Exzellenzcluster ,Gesellschaftliche Abhängigkeiten und soziale Netzwerke‘ Krisen und Schulden
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Exzellenzcluster ,Gesellschaftliche Abhängigkeiten und soziale Netzwerke‘ Krisen und Schulden
Exzellenzcluster ,Gesellschaftliche Abhängigkeiten und soziale Netzwerke‘
Krisen und Schulden Historische Analysen und gegenwärtige Herausforderungen
Herausgegeben von Curt Wolfgang Hergenröder
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Satz: Priska Schorlemmer Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17993-3
Inhaltsverzeichnis
Vorwort ................................................................................................................. 7 Ulrich Förstermann Grußworte ............................................................................................................. 9
I. Krisenbewältigung in der Praxis Dirk Seifert Wege aus der Krise in Europa, Deutschland und Rheinland-Pfalz ..................... 15 Wolfgang Spitz Inkassounternehmen. Mittler zwischen Gläubiger und Schuldner...................... 21
II. Krisen im Blickpunkt der Wissenschaft Nina Bender/Klaus Breuer Junge Menschen und frühe Schulden – Finanzielle Handlungskompetenz im Fokus wirtschaftspädagogischer Forschung…………………………………….45 Michael Bock Kriminalität in Krisen. Einige Anmerkungen zu späten Einstiegen in die Straffälligkeit ...................................................................................................... 63 Désirée Bender/Tina Hollstein/Lena Huber/Cornelia Schweppe Krisen und Schulden: Sozialpädagogische Perspektiven .................................... 81 Curt Wolfgang Hergenröder Krisenbewältigung durch juristische Begriffsbildung – Verbraucherschutz als Schuldnerschutz ............................................................. 99
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Inhaltsverzeichnis
Carsten Homann Krise und Schulden – Eine (rechtliche) Begriffsklärung .................................. 125 Sonja Justine Kokott Krisen im Recht ................................................................................................ 137 Eva Münster/Stephan Letzel Krankheit als Auslöser einer Überschuldungssituation von Privatpersonen – Ursachen-Wirkungsbeziehung von Krankheit und Schuldenkrise.................... 157 Daniel Reupke Finanzkrise historisch – Kreditnetzwerke in der SaarLorLux-Region während der Krisenszenarien des 19. Jahrhunderts. ......................................... 165 Susanne Schake Augustus’ Krisenmanagement in den Provinzen: Schuldenbekämpfung durch Verwaltungsmaßnahmen? ....................................................................... 191 Thomas Wirtz Schulden und Krise in spätmittelalterlichen Städten ........................................ 215
Autorenverzeichnis……………………………...……………………………221
Vorwort
Private Schulden bedrohen nicht nur die autonome Lebensgestaltung von Individuen, sondern führen auf lange Sicht zu einem gesamtgesellschaftlichen Problem, wenn die aus Arbeitskraft entstehenden Pfeiler der sozialen Sicherung wegbrechen und die über Generationenverträge ausgehandelten Abkommen durch zunehmende Ausfälle der Geberpersonen gefährdet sind. In einem interdisziplinären Zugang widmet sich der rheinland-pfälzische Exzellenzcluster der Universitäten Mainz und Trier „Gesellschaftliche Abhängigkeiten und soziale Netzwerke“ sowie der Interdisziplinäre Arbeitskreis „Armut und Schulden“ der Universität Mainz in Kooperation mit einem Forschungsprojekt der Universität des Saarlandes in Saarbrücken den mannigfaltigen Facetten der Schuldenproblematik. Die Forschergruppe vereint historische, juristische, kriminologische, sozialmedizinische, erziehungswissenschaftliche und wirtschaftspädagogische Theorien und Methoden und stellt die Ergebnisse in einem fortwährenden Austausch zur Diskussion. Auf einer Makroebene werden sowohl die wirtschaftliche Bedeutsamkeit von privaten Schulden sowie die rechtlichen Rahmenbedingungen thematisiert. Berücksichtigt wird im Verbund zudem die personale Ebene unter Einbezug der möglichen auslösenden Faktoren finanzieller Krisen, der intrapersonellen Regulation finanzieller Entscheidungen sowie der psychosozialen und sozioökonomischen Folgen und Hintergründe von unangemessener Verschuldung