidkonvention nicht wirksam zum Schutz bestimmter Minderheiten beitragen kann, wenn sie auf speziell definierte Gruppen beschränkt ist. Er hält es für falsch, den Schutz des Völkerstrafrechts auf ein paar Gruppen zu beschränken, da die Mitglieder einer geschützten Gruppe in den allermeisten Fällen zugleich einer Gruppe angehören werden, die nicht in den Schutzbereich der Konvention fällt.307 Problematisch ist, dass sich nicht vorhersehen lässt, nach welchen Kriterien die Täter ihre Opfer auswählen. Dies rührt daher, dass der Genozid für den außen stehenden Beobachter irrational ist, insbesondere dann, wenn er im Dienste einer Ideologie begangen wird.308 Dabei ist die Auswahl der Opfergruppen ebenso unberechenbar wie das Phänomen des Genozids selbst. Die Absurdität von Ideologien zeigt sich beispielsweise an der Verfolgung verschiedenster Gruppen durch die Nati306
Vest, Die bundesrätliche Botschaft zum Beitritt der Schweiz zur Völkermord-Konvention, ZStrR 1999, S. 351 (357); ders., Humanitätsverbrechen – Herausforderung für das Individualstrafrecht?, ZStW 113 (2001), S. 457 (479); Shah, The Oversight of the Last Great International Institution of the Twentieth Century, Emory International Law Review 16 (2002), S. 351 (382 f.); Selbmann, Der Tatbestand des Genozids im Völkerstrafrecht, 2002, S. 177; vgl. rd th auch schon die Vorarbeiten zur Genozidkonvention UN GAOR, 3 session, 6 th nd th Committee, 69 , 72 and 74 meeting. 307 308
Drost, The Crime of State, Book II: Genocide, 1959, S. 122 ff.
Vgl. hierzu Harff, Recognizing Genocides and Politicides, in: Fein (Hrsg.), Genocide Watch, 1992, S. 27 (37).
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onalsozialisten. Bekanntermaßen verfolgten die Nationalsozialisten mit dem Ziel der Schaffung einer rein arischen Rasse nicht nur die Juden, sondern auch Sinti und Roma, körperlich und geistig Behinderte, Alte, Homosexuelle und politische Gegner. Ein weiteres nicht minder absurdes Beispiel ist die Vernichtung unterschiedlichster Gruppen durch die Khmer Rouge, um ihre Illusion einer unabhängigen Bauern-Gesellschaft Wirklichkeit werden zu lassen. Der umfassende Vernichtungsfeldzug unter Stalin, dem die verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen zum Opfer fielen, passt ebenfalls in dieses Schema. In all diesen Fällen wählten die Täter ihre Opfer auf nicht kalkulierbare Art und Weise aus, um ihre jeweilige Utopie einer perfekten Gesellschaftsform in die Realität umzusetzen. Sowohl im Nationalsozialismus als auch im Kommunismus waren nicht so sehr Einzelpersonen das Ziel der Aktivitäten, sondern Gruppen.309 In keinem der Fälle wurde der Genozid geschweige denn die konkreten Opfergruppen im Voraus antizipiert. Auch gegenwärtig lässt sich nicht vorhersehen, welche Gruppen die Täter der Zukunft verfolgen werden. Zu dem Umstand, dass der Genozid an sich irrational ist, kommt erschwerend hinzu, dass jeder Genozid eine unvermeidbare zeitgenössische Dimension hat. Aufgrund dessen wäre es verfehlt, sich bei der Neuformulierung der Norm wieder zu stark an den in der Vergangenheit liegenden Beispielen von Genozid zu orientieren und auf diese Weise frühere Fehler zu wiederholen. Hat sich doch gezeigt, dass die Schwierigkeiten bei der Anwendung des Art. II Genozidkonvention zum Großteil darin begründet sind, dass man sich bei der Formulierung der Norm zu stark an der Judenvernichtung durch die Nationalsozialisten orientierte. Wahrscheinlich würde die Anwendung eines an den Konflikten im ehemaligen Jugoslawien, in Ruanda oder auch Kambodscha orientierten Tatbestandes bei der Verfolgung zukünftiger Konflikte ähnliche Probleme mit sich bringen. Solche Abweichungen zwischen Norm und Wirklichkeit erhöhen die Gefahr, dass die Täter straflos ausgehen oder die Grenze zwischen Auslegung und Analogie überschritten wird, um die Straflosigkeit der Täter zu verhindern. Diese Gefahr ist gerade bei der konkreten Aufzählung der Schutzgruppen besonders hoch, weil der Tatbestand weniger an zukünftige Entwicklungen angepasst werden kann. 309
Courtois, Die Verbrechen des Kommunismus, in: ders. u.a. (Hrsg.), Das Schwarzbuch des Kommunismus, 2000, S. 11 (28 f.). Wobei hier die nationalsozialistischen Gräueltaten, die in ihrer Grausamkeit unvergleichbar sind, durch die Gegenüberstellung zu den kommunistischen Schreckensregimen keineswegs gemildert werden sollen.
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Der Vorzug einer (zumindest auch) abstrakten Definition des Schutzobjektes liegt darin, dass mit einer abstrakten und zugleich analytisch strengen Definition konzeptionelle Überdehnungen des Begriffs von vornherein vermieden werden.310 Ferner würden die mit jeder abschließenden Aufzählung notwendigerweise verbundenen Lücken minimiert und damit einhergehend die Gefahr der Straflosigkeit der Täter. Die Notwendigkeit einer abstrakten Definition des Schutzobjektes hat sich mittlerweile auch in einer Reihe von Mitgliedstaaten der Genozidkonvention durchgesetzt. So ist im kanadischen Genozidtatbestand das Schutzobjekt abstrakt formuliert: „[…] an identifiable group of persons …“.311 Im französischen, rumänischen, finnischen und weißrussischen Genozidtatbestand wird der Katalog der Schutzgruppen um ein abstrakt formuliertes Schutzobjekt ergänzt. Art. 211-1 Französisches Strafgesetzbuch lautet: „[…] d’un groupe national, ethnique, racial ou religieux, ou d’un groupe déterminé à partir de tout autre critère arbitraire …“.312 In diese Richtung geht auch Art. 356 Rumänisches Strafgesetz mit der Formulierung „[…] a collectivity or a national, ethnic, racial, or religious group …“.313 Das Finnische Strafgesetz erfasst neben den vier Schutzgruppen „[…] eine diesen gleichzustellende Volksgruppe“314 und das Weißrussische „[…] eine[r] Gruppe, die unter Anlegung eines anderen Kriteriums ausgesondert wird“.315
310
Vgl. Andreopoulos, The Calculus of Genocide, in: ders. (Hrsg.), Genocide: Conceptual and Historical Dimensions, 1994, S. 1 (3 f.). 311
Gut/Wolpert, Canada, in: Eser/Sieber/Kreicker (Hrsg.), Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen, Band 5, 2005, S. 19 (26 f.). 312
<www.preventgenocide.org/fr/droit/codes/france.htm>; dazu Lelieur-Fischer, Frankreich, in: Eser/Sieber/Kreicker (Hrsg.), Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen, Band 4, 2005, S. 225 (251 ff.). 313
<www.preventgenocide.org/law/domestic/romania.htm>.
314
Frände, Finnland, in: Eser/Kreicker (Hrsg.), Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen, Band 2, 2003, S. 21 (26 f.). 315
Lammich, Russland und Weißrussland, in: Eser/Sieber/Kreicker (Hrsg.), Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen, Band 6, 2005, S. 351 (358 ff.).
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4. Berücksichtigung der Definitionsmacht des Täters In engem Zusammenhang mit der soeben diskutierten Problematik steht die Frage nach der Definitionsmacht des Täters.316 Zu prüfen ist diesbezüglich, ob die Fassung des Schutzobjektes für eine Definition aus Tätersicht geöffnet werden sollte. Anders formuliert: Fraglich ist, ob die Gruppe anhand objektiver, real existierender Kriterien von anderen Gruppen unterscheidbar sein muss (objektiver Ansatz) oder ob es für die Opfereigenschaft ausreicht, dass die Gruppe – insbesondere vom Täter – als eigenständige Gruppe wahrgenommen wird (subjektiver Ansatz). Die Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale ist in ihrer grundsätzlichen Tendenz einheitlich. Lediglich im Urteil gegen Akayesu wurden die vier Schutzgruppen aufgrund rein objektiver Kriterien definiert. In der Folgerechtsprechung erhielt die subjektive Identifikation der Opfergruppe einen zusehends größeren Stellenwert und wurde teilweise für allein entscheidend gehalten. In der Literatur sind die Meinungen kontrovers. Der rein objektive Ansatz wird ebenso vertreten wie der rein subjektive oder eine Kombination aus subjektiven und objektiven Kriterien. Befürworter des rein objektiven Ansatzes finden sich unter anderem in der deutschen Literatur.317 Eine weitere Vertreterin ist Fein, die sich dagegen ausspricht, Gemeinschaften einzubeziehen, welche auf der paranoiden Vorstellung eines Despoten beruhen.318 Sie möchte alle nicht gewalttätigen Gemeinschaften erfasst wissen, die entweder bereits Opfer geworden sind oder Opfer werden können.319 Schabas ist Anhänger der gemischt objektivsubjektiven Interpretation. Er räumt ein, dass für die Bestimmung der Bedeutung der Gruppen im Sinne der Konvention ein gewisses Maß an Subjektivität erforderlich ist, da die Eigenschaft eines Opfers als Mitglied einer der Schutzgruppen durch den Täter festgelegt werde. Den
316
Die Begrifflichkeit „Definitionsmacht des Täters“ wurde eingeführt von Vest, Genozid durch organisatorische Machtapparate, 2002, S. 131 ff. 317
LK-Jähnke, § 220 a, Rn. 9; wobei eingeräumt wird, dass die Anforderungen an die die Gruppe objektiv konstituierenden Merkmale nicht allzu hoch angesetzt werden dürfen. 318
Fein, Genocide, Terror, Life Integrity and War Crimes: The Case for Discrimination, in: Andreopoulos (Hrsg.), Genocide: Conceptual and Historical Dimensions, 1994, S. 95 (99). 319
Ebenda, S. 97.
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rein subjektiven Ansatz lehnt er dennoch ab. Seine Schwäche liege darin, dass danach ein Genozid gegen eine Gruppe begangen werden könne, die real überhaupt nicht existiert. Ebenso wenig wie im normalen Strafrecht könne es beim Genozid zulässig sein, dass das Verbrechen durch den Täter allein definiert werde, sondern die Gruppen müssten in gewissem Maße objektiv existent sein.320 Kreß ist ein weiterer Befürworter des objektiv-subjektiven Ansatzes, wenn auch in eingeschränkter Form. Seiner Ansicht nach kann die Bestimmung der geschützten Gruppen im Kern nur nach objektiven Kriterien und nicht aus der Perspektive des Täters erfolgen, da andernfalls aus § 6 VStGB ein unspezifisches Gruppendiskriminierungsdelikt entstünde.321 Allerdings sei es zulässig in bestimmten Fällen von Trennunschärfen – nicht jedoch beim Staatsvolk als nationaler Gruppe oder bei den religiösen Gruppen – die Bestimmung des Gruppenrands durch den Täter zu berücksichtigen.322 Der objektive und der gemischt objektiv-subjektive Ansatz, welche die tatsächliche Existenz der Opfergruppe ausschließlich oder ergänzend zur notwendigen Tatbestandsvoraussetzung machen, überzeugen aus unterschiedlichen Gründen nicht. Zuzustimmen ist den Vertretern, die den Tatbestand für eine subjektive Identifikation der Gruppe durch den Täter öffnen wollen. Der rein objektive Ansatz ist abzulehnen, weil er die Realität des Genozids verkennt und die Schwelle für die Anwendung des Tatbestandes unzulässig erhöht. Generalisierend kann man sagen, dass beim Genozid für den Prozess der Viktimisierung stets die Definitionsmacht des Täters ausschlaggebend ist.323 Bei einer rein objektiven Festlegung der 320
Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 109 f.; ders., Groups Protected by the Genocide Convention, ILSA Journal of International and Comparative Law 6 (2000), S. 375 (383 ff.); weniger eindeutig ders., Darfur and the “Odios Scourge”, LJIL 18 (2005), S.871 (879), wo die Befürwortung des subjektiven Ansatzes anklingt; ebenfalls für die subjektiv-objektive Interpretation Lüders, Die Strafbarkeit von Völkermord nach dem Römischen Statut für den Internationalen Strafgerichtshof, 2004, S. 60 ff.; Akhavan, The Crime of Genocide in the ICTR Jurisprudence, JICJ 3 (2005), S. 989 (1002). 321
MK-StGB-Kreß, § 220 a/§ 6 VStGB, Rn. 33; ebenfalls kritisch zum subjektiven Ansatz ders., The Crime of Genocide under International Law, International Criminal Law Review 6 (2006), S. 461 (474). 322 323
MK-StGB-Kreß, § 220 a/§ 6 VStGB, Rn. 46.
So Vest, Die bundesrätliche Botschaft zum Beitritt der Schweiz zur Völkermord-Konvention, ZStrR 1999, S. 351 (357); ders., Genozid durch organisatorische Machtapparate, 2002, S. 131 ff.; Basler Kommentar-Wehrenberg,
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Gruppenzugehörigkeit hätte in vielen Fällen noch nicht einmal die Judenverfolgung unter Art. II Genozidkonvention gefasst werden können. Schließlich war für die Festlegung der Eigenschaft als Jude nicht entscheidend, ob die für den Genozid konstitutive viktimisierende Fremdwahrnehmung sozial korrekt vor sich ging. Vielmehr bestimmten die Nationalsozialisten aufgrund festgelegter Regeln basierend auf der Religionszugehörigkeit der Vorfahren, ob jemand Jude war oder nicht. Auf die aktuelle formale Religionszugehörigkeit kam es dabei ebenso wenig an, wie darauf, ob jemand den jüdischen Glauben praktizierte.324 In diesem Sinne wies schon Sartre darauf hin, dass ein Jude ein Mann sei, den die anderen für einen Juden halten und stellte fest: „Der Jude wird durch den Antisemiten gemacht.“325 Ein besonders extremes Beispiel für die Definitionsmacht des Täters sind die politisch motivierten Massenmassaker im östlichen Kambodscha. Im Jahr 1978 wurden innerhalb weniger Monate mehr als 100.000 Personen allein deshalb umgebracht, weil sie an der Grenze zu Vietnam in einer politisch verdächtigen Zone gelebt hatten.326 Im Zuge der Kampagne des „Roten Terrors“ unter Mengistu in Äthiopien wurde ebenfalls jeder getötet, der der politischen Gegnerschaft auch nur verdächtig war.327 Aber auch während der Entkulakisierung unter Stalin überprüfte man die Eigenschaft einer Person als Kulake nicht. Die kommunistischen Partei- und Staatsfunktionäre nahmen die Einordnung als Kulake unterschiedlich und vielfach willkürlich vor.328 Art. 264, Rn. 17; Selbmann, Der Tatbestand des Genozids im Völkerstrafrecht, 2002, S. 187 f.; vgl. auch Chalk, Redefining Genocide, in: Andreopoulos (Hrsg.), Genocide: Conceptual and Historical Dimensions, 1994, S. 47 (52); Jonassohn, What is Genocide?, in: Fein (Hrsg.), Genocide Watch, 1992, S. 17 (19); Simon, Defining Genocide, Wisconsin International Law Journal 15 (1996-97), S. 243 (244 ff.). 324
Zum Definitionsprozess vgl. Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 1, 1994, S. 69 ff. 325
Sartre, Réflexions sur la Question Juive, 1946, S. 88 f.
326
Kiernan, The Cambodian Genocide: Issues and Responses, in: Andreopoulos (Hrsg.), Genocide: Conceptual and Historical Dimensions, 1994, S. 191 (201). 327
Mayfield, The Prosecution of War Crimes and Respect for Human Rights: Ethiopia’s Balancing Act, Emory International Law Review 9 (1995), S. 553 (559 f.); vgl. dazu auch Kebede, The Mengistu Genocide Trial in Ethiopia, JICJ 5 (2007), S. 513 ff. Zum Roten Terror unter Mengistu s.o. 2. Teil, II. 2. a). 328
Zur Verfolgung der Kulaken s.o. 2. Teil, II. 2. b).
Geschützte Gruppen gemäß Art. II Genozidkonvention
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Der gemischt subjektiv-objektive Ansatz ist etwas flexibler als der rein objektive, da zumindest über die Zugehörigkeit zu einer Gruppe die Zuschreibung des Täters entscheidet. Der subjektiv-objektive Ansatz ist in den Fällen ausreichend, in denen die Opfergruppe von der Gesellschaft durch allgemein anerkannte Kriterien als Gruppe definiert und lediglich die Zuschreibung durch den Täter falsch vorgenommen wird. Letztlich kann aber auch dieser Ansatz das begangene Unrecht in vielen Fällen nicht in ausreichendem Maß erfassen. Diese Feststellung beruht auf der grundsätzlichen Erwägung, dass der Genozid von vornherein nicht nur ein gewisses, sondern ein großes Maß an Subjektivität vorgibt. Es gilt anzuerkennen, dass die Identität von Gemeinschaften schon ihrer Natur nach ein soziales Konstrukt ist, gänzlich abhängig von veränderlichen und zufälligen Wahrnehmungen, die sich nicht auf dieselbe Weise beweisen lassen wie Naturphänomene.329 Es ist gut möglich, dass die Opfergruppe vor der Begehung eines Genozids überhaupt noch nicht identifizierbar existierte. Die Gruppe ist nicht immer eine gesellschaftliche Realität, mitunter ist sie auch das Produkt einer diskriminierenden Zuschreibung.330 Die Opfergruppe wird dann gleichsam durch den Täter geschaffen. In diesen Fällen ist die Gruppenidentität unlösbar mit dem Konzept des Täters verbunden und entspricht keiner zuvor bestehenden, objektiven Definition.331 Täter kreieren die Gruppenzugehörigkeit auf widersprüchliche und unvernünftige Art und Weise.332 Es ist sogar denkbar, dass die Täter zur Umsetzung ihrer Ziele das Bestehen feindseliger Gruppen heraufbeschwören, die offenkundig imaginär sind.333 Bei der Formulierung einer neuen Begriffsbestimmung für das Schutzobjekt des Art. II Genozidkonvention darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die großen Genozide der Vergangenheit von Tätern begangen wurden, die im Namen einer absolutistischen oder utopischen Ideologie handelten, mit der
329
Verdirame, The Genocide Definition in the Jurisprudence of the ad hoc Tribunals, ICLQ 49 (2000), S. 578 (592). 330
Vgl. Ternon, Der verbrecherische Staat, 1996, S. 63.
331
Jonassohn/Chalk, A Typology of Genocide, in: Wallimann/Dobkowski (Hrsg.), Genocide and the Modern Age, 2000, S. 12 (14); Simon, Defining Genocide, Wisconsin International Law Journal 15 (1996-97), S. 243 (245). 332
Simon, Defining Genocide, Wisconsin International Law Journal 15 (1996-97), S. 243 (245). 333
Chalk, Redefining Genocide, in: Andreopoulos (Hrsg.), Genocide: Conceptual and Historical Dimensions, 1994, S. 47 (52).
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Zielsetzung, ihre Welt zu säubern und zu reinigen.334 Es kann nur wiederholt werden: Die Auswahl der Opfergruppen ist ebenso unberechenbar wie das Phänomen des Genozids selbst. Jede Mehrheit von Personen kann zu einer Gruppe werden, wenn der Täter sie als solche definiert. Mithin kann auch jede Mehrheit von Personen zu einer Gruppe werden, deren Vernichtung das Ziel des Täters ist.335 In diesem Zusammenhang gilt es, die zutreffenden Ausführungen der Untersuchungskommission zu den Verfolgungen in Darfur zu beachten, welche nachdrücklich darauf hinweist, dass die Tätersicht im Rahmen der Identifikation der Opfergruppe eine zentrale Rolle spielt: „[…] it would be erroneous to underestimate one crucial factor: the process of formation of a perception and self-perception of another group as distinct … While on historical and social grounds this may begin as a subjective view, as a way of regarding the others as making up a different and opposed group, it gradually hardens and crystallizes into a real and factual opposition. It thus leads to an objective contrast. The conflict thus from subjective becomes objective. It ultimately brings about the formation of two conflicting groups, one of them intent on destroying the other.“336 Die Historie liefert unterschiedliche Belege für die Verfolgung von Gruppen, welche erst durch die Definitionsmacht des Täters entstanden. Ein Beispiel sind die geschilderten Verfolgungen unter den Khmer Rouge an den Khmer im östlichen Kambodscha. Vor ihrer Verfolgung waren die Khmer im östlichen Kambodscha keine eigenständige Gruppe. Sie wurden von den Khmer Rouge als Khmer-Körper mit vietnamesischem Geist diffamiert, durch das obligatorische Tragen eines blauweißen Schals als Oststaatler gekennzeichnet und später in Massen eliminiert.337 Ein weiteres Beispiel ist die Verfolgung der Klasse der „Intel334
Ebenda, S. 60 f.
335
Vgl. Chalk/Jonassohn, The History and Sociology of Genocide, 1990,
S. 25. 336
Report of the International Commission of Inquiry on Darfur to the Secretary-General, UN Doc. S/2005/60, para. 500. 337
Kiernan, The Cambodian Genocide – 1975-1979, in: Totten/Parsons/ Charny, Century of Genocide, 2004, S. 339 (347 f.); ders. The Cambodian Genocide: Issues and Responses, in: Andreopoulos (Hrsg.), Genocide: Conceptual and Historical Dimensions, 1994, S. 191 (201); Kiernan, Genocidal Targeting: Two Groups of Victims in Pol Pot’s Cambodia, in: Bushnell u.a. (Hrsg.), State Organized Terror, 1991, S. 207 (212 ff.); Kiernan, The Pol Pot Regime, 1996, S. 405 ff.
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lektuellen“ unter den Khmer Rouge, die ebenfalls zuvor nicht als eigenständige Gruppe existiert hatten. In diesem Kontext wurden alle Brillenträger als Intellektuelle identifiziert.338 Nicht zu vergessen die Verfolgung unterschiedlicher Gruppierungen in der Ukraine, dem NordKaukasus und der unteren Wolga unter der stalinistischen Gewaltherrschaft in den Jahren 1932-33. Verfolgt wurden Ukrainer und andere Gruppen, die mit den Ukrainern das allgemeine Etikett als „Feinde der Kollektivierung“ teilten.339 Die Definitionsmacht des Täters wurde im Falle der Hexenverfolgung, bei der sowohl die Opfergruppe als auch die ihr angelasteten Verbrechen gänzlich irreal waren, auf die Spitze getrieben.340 Aus diesen Gründen muss der Tatbestand für die Definitionsmacht des Täters geöffnet werden, wenn man einen wirklich umfassenden Tatbestand zur Verfolgung von Genozid schaffen will, der alle Fälle mit vergleichbarem Unrechtsgehalt gleichermaßen erfasst. Die Befürworter des rein objektiven sowie die des gemischt objektiv-subjektiven Ansatzes müssen sich die Frage stellen lassen, ob es gerechtfertigt sein kann, die Ausrottung einer imaginären Opfergruppe nicht zu verhindern beziehungsweise die Täter nicht strafrechtlich zur Rechenschaft zu ziehen. Will man den Opfern etwa erklären, dass sie weniger schutzwürdig sind, weil die betreffende Gruppe real nicht existent und von der Bevölkerung nicht allgemein anerkannt ist? Der Hinweis darauf, dass die Opfergruppe offenkundig imaginär ist, bietet denjenigen, die infolge der Wahnvorstellungen der Täter getötet wurden, jedenfalls nur geringen Trost. Die Täter etwa wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu bestrafen, reicht wegen der spezifischen Zielrichtung von Genozid, die darauf gerichtet ist, eine Gruppe zu zerstören, nicht aus. Der Genozid hat eine besondere Qualität von Grausamkeit, die selbst mit den Maßstäben der Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht ausreichend gesühnt werden kann. Es gibt keine überzeugende Begründung dafür, die imaginären Gruppen nicht in den Schutzbereich der Konvention einzubeziehen. Schließlich steht hinter jeder Gruppe, ob real oder imaginär, eine Vielzahl von Individuen, die unendliches Leid ertragen müssen. Im Hinblick auf den
338
Zu den Verfolgungen unter den Khmer Rouge s.o. 2. Teil, II. 2. a) und b).
339
Vgl. dazu Andreopoulos, The Calculus of Genocide, in: ders. (Hrsg.), Genocide: Conceptual and Historical Dimensions, 1994, S. 1 (6). 340
Jonassohn/Chalk, A Typology of Genocide, in: Wallimann/Dobkowski (Hrsg.), Genocide and the Modern Age, 2000, S. 12 (14 f.).
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Opferschutz ist die Verfolgung einer Gruppe unabhängig davon strafwürdig, ob sie real oder vom Täter erdacht ist. Entscheidend muss bleiben, dass die Gruppe aufgrund der Willkür des Täters als Opfergruppe stigmatisiert und der Verfolgung ausgesetzt wird. Bei der Diskussion der Reform des Art. II Genozidkonvention darf nicht außer Acht gelassen werden, dass das vorrangige Problem beim Genozid die Schädigung der Gruppe ist und nicht ihre Identität und Existenz. Debatten über vernünftige, einheitliche und von der Identifikation durch den Täter unabhängige Wege zur Festlegung der Gruppenmitgliedschaft bergen die Gefahr, von der Schädigung der Gruppe abzulenken.341 Um diese Gefahr auszuräumen, darf der sprachliche Fokus von Art. II Genozidkonvention nicht länger ausschließlich auf die Existenz bestimmter realer Gruppen gerichtet sein. Entscheidend muss die Opferperspektive sein, aus der es erforderlich aber auch ausreichend ist, wenn die Opfergruppe zum Zeitpunkt der Tatbegehung identifizierbar existiert. Allein die Intention, eine – wenn auch nur vermeintlich existente – Gruppe von Personen zu zerstören, reicht aus, um die für die Begehung von Genozid erforderliche besondere Verwerflichkeit zu legitimieren. Die sich in der Disposition des Täters manifestierende spezifische kriminelle Energie rechtfertigt ein gegenüber dem Grundtatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit erhöhtes Unwerturteil. Welcher Art die zu zerstörende Gruppe ist, beziehungsweise ob sie überhaupt vor Begehung der Tat existiert, ist demgegenüber irrelevant, da sich wertungsgemäß daraus keine Unterschiede ergeben.342 Aus den genannten Gründen ist ferner die Meinung abzulehnen, die das subjektive Gefühl der Verbundenheit der Gruppenmitglieder zu einem gruppenkonstituierenden Merkmal erhebt.343 Angesichts der Tatsache, dass für die Bestimmung der Opfergruppe die Definitionsmacht des Täters ausschlaggebend ist, kann es nicht darauf ankommen, ob die Opfer sich als derselben Gruppe zugehörig empfinden. Schließlich ist ein solches Zusammengehörigkeitsgefühl in den Fällen, in denen die Gruppe vor der Tatbegehung nicht identifizierbar existierte, von vornherein ausgeschlossen.
341
Simon, Defining Genocide, Wisconsin International Law Journal 15 (1996-97), S. 243 (245). 342
Vest, Die bundesrätliche Botschaft zum Beitritt der Schweiz zur Völkermord-Konvention, ZStrR 1999, S. 351 (359). 343
LK-Jähnke, § 220 a, Rn. 9.
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Festgehalten werden kann folglich, dass es für die Opfereigenschaft ausreichend sein muss, wenn die Gruppe – insbesondere vom Täter – als eigenständige Gruppe wahrgenommen wird.
5. Positive oder negative Identifikation der Opfergruppe Fraglich ist ferner, ob die Identifikation der Opfergruppe anhand positiver oder negativer Kriterien vorzunehmen ist. Im Falle der positiven Identifikation wird die Opfergruppe durch die Merkmale bestimmt, die die Gruppenmitglieder aufweisen, bei der negativen Identifikation kommt es hingegen darauf an, welche Merkmale nicht vorhanden sind. Teilweise wird die Möglichkeit einer „negativen“ Gruppenzugehörigkeit sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Literatur befürwortet, wenn auch mit unterschiedlichem Fokus. Zu prüfen ist, ob eine entsprechende Formulierung in den Tatbestand aufgenommen werden sollte. Wie im Rahmen der Auslegung des Gruppenbegriffs dargelegt hat sich das ICTY im Fall Jelesic dafür ausgesprochen, dass eine Opfergruppe durch positive oder negative Kriterien stigmatisiert werden kann. Anerkannt wurde die Möglichkeit der negativen Identifikation der Opfergruppe auch im Abschlussbericht der Expertenkommission zur Situation im ehemaligen Jugoslawien. Die Experten waren zu dem Ergebnis gelangt, dass es dem Sinn und Zweck der Konvention entsprechen kann, alle Opfergruppen als eine größere Einheit zu betrachten, wenn es mehrere Opfergruppen gibt und jede Gruppe als solche durch die Konvention geschützt ist. Zur Erläuterung führte die Kommission folgendes Beispiel an: Angenommen die Beweislage ergibt, dass Gruppe A ganz oder teilweise Gruppe B, C und D zerstören möchte beziehungsweise jeden, der nicht zur nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe A gehört. Dann hätte Gruppe A unter Verwendung nationaler, ethnischer, rassischer oder religiöser Definitionskriterien eine pluralistische non-A Gruppe definiert. In einem solchen Fall sei es sachdienlich, das Schicksal der non-A Gruppe auf ähnliche Art und Weise zu analysieren, wie wenn die non-A Gruppe eine homogene Gruppe gewesen wäre.344 344
Final Report of the Commission of Experts Established pursuant to Security Council Resolution 780 (1992), UN Doc. S/1994/674, para. 96; im Ergebnis ebenfalls ablehnend Lüders, Die Strafbarkeit von Völkermord nach dem Römischen Statut für den Internationalen Strafgerichtshof, 2004, S. 83 ff.
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Einen vergleichbaren Ansatz vertrat der spanische Richter Baltasar Garzon im Hinblick auf die während der Militärdiktatur in Argentinien in den 1970er und 1980er Jahren begangenen Verbrechen. Garzon kam zu dem Ergebnis, dass das argentinische Militär einen Genozid an einer religiösen Gruppe, bestehend aus jedem, der nicht den westlichen christlichen Glauben der Militärs teilte, geplant und ausgeführt hat: „To destroy a group because of its atheism or its common nonacceptance of the Christian religious ideology is … the destruction of a religious group, inasmuch as, in addition, the group to be destroyed also technically behaves as the object of identification of the motivation or subjective element of the genocidal conduct. It seems, in effect, that the genocidal conduct can be defined both in a positive manner, vis a vis the identity of the group to be destroyed (Muslims, for example), as in a negative manner, and, indeed, of greater genocidal pretensions (all non-Christians, or all atheists, for example). This idea concludes, thus, that the total or partial, systematic and organized destruction of a group due to its atheist or non-Christian ideology, constitutes genocide.“345 Dem Ansatz der negativen Identifikation der Opfergruppe kann nicht gefolgt werden. In diesem Sinne entschied der ICJ, dass die Absicht darauf gerichtet sein müsse, eine Gruppe zu zerstören, die durch bestimmte positive Merkmale gekennzeichnet ist und nicht durch das Fehlen solcher Merkmale.346 Auch im Stakic-Urteil wurde die Identifikation der Schutzgruppe anhand negativer Kriterien widerlegt. Im Einzelnen führte die Kammer aus, dass es in Fällen, in denen mehr als eine Gruppe angegriffen wird, nicht angemessen sei, die Gruppe generell zu definieren. Es sei zwar möglich, dass die Opfergruppe durch mehr als ein Merkmal unterscheidbar ist, dann müssten die Merkmale des Genozids jedoch gesondert in Bezug zu jeder einzelnen Gruppe überprüft werden.347
345
Eine Zusammenfassung der Strafverfahren vor spanischen Gerichten gegen argentinische und chilenische Täter findet sich bei Lacabe, <www.derechos. net/marga/papers/spain.html>. 346
ICJ, Case Concerning the Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, Urt. v. 26. Februar 2007, para. 193 f., dabei bezieht der Gerichtshof sich ausdrücklich auf die Rechtmittelentscheidung im Fall Stakic. 347
Dem schloss sich auch die Rechtsmittelkammer an, dazu insgesamt s.o. 2. Teil, I. 2. d).
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169
In der Literatur spricht sich Simon für die Möglichkeit einer negativen Identifikation der Opfergruppe aus, wenn auch aus einem anderen Blickwinkel. Nach seiner Auffassung ist das entscheidende Merkmal der Definition von Genozid die „negative Gruppenzugehörigkeit“. Der Autor definiert Genozid als die absichtliche Tötung von Mitgliedern einer Gruppe, die aufgrund ihrer tatsächlichen oder empfundenen Gruppenzugehörigkeit negativ von den Tätern identifiziert werde. Entscheidend sei, ob der Täter die Opfergruppe für eine negative Behandlung identifiziert habe. Wenn für die negative Identifikation keine Beweise bestünden, sei die entsprechende Gruppe nicht für den Schutz unter der Konvention qualifiziert. Seinen Vorschlag begründet der Autor damit, dass es im internationalen Recht keine eindeutig definierten Kriterien für die Gruppenzugehörigkeit gebe. Es wäre sträflich, wenn die Welt das massive Abschlachten von Mitgliedern einer Gruppe nicht bestrafen könnte, weil sie eine vorgefertigte Vorstellung davon habe, welche Gruppen für den Schutz unter der Konvention qualifiziert seien.348 Die Meinung von Simon überzeugt ebenfalls nicht. Die von ihm vertretene negative Definition der Gruppenzugehörigkeit ist angesichts der Struktur des Genozidtatbestandes nicht erforderlich. Schließlich ist die negative Identifikation der Opfergruppe in diesem Sinne für den Fall, dass der Täter die Gruppe zerstören möchte, automatisch gegeben. Angesichts dessen wäre es schlicht überflüssig, ein entsprechendes Tatbestandsmerkmal zu normieren. Folglich kann auf das Merkmal der negativen Gruppenzugehörigkeit in einem reformierten Art. II Genozidkonvention verzichtet werden.
6. Ersetzung oder Ergänzung der nationalen, ethnischen, rassischen und religiösen Gruppen Zu diskutieren bleibt die Frage, ob die Aufzählung der nationalen, ethnischen, rassischen und religiösen Gruppen durch eine den erarbeiteten Kriterien entsprechende Formulierung ersetzt oder ergänzt werden sollte. Wie im Rahmen der Diskussion des Gruppenbegriffs deutlich geworden ist, können gegen die Aufzählung der vier Schutzgruppen verschie348
Vgl. hierzu Simon, Defining Genocide, Wisconsin International Law Journal 15 (1996-97), S. 243 (244 ff.).
2. Teil
170
dene Einwände erhoben werden. Von daher würde der Schluss nahe liegen, die bestehende Formulierung zu streichen und das Schutzobjekt stattdessen vollständig neu zu definieren. Im Rahmen der Erarbeitung eines Reformvorschlages für Art. II Genozidkonvention darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass Art. II Genozidkonvention eine erhebliche symbolische Bedeutung hat. Die Norm ist der überkommene, von der internationalen Staatengemeinschaft anerkannte Tatbestand und spiegelt den Kompromiss wider, auf den man sich seinerzeit einigte. Noch heute orientieren sich sowohl die internationalen als auch die nationalen strafrechtlichen Kodifikationen an der ursprünglichen Formulierung. Aus diesem Grund kann von der Annahme ausgegangen werden, dass sich die Perspektive dafür, dass ein entsprechender Reformvorschlag Eingang in die Debatte findet, wesentlich erhöht, wenn die Ursprungsformulierung ergänzt und nicht ersetzt wird. Je größer die Abweichung von der Ursprungsformulierung ist, umso größer wird die dem Vorschlag entgegengebrachte Skepsis sein. Bei der Abwägung, ob die vier Gruppen ersetzt oder ergänzt werden sollten, gilt es zu bedenken, dass sich nicht alle angesprochenen Kritikpunkte lösen lassen, wenn die Ursprungsformulierung beibehalten wird. Lösen ließe sich die Problematik, dass nicht alle gleichermaßen schutzbedürftigen Gruppen durch die Konvention erfasst werden. Schließlich würden diese Gruppen durch das abstrakte Tatbestandsmerkmal erfasst, unabhängig davon, ob es zusätzlich zu den vier Gruppen oder an Stelle der vier Gruppen Eingang in den Tatbestand findet. Bestehen bliebe hingegen die diskutierte Unklarheit der Formulierung.349 Denn so lange die Aufzählung der nationalen, ethnischen, rassischen und religiösen Gruppen beibehalten wird, so lange wird es unterschiedliche Definitionen der einzelnen Attribute geben und Kontroversen darüber, ob sie voneinander abzugrenzen sind oder nicht. Diese Problematik könnte nur durch den Verzicht auf die Aufzählung der vier Gruppen gelöst werden. Die mit der Unklarheit der Formulierung verbundene Gefahr, dass der übergreifende Sinn der Aufzählung im Gesamten geschwächt wird, würde durch die Ergänzung des Tatbestandes um eine Generalklausel wiederum aufgefangen. Denn sobald eine bestimmte Gruppe nicht als nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe erfasst wäre, könnte sie unter das – noch zu formulierende – abstrakte Merkmal subsumiert werden. Insofern bliebe die unglückliche Formulierung als Schönheitsfehler zurück, hätte jedoch nicht mehr den unerwünschten Effekt, dass durch die Abgrenzung Lücken entstehen 349
Zu dieser Problematik s.o. 2. Teil, II. 1.
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171
und bestimmte Gruppen aus dem Tatbestand herausdefiniert werden können. Das Risiko unterschiedlicher Urteilsbegründungen bliebe dementsprechend bestehen, das abweichender Unrechtsbewertungen wäre hingegen ausgeräumt. Schließlich ist es für die Unrechtsbewertung unerheblich, unter welches Merkmal die Opfergruppe subsumiert wird. Grundsätzlich könnte bei der Ergänzung des Schutzobjektes um ein abstraktes Merkmal natürlich auf die benannten vier Gruppen verzichtet werden, da auch die benannten Gruppen unter die abstrakte Formulierung fallen. Derartige Tatbestandskonstruktionen sind dem Strafrecht jedoch nicht fremd. So sind beim deutschen Mordtatbestand im Sinne von § 211 StGB sonstige niedrige Beweggründe zusätzlich zu den konkret formulierten wie Mordlust oder Habgier bezeichnet. Erforderlich ist mithin die Abwägung zwischen dem Bestreben, die Mängel der bisherigen Formulierung des Schutzobjektes auszuräumen, und den realpolitischen Erwägungen der Realisierbarkeit der Reform. Die realpolitischen Erwägungen dürfen nach Meinung der Autorin in diesem Kontext nicht vernachlässigt werden. Ziel dieser Arbeit ist es nicht, eine rein akademische Diskussion zu führen, sondern durch einen den Erfordernissen der Praxis genügenden Vorschlag einen Beitrag zu einer notwendigen rechtspolitischen Debatte zu leisten. Aus diesem Grund sollte die für den Tatbestand charakteristische Aufzählung der nationalen, ethnischen, rassischen und religiösen Gruppen ergänzt und nicht ersetzt werden. Das grundsätzliche Ziel, einen möglichst idealen Vorschlag zu unterbreiten, wird dabei nicht aus den Augen verloren. Dass auf diese Weise nicht alle Mängel in der Formulierung behoben werden können, ist hinnehmbar. Abweichende Auslegungen wird es in der Rechtsprechung wohl immer geben. Entscheidend und unerlässlich ist, dass die möglicherweise abweichenden Auslegungen keine abweichenden Unrechtsbewertungen mit sich bringen können. Die Gerichte dürfen keinesfalls dem Zwang unterliegen, den Tatbestand „zurecht zu biegen“ und aus diesem Grund gegebenenfalls sogar im Strafrecht unzulässige Analogien zu bilden, um bestimmte Gruppen unter den Tatbestand des Art. II Genozidkonvention zu fassen. Dieses Risiko wäre im Falle der Ergänzung des Tatbestandes um eine Generalklausel jedoch ausgeräumt. Wie erläutert würde eine entsprechende Auffangklausel die korrekte Unrechtsbewertung sicherstellen, unabhängig davon, unter welches Merkmal das entscheidende Gericht die Opfergruppe fasst. Aus diesen Gründen sollten nationalen, ethnischen, rassischen und religiösen Gruppen durch eine abstrakte Formulierung ergänzt und nicht ersetzt werden.
2. Teil
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IV. Ergebnis und Reformvorschlag für das Schutzobjekt Nunmehr gilt es unter Berücksichtigung der im Verlauf der Diskussion der Anknüpfungspunkte für Reformen gewonnenen Erkenntnisse, einen Vorschlag für die Reform des Gruppenbegriffs im Sinne von Art. II Genozidkonvention zu formulieren. Zusammengefasst muss das neu formulierte Schutzobjekt folgende Kriterien erfüllen: – Der Gruppenbegriff ist beizubehalten; – Mehrheiten müssen ebenso wie Minderheiten erfasst werden; – das Schutzobjekt ist abstrakt zu formulieren; – die Definition des Schutzobjektes muss für die Tätersicht geöffnet werden; – das Schutzobjekt muss durch positive Kriterien beschrieben werden; – die Aufzählung der nationalen, ethnischen, rassischen und religiösen Gruppen ist durch das abstrakte Merkmal zu ergänzen. Als Leitlinie bei der Formulierung des Schutzobjektes soll die Erwägung dienen, dass die Strenge einer Definition ebenso schädliche Effekte haben kann wie ihre Nachlässigkeit. Unser Verständnis vom Genozid muss ebenso flexibel und innovativ sein wie die menschliche Fähigkeit zum Bösen.350 Gleichzeitig ist es im Hinblick auf die Verflechtung der Motive für die Verfolgung einzelner Gruppierungen in pluralistischen Gesellschaften wichtig, den Tatbestand so schlicht wie möglich zu halten. Das zentrale Anliegen ist und bleibt der Opferschutz, der vor dem Hintergrund der akademischen Debatte um die Merkmale der Schutzgruppen teilweise in den Hintergrund tritt. Der Kern des Genozidtatbestandes besteht darin, anzuerkennen, dass Misshandlungen, welche zum Ziel haben, Gruppen zu zerstören, unerreicht kriminell sind. Um die Vollständigkeit des Konzeptes „Genozid“ zu gewährleisten, ist deshalb eine erweiterte Definition des Verbrechens erforderlich. Bis zur bedeutungsvollen Erweiterung des Tatbestandes wird der Genozid ein unvollständig definiertes Verbrechen bleiben.351 Es ist zu vermuten, 350
Rieff, An Age of Genocide, The New Republic, 29. Januar 1996, S. 36, zitiert bei Lippman, The Crime of the Century. The Jurisprudence of Death at the Dawn of the New Millenium, Houston JIL 23 (2001), S. 467 (534). 351
Abrams, The Atrocities in Cambodia and Kosovo: Observations on the Codification of Genocide, New England Law Review 35 (2001), S. 303 (309).
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dass die zuweilen heraufbeschworene Gefahr der Trivialisierung des Verbrechens lediglich als Ausflucht dient, da angesichts der großen Zurückhaltung der Staatengemeinschaft bei der Anwendung des Tatbestandes selbst eine weite Formulierung des Schutzobjektes wohl kaum zu einer inflationären Anwendung des Tatbestandes führen wird. Aus den entwickelten Kriterien ergibt sich unter Berücksichtigung der genannten Maximen abschließend folgender Vorschlag für die Reform des Gruppenbegriffs: Der Passus „[…] national, ethnical, racial or religious group …“ wird ergänzt durch den Passus: „or a group defined by any arbitrary criteria …“. Die deutsche Übersetzung würde lauten: „[…] eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse oder eine durch irgendein willkürliches Kriterium definierte Gruppe …“.352 Dieser Vorschlag entspricht der französischen Genozidgesetzgebung. Der bereits zuvor zitierte Art. 211 französisches Strafgesetzbuch lautet: „[…] d’un groupe national, ethnique, racial ou religieux, ou d’un groupe déterminé à partir de tout autre critère arbitraire …“353 Durch das Tatbestandsmerkmal der Willkür wird der Tatbestand für die Definition einer möglichen Opfergruppe aus Tätersicht geöffnet, die, wie diskutiert, unerlässlich ist, wenn man das Verbrechen des Genozids in seiner Reich- und Tragweite erfassen möchte.
352
In diese Richtung geht der Vorschlag von Vest, Genozid durch organisatorische Machtapparate, 2002, S. 133, der allerdings zusätzlich die politischen und die sozialen Gruppen erfasst wissen möchte: „[…] eine nationale, ethnische, rassische, religiöse, soziale, politische oder durch irgendein anderes willkürliches Merkmal identifizierte Gruppe …“. 353
<www.preventgenocide.org/fr/droit/codes/france.htm>.
3. Teil Tathandlungen gemäß Art. II Genozidkonvention In Art. II lit. a) – e) Genozidkonvention sind die möglichen Tathandlungen zur Begehung eines Genozids abschließend aufgeführt. Während der Vorarbeiten wurde vorgeschlagen, die Verletzungshandlungen beispielhaft zu formulieren. Die entsprechenden Vorschläge setzten sich unter anderem deshalb nicht durch, weil eine einheitliche Anwendung der Konvention in den Mitgliedstaaten sichergestellt werden sollte.1 Die in den lit. a) – c) normierten Tathandlungen der Tötung, der Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden sowie der Auferlegung zerstörerischer Lebensbedingungen sind Formen des physischen Genozids. Daran schließt sich in lit. d) mit der Verhängung von Maßnahmen zur Geburtenverhinderung eine Form des biologischen Genozids an. Lit. e), in dem die gewaltsame Überführung von Kindern der einen Gruppe in eine andere Gruppe unter Strafe gestellt ist, trägt sowohl Elemente des biologischen Genozids als auch des – eigentlich nicht durch die Konvention erfassten – kulturellen Genozids. Die ersten drei Begehungsformen schützen die physische Existenz der Gruppe gegen aktuelle Bedrohungen. Dieser Schutz besteht unabhängig davon, ob die Mitglieder der Gruppe bereits konkret beeinträchtigt werden (wie stets bei den ersten beiden Tatmodalitäten) oder ob die Gruppe abstrakt betroffen ist und noch keines der Mitglieder unmittelbar (wie bei der dritten Tatmodalität). Dagegen schützen die letzten beiden Tatmodalitäten des Genozids vorrangig das künftige Fortbestehen der Gruppe, wiederum unabhängig davon, ob ein einzelnes Mitglied bei der Begehung unmittelbar oder lediglich mittelbar betroffen ist.2 Darüber hinaus verlangen die in den lit. a), b) und e) definierten Tathandlungen den Beweis eines Ergebnisses, die Tötung von Mitgliedern, die Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden 1
Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 153 f.
2
Triffterer öStGB/Triffterer, § 321 Rn. 61.
3. Teil
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an Mitgliedern der Gruppe und die gewaltsame Überführung von Kindern der einen Gruppe in eine andere Gruppe. Für die in lit. c) und d) normierten Tathandlungen ist ein solcher Nachweis nicht erforderlich.3 Obwohl in den lit. a), b), d) und e) der Plural verwendet wird, reicht es aus, wenn ein einzelnes Mitglied der Gruppe von der Tathandlung betroffen ist.4 Klargestellt wird dies nunmehr im jeweils ersten Element der Verbrechenselemente zu Art. 6 ICC-Statut, nach dem die jeweilige Tathandlung gegen „one or more persons“ gerichtet sein muss.5 Im deutschen Recht finden sich entsprechende Klarstellungen, da in § 6 Abs. 1 Nr. 1, 2, und 5 VStGB ebenfalls der Singular verwendet wird.6 Im Gegensatz dazu wurde in Art. 6 ICC-Statut in Übereinstimmung mit dem Wortlaut der Konvention die Pluralformulierung beibehalten. Alle Tathandlungen können sowohl durch aktives Tun als auch durch pflichtwidriges Unterlassen begangen werden.7 3
Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 155 f.
4
Drost, The Crime of State, Book II: Genocide, 1959, S. 85 f.; Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 158; Triffterer, Kriminalpolitische und dogmatische Überlegungen zum Entwurf gleichlautender „Elements of Crimes“ für alle Tatbestände des Völkermordes, in: Schünemann u.a. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin, 2001, S. 1415 (1433); Gropengießer, Völkermord, in: Eser/Kreicker (Hrsg.), Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen, Band 1, 2003, S. 92 (99); Werle, Völkerstrafrecht, 2003, S. 565, Rn. 565; Basler Kommentar-Wehrenberg, Art. 264, Rn. 16; a.A. Vest, Genozid durch organisatorische Machtapparate, 2002, S. 115; kritisch Cassese, Genocide, in: ders./Gaeta/Jones (Hrsg.), The Rome Statute of the International Criminal Court: A Commentary, Vol. I, 2002, S. 335 (349). 5
Report of the Preparatory Commission for the International Criminal Court, Finalized Draft Text of the Elements of Crimes, UN Doc. PCNICC/ 2000/1/Add.2., Art. 6, 1. gleich lautendes Element zu lit. a) – e). 6
Lediglich in § 6 Nr. 4 VStGB - „Maßregeln verhängt, die Geburten innerhalb der Gruppe verhindern sollen“ - findet sich noch die Pluralfassung, was jedoch nicht dazu zwingt, Nr. 4 in diesem Punkt ohne sachlich überzeugenden Grund anders zu verstehen als die Nr. 1, 2 und 5, MK-StGB-Kreß, § 220 a/ § 6 VStGB, Rn. 64. Im Gegensatz dazu fand sich in Anlehnung an Art. II Genozidkonvention in § 220 a StGB a.F. noch durchgängig die Pluralfassung. 7
ICTR, Prosecutor v. Kambanda, Case No. ICTR-97-23-S, Urt. v. 4. September 1998, para. 40 (1): „By his acts or omissions …, Jean Kambanda is responsible for the killing and causing of serious bodily and mental harm to members of the Tutsi population with the intent to destroy, …“; ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-T, Urt. v. 2. August 2001, para. 513: „The Trial Chamber finds that serious bodily and mental harm for purposes of Arti-
Tathandlungen gemäß Art. II Genozidkonvention
177
Im Folgenden werden die einzelnen Tatmodalitäten von Art. II Genozidkonvention untersucht. Im Rahmen jeder einzelnen Tathandlung wird zunächst die Rechtsprechung von ICTR und ICTY analysiert und im Anschluss diskutiert. Auf der Grundlage dieser Untersuchung wird nachfolgend der Reformbedarf der Tathandlungen näher beleuchtet und im Zusammenhang Anknüpfungspunkte für Reformen generiert. Den Abschluss bildet ein Reformvorschlag für Art. II lit. a) – e) Genozidkonvention.
I. Reichweite der Tathandlungen gemäß Art. II lit. a) – e) Genozidkonvention 1. Tötung von Mitgliedern der Gruppe a) Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale In Art. II lit. a) Genozidkonvention ist die Tötung von Mitgliedern der Gruppe als Tathandlung formuliert. Die Auslegung des Begriffs der Tötung ist in den Vertragssprachen nicht eindeutig. In der englischen Version wird der Terminus „killing“ verwendet und in der französischen der Terminus „meurtre“, welche nicht synonym sind. Die UN ad hocTribunale sind sich in der Auslegung des Merkmals trotz der begrifflichen Ungenauigkeit einig. Die 1. Strafkammer des Ruanda-Strafgerichtshofes entschied im Fall Akayesu, dass die französische Version vorzuziehen ist: „[…] The Trial Chamber is of the opinion that the term ‘killing’ used in the English version is too general, since it could very well include both intentional and unintentional homicides, whereas the term ‘meurtre’, used in the French version, is more precise. It is accepted that there is murder when death has been caused with the intention to do so, as provided for, incidentally, in the Penal Code of
cle 4 actus reus is an intentional act or omission causing serious bodily or mental suffering.“ Hervorhebungen durch die Verf. In der kanadischen Genozidgesetzgebung wird dies ausdrücklich klargestellt Gut/Wolpert, Canada, in: Eser/ Sieber/Kreicker (Hrsg.), Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen, Band 5, 2005, S. 19 (26 f.).
3. Teil
178
Rwanda which stipulates in its Article 311 that ‘Homicide committed with intent to cause death shall be treated as murder’.“8 Nach Auffassung der Kammer muss aufgrund der Unschuldsvermutung und der allgemeinen Prinzipien des Strafrechts die für den Angeklagten günstigste Auslegung angewendet werden. Dies sei die französische Version, welche die vorsätzliche Tatbegehung voraussetzt.9 Diese Auslegung wurde von der ersten Strafkammer des ICTR in ihrer Folgerechtsprechung aufrechterhalten10 und auch das ICTY folgte der Interpretation im Fall Akayesu.11 Die zweite Strafkammer des ICTR stimmte im Urteil gegen Kayishema und Ruzindana im Ergebnis mit dem Akayesu-Urteil überein, wenn auch mit einer anderen Begründung. Sie kritisierte das Akayesu-Urteil dahin gehend, dass in diesem der Terminus „killing“ nicht vollständig definiert werde. Nach ihrer Meinung besteht im Kontext der genozidalen Absicht nahezu kein Unterschied zwischen dem englischen „killing“ und dem französischen „meurtre“, da beide mit der Absicht begangen werden müssen, eine Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören.12 Die Auslegung des Begriffes „killing“ durch die zweite Strafkammer wurde von der Verteidigung im Rechtsmittelverfahren angegriffen. Nach der Auffassung von Kayishema besteht sehr wohl ein Unterschied zwischen der Tathandlung „killing“ und der Tathandlung „meurtre“, da letztere auf unrechtmäßige, vorsätzliche Handlungen beschränkt sei. Die Strafkammer habe diesen Unterschied vernachlässigt, indem sie
8
ICTR, Prosecutor v. Akayesu, Case No. ICTR-96-4-T, Urt. v. 2. September 1998, para. 500. 9
Ebenda, para. 501. Die englische Textversion würde im Gegensatz dazu auch fahrlässige Tötungen erfassen. 10
ICTR, Prosecutor v. Rutaganda, Case No. ICTR-96-3-T, Urt. v. 6. Dezember 1999, para. 50; ICTR, Prosecutor v. Musema, Case No. ICTR-96-13-T, Urt. v. 27. Januar 2000, para. 155; ICTR, Prosecutor v. Bagilishema, Case No. ICTR-95-1A-T, Urt. v. 7. Juni 2001, para. 55, 57, 58 ; ICTR, Prosecutor v. Semanza, Case No. ICTR-97-20-T, Urt. v. 15. Mai 2003, para. 319. 11
ICTY, Prosecutor v. Jelesic, Case No. IT-95-10-T, Urt. v. 14. Dezember 1999, para. 63; ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-T, Urt. v. 2. August 2001, III., B., Fn. 1119; ICTY, Prosecuor v. Stakic, Case No. IT-97-24-T, Urt. v. 31. Juli 2003, para. 515, Fn. 1090; ICTY, Prosecutor v. Blagojevic, Case No. IT-02-60-T, Urt. v. 17. Januar 2005, para. 642. 12
ICTR, Prosecutor v. Kayishema & Ruzindana, Case No. ICTR-95-1-T, Urt. v. 21. Mai 1999, para. 103 f.
Tathandlungen gemäß Art. II Genozidkonvention
179
vertrat, dass im Kontext des Genozids „killing“ mit „meurtre“ gleichzusetzen ist. Folglich sei die Strafkammer einem Rechtsirrtum im Sinne des Art. 24 ICTR-Statut unterlegen, sodass das Urteil ungültig sei.13 Die Rechtsmittelkammer wies die Rechtsmittelbegründung der Verteidigung mit folgender Begründung zurück: „[…] The Trial Chamber considered that ‘meurtre’ is not the same as killing. However, having regard to the operative part of Article 2 (2) of the Statute, it found that ‘there is virtually no difference’ between the two terms as the term ‘killing’ is linked to the intent to destroy in whole or in part. The Appeals Chamber accepts this view, but states that if the word ‘virtually’ is interpreted in a manner that suggests a difference, though minimal, between the two terms, it would construe them both as referring to intentional but not necessarily premeditated murder, this being, in its view, the meaning to be assigned to the word ‘meurtre’. Yet, the Appeals Chamber still considers that such interpretation does not improve Kayishema’s case. His argument that the Trial Chamber erred and that the error invalidates its Judgement is therefore rejected.“14 In den Fällen Kajelijeli und Kamuhanda verzichtete die zweite Strafkammer auf eine Auseinandersetzung mit der Problematik. Sie beschränkte sich auf die Feststellung, dass der Täter ein oder mehrere Mitglieder der Gruppe getötet haben muss, während er mit der Absicht handelte, die Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören.15
b) Diskussion der Rechtsprechung In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung von ICTR und ICTY ist für die Tötung im Sinne des lit. a) vorsätzliches Handeln zu fordern. 13
ICTR, Prosecutor v. Kayishema & Ruzindana, Case No. ICTR-95-1-A, Urt. v. 1. Juni 2001, para. 150. Art. 24 ICTR-Statut hat folgenden Wortlaut [Appellate Proceedings]: „1. The Appeals Chamber shall hear appeals from persons convicted by the Trial Chambers or from the Prosecutor on the following grounds: a) An error on a question of law invalidating the decision; or b) An error of fact which has occasioned a miscarriage of justice. 2. The Appeals Chamber may affirm, reverse or revise the decisions taken by the Trials Chamber.“ 14
ICTR, Prosecutor v. Kayishema & Ruzindana, Case No. ICTR-95-1-A, Urt. v. 1. Juni 2001, para. 151. 15
ICTR, Prosecutor v. Kajelijeli, Case No. ICTR-98-44A-T, Urt. v. 1. Dezember 2003, para. 813; ICTR, Prosecutor v. Kamuhanda, Case No. ICTR-9554A-T, Urt. v. 22. Januar 2004, para. 632.
3. Teil
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Aufgrund der Schwere des Tatvorwurfes kann fahrlässiges Handeln im Zusammenhang mit dem Tatbestand des Genozids nicht ausreichen. Dem entspricht auch die deutsche Gesetzgebung, die über den Verweis des § 2 VStGB auf § 15 StGB gleichfalls vorsätzliches Handeln voraussetzt, wobei dolus eventualis ausreichend ist.16 Die Frage, ob der Täter für die Tötung mit Vorsatz gehandelt haben muss, erhielt während der Vorarbeiten keine gesteigerte Aufmerksamkeit. Im Sechsten Ausschuss stellte der amerikanische Delegierte, der auch Vorsitzender des ad hoc-Ausschusses gewesen war, klar, dass die Formulierung „killing“ gewählt wurde, weil das Verbrechen des Genozids notwendigerweise eine vorsätzliche Tatbegehung erfordere.17 Zu kritisieren ist das Urteil der zweiten Strafkammer des Ruanda-Tribunals im Fall Kayishema und Ruzindana. Indem die Kammer die Voraussetzungen der Tötungshandlung mit denen des Absichtsmerkmals erklärte, differenzierte sie nicht zwischen dem subjektiven Element der Zerstörungsabsicht und dem für die einzelnen Tathandlungen erforderlichen allgemeinen Vorsatzerfordernis.18 Die Fälle Kajelijeli und Kamuhanda deuten ebenfalls darauf hin, dass das Vorliegen der Vernichtungsabsicht für die Feststellung der subjektiven Tatseite der Tötungshandlung als ausreichend angesehen wurde. Für den eigentlichen Akt der Tötung reicht die Verursachung des Todes aus. Bestätigt wird dies durch die Verbrechenselemente zu Art. 6 lit. a) ICC-Statut.19 Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang darauf, dass „meurtre“ nicht mit dem deutschen Mord verwechselt werden darf.20 Für die Tatbegehung ist die Verwirklichung besonderer Mordmerkmale keine Voraussetzung.
16
Zur Vorsatzdogmatik s.u. 4. Teil, I.
17
UN GAOR, 3 session, 6 Committee, 81 meeting, S. 177, Mr. Maktos.
rd
th
st
18
Ambos/Ruegenberg, Rechtsprechung zum internationalen Straf- und Strafverfahrensrecht, NStZ-RR-2000, S. 193 (204 f.). 19
Report of the Preparatory Commission for the International Criminal Court, Finalized Draft Text of the Elements of Crimes, UN Doc. PCNICC/ 2000/1/Add.2, Article 6 (a), Erstes Element, Fn. 2. 20
Hübner, Das Verbrechen des Völkermordes im internationalen und nationalen Recht, 2004, S. 126.
Tathandlungen gemäß Art. II Genozidkonvention
181
2. Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe a) Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale Gemäß Art. II lit. b) Genozidkonvention ist die Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe eine mögliche Tathandlung. Im Fall Akayesu vertrat die Strafkammer die Ansicht, dass der verursachte Schaden weder dauerhaft noch unheilbar sein muss.21 Schwerer körperlicher oder seelischer Schaden könne verursacht werden durch körperliche und mentale Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Verfolgung, ohne jedoch hierauf beschränkt zu sein.22 Zudem wurden Vergewaltigungen und andere Formen sexueller Gewalt – erstmalig – als mögliche Verursachung seelischer und körperlicher Schäden im Sinne des Genozids anerkannt. Entsprechend der Urteilsfeststellungen schlossen die sexuellen Gewalttaten Vergewaltigungen von Kindern, Vergewaltigungen durch Gruppen, öffentliche Vergewaltigungen, multiple Vergewaltigungen, Vergewaltigungen mit Fremdobjekten sowie erzwungene Nacktheit ein.23 Zur Begründung der Anerkennung sexueller Gewalttaten als Verursachung schwerer körperlicher und seelischer Schäden hieß es im Einzelnen: „[…] Indeed, rape and sexual violence certainly constitute infliction of serious bodily and mental harm on victims and are even, according to the Chamber, one of the worst ways of inflict harm on the victim as he or she suffers both bodily and mental harm. … These rapes resulted in physical and psychological destruction of Tutsi women, their families and their communities. Sexual violence was an integral part of the process of destruction, specifically targeting Tutsi women and specifically contributing to their destruction and to the destruction of the Tutsi group as a whole. The rape of Tutsi women was systematic and was perpetrated against all Tutsi women and solely against them … Sexual violence was a step in the process of
21
ICTR, Prosecutor v. Akayesu, Case No. ICTR-96-4-T, Urt. v. 2. September 1998, para. 502. 22
Ebenda, para. 504.
23
Ebenda, para. 416 ff., 449 ff.