und Überschuldung. Historische und aktuelle Forschung stehen hierbei in einem ertragreichen Diskurs; die Erkenntnisse der Geschichte dienen der Interpretation der Befunde aus der Gegenwart. Die Auswirkungen der ökonomischen Zwangslage auf die wirtschaftliche, rechtliche, gesellschaftliche und gesundheitliche Lebenssituation der Betroffenen stehen ebenso im Fokus des wissenschaftlichen Interesses wie das weite Feld der Bewältigungsstrategien und Unterstützungskonzepte auf dem Weg in die wirtschaftliche und soziale (Re-)Integration des überschuldeten Personenkreises in gesellschaftliche Handlungsformen. Untersucht werden auch die besonderen Herausforderungen, mit denen junge Menschen am Übergang in die finanzielle Autonomie konfrontiert sind. Die Konzepte sozialer Unterstützung für die besonders schutzbedürftige Gruppe der zahlungsunfähigen Privatpersonen standen im Mittelpunkt des ersten Symposiums „Gläubiger, Schuldner, Arme – Netzwerke und die Rolle des Ver-
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Vorwort
trauens“ vom 15. Mai 2009. Der hierzu erschienene Tagungsband vereint den Blick der unterschiedlichen Wissenschaften auf die Bedeutung des persönlichen Unterstützungsnetzwerks eines zahlungsunfähigen Schuldners und betont die Relevanz der Erhaltung und Ausdehnung hilfreicher Netzwerkstrukturen und Netzwerkbeziehungen im sozialen Umfeld der betroffenen Personen. Das zweite Symposium „Krisen und Schulden“ am 16. Juli 2010 an der Universität Mainz beschäftigte sich mit der gesellschaftspolitischen Dimension der Schuldenproblematik. Die Herausforderung der Konferenz bestand in der Annäherung an die Bedeutungsunterschiede von finanziellen Krisen. Fokussiert wurden sowohl die in Interaktion stehenden Akteure in Schuldverhältnissen (Gläubiger und Schuldner) als auch das unterschiedliche Verständnis des Begriffs „Krise“ in den beteiligten wissenschaftlichen Disziplinen. Die Effekte von Schulden und ökonomischen Krisen auf gesellschaftliche Systeme und Strategien zu deren Bewältigung werden unter Berücksichtigung der begrifflichen Orientierungen der einzelnen Wissenschaftsdisziplinen in den folgenden Beiträgen erörtert. Damit greift die vorliegende Publikation nicht nur eine in individueller und gesellschaftlicher Sicht zunehmend relevante Problematik auf, sondern stellt sich auch dem Anspruch interdisziplinärer Bearbeitung.
Grußworte Prof. Dr. Ulrich Förstermann Vizepräsident der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Meine sehr verehrten Damen und Herren, willkommen zum diesjährigen Kolloquium des Teilbereichs „Gläubiger und Schuldner, Kreditbeziehungen im Zeichen monetärer Abhängigkeiten“ (Exzellenzcluster der Universitäten Mainz und Trier) und dem Mainzer Arbeitskreis „Armut und Schulden“. Besonders begrüßen darf ich Herrn Dr. Dirk Seifert vom Ministerium für Wirtschaft, Verkehr, Landwirtschaft und Weinbau Rheinland-Pfalz sowie Herrn Wolfgang Spitz vom Präsident des Bundesverbandes Deutscher InkassoUnternehmer. Ich freue mich, dass Sie alle der Einladung der Kolleginnen und Kollegen nach Mainz gefolgt sind und auch in diesem Jahr unser Tagungsangebot bereichern, indem Sie Ihre Forschungsergebnisse einer interessierten Öffentlichkeit vorstellen. Ziel des Symposiums ist es, den Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen Krisensituationen und Schulden aufzuzeigen. Neben wirtschaftlichen und politischen Krisen einer staatlichen Ordnung sind auch Krisen in der individuellen Lebensführung Gegenstand der Untersuchung. Diese Thematik ist im Zeichen der Finanzkrise und der immer weiter steigenden Zahl privater Insolvenzen hoch aktuell. So ist die Unterstützung zahlungsunfähiger Privatpersonen sowie eine Präventionsstrategie zur Vermeidung von Überschuldung dringend notwendig. Gesundheitliche und soziale Beeinträchtigungen, die mit einer Überschuldung einhergehen, können eine deutliche Reduzierung der Teilhabechance an unserem Gesellschaftssystem zur Folge haben. Die Überschuldung privater Haushalte ist zu einem gesellschaftspolitischen Problem ersten Ranges geworden: In Deutschland gelten rund 7 Millionen Menschen als zahlungsunfähig und für die nächsten Jahre wird angesichts der durch die Bankenkrise verursachten wirtschaftlichen Schieflage eine neue Welle von Privatinsolvenzen prognostiziert.
C. W. Hergenröder (Hrsg.), Krisen und Schulden, DOI 10.1007/978-3-531-93085-5_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Ulrich Förstermann
Das Phänomen ist somit von herausragender sozialpolitischer Bedeutung. Im Jahr 2009 fand an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz die erste entsprechende Tagung mit dem Titel „Gläubiger, Schuldner, Arme – Netzwerke und die Rolle des Vertrauens“ statt. Die diesjährige Veranstaltung setzt die im letzten Jahr begonnene Tradition fort. Mainz ist dabei ein durchaus inspirierender Veranstaltungsort. Die Johannes Gutenberg-Universität zählt als Wissenschaftsstandort zu den forschungsstarken deutschen Hochschulen. Rund 2.800 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, darunter 560 Professorinnen und Professoren, lehren und forschen hier in mehr als 150 Instituten und Kliniken. Die große Zahl der am Exzellenzcluster „Gesellschaftliche Abhängigkeiten und soziale Netzwerke“ beteiligten Mainzer Wissenschaftlern unterstreicht die Stellung des Wissenschaftsstandortes Mainz. Der Interdisziplinäre Arbeitskreis „Armut und Schulden“ sowie der Teilbereich I „Gläubiger und Schuldner, Kreditbeziehungen im Zeichen monetärer Abhängigkeiten“ des Exzellenzclusters Trier/Mainz haben im vergangenen Jahr anlässlich des damaligen Symposiums ein gemeinsames Sonderheft der Zeitschrift für Verbraucher- und Privatinsolvenzrecht (ZVI) mit ihren Beiträgen bestritten. Die Tatsache, dass eine juristische Fachzeitschrift ein Sonderheft mit historischen, erziehungswissenschaftlichen, medizinischen, kriminologischen, wirtschaftspädagogischen und juristischen Fachbeiträgen zur Überschuldung der deutschen Gesellschaft herausgibt, beweist das große fachübergreifende Interesse an diesen Forschungsergebnissen. Neben diesen Tagungen bestehen vielfältige Aktivitäten der beteiligten Wissenschaftler zur Einwerbung weiterer Drittmittel, um den Forschungsstützpunkt auszubauen. Langfristig ist die Beantragung einer DFG-Forschergruppe geplant. Die Johannes Gutenberg-Universität unterstützt die weitere Entwicklung dieser Zusammenarbeit in vollem Umfang. Dank sei an dieser Stelle den veranstaltenden Kollegen Prof. Dr. Hergenröder und Prof. Dr. Letzel für Ihr Engagement bei der Organisation dieser Tagung gesagt. In Anbetracht der vielfältigen anderen Verpflichtungen ist ein derartiges Engagement nicht selbstverständlich. Mein Dank gilt auch den beteiligten Kooperationspartnern, so Herrn Prof. Dr. Dr. Bock (Kriminologie, Universität Mainz), Herrn Prof. Dr. Breuer (Wirtschaftspädagogik, Universität Mainz), Frau Prof. Dr. Clemens (Universität des Saarlandes), Herrn Prof. Dr. Hamburger (Pädagogik, Universität Mainz), Frau Prof. Dr. Herrmann-Otto (Universität Trier), Herrn Prof. Dr. Irsigler (Universität
Grußworte
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Trier), Frau Prof. Dr. Schnabel-Schüle (Universität Trier) sowie Frau Prof. Dr. Schweppe (Pädagogik, Universität Mainz). Ich darf Ihnen für den heutigen Tag in Mainz anregende Diskussionen und interessante Begegnungen wünschen. Ich hoffe sehr, Sie spätestens bei der nächsten Veranstaltung dieser Symposiumsreihe wieder hier an der der Johannes Gutenberg-Universität begrüßen zu dürfen! Herzlichen Dank und viel Erfolg für Ihren heutigen Tag.
I. Krisenbewältigung in der Praxis
Wege aus der Krise in Europa, Deutschland und Rheinland-Pfalz Dirk Seifert
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zunächst vielen Dank für die freundliche Einladung zu diesem hochinteressanten Symposium „Krisen und Schulden“. Ich darf Ihnen auch herzliche Grüße von Herrn Minister Hendrik Hering übermitteln, der leider nicht persönlich teilnehmen kann. Das Thema meines Vortrags lautet: „Wege aus der Krise in Europa, Deutschland und Rheinland-Pfalz“. Das ist – zugegeben – eine umfangreiche Thematik. Diese Gesamtbetrachtung von EU-, Bundes- und Landesebene ist jedoch angesichts der wirtschaftlichen und politischen Verzahnungen und Interdependenzen unabdingbar. Für mich liegt dabei die Betonung auf dem Wort „Wege“. Es geht um Wege aus der Krise. Schön wäre es natürlich, wüssten wir heute schon Patentantworten oder gar einen Königsweg. Dem ist aber leider nicht so. Die Wege aus der Krise in Europa, Deutschland und Rheinland-Pfalz erinnern mich ein wenig an unsere dreispurigen Autobahnen nach dem harten Winter. Alle Fahrspuren weisen Schlaglöcher auf. Alle drei müssen wieder eben und durchgängig befahrbar werden, wollen wir gemeinsam vorankommen. Einige dieser Unebenheiten haben sich relativ kurzfristig glätten, einige Schlaglöcher zügig neu füllen lassen. Andere Fahrbahnabschnitte aber müssen gänzlich neu präpariert werden. Da gibt es unausweichlich jede Menge Baustellen, Diskussionen und Ärger, auch Umwege und Umleitungen. Die wesentlichen wirtschaftspolitischen Ziele von EU, Bund und Land aber dürfen wir bei alledem nicht aus den Augen verlieren. Um Wachstum zu generieren, braucht es Stabilität und Wettbewerbsfähigkeit. Zum Erreichen dieser Ziele bietet das derzeitige konjunkturelle Umfeld eine recht solide Basis. In diesen Tagen hat der IWF seine Wachstumsprognose für 2010 erneut nach oben korrigiert. Das globale Wachstum werde vor allem von aufstrebenden Staaten wie China, Indien und Brasilien angetrieben. Auch für Deutschland rechnet der IWF weiter mit einer moderaten Erholung.