3. Teil
182
destruction of the Tutsi group – destruction of the spirit, of the will to live, and of life itself.“24 Weitere mögliche tatbestandliche Handlungen waren nach Auffassung der Kammer Schläge, Verhöre unter Androhung von Gewalt und/oder Todesandrohung sowie Verstümmelungen.25 Im Urteil gegen Kayishema und Ruzindana schloss die zweite Strafkammer sich ausdrücklich der Auslegung im Fall Akayesu an. Nach Auffassung der zweiten Strafkammer erklärt sich das Merkmal „Verursachung von schwerem körperlichem Schaden“ weitgehend selbst. Einbezogen seien schwere Schädigungen der Gesundheit, die Verursachung von Entstellungen sowie von schweren Verletzungen der äußeren oder inneren Organe oder Sinne.26 Im Hinblick auf die seelischen Schädigungen schilderte die Kammer zwar die Standpunkte von Anklage und Verteidigung, beschränkte sich dann jedoch auf die Feststellung, dass die Frage, ob die Verursachung eines schweren seelischen Schadens vorliegt, im Einzelfall im Lichte der einschlägigen Rechtsprechung beurteilt werden müsse.27 Das ICTR behielt die in den Urteilen Akayesu sowie Kayishema und Ruzindana entwickelte Auslegung in seiner Folgerechtsprechung bei.28
24
Ebenda, para. 731 f., Vergewaltigungen und andere Formen sexueller Gewalt wurden in diesem Urteil (para. 598, 688) wie folgt definiert: „This Tribunal defines rape as physical invasion of a sexual nature, committed on a person under circumstances which are coercive. The Tribunal considers sexual violence, which includes rape, as any act of a sexual nature which is committed on a person under circumstances which are coercive. Sexual violence is not limited to physical invasion of the human body and may include acts which do not involve penetration or even physical contact.“ 25
Ebenda, para. 706 ff.
26
ICTR, Prosecutor v. Kayishema & Ruzindana, Case No. ICTR-95-1-T, Urt. v. 21. Mai 1999, para. 109. 27 28
Ebenda, para. 110 ff.
ICTR, Prosecutor v. Rutaganda, Case No. ICTR-96-3-T, Urt. v. 6. Dezember 1999, para. 51; ICTR, Prosecutor v. Musema, Case No. ICTR-96-13-T, Urt. v. 27. Januar 2000, para. 156; ICTR, Prosecutor v. Semanza, Case No. ICTR-97-20-T, Urt. v. 15. Mai 2003, para. 320 ff.; ICTR, Prosecutor v. Bagilishema, Case No. ICTR-95-1A-T, Urt. v. 7. Juni 2001, para. 59; ICTR, Prosecutor v. Kajelijeli, Case No. ICTR-98-44A-T, Urt. v. 1. Dezember 2003, para. 815 f.; ICTR, Prosecutor v. Kamuhanda, Case No. ICTR-95-54A-T, Urt. v. 22. Januar 2004, para. 634; weitgehend ICTR, Prosecutor v. Gacumbitsi, Case
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Betont wurde wiederholt, dass der schwere seelische Schaden mehr als eine leichte oder vorübergehende Störung der geistigen Fähigkeiten erfordere.29 In den Urteilen gegen Gacumbitsi und Muhimana wurde zum Merkmal des schweren seelischen Schadens ausgeführt, dass hierfür eine gewisse Einschränkung der geistigen Fähigkeiten oder eine schwere Verletzung des seelischen Zustandes des Opfers erforderlich sei.30 Das ICTY folgte der vom ICTR entwickelten Leitlinie.31 Im Fall Krstic wurde wiederum besonderer Nachdruck darauf gelegt, dass eine schwere Schädigung zwar keine dauerhaften und unheilbaren Schäden verursachen, die Schädigung jedoch über vorübergehendes Unglück, Verlegenheit oder Demütigung hinausgehen müsse. Erforderlich sei eine Schädigung, die die Fähigkeit einer Person, ein normales und konstruktives Leben zu führen, schwer und langfristig beeinträchtige.32 Die Kammer war überzeugt, dass die Verletzungen und die Traumata derjenigen, die die Massaker von Srebrenica überlebten, als schwere körperliche und seelische Schäden im Sinne des Art. 4 ICTY-Statut bezeichnet werden könnten. Während das vereinbarte Ziel der Täter in der Tötung der bosnisch-muslimischen Männer im wehrfähigen Alter bestanden habe, seien die schrecklichen körperlichen und seelischen Leiden der
No. ICTR-2001-64-T, Urt. v. 17. Juni 2004, para. 291; ICTR, Prosecutor v. Muhimana, Case. No. ICTR-95-1B-T, Urt. v. 28. April 2005, para. 502. 29
ICTR, Prosecutor v. Kajelijeli, Case No. ICTR-98-44A-T, Urt. v. 1. Dezember 2003, para. 815 f.; ICTR, Prosecutor v. Kamuhanda, Case No. ICTR95-54A-T, Urt. v. 22. Januar 2004, para. 634; ICTR, Prosecutor v. Semanza, Case No. ICTR-97-20-T, Urt. v. 15. Mai 2003, para. 321; ICTR, Prosecutor v. Bagilishema, Case No. ICTR-95-1A-T, Urt. v. 7. Juni 2001, para. 59, allerdings mit Bezug auf den geistigen und den körperlichen Schaden. 30
ICTR, Prosecutor v. Gacumbitsi, Case No. ICTR-2001-64-T, Urt. v. 17. Juni 2004, para. 291; ICTR, Prosecutor v. Muhimana, Case. No. ICTR-951B-T, Urt. v. 28. April 2005, para. 502. 31
ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-T, Urt. v. 2. August 2001, para. 543 i.V.m. 507 ff., 513; ICTY, Prosecuor v. Stakic, Case No. IT-97-24-T, Urt. v. 31. Juli 2003, para. 516; ICTY, Prosecutor v. Brdjanin, Case No. IT-9936-T, Urt. v. 1. September 2004, para. 690; ICTY, Prosecutor v. Blagojevic, Case No. IT-02-60-T, Urt. v. 17. Januar 2005, para. 654. 32
ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-T, Urt. v. 2. August 2001, para. 513; zustimmend ICTY, Prosecutor v. Blagojevic, Case No. IT-02-60-T, Urt. v. 17. Januar 2005, para. 237.
3. Teil
184
wenigen Überlebenden eine natürliche und vorhersehbare Konsequenz des Vorhabens gewesen.33 Das Blagojevic-Urteil schloss sich dieser Einschätzung an.34 Des Weiteren führte die Kammer aus, dass nicht nur die überlebenden Männer, sondern auch die betroffenen Frauen, Kinder und alten Menschen schwere seelische Schäden im Sinne des lit. b) erlitten hätten. „[…] the suffering of the women, children and elderly people who were cruelly separated from their loved and forcibly transferred, and the terrible consequences that this had on their life, reaches the threshold of serious mental harm under Article 4 (2) (b) of the Statute … the level of mental anguish suffered by the women, children and elderly people who were forcibly displaced from their homes – in such manner as to traumatise them and prevent them from ever returning – obliged to abandon their property and their belongings as well as their traditions and more in general their relationship with the territory they were living on, does constitute serious mental harm.“35 Zudem würden die Überlebenden, die ihre Verwandten unter schrecklichen Bedingungen verloren hätten, noch immer nach deren sterblichen Überresten suchen beziehungsweise nach Informationen, ob diese mit Sicherheit tot sind. Auch hierdurch erreiche der seelische Schaden der Betroffenen die notwendige Schwelle des Art. 4 Abs. 2 lit. b) ICTYStatut.36
b) Diskussion der Rechtsprechung Vorangestellt werden kann, dass der Rechtsprechung des ICTY und des ICTR in ihrer Auslegung des Merkmals „serious bodily or mental harm“ grundsätzlich zuzustimmen ist. Während die Verursachung eines körperlichen Schadens bei den Vorarbeiten zur Genozidkonvention ohne weiteres als mögliche Tathandlung anerkannt wurde, war die Aufnahme des seelischen Schadens umstrit33
ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-T, Urt. v. 2. August 2001, para. 514 i.V.m. 635. 34
ICTY, Prosecutor v. Blagojevic, Case No. IT-02-60-T, Urt. v. 17. Januar 2005, para. 647 ff. 35
Ebenda, para. 652, dazu auch para. 671.
36
Ebenda, para. 653.
Tathandlungen gemäß Art. II Genozidkonvention
185
ten. Das Merkmal wurde auf Initiative Chinas aufgenommen, das den Genozid durch die Verabreichung von Drogen erfasst wissen wollte. Hintergrund des Vorschlags waren die während des Zweiten Weltkrieges durch Japan an der chinesischen Bevölkerung mittels der Verabreichung von Drogen verübten Verbrechen. Der chinesische Delegierte wies darauf hin, dass diese Verbrechen zwar möglicherweise nicht so spektakulär gewesen seien wie Hitlers Tötungen in den Gaskammern, dass ihre Wirkung aber nicht weniger zerstörerisch gewesen sei.37 Das Merkmal „serious bodily or mental harm“ wurde bereits durch den District Court of Jerusalem im Fall Eichmann interpretiert. Das Urteil war Vorreiter der heutigen Rechtsprechung und wird von dieser regelmäßig zitiert. Das Gericht vertrat die Auffassung, dass schwere körperliche oder seelische Schäden verursacht werden können durch: „[…] enslavement, starvation, deportation and persecution … and by their detention in ghettos, transit camps and concentration camps in conditions which were designed to cause their degradation, deprivation of their rights as human beings, and to suppress them and cause them inhumane suffering and torture.“38 Die Verbrechenselemente zu Art. 6 lit. b) ICC-Statut übernehmen die im Fall Akayesu entwickelten möglichen Formen der Verursachung schwerer körperlicher oder seelischer Schäden.39 Der Vorbereitungsausschuss für den Internationalen Strafgerichtshof war der Ansicht, dass die seelische Schädigung mehr als eine geringfügige vorübergehende Störung der geistigen Fähigkeiten erfordere,40 so wie es die Rechtsprechung verschiedentlich bestätigt hat.
37
rd
th
st
UN GAOR, 3 session, 6 Committee, 81 meeting, S. 175, Mr. Titsun Li; ausführlich zu den Diskussionen während der Vorarbeiten Gorove, The Problem of „Mental Harm“ in the Genocide Convention, Washington University Law Quarterly 1951, S. 174 ff. 38
Attorney General of the Government of Israel v. Eichmann, District Court of Jerusalem, Urt. v. 12. Dezember 1961, ILR 36 (1968), S. 18 (238). 39
Report of the Preparatory Commission for the International Criminal Court, Finalized Draft Text of the Elements of Crimes, UN Doc. PCNICC/ 2000/1/Add.2, Article 6 (b), Erstes Element, Fn. 3: „This conduct may include, but is not necessarily restricted to, acts of torture, rape, sexual violence or inhuman or degrading treatment.“ 40
Report of the Preparatory Committee on the Establishment of an International Criminal Court, UN Doc. A/Conf.183/2/Add.1, S. 11.
3. Teil
186
Im Gegensatz dazu vertrat die Völkerrechtskommission, dass der körperliche oder der seelische Schaden so schwerwiegend sein müsse, dass die Gruppe hierdurch ganz oder teilweise zerstört zu werden droht.41 Diese Auslegung überzeugt indessen nicht, da sie nicht nur den Wortlaut der Norm überschreitet, sondern auf diese Weise auch Merkmale des subjektiven Tatbestandes in den objektiven Tatbestand hineingelesen werden, sodass eine Vermischung der Elemente droht.42 Außerdem würde durch diese Auslegung der Nachweis der Tathandlung des lit. b) unnötigerweise zusätzlich erschwert. In der deutschen Gesetzgebung wird die Frage, welche Schäden im Fall des § 6 Abs. 1 Nr. 2 VStGB gemeint sind, durch einen Hinweis auf § 226 StGB43 konkretisiert. Der Zusatz „insbesondere“ verdeutlicht dabei allerdings, dass die in § 226 StGB enthaltene Auflistung von schweren Körperverletzungen nicht abschließend ist, sondern der Rechtsprechung Ermessensspielraum verbleibt. Nach der österreichischen Gesetzgebung fallen unter die schweren körperlichen Schäden alle Schäden, die eine länger als 24 Stunden dauernde Gesundheitsbeschädigung oder Berufsunfähigkeit zur Folge haben.44 Diese Normierung ist zu kritisieren, da sich aus der 24-stündigen Dauer einer Gesundheitsbeeinträchtigung pauschal kein Urteil über die Tragweite einer Schädigung fällen lässt. Erforderlich ist vielmehr die genaue Betrachtung der Schädigung im Einzelfall.45 In der US-amerikanischen Genozidgesetzgebung findet sich eine Interpretationserklärung mit dem Inhalt, dass der Begriff des „mental harm“ auf die dauerhafte Beeinträchtigung der geistigen Fähigkeiten durch 41
Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind, Report of the International Law Commission on the Work of its forty-eighth session, 6 May – 26 July 1996, UN Doc. A/51/10, Art. 17, para. 14; ähnlich Drost, The Crime of State, Book II: Genocide, 1959, S. 86. 42
Schabas, in: Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of an International Criminal Court, 1999, Art. 6: Genocide, Rn. 10; ders., Genocide in International Law, 2000, S. 161. 43
§ 226 StGB [Schwere Körperverletzung]: „(1) Hat die Körperverletzung zur Folge, dass die verletzte Person 1. das Sehvermögen auf einem Auge oder beiden Augen, das Gehör, das Sprechvermögen oder die Fortpflanzungsfähigkeit verliert, 2. ein wichtiges Glied des Körpers verliert oder dauernd nicht mehr gebrauchen kann oder 3. in erheblicher Weise dauernd entstellt wird oder in Siechtum, Lähmung oder geistige Krankheit oder Behinderung verfällt, … “ 44
§ 321 Abs. 1 i.V.m. § 84 Abs. 1 öStGB.
45
Ebenfalls kritisch MK-StGB-Kreß, § 220 a/§ 6 VStGB, Rn. 50.
Tathandlungen gemäß Art. II Genozidkonvention
187
Drogen, Folter oder ähnliche Techniken beschränkt sei.46 Diese Interpretation überzeugt schon deshalb nicht, weil sie zusätzliche Beweisprobleme mit sich bringen würde, ohne erforderlich zu sein. Immerhin entgehen die Täter nach der US-amerikanischen Gesetzgebung schon dann einer Bestrafung, wenn sie nachweisen können, dass sie keine dauerhaften Schäden, sondern „nur“ vorübergehende verursachen wollten.47 Es ist zwar zutreffend, dass die Schädigung über vorübergehendes Unglück, Verlegenheit oder Demütigung hinausgehen muss, die Forderung dauerhafter und unheilbarer Schäden ist in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung von ICTR und ICTY aber dennoch als zu weitgehend abzulehnen. Entscheidend muss sein, ob die Tathandlung den von Art. II lit. b) Genozidkonvention vorausgesetzten Grad der Schwere erreicht. Teilweise wird die Auffassung vertreten, dass das Merkmal des „mental harm“ keinen eigenständigen Bedeutungsgehalt habe. Erforderlich seien ein physisch wirkender Angriff oder körperliche Auswirkungen des seelischen Schadens.48 Dieser Lösung wird zu Recht entgegengehalten, dass die Verursachung schwerer seelischer Schäden kein Sonderfall des physischen Genozids ist. Der Wortlaut stellt beide Alternativen gleichrangig nebeneinander.49 Positiv ist hervorzuheben, dass die UN ad hoc-Tribunale Vergewaltigungen und andere Sexualdelikte als mögliche Tathandlungen von Genozid, einschließlich der Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden, anerkannt haben. Sexuelle Gewalttaten gegen Frauen spielten in den Konflikten im ehemaligen Jugoslawien und in
46
18 U.S.C. § 1091 (a) (3), abgedruckt in: Paust u.a. (Hrsg.), International Criminal Law Cases and Materials, 2007, S. 798; vgl. dazu LeBlanc, The United States and the Genocide Convention, 1991, S. 171 ff. 47
Paust, Congress and Genocide, Michigan Journal of International Law 11 (1989), S. 90 (97). 48
Lehmler, Die Strafbarkeit von Vertreibungen aus ethnischen Gründen im bewaffneten nicht-internationalen Konflikt, 1999, S. 210; auch in der russischen und weißrussischen Genozidgesetzgebung sind körperliche Schäden nicht ausdrücklich, sondern nur dann erfasst, wenn sie zugleich Gesundheits- bzw. körperliche Schäden darstellen, Lammich, Russland und Weißrussland, in: Eser/ Sieber/Kreicker (Hrsg.), Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen, Band 6, 2005, S. 351 (358 f.). 49
Werle, Völkerstrafrecht, 2003, S. 571, Rn. 568.
188
3. Teil
Ruanda eine zentrale Rolle.50 Bahnbrechend war insoweit das Urteil im Fall Akayesu. Zum einen deshalb, weil das Gericht sexuelle Gewalt als integralen Bestandteil des Genozids in Ruanda anerkannte, und zum anderen, weil Akayesu unter anderem für die Begehung sexueller Gewalttaten wegen Genozids verurteilt wurde.51 Diese Entwicklung ist begrüßenswert, weil sexuelle Gewalttaten während innerstaatlicher und internationaler Konflikte in der Historie weit verbreitet waren. In der Vergangenheit wurden Sexualverbrechen jedoch zumeist als (unvermeidbare) Begleiterscheinung der entsprechenden Konflikte angesehen.52 Beispielsweise wurden die Nationalsozialisten in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen nicht wegen der verübten sexuellen Gewalttaten angeklagt53 – und dies, obwohl Vergewaltigungen und erzwungene Prostitution in großem Umfang und systematisch verübt worden waren. Es ist anzunehmen, dass die aktuelle Entwicklung nicht zuletzt 50
Zur Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale und zur Problematik des Verhältnisses von sexuellen Gewalttaten, insbesondere Vergewaltigungen, zum Tatbestand des Genozids Askin, Sexual Violence in the Decisions and Indictments of the Yugoslav and Rwandan Tribunals: Current Status, AJIL 93 (1999), S. 97 ff.; Russell-Brown, Rape as an Act of Genocide, Berkely Journal of International Law 21 (2003), S. 350 ff.; Salzman, Rape Camps as a Means of Ethnic Cleansing, HRQ 20 (1998), S. 348; Short, Sexual Violence as Genocide, Michigan Journal of Race and Law 8 (2003), S. 503 (504); Wu, Genocidal Rape in Bosnia, University of California Women’s Law Journal 4 (1993), S. 101 ff.; Viseur-Sellers, The Cultural Value of Sexual Violence, ASIL Proceedings 1999, S. 312 ff.; Fisher, Occupation of the Womb: Forced Impregnation as Genocide, Duke Law Journal 46 (1996), S. 91 ff.; Carpenter, Surfacing Children: Limitations of Genocidal Rape Discourse, HRQ 22 (2000), S. 428 ff. sowie Miller, From the International Criminal Tribunal for Rwanda to the International Criminal Court, Penn State Law Review 108 (2003), S. 349 ff., die die erste Anklage des ICTR gegen eine Frau (Pauline Nyiramasuhuko), der ehemaligen Familien- und Frauenministerin von Ruanda, wegen Vergewaltigung und speziell wegen der Anstiftung zur Vergewaltigung als Form des Genozids untersucht. 51
Askin, Sexual Violence in the Decisions and Indictments of the Yugoslav and Rwandan Tribunals: Current Status, AJIL 93 (1999), S. 97 (107). 52
Russell-Brown, Rape as an Act of Genocide, Berkely Journal of International Law 21 (2003), S. 350 f.; vgl. auch Copelon, Surfacing Gender: Reconceptualizing Crimes against Women in: Time of War, in: Stiglmayer (Hrsg.), Mass Rape, 1994, S. 197. 53
Meron, Rape as a Crime under International Humanitarian Law, AJIL 87 (1993), S. 424 (425 f.); Fisher, Occupation of the Womb: Forced Impregnation as Genocide, Duke Law Journal 46 (1996), S. 91 (103 f.).
Tathandlungen gemäß Art. II Genozidkonvention
189
darauf zurückzuführen ist, dass Frauen traditionell nur eine untergeordnete Rolle in der internationalen Rechtsprechung spielten, im ICTY und dem ICTR hingegen verschiedene Funktionen auf höchster Ebene bekleiden. Der Einfluss von Frauen spiegelt sich offensichtlich in der Rechtsprechung der Tribunale.54 Wie wichtig diese Entwicklung ist, zeigt sich darin, dass erst jüngst im Sudan sexuelle Gewalt gegen Frauen ein wesentlicher Bestandteil der Kriegsstrategie der Janjawid-Milizen war.55 Vieles deutet darauf hin, dass die Frauen in Ruanda in erster Linie vergewaltigt wurden, um sie zu töten. Sei es durch die bloße Anzahl von Vergewaltigungen, welche die einzelnen Opfer erdulden mussten, sei es durch das Einführen scharfkantiger Objekte oder aber durch die Infizierung mit HIV.56 Berichte aus der jüngeren Zeit belegen, dass die Tutsi-Frauen durch die Vergewaltigungen gezielt mit HIV infiziert wurden, um sie einem schleichenden Tod auszusetzen.57 Vergewaltigungen waren die Methode und das Instrument, um die Tutsi als Gruppe auszulöschen. Jede der genannten Handlungen verursacht sowohl schwere körperliche als auch schwere seelische Schäden im Sinne des lit. b). Bei der Beurteilung der Taten ist zu bedenken, dass sexuelle Gewalt auf viele Opfer zusätzlich zu den körperlichen Verletzungen extreme psychische Auswirkungen hat. Typisch ist das Erleiden posttraumatischer Stresssyndrome.58 Mazowiecki, der Spezialberichterstatter der Menschenrechtskommission, führte zu den Vergewaltigungen im ehemaligen Jugoslawien aus, dass diese weit verbreitet als Methode der ethnischen Säuberungen eingesetzt wurden. Zwar hätten alle Konfliktparteien Vergewaltigungen begangen, die überwiegende Mehrzahl der Vergewaltigungen sei jedoch von Serben gegen bosnisch-muslimische Frauen verübt worden. Ziel sei
54
So Askin, Sexual Violence in the Decisions and Indictments of the Yugoslav and Rwandan Tribunals: Current Status, AJIL 93 (1999), S. 97 (98). 55
Landgraf/Weber, Apokalyptische Reiter, ai-Journal August 2004, S. 18 ff.
56
Russell-Brown, Rape as an Act of Genocide, Berkely Journal of International Law 21 (2003), S. 350 (356); vgl. auch Miller, From the International Criminal Tribunal for Rwanda to the International Criminal Court, Penn State Law Review 108 (2003), S. 349 (355 ff.). 57
Russell-Brown, Rape as an Act of Genocide, Berkely Journal of International Law 21 (2003), S. 350 (354), m.w.N. 58
Ausführlich Bassiouni/Manikas, The Law of the International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, 1996, S. 587.
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3. Teil
es gewesen, die gesamte ethnische Gruppe zu erniedrigen, zu beschämen und zu terrorisieren.59 Viele Stellungnahmen, einschließlich des Abschlussberichts der Expertenkommission zum ehemaligen Jugoslawien, deuten zudem darauf hin, dass die Vergewaltigungen gezielt eingesetzt wurden, um Frauen zu schwängern. Schwangere Frauen seien so lange festgehalten worden, bis es zu spät für eine Abtreibung war. Teilweise ist sogar von eigens zu diesem Zweck eingerichteten Vergewaltigungslagern die Rede.60 Des Weiteren wird die Annahme geäußert, dass Vergewaltigungen von den Serben strategisch eingesetzt wurden.61 Wichtig ist es bei der rechtlichen Bewertung, das Verbrechen der erzwungenen Schwangerschaft von dem der Vergewaltigung zu unterscheiden. Eine differenzierte Betrachtung ist schon deshalb unerlässlich, weil die Schwängerung nicht notwendig durch eine Vergewaltigung erfolgen muss. Denkbar sind ebenfalls erzwungene Schwangerschaften im Wege künstlicher Befruchtung. Erzwungene Schwangerschaften können aus verschiedenen Gesichtspunkten unter die Tathandlung des Art. II lit. b) Genozidkonvention subsumiert werden. Liegt der erzwungenen Schwangerschaft eine Vergewaltigung zu Grunde, so verursacht diese, wie erläutert, für sich gesehen schwere körperliche und seelische Schäden. Insbesondere deshalb, weil es sich in der Regel um multiple Vergewaltigungen handeln wird. Des Weiteren verursacht auch die erzwungene Schwangerschaft schwere seelische Schäden bei den betrof59
Report on the Situation of Human Rights in the Territory of the Former Yugoslavia submitted by Tadeusz Mazowiecki, UN Doc.E/CN.4/1993/50, para. 82 ff. 60
Final Report of the Commission of Experts established pursuant to Security Council Resolution 780 (1992), UN Doc. S/1994/674, para 248 ff.; European Community Investigative Mission into the Treatment of Muslim Women in the Former Yugoslavia, Report to European Community Foreign Ministers, UN Doc. S/25240, para. 14 ff.; dazu ebenfalls Fisher, Occupation of the Womb: Forced Impregnation as Genocide, Duke Law Journal 46 (1996), S. 91 ff., m.w.N.; MacKinnon, Rape, Genocide, and Women’s Human Rights, Harvard Women’s Law Journal 17 (1994), S. 5 ff.; Stiglmayer, The Rapes in BosniaHerzegovina, in: dies. (Hrsg.), Mass Rape, 1994, S. 82 (insbes. 115 ff.); sowie Carpenter, Surfacing Children: Limitations of Genocidal Rape Discourse, HRQ 22 (2000), S. 428 ff., der sich insbesondere mit der Problematik der aus den erzwungenen Schwangerschaften hervorgegangenen Kinder befasst. 61
Seifert, War and Rape: A Preliminary Analysis, in: Stiglmayer (Hrsg.), Mass Rape, 1994, S. 54 (55); entsprechende Hinweise finden sich im Final Report of the Commission of Experts established pursuant to Security Council Resolution 780 (1992), UN Doc. S/1994/674, para. 252 f.
Tathandlungen gemäß Art. II Genozidkonvention
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fenen Frauen, die die Kinder ihrer Peiniger austragen müssen. Derartige Erlebnisse können zu schweren und auch irreversiblen psychischen Beeinträchtigungen bei den betroffenen Frauen führen. Schließlich ist das Festhalten der Schwangeren in Zwangslagern ohne ärztliche Versorgung geeignet, schwere körperliche Schäden herbeizuführen.62 Die geschilderten Taten als „bloße“ Vergewaltigung beziehungsweise geschlechterspezifisches Verbrechen und nicht als Genozid zu bestrafen, würde sowohl im Hinblick auf Ruanda als auch im Hinblick auf das ehemalige Jugoslawien die besondere Tragweite und Zielrichtung der Taten nur unzureichend erfassen. Genozidale Vergewaltigungen unterscheiden sich von Vergewaltigungen außerhalb eines Genozids. Im Rahmen eines Genozids werden Frauen von Männern nicht nur vergewaltigt, weil sie Frauen sind, sondern auch aufgrund ihrer Identität als Mitglieder einer bestimmten Gruppierung. Dieser Zusammenhang zwischen der Gruppenzugehörigkeit und dem Geschlecht darf nicht aus den Augen verloren werden. Beide Kriterien sind gleichermaßen wichtig und kennzeichnend. Genozidale Vergewaltigungen werden kontrolliert und auf Befehl eingesetzt, um Gesellschaften zu zerrütten und Gemeinschaften zu zerstören. Die Frauen werden als Mittel der Zerstörung instrumentalisiert. Unter diesen Voraussetzungen sind Vergewaltigungen ebenso wie andere sexuelle Gewalttaten Formen von Genozid und müssen als solche verfolgt werden.63
3. Vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen a) Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale In Art. II lit. c) Genozidkonvention ist die vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen, als Tathandlung normiert. Die erste Strafkammer des ICTR vertrat im Fall Akayesu die Auffassung, dass: 62
Dazu insgesamt Fisher, Occupation of the Womb: Forced Impregnation as Genocide, Duke Law Journal 46 (1996), S. 91 (122 f.). 63
So auch MacKinnon, Rape, Genocide, and Women’s Human Rights, Harvard Women’s Law Journal 17 (1994), S. 5 ff.; Russell-Brown, Rape as an Act of Genocide, Berkely Journal of International Law 21 (2003), S. 350 ff.
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„[…] the expression deliberately inflicting on the group conditions of life calculated to bring about its physical destruction in whole or in part, should be construed as the methods of destruction by which the perpetrator does not immediately kill the members of the group, but which, ultimately, seek their physical destruction. For purposes of interpreting Article 2 (2) (c) of the Statute, the Chamber is of the opinion that the means of deliberate inflicting on the group conditions of life calculated to bring about its physical destruction, in whole or in part, include, inter alia, subjecting a group on a subsistence diet, systematic expulsion from homes and the reduction of essential medical services below minimum requirement.“64 In den Urteilen gegen Rutaganda65 und Musema66 behielt die erste Strafkammer diese Auslegung bei. Die zweite Strafkammer stimmte in ihrem Urteil gegen Kayishema und Ruzindana mit der Auslegung der ersten Strafkammer überein. Auch nach ihrer Auffassung bezieht sich lit. c) auf solche Methoden der Zerstörung, die nicht unmittelbar den Tod von Mitgliedern der Gruppe herbeiführen. Allerdings bewertete die zweite Strafkammer zusätzliche Lebensbedingungen als zerstörerisch im Sinne von lit. c). Neben dem Aushungern der Gruppe und der Reduzierung der erforderlichen medizinischen Versorgung unter ein Mindestmaß, nannte sie Vergewaltigungen sowie die Vorenthaltung ausreichender Unterbringung über einen unzumutbaren Zeitraum, vorausgesetzt diese Methoden könnten zu der ganzen oder teilweisen Zerstörung der Gruppe führen. Des Weiteren wurden die Vorenthaltung ausreichender Bekleidung und hygienischer Versorgung sowie Zwangsarbeit angeführt.67 Das ICTY schloss sich der in diesen beiden Urteilen vertretenen Auslegung in seinen Urteilen gegen beispielsweise Stakic und Brdjanin an.68
64
ICTR, Prosecutor v. Akayesu, Case No. ICTR-96-4-T, Urt. v. 2. September 1998, para. 505 f. 65
ICTR, Prosecutor v. Rutaganda, Case No. ICTR-96-3-T, Urt. v. 6. Dezember 1999, para. 52. 66
ICTR, Prosecutor v. Musema, Case No. ICTR-96-13-T, Urt. v. 27. Januar 2000, para. 157. 67
ICTR, Prosecutor v. Kayishema & Ruzindana, Case No. ICTR-95-1-T, Urt. v. 21. Mai 1999, para. 115 f. 68
ICTY, Prosecuor v. Stakic, Case No. IT-97-24-T, Urt. v. 31. Juli 2003, para. 517; ICTY, Prosecutor v. Brdjanin, Case No. IT-99-36-T, Urt. v. 1. September 2004, para. 691.
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193
Allerdings wurde im Stakic-Urteil darauf hingewiesen, dass die (teilweise) Deportierung der Gruppe für die Erfüllung von lit. c) nicht ausreichend sei. Zwischen der physischen Zerstörung einer Gruppe und ihrer reinen Auflösung müsse eindeutig unterschieden werden. Die Vertreibung einer Gruppe oder eines Gruppenteils reiche für sich gesehen für einen Genozid nicht aus.69 Diese Sichtweise wurde in der Rechtsmittelentscheidung im Fall Krstic ausdrücklich bestätigt.70 Bereits zu einem früheren Zeitpunkt hatte das ICTY in seiner Rule 61-Entscheidung im Fall Karadzic und Mladic darauf hingewiesen, dass die vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen im Sinne des lit. c) in den Zwangslagern sowie durch die Belagerung und den Beschuss von Städten und Schutzzonen realisiert worden sei.71
b) Diskussion der Rechtsprechung Der Rechtsprechung von ICTR und ICTY zu der in Art. II lit. c) Genozidkonvention als Tathandlung normierten Auferlegung zerstörerischer Lebensbedingungen kann in ihren grundsätzlichen Aussagen zugestimmt werden. Zutreffend ist zunächst, dass die jeweiligen Maßnahmen die Zerstörung der Gruppe nicht tatsächlich herbeiführen müssen.72 Da dem Wortlaut nach die Eignung zur teilweisen Zerstörung der Gruppe ausreichend ist, genügt es, wenn nur ein Teil der Gruppe den zerstörerischen Lebensbedingungen unterworfen wird.73 Der Wortlaut „vorsätzliche Auf-
69
ICTY, Prosecuor v. Stakic, Case No. IT-97-24-T, Urt. v. 31. Juli 2003, para. 517 ff. 70
ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-A, Urt. v. 19. April 2004, para. 33. 71
ICTY, Prosecutor v. Karadzic & Mladic, Case Nos. IT-95-5-R61 & IT-9518-R61, Review of the Indictments pursuant to Rule 61 of the Rules of Procedure and Evidence, 11. Juli 1996, para. 93. 72
Dabei darf der Terminus der „Zerstörung“ nicht mit dem des „Todes“ gleichgesetzt werden. Abzulehnen ist deshalb der engere österreichische Tatbestand, in dem normiert ist, dass die Lebensbedingungen geeignet sein müssen, „den Tod aller Mitglieder oder eines Teils der Gruppe herbeizuführen.“ Vgl. dazu Triffterer öStGB/Triffterer, § 321, Rn. 68 f. 73
Werle, Völkerstrafrecht, 2003, S. 576, Rn. 572; LK-Jähnke, § 220 a, Rn. 11; im Ergebnis ebenfalls BGH, Beschl. v. 21. Februar 2001 – 3 StR 244/00, NJW 2001, 2732 (2733).
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erlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe“, in dem anklingt, dass die Gesamtgruppe betroffen sein muss, ist insofern irreführend. Fraglich ist allerdings, ob die Lebensbedingungen objektiv geeignet sein müssen, die Zerstörung der Gruppe herbeizuführen, oder ob es auf die subjektive Zielsetzung des Täters ankommt. Orientiert man sich an der deutschen Gesetzgebung, so ist die Frage schnell beantwortet, da das Wort „geeignet“ eine objektive Bedeutung hat.74 Dieser Befund hält einem Vergleich mit der englischen Textversion allerdings nicht stand, in der Art. II lit. c) Genozidkonvention formuliert ist als: „deliberately inflicting on the group conditions of life calculated to bring about its physical destruction in whole or in part.“ Das in diesem Kontext entscheidende Wort „calculated“ ist subjektiv zu verstehen.75 Dem deutschen Gesetzgeber kann somit nicht gefolgt werden, da die Vertragssprachen für die Auslegung entscheidend sind.76 Deshalb ist auch die Auffassung abzulehnen, die mit dem deutschen Wortlaut lit. c) als abstraktes Gefährdungsdelikt qualifiziert,77 da der englische Wortlaut eher eine konkrete Gefährdung erfordert.78 74
Für die objektive Zerstörungseignung ebenfalls MK-StGB-Kreß, § 220 a/ § 6 VStGB, Rn. 54; Triffterer, Kriminalpolitische und dogmatische Überlegungen zum Entwurf gleichlautender „Elements of Crimes“ für alle Tatbestände des Völkermordes, in: Schünemann u.a. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin, 2001, S. 1415 (1422 f.); und Vest, Genozid durch organisatorische Machtapparate, 2002, S. 124. 75
Ambos/Wirth, Genocide and War Crimes in the Former Yugoslavia Before German Criminal Courts, in: Fischer/Kreß/Lüders (Hrsg.), International and National Prosecution of Crimes Under International Law, 2004, S. 769 (784 ff.); zustimmend Gropengießer, Völkermord, in: Eser/Kreicker (Hrsg.), Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen, Band 1, 2003, S. 92 (102 f.); zu einem früheren Zeitpunkt in diese Richtung auch schon Jescheck, Die Internationale Genocidium-Konvention vom 9. Dezember 1948 und die Lehre vom Völkerstrafrecht, ZStW 66 (1954), S. 193 (212), der „calculated“ mit „dazu führen sollen“ übersetzte. 76
A. A. Kreß, The Crime of Genocide under International Law, International Criminal Law Review 6 (2006), S. 461 (481). 77
Triffterer, Die Bestrafung von Vertreibungsverbrechen, in: Blumenwitz (Hrsg.), Flucht und Vertreibung, 1987, S. 259 (283); zustimmend Hübner, Das Verbrechen des Völkermordes im internationalen und nationalen Recht, 2004, S. 128. 78
Ambos, Immer mehr Fragen im internationalen Strafrecht, NStZ 2001, S. 628 (630); ders./Wirth, Genocide and War Crimes in the Former Yugoslavia Before German Criminal Courts, in: Fischer/Kreß/Lüders (Hrsg.), Internatio-
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Unter Strafe stehen so genannte slow death measures.79 Dies sind Maßnahmen, die die Gruppenmitglieder nicht unmittelbar töten, auf Dauer aber zu ihrem Tod führen können.80 Wenn die Gruppe unmittelbar getötet oder körperlich zerstört wird, kommt hingegen die Verurteilung nach lit. a) oder b) in Betracht. Problematisch ist es, wenn die Gruppe zunächst zerstörerischen Lebensbedingungen ausgesetzt wird und aufgrund dessen zu einem späteren Zeitpunkt stirbt. Der District Court of Jerusalem entschied diesbezüglich im Fall Eichmann, dass die Bestrafung der Täter wegen der vorsätzlichen Auferlegung zerstörerischer Lebensbedingungen nur dann in Betracht komme, wenn die Opfer überlebt hätten.81 Dem kann nicht gefolgt werden, da der Unrechtsgehalt der Taten bei einem derartigen Urteilsspruch nur unzureichend wiedergegeben würde. Beizupflichten ist vielmehr der Rechtsprechung des BGH, der in einer solchen Konstellation von der Gleichrangigkeit der Tatmodalitäten ausgeht und eine materiell-rechtliche Tat im Rechtssinne annimmt.82 Die von der Rechtsprechung exemplarisch aufgeführten Lebensbedingungen, die zur Zerstörung einer Gruppe führen können, sind grundsätzlich zutreffend. Dabei orientierte sich die Rechtsprechung offensichtlich an der Auslegung von Robinson, der bereits 1961 zu der überzeugenden Feststellung gelangt war, dass es unmöglich sei, die Lebensbedingungen zu antizipieren, die unter Art. II lit. c) Genozidkonvention fallen können. Nur das Vorliegen der (Zerstörungs-) Absicht und die Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts können im Einzelfall darüber entscheiden, ob ein Genozid begangen wurde oder nicht.83 In den Verbrechenselementen zu Art. 6 lit. c) ICC-Statut wird die Rechtsprechung
nal and National Prosecution of Crimes Under International Law, 2004, S. 769 (784 ff.). 79
Drost, The Crime of State, Book II: Genocide, 1959, S. 87.
80
Werle, Völkerstrafrecht, 2003, S. 567, Rn. 570.
81
Attorney General of the Government of Israel v. Eichmann, District Court of Jerusalem, Urt. v. 12. Dezember 1961, ILR 36 (1968), S. 18 (235 f.). 82
BGH, Urt. v. 30. April 1999 – 3 StR 215/98, BGHSt 45, 64 (80) = NStZ 1999, 396 (401 ff.); so auch Selbmann, Der Tatbestand des Genozids im Völkerstrafrecht, 2002, S. 163. 83
Robinson, The Genocide Convention, 1960, S. 63 f.
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der Tribunale bestätigt.84 Ergänzend sei noch angemerkt, dass es bei einer Kombination verschiedener Maßnahmen ausreicht, wenn sie in ihrer Gesamtheit die erforderliche Wirkung erzielen.85 Typischer Anwendungsfall dieser Tatmodalität ist die Internierung in Konzentrations- und Arbeitslagern, wie den nationalsozialistischen Konzentrationslagern oder dem sowjetischen Gulag. Die Wahrheitskommission zu Guatemala verwies ihrerseits im Kontext des lit. c) auf das Niederreißen von Dörfern, die Zerstörung von Eigentum und bewirtschafteten Feldern sowie das Verbrennen der Ernte, wodurch der (Maya)-Bevölkerung die Lebensgrundlage entzogen wurde.86 Anzumerken ist diesbezüglich, dass bloße Eigentumsentziehungen nicht den Tatbestand des Genozids erfüllen, da sie nicht geeignet sind, die körperliche Zerstörung der Gruppe herbeizuführen.87 Sie können den Tatbestand des Art. II lit. c) Genozidkonvention nur dann erfüllen, wenn sie in unmittelbarem Zusammenhang mit weiteren Maßnahmen Lebensbedingungen schaffen, die zur körperlichen Zerstörung der Gruppe geeignet sind.88 Das in den Urteilen des ICTR und des ICTY zitierte Aushungern einer Gruppe wurde in der Historie immer wieder als Mittel zur Zerstörung bestimmter Gruppierungen eingesetzt. Tatsächlich sind einige der 84
Report of the Preparatory Commission for the International Criminal Court, Finalized Draft Text of the Elements of Crimes, UN Doc. PCNICC/ 2000/1/Add.2, Article 6 (c), 1. Element, Fn. 4. 85
BGH, Beschl. v. 21. Februar 2001 – 3 StR 244/00, NJW 2001, 2732 (2733); BGH, Urt. v. 30. April 1999 – 3 StR 215/98, BGHSt 45, 64 (80) = NStZ 1999, 396 (402); zustimmend MK-StGB-Kreß, § 220 a/§ 6 VStGB, Rn. 56. 86
Guatemala – Memory of Silence, Report of the Commission for Historical Clarification: Conclusions and Recommendations, February 1999, para. 116 ff., abgedruckt in FW 74 (1999), S. 511 (540 f.). 87
Tomuschat, Die Vertreibung der Sudetendeutschen, ZaöRV 56 (1996), S. 1 (11 ff.); a.A. Ermacora, Die sudetendeutschen Fragen, 1992, S. 177 f.; dem zustimmend Blumenwitz, Interessenausgleich zwischen Deutschland und den östlichen Nachbarstaaten. Die deutsch-tschechische Erklärung vom 21. Januar 1997 und die Ansprüche der deutschen Heimatvertriebenen, in: Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen (Hrsg.), Forschungsergebnisse der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 27, 1998, S. 32, zitiert bei Hübner, Das Verbrechen des Völkermordes im nationalen und im internationalen Recht, 2004, S. 130, Fn. 136. 88
Hübner, Das Verbrechen des Völkermordes im nationalen und im internationalen Recht, 2004, S. 130 f.
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schlimmsten menschenrechtlichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts durch Regierungen geschaffene oder beeinflusste Hungersnöte.89 Hungersnöte sind ebenso billige wie einfache Methoden zur Begehung von Massenmorden, die sogar den ärmsten und am stärksten unterentwickelten Staaten zur Verfügung stehen.90 Ein Beispiel für eine gezielte Hungerpolitik ist die der Sowjetunion in der Ukraine in den frühen 30er Jahren des letzten Jahrhunderts, der fünf bis sieben Millionen Menschen zum Opfer fielen. Der ukrainischen Bevölkerung wurden dabei seitens der Sowjetregierung so verheerend hohe Abgabequoten auf ihre Ernteerträge auferlegt, dass die Menschen selbst nicht mehr das Nötigste zum Leben hatten und verhungerten. Ziel der Politik war es, die ukrainische Nation als politischen Faktor und sozialen Organismus zu eliminieren.91 Hitlers Hungerpolitik ist ein weiteres dramatisches Beispiel für die Vorenthaltung von Nahrungsmitteln aus taktischen Gründen. Die geopolitische Tatsache, dass Deutschland sich nicht allein ernähren konnte und der ideologische Imperativ des Rassismus wurden zu der politischen Leitlinie verbunden, dass nur die „Herrenrasse“ ausreichende Nahrungsmittel erhielt. Die unzähligen Hungertoten in den Ghettos, den Konzentrationslagern und unter den Zwangsarbeitern sind das traurige Zeugnis dieser Politik.92 Als letztes Beispiel sei auf die Strategie von Mengistu hingewiesen, der in Äthiopien in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts den Hunger als Waffe gegen Abtrünnige einsetzte. Die äthiopische Regierung nutzte die bestehenden Bedingungen – wie die extreme Dürre – aus, um das Hungersterben früher, härter und in größerem Ausmaß herbeizuführen. Schätzungen zufolge waren über die Hälfte der 400.000 Hungertoten der Regierungspolitik zuzuschreiben.93
89
Marcus, Famine Crimes in International Law, AJIL 97 (2003), S. 245.
90
Jonassohn/Björnson, Genocide and Gross Human Rights Violations, 1998, S. 33. 91
Vgl. dazu Mace, The Man-Made Famine of 1933 in the Soviet-Ukraine: What Happened and Why?, in: Charny (Hrsg.), Toward the Understanding and Prevention of Genocide, 1984, S. 67 ff.; Werth, Ein Staat gegen sein Volk, in: Courtois u.a. (Hrsg.), Das Schwarzuch des Kommunismus, 2000, S. 51 (178 ff.); Conquest, The Harvest of Sorrow, 1987, insbes. S. 217 ff. 92
Jonassohn/Björnson, Genocide and Gross Human Rights Violations, 1998, S. 33 f. 93
Mayfield, The Prosecution of War Crimes and Respect for Human Rights: Ethiopia’s Balancing Act, Emory International Law Review 9 (1995),
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Die gesonderte Erwähnung von Vergewaltigungen als Lebensbedingung im Sinne des lit. c) durch das ICTR im Fall Kayishema und Ruzindana ist eine positive Entwicklung. Per se sind Vergewaltigungen zwar keine zerstörerischen Lebensbedingungen, wohl aber dann, wenn sie systematisch und wiederholt, möglicherweise im Verbund mit anderen Maßnahmen vorgenommen werden94 oder bestimmte Gesellschaften treffen. Auf islamische Gesellschaften haben Vergewaltigungen besonders zerstörerische Auswirkungen. In der traditionellen islamischen Kultur, die Jungfräulichkeit und Keuschheit vor der Ehe fordert, sind Opfer von Vergewaltigungen nicht mehr heiratsfähig und werden als für die Mutterschaft verdorben angesehen. Die Frauen werden ungeachtet dessen, dass sie vergewaltigt wurden, geächtet.95 Bassiouni hat zutreffend darauf hingewiesen, dass sich dieselbe Dynamik auch in anderen Gruppen entwickeln kann. Schließlich ist die Wahrscheinlichkeit zu heiraten und sich fortzupflanzen für Frauen jeder ethnischen, religiösen oder nationalen Gruppe nach einer Vergewaltigung geringer.96 Fraglich ist allerdings, ob systematische Vertreibungen, so wie vom ICTR vertreten, unter Art. II lit. c) Genozidkonvention fallen. Diese Frage hat angesichts der mit den ethnischen Säuberungen in den Balkankriegen verbundenen Vertreibungen in den letzten Jahren zu verstärkten Diskussionen Anlass gegeben.97 In der spanischen und äthiopischen Genozidgesetzgebung sind Vertreibungen als Tathandlung normiert.98 Zudem wird seitens der Literatur immer wieder gefordert, Vertreibungen unter Art. II lit. c) Genozidkonvention zu fassen.99 S. 553 ff.; Marcus, Famine Crimes in International Law, AJIL 97 (2003), S. 245 (255 ff.). 94
LK-Jähnke, § 220 a, Rn. 11; zustimmend Werle, Völkerstrafrecht, 2003, S. 216, Rn. 572. 95
Hierzu Fischer, Occupation of the Womb: Forced Impregnation as Genocide, Duke Law Journal 46 (1996), S. 91 (123); Bassiouni/Manikas, The Law of the International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, 1996, S. 587; Salzman, Rape Camps as a Means of Ethnic Cleansing, HRQ 20 (1998), S. 348 (364 ff., 375). 96
Bassiouni/Manikas, The Law of the International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, 1996, S. 587. 97 98
Zur Problematik der ethnischen Säuberungen s.u. 3. Teil, II. 2.
Art. 607 Abs. 1 Nr. 4 Spanisches Strafgesetzbuch, <www.preventgenocide.org/es/derecho/codigos/espana.htm>; Art. 281 lit. c) Äthiopisches Strafgesetzbuch, <www.preventgenocide.org/law/domestic/ethiopia.htm>; in den Strafgesetzen von Serbien, Montenegro und Slowenien sind Zwangsumsiedlun-
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Problematisch ist jedoch, dass der Tatbestand der Vertreibung – nämlich das erzwungene Verlassen des Wohnsitzes – in den entsprechenden Begründungen mit häufig anzutreffenden Begleiterscheinungen vermischt wird.100 So begründete Ermacora seine Auffassung damit, dass es bei einer Vertreibung um die Vernichtung einer Gruppe gehe. Es gehe um die Erzeugung von Lebensverhältnissen, die Geburt, Hygiene, ärztliche Betreuung und Bildung entscheidend berühren würden.101 Es ist zwar zutreffend, dass ein zentrales Element von Vertreibungen die Anwendung von oder Drohung mit Gewalt oder einer anderen Zwangsmaßnahme ist.102 Nicht jede Form der Vertreibung enthält jedoch notwendigerweise die Auferlegung von Lebensbedingungen, die zur körperlichen Zerstörung der Gruppe geeignet sind.103 Diese Tatbestandsvariante kann Folge der Vertreibung sein, muss es aber nicht.104 Das Attribut gen eine genozidale Tathandlung. Dazu Skulic, Serbien und Montenegro, in: Eser/Sieber/Kreicker (Hrsg.), Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen, Band 3, 2004, S. 211 (219 f.); und Korosec, Slowenien, in: Eser/Sieber/ Kreicker (Hrsg.), Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen, Band 3, 2004, S. 329 (338 f.). 99
Ermacora, Die sudetendeutschen Fragen, 1992, S. 256 ff.; ders., Vertreibung und Vertreibungsverbrechen vor dem Forum der Vereinten Nationen, in: Blumenwitz (Hrsg.), Flucht und Vertreibung, 1987, S. 229 (236 f.); de Zayas, Das Recht auf die Heimat, ethnische Säuberungen und das Internationale Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien, AVR 35 (1997), S. 29 (36 f.); Hübner, Das Verbrechen des Völkermordes im internationalen und nationalen Recht, 2004, S. 208 ff. 100
Lehmler, Die Strafbarkeit von Vertreibungen aus ethnischen Gründen im bewaffneten nicht-internationalen Konflikt, 1999, S. 216; vgl. auch Triffterer, Die Bestrafung von Vertreibungsverbrechen, in: Blumenwitz (Hrsg.), Flucht und Vertreibung, 1987, S. 259 (282). 101
Ermacora, Vertreibung und Vertreibungsverbrechen vor dem Forum der Vereinten Nationen, in: Blumenwitz (Hrsg.), Flucht und Vertreibung, 1987, S. 229 (236 f.); eine vergleichbare Argumentation findet sich in dem Gutachten Ermacoras, Die sudetendeutschen Fragen, 1992, S. 256 f. (259); ebenso Hübner, Das Verbrechen des Völkermordes im internationalen und nationalen Recht, 2004, S. 208 ff. 102
Triffterer, Die Bestrafung von Vertreibungsverbrechen, in: Blumenwitz (Hrsg.), Flucht und Vertreibung, 1987, S. 259 (264). 103
Zu verallgemeinernd daher Hübner, Das Verbrechen des Völkermordes im internationalen und nationalen Recht, 2004, S. 208. 104
Lehmler, Die Strafbarkeit von Vertreibungen aus ethnischen Gründen im bewaffneten nicht-internationalen Konflikt, 1999, S. 216 f.
3. Teil
200
„körperlich“ stellt seinerseits klar, dass es nicht ausreicht, wenn die Gruppe durch die Vertreibungen in ihrer sozialen Existenz zerstört beziehungsweise versprengt wird.105 Schließlich sprechen auch die Vorarbeiten zur Genozidkonvention dagegen, Vertreibungen generell als Tathandlung im Sinne des lit. c) zu interpretieren. Schon in dem den Entwurf des UN-Generalsekretärs begleitendem Kommentar wurde darauf hingewiesen, dass Massenvertreibungen der Bevölkerung den Tatbestand des Genozids nicht per se erfüllen.106 Die pauschale Einbeziehung von Vertreibungen als Tathandlung im Sinne des lit. c) ist deshalb als zu weitgehend abzulehnen.107 Die Verwirklichung von lit. c) durch die Vertreibung einer Gruppe kommt dann in Betracht, wenn bestimmte erschwerende Begleitumstände hinzukommen, die dazu führen, dass die Gruppe in ihrer körperlichen Existenz bedroht wird.108 Folglich entscheidet sich die Frage, ob Vertreibungen unter den Genozidtatbestand fallen, nach der Natur dieser Begleiterscheinungen.109 Vertreibungen gehen allerdings fast immer mit Handlungen einher, die den objektiven Tatbestand des Genozids erfüllen. Ein besonders eklatantes Beispiel hierfür sind die Vertreibungen der Armenier durch die türkischen Machthaber im Jahr 1915. Diese Ver105
Str., dazu eingehend s.u. 4. Teil, IV. 1.
106
Draft Convention on the Crime of Genocide prepared by the SecretaryGeneral, UN Doc. E/447, S. 24. 107
Ebenfalls ablehnend Tomuschat, Die Vertreibung der Sudetendeutschen, ZaöRV 56 (1996), S. 1 ff. (insbes. 12 ff.); Gil Gil, Derecho Penal Internacional, 1999, S. 223 f.; Heinze, Zur Durchsetzung der UN-Völkermordkonvention, HuV-I 2000, S. 225 (228); Lehmler, Die Strafbarkeit von Vertreibungen aus ethnischen Gründen im bewaffneten nicht-internationalen Konflikt, 1999, S. 216 f.; Triffterer, Die Bestrafung von Vertreibungsverbrechen, in: Blumenwitz (Hrsg.), Flucht und Vertreibung, 1987, S. 259 (282); MK-StGB-Kreß, § 220 a/§ 6 VStGB, Rn. 57; Werle, Völkerstrafrecht, 2003, S. 568, Rn. 572; LK-Jähnke, § 220 a, Rn. 11. 108
So auch LK-Jähnke, § 220 a, Rn. 11; Werle, Völkerstrafrecht, 2003, S. 576, Rn. 572; MK-StGB-Kreß, § 220 a/§ 6 VStGB, Rn. 57, mit dem zutreffenden Hinweis darauf, dass deshalb auch die missverständliche Erwähnung der „systematic expulsions from homes“ in den Verbrechenselementen einschränkend verstanden werden sollte. 109
Wirth, Zum subjektiven Tatbestand des Völkermordes – Zerstörungsabsicht und Vertreibungsverbrechen, in: Rill (Hrsg.), Gegen Völkermord und Vertreibung, 2001, S. 59 (73).
Tathandlungen gemäß Art. II Genozidkonvention
201
treibungen waren mit dem Entzug der fundamentalen menschlichen Lebensgrundlagen verbunden. Die Menschen waren Hunger, Durst, Hitze, Kälte und Seuchen ausgesetzt, sodass unzählige Menschen aufgrund von Krankheit, Unterernährung und Erschöpfung starben.110 Ein weiteres grausames Beispiel ist der Genozid am Volk der Herero in Namibia durch die deutsche Kolonialmacht im Jahr 1904. Nachdem die deutschen Truppen unter General von Trotha die aufständischen Herero besiegt hatten, jagten sie sie unter Gewaltanwendung und ständiger Bedrohung gezielt in die Wüste. Von Trotha hatte das klare Ziel, die Herero als Volk zu vernichten. Die Wüste sollte vollenden, was die deutsche Armee begonnen hatte.111 Sein Plan war erfolgreich – abertausende Frauen, Männer und Kinder verendeten langsam und qualvoll.112 Die deutsche Rechtsprechung hat sich im Hinblick auf die Problematik der Vertreibungen gewandelt. Das erste Genozidurteil des BGH im Fall Jorgic deutete in Anlehnung an das Urteil im Fall Akayesu noch darauf hin, dass Vertreibungen für sich genommen Lebensbedingungen im Sinne des lit. c) sein können.113 Nunmehr hat der BGH ausdrücklich klargestellt, dass die bloße Vertreibung von Muslimen aus ihren Häusern und ihrem Heimatort für sich genommen noch keine unter § 220 a Abs. 1 Nr. 3 StGB a.F. fallende Völkermordhandlung sei. Die Voraussetzungen dieser Tatmodalität würden vielmehr erst durch die Gesamtheit der gegen die muslimische Bevölkerung gerichteten Terror- und Vernichtungsmaßnahmen erreicht.114 Abschließend ist noch darauf hinzuweisen, dass der Täter im konkreten Fall die zerstörerischen Lebensbedingungen der Gruppe beziehungsweise dem Gruppenteil vorsätzlich auferlegt haben muss, wie es etwa in der englischen Textversion durch die Wendung „deliberate“ klargestellt wird. In der deutschen Gesetzgebung war das Vorsatzerfordernis in
110
Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 168 i.V.m. 196; zum Genozid an den Armeniern s.o. 1. Teil, I. 2. b). 111
Dazu Drechsler, Aufstände in Südwestafrika, 1984, S. 77 ff.
112
Während des Genozids starben ca. 65.000 Herero, die wenigsten von ihnen im Kampf, die meisten in der Wüste, dazu Chalk/Jonassohn, The History and Sociology of Genocide, 1990, S. 230 ff. 113
BGH, Urt. v. 30. April 1999 – 3 StR 215/98, BGHSt, 45, 64 (81 f.) = NStZ 1999, 396 (402); noch deutlicher in diese Richtung BayObLG, Urt. v. 15. Dezember 1999 – 6 St 1/99, Umdruck, 164 f. 114
BGH, Beschl. v. 21. Februar 2001 – 3 StR 244/00, NJW 2001, 2732 (2733).
3. Teil
202
§ 220 a StGB a.F. nicht normiert, in § 6 VStGB ist es dann aufgenommen worden.
4. Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind a) Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale Art. II lit. d) Genozidkonvention erfasst als Tathandlung die Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind. Im Akayesu-Urteil entschied das ICTR, dass zu den Maßnahmen im Sinne des lit. d) sexuelle Verstümmelungen, Sterilisationen, erzwungene Geburtenkontrollen, Trennung der Geschlechter und Heiratsverbote zählen. Nach Auffassung des Gerichts ergibt sich für patriarchalische Gesellschaften, in denen sich die Mitgliedschaft in einer Gruppe nach der Identität des Vaters bestimmt, ein weiterer Anwendungsfall. Und zwar dann, wenn eine Frau durch einen Mann, der einer anderen Gruppe angehört, vergewaltigt und auf diese Weise gezielt geschwängert wird, in der Absicht, sie ein Kind zur Welt bringen zu lassen, das aufgrund der kulturellen Gegebenheiten nicht zur Gruppe der Mutter gehören wird.115 Zudem wies die Kammer darauf hin, dass die auf die Geburtenverhinderung gerichteten Maßnahmen nicht nur physischer, sondern auch mentaler Natur sein könnten. Beispielsweise könne eine Vergewaltigung eine derartige Maßnahme sein, wenn das Tatopfer sich nachfolgend weigert, sich fortzupflanzen, ebenso wie Mitglieder einer Gruppe durch Drohungen oder Traumata dazu gebracht werden könnten, sich nicht fortzupflanzen.116 Dieser Auslegung folgten die Urteile in den Fällen Kayishema und Ruzindana,117 Rutaganda118 und Musema.119 Das ICTY befasste sich mit der in lit. d) normierten Tathandlung lediglich indirekt. Im Rule 61115
ICTR, Prosecutor v. Akayesu, Case No. ICTR-96-4-T, Urt. v. 2. September 1998, para. 507. 116
Ebenda, para. 508.
117
ICTR, Prosecutor v. Kayishema & Ruzindana, Case No. ICTR-95-1-T, Urt. v. 21. Mai 1999, para. 117. 118
ICTR, Prosecutor v. Rutaganda, Case No. ICTR-96-3-T, Urt. v. 6. Dezember 1999, para. 53. 119
ICTR, Prosecutor v. Musema, Case No. ICTR-96-13-T, Urt. v. 27. Januar 2000, para. 158.
Tathandlungen gemäß Art. II Genozidkonvention
203
Verfahren gegen Karadzic und Mladic wurde bestätigt, dass in BosnienHerzegowina systematische Vergewaltigungen von Frauen eingesetzt wurden, um dem Kind eine neue ethnische [serbische] Identität zu geben.120
b) Diskussion der Rechtsprechung Die Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale ist auch zur Tatbestandsvariante des lit. d) grundsätzlich zutreffend. Allerdings sind auch in diesem Zusammenhang einige Anmerkungen erforderlich. Wichtig ist zunächst, dass in Art. II Genozidkonvention der Erfolg der verhängten Maßnahmen keine Tatbestandsvoraussetzung ist. Die Tathandlung besteht bereits in der Verhängung der entsprechenden Maßnahmen. Der Nachweis, dass tatsächlich Geburten innerhalb der Gruppe verhindert wurden, muss nicht geführt werden.121 Entsprechend dem Wortlaut der Norm ist es im Gegensatz zu Art. II lit. c) Genozidkonvention des Weiteren nicht erforderlich, dass die Maßnahmen „calculated“ waren, die Zerstörung der Gruppe herbeizuführen.122 Sie müssen allerdings objektiv geeignet sein, Geburten zu verhindern. 123 Eichmann wurde durch den Israelischen Obersten Gerichtshof für seine konzeptionelle Mitwirkung an Schwangerschaftsabbrüchen und Geburtenverboten im Ghetto Theresienstadt verurteilt.124
120
ICTY, Prosecutor v. Karadzic & Mladic, Case Nos. IT-95-5-R61 & IT-9518-R61, Review of the Indictments pursuant to Rule 61 of the Rules of Procedure and Evidence, 11. Juli 1996, para. 94. 121
Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 173; die USA drangen in der Vorbereitungskommission zum ICC-Statut mit ihrem Vorschlag, die tatsächliche Verhinderung von Geburten in den Verbrechenselementen zur Voraussetzung zu machen (Proposal submitted by the United States of America, UN Doc. PCNICC/1999/DP.4, S. 6), nicht durch, da in einer entsprechenden Formulierung eine klare Wortlautüberschreitung bestanden hätte (Proposal submitted by Columbia, UN Doc. PCNICC/1999/WGEC/DP.2, S. 2). 122
Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 174; Triffterer öStGB/ Triffterer, § 321, Rn. 71. 123
MK-StGB-Kreß, § 220 a/§ 6 VStGB, Rn. 61; ders., The Crime of Genocide under International Law, International Criminal Law Review 6 (2006), S. 461 (483). 124
Attorney General of the Government of Israel v. Eichmann, District Court of Jerusalem, Urt. v. 12. Dezember 1961, ILR 36 (1968), S. 18 (274).