C. W. Hergenröder (Hrsg.), Krisen und Schulden, DOI 10.1007/978-3-531-93085-5_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Dirk Seifert
Erstaunlich stabil präsentiert sich zudem der Arbeitsmarkt in Deutschland und Rheinland-Pfalz. Auf den Wirtschaftseinbruch hat er gerade auch in Rheinland-Pfalz äußerst robust reagiert. So nähert sich die Zahl der Arbeitslosen in Rheinland-Pfalz wieder dem Niveau der Zeit kurz vor Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise. Die Arbeitslosenquote lag im Juni 2010 bei 5,5 Prozent. Im Juni 2009 hatte sie noch 6,1 Prozent betragen. Rheinland-Pfalz besitzt damit im Ländervergleich den drittbesten Wert nach Bayern und Baden-Württemberg. Dies ist vor allem auch das Ergebnis besonders verantwortungsvollen Handelns unserer mittelständischen Unternehmen, die genau wissen, was sie an ihren gut ausgebildeten Arbeitnehmern haben. Aber auch die Landesregierung hat Anteil an dieser Entwicklung, indem ganz bewusst der Weg eingeschlagen wurde, Unternehmen in der Krise zu unterstützten. Selbstverständlich gilt es dabei immer, den Einzelfall zu prüfen. Liegt ein tragfähiges Geschäftsmodell vor und ist das Unternehmen tatsächlich aufgrund der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise und eben nicht aus anderen Gründen in massive Schwierigkeiten gekommen – sollte schnell, entschlossen und gezielt gehandelt und das Unternehmen unterstützt werden. Rheinland-Pfalz hat daher schon sehr frühzeitig – noch bevor auf Bundesebene von einem Konjunkturpaket II die Rede war – den Bürgschaftsrahmen des Landes massiv ausgeweitet und die Bürgschaftsvergabe vereinfacht. Und es hat sich gezeigt, dass dieser Weg richtig war, die Maßnahmen dem Mittelstand unmittelbar helfen und den Landeshaushalt gleichzeitig nur gering belasten. Hinzu gekommen sind die Maßnahmen im Rahmen des Konjunkturpaktes II. Mit zusätzlichen Investitionen von mehr als 820 Millionen Euro stemmt sich Rheinland-Pfalz in den Jahren 2009 bis 2011 gegen die Finanz- und Wirtschaftskrise. Von diesen Mitteln stammen 469 Millionen Euro vom Bund, den Rest tragen Land, Kommunen und freie Träger. Rund zwei Drittel der Mittel fließen in die Bildungsinfrastruktur. Mehr als drei Viertel des Fördermittelvolumens fließen in kommunale Aufgabenbereiche, in dringende Zukunftsinvestitionen, stärken die kommunale Liquidität, geben wichtige Impulse und ermöglichen Aufträge für den lokalen und regionalen Mittelstand. Gerade in diesem Frühjahr und Sommer beobachten wir eine Wirtschaft in Rheinland-Pfalz, deren Erholung sich dynamisch fortsetzt. Die Geschäftslage bessert sich zunehmend, die Unternehmen blicken gegenwärtig sehr positiv in die Zukunft. Dies zeigen die Umfragen der Kammern im Land wie auch die statistischen Kennziffern der Auftrags- und Umsatzentwicklung. Es scheint derzeit, dass wir in 2010 ein Wirtschaftswachstum in Deutschland und in Rheinland-Pfalz erreichen, das sogar leicht über zwei Prozent liegen könnte. Dies alles stimmt hoffnungsfroh. Aber dennoch bleibt in diesem jetzt stabiler werdenden Aufschwung das Thema der Unternehmensfinanzierung ganz vorn auf der wirt-
Wege aus der Krise
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schaftspolitischen Agenda. Denn nach einem wirtschaftlichen Abschwung ist – wie wir wissen – die Eigenkapitaldecke der Unternehmen vielfach noch sehr dünn, gleichzeitig aber steigen der Investitions- und Kapitalbedarf. Auch hier gilt es weiter, adäquate Wege aufzuzeigen und zu gehen. In Rheinland-Pfalz sind wir dabei, mit einem neuen Mittelstandsförderungsgesetz zukunftsweisende Antworten auf diese Herausforderungen zu geben. Überschuldungen und Unternehmensinsolvenzen gilt es unbedingt zu vermeiden. Geht es doch um Arbeitsplätze, um Vermögenswerte, eingespielte Unternehmensorganisationen, langjährige Erfahrungen in Forschung und Innovation, Produktion und Absatz. Eine möglichst maßgeschneiderte Mittelversorgung für den Mittelstand gerade jetzt im Aufschwung ist entscheidend für unseren wirtschaftlichen Erfolg und für unseren Wohlstand von morgen. Zugute kommt uns, dass wir in Deutschland gerade mit den Sparkassen, Volksbanken und Raiffeisenbanken verlässliche starke Partner für den Mittelstand haben. Und dennoch wäre es wohl vermessen, würde man die im Herbst 2008 so vehement zutage getretenen Probleme im Bankensektor, auf den Finanzmärkten für gelöst halten. Es ist daher richtig, die Kraft ebenso auf die Prävention von Finanzkrisen zu richten. Vielfältig sind die Aspekte und Maßnahmen, die derzeit auf europäischer und auch auf G 20 Ebene diskutiert werden und zum Teil mehr und mehr Gestalt annehmen. Zu nennen ist das Fitmachen der Eurozone für den Fall staatlicher Liquiditäts- und Solvenzkrisen durch eine grundlegende Reform des Europäischen Stabilitätspaktes, die Überwachung nationaler Haushalte, scharfe Sanktionen bei Verstößen, Insolvenzverfahren für Pleitestaaten oder auch die verstärkte Koordination der Wirtschaftspolitiken. Und damit sind wir mittendrin in einer der Großbaustellen auf dem Weg aus der Krise. Eine äußerst spannende zumal. Es geht um Kompetenz- und Machtfragen, um Fragen von Staatsverständnis und Staatlichkeit. Gerade aus der Sicht eines Bundeslandes in einem föderalen Staat ist es wichtig, dass bei all diesen Prozessen, Neujustierungen und Neuordnungen die Grundsätze von Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben. Wie schwierig eine europäische Lösung in diesen Feldern ist, hat sich gerade in diesen Tagen in Straßburg gezeigt. Verhandlungen zwischen EUKommission, Rat und Parlament bezüglich einer dreifachen EU-Finanzaufsicht für Banken, Börsen und Versicherungen sind sehr kontrovers geführt worden und eine einvernehmliche Lösung wurde erst sehr spät erreicht. Etliche Mitgliedstaaten fürchten die Aushebelung ihrer nationalen Kompetenzen und ihrer nationalen Kontrollbehörden. Stabilität der Währung, akzeptables Zinsniveau – dies wird mittelfristig nur realisierbar sein, wenn der Weg der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte konsequent und auch intelligent beschritten wird. Finanzmärkte und gesamtwirt-
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Dirk Seifert
schaftliche Nachfrage wurden von der Bundesregierung seit Herbst 2008 mit immensen Beträgen stabilisiert. „Alternativlos“ – dies war in der Hochphase der Krise und Krisenbewältigung eine der in diesem Zusammenhang häufig verwendeten Vokabeln. Auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat in seinem Jahresgutachten 2009/2010 die deutschen Konjunkturprogramme gelobt. Mit ihnen sei eine Stabilisierung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage gelungen, ein noch stärkerer Einbruch des Bruttoinlandsprodukts sei verhindert worden. Alternativlos ist es nun aber auch, dass eine deutliche Reduzierung der staatlichen Neuverschuldung konsequent in Angriff genommen wird. Denn es geht um das Zurückgewinnen des Vertrauens von Konsumenten und privaten Unternehmen in die Handlungsfähigkeit des Staates. Konsum und Investition sind immer auch eine Frage des Vertrauens. Ob allerdings das aktuelle Sparpaket des Bundes dieses Vertrauen tatsächlich herstellen kann, bleibt mehr als fraglich. Kleinteilig, sozial ausgesprochen unausgewogen und verbunden mit einer erschreckenden Ungewissheit über tatsächlich zu realisierende Konsolidierungsvolumina – vertrauensbildende Maßnahmen sollten anders aussehen, damit positive Wirkungen auf die konjunkturelle Entwicklung ausgelöst werden. Völlig unausgegoren mutet einem in diesem Zusammenhang auch der Versuch an, das Fiskusprivileg im Insolvenzverfahren wieder einzuführen. Hier rechnet der Bund laut Sparpaket mit angeblich jährlich 500 Millionen Euro. Dies allerdings wären extrem teuer erkaufte Einnahmen. Der Bundesverband Deutscher Inkassounternehmen hat zu Recht davor gewarnt, dass diese Maßnahme zu ganz erheblichen Forderungsverlusten für kleine und mittlere Unternehmen führen kann. Ein Anstieg der Unternehmensinsolvenzen sei zu befürchten. Ich sehe dies genau so. Denn der Fiskus hätte dann ja keinen Anreiz mehr, sich zur Abwendung eines Insolvenzverfahrens auf Verhandlungen über die Rückzahlung von Steuerforderungen einzulassen. Gerade in der jetzigen Wirtschaftssituation ist dies absolut kontraproduktiv und entspricht in keiner Weise der angestrebten konstruktiven Gesamtreform des Insolvenzrechts. Hinzu kommt, dass wir zwar derzeit davon ausgehen können, aber nicht wirklich wissen, ob die konjunkturelle Erholung im Jahr 2011 tatsächlich weiter uneingeschränkt stabil fortschreitet. Ich zitiere Keynes, der lakonisch formulierte: „Die Märkte können länger irrational bleiben, als du solvent.“
Wir sollten positiv gewappnet sein. Das Wirtschaftsministerium Rheinland-Pfalz ist daher der Auffassung, dass die Instrumente, die sich in der Krise bewährt haben, – wie etwa der Wirtschaftsfonds Deutschland – über das Jahresende 2010 hinaus verlängert werden sollten.