3. Teil
204
Der klassische Anwendungsfall der Tatbestandsvariante des lit. d) sind erzwungene Sterilisierungen und Kastrationen, wie sie auch von den Nationalsozialisten durchgeführt wurden. So wurde der ehemalige Lagerkommandant in Auschwitz, Höß, unter anderem wegen der in Auschwitz durchgeführten Kastrationen, Sterilisationen und Schwangerschaftsabbrüche für seine Teilnahme am Genozid verurteilt.125 Die Maßnahmen müssen jedoch nicht auf die klassische Form der Sterilisation beschränkt sein; Trennung der Geschlechter, Heiratsverbote und ähnliche Maßnahmen sind ebenso restriktiv und können zu denselben Ergebnissen führen.126 Die Völkerrechtskommission hat zutreffend darauf hingewiesen, dass das Element „imposing measures“ die Anwendung von Zwang impliziert. Dementsprechend würde die Vorschrift nicht auf freiwillige Geburtenkontrollen im Rahmen einer staatlich geförderten Sozialpolitik anwendbar sein.127 Das Gleiche gilt für die Straflosstellung von Schwangerschaftsabbrüchen oder für die kostenlose Bereitstellung klinischer Möglichkeiten für einen ärztlichen Schwangerschaftsabbruch. Beide Alternativen sind der Geburtenverhinderung zwar dienlich, sie bewirken eine solche jedoch nur durch eine freiwillige Entscheidung der betroffenen Personen.128 Zuzustimmen ist der Rechtsprechung insbesondere darin, dass Vergewaltigungen und erzwungene Schwangerschaften unter Umständen unter lit. d) subsumiert werden können.129 Sowohl Vergewaltigungen als auch erzwungene Schwangerschaften können Maßnahmen darstellen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind. Zunächst einmal besteht die Gefahr, dass das weibliche Opfer durch die Vergewaltigung und/oder erzwungene Schwangerschaft so schwere
125
Dazu oben 1. Teil, I. 5. c).
126
Robinson, The Genocide Convention, 1960, S. 64; Drost, The Crime of State, Book II: Genocide, 1959, S. 87; LK-Jähnke, § 220 a, Rn. 11; a.A. Vest, Genozid durch organisatorische Machtapparate, 2002, S. 125. 127
Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind, Report of the International Law Commission on the Work of its forty-eighth session, 6 May – 26 July 1996, UN Doc. A/51/10, Art. 17, para. 16. 128 129
Triffterer öStGB/Triffterer, § 321, Rn. 72.
A.A. Vest, Genozid durch organisatorische Machtapparate, 2002, S. 127, der eine solche Interpretation ablehnt, weil sie den Wortsinn und das übliche Verständnis von lit. d) sprengen würde; kritisch ebenfalls Akhavan, The Crime of Genocide in the ICTR Jurisprudence, JICJ 3 (2005), S. 989 (1004 f.).
Tathandlungen gemäß Art. II Genozidkonvention
205
körperliche Verletzungen erlitten hat, dass es unfruchtbar wird.130 Wie im Akayesu-Urteil richtigerweise aufgezeigt wird, können die Opfer durch Vergewaltigungen zudem so stark traumatisiert werden, dass sie nachfolgend unfähig werden, sexuelle Beziehungen einzugehen beziehungsweise sich weigern, sich fortzupflanzen. Derartige Traumata werden durch erzwungene Schwangerschaften in der Regel noch verstärkt.131 Wie erläutert sind die betroffenen Frauen darüber hinaus in bestimmten Gesellschaftsformen nicht mehr heiratsfähig oder kommen als potentielle Mütter nicht mehr in Betracht. Beide Aspekte – die psychische Schädigung der Frauen ebenso wie ihre soziale Ausgrenzung – führen funktional betrachtet gleichermaßen dazu, dass die Gemeinschaft den Nutzen der Zeugungsfähigkeit der Frau verliert.132 Im Akayesu-Urteil wird ebenfalls zutreffend ausgeführt, dass erzwungene Schwangerschaften in patriarchalischen Gesellschaften schließlich auch deshalb Maßnahmen zur Geburtenverhinderung sind, weil die geschwängerte Frau ein Kind zur Welt bringen muss, welches der Gruppe des Vergewaltigers angehört. In der Regel behalten die Frauen diese Kinder nicht und selbst wenn, werden sie von der Gesellschaft nicht als „dazugehörig“ akzeptiert. Das geborene Kind hat für die Gruppe der Frau daher keinen „Wert“ im Hinblick auf den Gruppenerhalt. Um Maßnahmen zur Geburtenverhinderung handelt es sich bei diesen Schwangerschaften deshalb, weil die Gebärmütter der geschwängerten Frauen während der Schwangerschaft praktisch „besetzt“ sind, sodass sie in der Zeit kein Kind eines Mannes ihrer eigenen Gruppe austragen können.133
130
Salzman, Rape Camps as a Means of Ethnic Cleansing, HRQ 20 (1998), S. 348 (375). 131
Zu den durch die Vergewaltigungen beziehungsweise durch die erzwungenen Schwangerschaften verursachten psychischen Schädigungen Bassiouni/ Manikas, The Law of the International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, 1996, S. 587 f.; Fischer, Occupation of the Womb: Forced Impregnation as Genocide, Duke Law Journal 46 (1996), S. 91 (121 ff.); Short, Sexual Violence as Genocide, Michigan Journal of Race and Law 8 (2003), S. 503 (509 ff.). 132
Fischer, Occupation of the Womb: Forced Impregnation as Genocide, Duke Law Journal 46 (1996), S. 91 (122); Short, Sexual Violence as Genocide, Michigan Journal of Race and Law 8 (2003), S. 503 (511); Bassiouni/Manikas, The Law of the International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, 1996, S. 588. 133
Zu dieser Problematik Fischer, Occupation of the Womb: Forced Impregnation as Genocide, Duke Law Journal 46 (1996), S. 91 (124); Bassiouni/
3. Teil
206
5. Gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe a) Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale Als fünfte Tatbestandsvariante ist die gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe normiert. Die Tatsache, dass diese Tathandlung in Ruanda und im ehemaligen Jugoslawien keine Rolle spielte, spiegelt sich in den Urteilen der UN ad hoc-Tribunale, die nur wenige Ausführungen hierzu enthalten. Im Akayesu-Urteil vertrat die erste Strafkammer des ICTR, dass im Hinblick auf die gewaltsame Überführung von Kindern einer Gruppe in eine andere Gruppe ebenso wie im Falle von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung gerichtet sind, das Ziel der Vorschrift nicht nur darin bestehe, die erzwungene körperliche Überführung zu sanktionieren. Bestraft werden müssten auch die Bedrohungen und Traumata, die die erzwungene Überführung von Kindern aus einer Gruppe in eine andere herbeiführen.134 Diese Interpretation hat sie in den Fällen Rutaganda135 und Musema136 beibehalten. Darüber hinaus schloss sich ihr die zweite Strafkammer im Urteil gegen Kayishema und Ruzindana an.137 Das ICTY hat sich bislang mit der Tatbestandsvariante des lit. e) nicht befasst.
b) Diskussion der Rechtsprechung Wie eingangs erwähnt finden sich in dem in lit. e) normierten Verbot der gewaltsamen Überführung von Kindern der einen Gruppe in eine andere Gruppe Elemente des biologischen und des kulturellen Genozids138 – wobei diese Einordnung umstritten ist. Ursprünglich war das Manikas, The Law of the International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, 1996, S. 588; Salzman, Rape Camps as a Means of Ethnic Cleansing, HRQ 20 (1998), S. 348 (364 ff.). 134
ICTR, Prosecutor v. Akayesu, Case No. ICTR-96-4-T, Urt. v. 2. September 1998, para. 509. 135
ICTR, Prosecutor v. Rutaganda, Case No. ICTR-96-3-T, Urt. v. 6. Dezember 1999, para. 54. 136
ICTR, Prosecutor v. Musema, Case No. ICTR-96-13-T, Urt. v. 27. Januar 2000, para. 159. 137
ICTR, Prosecutor v. Kayishema & Ruzindana, Case No. ICTR-95-1-T, Urt. v. 21. Mai 1999, para. 118. 138
Zur Problematik des kulturellen Genozids s.u. 3. Teil, II. 1.
Tathandlungen gemäß Art. II Genozidkonvention
207
zitierte Verbot als Form des kulturellen Genozids im Konventionsentwurf des UN-Generalsekretärs enthalten. Nachdem man sich nachfolgend gegen die Aufnahme des kulturellen Genozids entschieden hatte, wurde das Verbot der gewaltsamen Überführung von Kindern im Sechsten Ausschuss als eigenständige Tathandlung normiert.139 Einige Autoren sehen in Art. II lit. e) Genozidkonvention eine spezielle Form des kulturellen Genozids. Zur Begründung wird angeführt, dass die Kinder durch die Assimilation an eine andere Gruppe ihre kulturelle Identität verlieren würden.140 Allerdings ist zu bedenken, dass die gewaltsame Überführung von Kindern der einen Gruppe in eine andere Gruppe auch biologische Auswirkungen auf die Gruppe haben kann. Schließlich wird der Gruppe durch diese Maßnahme langfristig die Möglichkeit zur Reproduktion genommen.141 Griechenland führte während der Debatten im Sechsten Ausschuss an, dass zwischen erzwungener Sterilisation oder Abtreibung und Kindesentführung kaum ein Unterschied bestehe. Zusätzlich wurde dahin gehend argumentiert, dass durch die gewaltsame Überführung den jungen Menschen Lebensbedingungen auferlegt würden, die ihnen schwere Schäden zufügen oder sogar ihren Tod bewirken könnten.142 Auch die Völkerrechtskommission urteilte, dass die erzwungene Überführung von Kindern besondere Auswirkungen auf die zukünftige Lebensfähigkeit einer Gruppe hat.143
139
Ruhashyankiko, Study of the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/416, 1978, S. 14 ff., para. 89 f.; zu den Vorarbeiten zur Genozidkonvention s.o. 1. Teil, I. 7. 140
Nsereko, Genocide: A Crime against Mankind, in: MacDonald/SwaakGoldman (Hrsg.), Substantive and Procedural Aspects of International Criminal Law, Vol. I, 2000, S. 117 (130); Triffterer öStGB/Triffterer, § 321, Rn. 77; Gil Gil, Derecho Penal Internacional, 1999, S. 221 f.; Orentlicher, Genocide, in: Gutman/Rieff (Hrsg.), Crimes of War, 1999, S. 153 (154); Ruhashyankiko, Study of the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/416, 1978, S. 14 ff., para. 91. 141
So auch Werle, Völkerstrafrecht, 2003, S. 578, Rn. 577; MK-StGB-Kreß, § 220 a/§ 6 VStGB, Rn. 65. 142
rd
th
nd
UN GAOR, 3 session, 6 Committee, 82 meeting, S. 182 ff., Mr. Vallindas. 143
Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind, Report of the International Law Commission on the Work of its forty-eighth session, 6 May – 26 July 1996, UN Doc. A/51/10, Art. 17, para. 17.
3. Teil
208
In der Historie finden sich verschiedene Beispiele für diese Tathandlung. Auslöser für den Antrag Griechenlands war, dass Kommunisten zum Ende des Zweiten Weltkrieges Tausende griechischer Kinder in osteuropäische Länder unter kommunistischer Kontrolle überführt hatten.144 Des Weiteren gibt es Hinweise darauf, dass die Khmer Rouge während ihrer Schreckensherrschaft das dörfliche Leben dergestalt organisierten, dass die traditionellen Familienstrukturen unterlaufen wurden. So heißt es, dass unter anderem die Kinder von ihren Eltern getrennt und dazu ermuntert worden seien, über „unzuverlässige“ Verwandte Bericht zu erstatten.145 In jüngerer Zeit wurde die Tatmodalität des lit. e) verstärkt in Australien im Hinblick auf die Praxis diskutiert, dass die Kinder der Aboriginies bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts gewaltsam von ihren Familien getrennt worden waren. Die Australian Human Rights and Equal Opportunities Commission kam zu dem Ergebnis, dass in dieser Praxis eine Verletzung von Art. II lit. e) Genozidkonvention lag. Entsprechend der Nachforschungen der Kommission war das vorherrschende Ziel der Wegnahme der indigenen Kinder ihre Assimilation an eine größere, nicht indigene Gemeinschaft, damit ihre einmaligen kulturellen Werte und ethnischen Identitäten verschwinden und westlichen Kulturmodellen weichen würden.146 Der Rechtsprechung des ICTR ist darin zuzustimmen, dass sie für den „forcible transfer“ die Drohung mit Gewalt ausreichen lässt. Tatsächliche Gewaltanwendung ist demnach entbehrlich. Diese Sichtweise wurde in den Verbrechenselementen zu Art. 6 lit. e) ICC-Statut bestätigt: „The term ‘forcibly’ is not restricted to physical force, but may include threat of force or coercion, such as that caused by fear of violence, duress, detention, psychological oppression or abuse of
144
Vest, Genozid durch organisatorische Machtapparate, 2002, S. 126, mit dem Hinweis, dass es zu vergleichbaren Methoden auch unter den Nationalsozialisten gekommen sei, ebenda, Fn. 192. 145
Ratner/Abrams, Accountability for Human Rights Atrocities in International Law, 2001, S. 272. 146
Zitiert bei Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 178; vgl. dazu auch das Verfahren vor dem Federal Court of Australia, Nulyarimma v. Thompson, [1999] FCA 1192, Urt. v. 1. September 1999, para. 5 ff., mit Anmerkung Daglish, The Crime of Genocide: Nulyarimma v. Thompson, ICLQ 50 (2001), S. 404 ff.; dazu auch Flynn, Genocide: It’s a Crime Everywhere, But Not in Australia, University of Western Australia Law Review 29 (2000), S. 59 ff.
Tathandlungen gemäß Art. II Genozidkonvention
209
power, against such person or persons or another person, or by taking advantage of abuse of a coercive environment.“147 Das gilt auch für die amtliche deutsche Übersetzung des Merkmals „forcible“ durch „gewaltsam“. Die Einbeziehung der Drohung mit Gewalt in den Tatbestand ist möglich, da vom deutschen Wortlaut die Gewaltanwendung nicht vorausgesetzt wird.148 Darüber hinaus ist zu bedenken, dass der Gesetzgeber bei der Formulierung der Norm wahrscheinlich nicht hinter dem international anerkannten Tatbestand zurückbleiben wollte.149 Bei lit. e) handelt es sich um ein Erfolgsdelikt. Dem Wortlaut nach muss tatsächlich ein Kind von einer Gruppe in eine andere Gruppe überführt worden sein.150 Für die Überführung ist die Trennung des Kindes von der ursprünglichen Gruppe entscheidend. Kinder sind in eine andere Gruppe überführt, wenn sie dem Zusammenhang mit ihren Gruppenangehörigen entrissen sind. Sie befinden sich automatisch in einer anderen Gruppe, wenn sie nicht in die Ursprungsgruppe hineinwachsen.151 Die Stammgruppe wird durch die Trennung in ihrem Bestand gefährdet.152 Wie die andere Gruppe geartet ist, ist nicht entscheidend. Die Unterbringung in speziellen Heimen kann somit ausreichen.153 Ebenfalls kommt es für die Gefährdung der Ursprungsgruppe nicht darauf an, ob die Kinder „gegenläufig“ indoktriniert werden.154
147
Report of the Preparatory Commission for the International Criminal Court, Finalized Draft Text of the Elements of Crimes, UN Doc. PCNICC/ 2000/1/Add.2., Art. 6 (e), 1. Element, Fn. 5. 148
MK-StGB-Kreß, § 220 a/§ 6 VStGB, Rn. 68; a.A. LK-Jähnke, § 220 a, Rn. 11. 149
Vgl. Gropengießer, Völkermord, in: Eser/Kreicker (Hrsg.), Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen, Band 1, 2003, S. 92 (104), Fn. 295. 150
Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 176.
151
Vgl. LK-Jähnke, § 220 a, Rn. 11; Drost, The Crime of State, Book II: Genocide, 1959, S. 87; in diesem Sinne wird in der polnischen Genozidbestimmung auf die zwangsweise Entziehung von Kindern der Gruppenmitglieder abgestellt, dazu Weigend, Polen, in: Eser/Kreicker (Hrsg.), Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen, Band 2, 2003, S. 77 (86 f.). 152
Triffterer öStGB/Triffterer, § 321, Rn. 74.
153
LK-Jähnke, § 220 a, Rn. 11.
154
Triffterer öStGB/Triffterer, § 321, Rn. 74.
3. Teil
210
Fraglich ist, welche Altersgrenze für die Definition eines Kindes maßgeblich ist. In der Konvention selbst findet sich keine entsprechende Bestimmung und während der Vorarbeiten wurde diese Frage nicht erörtert.155 Zutreffenderweise ist die Altersgrenze jedoch entsprechend dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes bei achtzehn Jahren anzusetzen.156 Diese Altersgrenze wird auch von den Verbrechenselementen zu Art. 6 lit. e) ICC-Statut157 sowie in der US-amerikanischen Genozidgesetzgebung158 genannt.
II. Reformbedarf der Tathandlungen und Anknüpfungspunkte für Reformen Fraglich ist, ob die in Art. II lit. a) – e) Genozidkonvention normierten Tathandlungen reformbedürftig sind. Die Notwendigkeit von Reformen entscheidet sich im Kontext der Tathandlungen an den konkreten Anknüpfungspunkten für eine Reform. Die Kritikpunkte und Reformvorschläge werden im Folgenden im Hinblick auf ihre Notwendigkeit überprüft.159 Vorangestellt werden kann insofern, dass der Reformbedarf der Tathandlungen weit weniger diskutiert wird als derjenige der übrigen Tatbestandsmerkmale. Lemkin war seinerzeit von einem sehr breiten Spektrum von Methoden ausgegangen, welche zur Begehung von Genozid eingesetzt werden können. Von Angriffen auf die politischen und sozialen Strukturen ei155
Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 176.
156
UN Doc. A/RES/44/25.
157
Report of the Preparatory Commission for the International Criminal Court, Finalized Draft Text of the Elements of Crimes, UN Doc. PCNICC/ 2000/1/Add.2., Article 6 (e), 5. Element. 158
18 U.S.C. § 1093 (1), abgedruckt in: Paust u.a. (Hrsg.), International Criminal Law: Cases and Materials, 2007, S. 798 (799). 159
Das von Kreß, The Darfur Report and Genocidal Intent, JICJ 3 (2005), S. 562 (575), zutreffenderweise angemerkte strukturelle Defizit des Tatbestandes, dass die Tathandlungen (mit Ausnahme des lit. b) nicht das typische Verhalten der Führungsebene widerspiegeln, sondern eher das der Ausführungsebene, während die Voraussetzungen für die subjektiven Tatseite eher typisch für die Führungsebene seien, wird hier nicht diskutiert. Nach Meinung der Autorin sollte dieses Spannungsfeld über die Reform der subjektiven Tatseite aufgelöst werden, s.u. 4. Teil, II.
Tathandlungen gemäß Art. II Genozidkonvention
211
ner Gruppe bis hin zu Angriffen auf ihre kulturelle Identität oder sogar ihre Moral beschrieb er unterschiedlichste Begehungsformen, die von den Nationalsozialisten eingesetzt worden waren.160 Lemkins Katalog ging über die von Art. II Genozidkonvention erfassten Tathandlungen freilich weit hinaus. Unter anderem die Tatsache, dass der kulturelle Genozid keine Aufnahme in die Konvention fand, hat immer wieder zu Diskussionen geführt. Untersucht werden soll, ob die seinerzeit gegen die Aufnahme des kulturellen Genozids geäußerten Bedenken nach wie vor bestehen, oder ob eine entsprechende Normierung angezeigt ist. Fraglich ist des Weiteren der Stellenwert der ethnischen Säuberungen. Ausgelöst durch die Ereignisse auf dem Balkan hat sich vor allem in jüngerer Zeit eine Debatte um das Verhältnis der so genannten „ethnischen Säuberungen“ zum Tatbestand des Genozids entwickelt. Darüber hinaus wird teilweise die Aufnahme des Genozids durch Schädigungen der Umwelt beziehungsweise des „Ecocide“ propagiert. Vorgeschlagen wird zudem, die Tathandlungen nicht länger abschließend sondern zukünftig beispielhaft zu formulieren. Schließlich könnte aus der Analyse der Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale die Erforderlichkeit sprachlicher Korrekturen resultieren.
1. Aufnahme des kulturellen Genozids Fraglich ist, ob der kulturelle Genozid als Tathandlung des Art. II Genozidkonvention normiert werden sollte. Unter kulturellem Genozid versteht man gemeinhin die Zerstörung der kulturellen Besonderheiten einer Gruppe, beispielsweise ihrer Sprache, Religion oder sonstigen Art der Verehrung sowie Denkmäler, Museen und Schulen.161 Der kulturelle Genozid impliziert somit keinen Angriff auf die physische oder biologische Existenz der Gruppe. Liegt ein solcher Angriff vor, so ist der Rückgriff auf den kulturellen Genozid bereits entbehrlich. Im Kontext der Diskussion des kulturellen Genozids findet sich immer häufiger der
160 161
S.o. 1. Teil, I. 4.
Vgl. Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind, Report of the International Law Commission on the Work of its forty-eighth session, 6 May – 26 July 1996, UN Doc. A/51/10, Art. 17, para. 12.
3. Teil
212
Terminus „Ethnozid“.162 Problematisch ist insofern, dass kein einheitlicher Sprachgebrauch festgestellt werden kann. Teilweise wird von der begrifflichen Identität zwischen dem kulturellen Genozid und dem Ethnozid ausgegangen, teilweise werden die beiden Termini aber auch voneinander unterschieden. Angesichts der bestehenden Unklarheiten wird in der vorliegenden Arbeit der Begriff des kulturellen Genozids verwendet. Während der Vorarbeiten zur Genozidkonvention wurde die Problematik des kulturellen Genozids intensiv diskutiert. Im Entwurf des UN-Generalsekretärs war der kulturelle Genozid als eine von drei Tathandlungen enthalten und in sechs Unterkategorien unterteilt. Zu diesen zählte neben der bereits diskutierten gewaltsamen Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe unter anderem das Verbot des Gebrauchs der nationalen Sprache oder auch die systematische Zerstörung von Büchern, Denkmälern und Kunstgegenständen.163 Innerhalb der Expertenkommission bildete der kulturelle Genozid einen der Hauptdiskussionspunkte. Donnedieu de Vabres und Pella lehnten die Einbeziehung des kulturellen Genozids ab, da diese eine unzulässige Ausweitung des Genozidtatbestandes mit sich bringen und auf den Schutz von Minderheiten unter der Genozidkonvention hinauslaufen würde. Letztlich konnte Lemkin sich durchsetzen, der die Aufnahme des kulturellen Genozids für essentiell hielt, da eine Gruppe nicht fortbestehen könne, ohne ihren Geist und ihre moralische Einheit zu bewahren. Außerdem habe die Zerstörung der Kultur einer Gruppe eben-
162
Vgl. Whitaker, Revised and Updated Report on the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/ 1985/6, para. 33; Ruhashyankiko, Study of the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/416, 1978, para. 459 f.; Report of the Working Group on Indigenous Populations on its eleventh session, UN Doc.E/CN.4/Sub.2/1993/29, para. 48; bzw. in der Literatur Lippman, The Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide: Fifty Years Later, Arizona JICL 15 (1998), S. 415 (465); Charny, Toward a Generic Definition of Genocide, in: Andreopoulos (Hrsg.), Genocide: Conceptual and Historical Dimensions, 1994, S. 64 (84 f.); Tennant/Turpel, A Case Study of Indigenous Peoples: Genocide, Ethnocide and Self-determination, Nordic Journal of International Law 59-60 (1990-91), S. 287 (292 ff., 297 ff.); Chalk/Jonassohn, The History and Sociology of Genocide, 1990, S. 23; Harff, Recognizing Genocide and Politicides, in: Fein (Hrsg.), Genocide Watch, 1992, S. 27 (29). 163
S.o. 1. Teil, I. 7. a).
Tathandlungen gemäß Art. II Genozidkonvention
213
so verhängnisvolle Auswirkungen auf die Zivilisation wie ihre physische Zerstörung.164 In den Debatten des ad hoc-Ausschusses war das Konzept des kulturellen Genozids ebenfalls umstritten. Im Endeffekt entschied man sich für die Beibehaltung des kulturellen Genozids als mögliche Tatmodalität, gliederte ihn jedoch als Kompromiss in einen eigenständigen Artikel aus.165 Der kulturelle Genozid war in diesem Entwurf exemplarisch formuliert. Als Beispiele wurden unter anderem Sprach- und Publikationsverbote sowie die Zerstörung von Bibliotheken, Museen, Schulen und historischen Denkmälern genannt.166 Im Sechsten Ausschuss, der den endgültigen Konventionstext erarbeitete, wurde das Konzept des kulturellen Genozids schließlich ausgeschlossen.167 Im Grunde standen sich noch immer die in der Expertenkommission vertretenen Positionen gegenüber, welche erneut breit diskutiert wurden. Pakistan, als einer der Befürworter der Beibehaltung des kulturellen Genozids, brachte beispielsweise vor, dass kultureller nicht von physischem und biologischem Genozid getrennt werden könne, weil die Verbrechen sich insoweit gegenseitig ergänzen würden als sie dasselbe Motiv und dasselbe Ziel verfolgen würden, nämlich die Zerstörung einer Gruppe als solcher, entweder durch die Auslöschung ihrer Mitglieder oder durch die Zerstörung ihrer besonderen Eigenschaften. Deshalb würde es jeder Vernunft widersprechen, physischen Genozid als Verbrechen zu behandeln, nicht aber kulturellen Genozid.168 Im Endeffekt setzten sich die Gegner der Einbeziehung dieser Tatbestandsvariante durch. Vorgetragen wurde, dass der kulturelle Genozid nicht mit dem in Art. II definierten Tatbestand des Genozids vergleichbar sei.169 Es lasse einen Mangel an Logik und fehlenden Sinn für Proportionalität erkennen, wenn man Massenmorde in Gaskammern und die Schließung von Bibliotheken in derselben Konvention erfassen
164
Draft Convention on the Crime of Genocide prepared by the SecretaryGeneral, UN Doc. E/447, S. 26 f. 165
Report of the ad hoc Committee on Genocide, UN Doc. E/794, S. 6 f.
166
S.o. 1. Teil, I. 7. b).
167
rd
th
168
rd
th
st
UN GAOR, 3 session, 6 Committee, 81 meeting, S. 206, die Ablehnung erfolgte mit 25 Ja- zu 16 Nein-Stimmen bei 4 Enthaltungen. rd
UN GAOR, 3 session, 6 Committee, 83 meeting, S. 193, Mr. Khan (Pakistan). 169
Ebenda, S. 203, Mr. de Beus (Niederlande).
3. Teil
214
würde.170 Der kulturelle Genozid falle eher in den Bereich des Menschenrechts- oder Minderheitenschutzes.171 Außerdem befürchtete man die Gefahr des Missbrauchs, da das Konzept zu vage und einer präzisen Definition unzugänglich sei.172 Seit der Erarbeitung der Konvention wurde die Einbeziehung des kulturellen Genozids immer wieder diskutiert. Bereits im Bericht des UNSonderberichterstatters Ruhashyankiko wurde die Problematik erneut aufgerollt.173 Ruhashyankiko selbst verzichtete mit der Begründung, dass ihm keine ausreichenden Informationen zur Verfügung gestanden hätten, jedoch auf eine eigene Stellungnahme.174 Im Folgebericht von Whitaker stand der kulturelle Genozid ebenfalls auf der Tagesordnung. Whitaker gab die Empfehlung, weitere Überlegungen zu dieser Frage anzustellen und, wenn keine Einigkeit erzielt werden könne, die Möglichkeit der Formulierung eines Zusatzprotokolls in Betracht zu ziehen.175 Der kulturelle Genozid beschäftigte zudem die UNESCO. In ihrer Deklaration von San José aus dem Jahr 1981 erklärte sie den kulturellen Genozid zu einer Völkerrechtsverletzung, die dem unter der Konvention strafbaren Genozid entspreche.176 Im Einzelnen hieß es dazu:
170
Ebenda, S. 199, Mr. Federspiel (Dänemark).
171
Ebenda, S. 197, Mr. Amado (Brasilien) und Mr. Petren (Schweden).
172
Ebenda, S. 203, Mr. de Beus (Niederlande). Angemerkt sei hierzu, dass der Dritte Ausschuss der Vereinten Nationen während der Vorarbeiten zur Genozidkonvention über die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte beriet. Entgegen der mehrfach geäußerten Auffassung, dass der kulturelle Genozid eher in den Bereich des Menschenrechts- und Minderheitenschutzes falle, fand ein Artikel zum Schutz des kulturellen Überlebens von Minderheiten in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte keine Aufnahme, ausführlich Morsink, Cultural Genocide, the Universal Declaration, and Minority Rights, HRQ 21 (1999), S. 1009 ff. 173
Ruhashyankiko, Study of the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/416, 1978, para. 441 ff. 174
Ebenda, para. 461.
175
Whitaker, Revised and Updated Report on the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/ 1985/6, para. 33. 176
Die Deklaration war das Ergebnis eines Expertentreffens zu ethnischer Entwicklung und zum Ethnozid unter der Schirmherrschaft der UNESCO, Tennant/Turpel, A Case Study of Indigenous Peoples: Genocide, Ethnocide and
Tathandlungen gemäß Art. II Genozidkonvention
215
„Ethnocide means that an ethnic group is denied the right to enjoy, develop and transmit its own culture and its own language, whether collectively or individually. This involves an extreme form of massive violation of human rights and, in particular, the right of ethnic groups to respect for their cultural identity … 1. We declare that ethnocide, that is, cultural genocide, is a violation of international law equivalent to genocide, which was condemned by the United Nations Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide of 1948.“177 Des Weiteren setzte der Wirtschafts- und Sozialrat im Jahr 1982 eine Arbeitsgruppe ein, die mit dem Schutz und der Förderung der Rechte indigener Völker befasst ist und die im Jahr 1993 den Entwurf einer Deklaration über die Rechte indigener Völker vorlegte.178 Art. 7 des Entwurfs sieht das individuelle und kollektive Recht indigener Völker vor, weder Ethnozid noch kulturellem Genozid unterworfen zu werden.179 Der Entwurf wurde an die Menschenrechtskommission weitergeleitet, die ihrerseits eine Arbeitsgruppe mit dessen Überarbeitung be-
Self-determination, Nordic Journal of International Law 59-60 (1990-91), S. 287 (297). 177
UNESCO Latin-American Conference, Declaration of San José, 11. Dezember 1981, UNESCO Doc. FS 82/WF.32 (1982), abgedruckt in Becker, Der Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit, 1996, S. 289 f.; kritisch zu dieser Gleichsetzung Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 189. 178
Draft United Nations Declaration on the Rights of Indigenous Peoples, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/RES/1994/45, Annex. 179
Article 7: „Indigenous peoples have the collective and individual right not to be subjected to ethnocide and cultural genocide, including prevention of and redress for: (a) Any action which has the aim or effect of depriving them of their integrity as distinct peoples, or of their cultural values or ethnic identities; (b) Any action which has the aim or effect of dispossessing them of their lands, territories or resources; (c) Any form of population transfer which has the aim or effect of violating or undermining any of their rights; (d) Any form of assimilation or integration by other cultures or ways of life imposed on them by legislative, administrative or other measures; (e) Any form of propaganda directed against them.“
3. Teil
216
fasste. Bislang wurde jedoch noch keine Einigung über einen verbindlichen Textentwurf erzielt.180 Im spanischen Genozidtatbestand ist in Erweiterung der Vorgaben der Konvention eine dem kulturellen Genozid vergleichbare Normierung enthalten.181 Gemäß Art. 607 Abs. 1 Nr. 4 des Spanischen Strafgesetzbuches ist jede Maßnahme unter Strafe gestellt, die darauf abzielt, die Art und Weise des Lebens einer der geschützten Gruppen zu verhindern.182 Von spanischen Autoren wird hierzu vorgetragen, dass die Wendung „Art und Weise des Lebens“ sehr weit sei und der Gesamtheit der Ausdrucksformen entspreche, durch die sich die Existenz der Gruppe als solcher in der Gesellschaft manifestiert, einschließlich verschiedenster Verhaltensformen, von wirtschaftlichen Aktivitäten bis hin zum sprachlichen Ausdruck und zu kultureller Darstellung.183 Teile der Literatur haben die fehlende Aufnahme des kulturellen Genozids in die Konvention immer wieder kritisiert. So argumentiert Lippman dahin gehend, dass die Identität einer Gruppe und ihr einzigartiger Beitrag zur menschlichen Rasse in erster Linie auf ihren kulturellen und religiösen Besonderheiten sowie auf ihrer Geschichte beruhen würden. Der Schutz der Kultur einer Gruppe stehe ebenso wie der Schutz ihrer physischen Integrität mit der prophylaktischen Zielrichtung der Genozidkonvention im Einklang. Beide Begehungsformen würden eine Gemeinschaft effektiv zerstören.184 180
Vgl. dazu den Bericht über die neunte Sitzung der Arbeitsgruppe, die vom 15.-26. September 2003 stattfand: Report of the working group established in accordance with Commission on Human Rights resolution 1995/32, UN Doc. E/CN.4/2004/81. 181
Kritisch dazu Gil Gil, Derecho Penal Internacional, 1999, S. 224 ff.
182
Art. 607 Abs. 1 Nr. 4 Spanisches Strafgesetzbuch, <www.preventgenocide.org/es/derecho/codigos/espana.htm>. 183
Córdoba Roda, Commentarios al Código penal, 1978, S. 101, zitiert bei Gil Gil, Derecho Penal Internacional, 1999, S. 225. 184
Lippman, The Drafting of the 1948 Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, Boston UILJ 3 (1985), S. 1 (62 f.); ders., The Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide: Fifty Years Later, Arizona JICL 15 (1998), S. 415 (465); ders., The Crime of the Century. The Jurisprudence of Death at the Dawn of the New Millenium, Houston JIL 23 (2001), S. 467 (524); kritisch ebenfalls Morsink, Cultural Genocide, the Universal Declaration, and Minority Rights, HRQ 21 (1999), S. 1009 ff.; Tennant/Turpel, A Case Study of Indigenous Peoples: Genocide, Ethnocide and Self-determination, Nordic Journal of International Law 59-60
Tathandlungen gemäß Art. II Genozidkonvention
217
Teilweise wird in der Fachliteratur sogar die Meinung vertreten, dass das Recht auf Schutz vor kulturellem Genozid von der Konvention impliziert werde. Die „physische Zerstörung“ in Art. II lit. c) Genozidkonvention könne in Verbindung mit dem „mentalen Schaden“ in Art. II lit. b) Genozidkonvention so interpretiert werden, dass der kulturelle Genozid unter Strafe gestellt sei. Zur Begründung wird angeführt, dass die Staaten indigenen Bevölkerungsgruppen kulturelle Lebensbedingungen auferlegen würden, um sie physisch zu zerstören. Indizien für diese Art der physischen Zerstörung seien vermehrter Alkoholismus, Selbstmorde und Krankheiten innerhalb der indigenen Gruppen.185 Unklar bleibt dabei allerdings, welche Art von Lebensbedingungen die Autoren dabei konkret im Visier hatten. Wie gezeigt fallen unter Art. II lit. c) Genozidkonvention die so genannten slow death measures, welche auf Dauer den Tod der Gruppe bedingen können. Die Auferlegung belastender kultureller Lebensbedingungen ist per se jedoch nicht dazu geeignet, die physische Zerstörung einer Gruppe herbeizuführen. Die Argumentation, dass die Gruppenmitglieder durch die Unterdrückung ihrer kulturellen Besonderheiten vermehrt erkrankten oder Selbstmorde begingen, vermag die notwendige Kausalbeziehung nicht ernsthaft nachzuweisen. Darüber hinaus steht diese Auslegung in deutlichem Widerspruch zu den Vorarbeiten zur Genozidkonvention, während derer der kulturelle Genozid ausdrücklich nicht in die Konvention einbezogen wurde. Da diese weite Auslegung von Art. II Genozidkonvention nicht getragen wird, kann ihr nicht gefolgt werden. Die Aufnahme des kulturellen Genozids als Tatmodalität, und sei es in einem optionalen Zusatzprotokoll, ist nach wie vor abzulehnen. Die Schwere des Tatvorwurfs lässt eine Ausweitung des Genozids auf die Zerstörung der kulturellen Besonderheiten einer Gruppe nicht zu. Das schon während der Vorarbeiten zur Genozidkonvention vorgebrachte Argument, dass der kulturelle Genozid nicht mit der physischen oder biologischen Zerstörung einer Gruppe gleichgesetzt werden könne, gilt
(1990-91), S. 287 (294 ff.); Orentlicher, Genocide, in: Gutman/Rieff (Hrsg.), Crimes of War, 1999, S. 153 (154). 185
Tennant/Turpel, A Case Study of Indigenous Peoples: Genocide, Ethnocide and Self-determination, Nordic Journal of International Law 59-60 (199091), S. 287 (296); vgl. auch Petrovic, Ethnic Cleansing, An attempt at Methodology, EJIL 5 (1994), S. 342 (356 f.), nach dessen Auffassung die Zerstörung von Kulturgütern und religiösen Monumenten Art. II lit. c) Genozidkonvention erfüllt.
3. Teil
218
noch immer.186 Die Unterdrückung einer Kultur, Sprache oder Religion ist mit systematischen Massakern, der Internierung in Zwangslagern oder Massenvergewaltigungen in ihrer Grausamkeit und Auswirkung auf die betroffenen Menschen schon deshalb nicht zu vergleichen, weil mit den zuerst genannten Angriffen kein Verlust der körperlichen Unversehrtheit einhergeht. Außerdem kann eine Gruppe allein durch Angriffe auf ihre kulturelle Identität nicht ausgelöscht werden. Weder das Verbot einer Sprache noch die Verhinderung kultureller Ausdrucksformen beziehungsweise die Zerstörung von Bibliotheken und Monumenten können zum Verschwinden einer Gruppe führen.187 Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang, dass das Merkmal der Zerstörung die physisch-biologische Zerstörung der Gruppe voraussetzt und die Zerstörung ihrer sozialen Existenz nicht ausreicht.188 Auch das Argument der begrifflichen Unbestimmtheit des kulturellen Genozids ist noch immer zutreffend. Es erscheint unmöglich, die konkreten kulturellen Elemente, welche durch einen entsprechenden Tatbestand erfasst werden würden, genau zu umgrenzen.189 Zulässig ist es indessen, den kulturellen Genozid zum Nachweis der in Art. II Genozidkonvention vorausgesetzten Zerstörungsabsicht heranzuziehen. Für die entsprechende gerichtliche Praxis verdient die Rechtsprechung des ICTY besondere Beachtung. Während des Konfliktes im ehemaligen Jugoslawien wurde die Weltgemeinschaft Zeuge der gezielten Zerstörung der kulturellen Überlieferungen und Besonderheiten bestimmter Gruppen. Nach Einschätzung der Expertenkommission zur Situation im ehemaligen Jugoslawien war es die Praxis der serbischen Truppenteile, die Kulturdenkmäler und religiösen Einrichtungen und Symbole der gegnerischen Volksgruppen zu zerstören, um so die Wurzeln der nicht-serbischen Volksgruppen auszulöschen.190
186
Ablehnend ebenfalls ICJ, Case Concerning the Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, Urt. v. 26. Februar 2007, para. 344; Gil Gil, Derecho Penal Internacional, 1999, S. 226 f.; Chalk/Jonassohn, The History and Sociology of Genocide, 1990, S. 23. 187
Vgl. Gil Gil, Derecho Penal Internacional, 1999, S. 226.
188
Ausführlich zum Zerstörungsbegriff s.u. 4. Teil, IV.
189
Ruhashyankiko, Study of the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/416, 1978, para. 455. 190
Final Report of the Commission of Experts established pursuant to Security Council Resolution 780 (1992), UN Doc. S/1994/674, para 136.
Tathandlungen gemäß Art. II Genozidkonvention
219
In der Regel 61-Entscheidung des ICTY im Fall Karadzic und Mladic finden sich folgende Ausführungen zur Heranziehung des kulturellen Genozids im Rahmen der Beweisführung: „[…] The intent may also be inferred from the perpetration of acts which violate, or which the perpetrators themselves consider to violate, the very foundation of the group – acts which are not in themselves covered by the list in Article 4 (2) but which are committed as part of the same pattern of conduct.“191 Konkret bezog die Kammer sich auf die Zerstörung von Moscheen und katholischen Kirchen, welche darauf abgezielt habe, die jahrhundertelange Anwesenheit der angegriffenen Gruppe oder Gruppen auszulöschen. Zudem sei mit der Zerstörung von Bibliotheken beabsichtigt worden, eine Kultur zu vernichten, die durch die Mitwirkung verschiedener nationaler Teile der Bevölkerung bereichert wurde.192 Ein weiteres Beispiel für die gerichtliche Praxis ist das Urteil im Fall Krstic, in dem die Kammer hervorhob, dass es neben der physischen und/oder biologischen Zerstörung oftmals gleichzeitige Angriffe auf den kulturellen oder religiösen Besitz und die Symbole der Opfergruppe gebe. Auch nach der Einschätzung dieser Kammer ist es legitim, derartige Angriffe als Nachweis für die Absicht, die Gruppe physisch zu zerstören, heranzuziehen.193 Festgehalten werden kann folglich, dass der kulturelle Genozid nicht als Tathandlung in Art. II Genozidkonvention aufgenommen werden sollte. Insofern besteht kein Reformbedarf.
2. Aufnahme der ethnischen Säuberungen Eine weitere Frage, die sich im Kontext des Genozidtatbestandes stellt, ist, ob die so genannten ethnischen Säuberungen als mögliche Tathand191
ICTY, Prosecutor v. Karadzic & Mladic, Case Nos. IT-95-5-R61 & IT-9518-R61, Review of the Indictments pursuant to Rule 61 of the Rules of Procedure and Evidence, 11. Juli 1996, para. 94; zustimmend ICTR, Prosecutor v. Akayesu, Case No. ICTR-96-4-T, Urt. v. 2. September 1998, para. 524. 192
ICTY, Prosecutor v. Karadzic & Mladic, Case Nos. IT-95-5-R61 & IT-9518-R61, Review of the Indictments pursuant to Rule 61 of the Rules of Procedure and Evidence, 11. Juli 1996, para. 94. 193
ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-T, Urt. v. 2. August 2001, para. 580.
3. Teil
220
lung normiert werden sollten. In diese Richtung gehend hatte Syrien bereits während der Vorarbeiten zur Genozidkonvention erfolglos vorgeschlagen, die Auferlegung von Maßnahmen in den Tatbestand einzubeziehen, die in der Absicht begangen wurden, die Mitglieder einer Gruppe zum Verlassen ihrer Häuser zu zwingen.194 Der Begriff der ethnischen Säuberungen wurde vor allem im Zusammenhang mit dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien geprägt. Er steht als Synonym für die Politik der Serben, bestimmte Gebiete ethnisch zu reinigen, um so ein ethnisch homogenes Groß-Serbien zu schaffen. Ein Blick auf die Geschichte zeigt jedoch, dass das Phänomen der ethnischen Säuberungen so alt wie die Menschheit ist. Die erste gewaltsame Bevölkerungsumsiedlung vollzog der assyrische Herrscher Tiglath-Pileser III im Achten Jahrhundert v. Chr.195 Teilweise wird die Auffassung vertreten, dass die Begriffe „ethnische Säuberungen“ und „Genozid“ gleichzusetzen seien. So betitelte die UN-Generalversammlung ethnische Säuberungen in einer Resolution aus dem Jahr 1992 als eine Form von Genozid.196 Vergleichbare Stellungnahmen finden sich in der Literatur.197 Von der herrschenden Meinung werden die beiden Termini hingegen nicht als synonym betrachtet. Im Krstic-Urteil räumte die entscheidende Strafkammer ein, dass es zwischen einer genozidalen Politik und einer Politik der ethnischen Säuberungen offensichtlich Entsprechungen gebe.198 Zugleich geht aus der Urteilsbegründung hervor, dass die ethni194
Cassese, International Criminal Law, 2003, S. 98 f.
195
Bell-Fialkoff, A Brief History of Ethnic Cleansing, Foreign Affairs 72 (1993), S. 110 (111). 196
UN Doc. A/Res./47/121.
197
Bassiouni/Manikas, The Law of the International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, 1996, S. 609; MacKinnon, Rape, Genocide, and Women’s Human Rights, Harvard Women’s Law Journal 17 (1994), S. 5 ff.; Bruun, Beyond the 1948 Convention – Emerging Principles of Genocide in Customary International Law, Maryland Journal of International Law and Trade 17 (1993), S. 193 (200); vgl. auch de Zayas, Das Recht auf die Heimat, ethnische Säuberungen und das Internationale Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien, AVR 35 (1997), S. 29 (58). 198
ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-T, Urt. v. 2. August 2001, para. 562. Im Gegensatz dazu erfolgten im Urteil ICTY, Prosecutor v. Tadic, Case. No. ICTY-IT-94-1-T, Urt. v. 7. Mai 1997, para. 62 ff., 84, zwar längere Ausführungen zur Praxis der ethnischen Säuberungen, es fehlt jedoch jede Bezugnahme auf den Tatbestand des Genozids.
Tathandlungen gemäß Art. II Genozidkonvention
221
schen Säuberungen als eine Vorstufe zum Genozid angesehen wurden. Die Kammer führte diesbezüglich aus, dass der Plan, die Region Srebrenica ethnisch zu säubern, zu dem Vorhaben eskaliert sei, alle bosnisch-muslimischen Männer im wehrfähigen Alter zu töten. Diese Kampagne hätte sicherstellen sollen, dass die bosnisch-muslimische Bevölkerung auf Dauer in Srebrenica ausgerottet sein würde, sie erfülle mithin den Tatbestand des Genozids.199 Vergleichbar wurde in der Rule 61-Entscheidung gegen Karadzic und Mladic ausgeführt, dass die massiven Deportationen im Rahmen der ethnischen Säuberungen als ein erster Schritt hin zur Ausrottung der Gruppe angesehen werden könnten.200 Die Expertenkommission zur Untersuchung der Verletzungen des humanitären Völkerrechts im ehemaligen Jugoslawien hat in ihren Berichten desgleichen die Auffassung vertreten, dass die Praktiken der ethnischen Säuberungen den Tatbestand des Genozids nicht notwendigerweise erfüllen, aber erfüllen können.201 In diesem Sinne entschied unlängst der Internationale Gerichtshof: „[Ethnic cleansing] can only be a form of genocide within the meaning of the Convention, if it corresponds to or falls within one of the categories of acts prohibited by Art. II of the Convention. Neither the intent as a matter of policy, to render an area ‘ethnically homogeneous’, nor the operations that may be carried out to implement such policy, can as such be designated as genocide ... In fact, in the context of the Convention, the term ethnic cleansing has no legal significance of its own.“202
199
ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-T, Urt. v. 2. August 2001, para. 619. 200
ICTY, Prosecutor v. Karadzic & Mladic, Case Nos. IT-95-5-R61 & IT-9518-R61, Review of the Indictments pursuant to Rule 61 of the Rules of Procedure and Evidence, 11. Juli 1996, para. 94. 201
Interim Report of the Commission of Experts established pursuant to Security Council Resolution 780 (1992), UN Doc.S/25274, para. 56; Final Report of the Commission of Experts established pursuant to Security Council Resolution 780 (1992), UN Doc. S/1994/674, para. 150. 202
ICJ, Case Concerning the Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, Urt. v. 26. Februar 2007, para. 190; diese Auslegung entspricht der herrschenden Ansicht in der Literatur, s. Petrovic, Ethnic Cleansing, An attempt at Methodology, EJIL 5 (1994), S. 342 (359); Webb, Genocide Treaty – Ethnic Cleansing – Substantive and Procedural Hurdles in the Application of the Genocide Convention to Alleged Crimes in the Former Yugoslavia, Georgia Journal of International and Comparative Law
222
3. Teil
Ein Vergleich der im Kontext der ethnischen Säuberungen genannten Definitionen verdeutlicht, dass der Terminus nicht so sehr als Rechtsbegriff verstanden wird, sondern eher der Beschreibung einer Politik dient.203 Die verschiedenen Definitionen stimmen darin überein, dass die Politik der ethnischen Säuberungen das Ziel verfolgt, die ethnische Zusammensetzung eines bestimmten Gebietes zu verändern und das Gebiet ethnisch homogen oder „rein“ zu machen.204 Entsprechend dem Zwischenbericht der genannten Expertenkommission zum ehemaligen Jugoslawien bedeutet der Terminus ethnische Säuberungen, dass ein Gebiet ethnisch homogen gemacht wird, indem Menschen durch die Anwendung von Gewalt oder durch Einschüchterung aus diesem Gebiet vertrieben werden.205 In ihrem Abschlussbericht bekräftigte die Kommission ihre frühere Auffassung und führte aus, dass ethnische Säuberungen die zielgerichtete Politik einer ethnischen oder religiösen Gruppe seien, die darauf gerichtet ist, mittels Gewalt und terroristischer Methoden die Zivilbevölkerung einer anderen ethnischen oder religiösen Gruppe aus einer bestimmten geografischen Region zu entfernen.206 Dem entsprechend schreibt Petrovic, dass ethnische Säuberungen die eindeutige Politik einer bestimmten Gruppe von Personen sind, eine andere Gruppe aufgrund ihres religiösen, ethnischen oder nationalen Ursprungs systematisch aus einem bestimmten Gebiet zu eliminieren.207 23 (1993), S. 377 (379, 402 f.); Jovasevic, NATO Genocide in FR of Yugoslavia, Review of International Affairs, Vol. LI, No. 1091-93 (April-Juni 2000), S. 62 (63 f.); für Exklusivität hingegen Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 200 f. 203
Vgl. Shraga/Zacklin, The International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, EJIL 5 (1994), S. 360. 204
Vgl. Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 199; dazu auch Petrovic, Ethnic Cleansing, An attempt at Methodology, EJIL 5 (1994), S. 342 (349 f.). 205
Interim Report of the Commission of Experts established pursuant to Security Council Resolution 780 (1992), UN Doc.S/25274, para. 55. 206
Final Report of the Commission of Experts established pursuant to Security Council Resolution 780 (1992), UN Doc. S/1994/674, para 130; so auch Sixth Periodic Report on the Situation of Human Rights in the Territory of the Former Yugoslavia submitted by Mr. Tadeusz Mazowiecki, UN Doc. E/CN.4/ 110, para. 283. 207
Petrovic, Ethnic Cleansing, An attempt at Methodology, EJIL 5 (1994), S. 342 (351).
Tathandlungen gemäß Art. II Genozidkonvention
223
Bell-Fialkoff hat die Schwierigkeiten, die mit der Suche nach einer Definition für den Begriff der ethnischen Säuberungen trotz des wiederholten Auftretens des Phänomens einhergehen betont und folgende Definition vorgeschlagen: „Despite its recurrence, ethnic cleansing nonetheless defies easy definition. At one end it is virtually indistinguishable from forced emigration and population exchange while at the other it merges with deportation and genocide. At the most general level, however, ethnic cleansing can be understood as the expulsion of an ‘undesirable’ population from a given territory due to religious or ethnic discrimination, political, strategic or ideological considerations, or a combination of these.“208 Gegen eine Aufnahme der ethnischen Säuberungen als Tatmodalität im Sinne von Art. II Genozidkonvention spricht neben dem Fehlen einer eindeutigen Definition insbesondere, dass im Kontext der ethnischen Säuberungen die unterschiedlichsten Begehungsformen genannt werden. Die Expertenkommission zur Untersuchung der Verletzungen des humanitären Völkerrechts im ehemaligen Jugoslawien führte in ihrem Zwischenbericht aus, dass die ethnischen Säuberungen durch folgende Methoden realisiert wurden: Mord, Folter, willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen, außergerichtliche Hinrichtungen, Vergewaltigungen und andere sexuelle Übergriffe, Festhalten der Bevölkerung in Ghettos, Zwangsvertreibungen und Deportationen der Zivilbevölkerung, vorsätzliche militärische Angriffe oder Androhung von Angriffen gegen Zivilisten oder zivile Gebiete und die mutwillige Zerstörung von Eigentum.209 In ihrem Abschlussbericht ergänzte die Kommission die geschilderten Methoden um weitere mögliche Praktiken. Zusätzlich wurden angeführt: Massenmord, schwerwiegende körperliche Verletzung von Zivilisten, Misshandlung von zivilen Gefangenen und von Kriegsgefangenen, Verwendung von Zivilisten als menschliche Schutzschilde, Zerstörung von persönlichem und öffentlichem Eigentum sowie von Kulturgütern, Plünderung, Diebstahl und Raub von persönlichem Eigentum, Zwangsenteignungen von Grundeigentum, Angriffe auf Krankenhäuser und medizinisches Personal sowie auf Orte, die
208
Bell-Fialkoff, A Brief History of Ethnic Cleansing, Foreign Affairs 72 (1993), S. 110. 209
Interim Report of the Commission of Experts established pursuant to Security Council Resolution 780 (1992), UN Doc.S/25274, para. 56.
224
3. Teil
durch das Rote Kreuz oder den Roten Halbmond gekennzeichnet waren.210 In der Literatur findet sich eine ausführliche Schilderung der möglichen Methoden zur Realisierung von ethnischen Säuberungen bei Petrovic. Der Autor beschreibt ein breites Spektrum von Verhaltensweisen, die Bestandteil der ethnischen Säuberungen auf dem Balkan gewesen seien. Angefangen von Verwaltungsmaßnahmen wie die Entlassung rechtmäßig gewählter Autoritäten oder der Erlass diskriminierender Gesetzgebung, über andere nicht gewalttätige Maßnahmen wie Drohanrufe oder die Veröffentlichung von Bürgerlisten unter Hinweis auf den ethnischen Ursprung der Personen, bis hin zu Terrormaßnahmen wie Deportationen, die Misshandlung von Zivilisten oder die Zerstörung von Kulturgut und schließlich auch Militärmaßnahmen wie die Hinrichtung politischer Führungspersonen und die Belagerung von Städten.211 Die genannten Methoden verdeutlichen, dass die Phänomene des Genozids und der ethnischen Säuberungen einerseits nicht notwendigerweise gleichgesetzt werden können, sie andererseits jedoch eine gemeinsame Schnittmenge haben. Schon ihre Zielsetzung ist unterschiedlich, während es beim Genozid um die Zerstörung einer Gruppe geht, besteht das Ziel der ethnischen Säuberungen darin, die ethnische Zusammensetzung eines Gebietes zu verändern. Wie auch vom Internationalen Gerichtshof festgestellt, können ethnischen Säuberungen aber unter Anwendung der Methoden des Genozids verwirklicht werden.212 Die im Zusammenhang der ethnischen Säuberungen genannten Praktiken reichen vom kulturellen Genozid bis hin zum Massenmord. Viele der Methoden können unter die Tatmodalitäten von Art. II Genozidkonvention subsumiert werden. Vor dem Hintergrund der aufgeführten Gräueltaten sind potentiell zumindest die lit. a) – d) anwendbar.213 Ex-
210
Final Report of the Commission of Experts established pursuant to Security Council Resolution 780 (1992), UN Doc. S/1994/674, para 134. 211
Petrovic, Ethnic Cleansing, An attempt at Methodology, EJIL 5 (1994), S. 342 (344 ff.). 212
ICJ, Case Concerning the Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, Urt. v. 26. Februar 2007, para. 190. 213
Vgl. Webb, Genocide Treaty – Ethnic Cleansing – Substantive and Procedural Hurdles in the Application of the Genocide Convention to Alleged Crimes in the Former Yugoslavia, Georgia Journal of International and Comparative Law 23 (1993), S. 377.
Tathandlungen gemäß Art. II Genozidkonvention
225
emplarisch seien nur Mord, Massenmord, Folter, Vergewaltigungen und Misshandlungen genannt. Es werden zugleich aber auch zahlreiche Methoden aufgezählt, die nicht als Tatmodalität im Sinne der Genozidkonvention in Betracht kommen. Zunächst einmal sind dies die im Kontext der ethnischen Säuberungen besonders häufig genannten Vertreibungen, die wie dargelegt nicht notwendigerweise zerstörerische Auswirkungen auf die betroffene Gruppe haben.214 Das Gleiche gilt für die Zerstörung von Eigentum215 und Kulturgütern,216 Diebstähle, Plünderungen oder gar Verwaltungsmaßnahmen. In Anbetracht des breiten Spektrums der Methoden würde es den tatbestandlichen Rahmen von Art. II Genozidkonvention sprengen, die ethnischen Säuberungen per se als Tatmodalität zu erfassen. Problematisch ist, dass ethnische Säuberungen nicht immer auf die gleiche Art und Weise umgesetzt werden beziehungsweise nicht immer Verhaltensweisen auftreten, die durch den Genozidtatbestand erfasst sind oder werden können. Eine entsprechende Normierung ist aber auch entbehrlich, weil die gemeinsame Schnittmenge der ethnischen Säuberungen und des Genozids durch die bestehende Genozidgesetzgebung ausreichend abgedeckt wird. Folglich tut eine differenzierte Betrachtung not. Es gilt, die verwirklichten Methoden im Einzelfall zu isolieren und zu überprüfen. Aufgrund der Tatsache, dass die ethnischen Säuberungen nicht als Tathandlung in Art. II Genozidkonvention aufgenommen werden sollten, besteht auch insofern kein Reformbedarf.
3. Aufnahme des Umweltgenozids Eine weitere Überlegung ist die Inkorporierung des so genannten Umweltgenozids (Ecocide) als Tathandlung in Art. II Genozidkonvention. Ein entsprechender Vorschlag wurde schon früh von Mitgliedern der Unterkommission für die Verhinderung von Diskriminierungen und
214
S.o. 3. Teil, I. 3. b).
215
S.o. 3. Teil, I. 3. b).
216
S.o. 3. Teil, II. 1.
3. Teil
226
für den Schutz von Minderheiten unterbreitet.217 Aber auch seitens der Literatur wurden entsprechende Vorstöße gemacht.218 Insgesamt finden sich zur Frage des Ecocide nur vereinzelte Stellungnahmen. Whitaker versteht unter Ecocide nachteilige, oftmals irreparable Veränderungen der Umwelt beispielsweise durch den Einsatz von Atomwaffen oder von chemischen Waffen, durch gravierende Umweltverschmutzungen und sauren Regen oder durch die Zerstörung der Regenwälder, welche die Existenz ganzer Bevölkerungen bedrohen.219 Nach anderer Auffassung basiert der Ecocide auf: „[…] ecological damage which is both serious and either extensive or lasting. The requisite seriousness can arise from either the scale of the harm and the numbers of people and species ultimately affected, as in the systematic nature of global rain forest destruction and the trade in endangered species; or its impact on people in terms of social and economic costs, such as those following the Chernobyl nuclear accident, or loss of unique natural assets, as in Prince William sound after the Exxon Valdez oil spill. The requisite significance can lie, on the one hand, in vast geographical coverage or a large number of heads of damage, or, on the other hand, in the difficulty, unlikelihood or even impossibility of reversing it …“220 Dargelegt wird, dass der Ecocide sich aktuell als internationales Delikt entwickeln würde. Definiert würde ein solches Delikt als die Verletzung von Verpflichtungen erga omnes durch Staaten, Individuen und Organisationen, die absichtlich, rücksichtslos oder fahrlässig Umweltschädigungen verursachen oder erlauben. Die internationale Gemeinschaft müsse erkennen, dass das Verbrechen des Ecocide fundamentale Menschenrechte sowie den internationalen Frieden und die internationale
217
Zitiert bei Whitaker, Revised and Updated Report on the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/ Sub.2/1985/6, para. 33. 218
Vgl. Ruhashyankiko, Study of the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/416, 1978, para. 462 ff. 219
Whitaker, Revised and Updated Report on the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/1985/ 6, para. 33. 220
Gray, The International Crime of Ecocide, California Western International Law Journal 26 (1996), S. 215 (217).
Tathandlungen gemäß Art. II Genozidkonvention
227
Sicherheit bedrohe. Aufgrund dessen müsse es mit derselben Härte bestraft werden wie der Genozid und die Apartheid.221 Festgestellt werden kann, dass Umweltzerstörungen ein zunehmend bedrohliches Ausmaß annehmen. In vielen Fällen sind die Umweltzerstörungen so erheblich, dass sie geeignet sind, die Lebensgrundlagen ganzer Bevölkerungsgruppen zu bedrohen. Die entsprechenden Beispiele sind bedauerlicherweise zahlreich. Sie betreffen einerseits die fast schon „alltäglichen“ Umweltzerstörungen in Friedenszeiten. Andererseits spielen Umweltzerstörungen auch in bewaffneten Konflikten eine entscheidende Rolle, sei es als Kollateralschaden, sei es durch die gezielte Einsetzung als Instrument der Kriegsführung. Beeinträchtigungen der Umwelt werden durch zahlreiche völkerrechtliche Regelungen sowohl präventiv als auch repressiv erfasst. Die beiden einschlägigen Regelungsgebiete sind das Umweltvölkerrecht und das Kriegsrecht. Nach der Einschätzung von Bothe wird dem Schutz der Umwelt zwar noch keine ausreichende Aufmerksamkeit zuteil, jedoch könne man feststellen, dass ökologische Erwägungen zunehmend mehr Berücksichtigung im Internationalen Recht finden.222 Insgesamt sind die Entwicklungen Ausdruck der zunehmenden Sorge der internationalen Staatengemeinschaft, dass Umweltzerstörungen Leben und Gesundheit künftiger Generationen bedrohen können.223 Obwohl im Rahmen dieser Arbeit natürlich kein annähernd vollständiger Überblick über die bestehenden umweltrechtlichen Regelungen gegeben werden kann, sollen einige Aspekte kurz aufgezeigt werden. Während Umweltfragen auf internationaler Ebene bei den Organisationen der Vereinten Nationen zunächst nur als Randfragen behandelt wurden, sind sie mehr und mehr zum Gegenstand eigener umweltrechtlicher Problemlösungen geworden. Mittlerweile gibt es im Bereich des Umweltschutzes zahlreiche völkerrechtliche Verträge und gewohnheitsrechtliche Regelungen. Aufgrund der Deklaration von Rio aus dem Jahr 1992 wird die nachhaltige Entwicklung zur wegweisenden Programmatik für die Bewältigung der gemeinsamen Zukunft der Menschheit erhoben. Sie ist darauf ausgerichtet, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, soziale Verantwortung und Umweltschutz zusammenzuführen, 221
Ebenda, S. 270 f.
222
Bothe, The Protection of the Civilian Population and NATO Bombing on Yugoslavia: Comments on a Report to the Prosecutor of the ICTY, EJIL 12 (2001), S. 531 (532). 223
Vgl. ebenda, S. 532.
3. Teil
228
um die natürlichen Lebensgrundlagen für die zukünftigen Generationen zu bewahren.224 Die Regelungen des Kriegsrechts sind für den Erhalt der Umwelt besonders wichtig, da bewaffnete Konflikte in der Regel wegen des Zugangs zu, des Besitzes von und der Kontrolle über natürliche Ressourcen geführt werden. Gleichzeitig haben bewaffnete Konflikte fast immer zerstörerische Auswirkungen auf die Umwelt.225 Im Kriegsrecht finden sich verschiedene Regelungen zum Schutze der Umwelt.226 Beispielsweise sind alle Bestandteile der Umwelt, die kein militärisches Ziel darstellen, zivile Objekte und dürfen als solche nicht angegriffen werden.227 Sie werden ferner durch den Proportionalitätsgrundsatz geschützt, nach dem Kollateralschäden nicht außer Verhältnis zu dem angestrebten militärischen Vorteil stehen dürfen. Damit ist eine wertende Entscheidung erforderlich, die das zunehmende Umweltbewusstsein der Gesellschaft berücksichtigen muss. Die zunehmende Berücksichtigung umweltmäßiger Belange kann außerdem durch die Martens’sche Klausel das Recht des bewaffneten Konfliktes beeinflussen, da die besagten Belange zweifellos zu den Forderungen des öffentlichen Gewis-
224
Hoppe/Beckmann/Kauch, Umweltrecht, 2000, S. 72, Rn. 6 ff.
225
Ajibola, Protection of the Environment in Times of Armed Conflict, in: Al-Nauimi/Meese (Hrsg.), International Legal Issues arising under the United Nations Decade of International Law, 1995, S. 75. 226
Hierzu und im Folgenden kritisch Bothe, The Protection of the Environment in Times of Armed Conflict: Legal Rules, Uncertainty, Deficiencies and Possible Developments, GYIL 34 (1991), S. 54 ff.; sowie ders., Protection of the Environment in Times of Armed Conflict, in: Al-Nauimi/Meese (Hrsg.), International Legal Issues arising under the United Nations Decade of International Law, 1995, S. 95 ff. 227
Vgl. 1. Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949, BGBl. 1990 II, S. 1551, Art. 52 [Allgemeiner Schutz ziviler Objekte]: „(1) Zivile Objekte dürfen weder angegriffen noch zum Gegenstand von Repressalien gemacht werden. Zivile Objekte sind alle Objekte, die nicht militärische Ziele im Sinne des Absatzes 2 sind. (2) Angriffe sind streng auf militärische Ziele zu beschränken. Soweit es sich um Objekte handelt, gelten als militärische Ziele nur solche Objekte, die auf Grund ihrer Beschaffenheit, ihres Standorts, ihrer Zweckbestimmung oder ihrer Verwendung wirksam zu militärischen Handlungen beitragen und deren gänzliche oder teilweise Zerstörung, deren Inbesitznahme oder Neutralisierung unter den in dem betreffenden Zeitpunkt gegebenen Umständen einen eindeutigen militärischen Vorteil darstellt … “
Tathandlungen gemäß Art. II Genozidkonvention
229
sens zählen.228 Weiterhin enthält das 1. Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen mit Art. 35 Abs. 3229 und Art. 55230 zwei Vorschriften zum Schutz der Umwelt.231 Ungeachtet der zunehmenden Aufmerksamkeit, die der Umwelt im Internationalen Recht zuteil wird, wäre es unangemessen, den Ecocide pauschal als Tathandlung des Genozids zu erfassen. Unter erschwerenden Umständen sind Umweltzerstörungen als Auferlegung zerstörerischer Lebensbedingungen im Sinne von Art. II lit. c) Genozidkonvention denkbar. Und zwar dann, wenn sie zwar nicht unmittelbar den Tod der Gruppenmitglieder herbeiführen, aber letztendlich die Zerstörung der Gruppe herbeiführen sollen. Davon kann bei Umweltzerstörungen aber nicht grundsätzlich ausgegangen werden. Insofern kann der schon von Ruhashyankiko vertretenen Auffassung zugestimmt werden, dass der Ecocide nur eine entfernte Verbindung zur Idee des Genozids hat und seine Einbeziehung eine übertriebene Ausweitung der Konvention zur Folge hätte.232
228
Zur Martens’schen Klausel s.o. 1. Teil, I. 1.
229
Art. 35 Abs. 3 1. Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen:
„Es ist verboten, Methoden oder Mittel der Kriegführung zu verwenden, die dazu bestimmt sind oder von denen erwartet werden kann, dass sie ausgedehnte, langanhaltende und schwere Schäden der natürlichen Umwelt verursachen.“ 230
Art. 55 1. Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen:
„(1) Bei der Kriegführung ist darauf zu achten, dass die natürliche Umwelt vor ausgedehnten, langanhaltenden und schweren Schäden geschützt wird. Dieser Schutz schließt das Verbot der Anwendung von Methoden oder Mitteln der Kriegsführung ein, die dazu bestimmt sind oder von denen erwartet werden kann, dass sie derartige Schäden der natürlichen Umwelt verursachen und dadurch Gesundheit oder Überleben der Bevölkerung gefährden. (2) Angriffe gegen die natürliche Umwelt als Repressalie sind verboten.“ 231
Die zitierten Vorschriften sowie das Proportionalitätsprinzip wurden im Bericht des Anklägers des ICTY im Hinblick auf das NATO-Bombardement im ehemaligen Jugoslawien überprüft. Der Bericht kommt zu dem Ergebnis, dass seitens der NATO kein Verstoß gegen die genannten Regelungen vorlag und deshalb kein Verfahren gegen die für das Bombardement verantwortlichen Personen eingeleitet werden sollte. Kritisch zu diesem Bericht Bothe, The Protection of the Civilian Population and NATO Bombing on Yugoslavia: Comments on a Report to the Prosecutor of the ICTY, EJIL 12 (2001), S. 531 ff. 232
Ruhashyankiko, Study of the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/416, 1978, para. 478.
3. Teil
230
Darüber hinaus ist die Einbeziehung auch deshalb abzulehnen, weil der Terminus des Ecocide einer präzisen Definition praktisch unzugänglich ist. In den völkerrechtlichen Verträgen zum Schutz der Umwelt finden sich verschiedene Ansätze zur Definition der Termini „Umwelt“ und „Schädigung der Umwelt“. Der Begriff der Umweltschädigung wird beispielsweise in der Convention on the Regulation of Antarctic Mineral Resource Activities wie folgt definiert: „[…] any impact on the living or non-living components of that environment or those ecosystems, including harm to atmospheric, marine or terrestrial life, beyond which is negligible or which has been assessed and judged to be acceptable pursuant to [the] Convention.“ Andere Konventionen wählen eine breitere Auslegung. So enthält die Konvention von Lugano aus dem Jahr 1993 eine nicht abschließende Aufzählung von Bestandteilen der Umwelt. Hierzu zählen natürliche Ressourcen, biotische und abiotische, wie Wasser, Luft, Boden, Flora und Fauna sowie die Interaktion zwischen diesen Faktoren. Darüber hinaus wird solches Eigentum erfasst, das Teil des kulturellen Erbes ist, sowie die charakteristischen Merkmale der Landschaft.233 Vor dem Hintergrund der Bewertung der internationalen Übereinkommen wurde festgestellt, dass es keine international einheitliche Definition für den Begriff der Umweltschädigung gibt.234 Desgleichen wäre es auch im Hinblick auf den Ecocide schwierig festzulegen, welcher Art eine Umweltschädigung sein muss, um hierunter subsumiert werden zu können. Letzten Endes wäre dies wohl nur in den Fällen angemessen, die ohnehin unter Art. II lit. c) Genozidkonvention subsumierbar sind. Somit kann auch im Hinblick auf den Umweltgenozid der Reformbedarf verneint werden.
233
Hierzu ausführlich mit weiteren Beispielen Wolfrum, Liability for Environmental Damage: A Means to Enforce Environmental Standards?, in: Wellens (Hrsg.), International Law: Theory and Practice, 1998, S. 565 (568 ff.). 234
Wolfrum, Liability for Environmental Damage: A Means to Enforce Environmental Standards?, in: Wellens (Hrsg.), International Law: Theory and Practice, 1998, S. 565 (571). Angemerkt sei diesbezüglich, dass auch der deutsche Gesetzgeber bisher auf eine einheitliche rechtsgebietsübergreifende Definition des Umweltbegriffs verzichtet hat, Hoppe/Beckmann/Kauch, Umweltrecht, 2000, S. 4, Rn. 6.
Tathandlungen gemäß Art. II Genozidkonvention
231
4. Beispielhafte Formulierung der Tathandlungen Fraglich ist ferner, ob die Tathandlungen des Genozids nicht länger abschließend, sondern zukünftig beispielhaft formuliert werden sollten. Schon während der Debatten im Sechsten Ausschuss wurden entsprechende Vorschläge unterbreitet. Zur Begründung hieß es, dass der Genozid ein neues Konzept sei und nicht alle vorstellbaren Tatmodalitäten vorhergesehen werden könnten.235 Eine abschließende Aufzählung würde die Gefahr bergen, lückenhaft zu sein.236 Letztendlich konnten sich diese Vorstöße nicht durchsetzen. Unter anderem wurde die Gefahr gesehen, dass eine exemplarische Formulierung zu einer unterschiedlichen Anwendung in den Mitgliedstaaten führen könnte.237 Die Idee einer exemplarischen Liste wurde nach der Erarbeitung der Konvention jedoch wieder aufgegriffen. So waren im Draft Code der Völkerrechtskommission aus dem Jahr 1954 die Tathandlungen exemplarisch formuliert.238 Später plädierte auch Doudou Thiam, der Sonderberichterstatter der Völkerrechtskommission, dafür, den Kreis der Tathandlungen im Sinne des Genozidtatbestandes durch Einfügung des Wortes „darunter“ zu erweitern.239 Seitens der Literatur hat Drost schon früh das Bedenken geäußert, dass die fünf Tatmodalitäten des Art. II Genozidkonvention nicht alle denkbaren Möglichkeiten, eine Gruppe als solche zu zerstören, erfassen würden. Als weitere Tatmodalitäten nannte er Deportationen, Internierung, Zwangsarbeit, Terrorisierung, Folter, unmenschliche Behandlung und physisch einschüchternde Maßnahmen.240 Dem zustimmend forderte Lipmann noch 1985 eine nicht abschließende Liste von Tatmodalitäten.241 Diese Forderung hat er 235
rd
th
th
UN GAOR, 3 session, 6 Committee, 78 meeting, S. 143, Mr. Titsun Li (China). 236
rd
237
rd
th
st
UN GAOR, 3 session, 6 Committee, 71 meeting, S. 79 , Mr. Paredes (Phillipinen), und S. 79 f., Mr. Chaumont (Frankreich). th
nd
UN GAOR, 3 session, 6 Committee, 72 meeting, S. 81 f., Mr. Perozo (Venezuela), und S. 82, Mr. Reid (New Zealand). 238
Veröffentlicht in YBILC 1954, Vol. II, S. 149 ff. Zum Draft Code s.o. 1. Teil, IV. 1. 239
Thiam, Seventh Report on the Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind, abgedruckt in YBILC 1989, Vol. II, Part 1, S. 81 (85); dazu auch YBILC 1989, Vol. II, part 2, S. 50 (59). 240
Drost, The Crime of State, Book II: Genocide, 1959, S. 124.
232
3. Teil
allerdings zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgegeben.242 Auch im Rahmen der Erarbeitung des ICC-Statuts fanden entsprechende Vorschläge keine Erwähnung. Die beispielhafte Formulierung der Tathandlungen ist zutreffenderweise abzulehnen. Verbrechenstatbestände sollten angesichts der auch völkergewohnheitsrechtlich geltenden Grundsätze des nullum crimen und nulla poena sine lege so spezifisch wie möglich definiert werden. Schließlich kann eine Person nur für solches Verhalten strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden, das zum Zeitpunkt der Begehung unzweifelhaft als Straftat normiert war.243 Das Prinzip des nullum crimen beruht unter anderem auf dem Erfordernis der rechtlichen Bestimmtheit. Nach diesem Grundsatz müssen strafrechtliche Normen so spezifisch und detailliert wie möglich sein, um das strafrechtlich relevante Verhalten eindeutig zu bezeichnen. Dies gilt sowohl für die objektiven Tatbestandsmerkmale als auch für die korrespondierende mens rea. Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass diejenigen, die möglicherweise in die Reichweite des Tatbestandes fallen, im Voraus wissen, welches Verhalten erlaubt und welches verboten ist. Der Bestimmtheitsgrundsatz ist im Völkerrecht im Vergleich zum innerstaatlichen Recht zwar nicht uneingeschränkt anwendbar, aber dennoch zu beachten.244 Würde man die Tathandlungen im Sinne von Art. II Genozidkonvention wie vorgeschlagen durch das Voranstellen eines „darunter“ exemplarisch formulieren, dann würde man dem Erfordernis der rechtlichen Bestimmtheit jedenfalls nicht mehr gerecht. Denn im Tatbestand wäre keine ausreichende Substanz für die Definition des für die Generalklausel maßgeblichen Verhaltensunrechts enthal241
Lippman, The Drafting of the 1948 Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, Boston UILJ 3 (1985), S. 1 (62). 242
Statt dessen schlug er die Ergänzung des Tatbestandes um weitere konkret bezeichnete Tathandlungen vor, Lippman, The Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide: Fifty Years Later, Arizona JICL 15 (1998), S. 415 (465); ders., The Crime of the Century. The Jurisprudence of Death at the Dawn of the New Millenium, Houston JIL 23 (2001), S. 467 (486). 243
Lamb, Nullum Crimen, Nulla Poena Sine Lege in International Criminal Law, in: Cassese/Gaeta/Jones (Hrsg.), The Rome Statute of the International Criminal Court: A Commentary, 2002, Vol. I, S. 733 ff.; dazu auch Cassese, International Criminal Law, 2003, S. 139 ff. Zu diesen Prinzipien s.a. 1. Teil, V. 244
Näher Cassese, International Criminal Law, 2003, S. 145 ff.; der Bestimmtheitsgrundsatz wurde zitiert im Urteil ICTY, Prosecutor v. Furundzija, Case No. IT-95-17/1-T, Urt. v. 10. Dezember 1998, para. 177.
Tathandlungen gemäß Art. II Genozidkonvention
233
ten. Erfasst wäre neben den konkret formulierten Tathandlungen ein lediglich – mehr oder weniger – diffuser Angriff auf eine Gruppe in Zerstörungsabsicht. Für die Täter wären unter diesen Voraussetzungen die rechtlichen Konsequenzen ihres Verhaltens nicht mehr ausreichend vorhersehbar. Wollte man einen generalklauselartigen Auffangtatbestand in die Norm aufnehmen, so müsste dieser schon konkreter als vorgeschlagen sein. Eine beispielhafte Fassung der Tathandlungen im Sinne von Art. II Genozidkonvention ist jedoch vor allem nicht erforderlich. Insbesondere der Vorwurf der Lückenhaftigkeit kann in diesem Zusammenhang entkräftet werden. Der bestehende Katalog erfasst wie im Rahmen der Diskussion der einzelnen Tatmodalitäten gezeigt werden konnte ein breites Spektrum möglicher Begehungsweisen. Gerade unter lit. b) und c) können eine Vielzahl von für den Genozid relevanten Verhaltensweisen subsumiert werden. Die Reichweite der Tathandlungen von Art. II Genozidkonvention ist in ihrer Gesamtheit als ausreichend zu bewerten. Auch die seinerzeit von Drost angeführten Beispiele können – freilich je nach den Umständen des Einzelfalls – grundsätzlich unter Art. II Genozidkonvention subsumiert werden. Da der Vorschlag einer beispielhaften Formulierung der Tathandlungen abzulehnen ist, ist auch insofern kein Reformbedarf gegeben.
5. Sprachliche Korrekturen Abschließend soll die Notwendigkeit sprachlicher Korrekturen an der gültigen Fassung der Tathandlungen im Sinne der Genozidkonvention untersucht werden. Wie dargelegt reicht es für die Erfüllung der Tatmodalitäten des Art. II lit. a – e) Genozidkonvention aus, wenn nur ein Gruppenmitglied betroffen ist. Um insoweit eine international einheitliche Rechtsanwendung zu gewährleisten, wird an dieser Stelle vorgeschlagen, eine an die Verbrechenselemente zu Art. 6 ICC-Statut angelehnte Formulierung in den Tatbestand aufzunehmen. Das Ergebnis der Diskussion zu der in lit. a) normierten Tathandlung der Tötung war, dass der Täter vorsätzlich gehandelt haben muss. Nach der englischen Textversion könnte theoretisch jedoch auch Fahrlässigkeit ausreichen. Eine entsprechende Korrektur des englischen Wortlauts wird dennoch für entbehrlich gehalten. Schließlich muss schon aufgrund der Unschuldsvermutung sowie der allgemeinen Prinzipien des Strafrechts von der Voraussetzung vorsätzlichen Handelns ausgegangen
3. Teil
234
werden. Außerdem ist es nur schwer vorstellbar, dass ein Täter tatsächlich aufgrund fahrlässiger Tötung wegen Genozids angeklagt und verurteilt werden würde. Seit der gezielten Einsetzung von sexuellen Gewalttaten im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda hat die Frage ihrer juristischen Einordnung gesteigerte Aufmerksamkeit erfahren. Beispielsweise wurden als Reaktion auf die Ereignisse in der spanischen Genozidgesetzgebung Sexualdelikte expressis verbis als mögliche Tathandlungen normiert.245 Wie in der Untersuchung zu den unterschiedlichen Tatmodalitäten dargelegt wurde können Vergewaltigungen und andere sexuelle Gewalttaten unter verschiedene Tatmodalitäten des Art. II Genozidkonvention subsumiert werden. Eine gesonderte Normierung der Sexualdelikte als weitere Tatbestandsvariante ist angesichts dessen nicht erforderlich. Eine weitere Schlussfolgerung bestand darin, dass es für die Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe im Sinne des lit. e) ausreichend ist, wenn das Kind von der Ursprungsgruppe getrennt wird. Eine entsprechende sprachliche Anpassung ist jedoch nicht erforderlich, da das Kind, wie erläutert, durch die Trennung automatisch zu einer anderen – wie auch immer gearteten – Gruppe gehören wird. Bleibt ein Hinweis auf die Notwendigkeit der Änderung der deutschen Übersetzung von Art. II lit. c) der Konvention. Festgestellt wurde, dass die in der deutschen Übersetzung der Konvention gewählte Formulierung „geeignet“ den englischen Wortlaut „calculated“ falsch wieder gibt. Der deutsche Wortlaut sollte daher zukünftig wie folgt gefasst werden: „(c) Vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeiführen sollen.“
III. Ergebnis und Reformvorschlag für die Tathandlungen Ingesamt ergibt sich folgender Reformvorschlag für die englische Textversion der Verletzungshandlungen: (a) Killing one or members of the group;
245
Art. 607 Abs. 1 Nr. 2 Spanisches Strafgesetzbuch, <www.preventgenocide.org/es/derecho/codigos/espana. htm>, dazu Gil Gil, Derecho Penal Internacional, 1999, S. 227 ff.
Tathandlungen gemäß Art. II Genozidkonvention
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(b) Causing serious bodily or mental harm to one or more members of the group; (c) Deliberately inflicting conditions of life on one or more members of the group calculated to bring about its physical destruction in whole or in part; (d) Imposing measures on one or more members of the group intended to prevent births within the group; (e) Forcibly transferring one or more children of the group to another group. Die deutsche Übersetzung der Konvention müsste nach diesem Muster wie folgt gefasst werden: (a) Tötung eines oder mehrerer Mitglieder der Gruppe; (b) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an einem oder mehreren Mitgliedern der Gruppe; (c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für ein oder mehrere Mitglieder der Gruppe, die ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeiführen sollen; (d) Verhängung von Maßnahmen für ein oder mehrere Mitglieder der Gruppe, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind; (e) gewaltsame Überführung eines oder mehrerer Kinder der Gruppe in eine andere Gruppe.
4. Teil Subjektive Tatseite von Art. II Genozidkonvention Der subjektive Tatbestand des Genozids hat zwei unterschiedliche Bezugspunkte: den Vorsatz und die Absicht, die Opfergruppe ganz oder teilweise zu zerstören. Die Zerstörungsabsicht wird wegen ihrer zentralen Bedeutung für den Genozidtatbestand oftmals als die umfassende Bezeichnung für die gesamte subjektive Tatseite (miss)verstanden. Um derartige Fehlinterpretationen von vornherein zu vermeiden, ist es wichtig, beide Aspekte der subjektiven Tatseite streng auseinander zu halten und unabhängig voneinander zu überprüfen.1
I. Vorsatz Zunächst muss der Täter mit Vorsatz bezüglich des objektiven Tatbestandes gehandelt haben. Das Erfordernis des allgemeinen Tatvorsatzes wird bestätigt durch die Fassung der Tathandlungen in Art. II lit. c) Genozidkonvention „vorsätzliche (deliberately) Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen“ und Art. II lit. d) Genozidkonvention „Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet (intended) sind“.2 Die Kammer im Fall Akayesu vertrat die Meinung, dass das moralische Element einer Straftat sich in dem Wunsch des Täters widerspiegle, dass das Verbrechen tatsächlich begangen werde. Dieses Erfordernis konkretisierte sie unter Hinweis auf das Urteil des ICTY im Fall Tadic dahin gehend, dass eine Person nur für solches Verhalten strafrechtlich ver1
Vgl. Triffterer, Genocide, Its Particular Intent to Destroy in Whole or in Part the Group as Such, LJIL 14 (2001), S. 399 (400); a.A. Neressian, The Contours of Genocidal Intent, Texas International Law Journal 37 (2002), S. 231 (270). 2
Hervorhebung durch die Verf.
4. Teil
238
antwortlich sein kann, für das feststeht, dass sie sich wissentlich an der Begehung der Straftat beteiligte.3 Im Urteil gegen Tadic in erster Instanz hieß es wörtlich: „[...] the accused will be found criminally culpable for any conduct where it is determined that he knowingly participated in the commission of an offence that violates international humanitarian law and his participation directly and substantially affected the commission of that offence through supporting the actual commission before, during, or after the incident.“4 Im deutschen Recht werden abhängig von Vorstellung und Willen des Täters drei verschiedene Formen des Vorsatzes unterschieden. Vereinfacht dargestellt ist dies die so genannte „Absicht“ (o.a. dolus directus 1. Grades), die gegeben ist, wenn es dem Täter gerade darauf ankommt, den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges herbeizuführen, unabhängig davon, ob er die Tatbestandsverwirklichung als sicher oder nur als möglich antizipiert. Darüber hinaus wird von direktem Vorsatz (o.a. dolus directus 2. Grades) gesprochen, wenn der Täter sicher weiß, dass sein Handeln die Merkmale eines Straftatbestandes erfüllt, unabhängig davon, ob ihm der Erfolg unerwünscht ist oder nicht. Die dritte Vorsatzform ist schließlich der Eventualvorsatz (o.a. dolus eventualis), der besteht, wenn der Täter den Eintritt des Erfolges ernstlich für möglich hält und sich damit abfindet, dass sein Verhalten zur Verwirklichung des Tatbestandes führen kann.5 Diese Dogmatik lässt sich natürlich nicht ohne weiteres auf andere Rechtssysteme wie das Common Law übertragen.6 Da eine umfassende Darstellung anderer Vorsatzdogmatiken hier jedoch nicht erfolgen kann, sei nur darauf hingewiesen, dass im Common Law anders als im deutschen Recht nicht von objektivem und subjektivem Tatbestand die Rede ist. Bezug genommen wird auf die Tathandlung (actus reus), die von einer entsprechenden mens rea in all ihren Erscheinungsformen er-
3
ICTR, Prosecutor v. Akayesu, Case No. ICTR-96-4-T, Urt. v. 2. September 1998, para. 476 f. 4
ICTY, Prosecutor v. Tadic, Case No. ICTY IT-94-1-T, Urt. v. 7. Mai 1997, para. 692. 5
Für eine ausführliche Darstellung der deutschen Vorsatzdogmatik sei verwiesen auf MK-StGB-Joecks, § 16, Rn. 12 ff. 6
Vgl. Cassese, International Criminal Law, 2003, S. 159 ff.
Subjektive Tatseite von Art. II Genozidkonvention
239
fasst sein muss. Die mens rea wird im Common Law im Allgemeinen mit intent umschrieben.7 Es gibt keine gewohnheitsrechtliche Norm, die die verschiedenen Kategorien der mens rea festlegt. Für das ICC-Statut sind die „Subjektiven Unrechtselemente“ in Art. 30 geregelt, dessen gewohnheitsrechtliche Geltung bezweifelt wird.8 Art. 30 ICC-Statut gilt allerdings nur, soweit nichts anderes bestimmt ist.9 „Andere Bestimmungen“ können sich aus dem Statut selbst, aus den Verbrechenselementen und aus sonstigen Völkerrechtsquellen im Sinne des Art. 21 ICC-Statut, insbesondere dem Völkergewohnheitsrecht, ergeben. Durch die anderen Bestimmungen können die Anforderungen an die subjektive Tatseite eines bestimmten Verbrechens einerseits bestätigt oder präzisiert und anderer-
7
Ausführlich zur Vorsatzdogmatik des Common Law Honig, Das amerikanische Strafrecht, in: Mezger u.a. (Hrsg.), Das ausländische Strafrecht der Gegenwart, Bd. 4, 1962, S. 21 ff., 106 ff.; zu einem Vergleich der deutschen Terminologie mit derjenigen des US-amerikanischen Model Penal Code vgl. Neressian, The Contours of Genocidal Intent, Texas International Law Journal 37 (2002), S. 231 (263 f.); vgl. dazu auch van der Vyver, Prosecution and Punishment of the Crime of Genocide, Fordham International Law Journal 23 (1999), S. 286 (307). 8
Cassese, International Criminal Law, 2003, S. 159 f.; zu den subjektiven Merkmalen im ICC-Statut und in den Verbrechenselementen Clark, Subjektive Merkmale im Völkerstrafrecht: Das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs und die Verbrechenselemente, ZStW 114 (2002), S. 372 ff. 9
Art. 30 [Mental Element]:
„(1) Unless otherwise provided, a person shall be criminally responsible and liable for punishment for a crime within the jurisdiction of the Court only if the material elements are committed with intent and knowledge. (2) For purposes of this article, a person has intent where (a) in relation to conduct, that person means to engage in the conduct (b) in relation to consequence, that person means to cause that consequence or is aware that it will occur in the ordinary course of events. (3) For the purposes of this article, ‘knowledge’ means awareness that a circumstance exists or a consequence will occur in the ordinary course of events. ‘Know’ and ‘knowingly’ shall be construed accordingly.“ Die amtliche deutsche Übersetzung „vorsätzlich und wissentlich“ ist allerdings unglücklich gewählt, da nach deutschem Strafrechtsverständnis der Vorsatz das Wissenselement mit einschließt. Vorzuziehen ist deshalb die Übersetzung des englischen und französischen Originaltextes mit „willentlich und wissentlich“, so Werle, Völkerstrafrecht, 2003, S. 107, Rn. 267.
4. Teil
240
seits erweitert oder verengt werden.10 Diese Regelung ist erforderlich, weil die Konzeption der subjektiven Tatseite viel differenzierter ausgestaltet sein kann als es in Art. 30 ICC-Statut angelegt ist, wie schon ein Vergleich mit der deutschen Terminologie belegt. Für das Vorsatzerfordernis im Sinne von Art. II Genozidkonvention genügt es, wenn der Täter mit dolus eventualis gehandelt hat.11 Dies kann beispielsweise dann der Fall sein, wenn der Täter schwere Körperschäden im Sinne von Art. II lit. b) Genozidkonvention zufügen will und dabei den Tod des Gruppenmitglieds in Kauf nimmt. Wie im Rahmen der Tathandlung der Tötung gemäß Art. II lit. a) Genozidkonvention konstatiert, ist fahrlässiges Handeln im Rahmen des Genozids jedoch ausgeschlossen.12 Diesbezüglich äußerte die Völkerrechtskommission sich folgendermaßen: „The prohibited acts enumerated in subparagraphs (a) to (e) are by their very nature conscious, intentional or volitional acts which an individual could not usually commit without knowing that certain consequences were likely to result. These are not the type of acts that would normally occur by accident or even as a result of mere negligence.“13
II. Absichtsmerkmal Darüber hinaus muss der Täter die Absicht gehabt haben, die Opfergruppe ganz oder teilweise zu zerstören. Die Absicht ist für die Erfüllung des Tatbestandes konstitutiv. Für die Verwirklichung der Zerstö10
Werle, Völkerstrafrecht, 2003, S. 110 f.
11
Triffterer, Genocide, Its Particular Intent to Destroy in Whole or in Part the Group as Such, LJIL 14 (2001), S. 399 (403); MK-StGB-Kreß, § 220 a/§ 6 VStGB, Rn. 70; Basler Kommentar-Wehrenberg, Art. 264, Rn. 33; gegen den Einschluss des dolus eventualis Arnold, The Mens Rea of Genocide under the Statute of the International Criminal Court, Criminal Law Forum 14 (2003), S. 127 (143 f.); Clark, Subjektive Merkmale im Völkerstrafrecht: Das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs und die Verbrechenselemente, ZStW 114 (2002), S. 372 ff. 12 13
S.o. 3. Teil, I. 1.
Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind, Report of the International Law Commission on the Work of its forty-eighth session, 6 May – 26 July 1996, UN Doc. A/51/10, Art. 17, para. 5.
Subjektive Tatseite von Art. II Genozidkonvention
241
rungsabsicht ist die tatsächliche Zerstörung der Opfergruppe keine Voraussetzung. Vom betroffenen Rechtsgut aus gesehen reicht für die Vollendung des Genozids der in genozidaler Absicht unternommene Versuch, die Gruppe zu zerstören.14 Die Zerstörung der Gruppe muss nicht das Endziel des Täters sein. Für die Bejahung der Absicht reicht es aus, wenn die Zerstörung der Gruppe nur ein notwendiges Zwischenziel zur Erreichung des primären Handlungszieles ist.15 Das Absichtsmerkmal ist aus verschiedenen Gesichtspunkten ein problematisches Tatbestandsmerkmal. Umstritten ist insbesondere die Frage nach dem Grad des für die Erfüllung der Absicht erforderlichen Vorsatzes, welche vor allem in der Literatur kontrovers diskutiert wird. Fraglich ist, ob der Täter für die Erfüllung des Genozidtatbestandes mit Absicht im engeren Sinn sprich zielgerichtet gehandelt haben muss, oder ob es ausreicht, wenn er mit sicherem Wissen handelte. Darüber hinaus stellt die mit der subjektiven Tatseite im Strafprozess typischerweise einhergehende Nachweisproblematik die Rechtsprechung immer wieder vor erhebliche Schwierigkeiten. Im Folgenden wird zunächst dargestellt, wie das Merkmal der Zerstörungsabsicht in der bisherigen Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale ausgelegt worden ist. An diese Darstellung schließt sich die Diskussion an, welche der vertretenen Auslegungen vorzugswürdig ist. Auf der Grundlage dessen wird der Reformbedarf des Absichtsmerkmals beleuchtet und, soweit der Reformbedarf gegeben ist, ein abschließender Vorschlag für eine Neuformulierung des Merkmals erarbeitet. Es sei noch darauf hingewiesen, dass der englische Begriff „intent“ beziehungsweise der französische Begriff „intention“ in dieser Arbeit grundsätzlich in der Originalsprachfassung beibehalten werden. Wenn jedoch mit dem deutschen Wortlaut von „Absicht“ die Rede ist, so erfolgt dies ohne Festlegung auf den Grad des erforderlichen Vorsatzes.
14
Vest, Genozid durch organisatorische Machtapparate, 2002, S. 100; zu der Frage, wann eine Versuchsstrafbarkeit in Frage kommt Arnold, The Mens Rea of Genocide under the Statute of the International Criminal Court, Criminal Law Forum 14 (2003), S. 127 (133 f.). 15
Dazu allgemein MK-StGB-Joecks, § 15, Rn. 12.
242
4. Teil
1. Auslegung des Absichtsmerkmals a) Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale Die Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale zum Absichtsmerkmal verdeutlicht die Problematik der Auslegung des Merkmals. Die Strafkammern des ICTR und des ICTY haben die Absicht im Sinne des Genozidtatbestandes bislang fast ausschließlich als Absicht im engeren Sinn beziehungsweise zielgerichtetes Handeln interpretiert, wobei sie in der Sprachwahl nicht einheitlich waren. In den Urteilen des ICTR wurden folgende Synonyme für das Absichtsmerkmal formuliert: Das Urteil gegen Akayesu sprach von special intent, dolus specialis und genocidal intent;16 das Urteil gegen Kayishema und Ruzindana von specific intent und dolus specialis;17 das Urteil gegen Rutaganda von dolus specialis, special intent und specific intention;18 das Urteil gegen Bagilishema verwendete schließlich die Begriffe specific intent, specific genocidal intent und dolus specialis.19 Die Urteile des ICTY waren in ihrer Terminologie nicht deutlicher. Das Urteil gegen Jelesic in erster Instanz bezog sich auf special intention, genocidal intent und dolus specialis und das in zweiter Instanz auf specific intent,20 dem folgte die Strafkammer im Fall Brdjanin.21 Die Kammer im Fall Krstic legte sich begrifflich nicht fest, sondern beschränkte sich auf die Feststellung, dass der Täter mit dem Ziel gehandelt haben muss, 16
ICTR, Prosecutor v. Akayesu, Case No. ICTR-96-4-T, Urt. v. 2. September 1998, vgl. z. B. para. 498 f., 517 f., 523. 17
ICTR, Prosecutor v. Kayishema & Ruzindana, Case No. ICTR-95-1-T, Urt. v. 21. Mai 1999, para. 91, 112; ebenso ICTR, Prosecutor v. Kajelijeli, Case No. ICTR-98-44A-T, Urt. v. 1. Dezember 2003, para. 803; ICTR, Prosecutor v. Kamuhanda, Case No. ICTR-95-54A-T, Urt. v. 22. Januar 2004, para. 622; ICTR, Prosecutor v. Gacumbitsi, Case. No. ICTR-2001-64-T, Urt. v. 17. Juni 2004, para. 250. 18
ICTR, Prosecutor v. Rutaganda, Case No. ICTR-96-3-T, Urt. v. 6. Dezember 1999, para. 59; ebenso ICTR, Prosecutor v. Musema, Case No. ICTR96-13-T, Urt. v. 27. Januar 2000, para. 164. 19
ICTR, Prosecutor v. Bagilishema, Case No. ICTR-95-1A-T, Urt. v. 7. Juni 2001, para. 55. 20
ICTY, Prosecutor v. Jelesic, Case No. IT-95-10-T, Urt. v. 14. Dezember 1999, para. 78, 82, 108. 21
ICTY, Prosecutor v. Brdjanin, Case No. IT-99-36-T, Urt. v. 1. September 2004, para. 695.
Subjektive Tatseite von Art. II Genozidkonvention
243
die Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören.22 Die Urteile in den Fällen Sikirica und Stakic bezogen sich wiederum auf den specific intent und/oder dolus specialis.23 Für die Auslegung des Absichtsmerkmals ist die Entscheidung der ersten Strafkammer des ICTR im Fall Akayesu grundlegend.24 Nach Auffassung der Kammer erfordert die spezielle Absicht, dass der Täter eindeutig die Taten erstrebte, wegen derer er angeklagt ist.25 Sie wies darauf hin, dass der special intent ein wohlbekanntes Konzept im romanischkontinentalen Rechtssystem ist. Als konstitutives Element bestimmter Straftatbestände erfordere er, dass der Täter die eindeutige Absicht hatte, die Tat zu begehen, wegen derer er angeklagt ist. Der special intent sei das Schlüsselelement einer absichtlichen Tat, die durch die psychologische Verbindung zwischen dem physischen Ergebnis und dem geistigen Zustand des Täters charakterisiert sei.26 Wenn ein Angeklagter nicht mit der spezifischen genozidalen Absicht gehandelt habe, könne er nicht für Genozid schuldig gesprochen werden. Selbst dann nicht, wenn er wusste, dass er durch sein Verhalten zur ganzen oder teilweisen Zerstörung beitrug oder möglicherweise beitrug.27 Insgesamt wird deutlich, dass die Kammer den dolus specialis als dolus directus 1. Grades beziehungsweise Absicht im engeren Sinne entsprechend der Begrifflichkeit des deutschen Strafrechts verstand. Die übrigen Urteile des ICTR zum Genozidtatbestand entwickelten die Auslegung des Absichtsmerkmals bislang nicht weiter. Entweder übernahmen sie – teilweise – die Auslegung gemäß des Falles Akayesu oder sie verzichteten auf eine nähere Auseinandersetzung mit der Begrifflichkeit der Absicht.28
22
ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-T, Urt. v. 2. August 2001, para. 571. 23
ICTY, Prosecutor v. Sikirica et al., Case No. IT-95-8-T, Urt. v. 3. September 2001, para. 59 f.; ebenso ICTY, Prosecutor v. Stakic, Case No. IT-97-24-T, Urt. v. 31. Juli 2003, para. 520. 24
Zum Fall Akayesu s.o. 2. Teil, I. 1. b).
25
ICTR, Prosecutor v. Akayesu, Case No. ICTR-96-4-T, Urt. v. 2. September 1998, para. 498. 26
Ebenda, para. 518.
27
Ebenda, para. 544 ff.
28
Die Auslegung im Fall Akayesu haben bspw. übernommen ICTR, Prosecutor v. Rutaganda, Case No. ICTR-96-3-T, Urt. v. 6. Dezember 1999, para. 61;
4. Teil
244
Die Rechtsprechung des ICTY ist in der Frage der Bedeutung des Absichtsmerkmals weniger einheitlich. Im Verfahren gegen Jelesic kam es unter anderem wegen der Auslegung des Absichtsmerkmals zu einem Rechtsmittelverfahren.29 Jelesic hatte Zeugenaussagen zufolge im Gefangenenlager Luka in Brcko im Mai 1992 unzählige bosnische Muslime ermordet und viele Gefangene misshandelt. Außerdem machte er verachtende, diskriminierende Bemerkungen und demütigte seine Opfer. Während des in Rede stehenden Zeitraums bezeichnete er sich selbst als „Serbischer Adolf“ und behauptete nach Brcko gekommen zu sein, um Muslime zu töten. Jelesic präsentierte sich auch bei seiner ersten Anhörung vor der entscheidenden Strafkammer als „Adolf“.30 Die erste Strafkammer des ICTY schloss sich der im Fall Akayesu vertretenen Auffassung an, dass ein wegen Genozids angeklagter Täter selbst mit dem Ziel gehandelt haben muss, die Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören.31 Diese spezielle Geisteshaltung bezeichnete sie an anderer Stelle mit dolus specialis.32 Da Jelesic nach Auffassung der Kammer der dolus specialis nicht nachgewiesen werden konnte, sprach die Kammer ihn vom Vorwurf des Genozids frei. Zur Begründung führte sie unter anderem an, dass Jelesic eine in hohem Maße gestörte Persönlichkeit aufweise, mit borderline, asozialen und narzisstischen Merkmalen.33 Außerdem habe er die Hinrichtungen zufällig ausgeführt, da er manche Gefangene auf eigene Initiative und gegen jede Logik gehen ließ.34 Seine Taten seien folglich nicht der physische Ausdruck eines gesicherten Entschlusses gewesen, eine Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören.35 Obwohl Jelesic offensichtlich Muslime ausgewählt habe, weise sein Verhalten darauf hin, dass er willkürlich tötete und nicht mit der klaren Absicht, eine Gruppe zu zerstören. Deshalb
und ICTR, Prosecutor v. Musema, Case No. ICTR-96-13-T, Urt. v. 27. Januar 2000, para. 166. 29
Zu dem Verfahren gegen Jelesic s.o. 2. Teil, I. 2. b).
30
ICTY, Prosecutor v. Jelesic, Case No. IT-95-10-T, Urt. v. 14. Dezember 1999, para. 102 f. 31
Ebenda, para. 84 ff.
32
Ebenda, para. 108.
33
Ebenda, para. 105.
34
Ebenda, para. 106.
35
Ebenda, para. 107.
Subjektive Tatseite von Art. II Genozidkonvention
245
war es nach Auffassung der Kammer nicht hinreichend erwiesen, dass Jelesic mit dolus specialis im Sinne des Genozidtatbestandes gehandelt hatte.36 Die Anklagebehörde warf der Strafkammer in ihrer Rechtsmittelbegründung unter anderem vor, dass sie einem Rechtsirrtum unterlegen war, indem sie die subjektive Tatseite auf den Standard des dolus specialis beschränkte. Nach Meinung der Anklagebehörde ist der Genozidtatbestand erfüllt, wenn der Angeklagte die Zerstörung der Gruppe bewusst erstrebte, oder wenn er wusste, dass seine Tathandlung die Gruppe zerstören würde, oder wenn er wusste, dass die wahrscheinliche Konsequenz seines Verhaltens die Zerstörung der Gruppe sein würde.37 Wobei die zuletzt genannte Kategorie sich nur auf die Strafbarkeit als Gehilfe beziehe.38 Ein weiterer Vorwurf richtete sich gegen die Meinung der Strafkammer, dass die Beweise nicht ausreichend waren, um eine Verurteilung wegen Genozids zu rechtfertigen.39 Die Rechtsmittelkammer stimmte mit der Argumentation der Anklagebehörde nur teilweise überein. Das Vorbringen der Anklagebehörde bezüglich der Auslegung des Absichtsmerkmals wies sie als Fehlinterpretation des Urteils zurück.40 Unter Hinweis auf den unterschiedlichen Sprachgebrauch der Tribunale für das Absichtsmerkmal sprach sich die Rechtsmittelkammer für den Terminus specific intent aus, um die Absicht im Sinne von Art. 4 Abs. 2 ICTY-Statut zu umschreiben.41 Dies jedoch ohne der Begrifflichkeit eine Bedeutung zuzuschreiben, die sie möglicherweise in einer nationalen Rechtsordnung trägt.42 Der specific intent erfordere, dass der Täter erstrebte, durch eine der in Art. 4 des ICTY-Statuts verbotenen Taten ganz oder teilweise eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche zu zerstören.43 Wenn man den Kontext des Urteils berücksichtige, müsse man zu dem Ergebnis gelangen, dass die Strafkammer den lateinischen Ausdruck des dolus 36
Ebenda, para. 106 ff.
37
ICTY, Prosecutor v. Jelesic, Case No. IT-95-10-A, Urt. v. 5. Juli 2001, para. 42. 38
Ebenda, para. 42, Fn. 77.
39
Ebenda, para. 53.
40
Ebenda, para. 52.
41
Ebenda, para. 45.
42
Ebenda, para. 45, Fn. 81.
43
Ebenda, para. 46.
4. Teil
246
specialis nur verwendet habe, um diesen specific intent zu umschreiben.44 Im Hinblick auf die Kritik an der Beweiswürdigung gab die Rechtsmittelkammer der Anklagebehörde darin Recht, dass die Strafkammer einen falschen Prüfungsmaßstab angelegt und die Beweise falsch gewürdigt hatte.45 Eine gestörte Persönlichkeit stehe der Fähigkeit, die Absicht zu bilden, eine bestimmte Gruppe zu zerstören, nicht per se entgegen.46 Auch die Willkür des Täters sei von der Strafkammer überbewertet worden. Die Absicht zu töten werde weder dadurch beeinträchtigt, dass er einige Gefangene gehen ließ, noch durch seine Freude am Töten.47 Trotz dieser fehlerhaften Beweiswürdigung durch die Strafkammer gab die Rechtsmittelkammer dem Antrag auf Durchführung eines neuen Prozesses unter Hinweis auf das ihr in Art. 25 ICTY-Statut und Regel 117 (C) der Verfahrensordnung eingeräumte Ermessen nicht statt. Ihre Entscheidung begründete die Rechtsmittelkammer zum einen damit, dass der Angeklagte sich für die Begehung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig bekannt hatte. Aufgrund der Tatsache, dass die Anklage wegen Genozids auf demselben Sachverhalt beruhen würde, wäre ein neues Verfahren mithin auf die Beantwortung der Frage beschränkt, ob Jelesic mit der entsprechenden Absicht im Sinne des Genozidtatbestandes handelte. Die Rechtsmittelkammer habe die Definition der Absicht jedoch bereits klargestellt.48 Außerdem sei der Rechtsirrtum der Strafkammer nicht auf einen Fehler des Angeklagten zurückzuführen. Wegen der Natur des Tribunals als ad hoc-Einrichtung seien seine Ressourcen begrenzt.49 Ferner könne die empfohlene psychologische und psychiatrische Behandlung des Angeklagten in der Untersuchungshaft nicht so dauerhaft erfolgen wie im
44
Ebenda, para. 51.
45
Ebenda, para. 39 und 53 ff.; die Kammer wies dabei ausdrücklich darauf hin, dass sie nicht darüber entscheiden musste, ob der Angeklagte tatsächlich wegen Genozids schuldig war, sondern nur darüber, ob eine vernünftig handelnde Strafkammer zu der Bejahung der Absicht hätte gelangen können, para. 68. 46
Ebenda, para. 70.
47
Ebenda, para. 71.
48
Ebenda, para. 74.
49
Ebenda, para. 75.
Subjektive Tatseite von Art. II Genozidkonvention
247
Strafvollzug.50 Insgesamt war es nach Meinung der Rechtsmittelkammer daher nicht im Interesse der Justiz, den Freispruch der Strafkammer zu revidieren und den Fall zurückzuverweisen.51 Das Urteil im Fall Krstic wich im Rahmen der Auslegung des Absichtsmerkmals wie auch schon bei der Auslegung des Gruppenbegriffs von den Vorentscheidungen ab. Die Kammer konstatierte zunächst, dass es erforderlich sei, zwischen der Absicht des Kollektivs und der des einzelnen Täters zu unterscheiden. Normalerweise würde der Genozid voraussetzen, dass verschiedene Täter in seine Begehung involviert seien. Auch wenn die Motive der einzelnen Täter verschieden sein könnten, bleibe das Ziel des kriminellen Vorhabens dasselbe. In solchen Fällen der gemeinsamen Tatbegehung müsse die spezielle Absicht in der kriminellen Tat selbst erkennbar sein, unabhängig von der Absicht des jeweiligen Täters. Es sei dann erforderlich festzustellen, ob der einzelne Täter die Absicht teilte, dass ein Genozid begangen wurde.52 Später im Urteil wies die Kammer darauf hin, dass der Genozidtatbestand durch das Ziel, eine Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören, charakterisiert sei: „Some legal commentators further contend that genocide embraces those acts whose foreseeable or probable consequence is the total or partial destruction of the group without any necessity of showing that destruction was the goal of the act. Whether this interpretation can be viewed as reflecting the status of customary international law at the time of the acts involved here is not clear. For the purpose of this case, the Chamber will therefore adhere to the characterisation of genocide which encompass only acts committed with the goal of destroying all or part of a group.“ 53 Insofern bezog sich jedoch anscheinend nur auf die Absicht des Kollektivs. Belegen doch die konkreten Feststellungen des Urteils zur subjektiven Einstellung des Täters nicht eine Zerstörungsabsicht im engeren Sinn.54 Vielmehr erachtet die Kammer bezüglich des Einzeltäters direkten Vorsatz im Sinne des sicheren Wissens um die Folgen der Kollektiv50
Ebenda, para. 76.
51
Ebenda, para. 77.
52
ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-T, Urt. v. 2. August 2001, para. 549. 53 54
Ebenda, para. 571.
MK-StGB-Kreß, § 220 a/§ 6 VStGB, Rn. 80; ders., The Darfur Report and Genocidal Intent, JICJ 3 (2005), S. 562 (566, Fn. 19).
4. Teil
248
tat – die Zerstörung der bosnisch-muslimischen Bevölkerung in Srebrenica – für die Erfüllung der Absicht als ausreichend.55 Die Auslegung der Absicht im Sinne des Genozidtatbestandes als dolus directus 2. Grades hat sich in der Rechtsprechung der Tribunale jedoch nicht durchgesetzt, wie die nachfolgend ergangenen Urteile belegen. Die Feststellungen zur subjektiven Tatseite im Fall Sikirica waren wenig präzise. Die entscheidende Kammer vertrat die Auffassung, dass die Anklage mit ihrem – bereits zitierten – Ansatz die relativ einfache Aufgabe der Interpretation des Art. 4 ICTY-Statut unnötig verkompliziere. Art. 4 ICTY-Statut würde die erforderliche Absicht ausdrücklich identifizieren und erklären. Eine Untersuchung der Theorien zur Absicht sei unnötig für die Auslegung des Merkmals. Erforderlich sei eine empirische Bewertung aller Beweise, um sicherzustellen, ob die spezifische von Art. 4 ICTY-Statut geforderte Absicht festgestellt werden könne. In diesem Zusammenhang zitierte die Kammer ausdrücklich die Entscheidung der Rechtsmittelkammer im Fall Jelesic, nach der der Täter erstrebt haben muss, eine der Opfergruppen ganz oder teilweise zu zerstören.56 Dementsprechend forderte sie in der Sache wohl ebenfalls Absicht im engeren Sinn. Sikirica wurde vom Vorwurf des Genozids freigesprochen, da ihm die Zerstörungsabsicht nicht nachgewiesen werden konnte.57 In den Verfahren gegen Stakic, Blagojevic und Brdjanin wurde desgleichen zielgerichtetes Handeln gefordert.58 Dabei betonte die Kammer im Fall Stakic ausdrücklich, dass es nicht ausreiche, wenn eine Situation zum Genozid eskaliert oder wenn der Genozid die natürliche und vorhersehbare Konsequenz eines Unternehmens ist, welches nicht speziell 55
ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-T, Urt. v. 2. August 2001, para. 644, vgl. auch para. 634 f. und 622; a.A. die Rechtsmittelkammer, nach deren Meinung Krstic die genozidale Absicht im Urteil der 1. Instanz nicht ausreichend nachgewiesen worden war. Nach Auffassung der Rechtsmittelkammer konnte Krstic nur als Gehilfe und nicht als Hauptäter verurteilt werden, ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-A, Urt. v. 19. April 2004, para. 79 ff., insbes. 134 ff. 56
ICTY, Prosecutor v. Sikirica et al., Case No. IT-95-8-T, Urt. v. 3. September 2001, para. 58 ff. 57 58
Ebenda, para. 63 ff.
ICTY, Prosecutor v. Stakic, Case No. IT-97-24-T, Urt. v. 31. Juli 2003, para. 530, 558; ICTY, Prosecutor v. Blagojevic, Case No. IT-02-60-T, Urt. v. 17. Januar 2005, para. 656; ICTY, Prosecutor v. Brdjanin, Case No. IT-99-36T, Urt. v. 1. September 2004, para. 695.
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auf die Begehung des Genozids abzielte.59 Stakic wurde mangels des Nachweises der subjektiven Tatseite vom Vorwurf des Genozids freigesprochen.60 Das ICTR schloss sich, ohne den Inhalt des Absichtsmerkmals selber näher zu diskutieren, in seiner Folgerechtsprechung in den Urteilen gegen Ntakirutimana, Semanza und Niyitegeka61 ebenfalls der Auffassung an, dass der Täter mit zielgerichtetem Erfolgswillen gehandelt haben muss.
b) Diskussion der Rechtsprechung Es gilt zu diskutieren, ob der Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale darin zugestimmt werden kann, dass der intent im Sinne des Genozidtatbestandes als zielgerichteter Erfolgswille (dolus directus 1. Grades) verstanden werden muss. Vorangestellt sei eine kurze Kritik an der Sprachwahl der Tribunale, die die Termini des dolus specialis, des special intent und des specific intent offenbar austauschbar einsetzen. Diese Sprachwahl kann die Quelle einiger Verwirrung sein, weil das Konzept des dolus specialis eine Besonderheit verschiedener Rechtssysteme des Civil Law ist und nicht verallgemeinernd mit den Begriffen des special intent oder specific intent aus dem Common Law gleichgesetzt werden kann.62 Selbst in den Ländern des Civil Law wird das Konzept des dolus specialis sehr kontrovers diskutiert.63 Deshalb sollte die Einführung solch unklarer Konzepte aus 59
ICTY, Prosecutor v. Stakic, Case No. IT-97-24-T, Urt. v. 31. Juli 2003, para. 530, 558. 60
Ebenda, para. 544 ff.
61
ICTR, Prosecutor v. Elizaphan & Gérard Ntakirutimana, Case Nos. ICTR-96-10 & ICTR-96-17-T, Urt. v. 21. Februar 2003, para. 783 ff., 825 ff.; ICTR, Prosecutor v. Semanza, Case No. ICTR-97-20-T, Urt. v. 15. Mai 2003, para. 311 ff.; ICTR, Prosecutor v. Niyitegeka, Case. No. ICTR-96-14-T, Urt. v. 16. Mai 2003, para. 408 ff. 62
Dazu insgesamt Schabas, The Jelisić Case and the Mens Rea of the Crime of Genocide, LJIL 14 (2001), S. 125 (129). 63
Triffterer, Genocide, Its Particular Intent to Destroy in Whole or in Part the Group as Such, LJIL 14 (2001), S. 399 (404); kritisch zur Bezugnahme auf das Konzept des dolus specialis ebenfalls Kreß, The Darfur Report and Genocidal Intent, JICJ 3 (2005), S. 562 (567 f.); ders., The Crime of Genocide under International Law, International Criminal Law Review 6 (2006), S. 461 (494).
4. Teil
250
den nationalen Rechtsordnungen vermieden werden, die letzten Endes doch nur wiederholen, was der Definition des Genozids selbst entnommen werden kann.64 Die Frage nach dem Grad des für die Begehung von Genozid erforderlichen Vorsatzes ist schwierig zu beantworten. Die Wortlautauslegung bringt kein eindeutiges Ergebnis, da es sich bei der Absicht um einen interpretationsoffenen Rechtsbegriff handelt. Diese Diagnose betrifft zum einen das deutsche Strafrecht, in dem der Begriff der Absicht beklagenswert ungenau ist. Absichten im Sinne von besonderen, über den objektiven Tatbestand hinausgehenden, subjektiven Elementen bezeichnen aus der Sicht der deutschen Strafrechtstheorie in vielen Fällen das eigentliche Handlungsziel im Sinne des dolus directus 1. Grades. In anderen Tatbeständen kann durch das Merkmal der Absicht auch nur der dolus eventualis ausgeschlossen sein, dann sind dolus directus 1. und 2. Grades gleichermaßen erfasst. Gelegentlich wird der Begriff der Absicht schließlich im Sinne eines echten Motivs verstanden.65 Die Bewertung gilt aber auch für die Vertragssprachen der Genozidkonvention. In der englischsprachigen Textfassung der Konvention findet sich der Passus „with intent to destroy“. Dieser erfasst nach seinem klassischen Verständnis auch das (praktisch) sichere Wissen.66 Die französische und die spanische Textfassung sind nicht minder unklar. Sowohl der französische Begriff „intention“ als auch der spanische Begriff „intención“ umfassen ebenso die Absicht im engeren Sinn wie den Vorsatz. Das ICC-Statut gibt keinen Aufschluss über die Auslegung der Absicht im Sinne des Genozidtatbestandes. In Art. 30 ICC-Statut bleibt offen, welche Erfordernisse an die Absicht zu stellen sind, die eine der anderen Bestimmungen im Sinne der genannten Vorschrift darstellt. Die Verbrechenselemente zu Art. 6 ICC-Statut schweigen ebenfalls zur Auslegung des Absichtsmerkmals. Das dritte gleich lautende Element der einzelnen Tathandlungen zu Art. 6 ICC-Statut wiederholt lediglich, dass der Täter mit der Absicht gehandelt haben muss, ganz oder teilweise eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche
64
Schabas, The Jelisić Case and the Mens Rea of the Crime of Genocide, LJIL 14 (2001), S. 125 (129). 65
SS-Cramer/Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 64 ff.
66
MK-StGB-Kreß, § 220 a/§ 6 VStGB, Rn. 83.
Subjektive Tatseite von Art. II Genozidkonvention
251
zu zerstören.67 Die Festlegung der Erfordernisse an die subjektive Tatseite wird ausdrücklich der Rechtsprechung überlassen: „Notwithstanding the normal requirement for a mental element provided for in article 30, and recognizing that knowledge of the circumstances will usually be addressed in proving genocidal intent, the appropriate requirement, if any, for a mental element regarding this circumstance will need to be decided by the Court on a case-bycase basis.“68 Die Völkerrechtskommission befürwortet die Auslegung der Absicht als specific intent. Nach ihrer Meinung ist die generelle Absicht, eine der aufgezählten Taten zu begehen, mit dem generellen Bewusstsein der möglichen Konsequenzen einer solchen Tat im Hinblick auf das oder die unmittelbaren Opfer nicht ausreichend für das Verbrechen des Genozids. Die Definition dieses Verbrechens erfordere eine spezielle Geisteshaltung oder eine spezifische Absicht im Hinblick auf die gesamten Konsequenzen der verbotenen Tat.69 Der Internationale Gerichtshof fordert in seinem Urteil im Case Concerning the Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide ebenfalls „specific intent (dolus specialis)“.70 Diese Auffassung hatte der Gerichtshof schon früher in seiner Entscheidung Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons vertreten. In dieser Entscheidung begründet der Gerichtshof seine Auffassung, dass der Gebrauch von Atomwaffen nicht per se eine Verletzung der Genozidkonvention darstellt, mit der spezifischen Natur der Absicht im Sinne von Art. II Genozidkonvention. Trotz der unbeschreiblichen Zerstörung, die mit dem Abwurf einer Atombombe beabsichtigt wird, war die Mehrheit der Richter der Meinung, dass die Charakterisierung ihres Gebrauchs als Genozid vom Vorliegen der Absicht, eine der geschützten Gruppen zu zerstören, abhängig sei. Diese Absicht 67
Report of the Preparatory Commission for the International Criminal Court, Finalized Draft Text of the Elements of Crimes, UN Doc. PCNICC/ 2000/1/Add.2, Article 6, 3. gleich lautendes Element. 68
Ebenda, Article 6, 3. Spiegelstrich der Einleitung.
69
Vgl. dazu Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind, Report of the International Law Commission on the Work of its fortyeighth session, 6 May – 26 July 1996, UN Doc. A/51/10, Art. 17, para. 5. 70
ICJ, Case Concerning the Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, Urt. v. 26. Februar 2007, para. 187 ff.
4. Teil
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kann, so die Entscheidung, von der generellen Absicht, Atomwaffen zu gebrauchen, unterschieden werden.71 Im Übrigen hat auch die Untersuchungskommission der Vereinten Nationen zur Situation in Darfur die Auslegung der Absicht als Absicht im engeren Sinn bestätigt. Die Absicht impliziere, dass der Täter erstrebt haben müsse, die Gruppe als solche zu zerstören. Dabei fordert die Kommission zweierlei: einerseits, dass der Täter die Zerstörung der Gruppe erstrebt haben muss, und andererseits, dass er gewusst haben muss, dass seine Taten die Gruppe ganz oder teilweise zerstören würden.72 Die Rechtsprechung der deutschen Gerichte stimmt im Ergebnis ebenfalls mit der Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale darin überein, dass der Täter für die Begehung von Genozid mit dolus directus 1. Grades gehandelt haben muss.73 Gleiches gilt für die US-amerikanische Gesetzgebung, in der die Absicht abweichend vom Wortlaut der Genozidkonvention explizit als specific intent normiert wird.74 Nach israelischem Recht reicht es hingegen aus, wenn der Täter mit sicherem Wissen handelte.75 Das Gleiche gilt für die Botschaft des Schweizer Bundesrates anlässlich des Beitritts zur Genozidkonvention.76
71
ICJ, Legality of the Threat or use of Nuclear Weapons, Gutachten v. 8. Juli 1996, ICJ Reports 1996, 226 (240), abweichend Judge Weeramantry, ebenda, S. 429 (517), der die berechtigte Frage aufwirft: „If the killing of human beings in numbers ranging from a million to a billion, does not fall within the definition of genocide, one may ask what will.“; ebenfalls abweichend Judge Koroma, ebenda, S. 556 (576 f.). Kritisch zu diesem Urteil Gowlland-Debbas, The Right to Life and Genocide: The Court and an International Public Policy, in: Boisson de Chazournes/Sands (Hrsg.), International Law, the International Court of Justice and Nuclear Weapons, 1999, S. 315 ff. 72
Report of the International Commission of Inquiry on Darfur, UN Doc. S/2005/60, para. 491, wobei die Kommission die Absicht im Hinblick auf die sudanesiche Regierung als nicht gegeben ansah, ebenda, para. 513 ff. 73
BGH, Urt. v. 30. April 1999 – 3 StR 215/98, BGHSt 45, 64 (81) = NStZ 1999, 396 (401); BGH, Urt. v. 21. Februar 2001 – 3 StR 372/00, NJW 2001, 2728; BGH, Beschl. v. 21. Februar 2001 – 3 StR 244/00, NJW 2001, 2732 (2733). 74
18 U.S.C. § 1091 (a), abgedruckt in: Paust u.a. (Hrsg.), International Criminal Law: Cases and Materials, 2007, S. 798. 75
So Kremnitzer/Cohen, Israel, in: Eser/Sieber/Kreicker (Hrsg.), Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen, Band 5, 2005, S. 317 (329). 76
BBl. 1999, S. 5327 ff.
Subjektive Tatseite von Art. II Genozidkonvention
253
Die Entstehungsgeschichte der Genozidkonvention beantwortet die Frage, welchen Vorsatzgrad die Absicht im Sinne des Genozidstatbestandes verlangt, nicht eindeutig. Sie spricht eher dafür, die Absicht mit der Rechtsprechung als Absicht im engeren Sinne zu verstehen und gegen die Einbeziehung des sicheren Wissens oder gar des Eventualvorsatzes. In Resolution 96 (I) der Vereinten Nationen ist für die subjektive Tatseite noch kein besonderes Erfordernis normiert, sondern der Genozid wird objektiv als Zerstörung menschlicher Gruppen beschrieben.77 In Art. I des Entwurfes des UN-Generalsekretärs war statuiert, dass der Genozid mit dem Ziel begangen werden muss, die Opfergruppe ganz oder teilweise zu zerstören oder ihre Erhaltung beziehungsweise Entwicklung zu verhindern. Das Merkmal der Absicht fand sich ausdrücklich nur in der Präambel.78 In seinem Kommentar zu dem Entwurf betonte das Sekretariat, dass der Genozid die „deliberate“ Zerstörung einer menschlichen Gruppe sei und dass diese strikte Definition beibehalten werden müsse, da ansonsten die Gefahr bestünde, dass die Idee des Genozids unbestimmt ausgeweitet würde.79 Im Konventionsentwurf des ad hoc-Ausschusses wurden wiederum keine Ausführungen zur Frage der einzelnen Voraussetzungen der Absicht gemacht. Normiert wurde, dass die Tathandlungen mit der Absicht begangen werden müssten, eine nationale, rassische, religiöse oder politische Gruppe zu zerstören, auf Grund des nationalen oder rassischen Ursprungs, des religiösen Glaubens oder der politischen Überzeugung ihrer Mitglieder.80 Im Sechsten Ausschuss wurde Art. II Genozidkonvention dann ohne weitere Untersuchung der Voraussetzungen der Absicht so formuliert, wie er in die gültige Fassung der Genozidkonvention übernommen wurde. Lemkin hatte seinerseits den Genozidtatbestand als koordinierten Plan verschiedener Taten bezeichnet, der auf die Zerstörung der wesentlichen Lebensgrundlagen einer nationalen Gruppe gerichtet ist, mit dem Ziel, die Gruppe selbst zu vernichten.81 In seinem Kommentar zu den Entwurfsarbeiten der Genozidkonvention bemerkte Lemkin, dass die wesentliche Aufgabe darin bestehen würde, eine neue Strafvorschrift zu
77
S.o. 1. Teil, I. 6.