Wege aus der Krise
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Angesichts der Schuldenbremse, der prognostizierten sinkenden Steuereinnahmen, des traditionell hohen Personalanteils der Länderhaushalte und der demographischen Entwicklung sind auch die Konsolidierungsaufgaben der Länder mit Sicherheit kein leichter Sommerspaziergang. Umso wichtiger ist es, konsequent und kontinuierlich weiter in die Bereiche zu investieren, die direkte Zukunft bedeuten. Dies sind Bildung, Ausbildung, Fachkräfte. Es sind die zentralen Stichworte, gerade auch in Bezug auf unseren Mittelstand. Rheinland-Pfalz wird daher den erfolgreich eingeschlagenen Weg weitergehen, nachhaltig in Bildung und Ausbildung investieren und die duale Ausbildung im Land weiter stärken. Denn es sind die gut ausgebildeten Menschen, die die Zukunft unseres schönen Landes, die Zukunft von Rheinland-Pfalz mit innovativen Technologien, Produktionsverfahren und Produkten bestimmen. Ich freue mich nun sehr auf die folgenden Vorträge des Symposiums „Krisen und Schulden“ zu den Themen „Inkassounternehmen“, „Finanzkrise historisch“, „Kriminalität in Krisen“ und „junge Menschen und frühe Schulden“. Besonders freue ich mich auf den Vortrag zu Augustus Krisenmanagement in den Provinzen. Ich bin überzeugt: Erst die offene und zugleich intensive Erörterung einer Thematik aus der Sicht und Erfahrung verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen macht den Weg frei für ein Verständnis des Ganzen. Und ich bin sicher: Wir alle werden heute ein gutes Stück dazulernen. Ganz herzlichen Dank daher allen engagierten Damen und Herren, die diese hochklassige Veranstaltung betreut, organisiert und möglich gemacht haben.
Inkassounternehmen. Mittler zwischen Gläubiger und Schuldner Wolfgang Spitz
Es gibt wohl kaum jemanden, der mit dem Begriff „Inkasso“ nicht einschlägige Vorstellungen und ein gewisses Unbehagen verbindet, was nicht zuletzt auch auf manche Berichte in den Medien zurückzuführen ist, in denen die Tätigkeit von Inkassounternehmen mit Schuldner- Besuchen von sog. „Außendienst- Mitarbeitern“ in Verbindung gebracht wird, die in Lederjacken vor der Türe des Schuldners stehen und die ihrem Verlangen nach Bezahlung der Schuld zudem auch noch durch das Vorzeigen eines Baseball-Schlägers Nachdruck verleihen. Da gerade das Medium „Fernsehen“ von bewegten Bildern und von „action“ lebt, haben sich derartige medienwirksame Aktivitäten von Geldeintreibern, die mit den Mitteln der Nötigung oder Erpressung, also mit unzulässigen und in der Regel strafbaren Methoden versuchen, die Forderungen ihrer Auftraggeber einzutreiben, in vielen Fällen in den Köpfen festgesetzt. Tatsächlich hat die tägliche Arbeit von Inkassounternehmen – jedenfalls solcher, die Mitglieder des BDIU sind – mit derartigen Aktivitäten aber nichts zu tun: In aller Regel geht es vielmehr um die eher unspektakuläre Fallbearbeitung anhand der Akte. Da die gegenüber der Tätigkeit von Inkassounternehmen bestehenden Vorbehalte vor allem auf unzureichende Kenntnisse über die rechtlichen Rahmenbedingungen der Inkassotätigkeit sowie auch über die Aufgaben und die Dienstleistungsangebote der Inkassounternehmen zurückzuführen sind, soll dieser Beitrag insofern hier Abhilfe leisten und für Aufklärung sorgen und gleichzeitig ein differenziertes Bild der Inkassowirtschaft vermitteln.
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Der BDIU e.V. – Interessenvertretung des Berufsstandes
Die Interessen der Inkassowirtschaft gegenüber Politik und Öffentlichkeit vertritt der im Jahre 1956 gegründete Bundesverband Deutscher Inkasso-Unternehmen e.V. (BDIU).