78
Draft Convention on the Crime of Genocide prepared by the SecretaryGeneral, UN Doc. E/447, S. 5. 79
Ebenda, S. 16.
80
Report of the ad hoc Committee on Genocide, UN Doc. E/794, S. 5.
81
Lemkin, Axis Rule in Occupied Europe, 1944, S. 79.
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4. Teil
formulieren, deren Grundlage die spezifische Absicht bildet, ganze Gruppen von Menschen zu zerstören.82 In der Literatur findet erst in jüngerer Zeit eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Merkmal intent statt. Seit dem Erlass der Konvention gab es zwar immer wieder vereinzelte Stellungnahmen hierzu, die sich jedoch erst seit der Arbeit der beiden Tribunale intensiviert haben. In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale ist im Schrifttum die Überzeugung vorherrschend, dass der Täter mit specific intent beziehungsweise zielgerichtet gehandelt haben muss.83 In zunehmendem Maße wird aber auch vertreten, dass es ausreicht, wenn der Täter mit dem sicheren Wissen gehandelt hat, dass die Gruppe zerstört wird.84 Einige Autoren plädieren sogar für den Einschluss des do82
Lemkin, Genocide as a Crime under International Law, AJIL 41 (1947), S. 145 (150 f.); angesichts dessen nicht überzeugend Greenawalt, Rethinking Genocidal Intent: The Case for a Knowledge-Based Interpretation, Columbia Law Review 99 (1999), S. 2259 (2270 ff.). 83
Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 217 ff.; ders., The Jelisić Case and the Mens Rea of the Crime of Genocide, LJIL 14 (2001), S. 125 ff.; Cassese, International Criminal Law, 2003, S. 103 f.; Nsereko, Genocide: A Crime against Mankind, in: MacDonald/Swaak-Goldman (Hrsg.), Substantive and Procedural Aspects of International Criminal Law, Vol. I, 2000, S. 117 (124); Akhavan, The Crime of Genocide in the ICTR Jurisprudence, JICJ 3 (2005), S. 989 (992); van Sliedregt, Joint Criminal Enterprise as a Pathway to Convicting Individuals for Genocide, JICJ 5 (2007), S. 184 (191 ff.); van der Vyver, The International Criminal Court and the Concept of Mens Rea in International Criminal Law, University of Miami International and Comparative Law Review 12 (2004), S. 57 (84 ff.); Nersessian, The Contours of Genocidal Intent, Texas International Law Journal 37 (2002), S. 231 (265); LK-Jähnke, § 220 a, Rn. 13; Hübner, Das Verbrechen des Völkermordes im nationalen und internationalen Recht, 2004, S. 152 ff.; schon früher Shaw, Genocide and International Law, in: Dinstein (Hrsg.), International Law at a Time of Perplexity, 1989, S. 797 (805); Robinson, The Genocide Convention, 1960, S. 58; Jescheck, Die Internationale Genocidium-Konvention vom 9. Dezember 1948 und die Lehre vom Völkerstrafrecht, ZStW 66 (1954), S. 193 (212 f.). 84
Vergleiche vor allem Greenawalt, Rethinking Genocidal Intent: The Case for a Knowledge-Based Interpretation, Columbia Law Review 99 (1999), S. 2259 ff.; Vest, Genozid durch organisatorische Machtapparate, 2002, S. 101 ff.; ders., Humanitätsverbrechen – Herausforderung für das Individualstrafrecht?, ZStW 113 (2001), S. 457 (480 ff.); Bassiouni/Manikas, The Law of the International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, 1996, S. 527; Zakr, Analyse spécifique du crime de génocide dans le Tribunal pénal international pour le Rwanda, Révue de science criminelle et de droit pénale comparé 2001,
Subjektive Tatseite von Art. II Genozidkonvention
255
lus eventualis.85 Schließlich wird vorgeschlagen, dergestalt zwischen Ausführenden und Hintermännern zu unterscheiden, dass für die Hintermänner zielgerichtetes Handeln zu fordern sei, während für die Ausführenden sicheres Wissen ausreichen solle.86 Die Beschränkung der Absicht im Sinne des Genozidtatbestandes auf zielgerichtetes Handeln ist aus heutiger Sicht nicht mehr überzeugend. Vielmehr muss die im Tatbestand geforderte Absicht auch dem Täter zugeschrieben werden, der einen Beitrag zu einem kollektiven Angriff auf die geschützte Gruppe in dem Wissen leistet, dass das Ziel oder das offensichtliche Ergebnis der Tat die ganze oder teilweise Zerstörung der Gruppe ist.87 Hingewiesen sei noch einmal darauf, dass auch die Anklagebehörde der UN ad hoc-Tribunale hierfür plädiert.88 S. 263 (267); schon früh Campbell, § 220 a StGB: Der richtige Weg zur Verhütung und Bestrafung von Genozid?, 1986, S. 121 ff. 85
Gil Gil, Derecho Penal Internacional, 1999, S. 258 ff.; dies., Die Tatbestände der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und des Völkermordes im Römischen Statut des Internationalen Gerichtshofs, ZStW 112 (2000), S. 381 (395); zustimmend Kreß, The Darfur Report and Genocidal Intent, JICJ 3 (2005), S. 562 (577), der es nunmehr für entscheidend hält, ob der Täter die Zerstörung der Gruppe als realistisch vorhergesehen hat; ders., The Crime of Genocide under International Law, International Criminal Law Review 6 (2006), S. 461 (497 f.). Gil Gil und Kreß fordern zusätzlich, dass der Täter in dem Wissen einen Beitrag zu einer Kampagne leistete, dass das Ziel der Kampagne die Zerstörung der Gruppe ist. S. außerdem Triffterer, Genocide, Its Particular Intent to Destroy in Whole or in Part the Group as Such, LJIL 14 (2001), S. 399 ff.; ders. Kriminalpolitische und dogmatische Überlegungen zum Entwurf gleichlautender „Elements of Crimes“ für alle Tatbestände des Völkermordes, in: Schünemann u.a. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin, 2001, S. 1415 (1440 f.); a.A. früher, Die Bestrafung von Vertreibungen, in: Blumenwitz (Hrsg.), Flucht und Vertreibung, 1987, S. 259 (283). 86
Van der Wilt, Genocide, Complicity in Genocide and International v. Domestic Jurisdiction, JICJ 4 (2006), S. 239 (243 f.), dem Unterschied in der Verantwortlichkeit sei über das Strafmaß Rechnung zu tragen; zur Diskussion einer solchen differenzierenden Betrachtung s.u. 4. Teil, II. 3. a). 87
Insbesondere Greenawalt, Rethinking Genocidal Intent: The Case for a Knowledge-Based Interpretation, Columbia Law Review 99 (1999), S. 2259 (2288); Vest, Genozid durch organisatorische Machtapparate, 2002, S. 101 ff.; ders., Humanitätsverbrechen – Herausforderung für das Individualstrafrecht?, ZStW 113 (2001), S. 457 (480 ff.); Bassiouni/Manikas, The Law of the International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, 1996, S. 527; Hankel, Was heißt eigentlich Völkermord?, Mittelweg 36 (2005) 4, S. 70 (76); Zakr, Analyse spécifique du crime de génocide dans le Tribunal pénal international pour le
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Im Hinblick auf die Genese des Absichtsmerkmals, die eher dafür spricht, intent als Absicht im engeren Sinne zu verstehen, ist ebenso wie bei der Genese des Gruppenbegriffs zu beachten, dass die Konvention als Reaktion auf den Holocaust entstanden ist. Die Nationalsozialisten machten aus ihrem Ziel, die Juden zu vernichten, jedoch keinen Hehl. Ihre Absicht wurde deutlich durch ihre Taten, die umfangreiche Dokumentation der Endlösung sowie die Verbreitung antisemitischer Propaganda, die die Nationalsozialisten bewusst zur Beeinflussung der Massen einsetzten. Zu denken ist beispielsweise an Hitlers Buch „Mein Kampf“, das zur heiligen Schrift der nationalsozialistischen Bewegung wurde und in dem Hitler beständig und ohne Zögern seinen Hass auf die Juden wiederholte.89 Eine ebenso zentrale Rolle spielte Reichspropagandaminister Josef Göbbels, der in Übereinstimmung mit dem nationalsozialistischen Gedankengut Presse, Literatur, Kunst und Wissenschaft überwachte.90 Als weitere Beispiele sollen schließlich die Nürnberger Gesetze von 1935 und die Reichskristallnacht genannt werden. Es lagen mithin ausreichende Beweismittel vor, um den Nationalsozialisten nachzuweisen, dass sie das Ziel verfolgten, die Juden zu vernichten. In Anbetracht des historischen Entstehungskontextes waren Nachweisprobleme den Autoren bei der Erarbeitung der Konvention nicht bewusst.91 Indiz für das fehlende Problembewusstsein ist nicht zuletzt, dass über den Grad des für die Begehung von Genozid erforderlichen Vorsatzes wenig debattiert wurde. Kuper stellte zutreffend fest, dass andere Regierungen fast nie ihre genozidalen Pläne so proklamieren und dokumentieren wie die Nationalsozialisten es getan haben.92 Die Problematik des Nachweises der subRwanda, Révue de science criminelle et de droit pénale comparé 2001, S. 263 (267); MK-StGB-Kreß, § 220 a/§ 6 VStGB, Rn. 86; ders., The Darfur Report and Genocidal Intent, JICJ 3 (2005), S. 562 (566); Campbell, § 220 a StGB: Der richtige Weg zur Verhütung und Bestrafung von Genozid?, 1986, S. 121 ff. 88
S.o. 4. Teil, II. 1. a).
89
Chalk/Jonassohn, The History and Sociology of Genocide, 1990, S. 332 f.
90
Ebenda, S. 342.
91
Vgl. Uertz-Retzlaff, Über die praktische Arbeit des Jugoslawien-Strafgerichtshofes, in: Fischer/Lüder (Hrsg.), Völkerrechtliche Verbrechen vor dem Jugoslawien-Tribunal, nationalen Gerichten und dem Internationalen Strafgerichtshof, 1999, S. 87 (93 f.). 92
Kuper, Genocide, 1981, S. 35; ebenso Bassiouni, Commentaries on the International Law Commission’s 1991 Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind, Nouvelles Études Pénales 11 (1993), S. 1 (234).
Subjektive Tatseite von Art. II Genozidkonvention
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jektiven Tatseite wurde teilweise bereits während der Vorarbeiten zur Genozidkonvention erkannt. Der Vertreter der Sowjetunion trat im Sechsten Ausschuss dafür ein, die Wendung „committed with intent to destroy“ durch die Wendung „aimed at the physical destruction“ zu ersetzen. Diese Änderung sei erforderlich, da die Täter ansonsten geltend machen könnten, dass sie nicht mit der entsprechenden Absicht gehandelt hätten und deshalb nicht schuldig wegen Genozids seien.93 Die Befürchtung hat sich bestätigt, denn die für Genozid verantwortlichen Machthaber nach dem Zweiten Weltkrieg beriefen sich immer wieder auf das Fehlen der Absicht. Wie die Vergangenheit belegt, ist es den Tätern viel zu oft gelungen, durch das Berufen auf andere (vermeintliche) Handlungsziele einer Bestrafung wegen Genozids zu entgehen. Neben der im vorherigen Abschnitt diskutierten Problematik des Gruppenbegriffs liegt hierin ein maßgeblicher Grund dafür, dass das 20. Jahrhundert zwar als Jahrhundert der Genozide tituliert wird, es bislang aber nur sehr wenige Verurteilungen wegen Genozids gibt. Ein Beispiel für die Problematik des Nachweises der subjektiven Tatseite sind die Angriffe gegen das Volk der Aché-Indianer im nördlichen Paraguay, im Zuge derer in den Jahren 1962 bis 1972 etwa 50 Prozent dieses Volkes als Teil der Bemühungen, das Gebiet der Aché für wirtschaftliche Entwicklungen zu besetzen, ausgerottet wurden.94 Sie wurden in organisierten Menschenjagden getötet, zu Sklavenarbeit oder Prostitution gezwungen und die Überlebenden unter schlechtesten Bedingungen zwangsweise in Reservate umgesiedelt.95 Zu dem Vorwurf des Genozids äußerte der paraguayische Verteidigungsminister, dass es zwar Täter und Opfer gebe, mangels der entsprechenden Absicht jedoch das dritte für den Genozid erforderliche Element fehlen würde und deshalb nicht von Genozid gesprochen werden könne. Das Ziel der Kampagne sei es gewesen, die wirtschaftliche Entwicklung zu fördern und nicht die Aché als Gruppe zu zerstören.96 Im Konflikt um das ehemalige Jugoslawien fehlen ebenfalls die entsprechenden Dokumente zum Nachweis des intent, was die diesbezügliche 93
rd
th
rd
UN GAOR, 3 session, 6 Committee, 73 meeting, S. 95 f., Mr. Moro-
zov. 94
Münzel, Manhunt, in: Arens (Hrsg.), Genocide in Paraguay, 1976, S. 19 (37 ff.). 95
Arens, A Lawyer’s Summation, in: ders. (Hrsg.), Genocide in Paraguay, 1976, S. 132 (133 f.). 96
Ebenda, S. 141.
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4. Teil
Beweisführung teilweise unmöglich macht. Das Verfahren gegen Jelesic belegt die Nachweisproblematik deutlich. Tatsache ist, dass Jelesic nicht vom Vorwurf des Genozids freigesprochen worden wäre, wenn die Kammer dolus directus 2. Grades für die Absicht im Sinne des Genozidtatbestandes hätte ausreichen lassen. Schließlich bestand an seinem Wissen um die Zerstörung der bosnischen Muslime kein Zweifel. Es drängt sich daher die Frage auf, ob es sachlich gerechtfertigt ist, einen Täter vom Vorwurf des Genozids freizusprechen, der sicher um die Zerstörung der Opfergruppe wusste, weil ihm die entsprechende Absicht nicht nachgewiesen werden kann. Vest legt überzeugend dar, dass ein Hauptproblem der bisherigen Debatte um das Absichtsmerkmal darin besteht, dass die Literatur wie selbstverständlich von der herkömmlichen Dogmatik mit ihrem Modell des individuellen Täters ausgeht und eine Auseinandersetzung mit den juristischen Implikationen, die sich aus dem kollektiven Charakter des Genozids ergeben, unterlassen wird. Der Genozid sei der Prototyp eines (para)staatlichen Großverbrechens, das ohne eine Vielzahl von Helfershelfern und Mitläufern gar nicht durchführbar ist. Würde man die Absicht auf ein angebliches „eigentliches“ Handlungsziel verengen und die als unvermeidlich eingestuften Nebenfolgen ausschließen, so könnte in der Praxis sogar die engere Führungsgruppe mit beträchtlichen Erfolgsaussichten ein nicht genozidales Handlungsziel in Anspruch nehmen. Vest gelangt zu dem Schluss, dass angesichts des Systemaspekts die Kategorien der individuellen Vorsatzdogmatik nicht einfach auf den Genozid übertragen werden können. Zu unterschiedlich sei das Ausmaß an Macht, Übersicht und Wissen zwischen den führenden Köpfen, den Organisatoren und den Ausführenden. An der Festlegung der Ziele würden nur die Entscheidungsträger mitwirken. Da die praktische Umsetzung und Durchführung der Entscheidung innerhalb des von der Führungsclique gesteckten Rahmens erfolge, könne es auf die individuellen Ziele der einzelnen Akteure überhaupt nicht mehr ankommen. Hinzu käme, dass dem Einzelnen die Zerstörung der Gruppe normalerweise gar nicht gelingen könne und deshalb schon impliziert sei, dass er zur Gesamttat nur einen Beitrag leistet. Aufgrund dessen müsse es genügen, dass der Einzelne bewusst in diesem ihm bekannten kollektiven Muster der ganzen oder teilweisen Zerstörung einer geschützten Gruppe agiert.97 97
Vest, Genozid durch organisatorische Machtapparate, 2002, S. 104 f.; so auch Kreß, The Darfur Report and Genocidal Intent, JICJ 3 (2005), S. 562 (566 ff.); van der Wilt, Genocide, Complicity in Genocide and International v. Do-
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In diesem Sinne vertritt auch Hankel die Meinung, dass es ausreicht, wenn die Täter wissen was sie tun und die Folgen ihres Handelns billigend in Kauf nehmen. Die Absicht im engeren Sinn entspräche nicht der faktischen Vielschichtigkeit von Prozessen, die im Resultat zur teilweisen oder vollständigen Vernichtung einer Gruppe führen. Es gäbe zentralisierte, lange im Voraus betriebene Planungen, aber eben auch situativ bedingte Entschlüsse.98 Den Überlegungen, dass bei der Festlegung der für den intent erforderlichen inneren Geisteshaltung dem besonderen Charakter des Genozids Rechnung getragen werden muss, ist zuzustimmen. Diese Sichtweise hält auch einer Überprüfung nach Wertungsgesichtspunkten stand. Wenn die Absicht des Täters sich gerade auf die Beeinträchtigung des vom Tatbestand geschützten Rechtsguts bezieht, kann es wertungsmäßig keinen wesentlichen Unterschied machen, ob der Täter hinsichtlich der Rechtsgutsverletzung mit Absicht im engeren Sinn oder mit sicherem Wissen handelte.99 Soweit die Opfer auf der Grundlage ihrer Gruppenmitgliedschaft ausgewählt werden, erscheint die Bedingung, dass die weiterreichende Gruppenzerstörung erstrebt und nicht lediglich vorhergesehen wurde, übertrieben strikt. Entscheidendes Kriterium muss sein, dass das kollektive Überleben der betroffenen Gruppe jedenfalls gefährdet ist.100 Die Verantwortlichkeit der Täter darf aus dem Gesichtspunkt des Opferschutzes nicht von den Eventualitäten ideologischer, politischer oder besonderer persönlicher Motivationen abhängig gemacht werden. Denn ein subtiler Plan aufgrund eines guten Gespürs für Sachzusammenhänge kann viel gefährlicher sein als ein im intellektuellen Bereich zwar wenig fundierter, aber im emotionalen, voluntativen Bereich besonders stark ausgeprägter Vorsatz in der Form der Ab-
mestic Jurisdiction, JICJ 4 (2006), S. 239 (243 f.). Kreß ist dabei der Ansicht, dass die Richter des ICC den Genozidtatbestand mit „frischem Blick“ intepretieren und die Bedeutung des Absichtsmerkmals nicht als durch die Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale feststehend betrachten sollten, ebenda, S. 578; kritisiert von van Sliedregt, Joint Criminal Enterprise as a Pathway to Convicting Individuals for Genocide, JICJ 5 (2007), S. 184 (192 f.) 98
Hankel, Was heißt eigentlich Völkermord?, Mittelweg 36 (2005) 4, S. 70
(76). 99 100
MK-StGB-Kreß, § 220 a/§ 6 VStGB, Rn. 85.
Vgl. Greenawalt, Rethinking Genocidal Intent: The Case for a Knowledge-Based Interpretation, Columbia Law Review 99 (1999), S. 2259 (2287 f.).
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sicht.101 Der Täter muss allerdings in der Vorstellung handeln, dass es realistischerweise tatsächlich zur Zerstörung der Gruppe kommt, da andernfalls aus seiner Sicht kein wirklicher Angriff auf das Rechtsgut vorliegt.102 Ist diese Voraussetzung gegeben, muss direkter Vorsatz jeglichen Grades ausreichen. Die Gegner der Einbeziehung des direkten Vorsatzes werden einwenden, dass gerade die spezielle Geisteshaltung des den Taterfolg anstrebenden Täters sein Verhalten besonders strafwürdig macht. Diese Argumentation überzeugt so pauschal nicht, da die Gleichgültigkeit gegenüber dem geschützten Rechtsgut beim zielgerichtet handelnden Täter keineswegs immer größer sein muss als bei dem Täter, der die Rechtsgutverletzung mit sicherem Wissen in Kauf nimmt. Die Entscheidung gegen das Rechtsgut ist gleichermaßen evident, wenn der Täter sich auch durch das sichere Wissen um dessen Verletzung nicht von seinem Handeln abbringen lässt.103 Im Endeffekt ist es wahrscheinlich sogar die Gleichgültigkeit und der Glaube an das eigene gute Gewissen, der gebildete und kompetente Leute zu Tätern eines Genozids werden lässt.104 In diesem Sinne klang schon in dem Bericht von Arendt zum Eichmann-Prozess an, dass das Böse am gründlichsten von den Leuten verübt werde, die nicht von brodelndem Hass oder eigener Leidenschaft getrieben werden; die sich selbst als Menschen mit gutem Gewissen betrachten, welche in schwierigen Situationen unbequeme Entscheidungen treffen müssen; die ihre Taten als legitimes nationales Interesse rechtfertigen oder sie als alltäglich bewerten.105 Deshalb darf keine Aufrichtigkeit oder Neutralität die Täter vor einer Bestrafung bewah-
101
Triffterer, Kriminalpolitische und dogmatische Überlegungen zum Entwurf gleichlautender „Elements of Crimes“ für alle Tatbestände des Völkermordes, in: Schünemann u.a. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin, 2001, S. 1415 (1441). 102
Vgl. Gehrig, Der Absichtsbegriff in den Straftatbeständen des Besonderen Teils des StGB, 1986, S. 89. 103
Ebenda, S. 84 ff.
104
Vgl. Gordon, When Intent Makes all the Difference in the World: Economic Sanctions on Iraq and the Accusation of Genocide, Yale Human Rights and Development Law Journal 5 (2002), S. 57 (81). 105
Arendt, Eichmann in Jerusalem, 1964, S. 15 ff.
Subjektive Tatseite von Art. II Genozidkonvention
261
ren, denn sonst würden genau die Eigenschaften, die das Verbrechen in weiten Teilen erst möglich machen, die Schuld der Täter ausschließen.106 Diese Argumentation gilt für den Einzeltäter ebenso wie für den in kollektivem Aktionszusammenhang agierenden Täter. Schließlich trifft auch der Einzeltäter gleichermaßen eine Entscheidung gegen das Rechtsgut. Angemerkt sei, dass die Möglichkeit des Einzeltäters grundsätzlich anzuerkennen ist.107 Im Jelesic-Urteil hieß es dazu, es sei a priori möglich, sich vorzustellen, dass der Täter eine gesamte Gruppe auslöschen wollte, ohne dass diese Absicht durch eine Organisation beziehungsweise andere Personen unterstützt worden wäre. Voraussetzung ist freilich, dass die Verbrechen des Täters für die Erfüllung des materiellen Elements der Tat ausreichend sind.108 Der Schutzzweck des Genozidtatbestandes erfordert die Einbeziehung der isolierten Einzeltat.109 Grundsätzlich ist die Kollektivtat beim Genozid zwar die Regel, die Einzeltat ist jedoch ebenfalls denkbar und sollte nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Ein Szenario wäre, dass der Täter sein Verhalten als „Initialzündung“ versteht und erwartet, dass im weiteren Verlauf 106
So auch Gordon, When Intent Makes all the Difference in the World: Economic Sanctions on Iraq and the Accusation of Genocide, Yale Human Rights and Development Law Journal 5 (2002), S. 57 (81). 107
Triffterer, Kriminalpolitische und dogmatische Überlegungen zum Entwurf gleichlautender „Elements of Crimes“ für alle Tatbestände des Völkermordes, in: Schünemann u.a. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin, 2001, S. 1415 (1434); ebenso bereits Jescheck, Die Internationale Genocidium-Konvention vom 9. Dezember 1948 und die Lehre vom Völkerstrafrecht, ZStW 66 (1954), S. 193 (212 f.); MK-StGB-Kreß, § 220 a/§ 6 VStGB, Rn. 14, 78; ders., The Crime of Genocide under International Law, International Criminal Law Review 6 (2006), S. 461 (470); a.A. Scharf/Lombardt, Prosecutor v. Jelesic, Commentary, in: Klip/Sluiter (Hrsg.), Annotated Leading Cases of International Criminal Tribunals, Vol. IV, 2002, S. 698 (700 f.); Schabas, The Jelisić Case and the Mens Rea of the Crime of Genocide, LJIL 14 (2001), S. 125 (138); ders., Darfur and the “Odios Scourge”, LJIL 18 (2005), S. 871 (877), wo er die Möglichkeit des Einzeltäters als hypothèse d’école bezeichnet. 108
ICTY, Prosecutor v. Jelesic, Case No. IT-95-10-T, Urt. v. 14. Dezember 1999, para. 100 f.; im Fall ICTY, Prosecutor v. Stakic, IT-97-24-T, Urt. v. 31. Juli 2003, para. 502, wurde im Gegensatz dazu vertreten, dass die Anwendung des Genozidtatbestandes auf groß angelegte staatlich geförderte Kampagnen, welche das Ziel haben, Minderheiten zu zerstören, beschränkt sein sollte. 109
So auch Jescheck, Die Internationale Genocidium-Konvention vom 9. Dezember 1948 und die Lehre vom Völkerstrafrecht, ZStW 66 (1954), S. 193 (212 f.).
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der Entwicklung durch weitere Handlungen von ihm selbst oder von Dritten die Gruppe oder einer ihrer Teile zerstört wird.110 Für die Anerkennung des Einzeltäters spricht auch die Stellungnahme der Völkerrechtskommission, die ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass der Genozidtatbestand auf jedes Individuum anwendbar sei, welches eine der verbotenen Taten mit der entsprechenden Absicht begangen habe.111 Schließlich ist in Art. IV Genozidkonvention normiert, dass Genozid durch regierende Personen, öffentliche Beamte oder private Einzelpersonen verübt werden kann. Die Auffassung, dass es ausreicht, wenn der Täter hinsichtlich der Zerstörung der Gruppe mit Eventualvorsatz gehandelt hat, ist indessen abzulehnen. Als Begründung für die Einbeziehung des Eventualvorsatzes wird angeführt, dass es aufgrund der komplexen Struktur des Genozids unrealistisch sei, dass die Zerstörung der Gruppe vom Täter sicher vorhergesehen werde. Diese Einschätzung teilt die Autorin indessen nicht. Handelt der Täter im Rahmen eines kollektiven Gesamtgeschehens, das auf die Zerstörung einer Gruppe gerichtet ist, dann sind ihm normalerweise auch die Folgen der Kollektivtat bewusst. Sowohl im Falle der Judenvernichtung, als auch im Falle der Tutsi in Ruanda oder den Verfolgungen unter Pol Pot, hat zumindest ein großer Teil der Täter gewusst, dass die Kampagne auf die Zerstörung einer bestimmten Gruppe gerichtet war. Diese Täter hätte man dann auch wegen Genozid bestrafen können. Darüber hinaus gab es natürlich Befehlsempfänger und Bevölkerungsgruppen, die weiter weg vom Gesamtgeschehen waren und dessen Dimensionen allenfalls ahnten. Täter, die lediglich die Möglichkeit eines Genozids vorhersehen und billigend in Kauf nehmen, kommen für eine Bestrafung wegen Genozid jedoch nicht in Betracht. Denn dann würde die Schwelle für die Anwendung des Tatbestandes zu niedrig angesetzt. Zusammengefasst kann der herrschenden Meinung in der Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale nicht darin gefolgt werden, dass die Absicht im Sinne des Genozidtatbestandes gleichbedeutend mit dolus specialis ist. Vielmehr muss für die im Genozidtatbestand geforderte Absicht dolus directus 2. Grades ausreichen, sowohl für den im kollektiven Aktionszusammenhang agierenden Täter als auch für den Einzel110 111
Triffterer öStGB/Triffterer, § 321, Rn. 83.
Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind, Report of the International Law Commission on the Work of its forty-eighth session, 6 May – 26 July 1996, UN Doc. A/51/10, Art. 17, para. 10, Hervorhebung durch die Verf.
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263
täter. Die Position des Beschuldigten ist immer noch ausgesprochen stark, da Eventualvorsatz oder Fahrlässigkeit nicht genügen.112
2. Reformbedarf des Absichtsmerkmals Der Reformbedarf des Absichtsmerkmals ist die Konsequenz aus der im vorhergehenden Abschnitt geführten Diskussion. Gerade weil die Begriffe des intent und der Absicht interpretationsoffen sind, können die benannten Probleme nicht allein im Wege der Auslegung gelöst werden. Erforderlich ist eine Reform des Wortlauts, die klarstellt, dass sicheres Wissen für die Erfüllung der Zerstörungsabsicht im Sinne des Genozidtatbestandes ausreicht. Zunächst einmal kann nur so ein international einheitlicher Standard bei der Rechtsanwendung gewährleistet werden. Darüber hinaus lässt sich nur so vermeiden, dass die Täter ihrer gerechten Strafe – durch das Berufen auf andere vermeintliche Handlungsziele – allzu leicht entgehen können. Schließlich können nur so Genozide zukünftig effektiv verhindert werden, bevor es unzählige beklagenswerte Opfer gibt. Die ausdrückliche Einbeziehung des direkten Vorsatzes ist außerdem aus Gründen der Rechtssicherheit erforderlich. Dies belegt die Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale. Zwar wurde seitens der Rechtsprechung bislang nahezu einheitlich dolus specialis im Sinne zielgerichteten Handelns gefordert, gleichzeitig wird jedoch ihre Erkenntnis deutlich, dass dieser Standard oftmals nicht haltbar ist, wenn man zu den angestrebten Verurteilungen gelangen möchte. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist das Urteil im Fall Akayesu. Es verdeutlicht in besonderem Maße die Gefahr, dass die Gerichte durch Probleme in der Beweisführung dazu gezwungen oder verleitet werden können, unklare Tatumstände unter das Merkmal der Absicht zu pressen, um zu den erstrebten Verurteilungen zu gelangen.113 Im Einzelnen stellte die Kammer im Fall Akayesu Folgendes fest: „[…] intent is a mental factor which is difficult, even impossible, to determine. This is the reason why, in absence of a confession from the accused, his intent can be inferred from a certain number of pre112
Vest, Humanitätsverbrechen – Herausforderung für das Individualstrafrecht?, ZStW 113 (2001) S. 457 (485). 113
Greenawalt, Rethinking Genocidal Intent: The Case for a KnowledgeBased Interpretation, Columbia Law Review 99 (1999), S. 2259 (2281 f.).
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sumptions of fact. The chamber considers that it is possible to deduce the genocidal intent inherent in a particular act charged from the general context of the perpetration of other culpable acts systematically directed against that same group, whether these acts were committed by the same offender or by others. Other factors, such as the scale of atrocities committed, their general nature, in a region or country, or furthermore, the fact of deliberately and systematically targeting victims on account of their membership of a particular group, while excluding the members of other groups, can enable the Chamber to infer the genocidal intent of a particular act.“114 In der Folgrechtsprechung stützten sich etwa die Rechtsmittelentscheidungen in den Fällen Semanza und Gacumbitsi auf diese Argumentation.115 Das ICTY hat sich der Beweisführung des ICTR ebenfalls angeschlossen.116 Problematisch ist, dass die Kammer zu den Tatsachenvermutungen auch den generellen Kontext zählte, in dem andere schuldhafte Taten systematisch gegen dieselbe Gruppe begangen wurden, unabhängig davon, ob diese Taten durch denselben Täter oder durch andere verübt wurden.117 Der Indizienbeweis ist im Strafrecht freilich nichts Neues, um das Vorliegen der subjektiven Tatseite zu belegen. Das ICTR suggeriert jedoch, dass die spezielle Absicht allein aus dem Umstand hergeleitet
114
ICTR, Prosecutor v. Akayesu, Case No. ICTR-96-4-T, Urt. v. 2. September 1998, para. 523. 115
ICTR, Prosecutor v. Semanza, Case No. ICTR-97-20-A, Urt. v. 20. Mai 2005, para. 262; ICTR, Prosecutor v. Gacumbitsi, Case. No. ICTR-2001-64-A, Urt. v. 7. Juli 2006, para. 38 ff., dieses Urteil ist von besonderem Interesse, weil die Beweisführung ein Gegenstand des Rechtsmittelverfahrens war. 116
ICTY, Prosecutor v. Jelesic, Case No. IT-95-10-A, Urt. v. 5. Juli 2001, para. 47; ICTY, Prosecutor v. Blagojevic, Case No. IT-02-60-A, Urt. v. 9. Mai 2007, para. 123. 117
Vgl. dazu ICTR, Prosecutor v. Akayesu, Case No. ICTR-96-4-T, Urt. v. 2. September 1998, para. 728. Die Beweisführung an Hand des generellen Tatzusammenhangs wurde im Rechtsmittelverfahren im Fall Rutaganda angegriffen. Die Verteidigung drang mit ihrem Vorbringen allerdings nicht durch. Zum einen hielt die Rechtsmittelkammer die Beweisführung für zulässig, zum anderen hatte die Strafkammer nach ihrer Einschätzung sehr wohl auf die individuellen Taten Rutagandas und nicht nur auf den generellen Kontext der Taten abgestellt, vgl. dazu ICTR, Prosecutor v. Rutaganda, Case No. ICTR-96-3-A, Urt. v. 26. Mai 2003, para. 521 ff. (insbes. 526 ff.).
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265
werden kann, dass der Täter irgendwie an einer genozidalen Kampagne beteiligt war.118 Der Täter handelt jedoch mit direktem Vorsatz, wenn er seinen Tatbeitrag in Kenntnis eines kollektiven Angriffs leistet, ohne selbst den Taterfolg anzustreben. Die Kammer behielt somit den Standard des specific intent lediglich formal bei, musste ihn aufgrund ihres Ziels, Akayesu zu verurteilen, bei der Beweisführung jedoch aufgeben. Das Ergebnis ist eine Urteilsbegründung, angesichts derer sich das Gericht die kritische Frage gefallen lassen muss, ob der Maßstab der speziellen Absicht für den Genozidtatbestand überhaupt sinnvoll ist.119 Positiv ist zu vermerken, dass das ICTY im Krstic-Urteil zumindest bezüglich des Einzeltäters dolus directus 2. Grades als ausreichend ansah. Insgesamt betrachtet war dieses Urteil allerdings nur ein Schritt in die richtige Richtung. Schließlich wurde in der Folgerechtsprechung wieder uneingeschränkt gefordert, dass der Täter mit Absicht im Sinne zielgerichteten Erfolgswillens handelte. Umso fraglicher ist die Wirkung auf die Rechtsprechung der nationalen Gerichte in den unterschiedlichen Mitgliedstaaten. Das Ziel der Reform des Absichtsmerkmals besteht darin, dauerhaft zu gewährleisten, dass sicheres Wissen international einheitlich für die Erfüllung der Absicht im Sinne des Genozidtatbestandes als ausreichend angesehen wird. Zugunsten der Rechtssicherheit muss verhindert werden, dass die Urteile der Gerichte allzu unterschiedlich ausfallen können. Es kann nicht sein, dass die Täter teilweise schon bei Vorliegen sicheren Wissens verurteilt werden und teilweise nur bei zielgerichtetem Handeln. Zudem kann durch die Einbeziehung des direkten Vorsatzes von vornherein vermieden werden, dass die Rechtsprechung sich zweifelhafter Begründungen bedient, um die Absicht im engeren Sinn zu belegen.
3. Anknüpfungspunkte für Reformen Fraglich ist nunmehr, wie die Reform des Absichtsmerkmals im Sinne von Art. II Genozidkonvention konkret ausgestaltet werden kann. Bislang gibt es nicht viele Autoren, die sich mit dieser Frage beschäftigen. Der Fokus der meisten Untersuchungen des Absichtsmerkmals liegt auf 118
Greenawalt, Rethinking Genocidal Intent: The Case for a KnowledgeBased Interpretation, Columbia Law Review 99 (1999), S. 2259 (2281 f.). 119
Ebenda, S. 2281 f.
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266
einer progressiven Auslegung der bisherigen Formulierung, nur wenige erörtern Reformvorschläge. In Betracht kommen die Aufnahme einer Legaldefinition sowie die Normierung eines Tatplans. Die entscheidenden Aspekte sollen im Folgenden diskutiert werden.
a) Aufnahme einer Legaldefinition Wie dargelegt gilt es eine Formulierung zu finden, die dauerhaft sicherstellt, dass beide Formen des direkten Vorsatzes als für die Zerstörungsabsicht im Sinne von Art. II Genozidkonvention ausreichend angesehen werden. Die Lösung des Problems liegt in der Aufnahme einer Legaldefinition in den Genozidtatbestand. Kein Geringerer als Bassiouni hat in der Erkenntnis, dass der Standard des specific intent für den Genozidtatbestand zu hoch angesetzt ist, bereits 1993 die Ergänzung desselben durch folgende Bestimmung vorgeschlagen: „Intent to commit Genocide, as defined above, can be proven by objective legal standards with respect to decision makers and commanders. With respect to executants, knowledge of the nature of the act based on an objective reasonable standard shall constitute intent.“120 Der Vorschlag der Aufnahme einer Begriffsbestimmung für die subjektive Tatseite ist grundsätzlich sehr zu begrüßen. Allerdings ist der Entwurf von Bassiouni dahin gehend zu kritisieren, dass er für die Anforderungen an den intent zwischen Ausführenden und Hintermännern differenziert.121 Es ist unzureichend, die Anforderungen an die subjektive Tatseite nur für die Ausführenden herabzusetzen. Auch für die Haupt- und Organisationstäter muss die Kenntnis des genozidalen Charakters des Gesamtgeschehens ausreichen, um die Zerstörungsab120
Bassiouni, Commentaries on the International Law Commission’s 1991 Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind, Nouvelles Études Pénales 11 (1993), S. 1 (233 ff.); der Vorschlag wurde während der Vorarbeiten zum ICC-Statut wieder aufgegriffen, setzte sich jedoch nicht durch, Report of the Ad hoc Committee on the Establishment of an International Criminal Court, UN Doc. A/50/22, 1995, para. 62; so auch Lippman, The Crime of the Century. The Jurisprudence of Death at the Dawn of the New Millenium, Houston JIL 23 (2001), S. 467 (485); kritisch Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 225. 121
So auch Vest, Genozid durch organisatorische Machtapparate, 2002, S. 108 f.; ders., Humanitätsverbrechen – Herausforderung für das Individualstrafrecht?, ZStW 113 (2001), S. 485 f.
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267
sicht bejahen zu können. Der Vorschlag von Bassiouni birgt die Gefahr sehr ungerechter Ergebnisse in der Rechtsprechung. Schließlich wäre es bei diesem Vorschlag viel schwieriger, diejenigen strafrechtlich zu belangen, die den Boden für die Begehung eines Genozids bereitet haben, die mithin die größere Verantwortung trifft als die Mitläufer. Erst in jüngerer Zeit wurde die These bestätigt, dass der mörderische Antisemitismus weniger eine spontane Bewegung benachteiligter Volksschichten war, sondern vor allem ein Instrument der Führungs- und Bildungsschichten. Tausende von Wissenschaftlern, Kulturfunktionären, Ministerialbürokraten und kirchlichen Würdenträgern wurden ideologisch und praktisch zu „Gehilfen des Massenmords“.122 Diese Eliten waren in der Regel die besagten Haupt- und Organisationstäter, welche die Umsetzung ihrer Ideen für gewöhnlich den Befehlsempfängern überließen. Vorgeschlagen wird dementsprechend die Aufnahme einer den geschilderten Kriterien genügenden Legaldefinition in einen in Art. II Genozidkonvention zu integrierenden Absatz 2.123
b) Aufnahme eines Tatplans Weiterhin ist fraglich, ob ein Tatplan eine Voraussetzung des Genozidtatbestandes ist, beziehungsweise ob er als Tatbestandsmerkmal in Art. II Genozidkonvention aufgenommen werden sollte. Bereits während der Vorarbeiten wurde vorgeschlagen zu normieren, dass der Genozid durch die betreffende Regierung geplant sein muss. Dieser Vorschlag setzte sich jedoch nicht durch, da eine unnötige Eingrenzung des Tatbestandes vermieden werden sollte.124 In der Rechtsprechung der Tribunale wird auf das Element des Tatplans regelmäßig Bezug genommen, obwohl er bislang nicht zur Tatbestandsvoraussetzung erhoben wurde. Insgesamt ist die Rechtsprechung in der Frage des Tatplans nicht ganz eindeutig. Im Urteil gegen Akayesu diskutierte die entscheidende Strafkammer die Frage des Tatplans lediglich indirekt. Sie sprach im Hinblick auf den Genozid von der massiven und/oder systematischen Natur des Verbre-
122
Jasper, Die Gehilfen des Massenmords, Die Zeit 44 (2003), S. 45; eingehend Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich, 2003. 123
Für den konkreten Formulierungsvorschlag s.u. 4. Teil, I. 4.
124
Vgl. UN GAOR, 3 session, 6 Committee, 72 meeting.
rd
th
nd
4. Teil
268
chens125 und stellte im Rahmen der Verbrechen gegen die Menschlichkeit fest, dass für die systematische Tatbegehung ein zuvor gefasster Plan beziehungsweise eine entsprechende Politik bestehen müsse.126 Mithin kann von der Annahme ausgegangen werden, dass nach Meinung dieser Kammer für den Genozid ebenfalls ein entsprechender Tatplan bestehen muss. Im Urteil gegen Kayishema und Ruzindana hieß es, dass, obwohl ein spezifischer Plan kein konstitutives Element des Genozids sei, es nicht leicht erscheine, einen Genozid ohne Plan oder Organisation durchzuführen.127 Zudem sei ein Tatplan ein deutlicher Nachweis für die spezifische Absicht im Sinne des Genozidtatbestandes.128 Diese Sichtweise hat sich in der Folgerechtsprechung durchgesetzt.129 Auch die Völkerrechtskommission ist der Auffassung, dass ein Tatplan für die Begehung eines Genozids nicht zwingend erforderlich ist.130 Im Gegensatz dazu wird teilweise vertreten, dass der Tatplan ein implizites Merkmal des Genozidtatbestandes ist. So ging der Israelische Gerichtshof in seiner Entscheidung gegen Eichmann davon aus, dass der Täter Kenntnis des Plans und der Tatumstände des Genozids gehabt haben muss. Das Gericht entschied, dass Eichmann von dem Plan (der
125
ICTR, Prosecutor v. Akayesu, Case No. ICTR-96-4-T, Urt. v. 2. September 1998, para. 478. 126
Ebenda, para. 580.
127
ICTR, Prosecutor v. Kayishema & Ruzindana, Case No. ICTR-95-1-T, Urt. v. 21. Mai 1999, para. 94. 128
Ebenda, para. 276; bestätigt durch die Rechtsmittelentscheidung ICTR, Prosecutor v. Kayishema & Ruzindana, Case No. ICTR-95-1-A, Urt. v. 1. Juni 2001, para. 138. 129
ICTY, Prosecutor v. Jelesic, Case No. IT-95-10-A, Urt. v. 5. Juli 2001, para. 48; ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-T, Urt. v. 2. August 2001, para. 572; ICTR, Prosecutor v. Elizaphan & Gérard Ntakirutimana, Case Nos. ICTR-96-10 & ICTR-96-17-T, Urt. v. 21. Februar 2003, para. 784. Auch im Rule 61-Verfahren ICTY, Prosecutor v. Karadzic & Mladic, Case Nos. IT95-5-R61 & IT-95-18-R61, Review of the Indictments pursuant to Rule 61 of the Rules of Procedure and Evidence, 11. Juli 1996, para. 94, wurde für den Nachweis der Zerstörungsabsicht bereits auf das Vorliegen eines „plans“ oder „projects“ abgestellt. 130
Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind, Report of the International Law Commission on the Work of its forty-eighth session, 6 May – 26 July 1996, UN Doc. A/51/10, Art. 17, para. 10.
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Endlösung) erst seit 1941 gewusst hatte und sprach ihn vor diesem Zeitpunkt vom Vorwurf des Genozids frei.131 Die Wahrheitskommission in Guatemala hielt es ihrerseits für notwendig darzulegen, dass ein strategischer Plan bestand, die Maya zu zerstören: „[…] acts committed with the intent to destroy, in whole or in part, numerous groups of Mayans were not isolated acts or excesses committed by soldiers who were out of control, nor were they the result of possible improvisation by mid-level Army command. With great consternation, the CEH concludes that many massacres and other human rights violations committed against these groups obeyed a higher, strategically planned policy, manifested in actions which had a logical and coherent sequence.“132 Das Element des Tatplans findet sich darüber hinaus beispielsweise in der französischen Genozidgesetzgebung, in der die „exécution d’un plan concerté“ als Tatbestandsvoraussetzung normiert ist.133 Außerdem wird ein Tatplan von der türkischen Genozidgesetzgebung gefordert.134 Seitens des Schrifttums vertritt Schabas die Auffassung, dass ein Tatplan für die Begehung von Genozid konstitutiv ist. Er argumentiert dahin gehend, dass es praktisch unmöglich sei, sich einen Genozid vorzustellen, der nicht durch einen Staat selbst oder eine mit ihm verbundene Gruppe geplant und organisiert wurde. Ferner habe Lemkin regelmäßig auf das Element eines Tatplans Bezug genommen, so als sei dieses ein sine qua non für das Verbrechen des Genozids.135
131
Attorney General of the Government of Israel v. Eichmann, District Court of Jerusalem, Urt. v. 12. Dezember 1961, ILR 36 (1968), S. 18 (235). 132
Guatemala – Memory of Silence, Report of the Commission for Historical Clarification: Conclusions and Recommendations, February 1999, FW 74 (1999), S. 511 (541), para. 120. 133
Art. 211-1 Französisches Strafgestzbuch, <www.preventgenocide.org/fr/ droit/codes/france>; zu diesem Tatbestandsmerkmal ausführlich Zoller, Le définition des crimes contre l’humanité, Journal du droit international 3 (1993), S. 549 (563 ff.). 134
Tellenbach, Türkei, in: Eser/Sieber/Kreicker (Hrsg.), Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen, Band 6, 2005, S. 393 (401 f.). 135
Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 207 f.; ders., The Jelisić Case and the Mens Rea of the Crime of Genocide, LJIL 14 (2001), S. 125 (133 ff.); ebenfalls für das Erfordernis eines Tatplans Bassiouni, International Law and the Holocaust, California Western International Law Journal 9 (1979),
270
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Der Meinung, die den Tatplan als Voraussetzung der aktuellen Fassung des Genozidtatbestandes ansieht, kann jedoch nicht gefolgt werden.136 Mit der Rechtsprechung der Tribunale ist ihr entgegenzuhalten, dass ein Tatplan im Wortlaut des Art. II Genozidkonvention nicht normiert ist. Die Heranziehung ergänzender Auslegungsmittel im Sinne von Art. 32 WVK bestätigt ebenfalls nicht das Erfordernis eines Tatplans, da auf dieses bewusst verzichtet wurde. Ein Tatplan sollte auch in Zukunft nicht zu einer konstitutiven Voraussetzung für Genozid erhoben werden, da auf diese Weise die Reichweite des Genozidtatbestandes begrenzt würde, ohne sachlich geboten zu sein. Die Zielsetzung der Genozidkonvention ist nicht nur die Bestrafung, sondern auch die frühestmögliche Verhinderung von Genozid. Die Tat soll gegebenenfalls bereits zu einem Zeitpunkt verhindert werden können, zu dem sie noch nicht einmal als sicher vorhergesehen werden kann.137 Die Voraussetzung eines Tatplans hätte genau den gegenteiligen Effekt. Als zusätzliche Tatbestandsvoraussetzung würde ein Tatplan die Beweisprobleme weiter verschärfen.138 Es besteht die Gefahr, dass ein Tatplan die Ahndung von Genozid lähmen und aus diesem Verbrechen ein unauffindbares Verbrechen machen würde.139 Ferner ist gegen das Erfordernis des Tatplans einzuwenden, dass es nicht unvorstellbar ist, dass ein Genozid ohne Tatplan begangen wird. Gerade S. 201 (274); Scharf/Lombardt, Prosecutor v. Jelesic, Commentary, in: Klip/ Sluiter (Hrsg.), Annotated Leading Cases of International Criminal Tribunals, Vol. IV, 2002, S. 698 (700 f.). 136
Gegen das Erfordernis eines Tatplans ebenfalls Lippman, The Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide: Fifty Years Later, Arizona JICL 15 (1998), S. 415 (455); Werle, Völkerstrafrecht, 2003, S. 222 f.; ebenso Amnesty International, The International Criminal Court: Fundamental Principles Concerning the Elements of Genocide, AI Index: IOR 40/01/99, February 1999: „There is no requirement that the accused had to have committed an act in conscious furtherance of a plan or a widespread or systematic policy or practice aimed at destroying, ‘in whole or in part’, a protected group.“ 137
Vgl. Triffterer, Genocide, Its Particular Intent to Destroy in Whole or in Part the Group as Such, LJIL 14 (2001), S. 399 (406 f.). 138
Vest, Genozid durch organisatorische Machtapparate, 2002, S. 111, Fn. 95; kritisch ebenfalls Zoller, Le définition des crimes contre l’humanité, Journal du droit international 3 (1993), S. 549 (563 ff.); und Lelieur-Fischer, Frankreich, in: Eser/Sieber/Kreicker (Hrsg.), Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen, Band 4, 2005, S. 225 (253 f.). 139
Vgl. Zoller, Le définition des crimes contre l’humanité, Journal du droit international 3 (1993), S. 549 (567).
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bei über längere Zeit bestehenden Spannungen zwischen verschiedenen Gruppen ist es möglich, dass eine Situation spontan und ohne vorherige Planung zum Genozid eskaliert. Dann wird das Verhalten aber nicht dadurch weniger strafwürdig, dass die Täter ohne entsprechenden Tatplan handelten. In diesem Zusammenhang ist auch das jeweils letzte gleich lautende Verbrechenselement zu Art. 6 ICC-Statut zu kritisieren, welches zumindest indirekt auf den Tatplan Bezug nimmt. Das Element ist wie folgt formuliert: „The conduct took place in a context of manifest pattern of similar conduct directed against that group or was conduct that could itself effect such destruction.“140 Es ist das Resultat der wieder entfachten Debatte um die Aufnahme eines Tatplans während der Vorarbeiten zum ICC-Statut. Die USA forderten in ihrem Entwurf zu den Verbrechenselementen des Genozidtatbestandes, einen Plan als Tatbestandsvoraussetzung zu normieren.141 Dieses Erfordernis modifizierten sie später dahin gehend, dass sie statt des Tatplans in Anlehnung an den Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne von Art. 7 ICC-Statut zukünftig auch beim Genozid „a widespread or systematic policy or practice aimed at destroying the group“ fordern wollten.142 Dieser Vorschlag stieß auf heftige Kritik von verschiedensten Seiten.143 In der endgültigen Version der Verbrechenselemente wurde der Tatplan dann durch die Wendung des „manifest pattern of similar conduct“ ersetzt. Diesbezüglich wird die Annahme geäußert, dass die Unterscheidung zwischen dieser Formulierung und den vorhergehenden Vorschlägen rein semantisch sein dürf140
Report of the Preparatory Commission for the International Criminal Court, Finalized Draft Text of the Elements of Crimes, UN Doc. PCNICC/ 2000/1/Add.2, Article 6 (a) und b), 4. Element; Article 6 (c) und (d), 5. Element; Article 6 (e), 7. Element. Die genannten Kriterien werden in der Einleitung zu den Verbrechenselementen zu Art. 6 ICC-Statut näher definiert: „– The term ‘in the context of’ would include the initial acts in an emerging pattern; – The term ‘manifest’ is an objective qualification.“ 141
Annex on Definitional Elements for Part Two Crimes: Proposal submitted by the United States of America, UN Doc. A/CONF.183/C.1/L.10, S. 1. 142
Proposal submitted by the United States of America, Draft Elements of Crimes, UN Doc. PCNICC/1999/DP.4. 143
Vgl. Proposal submitted by Columbia, UN Doc. PCNICC/1999/ WGEC/DP.2; Proposal by Algeria u.a., UN Doc. PCNICC/1999/WGEC/ DP.4.
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4. Teil
te.144 Insofern gelten die gegen die Normierung eines Tatplans geäußerten Bedenken hier gleichermaßen. Nebenbei bemerkt ergeben sich zusätzliche Probleme daraus, dass die Verbrechenselemente sehr unklar formuliert sind. Letztlich bleibt offen, ob die in Rede stehenden Kriterien als zusätzliches objektives Merkmal vom Vorsatz des Täters umfasst sein müssen oder ob sie dazu dienen sollen, die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs zu beschränken.145 Das zitierte Verbrechenselement überschreitet den Wortlaut des Art. 6 ICC-Statut in beiden Fällen. Es enthält keine Interpretation von Art. 6 ICC-Statut, sondern ein neues zusätzliches Element. Eine solche Ergänzung des Tatbestandes ist durch das Mandat des Art. 9 ICC-Statut jedoch nicht mehr gedeckt.146 Weiterhin besteht keine kriminalpolitische Notwendigkeit für ein solches Element, sind doch die in ihm normierten Voraussetzungen ohnehin Begriffsinhalt und Orientierungshilfe für den erweiterten Vorsatz, dessen Wesensmerkmal seine grundsätzliche Realisierbarkeit ist. Nicht entscheidend ist, ob diese durch die Einbindung der Tat in „similar conduct directed against that group“ vom Täter oder von Dritten erfolgen soll oder ob das Verhalten „was conduct that could itself effect such destruction“.147
4. Ergebnis und Reformvorschlag für das Absichtsmerkmal Insgesamt besteht der Vorschlag zur Reform des Absichtsmerkmals beziehungsweise des intent im Sinne des Genozidtatbestandes darin, eine Legaldefinition in den Tatbestand zu integrieren, die sowohl direkten Vorsatz als auch Absicht im engeren Sinn für den intent im Sinne des
144
Schabas, The Jelisić Case and the Mens Rea of the Crime of Genocide, LJIL 14 (2001), S. 125 (136). 145
Triffterer, Genocide, Its Particular Intent to Destroy in Whole or in Part the Group as Such, LJIL 14 (2001), S. 399 (407); kritisch auch Werle, Völkerstrafrecht, 2003, S. 220, Rn. 585. 146
Triffterer, Genocide, Its Particular Intent to Destroy in Whole or in Part the Group as Such, LJIL 14 (2001), S. 399 (407). Zu Art. 9 ICC-Statut s.o. 1. Teil, IV. 3. 147
Triffterer, Kriminalpolitische und dogmatische Überlegungen zum Entwurf gleichlautender „Elements of Crimes“ für alle Tatbestände des Völkermordes, in: Schünemann u.a. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin, 2001, S. 1415 (1442).
Subjektive Tatseite von Art. II Genozidkonvention
273
Genozidtatbestandes ausreichend erklärt – für Haupt- und Organisationstäter ebenso wie für die Ausführenden, wobei dem grundsätzlichen Charakter des Genozids als Kollektivtat Rechnung zu tragen ist. Die in einen künftigen Art. II Abs. 2 Genozidkonvention zu integrierende Legaldefinition sollte folgenden Wortlaut haben: „(2) Intent for the purpose of this provision is given: (a) If the perpetrator commits a crime according to paragraph 1 with the goal to destroy the group in whole or in part or if he knows that the certain result to follow from his conduct will be the destruction of the group in whole or in part; (b) If the perpetrator commits a crime according to paragraph 1 in furtherance of a collective crime knowing that the goal or certain result to follow from the collective crime will be the destruction of the group in whole or in part.“ Die dementsprechende deutsche Version wäre folgende: „(2) Die Absicht im Sinne dieser Vorschrift ist gegeben: (a) Wenn der Täter eine Tat im Sinne von Absatz 1 mit dem Ziel begeht, die Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören, oder er weiß, dass das sichere Ergebnis seines Verhaltens die ganze oder teilweise Zerstörung der Gruppe sein wird; (b) Wenn der Täter eine Tat im Sinne von Absatz 1 in Unterstützung eines kollektiven Verbrechens leistet und er weiß, dass das Ziel oder das sichere Ergebnis des kollektiven Verbrechens die ganze oder teilweise Zerstörung der Gruppe sein wird.“
III. Gruppe „als solche“ Gemäß Art. II Genozidkonvention muss sich die Absicht darauf beziehen, eine Gruppe „als solche“ zu zerstören. Die Wendung „als solche“ ist sachlich von erheblicher Bedeutung, ihr Inhalt zugleich unklar. Die Problematik des Merkmals ist zwar mit derjenigen der Absicht verbunden, muss aber dennoch von dieser unterschieden werden. Die Formulierung „als solche“ gab bereits bei den Vorarbeiten zur Genozidkonvention Anlass zu umfangreichen Diskussionen. Problematisch ist, dass entsprechend der Genese der Konvention mit dem Merkmal letztlich der Streit um ein Motiverfordernis umgangen wurde. In Bezug auf den Passus ist noch immer diskussionsbedürftig, wie er zutreffenderweise auszulegen ist. Fraglich ist aufgrund der Genese in
4. Teil
274
diesem Kontext insbesondere, ob die Formulierung ein Motiverfordernis kennzeichnet oder ob alternative Auslegungen möglich sind. Im Folgenden wird zunächst erläutert, wie die Wendung „als solche“ von den UN ad hoc-Tribunalen in ihrer bisherigen Rechtsprechung ausgelegt wurde und diese Auslegung diskutiert. Aus der begrifflichen Problematik des Merkmals resultieren verschiedene Anknüpfungspunkte für seine Reform, welche im Anschluss dargelegt und erörtert werden. Zuletzt wird ein abschließender Reformvorschlag unterbreitet.
1. Auslegung des Merkmals „als solche“ a) Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale In der Rechtsprechung des ICTR und des ICTY herrscht hinsichtlich des Bedeutungsgehalts der Wendung „als solche“ Konsens. Der Tenor der Auslegung ist, dass die Absicht darauf gerichtet sein muss, die Gruppe im Sinne einer separaten bestimmten Einheit zu zerstören und nicht einzelne Gruppenmitglieder in ihrer Eigenschaft als Individuen.148 Folglich wird der Passus seitens der Strafkammern nicht als versteckte Referenz an die Motive des Täters verstanden. Für die Auslegung des Merkmals ist wiederum das Urteil im Fall Akayesu grundlegend, welches zunächst dargestellt werden soll, da sich das ICTY und das ICTR in ihrer Folgerechtsprechung im Wesentlichen dieser Auslegung angeschlossen haben. Im Einzelnen hieß es in den Urteilsfeststellungen, dass: „[…] for any of the acts charged … to be a constitutive element of genocide, the act must have been committed against one or several individuals, because such individual or individuals were members of
148
ICTR, Prosecutor v. Akayesu, Case No. ICTR-96-4-T, Urt. v. 2. September 1998, para. 521; ICTR, Prosecutor v. Bagilishema, Case No. ICTR-951A-T, Urt. v. 7. Juni 2001, para. 61; ICTR, Prosecutor v. Rutaganda, Case No. ICTR-96-3-T, Urt. v. 6. Dezember 1999, para. 60; ICTR, Prosecutor v. Semanza, Case No. ICTR-97-20-T, Urt. v. 15. Mai 2003, para. 312; ICTR, Prosecutor v. Niyitegeka, Case. No. ICTR-96-14-T, Urt. v. 16. Mai 2003, para. 410; ICTY, Prosecutor v. Jelesic, Case No. IT-95-10-T, Urt. v. 14. Dezember 1999, para. 79; ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-T, Urt. v. 2. August 2001, para. 561; ICTY, Prosecutor v. Stakic, Case No. IT-97-24-T, Urt. v. 31. Juli 2003, para. 521; ICTY, Prosecutor v. Blagojevic, Case No. IT-02-60-T, Urt. v. 17. Januar 2005, para. 670.
Subjektive Tatseite von Art. II Genozidkonvention
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a specific group, and specifically because they belonged to this group. Thus, the victim is chosen not because of his individual identity, but rather on account of his membership of a national, ethnical, racial or religious group. The victim of the crime of genocide is the group itself and not only the individual.“149 Im Anschluss führte die Kammer aus, dass die Verübung der angeklagten Tat über ihre tatsächliche Begehung hinausreiche. Sie werde verübt für die Realisierung eines weitergehenden Ziels, das darin bestehe, ganz oder teilweise die Gruppe zu zerstören, von der der Einzelne nur ein Element sei.150 Unter anderem das Urteil gegen Nahimana et al. folgte dieser Rechtsprechung und stellte zusammenfassend fest, dass das Individuum die Personifizierung der Gruppe ist.151 Das Merkmal „als solche“ hat nach der Rechtsprechung folglich zwei unterschiedliche Bezugspunkte. Zum einen stellt es klar, dass das Opfer des Genozids die Gruppe selbst ist, und zum anderen, dass es das Ziel sein muss, die Gruppe zu zerstören. In den Urteilen gegen Sikirica und Brdjanin wurde bestätigt, dass im Hinblick auf das Merkmal „als solche“ die Beweislage ergeben müsse, dass die Gruppe angegriffen wurde und nicht nur einige spezifische Mitglieder der Gruppe. Ergänzend führte die Kammer aus: „[…] Whereas it is the individuals that constitute the victims of most crimes, the ultimate victim of genocide is the group, although its destruction necessarily requires the commission of crimes against its members, that is, against individuals belonging to that group. This is what differentiates genocide from the crime against humanity of persecution. Even though they both have discriminatory elements, some of which are common to both crimes, in the case of persecu-
149
ICTR, Prosecutor v. Akayesu, Case No. ICTR-96-4-T, Urt. v. 2. September 1998, para. 521. 150 151
Ebenda, para. 522.
ICTR, Prosecutor v. Nahimana et al., Case No. ICTR-99-52-T, Urt. v. 3. Dezember 2003, para. 948; ebenfalls dem Akayesu-Urteil folgten bspw. ICTR, Prosecutor v. Niyitegeka, Case No. ICTR-96-14-A, Urt. v. 9. Juli 2004, para. 50; ICTR, Prosecutor v. Rutaganda, Case No. ICTR-96-3-T, Urt. v. 6. Dezember 1999, para. 60; ICTR, Prosecutor v. Musema, Case No. ICTR-9613-T, Urt. v. 27. Januar 2000, para. 165.
4. Teil
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tion, the perpetrator commits crimes against individuals, on political, racial or religious grounds.“152 Die Frage des speziellen Motivmerkmals wurde in der Rechtsmittelentscheidung im Fall Jelesic diskutiert. Die Rechtsmittelkammer legte dar, dass es erforderlich sei, zwischen der besonderen Absicht und möglichen Motiven zu unterscheiden. Das Motiv eines Täters könne zum Beispiel darin bestehen, persönlichen, wirtschaftlichen oder politischen Vorteil zu erlangen. Die Existenz eines persönlichen Motivs schlösse jedoch nicht aus, dass der Täter auch die spezielle Absicht im Sinne des Genozids hatte. Persönliche Motive seien im Strafrecht unerheblich.153 Im Rechtsmittelverfahren im Fall Niyitegeka merkte die entscheidende Kammer ergänzend hierzu an, dass die Opfer wegen ihrer Mitgliedschaft in einer Gruppe angegriffen worden sein müssten, aber nicht ausschließlich wegen ihrer Mitgliedschaft.154
b) Diskussion der Rechtsprechung Fraglich ist, ob der Rechtsprechung in ihrer Auslegung des Merkmals „als solche“ gefolgt werden soll. Geprüft werden muss dementsprechend, ob der Passus indiziert, dass die Absicht darauf gerichtet sein muss, die Gruppe in ihrer Eigenschaft als Kollektiv zu zerstören. Der Wortlaut der Genozidkonvention gibt keinen direkten Hinweis auf die Bedeutung des Merkmals „als solche“. Grammatikalischer Referenzpunkt ist die Absicht der ganzen oder teilweisen Zerstörung einer durch bestimmte Merkmale abgegrenzten Gruppe.155 Eine Analyse von
152
ICTY, Prosecutor v. Sikirica et al., Case No. IT-95-8-T, Urt. v. 3. September 2001, para. 89; zustimmend ICTY, Prosecutor v. Brdjanin, Case No. IT-9936-T, Urt. v. 1. September 2004, para. 698; in diese Richtung auch ICTY, Prosecutor v. Jelesic, Case No. IT-95-10-T, Urt. v. 14. Dezember 1999, para. 79. 153
ICTY, Prosecutor v. Jelesic, Case No. IT-95-10-A, Urt. v. 5. Juli 2001, para. 49, mit Hinweis auf ICTY, Prosecutor v. Tadic, Case No. IT-95-1-A, Urt. v. 15. Juli 1999, para. 269; zustimmend ICTY, Prosecutor v. Brdjanin, Case No. IT-99-36-T, Urt. v. 1. September 2004, para. 696; gegen die Relevanz eines möglichen Motivs zudem ICTR, Prosecutor v. Kayishema & Ruzindana, Case No. ICTR-95-1-A, Urt. v. 1. Juni 2001, para. 161; ICTR, Prosecutor v. Simba, Case No. ICTR-2001-76-T, Urt. v. 13. Dezember 2005, para. 412. 154
ICTR, Prosecutor v. Niyitegeka, Case. No. ICTR-96-14-A, Urt. v. 9. Juli 2004, para. 53. 155
Vest, Genozid durch organisatorische Machtapparate, 2002, S. 110.
Subjektive Tatseite von Art. II Genozidkonvention
277
Art. 6 ICC-Statut und den entsprechenden Verbrechenselementen verhilft ebenfalls nicht zur Klarheit. Nicht nur Art. 6 ICC-Statut übernimmt Art. II Genozidkonvention verbatim, sondern auch die Verbrechenselemente zu Art. 6 ICC-Statut beschränken sich auf eine Wiederholung des Erfordernisses, dass der Täter beabsichtigt haben muss, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören.156 Die Auslegung der Völkerrechtskommission war für die Rechtsprechung offensichtlich richtungweisend und wird von dieser teilweise ausdrücklich zitiert.157 In ihrem Kommentar zum Draft Code heißt es, dass die Absicht darauf gerichtet sein müsse, die Gruppe im Sinne einer separaten und bestimmten Einheit zu zerstören, und nicht nur einige Individuen wegen ihrer Mitgliedschaft in einer bestimmten Gruppe.158 Die Expertenkommission zu den Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien kam desgleichen zu dem Ergebnis, dass ein Motiv kein Element des Genozids ist. Das Merkmal „als solche“ stelle nur klar, dass die einzelnen Opfer als Mitglieder des Kollektivs angegriffen werden müssen.159 Die Expertenkommission zu Ruanda äußerte sich ihrerseits dahin gehend, dass das Vorliegen eines politischen Motivs der Absicht im Sinne des Genozids nicht entgegenstünde, solange Letztere vordergründig festgestellt werden könne.160 In der englischen Rechtsprechung wird das Merkmal „als solche“ in Übereinstimmung mit der Rechsprechung der Tribunale ausgelegt. Die Wendung „as such“ wird insofern als gleichbedeutend mit der Wendung „in that capacity“ verstanden.161 Die deutsche Rechtsprechung sieht in 156
Report of the Preparatory Commission for the International Criminal Court, Finalized Draft Text of the Elements of Crimes, UN Doc. PCNICC/ 2000/1/Add.2, Article 6, 3. gleich lautendes Element. 157
ICTY, Prosecutor v. Jelesic, Case No. IT-95-10-T, Urt. v. 14. Dezember 1999, para. 79; ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-T, Urt. v. 2. August 2001, para. 552; ICTY, Prosecutor v. Stakic, Case No. IT-97-24-T, Urt. v. 31. Juli 2003, para. 521. 158
Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind, Report of the International Law Commission on the Work of its forty-eighth session, 6 May – 26 July 1996, UN Doc. A/51/10, Art. 17, para. 7. 159
Final Report of the Commission of Experts Established pursuant to Security Council Resolution 780 (1992), UN Doc. S/1994/674, para. 97. 160
Final Report of the Commission of Experts established pursuant to Security Council Resolution 935 (1994), UN Doc. S/1994/1405, para. 159. 161
High Court of Justice, Queens Bench Division, Divisional Court (England), Hipperson and others v. DPP, Urt. v. 3. Juli 1996.
4. Teil
278
dem Merkmal „als solche“ im Gegensatz dazu in der Regel einen Beleg dafür, dass es ausreicht, wenn die Gruppe in ihrer sozialen Existenz zerstört wird, mithin dass die physisch-biologische Zerstörung der Gruppe keine Voraussetzung des Genozids ist.162 Dem steht jedoch der entstehungsgeschichtliche Befund entgegen, dass der Passus als Ergebnis der Kontroverse um ein Motiverfordernis in den Tatbestand eingefügt wurde.163 Die Genese des Merkmals „als solche“ lässt die seinerzeit intendierte Bedeutung der Wendung letztlich im Dunkeln. In Resolution 96 (I) war normiert, dass der Genozid aus religiösen, rassischen, politischen oder irgendeinem anderem Grund begangen worden sein musste und dergestalt ein Motiverfordernis in den Tatbestand impliziert. Im Entwurf des UN-Generalsekretärs fanden die Tatmotive keine Erwähnung mehr. Vorgesehen war, dass der Genozid mit dem Ziel begangen werden musste, eine der Opfergruppen ganz oder teilweise zu vernichten oder ihre Erhaltung beziehungsweise Entwicklung zu verhindern.164 Das Merkmal „Ziel“ bezog sich dabei auf die Absicht und nicht auf das Motiv; es erklärt, was erstrebt wird, ohne nach dem Grund zu fragen.165 Im Vorschlag des ad hoc-Ausschusses wurde das Motiverfordernis wieder in den Tatbestand aufgenommen. Konkret sah der Vorschlag zu Art. II Genozidkonvention vor, dass die Tathandlungen „aufgrund der nationalen oder rassischen Herkunft, des religiösen Glaubens oder der politischen Anschauung der Gruppenmitglieder“ begangen worden sein mussten.166 Gefordert wurde dementsprechend, dass die Tat durch die speziellen Merkmale der entsprechenden Gruppe motiviert war. Im Sechsten Ausschuss entstanden erneut heftige Diskussionen um das Motiverfordernis. Als deren Ergebnis wurde auf Vorschlag Venezuelas 162
BGH, Urt. v. 30. April 1999 – 3 StR 215/98, BGHSt 45, 64 (81) = NStZ 1999, 396 (401); zustimmend BVerfG, Beschl. v. 12. Dezember 2000 – BvR 1290/99, NJW 2001, 1848 (1851). Zur Problematik, ob die Absicht auf die physisch-biologische Zerstörung der Opfergruppe gerichtet sein muss oder ob auch die Absicht, die Gruppe als soziale Einheit zu zerstören, ausreicht s.u. 4. Teil, IV. 1. 163
MK-StGB-Kreß, § 220 a/§ 6 VStGB, Rn. 90.
164
Draft Convention on the Crime of Genocide prepared by the SecretaryGeneral, UN Doc. E/447, S. 5. 165 166
Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 246.
Report of the ad hoc Committee on Genocide, UN Doc. E/794, S. 5, Hervorhebung durch die Verf.
Subjektive Tatseite von Art. II Genozidkonvention
279
der im Entwurf des ad hoc-Ausschusses enthaltene Bezug auf die verschiedenen Motive durch die Wendung „als solche“ ersetzt. Die Begründung für diesen Vorschlag lautete, dass eine Aufzählung der Motive eine starke Waffe in den Händen der Schuldigen sei und diesen dabei helfen würde, einer Bestrafung wegen Genozids zu entgehen. Schließlich könnten die Schuldigen geltend machen, die Tat aus anderen als den in Art. II Genozidkonvention genannten Gründen begangen zu haben.167 Zudem erklärte Venezuela, dass auf die Aufzählung der Motive zwar verzichtet, die Tatmotive jedoch zugleich durch das Merkmal „als solche“ wieder eingeführt würden. Mit der Formulierung „als solche“ würden die Motive eine weitere Fassung erhalten, weil auch andere als die aufgezählten Beweggründe berücksichtigt werden könnten. Auf diese Weise sollte den Richtern ein größerer Ermessensspielraum zur Beurteilung von Fällen von Genozid eingeräumt werden.168 Letztlich wurde dieser Kompromiss akzeptiert.169 Die Debatte spiegelt jedoch gleichzeitig wider, dass die Teilnehmer verschiedene Konzepte hinsichtlich der Bedeutung der Wendung „als solche“ hatten.170 Wegen der Meinungsverschiedenheiten wurde eine Erklärung des Inhalts in den Bericht des Sechsten Ausschusses aufgenommen, dass mit einer Entscheidung für einen Vorschlag nicht notwendig auch die Interpretation des Autors übernommen werden sollte.171 Man wollte anscheinend weiteren inhaltlichen Auseinandersetzungen aus dem Weg gehen und eine Einigung erzielen, um nicht die Konvention insgesamt zu gefährden. Auch in diesem Zusammenhang wird deutlich, dass die Genozidkonvention keine Ideallösung ist, sondern der kleinste gemeinsame Nenner, der angesichts der unterschiedlichen Interessen der Autoren erzielt werden konnte. Die im Sechsten Ausschuss erarbeitete Formulierung entspricht dem heutigen Wortlaut der Konvention. Die überwiegende Mehrheit in der Literatur lehnt es in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung zu Recht ab, den Passus „als solche“ als
167
UN GAOR, 3 session, 6 Committee, 76 meeting, S. 124, Mr. Perozo.
168
UN GAOR, 3 session, 6 Committee, 77 meeting, S. 131, Mr. Perozo.
rd
th
th
rd
th
th
169
Ebenda, S. 133; die Entscheidung erging mit 27 Ja-Stimmen bei 22 NeinStimmen und 2 Enthaltungen. 170
Kuper, Theoretical Issues Relating to Genocide: Uses and Abuses, in: Andreopoulos (Hrsg.), Genocide: Conceptual and Historical Dimensions, 1994, S. 31 (32). 171
Ruhashyankiko, Study of the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/416, 1978, para. 105.
4. Teil
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Referenz an mögliche Motive des Täters zu interpretieren und propagiert ebenfalls die Auslegung, dass die Gruppe – zumindest auch – in ihrer Eigenschaft als Kollektiv angegriffen werden muss.172 Dieses Verständnis entspricht der Lesart der ursprünglichen Konzeption von Lemkin, nach der der Genozid gegen eine Gruppe als Einheit gerichtet war und die einzelnen Individuen nicht um ihrer selbst willen, sondern als Mitglieder der Gruppe angegriffen werden mussten.173 In Bezug auf die unklare Entstehungsgeschichte hat Drost zutreffend darauf hingewiesen, dass der Sechste Ausschuss zur Interpretation des Merkmals „als solche“ keine Stellung bezog und der Wortlaut keinen Anhaltspunkt enthält, der es erlauben würde, ein ungeschriebenes zusätzliches Element in den Tatbestand hineinzulesen.174 Genau ein solches ungeschriebenes zusätzliches Tatbestandsmerkmal würde jedoch ein Motivmerkmal darstellen. Die Wortlautauslegung erlaubt es ebenfalls nicht, die Wendung „als solche“ als Abkürzung für die abgelehnte Aufnahme möglicher Motive in den Tatbestand zu verstehen. Wie erläutert ist der grammatikalische Referenzpunkt des Passus die Absicht der ganzen oder teilweisen Zerstörung einer durch bestimmte Kriterien abgegrenzten Gruppe.175 Auf diese Weise wird klargestellt, dass der Angriff gegen die Gruppenmitglie-
172
MK-StGB-Kreß, § 220 a/§ 6 VStGB, Rn. 90; Whitaker, Revised and Updated Report on the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/1985/6, para. 38; Vest, Genozid durch organisatorische Machtapparate, 2002, S. 110; ders., Humanitätsverbrechen – Herausforderung für das Individualstrafrecht?, ZStW 113 (2001), S. 457 (478); Ratner/Abrams, Accountability for Human Rights Atrocities in International Law, 2001, S. 37 f.; LeBlanc, The United Nations Genocide Convention and Political Groups, 13 YJIL (1988), S. 268 (289); Hannum, International Law and Cambodian Genocide: The Sounds of Silence, HRQ 11 (1989), S. 82 (108 ff.); gegen die Berücksichtigung von Motiven zudem Bassiouni/Manikas, The Law of the International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, 1996, S. 528; Verhoeven, Le crime de génocide, originalité et ambiguïté, RBDI 24 (1991), S. 5 (19); a.A. Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 254 ff.; Shaw, Genocide and International Law, in: Dinstein (Hrsg.), International Law at a Time of Perplexity, 1989, S. 797 (806). 173
Lemkin, Axis Rule in Occupied Europe, 1944, S. 79.
174
Drost, The Crime of State, Book II: Genocide, 1959, S. 84.
175
Vest, Genozid durch organisatorische Machtapparate, 2002, S. 110.
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281
der in ihrer Eigenschaft als Kollektiv beziehungsweise wegen ihrer gemeinsamen Merkmale gerichtet sein muss.176 Ein weiterer entscheidender Grund gegen die Einbeziehung von Motiven ist die bereits im Sechsten Ausschuss vorgebrachte Befürchtung, dass die Täter durch das Bestreiten bestimmter Tatmotive ihrer Bestrafung wegen Genozids allzu leicht entgehen könnten. Kuper hat insofern zutreffend ausgeführt, dass die Auslegung des Merkmals „als solche“ im Sinne eines Motivmerkmals zu erheblichem Missbrauch im Rahmen der Verteidigung gegen den Vorwurf des Genozids führen kann.177 Als Beispiele für die Problematik der Berücksichtigung von Tatmotiven führt Kuper die atomaren Bombenangriffe auf Hiroshima und Nagasaki an sowie die Flächenbombardements von Hamburg und Dresden, welche er selber als Genozid qualifiziert.178 Die Qualität dieser Handlungen als Genozid sei teilweise unter Berufung auf das Merkmal „als solche“ bestritten worden. Man habe die Städte angegriffen, weil es sich bei ihnen um feindliche Bollwerke handelte und nicht weil ihre Bewohner Deutsche oder Japaner waren.179 Der These Kupers, dass es sich bei den genannten Bombardements um Genozid handelte, kann zwar so pauschal nicht gefolgt werden, da die Annahme des Genozids beim Einsatz von Massenvernichtungswaffen im Zuge kriegerischer Auseinandersetzungen sehr umstritten ist.180 Die genannten Beispiele verdeutlichen allerdings die mit einem Motivmerkmal einhergehende Gefahr des Missbrauchs. Festgestellt werden kann, dass die Annahme des Genozids in besagten Fällen zumindest möglich erscheint. 176
Whitaker, Revised and Updated Report on the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/ 1985/6, para. 38. 177
Kuper, Theoretical Issues Relating to Genocide: Uses and Abuses, in: Andreopoulos (Hrsg.), Genocide: Conceptual and Historical Dimensions, 1994, S. 31 (32 f.). 178
Kuper, Genocide, 1981, S. 46.
179
Kuper, The Prevention of Genocide, 1985, S. 13 f.; ders., Theoretical Issues Relating to Genocide: Uses and Abuses, in: Andreopoulos (Hrsg.), Genocide: Conceptual and Historical Dimensions, 1994, S. 31 (32 f.). 180
Differenzierend Vest, Genozid durch organisatorische Machtapparate, 2002, S. 113 f.; Harff, Recognizing Genocides and Politicides, in: Fein (Hrsg.), Genocide Watch, 1992, S. 27 (39 ff.); Chalk/Jonassohn, The History and Sociology of Genocide, 1990, S. 12 ff.; Fein, Genocide, Terror, Life Integrity and War Crimes: The Case for Discrimination, in: Andreopoulos (Hrsg.), Genocide: Conceptual and Historical Dimensions, 1994, S. 95 ff.
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Im Rechtsmittelverfahren gegen Tadic bestätigte die Kammer die generelle Feststellung, dass Motive im Strafrecht unerheblich sind. Zur Begründung ihrer Auffassung griff die Kammer auf den Tatbestand des Genozids zurück. Sie legte dar, dass man bei der Berücksichtigung von persönlichen Motiven zu dem absurden Ergebnis käme, dass sogar ein hoher SS-Funktionär, der geltend macht, sich aus rein persönlichen Motiven, nämlich der Angst um seinen Arbeitsplatz, an dem Genozid beteiligt zu haben, freigesprochen werden müsste. Im Endeffekt müsste jeder Angeklagte freigesprochen werden, der vorgibt, aus reinem Eigeninteresse am Massenmord beteiligt gewesen zu sein. Nach der – zutreffenden – Auffassung der Kammer belegen diese Konstellationen die Bedeutungslosigkeit des Nachweises persönlicher Motive.181 Wegen der Unerheblichkeit persönlicher Motive kann im Rahmen des Genozids kein potentieller Täter geltend machen, er habe nicht aufgrund der die Gruppe konstituierenden Merkmale gehandelt. Solange die Gruppe in ihrer Eigenschaft als Kollektiv angegriffen wird, ist nicht von Belang, ob politische, wirtschaftliche oder sonstige Motive hinter der Tat standen. In diesem Sinne führte schon Drost aus: „Whatever the ultimate purpose of the deed, whatever the reasons for the perpetration of the crime, whatever the open or secret motives for the acts or measures directed against the life of the protected group, whenever the destruction of human life of members of the group as such takes place, the crime of genocide is being committed.“182 Folglich ist der Rechtsprechung in ihrer Auslegung des Merkmals „als solche“ zuzustimmen.
2. Reformbedarf des Merkmals „als solche“ Der Reformbedarf des Merkmals „als solche“ resultiert aus der Unklarheit der Formulierung. International ist zwar die zutreffende Auslegung vorherrschend, dass die Absicht darauf gerichtet sein muss, die Gruppe in ihrer Eigenschaft als Kollektiv anzugreifen. Im Rahmen einer Reform des Art. II Genozidkonvention sollte aber dennoch die Chance genutzt 181
ICTY, Prosecutor v. Tadic, Case No. IT-94-1-A, Urt. v. 15. Juli 1999, para. 269; bestätitgt durch ICTY, Prosecutor v. Jelesic, Case No. IT-95-10-A, Urt. v. 5. Juli 2001, para. 49. 182
Drost, The Crime of State, Book II: Genocide, 1959, S. 84.
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werden, die sibyllinische Formulierung des Merkmals „als solche“ zu korrigieren. Schließlich ist die Unklarheit ein deutlicher Beleg dafür, dass der wenig geglückte Passus letzten Endes ein Kompromiss zwischen den Vertragsparteien war. Da die damals bestehenden Streitigkeiten um das Motivmerkmal inzwischen weitestgehend beigelegt sind, ist eine derartige Kompromisslösung nicht länger erforderlich. Ferner würde eine entsprechende Reform denjenigen von vornherein den Boden entziehen, die das Merkmal „als solche“ aufgrund seiner Genese als Hinweis auf die Motive des Täters verstehen, oder es wie die deutsche Rechtsprechung als Begründung dafür heranziehen, dass die Zerstörung der Gruppe in ihrer sozialen Existenz ausreichend für die Begehung von Genozid ist. Zuletzt würde durch eine Neuformulierung klargestellt, dass der Passus keineswegs überflüssig ist, was ebenfalls zuweilen vertreten wird.
3. Anknüpfungspunkte für Reformen Für die Reform des Merkmals „als solche“ ergeben sich unterschiedliche Anknüpfungspunkte, die im Folgenden diskutiert werden sollen. Zunächst muss überprüft werden, ob auf das in Rede stehende Merkmal in einem reformierten Tatbestand verzichtet werden kann. Weiterhin könnte es erforderlich sein, das Merkmal durch eine präzisere Formulierung neu zu fassen. Schließlich ist zu prüfen, ob der Autogenozid, die Tötung von Mitgliedern der tätereigenen Gruppe, von Art. II Genozidkonvention erfasst ist oder ob eine entsprechende Normierung in den Tatbestand aufgenommen werden muss.
a) Verzicht auf das Merkmal „als solche“ Ein möglicher Reformansatz besteht darin, auf das Merkmal „als solche“ künftig zu verzichten. Immerhin wurde der Streit um ein Motiverfordernis, der während der Vorarbeiten zur Genozidkonvention den Ausschlag für die Aufnahme dieses Merkmals gab, inzwischen weitestgehend beigelegt. Fraglich ist daher, ob der Passus „als solche“ überflüssig ist. Bemerkenswert ist insofern, dass er im Schweizer Genozidtatbe-
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stand183 und im Spanischen Genozidtatbestand184 ersatzlos gestrichen wurde. Diesen Beispielen kann jedoch nicht gefolgt werden, da das Merkmal „als solche“ in der Genozidgesetzgebung eine entscheidende Funktion erfüllt. In der zutreffenden Auslegung dient der Passus der Präzisierung des subjektiven Vernichtungswillens dergestalt, dass er klarstellt, dass die Gruppe in ihrer Eigenschaft als Kollektiv um ihrer selbst willen angegriffen werden muss. Der Wille der Täter muss darauf gerichtet sein, die Gruppenmitglieder aufgrund bestimmter, gemeinsamer gruppenkonstituierender Merkmale zu zerstören. Diese Relevanz des Merkmals „als solche“ hat auch das ICTR in der Rechtsmittelentscheidung gegen Niyitegeka besonders hervorgehoben: „The words ‘as such’, however, constitute an important element of genocide, the ‘crime of crimes’ … The term ‘as such’ has the effet utile of drawing a clear distinction between mass murder and crimes in which the perpetrator targets a specific group because of its nationality, race, ethnicity and religion … It does not prohibit a conviction for genocide in a case in which the perpetrator was also driven by other motivations that are legally irrelevant in this context.“185 Wie bereits erwähnt wurde auch im Sikirica-Urteil ausgeführt, dass dem Merkmal „als solche“ vor allem bei der Abgrenzung des Genozids zum Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit entscheidende Bedeutung zukommt.186 Wird eine Gruppe dagegen nicht wegen ihrer bloßen Existenz zum Zielobjekt und ist das Merkmal der Gruppenzugehörigkeit für den Täter zweitrangig, so liegt kein Genozid vor.187 Zur Verdeutlichung der Funktion des Merkmals „als solche“ im Genozidtatbestand diskutiert 183
Art. 264 Schweizer Strafgesetzbuch, <www.preventgenocide.org/fr/droit/ codes/suisse>, wobei die Streichung kommentarlos erfolgte. 184
Art. 607 Abs. 1 Spanisches Strafgesetzbuch, <www.preventgenocide.org/ es/derecho/codigos/espana.htm>. 185
ICTR, Prosecutor v. Niyitegeka, Case No. ICTR-96-14-A, Urt. v. 9. April 2004, para. 53. 186
S.o. IV. Teil, III. 1. a); so auch Akhavan, The Crime of Genocide in the ICTR Jurisprudence, JICJ 3 (2005), S. 989 (1003). 187
Vgl. Vest, Die bundesrätliche Botschaft zum Beitritt der Schweiz zur Völkermord-Konvention, ZStrR 1999, S. 351 (358); ders., Genozid durch organisatorische Machtapparate, 2002, S. 121 ff.
Subjektive Tatseite von Art. II Genozidkonvention
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Vest das Beispiel der Verfolgung der Volksgruppe der Khmer unter den Khmer Rouge in Kambodscha.188 Die Khmer Rouge waren unzweifelhaft eine nationale Gruppe im Sinne des Art. II Genozidkonvention. Problematisch ist jedoch, dass die Angehörigen der Khmer wegen ihrer angeblichen politischen Gegnerschaft der terroristischen Parteimaschinerie zum Opfer fielen und nicht um ihrer selbst willen. Die Mörder seien nicht prinzipiell gegen das Volk der Khmer vorgegangen, mit dem sie ja ihre Vision eines agrarischen und autarken „demokratischen Kambodscha“ hätten realisieren wollen. Im Gegensatz dazu hätte sich die Vernichtungsabsicht bei den nationalen und ethnischen Minderheiten der Cham, der Vietnamesen und der Chinesen ebenso wie bei den buddhistischen Mönchen und den Christen als religiösen Gruppierungen allein aus deren Gruppenzugehörigkeit ergeben. Die nationale Zugehörigkeit sei bei den Opfern aus der Mehrheitsgruppe in Anbetracht des politischen Hintergrundes der Säuberungsaktionen akzidentieller Natur gewesen, während die Mitgliedschaft in einer der anderen Opfergruppen als solche zur Vernichtung geführt hätte. Auf diese Weise werde auch nicht das Motivmerkmal wieder reimportiert, sondern der Zerstörungswille hinsichtlich der geschützten Gruppen präzisiert.189 Aufgrund der Tatsache, dass politische Gruppen bislang nicht unter der Konvention geschützt sind, vertritt Vest ebenso wie die herrschende Meinung in der Literatur, dass es sich bei den an den Khmer begangenen Gräueltaten nicht um einen Genozid im Sinne des Art. II Genozidkonvention handelte.190 Der Unterschied in der rechtlichen Bewertung 188
Hierzu eingehend s.o. 2. Teil, II. 2. a).
189
Vest, Humanitätsverbrechen – Herausforderung für das Individualstrafrecht?, ZStW 113 (2001), S. 457 (477 f.); ders., Genozid durch organisatorische Machtapparate, 2002, S. 121 f.; zustimmend Basler Kommentar-Wehrenberg, Art. 264, Rn. 38. 190
Vest, Humanitätsverbrechen – Herausforderung für das Individualstrafrecht?, ZStW 113 (2001), S. 457 (478); ders., Die bundesrätliche Botschaft zum Beitritt der Schweiz zur Völkermord-Konvention, ZStrR 1999, S. 351 (356); Hawk, Pol Pot’s Cambodia: Was It Genocide?, in: Charny (Hrsg.), Toward the Understanding and Prevention of Genocide, 1984, S. 51 (54); Abrams, The Atrocities in Cambodia and Kosovo: Observations on the Codification of Genocide, New England Law Review 35 (2001), S. 303 (304 ff.); Chalk, Redefining Genocide, in: Andreopoulos (Hrsg.), Genocide: Conceptual and Historical Dimensions, 1994, S. 47 (50); Shawcross, Persecutions on Political, Racial, or Religious Grounds, in: Gutman/Rieff (Hrsg.), Crimes of War, 1999, S. 272 ff.; a.A. Hannum, International Law and Cambodian Genocide: The Sounds of Silence, HRQ 11 (1989), S. 82 (103 ff.); ausdrücklich offen gelassen in Report of
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der verschiedenen Opfergruppen ist zwar dünn, er rechtfertigt aber dennoch das Ergebnis.191 Das Schutzobjekt des Genozids ist die Gruppe als Kollektiv, die davor bewahrt werden soll, um ihrer selbst willen zerstört zu werden. Diese Schutzrichtung wird durch das Merkmal „als solche“ in seiner den Anwendungsbereich des Tatbestandes eingrenzenden Bedeutung sichergestellt. Dass die unterschiedliche Unrechtsbewertung im Endergebnis nicht tragbar ist, wurde bereits diskutiert.192 Sie führt zu der in dieser Arbeit vorgeschlagenen Reform des Gruppenbegriffs. Viele der derzeit noch bestehenden möglichen Grenzfälle werden durch die Ergänzung der nationalen, ethnischen, rassischen und religiösen Gruppen um eine abstrakt formulierte Generalklausel aufgefangen.193 Dementsprechend wären Fälle wie der der Khmer, die als politische Gruppe verfolgt wurden, von vornherein durch die Genozidkonvention erfasst. Gerade der Vorschlag der Erweiterung des Kreises der Schutzobjekte bringt die Notwendigkeit mit sich, das Merkmal „als solche“ in seiner den Anwendungsbereich des Genozidtatbestandes einschränkenden Bedeutung beizubehalten.
b) Neufassung des Merkmals „als solche“ Ein weiterer Ansatz für die Reform des Merkmals „als solche“ wäre, den Passus neu zu fassen. Diese Möglichkeit wird von der Autorin befürwortet. Aus der in diesem Abschnitt geführten Untersuchung folgt, dass die neue Formulierung sicherstellen müsste, dass die bestehenden Unklarheiten in Bezug auf die Auslegung des Passus „als solche“ dauerhaft beseitigt werden. Sie müsste gewährleisten, dass der Genozidtatbestand international einheitlich so ausgelegt wird, dass die jeweilige Opfergruppe in ihrer Eigenschaft als Kollektiv angegriffen worden sein muss.194
the Group of Experts for Cambodia established pursuant to General Assembly Resolution 52/135, UN Doc. A/53/850, S/1999/231, Annex, para. 65. 191
A.A. Vest, Genozid durch organisatorische Machtapparate, 2002, S. 122.
192
Zur Problematik der politischen Gruppen s.o. 2. Teil, II. 2. a).
193
Dazu s.o. 2. Teil, III. 3., 6., IV.
194
Für den konkreten Formulierungsvorschlag s.u. 4. Teil, III. 4.
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c) Aufnahme des Autogenozids Die letzte Frage, die sich im Kontext der Reform des Merkmals „als solche“ stellt, ist, ob der so genannte Autogenozid durch die Konvention erfasst ist oder ob eine entsprechende Normierung in den Tatbestand aufgenommen werden muss. Der Terminus Autogenozid wurde durch den Vorsitzenden der UN-Unterkommission zur Verhinderung von Diskriminierung und zum Schutz von Minderheiten angesichts der geschilderten Verbrechen der Khmer Rouge an der Volksgruppe der Khmer geprägt.195 Der Autogenozid ist kein anerkannter Rechtsbegriff, er steht als Synonym für die Zerstörung von Mitgliedern der tätereigenen Gruppe. Zu prüfen ist mithin, ob die Opfergruppe in ihren charakteristischen Merkmalen von der Tätergruppe verschieden sein muss. Teilweise wird die Auffassung vertreten, dass der Autogenozid nicht durch die Genozidkonvention erfasst sein kann. Massentötungen an Mitgliedern der tätereigenen Gruppe mit Genozid zu verwechseln, würde dem Sinn und Zweck der Konvention, nationale Minderheiten vor durch ethnischen Hass motivierten Verbrechen zu schützen, zuwiderlaufen.196 Diese Auffassung überzeugt nicht. Whitaker hat zutreffend darauf hingewiesen, dass der Wortlaut des Art. II Genozidkonvention solche Fälle nicht ausschließt, in denen die Opfer Teil der tätereigenen Gruppe sind.197 Insbesondere muss der Täter nicht die Zerstörung der ganzen Gruppe – und deshalb auch nicht seine eigene Tötung, was der Annahme eines Autogenozids per se entgegenstünde – beabsichtigen, sondern die Absicht der teilweisen Zerstörung der Opfergruppe reicht aus. Der übrige Text der Konvention gibt ebenfalls keinen Hinweis darauf, dass die Täter einer anderen Gruppe angehören müssen als ihre Opfer; tatsächlich wird auf die Natur der gemäß Art. IV, V und 195
„[…] nothing less than autogenocide … However, the events described in the documents were extremely serious – the most serious that had occurred th anywhere in the world since nazism.“ Commission on Human Rights 35 Sesth sion, Summary record of the First Part (public) of the 1510 Meeting, UN Doc. E/CN.4/SR.1510, para. 22, 24. 196
Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 119 f.; in diese Richtung auch Marks, Elusive Justice for the Victims of the Khmer Rouge, Journal of International Affairs 52 (1998/99), S. 691 (696); Gil Gil, Derecho Penal Internacional, 1999, S. 183 f. 197
Whitaker, Revised and Updated Report on the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/ 1985/6, para. 31; ebenso Simon, Defining Genocide, Wisconsin International Law Journal 15 (1996-97), S. 243 (253 f.).
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VI strafbaren Personen in keiner der Bestimmungen Bezug genommen.198 Außerdem findet sich in der Konvention kein Hinweis darauf, dass die Taten durch (ethnischen) Hass motiviert gewesen sein müssen. Im Gegenteil, wie gezeigt werden konnte spielen spezielle Motive im Rahmen des Genozids keine Rolle. Zuletzt wird nur die Einbeziehung des Autogenozids dem völkerrechtlichen Auslegungsgrundsatz gerecht, dass völkerrechtliche Verträge liberal auszulegen sind, soweit nicht ihr Kontext eine enge und restriktive Interpretation erfordert. Insofern ist jedoch kein Argument ersichtlich, das den Ausschluss des Autogenozids erforderlich machen könnte. Schließlich ist die beabsichtigte Zerstörung von Mitgliedern der tätereigenen Gruppe nichts anderes als die beabsichtigte Zerstörung eines Teils einer der geschützten Gruppen – mithin eines der Übel, die durch die Konvention verhindert werden sollen. Da der Autogenozid durch Art. II Genozidkonvention bereits erfasst ist, muss er nicht expressis verbis in die Norm integriert werden, sodass kein Reformbedarf besteht.
4. Ergebnis und Reformvorschlag für das Merkmal „als solche“ Als Ergebnis der Untersuchung des Merkmals „als solche“ kann festgehalten werden, dass dieses einer Neuformulierung bedarf. Aus der geführten Diskussion resultiert der in dieser Arbeit vertretene Formulierungsvorschlag. Er lautet dahin gehend, dass entsprechend der Auslegung der herrschenden Meinung in der englischen Textfassung der Passus „as such“ durch die Formulierung „as a collectivity“ ersetzt werden soll. Die deutsche Formulierung müsste lauten „in ihrer Eigenschaft als Kollektiv“.
IV. Anforderungen an die Zerstörung Die Absicht des Täters muss schließlich darauf gerichtet sein, die Gruppe „ganz oder teilweise zu zerstören“. Das Merkmal der „Zerstörung“ wurde während der Vorarbeiten ohne weitere Diskussionen in Art. II Genozidkonvention aufgenommen. Eingehende Debatten ent198
Hannum, International Law and Cambodian Genocide: The Sounds of Silence, HRQ 11 (1989), S. 82 (105).
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standen hingegen in Bezug auf die Formulierung „ganz oder teilweise“ beziehungsweise den erforderlichen Umfang der angestrebten Zerstörung. Beide Elemente des Passus enthalten offene Fragen, die in diesem Abschnitt untersucht werden sollen. Im Hinblick auf die Bedeutung des Merkmals der Zerstörung ist fraglich, ob die Gruppe in physischbiologischem Sinn zerstört werden muss oder ob die Zerstörung der Gruppe als soziale Einheit ebenfalls durch die Genozidkonvention erfasst ist. Im Hinblick auf die Wendung „ganz oder teilweise“ ist zunächst problematisch, wie groß im Falle einer „teilweisen“ Zerstörung der Opfergruppe der betroffene Gruppenteil sein muss, damit die entsprechenden Taten als Genozid qualifiziert werden können. Darüber hinaus ist zu untersuchen, ob die geografische Begrenzung einer Opfergruppe eine taugliche Kennzeichnung für eine teilweise Zerstörung sein kann und welches im Falle dessen der räumliche Bezugspunkt ist. Diese Fragen werden im Folgenden vor dem Hintergrund einer Analyse der Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale diskutiert. Im Anschluss soll der Reformbedarf des Passus „ganz oder teilweise zu zerstören“ überprüft werden.
1. Auslegung des Zerstörungsbegriffs a) Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale In der Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale hat die Frage nach der Auslegung des Zerstörungsbegriffs bis zum Urteil im Fall Blagojevic wenig Aufmerksamkeit erfahren. Vor diesem Urteil wurde das Merkmal der Zerstörung lediglich im Fall Krstic eingehender untersucht. Im Krstic-Urteil erster Instanz führte die Strafkammer aus, dass die Anwendung des Genozidtatbestandes nach Völkergewohnheitsrecht auf solche Taten beschränkt sei, die auf die physische oder biologische Zerstörung der Opfergruppe gerichtet sind. Ein Angriff auf die kulturellen oder soziologischen Charakteristika einer menschlichen Gruppe, um diese als Identität stiftende Merkmale in Abgrenzung zum Rest der Gemeinschaft zu beseitigen, werde nicht durch die Konvention erfasst. Die Kammer betonte jedoch, dass im Falle der biologischen oder physischen Zerstörung einer Gruppe oftmals zugleich auch das kulturelle oder religiöse Eigentum der Gruppe angegriffen werde. Solche Angriffe könnten als Beweis der Absicht, die Gruppe physisch zu zerstören, he-
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rangezogen werden.199 Als Nachweis für die Zerstörungsabsicht zog die Kammer im konkreten Fall neben der Tötung der bosnisch-muslimischen Männer den Umstand heran, dass die Massaker stattfanden, während die Frauen, Kinder und Alten in andere Gebiete deportiert wurden.200 Die Beweisführung wurde von der Verteidigung im Rechtsmittelverfahren angegriffen. Die Verteidigung brachte vor, dass die Entscheidung der VRS, die Frauen und Kinder aus Srebrenica in ein anderes Gebiet zu überführen anstatt sie zu töten, der Feststellung der genozidalen Absicht entgegenstünde.201 Die Verteidigung drang mit diesem Vorbringen jedoch nicht durch. Die Rechtsmittelkammer bestätigte die Auffassung der Strafkammer, dass der Genozidtatbestand die Absicht des Täters erfordert, die Gruppe physisch oder biologisch zu zerstören.202 Zum Nachweis der Zerstörungsabsicht habe die Strafkammer in erster Linie auf die Massaker der VRS an den bosnisch-muslimischen Männern im wehrfähigen Alter abgestellt und auf die Auswirkungen, die diese Tötungen auf das Überleben der bosnisch-muslimischen Gemeinschaft in Srebrenica haben würden.203 Es sei zulässig gewesen, den zwangsweisen Transfer der Frauen, Kinder und Alten als zusätzliches Beweismittel für den Nachweis der Absicht, die Gruppe physisch oder biologisch zu zerstören, heranzuziehen. Nach Einschätzung der Rechtsmittelkammer kann die genozidale Absicht, neben anderen Tatsachen, auch aus der Begehung solcher schuldhafter Taten abgeleitet werden, die selbst keine Tathandlungen im Sinne der Genozidkonvention sind.204 Die Kammer im Blagojevic-Urteil vertrat im Gegensatz dazu den Standpunkt, dass im Rahmen der Zerstörungsabsicht die Zerstörung der Gruppe in ihrer sozialen Existenz ausreichend sein könne. Unter Hinweis auf die abweichende Auffassung des Richters Shahabuddeen in 199
ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-T, Urt. v. 2. August 2001, para. 580; dazu s.o. 3. Teil, II. 1. 200
Ebenda, para. 595; dazu noch einmal ausführlicher s.u. 4. Teil, IV. 2. a) cc).
201
ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-A, Urt. v. 19. April 2004, para. 30. 202
Ebenda, para. 24 f.
203
Ebenda, para. 26 ff.
204
Ebenda, para. 31 ff., mit Hinweis auf das Urteil ICTY, Prosecutor v. Jelesic, Case No. IT-95-10-A, Urt. v. 5. Juli 2005, para. 47; zustimmend ICTY, Prosecutor v. Brdjanin, Case. No. IT-99-36-T, Urt. v. 1. September 2004, para. 693.
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der Rechtsmittelentscheidung im Fall Krstic führte die Kammer aus, dass die in Art. 4 (2) ICTY-Statut normierten Tathandlungen zwar die biologische oder physische Zerstörung der Gruppe beinhalten müssten, dieses für die Absicht jedoch nicht erforderlich sei. Mit Ausnahme der in lit. c) und d) normierten Tathandlungen sei es nicht erforderlich, dass der Täter mit der Absicht gehandelt habe, die Gruppe physisch zu zerstören.205 Während die Tötung eines großen Teils der Gruppe die direkteste Methode sei, eine Opfergruppe zu zerstören, könnten andere Taten ebenfalls zu ihrer Zerstörung führen. Eine Gruppe bestehe nicht nur aus Individuen, sondern auch aus ihrer Geschichte, ihren Traditionen, der Beziehung zwischen ihren Mitgliedern, der Beziehung zu anderen Gruppen und der Beziehung zu ihrem Land. Nach Meinung der Kammer führt die Deportation einer Gruppe mit großer Wahrscheinlichkeit zu ihrer physischen oder biologischen Zerstörung, wenn sie sich infolge dieser Maßnahme nicht rekonstituieren kann – insbesondere, wenn Gruppenmitglieder voneinander getrennt würden. Das Ergebnis der Deportationen sei dann die materielle Zerstörung der Gruppe, da die Gruppe aufhöre, als Gruppe zu existieren oder zumindest als die Gruppe, die sie zuvor war.206 In den übrigen Urteilen der Tribunale zum Genozidtatbestand wird die Auslegung des Merkmals der Zerstörung kurz, indirekt oder überhaupt nicht angesprochen. Wird die Auslegung diskutiert, so ist das Ergebnis mit der bislang herrschenden Meinung konform. In den Fällen Semanza, Kajelijeli, Nahimana, Gacumbitsi und Muhimana erfolgte beispielsweise der kurze Hinweis darauf, dass die Absicht darauf gerichtet sein müsse, die Gruppe physisch oder biologisch zu zerstören.207 Im Urteil gegen Kayishema und Ruzindana hieß es, dass das Merkmal der Zerstörung nicht nur solche Taten erfasse, die mit der Absicht der Todesverursachung begangen wurden, sondern auch solche, die möglicherweise nicht zur Todesverursachung geführt haben, wie etwa sexuel205
ICTY, Prosecutor v. Blagojevic, Case No. IT-02-60-T, Urt. v. 17. Januar 2005, para. 659. 206 207
Ebenda, para. 666.
ICTR, Prosecutor v. Semanza, Case No. ICTR-97-20-T, Urt. v. 15. Mai 2003, para. 315; ICTR, Prosecutor v. Kajelijeli, Case No. ICTR-98-44A-T, Urt. v. 1. Dezember 2003, para. 808; ebenso ICTR, Prosecutor v. Nahimana et al., Case No. ICTR-99-52-T, Urt. v. 3. Dezember 2003, para. 627; ICTR, Prosecutor v. Gacumbitsi , Case. No. ICTR-2001-64-T, Urt. v. 17. Juni 2004, para. 253; ICTR, Prosecutor v. Muhimana, Case No. ICTR-95-1B-T, Urt. v. 28. April 2005, para. 497.
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le Gewalttaten.208 Aus diesen Ausführungen ergibt sich mittelbar, dass nach Auffassung dieser Kammer ebenfalls die physisch-biologische Zerstörung der Opfergruppe das durch die Taten verfolgte Ziel sein muss.
b) Diskussion der Rechtsprechung Fraglich ist, ob der bisherigen Rechtsprechung von ICTY und ICTR darin gefolgt werden kann, dass die Opfergruppe im physisch-biologischem Sinn zerstört werden muss oder ob, so wie im Blagojevic-Urteil vertreten, die Absicht der Zerstörung einer Gruppe in ihrer sozialen Existenz ausreichend sein kann. Die Urteilsbegründung im Fall Blagojevic ist insofern freilich nicht ganz eindeutig. Schließlich stützt die Kammer ihre Argumentation darauf, dass die physische oder biologische Zerstörung der Gruppe die wahrscheinliche Konsequenz von Deportationen sei, sofern die Gruppe sich anschließend nicht rekonstituieren kann. Letztlich ist das Ergebnis dieser Argumentation jedoch, dass die Kammer die Zerstörung einer Gruppe in ihrer sozialen Existenz für die Absicht im Sinne des Genozidtatbestandes ausreichen lässt. Denn für den Fall, dass eine Gruppe bedingt durch ihren gewaltsamen Transfer aufhört als die Gruppe zu existieren, die sie einst war, beziehungsweise sie sich aufgrund der Trennung der Gruppenmitglieder nicht wieder zusammenfinden kann, ist diese Gruppe nicht in ihrer biologischen oder physischen Existenz zerstört, sondern in ihrer sozialen Existenz. Diese Interpretation wird bestätigt durch die Ausführungen des Richters Shahabuddeen in der Rechtsmittelentscheidung im Fall Krstic: „It is the group which is protected. A group is constituted by characteristics – often intangible – binding together a collection of people as a social unit. If those characteristics have been destroyed in pursuance of the intent with which a listed act of a physical or biological nature was done, it is not convincing to say that the destruction, though effectively obliterating the group, is not genocide because the obliteration was not physical or biological.“209
208
ICTR, Prosecutor v. Kayishema & Ruzindana, Case No. ICTR-95-1-T, Urt. v. 21. Mai 1999, para. 95; vgl. auch ICTR, Prosecutor v. Akayesu, Case No. ICTR-96-4-T, Urt. v. 2. September 1998, para. 731. 209
ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-A, Urt. v. 19. April 2004, Partial dissenting opinion of Judge Shahabuddeen, para. 50.
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Das internationale Schrifttum stimmt mit der bislang in der Rechtsprechung der Tribunale herrschenden Auffassung überein – mithin wird für die Zerstörungsabsicht ebenso wie für die Tathandlungen die physische oder biologische Zerstörung der Gruppe gefordert.210 Die deutsche Rechtsprechung und weite Teile der deutschen Literatur treten im Sinne des Blagojevic-Urteils hingegen dafür ein, die Zerstörung der Gruppe in ihrer sozialen Existenz ausreichen zu lassen.211 Auch in der Schweizer Literatur wird die Zerstörung der Gruppe im Sinne der Zerstörung der Gruppe in ihrer sozialen Existenz verstanden.212 Die Zerstörung einer Gruppe als soziale Einheit kann erreicht werden, wenn das gemeinschaftliche Leben der betroffenen Gruppe aufhört, unabhängig davon, ob die einzelnen Mitglieder noch am Leben sind oder nicht.213 Ein Beispiel für diese Konstellation sind ethnische Säuberun210
Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 228 ff.; Tournaye, Genocidal Intent before the ICTY, ICLQ 52 (2003), S. 447 (454); Hoß/Miller, German Federal Constitutional Court and Bosnian War Crimes: Liberalizing Germany’s Genocide Jurisprudence, GYIL 44 (2001), S. 576 (607 ff.); Lehmler, Die Strafbarkeit von Vertreibungen aus ethnischen Gründen im bewaffneten nichtinternationalen Konflikt, 1999, S. 215 ff.; Tomuschat, Die Vertreibung der Sudetendeutschen, ZaöRV 56 (1996), S. 1 (13); MK-StGB-Kreß, § 220 a/§ 6 VStGB, Rn. 71 f.; Verhoeven, Le crime de génocide, originalité et ambiguïté, RBDI 24 (1991), S. 5 (14 ff.); zu einem früheren Zeitpunkt bereits Whitaker, Revised and Updated Report on the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/1985/6, para. 29. 211
BGH, Urt. v. 30. April 1999 – 3 StR 215/98, BGHSt, 45, 64 (80) = NStZ 1999, 396 (401); BVerfG, Beschl. v. 12. Dezember 2000 – 2 BvR 1290/99, NJW 2001, 1848 (1850) = EuGRZ 2001, 76 (78); Safferling, Wider die Feinde der Humanität – der Tatbestand des Völkermordes nach der Römischen Konferenz, JuS 2001, S. 735 (738); Ambos/Wirth, Genocide and War Crimes in the Former Yugoslavia Before German Criminal Courts, in: Fischer/Kreß/Lüders (Hrsg.), International and National Prosecution of Crimes under International Law, 2004, S. 769 (791 ff.); Wirth, Zum subjektiven Tatbestand des Völkermordes – Zerstörungsabsicht und Vertreibungsverbrechen, in: Rill (Hrsg.), Gegen Völkermord und Vertreibung, 2001, S. 59 (72); LK-Jähnke, § 220 a, Rn. 4, 13; Hübner, Das Verbrechen des Völkermordes im internationalen und nationalen Recht, 2004, S. 208 ff.; Lüders, Die Strafbarkeit des Völkermordes nach dem Römischen Statut für den Internationalen Strafgerichtshof, 2004, S. 49 ff.; schon früh Jescheck, Die Internationale Genocidium-Konvention vom 9. Dezember 1948 und die Lehre vom Völkerstrafrecht, ZStW 66 (1954), S. 193 (213). 212 213
Basler Kommentar-Wehrenberg, Art. 264, Rn. 1, 36.
Ambos/Wirth, Genocide and War Crimes in the Former Yugoslavia Before German Criminal Courts, in: Fischer/Kreß/Lüders (Hrsg.), International
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gen, wie sie beispielsweise auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens stattfanden.214 Bei ethnischen Säuberungen ist die Absicht der physischen Gruppenzerstörung in der Regel nicht offensichtlich, die Zerstörung der Gemeinschaft als eine politische, wirtschaftliche oder soziale Einheit steht hingegen außer Frage. Wenn im Kontext der ethnischen Säuberungen einzelne Gruppenmitglieder getötet werden, so kann dies in der Vorstellung geschehen, die Zerstörung der Gruppe als soziale Einheit zu fördern. Der Bundesgerichtshof begründete seine Auffassung, dass die Absicht der Zerstörung der Gruppe in ihrer sozialen Existenz für § 220 a StGB a.F. ausreicht, im Fall Jorgic wie folgt: „Entgegen dem vom Begriff des Völkermordes vorgespiegelten Sinngehalt setzt der Tatbestand des § 220 a StGB nicht zwingend voraus, dass der Täter die körperliche Vernichtung, die physische Zerstörung der Gruppe anstrebt. Es reicht aus, dass er handelt, um die Gruppe in ihrer sozialen Existenz (‚als solche‘), als soziale Einheit in ihrer Besonderheit und Eigenart und in ihrem Zusammengehörigkeitsgefühl zu zerstören ... Die Zerstörungsabsicht wird zwar durch vorsätzliche Tötungshandlungen und durch Beibringen schwerer Körperverletzungen (§ 220 a Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB) besonders deutlich manifestiert; jedoch reichen nach § 220 a Abs. 1 StGB auch andere Maßnahmen aus, die zur Verwirklichung der Absicht bzw. des Ziels, die soziale Identität und Existenz der Gruppe zu zerstören, geeignet sind, indem etwa Kinder der Gruppe gewaltsam in eine andere Gruppe überführt (§ 220 a Abs. 1 Nr. 5 StGB) oder Maßregeln verhängt werden, die Geburten innerhalb der Gruppe verhindern sollen (§ 220 a Abs. 1 Nr. 4 StGB).“215 Das Bundesverfassungsgericht hat das Urteil des Bundesgerichtshofs verfassungsrechtlich gebilligt. Es stimmte mit dem Bundesgerichtshof and National Prosecution of Crimes under International Law, 2004, S. 769 (791 ff.). 214
Zur Problematik der ethnischen Säuberungen im Einzelnen s.o. 3. Teil,
II. 2. 215
BGH, Urt. v. 30. April 1999 – 3 StR 215/98, BGHSt 45, 64 (81) = NStZ 1999, 396 (401); das Gericht geht dabei davon aus, dass der Täter als Mittel der Zerstörung vor allem die in § 220 a I Nr. 1 bis 5 StGB a.F. genannten Handlungen selbst oder durch andere einsetzen wollen muss. Als weitere Mittel werden genannt: Inhaftierung unter unmenschlichen Bedingungen, Zerstörung und Plünderung von Häusern und für die Gruppe wichtigen Gebäuden sowie Vertreibungen von Gruppenangehörigen.
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darin überein, dass durch den Genozidtatbestand ein überindividuelles Rechtsgut, nämlich die Gruppe in ihrer sozialen Existenz, geschützt wird, was im Wortlaut der Norm darin seinen Ausdruck fände, dass die Zerstörungsabsicht sich gegen die Gruppe „als solche“ richten müsse. Zudem sei die in § 220 a StGB a.F. vorausgesetzte Absicht der Zerstörung der Gruppe schon nach dem natürlichen Wortsinn weiter als die physisch-biologische Vernichtung der Gruppe. Das folge auch daraus, dass das Gesetz in § 220 a I Nr. 3 StGB a.F. die Zerstörung mit dem besonderen Attribut „körperlich“ versehe, um damit die besondere Eignung der Tathandlung zur physischen Vernichtung der Gruppe zu bezeichnen.216 In diese Richtung gehend qualifizierte auch die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Jahr 1992 Formen der nicht-physischen Zerstörung als Genozid.217 Dieses weite Verständnis des Zerstörungsbegriffs entspricht ferner der ursprünglichen Konzeption des Genozids von Lemkin. Neben der Zerstörung der politischen Institutionen, der kulturellen Besonderheiten und der wirtschaftlichen Lebensgrundlagen wollte er die Zerstörung einer Gruppe als eigenständige soziale Einheit durch den Genozid erfasst wissen.218 Die physische Zerstörung war
216
BVerfG, Beschl. v. 12. Dezember 2000 – BvR 1290/99, NJW 2001, 1848 (1850) = EuGRZ 2001, 76 (78); in offensichtlicher Anlehnung an Jescheck, Die Internationale Genocidium-Konvention vom 9. Dezember 1948 und die Lehre vom Völkerstrafrecht, ZStW 66 (1954), S. 193 (213). Das BVerfG bestätigte damit ein weites Verständnis der Zerstörungsabsicht im Sinne des Genozidtatbestandes. Letztlich war diese Auslegung allerdings nur ein dictum und kam nicht zur Anwendung, da die Kammer zu dem Ergebnis gelangte, dass die Absicht des Beschwerdeführers auch dem engeren Verständnis, nach dem der Täter die physische Zerstörung der Gruppe erstrebt haben muss, genügte. Vgl. Hoß/ Miller, German Federal Constitutional Court and Bosnian War Crimes: Liberalizing Germany’s Genocide Jurisprudence, GYIL 44 (2001), S. 576 (606). 217
UN Doc. A/RES/47/121: „Gravely concerned about the deterioration of the situation in the Republic of Bosnia and Herzegovina owing to intensified aggressive acts by the Serbian and Montenegrin forces to acquire more territories by force, characterized by a consistent pattern of gross and systematic violations of human rights, a burgeoning refugee population resulting from mass expulsions of defenceless civilians from their homes and the existence in Serbian and Montenegrin controlled areas of concentration camps and detention centres in pursuit of the abhorrent policy of ‘ethnic cleansing’, which is a form a genocide.“ 218
Lemkin, Axis Rule in Occupied Europe, 1944, S. 82 f.
4. Teil
296
nach seiner Vorstellung nur eine unter vielen verschiedenen Methoden.219 Die Völkerrechtskommission sprach sich vor dem Hintergrund der Entstehungsgeschichte der Genozidkonvention im Gegensatz dazu klar für die Auslegung der Zerstörung im physischen oder biologischen Sinn aus: „As clearly shown by the preparatory work for the Convention, the destruction in question is the material destruction of a group either by physical or by biological means, not the destruction of the national, linguistic, religious, cultural or other identity of a particular group. The national or religious element and the racial or ethnic element are not taken into consideration in the definition of the word ‘destruction’, which must be taken only in its material sense, its physical or biological sense.“220 Dem ist mit der derzeit herrschenden Meinung zuzustimmen. Die Einbeziehung der Zerstörung der sozialen Existenz der Gruppe in den Genozidtatbestand überzeugt aus unterschiedlichen Erwägungen nicht. Zunächst spricht der Terminus des Genozids dagegen. Wohnt doch dem Genozid, welcher aus dem griechischen „genos“ (Rasse, Stamm) und dem lateinischen „caedere“ (töten) zusammengesetzt ist, das Element der physischen Zerstörung inne. Dem Wortsinn nach muss der Täter mithin die Absicht haben, die Gruppe physisch oder zumindest biologisch zu vernichten.221 Darüber hinaus zwingt der Zusatz „körperlich“ in lit. c) nicht zu dem Umkehrschluss des Bundesverfassungsgerichts, dass der Begriff der Zerstörung im subjektiven Tatbestand die Gruppe als soziale Einheit erfasst.222 Liegt nicht im Gegenteil der Schluss nahe, dass der Zerstörungsbegriff innerhalb derselben Norm denselben Bedeutungsgehalt hat? Insofern spricht entscheidend für die
219
Ebenda, S. 87 f.
220
Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind, Report of the International Law Commission on the Work of its forty-eighth session, 6 May – 26 July 1996, UN Doc. A/51/10, Art. 17, para. 12. 221
Vgl. ICTY, Prosecutor v. Stakic, Case No. IT-97-24-T, Urt. v. 31. Juli 2003, para. 518; so auch Tomuschat, Die Vertreibung der Sudetendeutschen, ZaöRV 56 (1996), S. 1 (13); a.A. Ambos/Wirth, Genocide and War Crimes in the Former Yugoslavia Before German Criminal Courts, in: Fischer/Kreß/Lüders (Hrsg.), International and National Prosecution of Crimes under International Law, 2004, S. 769 (791 ff.). 222
MK-StGB-Kreß, § 220 a/§ 6 VStGB, Rn. 72.
Subjektive Tatseite von Art. II Genozidkonvention
297
physisch/biologische Begriffsbestimmung, dass in den Verhandlungen zur Genozidkonvention zum Ausdruck kommt, dass die Tätervorstellung stets auf eine in Art. II lit. a) – e) Genozidkonvention normierte Gesamttat gerichtet sein muss.223 Sprich die Absicht des Täters kann nur auf die Art von Zerstörung gerichtet sein, die durch die Tathandlung auch erreicht werden kann – mithin die physische oder biologische Zerstörung der Gruppe. Auch die Begründung des Bundesgerichtshofs, der sich auf die Formulierung von Art. II lit. d) und lit. e) Genozidkonvention stützt, um nachzuweisen, dass Tathandlungen ausreichend sind, die die soziale Identität und Existenz der Gruppe zerstören, überzeugt nicht. Schließlich handelt es sich bei diesen Handlungsalternativen um Formen des biologischen Genozids.224 Des Weiteren stützt wie im Kontext der Diskussion zum Merkmal „als solche“ dargelegt auch dieses Merkmal die Einbeziehung der Absicht der Zerstörung der Gruppe in ihrer sozialen Existenz nicht. Ein weiteres entscheidendes Argument gegen die weite Auslegung des Zerstörungsbegriffs war bislang, dass sie einen Verstoß gegen das geltende Gewohnheitsrecht enthielt. Diesbezüglich stellte die Strafkammer im Fall Krstic mit ausdrücklicher Kritik an der deutschen Rechtsprechung fest: „The Trial Chamber is aware that it must interpret the Convention with due regard for the principle of nullum crimen sine lege. It therefore recognises that, despite recent developments, customary international law limits the definition of genocide to those acts seeking the physical or biological destruction of all or part of the group. Hence, an enterprise attacking only the cultural or sociological characteristics of a human group in order to annihilate these elements which give to that group its own identity distinct from the rest of the community would not fall under the definition of genocide.“225 Im Hinblick auf das Gewohnheitsrecht bleibt allerdings abzuwarten, ob das Blagojevic-Urteil eine Trendwende darstellt.
223
Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 228 ff.; zustimmend MK-StGB-Kreß, § 220 a/§ 6 VStGB, Rn. 72; ders., The Darfur Report and Genocidal Intent, JICJ 3 (2005), S. 562 (564 f.). 224 225
S.o. 3. Teil, I. 4. und 5.
ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-T, Urt. v. 2. August 2001, para. 580.
4. Teil
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Entscheidend spricht gegen die Pönalisierung der Zerstörung einer Gruppe in ihrer sozialen Existenz als Genozid, dass der Genozid die Spitze in der Hierarchie der völkerrechtlichen Verbrechen bildet. Dieser Wertung läuft es zuwider, wenn man die Absicht, die Gruppe in ihrer sozialen Existenz zu zerstören, für die subjektive Tatseite ausreichen lässt. Unter dem Gesichtspunkt der Strafwürdigkeit ist es anders zu bewerten, ob die Täter darauf abzielen, etwa durch Deportationen aus einem bestimmten Gebiet, eine Gruppe als soziales Gefüge zu zerstören, oder aber, ob die Motivation darin liegt, die Gruppe auszurotten. Der Wertungsunterschied resultiert insbesondere daraus, dass der Auflösung einer Gruppe in ihrer sozialen Existenz nicht die gleiche Endgültigkeit innewohnt wie der physischen oder biologischen Vernichtung. In vielen Fällen werden die entsprechenden Taten eng zusammenhängen und der Unterschied marginal erscheinen, aber er besteht.226 Die Strafkammer im Fall Kupreskic betonte im Rahmen der Abgrenzung des Genozids zu dem Verbrechen der Vertreibungen ebenfalls, dass der Genozid gerade wegen der erforderlichen Absicht, eine Gruppe physisch zu zerstören, ein spezielles Unwerturteil rechtfertige: „In the crime of persecution, this discriminatory intent is aggressively achieved by grossly and systematically trampling upon the fundamental human rights of the victim group. Persecution is only one step away from genocide – the most abhorrent crime against humanity – for in genocide the persecutory intent is pushed to its uttermost limits through the pursuit of the physical annihilation of the group or of members of the group.“227 Insgesamt ist aus den genannten Gründen der herrschenden Meinung darin zuzustimmen, dass die Absicht darauf gerichtet sein muss, die Opfergruppe physisch oder biologisch zu zerstören.