C. W. Hergenröder (Hrsg.), Krisen und Schulden, DOI 10.1007/978-3-531-93085-5_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Wolfgang Spitz
Der BDIU ist der größte Inkassoverband innerhalb der Europäischen Union und weltweit die zweitgrößte berufsständische Interessenvertretung der mit dem Forderungseinzug befassten Inkassounternehmen. Im BDIU sind die Mehrzahl der 750 in Deutschland aktiv tätigen, nach den Vorschriften des Rechtsdienstleisungsgesetzes (RDG) 750 registrierten Inkassodienstleister zusammengeschlossen. Mit ihrer Mitgliedschaft im BDIU dokumentieren diese Inkassodienstleister, dass sie nicht nur ihren gesetzlichen Pflichten nachkommen, sondern dass sie sich zugleich auch den weiteren hohen Anforderungen des Verbandes an eine gewissenhafte, ordnungsgemäße und redliche Berufsausübung unterwerfen. Derzeit sind rund 550 Mitgliedsunternehmen im BDIU organisiert. Das Mitgliederspektrum ist heterogen; es umfasst kleinere und mittelständische Einzelunternehmen sowie auch die großen Inkassounternehmen im deutschen Markt.
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Aufbau und Organisation des BDIU e.V.
Die Geschäftsstelle des Verbandes befindet sich seit dem 1. November 2007 – in unmittelbarer Nähe zu den fachlich zuständigen Bundesministerien – in der Friedrichstraße in Berlin-Mitte. Nicht nur der zentrale Standort, sondern auch der Aufbau und die Struktur des Verbandes zeigen die vielfältige und nachhaltige Vertretung berufsständischer Interessen. Der BDIU wird dabei durch das Präsidium, dem aktuell acht Mitglieder angehören, vertreten. Für die Umsetzung der durch das Präsidium vorgegebenen Leitlinien des Verbandes ist die Geschäftsstelle verantwortlich. Daneben sind zahlreiche verbandseigene Ausschüsse sowie die regionalen und fachbezogenen Arbeitskreise mit den aktuellen Themen, die die Inkassotätigkeit tangieren, befasst. Ergänzt werden die Organe und Gremien durch den Verbandsbeauftragten für den Datenschutz sowie die durch einen unabhängigen Ombudsmann geleitete verbandseigene Schlichtungsstelle.
1.2
Aufgaben des BDIU e.V.
Die Schwerpunkte der Verbandsarbeit liegen neben der berufsständischen Interessenvertretung in der berufsständischen Aufsicht über die BDIU-Mitgliedsunternehmen, der politischen Interessenvertretung sowie der Lobbyarbeit auf nationaler und internationaler Ebene.
Inkassounternehmen
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In diesem Rahmen ist der BDIU nicht nur maßgeblich an der Entwicklung und Fortschreibung der spezifischen Berufsausübungsrichtlinien beteiligt, sondern wird häufig auch von staatlichen Organen um gutachterliche Stellungnahmen gebeten. So nimmt der BDIU u.a. Stellung zu Anträgen von natürlichen und juristischen Personen auf Registrierung als Inkassodienstleister und ist gefragter Experte bei berufsrechtlichen und datenschutzrechtlichen Fragen. Bei allen einschlägigen Gesetzgebungsverfahren auf Europa-, Bundes – oder Länderebene beteiligt sich der BDIU mit Fach-Stellungnahmen aus Sicht der Inkassowirtschaft. Zur Lobbyarbeit gehören neben der Beobachtung und Mitgestaltung der Gesetzgebung auch rechtspolitische Initiativen, rechtspolitische Abstimmungen mit anderen Spitzenverbänden der Wirtschaft und zudem auch die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit in Form von Pressekonferenzen, Pressemitteilungen und Interviews. Das europäische und internationale Engagement des BDIU, der als größtes Mitglied des europäischen Dachverbandes Federation of National Collection Agencies (FENCA) ein eigenes Verbindungsbüro in Brüssel unterhält, ist gekennzeichnet durch einen regelmäßigen Austausch mit den Mitgliedern des europäischen Parlaments sowie den Mitarbeitern der EU-Kommission zu Inkasso relevanten Themen. Der BDIU steht zugleich in regem Kontakt mit dem amerikanischen Berufsverband American Collectors Association (ACA). Daneben bietet der BDIU den Auftraggebern und Schuldnern der Mitgliedsunternehmen ein umfangreiches Beschwerdemanagement und wacht zugleich über die Einhaltung der satzungsrechtlichen Berufspflichten. Werden Verstöße hiergegen festgestellt, kann das Präsidium die in der Satzung geregelten Sanktionen gegen Mitgliedsunternehmen verhängen – bis hin zum Ausschluss eines Mitglieds aus dem Berufsverband. Der Schutz der Mitglieder und der Öffentlichkeit vor unlauterem Wettbewerb durch unseriöse Inkassodienstleister ist dabei vorrangiges Ziel des BDIU. Die Mitgliedschaft im BDIU hat sich daher allgemein zu einem Qualitätssiegel für seriöse Inkassotätigkeit entwickelt. Um den hohen Qualitätsanspruch zu unterstreichen, hat der BDIU zudem zwischenzeitlich in Zusammenarbeit mit dem für die Zertifizierung im Dienstleistungssektor spezialisierten TÜV Saarland ein Zertifizierungsverfahren für Inkassodienstleister initiiert, das zur Verleihung des TÜV-Siegels „TÜV-geprüftes Inkasso“ führen kann. Die Sicherstellung des hohen Qualifikations- und Qualitätsniveaus der BDIU-Mitgliedsunternehmen wird durch regelmäßige Informationen zu allen Inkasso-relevanten Themen in Rundschreiben und ad-hoc-Mitteilungen gewährleistet.