2. Erforderlicher Umfang der Zerstörung a) Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale Zu prüfen ist weiterhin die Frage nach dem für die Zerstörungsabsicht erforderlichen Umfang der Zerstörung. Soweit die Rechtsprechung der 226
In diese Richtung auch Burg/Shoup, The War in Bosnia-Herzegovina, 1999, S. 183 f. 227
ICTY, Prosecutor v. Kupreskic, Case No. IT-95-16-T, Urt. v. 14. Januar 2000, para. 751.
Subjektive Tatseite von Art. II Genozidkonvention
299
UN ad hoc-Tribunale sich mit dieser Frage auseinandersetzt, ist sie sich – in Konformität mit dem Wortlaut der Konvention – darin einig, dass die Absicht nicht darauf gerichtet sein muss, jedes Mitglied der Opfergruppe zu zerstören. Ferner wurde in vielen Urteilen das Kriterium genannt, dass es sich bei dem jeweiligen Gruppenteil um einen „substantial part“ der Opfergruppe gehandelt haben müsse.228 Das Urteil im Fall Kayishema und Ruzindana sprach abweichend von einer „considerable number“ von Gruppenmitgliedern,229 wobei es sich allerdings um einen rein semantischen Unterschied handeln dürfte.230 In Abweichung zu dieser Tendenz wurde im Fall Krstic die teilweise „Zerstörung“ von der Strafkammer mit keinem weiteren Attribut versehen.231 Die Rechtsmittelkammer forderte jedoch wiederum, dass der betroffene Gruppenteil wesentlich genug sein müsse, um die Gruppe als Ganzes zu beeinflussen.232 Die Tribunale waren sich zudem darin einig, dass die Opfergruppe durch geografische Kriterien begrenzt sein kann.233 Eine vertief228
ICTR, Prosecutor v. Bagilishema, Case No. ICTR-95-1A-T, Urt. v. 7. Juni 2001, para. 64; ICTY, Prosecutor v. Jelesic, Case No. IT-95-10-T, Urt. v. 14. Dezember 1999, para. 80 ff.; ICTY, Prosecutor v. Sikirica et al., Case No. IT-95-8-T, Urt. v. 3. September 2001, para. 65; ICTR, Prosecutor v. Semanza, Case No. ICTR-97-20-T, Urt. v. 15. Mai 2003, para. 316; ICTR, Prosecutor v. Muhimana, Case. No. ICTR-95-1B-T, Urt. v. 28. April 2005, para. 498, 514; ICTR, Prosecutor v. Gacumbitsi, Case. No. ICTR-2001-64-T, Urt. v. 17. Juni 2004, para. 253, 258; in diese Richtung auch ICTR, Prosecutor v. Kajelijeli, Case No. ICTR-98-44A-T, Urt. v. 1. Dezember 2003, para. 809; und ICTR, Prosecutor v. Kamuhanda, Case No. ICTR-95-54A-T, Urt. v. 22. Januar 2004, para. 628. 229
ICTR, Prosecutor v. Kayishema & Ruzindana, Case No. ICTR-95-1-T, Urt. v. 21. Mai 1999, para. 96 f. 230
Vgl. auch Alonzo-Maizlish, In Whole or in Part: Group Rights, the Intent Element of Genocide and the „Quantitative Criterion”, New York University Law Review 77 (2002), S. 1369 (1393). 231
ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-T, Urt. v. 2. August 2001, para. 581 ff. (590). 232
ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-A, Urt. v. 19. April 2004, para. 8 ff. 233
Vgl. ICTY, Prosecutor v. Jelesic, Case No. IT-95-10-T, Urt. v. 14. Dezember 1999, para. 83; ICTY, Prosecutor v. Sikirica et al., Case No. IT-95-8-T, Urt. v. 3. September 2001, para. 68; ICTY, Prosecutor v. Stakic, Case No. IT-97-24T, Urt. v. 31. Juli 2003, para. 523, wobei das Stakic-Urteil Vorsicht anmahnt, wenn die geografische Region nur ein kleines Gebiet ist, wie eine Gemeinde; ICTY, Prosecutor v. Brdjanin, Case No. IT-99-36-T, Urt. v. 1. September 2004,
300
4. Teil
te Untersuchung der Frage, welchen Umfang die in Rede stehende Tat haben muss, damit sie als Genozid bezeichnet werden kann, erfolgte durch das ICTY in den Urteilen gegen Jelesic, Sikirica und Krstic, die im Folgenden dargestellt und diskutiert werden.
aa) Prosecutor v. Goran Jelesic Die im Fall Jelesic entscheidende Kammer wies zunächst darauf hin, dass die Absicht nach weithin anerkannter Auffassung darauf gerichtet sein müsse, einen substantiellen Teil der Gruppe zu zerstören. Diese Absicht könne sich auf zwei verschiedene Arten und Weisen niederschlagen. Einerseits könne sie in dem Wunsch bestehen, einen großen Teil der Gruppenmitglieder auszulöschen; andererseits könne auch die Zerstörung einer geringeren Anzahl von Personen beabsichtigt sein, welche aufgrund der Auswirkungen ausgewählt wurden, die ihr Verschwinden auf das Überleben der Gruppe als solcher haben würde, beispielsweise die Führungsriege.234 Dementsprechend kann nach Auffassung dieser Kammer die Bestimmung der zur Zerstörung ausgewählten Teilgruppe anhand von quantitativen oder qualitativen Merkmalen vorgenommen werden. Die Möglichkeit des Genozids an einer durch geografische Kriterien begrenzten Opfergruppe wurde in diesem Urteil zum Völkergewohnheitsrecht erklärt.235 Dieselbe Kammer hatte bereits in der Rule 61-Entscheidung gegen Nikolic entschieden, dass eine Anklage wegen Genozids aufgrund der in einer bestimmten Region begangenen Verbrechen zulässig ist.236
para. 703; ICTR, Prosecutor v. Akayesu, Case No. ICTR-96-4-T, Urt. v. 2. September 1998, para. 48 f., 129, 675, 734, wobei die Kennzeichnung der Opfergruppe durch geografische Kriterien hier nur indirekt anerkannt wurde, indem die Kammer Akayesu für solche Taten wegen Genozids verurteilte, die er in einer einzigen Kommune verübt hatte. 234
ICTY, Prosecutor v. Jelesic, Case No. IT-95-10-T, Urt. v. 14. Dezember 1999, para. 82; zustimmend ICTR, Prosecutor v. Kajelijeli, Case No. ICTR-9844A-T, Urt. v. 1. Dezember 2003, para. 806; und ICTR, Prosecutor v. Kamuhanda, Case No. ICTR-95-54A-T, Urt. v. 22. Januar 2004, para. 625. 235
ICTY, Prosecutor v. Jelesic, Case No. IT-95-10-T, Urt. v. 14. Dezember 1999, para. 83. 236
ICTY, Prosecutor v. Nikolic, Case No. ICTY-94-2-R61, Review of the Indictment Pursuant to Rule 61 of the Rules of Procedure and Evidence, 20. Oktober 1995, para. 34.
Subjektive Tatseite von Art. II Genozidkonvention
301
Die Gruppe der bosnischen Muslime in der Stadt Brcko in BosnienHerzegowina war im Fall Jelesic die Bezugsgruppe. Die Kammer kam zu dem Ergebnis, dass den serbischen Streitkräften der Genozid an der muslimischen Bevölkerung in Brcko nicht nachgewiesen werden konnte.237 Bei den Exhumierungen wurden etwa 66 Leichen in Massengräbern gefunden, während die muslimische Gesamtbevölkerung sich auf circa 22.000 Personen belief.238 Die Staatsanwaltschaft hatte Listen mit ungefähr 100 Personen präsentiert, die zur Tatzeit getötet worden sein sollen. Darunter waren 39 Personen, welche zum Großteil entweder der lokalen Verwaltung oder politischen Organisationen angehörten.239 Die Möglichkeit der quantitativen Gruppenzerstörung wurde von der Kammer nicht geprüft, wahrscheinlich wegen der relativ geringen Opferzahlen. Die Richter sahen jedoch auch die auf eine qualitative Teilgruppe gerichtete Zerstörungsabsicht der Täter nicht als erwiesen an. Auf welcher Grundlage die Opfer ausgewählt wurden, sei nicht eindeutig, hieß es. Man könne nicht zweifelsfrei zu dem Schluss gelangen, dass die Opfer zur Zerstörung ausgewählt wurden, weil sie die repräsentativsten Mitglieder der muslimischen Gemeinschaft in Brcko waren und auf diese Weise das Überleben der Gemeinschaft gefährdet werden sollte.240 Insgesamt war nach Auffassung der Kammer die Absicht der serbischen Streitkräfte daher nicht auf die Zerstörung einer den Anforderungen des Genozidtatbestandes genügenden Teilgruppe gerichtet.
bb) Prosecutor v. Dusko Sikirica Das Urteil im Fall Sikirica stimmte mit dem Urteil im Fall Jelesic überein. Die Kammer forderte gleichermaßen, dass sich die Zerstörungsabsicht auf einen substantiellen Gruppenteil beziehen muss und stellte zur Qualifizierung der relevanten Teilgruppe ebenfalls auf quantitative und qualitative Merkmale ab. Entweder müsse eine im Verhältnis zur gesamten Gruppe substanzielle Anzahl von Personen betroffen sein oder ein bedeutsamer Teil der Bevölkerung. Dabei können nach Auffassung der Kammer beide Elemente alternativ oder kumulativ zum Nachweis
237
ICTY, Prosecutor v. Jelesic, Case No. IT-95-10-T, Urt. v. 14. Dezember 1999, para. 88 ff. 238
Ebenda, para. 90 f., Fn. 128.
239
Ebenda, para. 91.
240
Ebenda, para. 93.
4. Teil
302
der Absicht herangezogen werden.241 Zudem stimmte die Kammer mit der Auffassung überein, dass die relevante Gruppe durch geografische Kriterien begrenzt sein kann, sei es ein Land, eine Region oder eine einzelne Gemeinde. Es müsse sich allerdings um eine – wenn auch beschränkte – geografische Region handeln. Das Konzentrationslager Keraterm in Prijedor war nach dem Verständnis der Kammer keine dementsprechende geografische Region.242 Konkrete Bezugsgruppen waren im Verfahren gegen Sikirica die muslimische und die kroatische Bevölkerung in Prijedor. Die Frage, ob der zur Zerstörung ausgewählte Gruppenteil in quantitativer Hinsicht groß genug war, beantworteten die Richter mit Hilfe einer mathematischen Kalkulation. Sie verglichen die muslimische und kroatische Gesamtbevölkerung in Prijedor zur Tatzeit mit der Anzahl der Opfer im Sinne des Genozidtatbestandes. Dem Genozid waren ca. 1.000-1.400 Muslime bei einer muslimischen Gesamtbevölkerung von 49.351 Personen zum Opfer gefallen. Das entspricht einem Anteil von 2-2,8 % der Gesamtbevölkerung, was nach Einschätzung der Kammer schwerlich als „reasonably substantial part“ angesehen werden konnte.243 Angesichts der Tatsache, dass die Zahl der kroatischen Opfer noch geringer war, wurde auch insofern ein Genozid an einer quantitativen Teilgruppe verneint.244 Die Richter gingen sogar so weit, die Zahl der Opfer als vernachlässigenswert zu bezeichnen.245 Die Kammer räumte zwar ein, dass geringe Opferzahlen der Annahme der Zerstörungsabsicht nicht notwendig entgegenstehen. Insgesamt handelte es sich nach ihrer Auffassung im Fall Sikirica jedoch nicht zweifelsfrei um einen Fall, in dem die Absicht, eine angemessen substantielle Anzahl von Personen zu zerstören, sachgemäß dargelegt werden konnte.246 An diese Feststellung schloss sich die Prüfung an, ob sich die Zerstörungsabsicht auf einen in qualitativer Hinsicht bedeutsamen Gruppenteil bezog, konkret die Führungsriege.247 Entscheidend sei hierbei, ob
241
ICTY, Prosecutor v. Sikirica et al., Case No. IT-95-8-T, Urt. v. 3. September 2001, para. 65. 242
Ebenda, para. 68.
243
Ebenda, para. 72.
244
Ebenda, para. 73.
245
Ebenda, para. 74.
246
Ebenda, para. 75.
247
Ebenda, para. 76.
Subjektive Tatseite von Art. II Genozidkonvention
303
der selektiv zur Zerstörung ausgewählte Gruppenteil wegen seiner besonderen Qualitäten Einfluss auf das Überleben der Gruppe als solcher haben würde.248 Zu diesem Zweck prüfte die Kammer, ob die Opfer aufgrund ihrer Amtspflichten oder ihrer Persönlichkeit das Handeln und die Ansichten der in Rede stehenden Gruppen lenkten.249 Sie stellte jedoch fest, dass es wenig Hinweise auf die Führereigenschaft der Opfer gab. Für die Qualifizierung als Führer sei es nicht ausreichend, dass ein Teil der Opfer an der militärischen Verteidigung ihrer Dörfer teilgenommen hatte.250 Auch im Hinblick auf die bosnischen Kroaten gab es nach Meinung der Kammer keinen Hinweis darauf, dass ein für die Gruppe bedeutsamer Teil angegriffen worden war.251 Dementsprechend lehnten die Richter die Annahme der qualitativen Opferauswahl durch die Täter ebenfalls ab.
cc) Prosecutor v. Radislav Krstic Im Fall Krstic kam es unter anderem wegen der Frage, wie groß der zur Zerstörung ausgewählte Gruppenteil sein muss, zu einem Rechtsmittelverfahren. Die Strafkammer hatte einen anderen Weg als die bisherigen Urteile zur Auslegung der „teilweisen“ Zerstörung eingeschlagen. Sie hatte nicht darauf abgestellt, dass sich die Zerstörungsabsicht auf einen substantiellen Teil der Gruppe bezogen haben muss, sondern die Richter wiesen zunächst darauf hin, dass ihnen in der Einschätzung der für die teilweise Zerstörung erforderlichen Größe der Teilgruppe Ermessensspielraum eingeräumt sei. Dieser Ermessensspielraum müsse in Übereinstimmung mit dem Ziel und Zweck der Konvention ausgeübt werden, welcher darin bestehe, ein bestimmtes Verhalten zu kriminalisieren, das gegen die Existenz der geschützten Gruppen als solcher gerichtet ist. Deshalb war die Strafkammer der Meinung, dass die Absicht, eine Gruppe teilweise zu zerstören, auf einen spezifischen Gruppenteil gerichtet sein müsse und nicht auf eine Vielzahl von Personen innerhalb der Gruppe. Entscheidend sei, ob die Täter den zur Zerstörung ausge-
248
Ebenda, para. 77.
249
Ebenda, para. 78.
250
Ebenda, para. 81.
251
Ebenda, para. 83.
4. Teil
304
wählten Gruppenteil als eine abgrenzbare Einheit ansähen, welche als solche zerstört werden soll.252 Zur Problematik der durch geografische Kriterien begrenzten Opfergruppe führte die Strafkammer aus: „A campaign resulting in the killings, in different places spread over a broad geographical area, of a finite number of members of a protected group might thus not qualify as genocide, despite the high total number of casualties, because it would not show an intent by the perpetrators to target the very existence of the group as such. Conversely, the killing of all members of the part of a group located within a small geographical area, although resulting in a lesser number of victims, would qualify as genocide if carried out with the intent to destroy the part of the group as such located in this small geographical area.“253 In der Tat könne die physische Zerstörung nur auf einen Teil des durch geografische Kriterien begrenzten Teils der größeren Opfergruppe gerichtet sein, sofern dies nach Auffassung der Täter ausreiche, um die Gruppe als bestimmte Einheit innerhalb der betreffenden geografischen Region zu zerstören.254 Die Problematik im Fall Krstic bestand darin, dass nur bosnisch-muslimische Männer im wehrfähigen Alter aus Srebrenica getötet worden waren, sodass die Kammer prüfen musste, ob diese Teilgruppe einen ausreichenden Gruppenteil repräsentierte.255 Den Tötungen fielen schätzungsweise zwischen 7.000 und 8.000 Männer zum Opfer, während etwa 25.000 Frauen, Kinder und Alte aus Srebrenica deportiert wurden. Die Gesamtbevölkerung belief sich auf ungefähr 40.000 Menschen.256 252
ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-T, Urt. v. 2. August 2001, para. 590; zustimmend ICTY, Prosecutor v. Stakic, Case No. IT-97-24-T, Urt. v. 31. Juli 2003, para. 524; ICTY, Prosecutor v. Brdjanin, Case No. IT-99-36-T, Urt. v. 1. September 2004, para. 700. 253
ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-T, Urt. v. 2. August 2001, para. 590; ebenso ICTY, Prosecutor v. Stakic, Case No. IT-97-24-T, Urt. v. 31. Juli 2003, para. 524; ICTY, Prosecutor v. Brdjanin, Case No. IT-99-36-T, Urt. v. 1. September 2004, para. 703. 254
ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-T, Urt. v. 2. August 2001, para. 590. 255
Vgl. ebenda, para. 581.
256
Ebenda, para. 592.
Subjektive Tatseite von Art. II Genozidkonvention
305
In der Anklageschrift wurden die bosnischen Muslime als Tatobjekte identifiziert; dem schloss sich die Strafkammer an.257 Dabei stellte die Anklage von vornherein klar, dass Krstic nicht mit der Absicht gehandelt hatte, die gesamte Gruppe der bosnischen Muslime auszulöschen.258 Nach Auffassung der Strafkammer waren die bosnischen Muslime aus Srebrenica bzw. die bosnischen Muslime aus Ost-Bosnien die angegriffene Teilgruppe.259 Die Kammer sah es als erwiesen an, dass die Absicht der bosnisch-serbischen Streitkräfte darauf gerichtet gewesen war, alle bosnischen Muslime in Srebrenica als Gemeinschaft auszulöschen.260 Es sei zwar richtig, dass sich die Tathandlungen nur gegen Männer im wehrfähigen Alter gerichtet hatten, beachtet werden müsse jedoch, dass diese Massaker während der Deportation der übrigen bosnisch-muslimischen Bevölkerung stattfanden. Nach Einschätzung der Kammer konnte es den bosnisch-serbischen Streitkräften nicht entgangen sein, welchen dauerhaften Einfluss die selektive Zerstörung der Gruppe auf die gesamte (Teil)Gruppe haben würde. Durch den Tod der bosnisch-muslimischen Männer sei jeder Versuch der bosnischen Muslime (aus Srebrenica) ausgeschlossen worden, ihr Territorium zurückzuerobern. Die Kammer war ferner der Auffassung, dass die bosnischserbischen Streitkräfte sich der katastrophalen Auswirkungen bewusst gewesen sein mussten, die das Verschwinden von drei Generationen von Männern auf das Überleben einer traditionell patriarchalischen Gesellschaft hat. Die bosnisch-serbischen Streitkräfte hätten gewusst, dass die Tötung der Männer im wehrfähigen Alter in Kombination mit den Deportationen unvermeidbar zum Verschwinden der bosnisch-musli-
257
Ebenda, para. 558, 560, 591; später definierte die Anklage die bosnischen Muslime in Srebrenica und schließlich die bosnischen Muslime aus Ost-Bosnien als Zielobjekte der Vernichtung, ebenda, para. 558, 591. 258
ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33, Amended Indictment, 27. November 1999. 259
ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-T, Urt. v. 2. August 2001, para. 558, 560. Die Strafkammer äußerte sich zu der Beziehung zwischen diesen Teilgruppen zwar nicht eindeutig, aus dem Urteil geht jedoch hervor, dass die Bezeichnung „bosnische Muslime aus Srebrenica“ als Abkürzung für die Muslime aus Srebrenica und den angrenzenden Gebieten verwendet wurde, von denen die meisten zur Zeit des Angriffs der bosnischen Serben Zuflucht in der Enklave gesucht hatten, ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-A, Urt. v. 19. April 2004, para. 15, Fn. 24. 260
ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-T, Urt. v. 2. August 2001, para. 594.
4. Teil
306
mischen Bevölkerung aus Srebrenica führen würde.261 Zudem verwies die Kammer auf die große strategische Bedeutung, die Srebrenica für die bosnisch-serbische Führung hatte, weil die Enklave zwischen zwei serbischen Gebieten lag. Ohne die Gebietsherrschaft über Srebrenica hätte der Plan einer ethnisch reinen und zusammenhängenden „Republika Srpska“ nicht realisiert werden können, da das serbische Gebiet zweigeteilt geblieben wäre.262 Durch die Tötung aller Männer im wehrfähigen Alter hätten die bosnischen Serben die Gemeinschaft der bosnischen Muslime in Srebrenica als solche wirksam zerstört.263 Als Ergebnis hielt die Kammer fest, dass die Absicht, alle bosnischmuslimischen Männer im wehrfähigen Alter (aus Srebrenica) zu töten, die Absicht enthielt, einen Teil der bosnischen Muslime (die bosnischen Muslime aus Srebrenica) zu zerstören. Die bosnischen Muslime ordnete sie ihrerseits den Schutzgruppen der Genozidkonvention zu.264 Insgesamt qualifizierte sie die in Rede stehende Tat als Genozid.265 Die Verteidigung griff das Urteil der ersten Instanz dahin gehend an, dass die Kammer den betroffenen Gruppenteil, wegen dessen beabsichtigter Zerstörung Krstic verurteilt wurde, unannehmbar eng definiert habe. Dabei brachte die Verteidigung nicht vor, dass die Feststellung der Strafkammer, dass die bosnischen Muslime aus Srebrenica ein wesentlicher Gruppenteil waren, im Widerspruch zu Art. 4 ICTY-Statut gestanden hätte. Vielmehr vertrat die Strafkammer nach Ansicht der Verteidigung eine unzulässige Argumentation, indem sie die Teilgruppe der bosnisch-muslimischen Männer im wehrfähigen Alter mit der Gruppe der bosnischen Muslime aus Srebrenica ins Verhältnis setzte, um das Kriterium der Wesentlichkeit zu überprüfen. Nach Meinung der Verteidigung wäre das Kriterium der Wesentlichkeit nicht erfüllt gewesen, wenn die Strafkammer den richtigen Ansatz angewendet und die Männer im wehrfähigen Alter ins Verhältnis zur Gesamtgruppe der bosnischen Muslime gesetzt hätte.266
261
Vgl. hierzu und im Folgenden ebenda, para. 595.
262
Ebenda, para. 12, 17.
263
Ebenda, para. 597.
264
Ebenda, para. 598.
265
Ebenda, para. 599.
266
ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-A, Urt. v. 19. April 2004, para. 18.
Subjektive Tatseite von Art. II Genozidkonvention
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Die Rechtsmittelkammer griff in ihrer Argumentation im Gegensatz zur Strafkammer das in der Rechtsprechung bis dato regelmäßig vertretene Kriterium der Wesentlichkeit wieder auf. Die Feststellung, wann der angegriffene Gruppenteil für die Erfüllung des Genozidtatbestandes wesentlich genug war, könne eine Reihe von Erwägungen erforderlich machen. Die zahlenmäßige Größe des angegriffenen Gruppenteils sei ein notwendiger und wichtiger Ausgangspunkt, aber nicht in allen Fällen der Endpunkt der Untersuchung. Die Zahl der Opfer dürfe nicht nur absolut gewichtet, sondern müsse auch ins Verhältnis zur Größe der Gesamtgruppe gesetzt werden. Außerdem war auch die Rechtsmittelkammer der Auffassung, dass die Bedeutung der Teilgruppe für die Gesamtgruppe ein wichtiges Kriterium sein kann.267 Zudem würden die historischen Beispiele von Genozid nahe legen, dass das Gebiet, das unter der Kontrolle des Täters steht, ebenso berücksichtigt werden müsse, wie die mögliche Reichweite seiner Handlungen. Die Zerstörungsabsicht des Täters werde immer auch durch seine tatsächlichen Möglichkeiten beschränkt.268 Schließlich stellte die Rechtsmittelkammer klar, dass diese Überlegungen weder erschöpfend noch abdingbar seien. Bei ihnen handele es sich um nützliche Richtlinien, wobei die Anwendbarkeit der einzelnen Gesichtspunkte ebenso wie ihre Bedeutung von den Umständen des jeweiligen Einzelfalles abhängige.269 Im Hinblick auf den konkreten Fall räumte die Rechtsmittelkammer zwar ein, dass die bosnischen Muslime aus Srebrenica zur Tatzeit nur einen kleinen Anteil der gesamten bosnisch-muslimischen Bevölkerung aus Srebrenica ausmachten. Sie stimmte jedoch darin mit der Strafkammer überein, dass für die Bedeutung der bosnisch-muslimischen Bevölkerung aus Srebrenica die genannten strategischen Erwägungen eine wesentliche Rolle spielten.270
267
Ebenda, para. 12. Allerdings machte die Rechtsmittelkammer dazu folgende Anmerkung, ebenda, Fn. 22: „The Trial Chambers in Jelesic and Sikirica referred to this factor as an independent consideration which is sufficient in and of itself, to satisfy the requirement of substantiality. See Jelesic Trial Judgement, para. 82; Sikirica Trial Judgement, para. 65. Properly understood, this factor is only one of several which may indicate whether the substantiality requirement is satisfied.“ 268
ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-A, Urt. v. 19. April 2004, para. 13. 269
Ebenda, para. 14.
270
Ebenda, para. 15 ff.
4. Teil
308
Dem Vorbringen der Verteidigung, dass die Strafkammer den betroffenen Gruppenteil unannehmbar eng definiert habe, hielt die Rechtsmittelkammer überzeugend entgegen, dass die Verteidigung die Argumentation der Strafkammer falsch verstanden habe. Die Strafkammer habe festgestellt, dass die bosnischen Muslime aus Srebrenica die Teilgruppe waren, die Krstic zerstören wollte. Die bosnisch-muslimischen Männer im wehrfähigen Alter seien von der Strafkammer nicht als weitere Teilgruppe im Sinne von Art. 4 ICTY-Statut angesehen worden.271 Vielmehr hätte die Strafkammer die Tötung der Männer im wehrfähigen Alter als Nachweis dafür herangezogen, dass Krstic und die Hauptverantwortlichen der VRS die erforderliche Absicht hatten, die bosnischen Muslime in Srebrenica, als die im Sinne von Art. 4 ICTY-Statut einzig relevante Teilgruppe, zu zerstören.272 Die Beweisführung der Strafkammer war nach Auffassung der Rechtsmittelkammer nicht zu beanstanden.273 Die Strafkammer sei allerdings in ihrer Begründung teilweise unklar gewesen und hätte sich vorsichtiger ausdrücken müssen. Die gesamte Diskussion mache indessen deutlich, dass die Strafkammer die bosnischen Muslime aus Srebrenica als einen wesentlichen Gruppenteil identifiziert habe.274 Insgesamt kam die Rechtsmittelkammer zu dem Ergebnis, dass die Verurteilung des Massakers von Srebrenica als Genozid zutreffend war und lehnte die Berufung der Verteidigung aus dem Grund der falschen Interpretation der Teilgruppe dementsprechend ab.275
b) Diskussion der Rechtsprechung aa) Erforderlicher Umfang der Zerstörung Im Folgenden wird die Rechtsprechung des ICTY und des ICTR im Hinblick auf die Frage diskutiert, welchen Umfang der zur Zerstörung ausgewählte Gruppenteil haben muss. Wichtig ist es, die Problematik, wie groß die intendierte Opferzahl für die Zerstörung im Sinne des subjektiven Tatbestandes sein muss, von derjenigen zu unterscheiden, wie 271
Hervorhebung durch die Verf.
272
ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-A, Urt. v. 19. April 2004, para. 19. 273
Ebenda, para. 20 f.
274
Ebenda, para. 22.
275
Ebenda, para. 23, 37 f.
Subjektive Tatseite von Art. II Genozidkonvention
309
viele Gruppenmitglieder auf der objektiven Tatseite für die tatbestandliche Vollendung betroffen sein müssen. Die Quantität der Getöteten oder Verletzten ist eine wichtige materiell-rechtliche Frage, die mit der Prüfung, ob der Täter die für die subjektive Tatseite erforderliche Absicht hatte, nicht verwechselt werden darf.276 Zulässig ist es indessen, die tatsächliche Opferzahl zum Zweck des Nachweises der Zerstörungsabsicht heranzuziehen.277 Schon dem Wortlaut der Konvention kann entnommen werden, dass, so wie auch von der Rechtsprechung vertreten, die tatsächliche Zerstörung der Opfergruppe für die Erfüllung des Genozidtatbestandes keine Voraussetzung ist.278 Problematisch ist indessen, dass die Wendung „teilweise“ sehr unpräzise ist. Der Konventionstext enthält keinen Hinweis darauf, was mit der teilweisen Zerstörung der Gruppe gemeint ist. Es gibt keine festgelegte Mindestanzahl an für den Genozidtatbestand notwendigen Opfern.279 Mangels einer entsprechenden normativen Festlegung steht es bislang im Ermessen der Gerichte zu entscheiden, ob die Absicht der Täter im Einzelfall auf eine ausreichende Anzahl von Personen gerichtet war. Bei der Ermessensausübung können die im Einzelfall geforderten Opferzahlen variieren.280 Fraglich ist, wie der bestehende Ermessensspielraum ausgefüllt werden muss. Die Verbrechenselemente zu Art. 6 ICC-Statut enthalten hierzu keinen Hinweis. Die Auslegung der Völkerrechtskommission war für 276
Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 233 f.; Kreß, The Crime of Genocide under International Law, International Criminal Law Review 6 (2006), S. 461 (489), weist ebenfalls darauf hin, dass für die Erfüllung des Tatbestandes die tatsächliche Zerstörung eines Gruppenteils keine Voraussetzung ist. 277
Vgl. ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-A, Urt. v. 19. April 2004, para. 19 ff.; ICTR, Prosecutor v. Gacumbitsi, Case. No. ICTR-2001-64-T, Urt. v. 17. Juni 2004, para. 253; so auch Whitaker, Revised and Updated Report on the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/1985/6, para. 29. 278
Verhoeven, Le crime de génocide, originalité et ambiguïté, RBDI 24 (1991), S. 5 (18). 279
Vgl. ICTR, Prosecutor v. Semanza, Case No. ICTR-97-20-T, Urt. v. 15. Mai 2003, para. 316; ICTR, Prosecutor v. Kajelijeli, Case No. ICTR-9844A-T, Urt. v. 1. Dezember 2003, para. 809; ICTR, Prosecutor v. Kamuhanda, Case No. ICTR-95-54A-T, Urt. v. 22. Januar 2004, para. 628; s. a. Verhoeven, Le crime de génocide, originalité et ambiguïté, RBDI 24 (1991), S. 5 (18). 280
Ratner/Abrams, Accountability for Human Rights Atrocities in International Law, 2001, S. 38 f.
310
4. Teil
die Rechtsprechung von ICTY und ICTR offensichtlich richtungweisend und wurde auch vom ICJ bestätigt.281 In ihrem Kommentar zum Draft Code aus dem Jahr 1996 vertritt die ILC die Ansicht, dass die Absicht schon wegen der Natur des Genozidtatbestandes darauf gerichtet sein müsse, zumindest einen wesentlichen Teil einer bestimmten Gruppe zu zerstören.282 Ebenfalls als Orientierung diente der Rechtsprechung der zweite UN-Sonderbericht, in dem der Sonderberichterstatter Whitaker die Auffassung vertrat, dass für die teilweise Zerstörung eine im Verhältnis zur Gesamtgröße der Gruppe halbwegs bedeutsame Anzahl von Personen betroffen sein müsse oder ein für den Bestand der Gruppe wichtiger Teil, wie die Führungsriege.283 Diese Interpretation wurde von der Expertenkommission zur Situation im ehemaligen Jugoslawien in ihrem Abschlussbericht bestätigt und weiter ausgeführt. Die Absicht, einen bestimmten Teil einer Gruppe, wie ihre politische, administrative, religiöse, intellektuelle oder wirtschaftliche Führung, zu zerstören, könne unabhängig von der tatsächlichen Opferzahl ein deutlicher Hinweis auf einen Genozid sein. Der Angriff auf die Führungsriege müsse im Kontext des Schicksals der übrigen Gruppe bewertet werden. Wenn die Führungsriege einer Gruppe ausgelöscht werde und im Zuge dessen eine große Anzahl ihrer Mitglieder getötet oder anderen Grausamkeiten, wie Deportationen, unterworfen werde, müssten alle Verletzungen in ihrer Gesamtheit betrachtet werden, um die Bestimmungen der Konvention in Übereinstimmung mit dem Zweck des Vertrages auszulegen. Gleichermaßen könne es ausreichen, wenn das militärische Personal einer Gruppe ausgelöscht und die Gruppe hierdurch insgesamt wehrlos gegen andere Angriffe werde.284
281
ICJ, Case Concerning the Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, Urt. v. 26. Februar 2007, para. 198. 282
Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind, Report of the International Law Commission on the Work of its forty-eighth session, 6 May – 26 July 1996, UN Doc. A/51/10, Art. 17, para. 8. 283
Whitaker, Revised and Updated Report on the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/ 1985/6, para. 29; zustimmend Shaw, Genocide and International Law, in: Dinstein (Hrsg.), International Law at a Time of Perplexity, 1989, S. 797 (806). 284
Final Report of the Commission of Experts Established pursuant to Security Council Resolution 780 (1992), UN Doc. S/1994/674, para. 94.
Subjektive Tatseite von Art. II Genozidkonvention
311
In der US-amerikanischen Genozidgesetzgebung ist normiert, dass die Absicht des Täters darin bestehen muss, die Gruppe ganz oder zu einem „substantial part“ zu zerstören. „Substantial part“ wird definiert als Teil einer Gruppe von solch numerischer Bedeutung, dass die Zerstörung oder der Verlust dieses Teils die Zerstörung der Gruppe als lebensfähige Einheit innerhalb der Nation verursachen würde, der die Gruppe angehört.285 Während der Vorarbeiten zum ICC-Statut gab es ebenfalls in diese Richtung gehende Bestrebungen. Gefordert wurde, in Art. 6 ICC-Statut den klärenden Zusatz aufzunehmen, dass „die Absicht, eine Gruppe teilweise zu zerstören“ sich auf die „Zerstörung von mehr als einer kleinen Anzahl von Gruppenmitgliedern“ beziehen muss.286 Im Gegensatz zu dem sehr engen, rein quantitativen Ansatz reicht es entsprechend dem in der deutschen Rechtsprechung vertretenen weiten Zerstörungsbegriff aus, wenn der Täter intendiert, das Zusammengehörigkeitsgefühl der Gruppenmitglieder zu beseitigen, was auch bei einer Einzeltat möglich ist.287 Die Vorarbeiten zur Genozidkonvention sind im Hinblick auf den für die teilweise Zerstörung erforderlichen Umfang der Zerstörung weithin unergiebig. In Resolution 96 (I) und im Entwurf des UN-Generalsekretärs war vorgesehen, dass die Absicht auf die ganze oder teilweise Zerstörung der Gruppe bezogen sein kann.288 Während der Debatten im ad hoc-Ausschuss wurde die Möglichkeit der teilweisen Zerstörung dann angesichts der Befürchtung ausgeschlossen, dass die Schwelle für die Anwendung des Tatbestandes durch die Einbeziehung der teilweisen Zerstörung zu niedrig angesetzt sein könnte.289 Im Sechsten Ausschuss nahm man die Debatte wieder auf und integrierte auf Vorschlag 285
18 U.S.C. §§ 1091 (a), 1093 (8), abgedruckt in: Paust u.a. (Hrsg.), International Criminal Law: Cases and Materials, 2007, S. 798 f. Zu einem früheren Zeitpunkt forderte bereits Robinson die Zerstörung einer wesentlichen Anzahl von Mitgliedern einer Gruppe: „[…] provided the number is substantial; the Convention is intended to deal with action against large numbers, not individuals even if they happen to possess the same group characteristics. It will be up to the courts to decide in each case whether the number was sufficiently large.“, ders., The Genocide Convention, 1960, S. 63. 286
Decisions taken by the Preparatory Committee at its Session held from 11 to 21 February 1997, UN Doc. A/AC.249/1997/L.5, S. 3. 287
Vest, Humanitätsverbrechen – Herausforderung für das Individualstrafrecht?, ZStW 113 (2001), S. 457 (487). 288
Zu den Vorarbeiten s.o. 1. Teil, I. 7.
289
Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 232.
4. Teil
312
Norwegens die heute gültige Fassung „ganz oder teilweise“ in den Wortlaut, wobei offen bleibt, wie die Wendung „teilweise“ zu verstehen ist.290 Der herrschenden Meinung kann darin gefolgt werden, dass es sich bei der Zerstörung eines Gruppenteils um eine in qualitativer oder quantitativer Hinsicht substantielle Teilgruppe gehandelt haben muss.291 Zutreffend ist, dass grundsätzlich nicht jede Eliminierung einer noch so kleinen Anzahl von Personen als Genozid qualifiziert werden kann. Zutreffend ist auch, dass eine quantitativ erhebliche Teilgruppe ein taugliches Angriffsobjekt darstellt. Zutreffend ist schließlich, dass unter Umständen der Angriff auf einen in qualitativer Hinsicht bedeutsamen Teil der Gruppe ausreichend sein kann. Vor allem wenn man so wie in dieser Arbeit vertreten für die Absicht im Sinne des Genozidtatbestandes sicheres Wissen ausreichen lässt, ist es sinnvoll und erforderlich, die Schwelle für den betroffenen Gruppenteil nicht grundsätzlich zu niedrig anzusetzen. Denn andernfalls könnte auch der Täter wegen Genozids verurteilt werden, der zwei Menschen derselben Gruppe wegen ihrer Gruppenzugehörigkeit ermordet. Schließlich handelte er in dem Bewusstsein, dass das sichere Ergebnis seines Vorhabens die teilweise Zerstörung (nämlich zweier Mitglieder) einer Gruppe sein würde.292 Die Zerstörung eines kleinen Gruppenteils kann zwar grundsätzlich ausreichend sein, allerdings darf über das
290
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UN GAOR, 3 session, 6 Committee, 73 meeting, S. 92 ff.; der Vorschlag wurde mit 41 Ja- zu 8 Nein-Stimmen bei 2 Enthaltungen angenommen. Während der Vorarbeiten wurde die Frage nach den für die Erfüllung des objektiven Tatbestandes erforderlichen Opfern nicht immer deutlich von der Frage unterschieden, auf wie viele Opfer sich die Absicht der Zerstörung bezogen haben muss. 291
A.A. Alonzo-Maizlish, In Whole or in Part: Group Rights, the Intent Element of Genocide and the „Quantitative Criterion”, New York University Law Review 77 (2002), S. 1369 (1387 ff.), nach dessen Auffassung die im Fall Krstic in erster Instanz vertretene Auslegung zutreffend ist. Im Ergebnis ebenfalls Jorgensen, The Genocide Acquittal in the Sikirica Case Before the International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia and the Coming of Age of the Guilty Plea, LJIL 15 (2002), S. 389 (395). 292
Greenawalt, Rethinking Genocidal Intent: The Case for a KnowledgeBased Interpretation, Columbia Law Review 99 (1999), S. 2259 (2290 f.); vgl. insofern Drost, The Crime of State, Book II: Genocide, 1959, S. 85, der vertritt, dass ein einzelner Mord den Tatbestand des Genozids erfüllen kann.
Subjektive Tatseite von Art. II Genozidkonvention
313
Merkmal der Teilgruppe der Charakter des Genozids als ein auf Massenvernichtung gerichtetes Verbrechen nicht umgangen werden.293 Abzulehnen ist die im Hinblick auf die Auslegung des Merkmals „teilweise“ vertretene Extremposition, dass selbiges sich nur auf die tatsächlich verübten Verbrechen beziehe und die Absicht im Gegensatz dazu auf die Zerstörung der gesamten Gruppe gerichtet sein müsse.294 Eingeräumt werden muss insofern zwar, dass auch nach der Meinung von Lemkin die Gruppe in ihrer Gesamtheit durch die teilweise Zerstörung in Mitleidenschaft gezogen werden musste.295 Die Interpretation überzeugt jedoch angesichts dessen nicht, dass sich das Merkmal „teilweise“ dem Wortlaut nach eindeutig auf die Absicht und nicht auf die tatsächliche Zerstörung bezieht.296 Ebenfalls abgelehnt werden muss die in der US-amerikanischen Genozidgesetzgebung normierte Legaldefinition, da diese auf eine rein quantitative Bestimmung der Teilgruppe abstellt und auf diese Weise den Ermessensspielraum der Gerichte zu sehr einschränkt. Eine praktikable Auslegung kann von dem Gemeinplatz ausgehen, dass dem Problem rein quantitativ nicht beizukommen und eine qualitative Wertung unverzichtbar ist.297 Überzeugend ist insofern die Argumentation der herrschenden Meinung, dass die Zerstörung einer kleinen Führungsschicht ebenfalls das Überleben der Gesamtgruppe beziehungsweise ei293
MK-StGB-Kreß, § 220 a/§ 6 VStGB, Rn. 76; vor der Trivialisierung des Verbrechens durch eine zu extensive Interpretation des Tatbestandes warnt ebenfalls Akhavan, The Crime of Genocide in the ICTR Jurisprudence, JICJ 3 (2005), S. 989 (999). 294
So die Verteidigung im Fall ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-9833-T, Urt. v. 2. August 2001, para. 583; ebenso Katz, The Holocaust in Historical Context, Vol. I, 1994, S. 125 ff., nach dessen Auffassung die Vernichtung der Juden während des Holocausts der einzige Fall von Genozid in der Geschichte war. Kritisch dazu Fein, Definition and Discontent: Labelling, Detecting and Explaining Genocide in the Twentieth Century, in: Förster/Hirschfeld (Hrsg.), Genozid in der modernen Geschichte, 1999, S. 11 (15 f.). 295
Vgl. Lemkins Kommentar aus dem Jahr 1950 vor dem Amerikanischen Kongress während der Debatten zur Umsetzung der Genozidkonvention, diskutiert bei LeBlanc, The Intent to Destroy Groups in the Genocide Convention, AJIL 78 (1984), S. 369 (377 f.). 296
ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-T, Urt. v. 2. August 2001, para. 584. 297
Vest, Humanitätsverbrechen – Herausforderung für das Individualstrafrecht?, ZStW 113 (2001), S. 457 (487).
314
4. Teil
nes größeren Gruppenteils bedrohen kann. Um ein wirksames Instrument gegen Genozid zu schaffen, ist die Anerkennung der qualitativen Gruppe folglich unerlässlich. In diesem Zusammenhang ist von entscheidender Bedeutung, dass die Angehörigen der geistigen Elite, Intellektuelle oder Führungspersönlichkeiten in der Vergangenheit zuerst beziehungsweise insbesondere dem Genozid zum Opfer fielen.298 LeBlanc hat die in den Vereinigten Staaten geführte Debatte, unter welchen Voraussetzungen ein Gruppenteil ein (zahlenmäßig) wesentlicher Gruppenteil ist, zu Recht dahin gehend kritisiert, dass mathematische Kalkulationen im Bereich des Genozids nicht zu viel Aufmerksamkeit erhalten dürfen. Andernfalls bestünde die Gefahr, dass die Diskussion in ein Zahlenspiel ausartet. Ist ein substantieller Gruppenteil 1 von 5, 5 von 20, 1.001 von 2.000, 100.001 von 200.000 etc.? Man kann nicht erwarten, die Antwort in einer mathematischen Formel zu finden, letzten Endes bedarf die Frage einer rechtlichen Bewertung.299 Die Urteilsbegründung im Fall Sikirica verdeutlicht die mit der Anwendung einer mathematischen Kalkulation einhergehenden Probleme. Wie dargestellt war die Kammer in besagtem Urteil zu dem Ergebnis gelangt, dass 2-2,8% der Gesamtgruppe nur schwerlich für das Kriterium der Wesentlichkeit ausreichen können.300 Überträgt man diese Kalkulation auf andere denkbare Situationen, so werden ihre Schwächen schnell deutlich. Man stelle sich beispielsweise eine sehr große Gruppe wie die ca. 130 Millionen in Indien lebenden Muslime vor. In diesem Fall würden zwei Prozent 2,6 Millionen Menschen ausmachen und trotz der sehr hohen Opferzahl nach der angewandten Kalkulation kei-
298
Vgl. Selbmann, Der Tatbestand des Genozids im Völkerstrafrecht, 2002, S. 183. 299
LeBlanc, The Intent to Destroy Groups in the Genocide Convention, AJIL 78 (1984), S. 369 (380); kritisch ebenfalls Paust, Congress and Genocide, Michigan Journal of International Law 11 (1989), S. 90 (95 f.). 300
ICTY, Prosecutor v. Sikirica et al., Case No. IT-95-8-T, Urt. v. 3. September 2001, para. 67 ff. (insbes. 72). Es muss an dieser Stelle allerdings eingeräumt werden, dass die Kammer das Kriterium der Wesentlichkeit nicht in der Ausschließlichkeit der US-Gesetzgebung vertrat. Die Kammer räumte ein, dass der mathematische Ansatz nicht notwendig der Schlussfolgerung entgegenstünde, dass die Absicht, eine Gruppe teilweise zu zerstören, gegeben ist. Die Opferzahlen müssten im Zusammenhang mit der gesamten Beweislage beurteilt werden, ebenda, para. 75. Ebenfalls zweifelhaft angesichts dieses relativ geringen Prozentsatzes Kreß, The Crime of Genocide under International Law, International Criminal Law Review 6 (2006), S. 461 (491).
Subjektive Tatseite von Art. II Genozidkonvention
315
nen substantiellen Gruppenteil darstellen.301 Kann es aber rechtlich vertretbar sein, den Genozid im Falle eines solchen Szenarios abzulehnen? Erschwerend kommt hinzu, dass Konstellationen denkbar sind, in denen die Zahl der Opfer weder vernachlässigenswert noch offensichtlich „substantiell“ ist, vorausgesetzt die Opfer können überhaupt gezählt werden.302 Als Ergebnis kann folglich festgehalten werden, dass die Beurteilung der Frage, ob ein für die Zerstörung im Sinne des Art. II Genozidkonvention hinreichender Gruppenteil betroffen war, einer wertenden Gesamtbetrachtung bedarf. Denn das erhebliche Übel des Genozids hängt nicht von bestimmten Prozentzahlen ab, sondern von der Auswahl der Opfer wegen ihrer Mitgliedschaft in einer bestimmten Gruppe.303 Die von der herrschenden Meinung vertretene Auslegung, dass es sich bei der Teilgruppe um einen in qualitativer oder quantitativer Hinsicht bedeutsamen Gruppenteil gehandelt haben muss, gibt der Rechtsprechung Raum für eine am Einzelfall orientierte Ermessensentscheidung. Wie schon die Rechtsmittelkammer im Fall Krstic ausführte sind die zur Auslegung des Merkmals „teilweise“ entwickelten Kriterien nützliche Richtlinien, wobei die Anwendbarkeit der einzelnen Faktoren ebenso wie die ihnen zukommende Bedeutung von den Umständen des jeweiligen Einzelfalles abhängen.304
bb) Geografische Begrenzung als teilweise Zerstörung Wie dargestellt ist in der Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale (gewohnheitsrechtlich) anerkannt, dass der Genozid an einer durch geografische Kriterien begrenzten Opfergruppe begangen werden kann. Zur Begründung wird von der Rechtsprechung die Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen zu den Massakern an Paläs-
301
Vgl. Alonzo-Maizlish, In Whole or in Part: Group Rights, the Intent Element of Genocide and the „Quantitative Criterion”, New York University Law Review 77 (2002), S. 1369 (1398). 302
Jorgensen, The Genocide Acquittal in the Sikirica Case Before the International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia and the Coming of Age of the Guilty Plea, LJIL 15 (2002), S. 389 (394). 303
Paust, Congress and Genocide, Michigan Journal of International Law 11 (1989), S. 90 (96). 304
ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-A, Urt. v. 19. April 2004, para. 14.
4. Teil
316
tinensern in den Flüchtlingslagern Sabra und Shatilla zitiert, in der diese Massaker als Genozid bezeichnet werden.305 Im Hinblick auf die Bewertung der Massaker als Genozid werden in den entsprechenden Urteilen Bedenken geäußert, da die Resolution nicht einstimmig erging. Es habe sich eher um eine politische als um eine rechtliche Bewertung der Situation gehandelt.306 Trotz dieser Bedenken kann aus der Resolution jedenfalls die opinio juris der Staatengemeinschaft abgeleitet werden, dass die Zerstörungsabsicht auf eine durch geografische Kriterien begrenzte Opfergruppe beschränkt sein kann. Schließlich bezogen die geäußerten Bedenken sich nur auf die Bewertung der konkreten Situation und nicht auf die grundsätzliche Möglichkeit des Genozids an einer durch geografische Kriterien begrenzten Opfergruppe. Von der deutschen Rechtsprechung wird es ebenfalls als ausreichend angesehen, wenn die Zerstörungsabsicht sich auf einen durch geografische Kriterien begrenzten Gruppenteil bezieht.307 Diese Auslegung entspricht dem Wortlaut des Art. II Genozidkonvention. Soweit man mit dem Wortlaut der Konvention die Möglichkeit der teilweisen Zerstörung der Opfergruppe anerkennt, gibt es keinen Grund, warum der Teil nicht durch geografische Kriterien gekennzeichnet sein kann. Die Literatur stimmt mit der Auslegung der Rechtsprechung überein. Schon in dem frühen Kommentar von Robinson hieß es dazu, dass die Absicht, eine Vielzahl von Personen derselben Gruppe wegen ihrer Gruppenmitgliedschaft zu zerstören, auch dann ein Genozid sei, wenn diese Personen nur einen Teil der Gruppe in ei-
305
UN Doc. A/RES/37/123.
306
ICTY, Prosecutor v. Jelesic, Case No. IT-95-10-T, Urt. v. 14. Dezember 1999, para. 83; ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-T, Urt. v. 2. August 2001, para. 589, Fn. 1307; Abschnitt D der Resolution in dem die Frage des Genozids behandelt wurde, wurde mit 98 Ja- zu 19 Nein-Stimmen bei 23 Enthaltungen angenommen. Zur Untersuchung der Geschehnisse in den Flüchtlingslagern wurde eine Kommission eingesetzt. Zu ihrem Abschlussbericht und der Rolle des damaligen Verteidigungsministers Sharon vgl. Malone, Sharon v. Time, The Criminal Responsibility under International Law for Civilian Massacres, Palestine Yearbook of International Law 3 (1986), S. 41 ff. 307
BGH, Urt. v. 30. April 1999 – 3 StR 215/98, BGHSt 45, 64 (78) = NStZ 1999, 396 (401); BVerfG, Beschl. v. 12. Dezember 2000 – 2 BvR 1290/99, NJW 2001, 1848 (1850); BGH, Urt. v. 21. Februar 2001 – 3 StR 372/00, NJW 2001, 2728 = NStZ 2001, 658 (659).
Subjektive Tatseite von Art. II Genozidkonvention
317
nem Land, einer Region oder sogar einer einzelnen Gemeinde ausmachen.308 Fraglich ist allerdings, welches der räumliche Bezugspunkt einer geografisch begrenzten Opfergruppe ist. Ist es das jeweilige Staatsgebiet, sind es einzelne Regionen oder sogar einzelne Ortschaften? Im Hinblick auf die korrekte Antwort herrscht offensichtlich Unklarheit. Von den UN ad hoc-Tribunalen wird teilweise die Extremposition vertreten, dass auch die Bewohner einzelner Ortschaften die Gesamtgruppe darstellen können. So wurden von der Strafkammer im Verfahren gegen Jelesic die bosnischen Muslime in Brzcko als Gesamtgruppe identifiziert.309 In vergleichbarer Weise erklärte die Kammer im Fall Sikirica die bosnisch-muslimische Bevölkerung aus Prijedor zur relevanten Gesamtgruppe.310 Dem folgte auch die Kammer im Fall Stakic, obgleich sie Bedenken äußerte.311 Der Annahme der auf einzelne Ortschaften begrenzten Gesamtgruppe kann jedoch nicht gefolgt werden. Diesbezüglich führte die Strafkammer im Fall Krstic überzeugend aus, dass die geografische Lage in der Konvention nicht als Unterscheidungskriterium normiert ist. Deshalb kam sie zu dem Ergebnis, dass die Gesamtgruppe im Fall Krstic die bosnischen Muslime und nicht die bosnischen Muslime aus Srebrenica waren, da das einzige Unterscheidungsmerkmal ihre geografische Lage gewesen wäre. Zudem stellte die Kammer auf die Beweislage ab, die gezeigt habe, dass die bosnischen Muslime aus Srebrenica sich als Mitglieder der Gruppe der bosnischen Muslime angesehen hätten.312 Abzulehnen ist auch die von Schabas vertretene Auffassung, nach der die (Gesamt-) Gruppe alle Mitglieder einschließt, und seien sie über den Globus verteilt. So hätten die Türken seinerzeit nur die Armenier in308
Robinson, The Genocide Convention, 1960, S. 63.
309
ICTY, Prosecutor v. Jelesic, Case No. IT-95-10-T, Urt. v. 14. Dezember 1999, para. 88 ff.; in diese Richtung tendiert auch die deutsche Rechtsprechung BGH, Urt. v. 21. Februar 2001 – 3 StR 372/00, NJW 2001, 2728 = NStZ 2001, 658 (659). 310
ICTY, Prosecutor v. Sikirica et al., Case No. IT-95-8-T, Urt. v. 3. September 2001, para. 68. 311
ICTY, Prosecutor v. Stakic, Case No. IT-97-24-T, Urt. v. 31. Juli 2003, para. 523. 312
ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-T, Urt. v. 2. August 2001, para. 559; bestätigt durch ICTY, Prosecutor v. Krstic, Case No. IT-98-33-A, Urt. v. 19. April 2004, para. 37.
318
4. Teil
nerhalb der türkischen Grenzen angegriffen und nicht die aus der Diaspora. Desgleichen hätten die ruandischen Extremisten 1994 nicht ernsthaft in Erwägung gezogen, die Tutsi auch außerhalb der ruandischen Staatsgrenzen auszurotten. Nach der Meinung von Schabas handelte es sich in beiden Fällen um eine teilweise Zerstörung der Opfergruppe. Diese Auslegung ist jedoch unpraktikabel, da mit ihr die Alternative, die ganze Opfergruppe zu zerstören, zum seltenen wenn nicht gar unmöglichen Ausnahmefall wird. Es wird schwerlich einem Täter jemals nachzuweisen sein, dass er vorhatte, jedes Mitglied einer Gruppe auf dem ganzen Erdball zu zerstören. Es hätte noch nicht einmal den Nationalsozialisten nachgewiesen werden können, dass es ihre Absicht war, jeden Juden im letzten Winkel des Erdballs auszurotten. Wenn jedoch noch nicht einmal die aller offensichtlichsten Fälle von Genozid wie der Holocaust oder der Genozid in Ruanda für den Nachweis der Absicht, die gesamte Gruppe zu zerstören, ausreichen, welche dann? Zudem ging man bereits während der Vorarbeiten davon aus, dass Volksgruppen und Minderheiten innerhalb eines Staates, die den Mindestanforderungen an Dauerhaftigkeit und numerischer Repräsentativität entsprechen, eigenständige Gruppen sind, auch wenn sie gleichzeitig einen Teil einer über das jeweilige Staatsgebiet hinausreichenden Gruppe bilden.313 Das Ziel muss sein, eine praktikable Auslegung zu wählen, die die Realität in angemessener Weise berücksichtigt. Praktikabel ist es, als räumlichen Bezugspunkt der Gesamtgruppe grundsätzlich das Staatsgebiet zu wählen. Wird nun ein Teil der Opfergruppe innerhalb einer Region oder einer Ortschaft angegriffen, so handelt es sich um eine teilweise Zerstörung. Die Zerstörung kann entsprechend dem Krstic-Urteil auch nur auf einen Teil des durch geografische Kriterien begrenzten Teils gerichtet sein, sofern dies nach Auffassung der Täter ausreicht, um die Teilgruppe als bestimmte Einheit innerhalb der betreffenden geografischen Region zu zerstören. Selbstverständlich kann es von dem Bezugspunkt „Staatsgebiet“ Ausnahmen geben, zum Beispiel, wenn die Opfergruppe überhaupt nur in einer bestimmten Region oder Ortschaft existent ist. In einem solchen Ausnahmefall kann die Rechtsprechung den für die Bestimmung der Opfergruppe relevanten Bezugspunkt im Rahmen ihres Ermessensspielraums bestimmen.
313
Dazu MK-StGB-Kreß, § 220 a/§ 6 VStGB, Rn. 45; ders., The Crime of Genocide under International Law, International Criminal Law Review 6 (2006), S. 461 (475).
Subjektive Tatseite von Art. II Genozidkonvention
319
3. Reformbedarf des Merkmals der Zerstörung Zu untersuchen ist nunmehr, ob der Passus „ganz oder teilweise zu zerstören“ reformbedürftig ist. Entsprechend der zuvor geführten Diskussion ist zunächst fraglich, ob das Merkmal der Zerstörung der Konkretisierung bedarf. Des Weiteren muss überprüft werden, ob der für die teilweise Zerstörung erforderliche Umfang der Zerstörung genauer festgelegt werden sollte und ob die mögliche Begrenzung der Opfergruppe durch geografische Kriterien normiert werden sollte. Festgestellt werden kann, dass das Merkmal der Zerstörung reformbedürftig ist. Der Reformbedarf des Merkmals rührt daher, dass die Absicht der Zerstörung einer Gruppe in ihrer sozialen Existenz wiederholt als für die Zerstörungsabsicht im Sinne des Genozidtatbestandes ausreichend angesehen wurde. Zwar wird die Zerstörung von der international herrschenden Meinung richtigerweise im Sinne physisch-biologischer Zerstörung verstanden. Wie gezeigt hat die bislang vor allem in Deutschland befürwortete Einschließung der Zerstörung der sozialen Existenz der Gruppe in der jüngsten Zeit jedoch Zustimmung seitens des ICTY gefunden. In der vorangegangenen Diskussion wurde erläutert, dass diese weite Auslegung abzulehnen ist, da sie der besonderen Schwere des Genozids nicht gerecht wird, mit der Begrifflichkeit des Genozids unvereinbar ist und der Entstehungsgeschichte der Konvention widerspricht. Deshalb sollte dieser Fehlinterpretation zukünftig der Boden entzogen werden. Die Formulierung „ganz oder teilweise“ bedarf im Gegensatz dazu keiner Reform. Zunächst einmal muss das Merkmal „teilweise“ in Art. II Genozidkonvention beibehalten werden. Die intendierte Zerstörung der gesamten Gruppe darf nicht zur Tatbestandsvoraussetzung gemacht werden, da es dem Täter nur selten nachzuweisen sein wird, dass er vorhatte, jedes Mitglied einer Gruppe auszurotten. Des Weiteren sollte die teilweise Zerstörung nicht durch die Wendung „wesentlich“ erweitert werden. Es wäre wenig gewonnen, wenn man den Wortlaut nach dem Vorbild der US-Gesetzgebung als „ganz oder zu einem wesentlichen Teil zu zerstören“ formulieren würde. Mit einer entsprechenden Modifizierung der Norm ginge die Gefahr einher, dass das Merkmal „wesentlich“ rein quantitativ ausgelegt und die Norm auf Massenvernichtungen reduziert würde.314 Alternativ könnte die Formu-
314
Lippman, The Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide: Fifty Years Later, Arizona JICL 15 (1998), S. 415 (464).
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4. Teil
lierung auch lauten: „ganz oder zu einem in qualitativer oder quantitativer Hinsicht wesentlichen Teil“. Auf diese Weise wäre zumindest sichergestellt, dass auch geringe Opferzahlen für die Begehung von Genozid ausreichen können. Andererseits würde eine solche Formulierung den Tatbestand überfrachten, ohne dabei von großem praktischen Nutzen zu sein. Wie aufgezeigt fordert die herrschende Meinung einschließlich der Rechtsprechung ohnehin für die teilweise Zerstörung, die Zerstörung einer Gruppe zu einem in qualitativer oder quantitativer Hinsicht wesentlichen Teil. Angesichts dessen ist es nicht erforderlich klarzustellen, dass isolierte Tötungen nicht unter den Tatbestand des Genozids fallen – zumal auch die Frage, wann ein Gruppenteil ein wesentlicher Gruppenteil ist, letztlich eine Ermessensentscheidung ist. Schließlich wäre es überflüssig expressis verbis zu normieren, dass die Zerstörungsabsicht sich auf einen durch geografische Kriterien begrenzten Gruppenteil beziehen kann. Aufgrund der Tatsache, dass die Möglichkeit der teilweisen Zerstörung im Wortlaut des Art. II Genozidkonvention vorgesehen ist, besteht keine Notwendigkeit, die denkbaren Kriterien zur Festlegung des Gruppenteils näher zu umschreiben.
4. Anknüpfungspunkte für Reformen Das Ziel der Reform des Merkmals der Zerstörung besteht mithin darin, klarzustellen, dass die Absicht darauf gerichtet sein muss, die Gruppe im physisch-biologischen Sinn zu zerstören. Folglich ist der Anknüpfungspunkt für die Reform des in Rede stehenden Merkmals die Erweiterung des Tatbestandes um eine entsprechende Formulierung.
5. Ergebnis und Reformvorschlag für das Merkmal der Zerstörung Als Ergebnis kann festgehalten werden, dass das Merkmal der Zerstörung dahin gehend konkretisiert werden muss, dass die Absicht der Zerstörung der Gruppe in physisch-biologischem Sinn Tatbestandsvoraussetzung ist. Vorgeschlagen wird infolgedessen, in die englische Textversion die Wendung „physically or biologically“ aufzunehmen. Die deutsche Version müsste um den Passus „physisch oder biologisch“ erweitert werden. Die Wendung „ganz oder teilweise“ kann unverändert beibehalten werden.
Zusammenfassung und abschließender Reformvorschlag zu Art. II Genozidkonvention Die in der vorliegenden Arbeit unternommene kritische Analyse von Art. II Genozidkonvention hat ergeben, dass die zitierte Norm aus unterschiedlichen Erwägungen reformbedürftig ist. Deutlich geworden ist, dass Art. II Genozidkonvention Formulierungsmängel aufweist, die einer effektiven Strafverfolgung zusätzlich zu den oftmals bestehenden realpolitischen Hindernissen entgegenstehen oder diese erschweren. Die Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda bildete die wesentliche Grundlage der Untersuchung. Daneben wurden aber auch andere Fälle von Genozid oder Gruppenverfolgungen mit vergleichbarem Unrechtsgehalt aus der Historie berücksichtigt, beispielsweise die Verfolgungen während der stalinistischen Schreckensherrschaft oder auch diejenigen unter den Khmer Rouge oder Mengistu. Im Rahmen der Analyse ist deutlich geworden, wie problematisch es oftmals ist, die unterschiedlichen Erscheinungsformen der gezielten Verfolgung von Angehörigen bestimmter Gruppen unter Art. II Genozidkonvention zu subsumieren. Im Verlauf der Untersuchung wurden die Schwachstellen der Tatbestandsmerkmale von Art. II Genozidkonvention im Einzelnen herausgearbeitet und soweit erforderlich Reformvorschläge präsentiert. Durch Art. II Genozidkonvention werden nationale, ethnische, rassische und religiöse Gruppen geschützt. Die Ausgestaltung des Schutzobjektes ist ein entscheidender Schwachpunkt der Norm. Der Reformbedarf des Schutzobjektes resultiert zum einen aus seiner missverständlichen Formulierung, zum anderen bedürfen erheblich mehr Gruppen des Schutzes durch die Konvention als derzeit erfasst sind. Für die Reform des Schutzobjektes konnten verschiedene Anknüpfungspunkte generiert werden. Die Diskussion hat ergeben, dass das Merkmal der Gruppe zukünftig beibehalten werden muss. Außerdem müssen weiterhin Mehrheiten ebenso wie Minderheiten durch die Konvention erfasst werden. Die Lösung der Probleme liegt jedoch nicht in der Aufnahme zusätzlicher konkret bezeichneter Gruppen in den bestehenden Katalog. Vielmehr sollte das Schutzobjekt durch eine abstrakte Formulierung ergänzt werden. Weiterhin ist es entscheidend, diese abstrakte Formulierung für die Definitionsmacht des Täters zu öffnen, d.h. solche Gruppen zu erfassen, die als eigenständig wahrgenommen werden. Die
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Zusammenfassung und abschließender Reformvorschlag
jeweilige Opfergruppe muss allerdings positiv als Schutzobjekt identifiziert werden können. Schließlich sollte aus Gründen der Realisierbarkeit einer Reform die derzeitige Formulierung nicht grundsätzlich aufgegeben, sondern ergänzt werden. Im Hinblick auf die in Art. II lit. a) – e) Genozidkonvention normierten Tathandlungen ist festzustellen, dass sich der Reformbedarf der englischen Textversion auf eine sprachliche Korrektur beschränkt. Konkret sollten die Tatmodalitäten so formuliert werden, dass schon dem Wortlaut nach nicht mehr die Schädigung von mehreren Mitgliedern durch die jeweilige Tathandlung notwendig ist, sondern die Schädigung eines Gruppenmitglieds ausreicht. Für die deutsche Übersetzung ist eine weitere sprachliche Verbesserung erforderlich, da sie die in Art. II lit. c) Genozidkonvention verwendete Wendung „calculated“ nur unzureichend wiedergibt. Die Analyse hat des Weiteren ergeben, dass der Katalog der Tathandlungen nicht erweitert werden muss. Weder der kulturelle Genozid noch die ethnischen Säuberungen noch der Umweltgenozid sollten als eigenständige Tathandlungen normiert werden. Ferner ist davon abzusehen, die Tathandlungen beispielhaft zu formulieren, vielmehr ist die abschließende Auflistung beizubehalten. Die subjektive Tatseite von Art. II Genozidkonvention weist ebenfalls einige Schwachstellen auf. Neben dem Tatvorsatz ist für die subjektive Tatseite erforderlich, dass der Täter mit der Absicht gehandelt hat, die Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Im Hinblick auf das Absichtsmerkmal ist eine Reform des Wortlauts notwendig. Klargestellt werden muss, dass sowohl für die Hintermänner als auch für die Ausführenden beide Formen des direkten Vorsatzes zur Erfüllung des Absichtsmerkmals ausreichen. Der konkrete Anknüpfungspunkt für eine Reform besteht insoweit in der Aufnahme einer Legaldefinition. Abstand zu nehmen ist hingegen davon, einen Tatplan zu einer konstitutiven Voraussetzung von Genozid zu machen. Der Reformbedarf der Wendung „als solche“ ist wiederum die Folge der Unklarheit der Formulierung. Die Diskussion der Anknüpfungspunkte für Reformen hat diesbezüglich allerdings gezeigt, dass auf das Merkmal in einem reformierten Tatbestand nicht verzichtet werden kann. Klargestellt werden muss vielmehr, dass die jeweilige Opfergruppe in ihrer Eigenschaft als Kollektiv angegriffen worden sein muss. Die Möglichkeit des Autogenozids expressis verbis in der Norm vorzusehen, ist hingegen entbehrlich. Der Passus „ganz oder teilweise zu zerstören“ ist lediglich partiell reformbedürftig. Das Merkmal der „Zerstörung“ bedarf der Konkretisierung. Verdeutlicht werden muss, dass für die Zerstörung im Sinne der Genozidkonvention die Zerstörung der Gruppe in physisch-biolo-
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gischem Sinn Voraussetzung ist. Die Formulierung „ganz oder teilweise“ kann im Gegensatz dazu unverändert beibehalten werden. Insgesamt ergibt sich für die englische Textversion von Art. II Genozidkonvention folgender Reformvorschlag: „(1) In the present Convention, genocide means any of the following acts committed with the intent to destroy as a collectivity, in whole or in part, physically or biologically, a national, ethnical, racial or religious group, or a group defined by any arbitrary criteria: (a) Killing one or more members of the group; (b) Causing serious bodily or mental harm to one or more members of the group; (c) Deliberately inflicting conditions of life on one or more members of the group calculated to bring about its physical destruction in whole or in part; (d) Imposing measures on one or more members of the group intended to prevent births within the group; (e) Forcibly transferring one or more children of the group to another group. (2) Intent for the purpose of this provision is given: (a) If the perpetrator commits a crime according to paragraph 1 with the goal to destroy the group in whole or in part or if he knows that the certain result to follow from his conduct will be the destruction of the group in whole or in part; (b) If the perpetrator commits a crime according to paragraph 1 in furtherance of a collective crime knowing that the goal or certain result to follow from the collective crime will be the destruction of the group in whole or in part.“ Die entsprechende deutsche Textfassung hätte folgenden Wortlaut: „(1) In dieser Konvention bedeutet Genozid eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse oder eine durch irgendein willkürliches Kriterium definierte Gruppe in ihrer Eigenschaft als Kollektiv ganz oder teilweise physisch oder biologisch zu zerstören: (a) Tötung eines oder mehrerer Mitglieder der Gruppe; (b) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an einem oder mehreren Mitgliedern der Gruppe;
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Zusammenfassung und abschließender Reformvorschlag
(c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für ein oder mehrere Mitglieder der Gruppe, die ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeiführen sollen; (d) Verhängung von Maßnahmen für ein oder mehrere Mitglieder der Gruppe, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind; (e) gewaltsame Überführung eines oder mehrerer Kinder der Gruppe in eine andere Gruppe. (2) Die Absicht im Sinne dieser Vorschrift ist gegeben: (a) Wenn der Täter eine Tat im Sinne von Absatz 1 mit dem Ziel begeht, die Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören, oder er weiß, dass das sichere Ergebnis seines Verhaltens die ganze oder teilweise Zerstörung der Gruppe sein wird; (b) Wenn der Täter eine Tat im Sinne von Absatz 1 in Unterstützung eines kollektiven Verbrechens leistet und er weiß, dass das Ziel oder das sichere Ergebnis des kollektiven Verbrechens die ganze oder teilweise Zerstörung der Gruppe sein wird.“ Abschließend möchte ich die Hoffnung äußern, dass die Staatengemeinschaft eines Tages die Herausforderung einer Reform von Art. II Genozidkonvention annehmen wird. Dabei bin ich mir dessen bewusst, dass mit einer derartigen Reform in der nahen Zukunft nicht zu rechnen ist. Die Bereitschaft der Staaten, sich bei einer bestehenden Norm auf eine Öffnung des Tatbestandes einzulassen, ist derzeit sicherlich nicht besonders groß. Andererseits lässt sich beobachten, dass die Begriffsbestimmung von Genozid in der Diskussion ist. Neben der akademischen Auseinandersetzung mit der Problematik zeigen dies unter anderem die Vorarbeiten zum ICC-Statut, im Rahmen derer es die erläuterten Vorstöße gab, den Genozidtatbestand für das ICC-Statut zu reformieren. Diese Vorschläge ließen sich jedoch nicht durchsetzen, da befürchtet wurde, dass die Wiederaufnahme der historischen Debatten um die Formulierung des Genozids den Konsens der Staaten oder zumindest die weite Anerkennung des Statuts gefährden könnte. Ungeachtet dessen ist die Diskussion um eine Reform des Genozidtatbestandes im Rahmen der Erarbeitung des ICC-Statuts ein deutliches Zeichen dafür, dass die Norm als verbesserungswürdig und -fähig angesehen wird. Zugleich legen die Vorarbeiten zum ICC-Statut Zeugnis darüber ab, dass die Macht des Bestehenden in den internationalen Beziehungen sehr groß ist. Auch wenn man vor dieser Realität nicht die Augen verschließen kann, sind Reformen hierdurch nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Insofern darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die Ge-
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sellschaft einem kontinuierlichen Wandlungsprozess unterliegt. Vor allem im Völkerrecht gehen Veränderungen jedoch bekanntlich langsam vor sich. Selbst Lemkin stand seinerzeit mit dem Bestreben, die internationale Ächtung des Genozids zu erreichen, auf scheinbar verlorenem Posten. Von seinen ersten Vorschlägen, die Zerstörung und Unterdrückung bestimmter Gruppen zum Verbrechen nach Internationalem Recht zu erklären, bis zur Verabschiedung der Genozidkonvention vergingen nicht weniger als fünfzehn Jahre. Ohne Lemkins unerlässliche Bemühungen wäre diese Konvention, die ein Meilenstein in der Entwicklung des Völkerrechts ist, niemals Wirklichkeit geworden. Aber auch der Internationale Strafgerichtshof, für viele heute schon beinahe eine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit, war noch Anfang der 90er Jahre eine Illusion. Es dauerte mehr als ein halbes Jahrhundert, dieses Vorhaben der Vereinten Nationen in die Tat umzusetzen. Ohne die Tätigkeit der UN ad hoc-Tribunale im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda wäre die Idee einer internationalen Strafgerichtsbarkeit wohl noch immer reine Theorie. Angesichts der Tatsache, dass sich Veränderungen im Völkerrecht zwar oftmals langsam vollziehen, es aber immer wieder zu ungeahnten Veränderungen kommt, bin ich der Überzeugung, dass es sich lohnt, die Debatte um die Reform der Begriffsbestimmung von Genozid zu führen. Von der Diskussion Abstand zu nehmen, nur weil ein solches Vorhaben derzeit wenig erfolgversprechend erscheint, wäre die falsche Konsequenz. Mit meiner Arbeit möchte einen Beitrag zu dieser außerordentlich wichtigen Debatte leisten. Im Hinblick auf die zu erwartenden Widerstände muss man sich der politischen und gesellschaftlichen Kräfte besinnen, die ein solches Reformvorhaben vorantreiben könnten. So war die Koalition von Nichtregierungsorganisationen für einen Internationalen Strafgerichtshof an der Schaffung des ICC maßgeblich beteiligt. Die Koalition hat ein Netzwerk für Hunderte NGOs geschaffen, um das Ziel der Schaffung eines gerechten und effektiven Strafgerichtshofs zu fördern. In für multilaterale Verhandlungen ungekanntem Ausmaß koordinierten die NGOs ihre Aktivitäten, sodass die Koalition insgesamt sehr starken Einfluss auf die Verhandlungen nehmen konnte. Ihre Bemühungen waren von Erfolg gekrönt. Erinnert sei daran, dass es innerhalb der Vereinten Nationen bereits verschiedene Vorstöße gab, die Konvention zu reformieren. Der UNSonderberichterstatter Ruhashyankiko kam in seiner Studie zur Genozidkonvention bereits 1978 zu dem Ergebnis, dass die Konvention nur der Ausgangspunkt für effektive Maßnahmen zur Verhütung und Be-
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strafung von Genozid sein könne.1 Diese Auffassung bestätigend stellte Whitaker, der zweite UN-Sonderberichterstatter zur Genozidkonvention, 1983 fest, dass die Weiterentwicklung internationaler Maßnahmen gegen den Genozid notwendig und in der Tat überfällig sei.2 Trotz dieser Anregungen und Kritikpunkte ist bisher nichts geschehen. In der akademischen Debatte wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass die Konvention eine symbolische Verurteilung der nationalsozialistischen Gräueltaten ist. Sie habe dazu gedient, die Schuld der Weltgemeinschaft den Opfern des Holocausts gegenüber zu sühnen.3 Die Gleichsetzung mit den Nazi-Gräueltaten hat zu einer engen Verbindung zwischen den Termini „Holocaust“ und „Genozid“ geführt. Damit einhergehend besteht eine gewisse Scheu anzuerkennen, dass Massenverbrechen, die sich im Umfang und in der Ausführung vom Holocaust unterscheiden, den mit der Charakterisierung als „Genozid“ verbundenen außerordentlichen „Rang“ verdienen. Zu Unrecht wird die Anerkennung eines Genozids oftmals als Minderung des besonderen jüdischen Leidens gewertet. Zeitgenössische Versuche der Ausrottung bestimmter Gruppen werden regelmäßig als das Resultat lang währender Stammesfehden kategorisiert, mit Opfern und Tätern auf beiden Seiten, und nicht als Genozid. Das Ergebnis des zögerlichen Umgangs mit dem Terminus Genozid ist eine Konvention, die ein Verbrechen ohne Opfer bestraft – ein opferloses Verbrechen in einer Welt ohne Täter.4 Diese Praxis leugnet die Realität. Der Genozid ist nicht allein synonym zum Holocaust – wobei dieser natürlich das ultimative Beispiel von Genozid und insofern einzigartig bleibt. Die Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale stellt eine gute Basis für die Weiterentwicklung und Stärkung von Art. II Genozidkonvention dar. Die aktuelle Aufgabe besteht darin, aus den letzten 50 Jahren Ent1
Ruhashyankiko, Study of the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/416, 1978, para. 440. 2
Whitaker, Revised and Updated Report on the Question of the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/ 1985/6, para. 71. 3
Lippman, The Crime of the Century. The Jurisprudence of Death at the Dawn of the New Millenium, Houston JIL 23 (2001), S. 467 (527); vgl. auch Chalk/Jonassohn, The History and Sociology of Genocide, 1990, S. 11; Akhavan, The Crime of Genocide in the ICTR Jurisprudence, JICJ 3 (2005), S. 989 (1005). 4
Lippman, The Crime of the Century. The Jurisprudence of Death at the Dawn of the New Millenium, Houston JIL 23 (2001), S. 467 (530).
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wicklung zu lernen und eine post-bosnische beziehungsweise postruandische Rechtskultur zu entwickeln, die die Erfahrungen aus den geführten Strafprozessen in Wert setzt. Auf diese Weise könnten die Defizite von Art. II Genozidkonvention ausgeräumt werden, die eine Anwendung des Tatbestandes erschweren oder dieser gar entgegenstehen.
Summary Critical Analysis and Proposal for the Revision of Art. II of the Genocide Convention The Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide became effective more than fifty years ago. Considering the fact that genocide is an “odious scourge” which has inflicted great losses to humanity at all periods of history, as pointed out in the preamble of the convention, this is a relatively short period of time. Espeth cially the 20 century turned out to be a century of genocide. Approximately 60 million men, women and children, belonging to diverse groups, tribes, clans, peoples and nations had to die for arbitrary reasons. The Genocide Convention is the attempt of the international community to prevent this crime on the one hand and to adequately punish the committed atrocities on the other. Unfortunately, both aims have not yet been achieved. On the contrary, the need for effective mechanisms to prevent and punish genocide is still urgent. It should not be forgotten that after the convention came into force there were numerous attempts to extinguish particular groups. For instance, for four years already we are witnessing the atrocities in Darfur/Sudan, and only about fifteen years ago the former Yugoslavia and Rwanda were sites of massextermination. In light of 800.000 dead in Rwanda alone, the international community promised: never again! However, in view of the fact that the UN did not recognize the atrocities in Sudan as genocide so far, this promise is hardly reliable. Other examples for the violent persecution of particular groups are the slaughters in Cambodia, Indonesia or th Ethiopia which took place in the late 20 century. In contrast, only relatively few perpetrators were convicted for genocide so far. The study at hand deals primarily with the question of the punishment of genocide, for which Art. II of the Genocide Convention is the core provision as it contains the internationally acknowledged definition of the crime. It determines, hence, which crimes have to be punished and prevented by the state parties. In the course of this thesis it is proven that Art. II of the Genocide Convention needs to be reformed if it is to be an efficient means for the prosecution of the crime. The problems connected with the definition of genocide are manifold. The prepara-
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tory works of the convention show that the elements of the offence were extensively discussed from the very beginning. However, additional questions arose in the course of time. In this study all elements of Art. II of the Genocide Convention are analysed with regard to their appropriateness and the weaknesses are pointed out. Proposals for alternative wordings of the respective element are presented where necessary. In the past, it has become obvious in various instances that it is very challenging to subsume the persecution of people belonging to a certain group under Art. II of the Genocide Convention. In this context, the criminal proceedings of the UN ad hoc-Tribunals for the former Yugoslavia (ICTY) and for Rwanda (ICTR) are of special interest as they are the first examples of international criminal proceedings after the convention became effective. There has not been a more convincing state practice before. However, irrespective of the scope of the committed atrocities, the ICTR to date has convicted not more than 25 of the main perpetrators for genocide. The ICTY has rendered only two genocide convictions, against Krstic and Blagojevic, whereas the latter was reversed by the Appeals Chamber. The fact that it poses considerable difficulties for the judges to convict the perpetrators for genocide tells its own tale. Apart from the decisions of the tribunals such cases which were not prosecuted as genocide are also taken into account. Due to the commitment of the international community to protect populations from genocide, the fact that the extermination of a group is not acknowledged as such can also be a proof of the weaknesses of Art. II of the Genocide Convention. Additionally, national genocide legislation and jurisdiction are taken into consideration as an important reference for state practice. The aspects which are discussed in the study are manifold and only some important questions shall be outlined in the following. I. st
The 1 part of the study presents the background necessary for an indepth discussion of the crime of genocide. This includes, in particular, the historical context of the drafting of the Genocide Convention: The convention emerged in the wake of the attempted extermination of the European Jews by the national socialists (Nazis) during World War II. The drafting of the treaty was initiated due to the fact that it was not possible to adequately punish the Nazis for their crimes at the Nuremberg Trials. The leaders of the Third Reich were convicted for crimes against peace, war crimes and crimes against humanity. Due to the legal construction of these offences, the perpetrators could not be held re-
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sponsible for the atrocities which they had committed against their own nationals before the war. Because this outcome was widely deemed unsatisfactory, the international community became aware of the acute need for action. Though criticised in some aspects, the Nuremberg Trials mark an important point in history since they paved the way for important developments in international criminal law and especially for the Genocide Convention. Shortly after the judgements of Nuremberg, the crime of genocide appeared on the agenda of the United Nations General Assembly. Resolution 96 (I) defined genocide as the denial of the right of existence of entire human groups and affirmed that genocide is a crime under international law. The preparatory work of the Genocide Convention took approximately two years and proved to be problematic. It reveals that from the very beginning the concept of the crime of genocide was debated in extenso. In fact, many compromises had to be made to gain the support of as many member states as possible. However, the convention was – irrespective of its shortcomings – a success. For the first time in history human groups were directly protected under international law and their persecution was forbidden not only in times of war but also in times of peace. Furthermore, it is worth mentioning that Art. II of the Genocide Convention is regarded as codifying a norm of customary international law and was elevated to the level of jus cogens. Apart from the historical context of the drafting of the convention part one also addresses other activities of the United Nations which were crucial for the development of international criminal law in general and the prosecution of genocide in particular. This includes the establishment of the ICTY and the ICTR. The mere existence of the tribunals was a signal of the international community not to be willing to observe severe violations of international law any longer, even if committed in the course of internal conflicts. The tribunals laid the ground for the International Criminal Court (ICC) which came into being in 2002 and which is a milestone in the development of international criminal law. The ICC is the first permanent international criminal tribunal, even though Art. VI of the Genocide Convention already provided for the establishment of such a court as early as 1951. In this context, it has to be mentioned that in the ICC-Statute as well as in the statutes of the ICTR and the ICTY the crime of genocide is one of the core provisions and that the respective articles reflect the wording of Art. II of the Genocide Convention.
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II. nd
The 2 part of the thesis deals with the question which groups are and should be protected by the convention. This question has led to extensive debates since the drafting of the convention. According to the wording Art. II of the Genocide Convention covers national, ethnical, racial and religious groups. However, the interpretation of the protected groups proves to be difficult because the term “national, ethnical, racial or religious group” is not clearly defined in the convention or elsewhere. Hence, it is unclear if one must differentiate between the four groups and on the basis of which criteria they are to be characterized. This ambiguity is reflected by the jurisdiction of the UN ad hocTribunals. A comparison of the judgments reveals that not only the ICTY and the ICTR assumed different points of view in this regard in their rulings, but that especially in their earlier cases the different rulings rendered by each of the tribunals were also based on differing interpretations. For instance in the first genocide-judgment, the judgment against Akayesu, the four groups were defined separately based on objective criteria. This approach proved to be problematic insofar as the chamber in the end had to rely on an analogy to reach the desired conviction. Subjective criteria to define the protected groups were gradually introduced by the UN ad hoc-Tribunals. The decisions against Jelesic and Krstic even relied exclusively on subjective criteria. Another crucial development was the steady turning away from the necessity to distinguish between the four groups by clear-cut definitions. Almost all judgments agree on the fact that it is difficult to clearly define the four groups. The Krstic-judgment – obviously following the study “Genocide in International Law” written by Schabas – pointed out for the first time that the list was designed rather to describe a single phenomenon than to refer to several distinct prototypes of human groups. The attempt to differentiate between each of the named groups on the basis of scientifically objective criteria would thus be inconsistent with the objective and purpose of the convention. The approach of the Krsticjudgement is, for different reasons, the most convincing among the interpretations set forth in the judgments. The necessity to modify the wording of Art. II of the Genocide Convention in regard to the protected groups results on the one hand from the ambiguity of the formulation and on the other from the fact that far more groups than those listed need to be covered. These are especially the often discussed political and social groups which in the course of history repeatedly fell victim to violent persecutions, but also other groups which are stigmatised due to certain characteristics.
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The key-question is which groups of people should be protected and how they should be defined to solve the existing problems. The different possibilities for alternative wordings are discussed in detail in the second part. First of all, it is explained that the term “group” should be maintained in a future wording of the provision. Hence, the proposition to include any majority of individuals irrespective of their being a coherent group or not in the scope of Art. II of the Genocide Convention cannot be followed. Apart from that, it is demonstrated that majorities as well as minorities need to be protected as hitherto. A difficult question to answer is, however, whether the existing problems should be solved through the inclusion of additional precisely defined groups in the enumeration or through an abstract definition. This study arrives at the conclusion that the latter is the favourable option. The weaknesses of the current wording can only be met through a phrasing which is at least partially abstract. An enumeration can never be comprehensive enough to capture all conceivable groups of victims, because the criteria according to which the perpetrators select their victims cannot be predicted. For the same reason, the proposed abstract definition should be opened to include the “power of definition” of the perpetrator, meaning it should suffice if the respective group is perceived by the perpetrator as distinct. Another proposal is to open the definition of the group to a negative approach identifying individuals on account of their not being part of a certain group. This proposal is, however, not convincing. Irrespective of the criticism of Art. II of the Genocide Convention, the “national, ethnical, racial or religious groups” should not be replaced but amended by the proposed abstract formulation. Due to the symbolic value of Art. II of the Genocide Convention, the chances of the realisation of a reform would thereby significantly be improved. It is true that the imperfect wording of the provision would not be fully corrected with this compromise. Nevertheless this can be accepted, because the more extensive scope of application of Art. II of the Genocide Convention would not be at risk. III. rd In the 3 part, the actus reus of the crime, which is described in Art. II lit. a) - e) of the Convention, is discussed. In the context of the alternative “causing serious bodily or mental harm”, which is stipulated in lit. b), sexual violence as a means to cause such harm deserves particular attention. In this regard the Akayesujudgment was ground-breaking, as it was the first judgment to acknowledge that genocide can be committed through rape and other
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forms of sexual violence. This development is very positive, because even though sexual violence has been widespread in internal as well as external conflicts throughout history, it was not seen as a criminal act but as an (inevitable) by-product of war prior to this judgement. The importance to include sexual violence in the scope of the genocide convention is emphasized by the fact that it was a concerted means to terrorize and destroy the population in Rwanda as well as Yugoslavia and Sudan. Through lit. c) – “deliberately inflicting conditions of life calculated to destroy the group” – so-called “slow-death measures” which do not kill the members of the group immediately, but can lead to their death in the long-run, are punishable as genocide. In the realm of lit. c) an emphasis is put inter alia on the question if systematic expulsions from home are per se captured by Art. II of the Genocide Convention as suggested by some parts of the jurisdiction as well as different legal scholars. However, the thesis comes to the conclusion that the mere expulsion of a group cannot suffice for a genocide conviction because expulsions sometimes only cause the destruction of the group’s social existence. To fulfil Art. II lit. c) of the Genocide Convention an expulsion needs to be accompanied by aggravating circumstances which threaten the physical existence of the group as it was the case with the Armenians or the Herero. Within the discussion of lit. d) – “Imposing measures to prevent births within the group” – rapes and forced pregnancies again play an important role. The classic means to prevent births, which were also applied by the Nazis, are for example forced sterilizations and castrations as well as compulsory abortions. Yet, the jurisprudence needs to be followed in its ruling that forced pregnancies and rapes can also constitute a means to prevent births. This is relevant especially for patriarchal societies in which the child’s membership in a group is determined by the identity of the father. With regard to a possible reform of the actus reus it is, amongst others, discussed whether cultural genocide and ethnic cleansing should be included. The inclusion of cultural genocide was already argued about and finally rejected during the preparatory works of the convention. This study subscribes to this outcome. Even though argued otherwise by some scholars the destruction of the cultural characteristics of a certain group which does not affect its physical integrity can, due to the severity of the crime, not justify a genocide conviction. As to ethnic cleansing, the debate whether it is a means to commit genocide intensified with the Balkan War in the 1990s and the term was repeatedly
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equated with genocide. The analysis reveals that this opinion cannot be agreed upon. It may be true that ethnic cleansing can lead to genocide if committed by extreme methods, but the ethnic compulsion of a territory can also be changed through less severe means. Another suggestion in the context of lit. a) - e) is to replace the present catalogue which is conclusive by an exemplary formulation which would allow for more flexibility. In conclusion, the reform of the actus reus as stipulated in Art. II lit. a) e) of the Genocide Convention is confined to a modification of the wording. It should be clarified in the text that it suffices if the criminal act is directed against one person, i.e. that genocide does not require several people to be attacked. IV. th
The 4 part of the present thesis concentrates on the mens rea of genocide. The most critical determination to be made in this context is which degree of “intent” is required for the mens rea as defined in the chapeau of the provision. Up to this point in time the prevalent interpretation in the rulings of the UN ad hoc-Tribunals as well as the legal literature has been that it is not enough if the perpetrator meant to cause the destruction of a group or is aware that it will occur in the ordinary course of events. It is argued that a specific intent to destroy the group is required as a constitutive element of the crime. This goes beyond the mere committing of the criminal act and requires that the perpetrator clearly intended to produce the consequence of the criminal act charged, i.e. to destroy the group. Contrary to the prevailing opinion, the individual goals of a perpetrator should not be decisive for a genocide conviction as long as the perpetrator was aware of and accepted the destruction of a group as a consequence of his acts. The same applies if the perpetrator acts in furtherance of a campaign knowing that the likely consequence of the campaign would be the destruction of a group in whole or in part. As regards the degree of the genocidal intent it has to be kept in mind that generally large parts of society are involved in a genocide, whereas the goals are set by the decision makers. Apart from that, as Hannah Arendt rightly stated, the evil is mostly done by people who are not driven by hatred but act in the performance of their duties. The resulting proposal for the revision of the genocidal intent is to include a legal definition in the provision, which stipulates that all degrees of direct intent are sufficient for the perpetration of genocide – for the decision
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makers as well as the executants. Some kind of preconceived plan should, however, not become an obligatory criterion. With regard to the element “as such” the prevailing interpretation is that the act must be committed against an individual on account of his or her membership in a specific group. Thereby, the term clarifies that the group as a separate and distinct entity is the ultimate victim of genocide although its destruction necessarily requires the commission of crimes against its members. The ambiguous wording is the result of the debates during the preparation of the convention whether or not to require a motif of the persecutors. The integration of the notion “as such” put an end to this dispute. Due to the fact that in the prevailing interpretation the words “as such” constitute an important element of genocide they should not be surrendered in a revised formulation, rather the content of the term should be clarified. Referring to the wording “in whole or in part” it can be stated that the group needs to be destroyed in its physical existence. The integration of the destruction of the group as a social unit in Art. II of the Genocide Convention as argued by some legal experts and court decisions is not convincing. Acts seeking the destruction of the special characteristics of a group as a social unit can not be judged in the same way as acts seeking the physical destruction of the group, principally because they are not as irrevocable. V. In summary, the present critical analysis concludes that Art. II of the Genocide Convention needs to be reformed in different aspects. It is obvious that, in addition to hindrances connected with real politics, the provision has weaknesses which make criminal prosecutions difficult. The concluding proposal for the reform of Art. II of the Genocide Convention is as follows: “(1) In the present Convention, genocide means any of the following acts committed with the intent to destroy as a collectivity, in whole or in part, physically or biologically, a national, ethnical, racial or religious group, or a group defined by any arbitrary criteria: (a) Killing one or more members of the group; (b) Causing serious bodily or mental harm to one or more members of the group; (c) Deliberately inflicting conditions of life on one or more members of the group calculated to bring about its physical destruction in whole or in part;
Summary
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(d) Imposing measures on one or more members of the group intended to prevent births within the group; (e) Forcibly transferring one or more children of the group to another group. (2) Intent for the purpose of this provision is given: (a) If the perpetrator commits a crime according to paragraph 1 with the goal to destroy the group in whole or in part or if he knows that the certain result to follow from his conduct will be the destruction of the group in whole or in part; (b) If the perpetrator commits a crime according to paragraph 1 in furtherance of a collective crime knowing that the goal or certain result to follow from the collective crime will be the destruction of the group in whole or in part.” In closing I want to express my hope that the international community will one day meet the challenge to undertake the reform of Art. II of the Genocide Convention. At the same time I am very well aware of the fact that such a reform is not likely to happen in the near future. Nevertheless, it is obvious that during the past ten years the discussion about the definition of genocide as stipulated in the convention has intensified in connection with the proceedings of the ICTR and the ICTY. In addition to the debates among legal scholars, attempts towards a modified genocide provision were made during the preparatory works of the ICC-Statute. These proposals did unfortunately not succeed due to the fear that the reopening of the historic debate could put the acceptance of the ICC-Statute at risk. Other attempts to reform the convention were made by the UN Special Rapporteurs Ruhashyankiko and Whitaker as early as 1978 and 1983. However, their recommendations have so far not been implemented. It has to be kept in mind that, yes, changes in the realm of international law take their time but still they do happen. With my thesis I intend to render a contribution to a discussion which I consider extremely important – the discussion about the concept of genocide. The jurisdiction of the UN ad hoc-Tribunals is a very good basis for this undertaking. The task is to learn from the experience and to develop a post-Rwandan and a post-Bosnian legal practice which builds on the experience of these criminal proceedings.
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Sachregister Aboriginies: 208 Absichtsmerkmal, siehe auch Tatplan, Vorsatz – Anknüpfungspunkte für Reformen: 265 ff. – Diskussion der Rechtsprechung: 249 ff. – Genese: 253 f. – Legaldefinition: 9, 266 f., 272 f., 322 – Nachweisproblematik: 241, 256 ff. – Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale: 242 ff. – Reformbedarf: 263 ff. – Reformvorschlag: 272 Aché-Indianer: 257 Ad hoc-Ausschuss, siehe Genozidkonvention Äthiopien: 2, 130, 139, 162, 197 Akayesu-Verfahren: 80, 84 ff., 105 f., 109, 112 ff., 121 f., 131, 160, 177 f., 181 f., 185, 188, 191 f., 201 f., 205 f., 237, 242 ff., 263 ff., 267 f., 274 f. Akzessorietätserfodernis: 32, 35, 41 Allgemeine Erkärung der Menschenrechte: 133 „Als solche“, siehe auch Autogenozid – Anknüpfungspunkte für Reformen: 283 ff. – Diskussion der Rechtsprechung: 276 ff. – Funktion: 284 ff.
– Genese: 278 f. – Neufassung: 9, 286, 322 – Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale: 274 ff. – Reformbedarf: 282 – Reformvorschlag: 288 Analogie: 4, 76, 114, 121, 147, 158, 171 Arbeitslager: 129, 196, siehe auch Konzentrationslager, Zwangslager Argentinien: Militärdiktatur, 135, 168 Armenier: 17 ff., 200 f., 317 f. Art. II Genozidkonvention – Auslegung: 4, 7, 72 ff. – Deutsche Übersetzung: 3 – Englische Originalfassung: 46 – Reformvorschlag: 323 f. – Symbolgehalt: 4, 170, 326 Atomwaffen: 226, 251 f., siehe auch Hiroshima Aushungern: 2, 26, 129, 192, 196 f. Autogenozid: 9, 129, 283, 287 f., 322, siehe auch „Als solche“ Axis Rule in occupied Europe: 23 f. Bagilishema-Verfahren: 80, 91 f., 105, 242 Bangladesch: 2, 130 Behinderte: 145 f., 158 BGH: 195, 201, 294, 297, siehe auch deutsche Rechtsprechung
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Blagojevic-Verfahren: 4, 95, 104 f., 107, 184, 248, 289 ff., 297 Brdjanin-Verfahren: 104 f., 107, 192, 242, 248, 275 Burundi: 152 f. BVerfG: 294 ff., siehe auch deutsche Rechtsprechung Darfur: 125, 144 f., siehe auch Janjawid-Milizen, Sudan – UN-Untersuchungskommission: 115 ff., 164, 252 Declaration of San José: 214 Delalic-Verfahren: 76 Delicta juris gentium: 23, 27 Deportationen: 17 f., 28, 31, 53, 185, 221, 223 f., 231, 291 f., 298, 305, 310 Deutsche Rechtsprechung: 107, 201, 252, 277 f., 283, 293, 297, 311, 316, siehe auch BGH, BVerfG Dolus eventualis, siehe Eventualvorsatz Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind: 7, 55 ff., 231 – Kommentar der ILC: 51, 116, 277, 310 Ecocide, siehe Umweltgenozid Effet-utile-Regel: 76, 284 Ehemaliges Jugoslawien, – Expertenkommission: 60, 74, 167, 190, 218, 221 ff., 277, 310 – Hintergründe des Konfliktes: 95 ff. Eichmann-Prozess: 7, 53 ff., 185, 195, 203, 260, 268 f.
Sachregister
Eigentum, Entziehung/Zerstörung: 25 f., 98, 196, 223, 225, 289 Elements of Crime, siehe International Criminal Court Erga omnes-Verpflichtung: 52, 226 Erster Weltkrieg: 11, 13, 15 ff., 20, 109, 152 Ethnische Gruppe: 1, 4, 8, 24, 36, 79 ff., 85 ff., 90 f., 94 ff., 98 f., 101, 106 ff., 110 ff., 120, 131 f., 135 f., 146 f., 151, 157, 167, 169 ff., 189, 198, 222, 245, 250, 275, 277, 286, 321 Ethnische Säuberungen: 9, 60, 97, 144, 189, 198, 211, 219 ff., 294, 322 Ethnozid, siehe kultureller Genozid Euthanasie-Morde: 146 Eventualvorsatz: 180, 238, 240, 250, 253 ff., 259, 262 f., siehe auch Vorsatz Fahrlässigkeit: 180, 233 f., 240, 263, Folter: 15, 60, 129 f., 135, 137, 181, 187, 223, 225, 231 Furundzija-Verfahren: 59 Gacumbitsi-Verfahren: 94, 183, 264, 291 Ganz oder teilweise – Diskussion der Rechtsprechung: 308 ff. – Genese: 311 f. – Geografisch begrenzte Opfergruppe: 9, 315 ff. – Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale: 298 ff.
Sachregister
– Reformbedarf: 319 f. – Umfang der Zerstörung: 9, 308 ff. Geburtenkontrolle: 202, 204 Geburtenverhinderung: 8, 45, 175, 206, 237, 294 – Diskussion der Rechtsprechung: 203 ff. – Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale: 202 f. Generalversammlung, siehe UN-Generalversammlung Genfer Flüchtlingskonvention: 143 f., 156 Genfer Konventionen: 14, 60 f. – 1. Zusatzprotokoll: 229 – Verletzung des gemeinsamen Art. 3: 63, 89, 91, 93 Genozid – Ethymologie: 24 – Strafgrund: 149 – Systemaspekt: 258 ff. Genozidkonvention – ad hoc-Ausschuss: 44 ff., 49, 106, 124, 180, 213, 253, 278 f., 311 – Annahme: 48 – Bedeutung: 4, 49 ff. – Durchsetzungsmechanismen: 137 – Historischer Entstehungskontext: 7, 11 ff. – Sechster Ausschuss: 46 ff., 106, 111, 124, 180, 207, 213, 231, 253, 257, 278 ff., 311 – UN-Generalsekretär: 41 ff., 49, 106, 200, 207, 212, 253, 278, 311 – Vorbereitende Arbeiten: 4, 23, 41 ff., 73, 79, 85 f., 90, 98,
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101, 106, 109 f., 114, 124 ff., 139, 150 ff., 155, 175, 180, 184, 200, 210, 212, 217, 220, 257, 267, 273, 283, 288, 311, 318 Germanisierung: 24, 36 Geschützte Gruppen, siehe auch Gruppen – Abstrakte Ausgestaltung: 8, 153 ff., 170 ff., 286, 321 – Anknüpfungspunkte für Reformen: 147 ff. – Definitionsmacht des Täters: 8, 117, 160 ff., 321 – Diskussion der Rechtsprechung: 105 ff. – Ganzheitliche Auslegung: 100 ff., 104 f., 107, 116, 120, 122 f. – Genese: 106 – Lücken des Schutzbereichs: 4, 112 f., 115, 118, 123 ff., 153, 157, 159, 170 f., 231, 233, 321 – Negative Identifikation: 8, 99, 103 ff., 118, 167 ff. – Objektive Interpretation: 80, 86 ff., 92 ff., 98 f., 101, 104 f., 113 ff., 117, 120, 160 ff. – Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale: 80 ff. – Reformbedarf: 118 ff. – Reformvorschlag: 172 – Stabilitätserfordernis: 85 ff., 90 f., 98, 113 ff., 121, 123, 125, 131 ff., 138, 143 – Subjektive Interpretation: 80, 88 ff., 92 ff., 99, 101 f., 104 f., 114 f., 117, 120, 160 ff. – Unklarheit: 8, 120 ff., 154, 170, 321
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Gruppen, siehe auch Geschützte Gruppen – Definition: 150 – Verzicht auf das Merkmal: 8, 147 ff., 321 Guatemala, siehe auch Maya – Wahrheitskommission: 135, 196, 269 Gulag: 141, 196 Haager Landkriegsordnung: 14, 26 Habyarimana: 81 Herero: 201 Hiroshima: 281, siehe auch Atomwaffen Hitler: 20, 24, 31, 185, 197, 256 Holocaust: 1, 3, 20, 22, 27, 96, 256, 318, 326 Homosexuelle: 145, 158 Humanitäres Völkerrecht: 14, 60 ff., 64 Imanishimwe-Verfahren: 94 Indigene Völker: 208, 215, 217 Indonesien: 2, 129, 133, 136 International Court of Justice: 6, 48, 50 ff., 54, 74, 85, 138, 168, 221, 224, 251 f., 310 International Criminal Court – Art. 6 ICC-Statut: 51, 68, 106, 127, 176, 180, 185, 195, 208, 210, 250, 271 f., 277, 309, 311 – Art. 30 ICC-Statut: 239 f., 250 – Bedeutung: 55 f., 65, 75 – Elements of Crimes: 70 f., 75, 106, 176, 180, 185,195, 208, 210, 233, 239, 250, 271 f., 277, 309
Sachregister
– Entstehungsgeschichte: 65 ff. – Historische Ursprünge: 11 ff., 18 f., 22, 64 – ICC-Statut: 51, 58 f., 67 ff., 70 f., siehe auch Art. 6 ICCstatut, Art. 30 ICC-Statut – Vorbereitende Arbeiten: 68 f., 127, 139, 154, 232, 271, 311, 324 – Zuständigkeit: 69 f., 272 International Criminal Law, siehe Völkerstrafrecht International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia – Entstehungskontext: 59 ff., 95 ff. International Criminal Tribunal for Rwanda – Entstehungskontext: 62 ff., 81 ff. International Law Association: 22 International Law Commission, siehe Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind International Military Tribunal: 28 f., 32, 35, 39, 41, 50, 56, siehe auch Nürnberger Gerichtshof International Military Tribunal for the Far East: 33, 55 f., 64 f. Internationaler Gerichtshof, siehe International Court of Justice Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte: 127, 136 ff.
Sachregister
Internationaler Strafgerichtshof, siehe International Criminal Court Istanbuler Prozesse: 19 f. Janjawid-Milizen: 189, siehe auch Darfur, Sudan Jelesic-Verfahren: 95, 97 ff., 103 ff., 118, 167, 242, 244 f., 246, 248, 258, 261, 276, 300 f., 317 Juden: 1, 20, 22, 26, 31, 35 f., 38 f., 53 f., 110, 112, 146, 151, 158, 162, 256, 262, 318 Jugoslawientribunal, siehe International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia Jus cogens: 51 f. Kajelijeli-Verfahren: 94, 179 f., 291 Kambodscha: 2, 5, 128, 132, 135, 141 f., 158, 162, 164, 285, siehe auch Khmer Rouge, Pol Pot Kamuhanda-Verfahren: 94, 179 f. Karadzic und MladicEntscheidung: 193, 203, 219, 221 Kastrationen, siehe Sterilisationen Kayishema und RuzindanaVerfahren: 80, 87 f., 105, 178 ff., 182, 192, 198, 202, 206, 242, 268, 291, 299 Khmer Rouge: 5, 128 f., 132, 141 f., 158, 164 f., 208, 285 ff., 321, siehe auch Kambodscha, Pol Pot Kongo: 144
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Kontrollratsgesetz Nr. 10: 34 f., 38 Konzentrationslager: 31, 38 f., 53, 103, 196 f., 302, siehe auch Arbeitslager, Zwangslager Kriegsrecht: 12, 14, 227 f. Kriegsverbrechen: 13, 15, 27 f., 30 ff., 38, 41, 43, 53, 59, 63, 68, 246, 277 Krstic-Verfahren: 4, 75, 95, 100 ff., 104 f., 107, 116 f., 183, 193, 219 f., 242 f., 247, 265, 289, 291 f., 297, 299 f., 303 ff., 308, 315, 317 f. Kulaken: 140 ff., 162 Kultureller Genozid: 4, 8 f., 45, 47, 152, 175, 206 f., 211 ff., 224, 322 Kulturrevolution: 142 Leipziger Prozesse: 17, 20 Lemkin: 22 ff., 41 f., 212, 253 f., 325 – Genozidkonzept: 24 ff., 29 f., 112, 149, 210 f., 253, 269, 280, 295, 313 Londoner Abkommen: 27 Martens’sche Klausel: 14, 228 Massaker: 15, 17 f., 59, 81, 87, 89, 91, 93, 97, 129, 133, 141, 162, 183, 218, 290, 305, 308, 315 f. Massenmord: 26, 30, 100, 134. 136, 146 ff., 162, 197, 213, 223 ff., 267, 282, siehe auch Massentötungen Massentötungen: 60, 127, 129, 132 f., 164, 148 f., 287, siehe auch Massenmord Maya: 135, 196, 269, siehe auch Guatemala
Sachregister
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Mazowiecki-Bericht: 189 Mengistu: 130, 139, 162, 197, 321 „Mein Kampf“: 256 Mens rea: 232, 238 f., siehe auch Absichtsmerkmal, Vorsatz Menschenrechte: 6, 12 f., 50, 128, 134, 139, 197, 214, 226 Minderheiten(schutz): 8, 11, 13, 20 ff., 43, 75, 101, 109, 117, 150 ff., 157, 212, 214, 226, 287, 321 Mladic, siehe Karadzic und Mladic-Entscheidung Motiv: 9, 47, 136, 172, 213, 247, 250, 259, 273 f., 276 ff., 285, 288 Muhimana-Verfahren: 94, 183, 291 Nagasaki, siehe Hiroshima Nahimana-Verfahren: 94, 275, 291 Namibia, siehe Herero Nationale Genozidbestimmungen – Äthiopien: 139, 198 – Bolivien: 110 – Costa Rica: 139, 145 – Deutschland, siehe Völkerstrafgesetzbuch – Elfenbeinküste: 110, 139 – Estland: 145 f. – Finnland: 159 – Frankreich: 159, 173, 269 – Israel: 252 – Kanada: 159 – Panama: 139 – Paraguay: 110 – Peru: 145 – Polen: 139
– – – – – – –
Rumänien: 159 Schweiz: 283 f. Slowenien: 145 Spanien: 198, 216, 234, 284 Türkei: 269 Weißrussland: 159 USA: 106, 186 f., 210, 252, 311, 318 Nationale Gruppen: 4, 8, 24, 26, 30 f., 36, 79 f., 85, 88, 98 f., 101 ff., 106 ff., 115 f., 118, 120, 131 ff., 146 f., 149, 157, 161, 167, 169 ff., 198, 247, 250, 253, 275, 277, 285 f., 321 Nationalsozialisten: 1 f., 22 f., 25, 35 f., 54, 128, 146, 158, 162, 188, 204, 211, 256, 318 Ndindabahizi-Verfahren: 94 Nikolic-Verfahren: 300 Niyitegeka-Verfahren: 94, 249, 276, 284 Ntakirutimana-Verfahren: 94, 249 Nürnberger Folgeprozesse: 33 ff. Nürnberger Gerichtshof: 29, 33 f., 56, siehe auch International Military Tribunal Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse: 1, 27 ff., 55 f., 64 f., 188 Nürnberger Prinzipien: 56 f. Nullum crimen (nulla poena)Grundsatz: 61, 68, 76, 114, 126, 232, 297 Osmanisches Reich: 17 ff. Pol Pot: 142, 262, siehe auch Kambodscha, Khmer Rouge
Sachregister
Politische Gruppen: 4 f., 40 f., 47, 68, 106, 111, 119, 124 ff., 142, 147, 154 f., 253, 285 f. Rassische Gruppe: 4, 8, 23, 26, 28, 31, 40 f., 79 f., 85, 88, 98 f., 101, 106 ff., 110 f., 112, 115 f., 120, 131 f., 146 f., 157, 167, 169 ff., 245, 250, 253, 275, 277, 286, 321 Religiöse Gruppen: 4, 8, 23, 26, 30, 36, 40 f., 79 f., 85, 88, 99, 101 f., 106 ff., 110 ff., 115 f., 120, 128 f., 131 ff., 146 f., 157, 161, 167 ff., 198, 222, 245, 250, 253, 275, 277, 285 f., 321 Realpolitik: 5, 65, 171, 321 Resolution 96 (I): 37, 39 ff., 44, 106, 124, 128, 149, 253, 278, 311 Ruanda – Expertenkommission: 62, 277 – Hintergründe des Konfliktes: 81 ff. Ruandatribunal, siehe International Criminal Tribunal for Rwanda Ruhashyankiko-Bericht: 75, 124 f., 214, 229, 325 Rutaganda-Verfahren: 80, 89 ff., 105, 192, 202, 206, 242 Ruzindana-Verfahren, siehe Kayishema und RuzindanaVerfahren Schwangerschaften, erzwungene: 8, 190 f., 204 f., siehe auch sexuelle Gewalttaten, Vergewaltigungen Schwangerschaftsabbrüche: 39, 203 f.
377
Schwerer körperlicher oder seelischer Schaden: 8, 175, 217 – Diskussion der Rechtsprechung: 184 ff. – Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale: 181 ff. Sechster Ausschuss, siehe Genozidkonvention Semanza-Verfahren: 80, 92 ff., 105, 249, 264, 291 Sexuelle Gewalttaten: 8, 60, 103, 181, 187 ff., 191, 223, 234, 291 f., siehe auch Schwangerschaften erzwungene, Vergewaltigungen Sikirica-Verfahren: 243, 248, 275, 284, 300 ff., 314, 317 Soziale Gruppen: 1, 4, 23, 68, 118 f., 124, 139 ff., 154 ff. Srebrenica: 100, 102, 183, 221, 248, 290, 304 ff., 317 Stakic-Verfahren: 95, 102 ff., 168, 192 f., 243, 248 f., 317 Staatliche Souveränität: 16, 22, 24, 27, 32, 49 f., 69 f., 96 Stalin(istisch): 124, 140, 158, 162, 165, 321 Stammesgruppen: 24, 115 f., 209, 296 Sterilisationen: 39, 202, 204, 207 Strafgesetzbuch, siehe Völkerstrafgesetzbuch Sudan: 2, 189, siehe auch Darfur, Janjawid-Milizen Tadic-Verfahren: 74, 237 f., 282 Tathandlungen: 3, 8 f., 57, 62, 97, 175 ff., 237, 250, 253, 278, 290 f., 293, 297, 305, 322
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– Anknüpfungspunkte für Reformen: 210 ff. – Beispielhafte Formulierung: 9, 57, 175, 211, 231 ff., 322 – Diskussion der Rechtsprechung, siehe einzelne Tatbestandsvarianten: 177 ff. – Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale, siehe einzelne Tatbestandsvarianten: 177 ff. – Reformbedarf: 210 ff. – Reformvorschlag: 234 f. – Sprachliche Korrekturen: 9, 211, 233 f., 322 Tatplan: 9, 266 ff., 322, siehe auch Absichtsmerkmal Tötung von Mitgliedern der Gruppe: 8, 169, 176 ff., 240, 283, 291 – Diskussion der Rechtsprechung: 179 ff. – Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale: 177 ff. Tokioter Kriegsverbrecherprozesse, siehe International Military Tribunal for the Far East Übereinkommen über die Rechte des Kindes: 210 Übereinkommen zur Beseitigung aller Formen von rassischer Diskriminierung: 110 Überführung von Kindern der Gruppe: 8, 47, 175 f., 212, 234, 294 – Diskussion der Rechtsprechung: 206 ff.
Sachregister
– Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale: 206 Umweltgenozid: 9, 211, 225 ff., 322 UN-Generalsekretär, siehe Genozidkonvention UN-Generalversammlung: 37, 39 f., 44, 46, 48, 56 f., 66, 220, 295, 315 UN-Sicherheitsrat: 60 ff., 122 United Nations War Crimes Commission: 27 Verbrechen der Aggression: 57, 59, 68 Verbrechen gegen den Frieden: 28, 30, 32, 34 f., 41 Verbrechen gegen die Menschlichkeit: 15 f., 19, 27, 28 f., 31 f., 34 ff., 50, 53, 59, 61, 63, 68, 84, 89, 91 ff., 98, 100, 103, 131, 165 f., 246, 268, 271, 284 Verbrechenselemente, siehe International Criminal Court (Elements of Crimes) Vergewaltigungen: 8, 11, 15, 181, 187 ff., 198, 202 ff., 218, 223, 225, 234, siehe auch Schwangerschaften, erzwungene, sexuelle Gewalttaten Vertrag von Lausanne: 19 Vertrag von Sèvres: 19 f. Vertrag von Versailles: 15 ff. Vertreibungen: 8, 25, 97, 193, 198 ff., 223, 225, 298 Völkergewohnheitsrecht: 50 ff., 54, 59, 61, 64, 68, 72, 74 f., 108, 126, 227, 239, 289, 297, 300, 315 Völkerrechtskommission, siehe Draft Code of Crimes
Sachregister
against the Peace and Security of Mankind Völkerstrafgesetzbuch – § 6 VStGB/§ 220 a StGB: 52 f., 71 ff., 161, 176, 186, 201 f., 294 f. Völkerstrafrecht: 6 f., 11 f., 14, 22, 32, 55 ff., 74, 114, 157 Vorsatz: 4, 9, 180, 201, 237 ff., 247, 250, 253, 256, 258 ff., 263, 265 f., 272, 322, siehe auch Absichtsmerkmal, Eventualvorsatz, Mens rea Weltrechtsprinzip: 23, 27, 54 Weltstrafgesetzbuch, siehe Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind Whitaker-Bericht: 75, 214, 226, 287, 310, 326 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge: 72, 270 Zerstörerische Lebensbedingungen: 8, 175, 207, 217, 229, 234, 237 – Diskussion der Rechtsprechung: 193 ff.
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– Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale: 191 f. Zerstörung der Gruppe – Anknüpfungspunkte für Reformen: 320 – Diskussion der Rechtsprechung: 292 ff. – Physisch/biologischer Zerstörungsbegriff: 9, 218 f., 278, 289 ff., 319 f., 322 f. – Rechtsprechung der UN ad hoc-Tribunale: 289 ff. – Reformbedarf: 319 f. – Reformvorschlag: 320 – Sozialer Zerstörungsbegriff: 8, 200, 218, 278, 283, 289 ff., 319 – Umfang der Zerstörung, siehe ganz oder teilweise Zusammenfassung: 321 ff. Zwangsarbeit(er): 192, 197, 231 Zwangslager: 191, 193, 218, siehe auch Arbeitslager, Konzentrationslager Zweiter Weltkrieg: 1, 20, 22, 27 ff., 53, 55, 101, 117, 128, 146, 185, 208, 257
Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht
Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht Hrsg.: A. von Bogdandy, R. Wolfrum Bde. 27–59 erschienen im Carl Heymanns Verlag KG Köln, Berlin (Bestellung an: Max-Planck-Institut für Völkerrecht, Im Neuenheimer Feld 535, 69120 Heidelberg); ab Band 60 im Springer-Verlag Berlin, Heidelberg, New York, London, Paris, Tokyo, Hong Kong, Barcelona 197 Angela Paul: Kritische Analyse und Reformvorschlag zu Art. II Genozidkonvention. 2008. XVI, 379 Seiten. Geb. E 84,95 196 Hans Fabian Kiderlen: Von Triest nach Osttimor. 2008. XXVI, 526 Seiten. Geb. E 94,95 195 Heiko Sauer: Jurisdiktionskonflikte in Mehrebenensystemen. 2008. XXXVIII, 605 Seiten. Geb. E 99,95 194 Rüdiger Wolfrum, Volker Röben (eds.): Legitimacy in International Law. 2008. VI, 420 Seiten. Geb. E 84,95 zzgl. landesüblicher MwSt. 193 Doris König, Peter-Tobias Stoll, Volker Röben, Nele Matz-Lück (eds.): International Law Today: New Challenges and the Need for Reform? 2008. VIII, 260 Seiten. Geb. E 69,95 zzgl. landesüblicher MwSt. 192 Ingo Niemann: Geistiges Eigentum in konkurrierenden völkerrechtlichen Vertragsordnungen. 2008. XXV, 463 Seiten. Geb. E 94,95 191 Nicola Wenzel: Das Spannungsverhältnis zwischen Gruppenschutz und Individualschutz im Völkerrecht. 2008. XXXI, 646 Seiten. Geb. E 99,95 190 Winfried Brugger, Michael Karayanni (eds.): Religion in the Public Sphere: A Comparative Analysis of German, Israeli, American and International Law. 2007. XVI, 467 Seiten. Geb. E 89,95 zzgl. landesüblicher MwSt. 189 Eyal Benvenisti, Chaim Gans, Sari Hanafi (eds.): Israel and the Palestinian Refugees. 2007. VIII, 502 Seiten. Geb. E 94,95 zzgl. landesüblicher MwSt. 188 Eibe Riedel, Rüdiger Wolfrum (eds.): Recent Trends in German and European Constitutional Law. 2006. VII, 289 Seiten. Geb. E 74,95 zzgl. landesüblicher MwSt. 187 Marcel Kau: United States Supreme Court und Bundesverfassungsgericht. 2007. XXV, 538 Seiten. Geb. E 99,95 zzgl. landesüblicher MwSt. 186 Philipp Dann, Michal Rynkowski (eds.): The Unity of the European Constitution. 2006. IX, 394 Seiten. Geb. E 79,95 zzgl. landesüblicher MwSt. 185 Pál Sonnevend: Eigentumsschutz und Sozialversicherung. 2008. XVIII, 278 Seiten. Geb. E 74,95 184 Jürgen Bast: Grundbegriffe der Handlungsformen der EU. 2006. XXI, 485 Seiten. Geb. E 94,95 183 Uwe Säuberlich: Die außervertragliche Haftung im Gemeinschaftsrecht. 2005. XV, 314 Seiten. Geb. E 74,95 182 Florian von Alemann: Die Handlungsform der interinstitutionellen Vereinbarung. 2006. XVI, 518 Seiten. Geb. E 94,95 181 Susanne Förster: Internationale Haftungsregeln für schädliche Folgewirkungen gentechnisch veränderter Organismen. 2007. XXXVI, 421 Seiten. Geb. E 84,95 180 Jeanine Bucherer: Die Vereinbarkeit von Militärgerichten mit dem Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 8 Abs. 1 AMRK und Art. 14 Abs. 1 des UN Paktes über bürgerliche und politische Rechte. 2005. XVIII, 307 Seiten. Geb. E 74,95 179 Annette Simon: UN-Schutzzonen – Ein Schutzinstrument für verfolgte Personen? 2005. XXI, 322 Seiten. Geb. E 74,95 178 Petra Minnerop: Paria-Staaten im Völkerrecht? 2004. XXIII, 579 Seiten. Geb. E 99,95
177 Rüdiger Wolfrum, Volker Röben (eds.): Developments of International Law in Treaty Making. 2005. VIII, 632 Seiten. Geb. E 99,95 zzgl. landesüblicher MwSt. 176 Christiane Höhn: Zwischen Menschenrechten und Konfliktprävention. Der Minderheitenschutz im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). 2005. XX, 418 Seiten. Geb. E 84,95 175 Nele Matz: Wege zur Koordinierung völkerrechtlicher Verträge. Völkervertragsrechtliche und institutionelle Ansätze. 2005. XXIV, 423 Seiten. Geb. E 84,95 174 Jochen Abr. Frowein: Völkerrecht – Menschenrechte – Verfassungsfragen Deutschlands und Europas. Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Matthias Hartwig, Georg Nolte, Stefan Oeter, Christian Walter. 2004. VIII, 732 Seiten. Geb. E 119,95 173 Oliver Dörr (Hrsg.): Ein Rechtslehrer in Berlin. Symposium für Albrecht Randelzhofer. 2004. VII, 117 Seiten. Geb. E 54,95 172 Lars-Jörgen Geburtig: Konkurrentenrechtsschutz aus Art. 88 Abs. 3 Satz 3 EGV. Am Beispiel von Steuervergünstigungen. 2004. XVII, 412 Seiten (4 Seiten English Summary). Geb. E 84,95 171 Markus Böckenförde: Grüne Gentechnik und Welthandel. Das Biosafety-Protokoll und seine Auswirkungen auf das Regime der WTO. 2004. XXIX, 620 Seiten. Geb. E 99,95 170 Anja v. Hahn: Traditionelles Wissen indigener und lokaler Gemeinschaften zwischen geistigen Eigentumsrechten und der public domain. 2004. XXV, 415 Seiten. Geb. 84,95 169 Christian Walter, Silja Vöneky, Volker Röben, Frank Schorkopf (eds.): Terrorism as a Challenge for National and International Law: Security versus Liberty? 2004. XI, 1484 Seiten. Geb. E 169,95 zzgl. landesüblicher MwSt. 168 Kathrin Osteneck: Die Umsetzung von UN-Wirtschaftssanktionen durch die Europäische Gemeinschaft. 2004. XXXIX, 579 Seiten. Geb. E 99,95 167 Stephan Sina: Der völkerrechtliche Status des Westjordanlandes und des Gaza-Streifens nach den Osloer Verträgen. 2004. XXI, 410 Seiten. Geb. E 84,95 166 Philipp Dann: Parlamente im Exekutivföderalismus. 2004. XXIII, 474 Seiten. Geb. E 89,95 165 Rüdiger Wolfrum (Hrsg.): Gleichheit und Nichtdiskriminierung im nationalen und internationalen Menschenrechtsschutz. 2003. VIII, 299 Seiten. Geb. E 74,95 164 Rüdiger Wolfrum, Nele Matz: Conflicts in International Environmental Law. 2003. XI, 213 Seiten. Geb. E 64,95 zzgl. landesüblicher MwSt. 163 Adam Bodnar, Michal Kowalski, Karen Raible, Frank Schorkopf (eds.): The Emerging Constitutional Law of the European Union. 2003. IX, 595 Seiten. Geb. E 99,95 zzgl. landesüblicher MwSt. 162 Jochen Abr. Frowein, Klaus Scharioth, Ingo Winkelmann, Rüdiger Wolfrum (Hrsg.): Verhandeln für den Frieden/Negotiating for Peace. Liber Amicorum Tono Eitel. 2003. XIII, 866 Seiten. Geb. E 129,95 161 Michaela Fries: Die Bedeutung von Artikel 5 (f ) der Rassendiskriminierungskonvention im deutschen Recht. 2003. XIX, 429 Seiten. Geb. E 84,95 160 Helen Keller: Rezeption des Völkerrechts. 2003. XXXV, 855 Seiten. Geb. E 129,95 159 Cordula Dröge: Positive Verpflichtungen der Staaten in der Europäischen Menschenrechtskonvention. 2003. XX, 432 Seiten. Geb. E 89,95 158 Dagmar Richter: Sprachenordnung und Minderheitenschutz im schweizerischen Bundesstaat. 2005. LIV, 1315 Seiten. Geb. E 179,95 157 Thomas Giegerich: Europäische Verfassung und deutsche Verfassung im transnationalen Konstitutionalisierungsprozeß: Wechselseitige Rezeption, konstitutionelle Evolution und föderale Verflechtung. 2003. LXV, 1534 Seiten. Geb. E 199,95 156 Julia Sommer: Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht. 2003. XXX, 891 Seiten. Geb. E 129,95 155 Frank Schorkopf : Die Maßnahmen der XIV EU-Mitgliedstaaten gegen Österreich – Möglichkeiten und Grenzen einer ,,streitbaren Demokratie” auf europäischer Ebene. 2002. XIII, 217 Seiten. Geb. E 64,95