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Wolfgang Spitz
Der BDIU hat im Jahr 2009 zudem die Deutsche Inkasso Akademie GmbH (DIA) gegründet und seither sein auf die Bedürfnisse der Mitgliedsunternehmen zugeschnittenes Aus- und Weiterbildungsangebot konsequent erweitert. Ergänzt wird dieses Schulungsgebot durch einen Sachkundelehrgang, der die Themen der besonderen Sachkunde i.S.d. Registrierungspflicht nach dem RDG vermittelt. Dies alles und eine offensive Verbandspolitik haben in den letzten Jahren zu einer nachhaltigen Verbesserung des Ansehens der Inkassowirtschaft in der Öffentlichkeit geführt.
1.3
Der BDIU als gesellschaftspolitische Kraft
Die Mitgliedsunternehmen des BDIU betreuen zurzeit mehr als 500.000 Gläubiger aus allen Bereichen der Wirtschaft, wobei die gute Zusammenarbeit mit den Gläubigern ein enges, wechselseitiges Vertrauensverhältnis voraussetzt, in dessen Rahmen oftmals auch die Sorgen und Nöte der Auftraggeber zur Sprache kommen. Insofern fungieren die BDIU- Mitglieder gleichsam als „Seismograph“ der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung, so dass deren Rückmeldungen an den Verband frühzeitig wichtige frühzeitige Hinweise auf Problemfelder, z.B. auf negative Auswirkungen der Gesetzgebung, geben, die der BDIU sodann im Rahmen seiner Lobbyarbeit aufgreift. Maßgebliches Kriterium für die erfolgreiche Tätigkeit der BDIU-Mitgliedsunternehmen ist im Übrigen das Bemühen, die bestehenden Geschäftsbeziehungen zwischen dem Auftraggeber, also dem Gläubiger, einerseits und dem Kunden des Auftraggebers, nämlich dem Schuldner, andererseits durch die Inkassotätigkeit nach Möglichkeit nicht negativ zu beeinträchtigen, sondern vielmehr dem Schuldner im Rahmen des Forderungseinzuges geeignete Möglichkeiten aufzuzeigen, die Forderung des Gläubigers im Rahmen seiner finanziellen Möglichkeiten doch noch auszugleichen. Der BDIU und seine Mitglieder sind sich dabei stets auch ihrer Verantwortung im Umgang mit den Schuldnern bewusst und begleiten in ihrer täglichen Praxis aktiv die gesellschaftspolitischen Veränderungsprozesse.
Brettspiel: Was kostet die Welt? Ein besonderes Augenmerk des BDIU liegt in Anbetracht der rund 4 Mio. überschuldeten deutschen Haushalte auf der Prävention der zunehmenden Jugendverschuldung, die nach den Feststellungen des BDIU maßgeblich darauf zurückzu-
Inkassounternehmen
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führen ist, dass den Jugendlichen leider allzu oft weder durch das Elternhaus noch durch die Schule eine ausreichende Finanzkompetenz vermittelt wird. Um einen eigenen Beitrag zur Vermittlung der Finanzkompetenz bei den Jugendlichen zu leisten, hat der BDIU den Künstler und Spieleentwickler Anton Kammerl, Gröbenzell, beauftragt, gemeinsam mit einer Arbeitsgruppe des Verbandes ein Spiel zu entwickeln, das den verantwortungsvollen Umgang mit den Herausforderungen der komplexen ökonomischen Systems spielerisch vermitteln soll und das sowohl im Schulunterricht als didaktische Hilfe als auch im Elternhaus zur Vermittlung von wirtschaftlichem Grundwissen dienen kann. Abbildung 1: Brettspiel: Was kostet die Welt?
Quelle: Bundesverband Deutscher Inkasso-Unternehmen e.V.
Unterstützung gemeinnütziger Einrichtungen durch die BDIUMitgliedsunternehmen Dass die BDIU-Mitgliedsunternehmen ihre gesellschaftspolitische Verantwortung auch über die Grenzen des Verbandes hinaus handfest wahrnehmen, wurde anlässlich eines Spendenabends zugunsten der Marianne v. Weizsäcker-Stiftung eindrucksvoll deutlich, den der BDIU anlässlich seiner Jahreshauptversammlung am 23. April 2010 in Berlin durchführte. Die Marianne v. Weizsäcker-Stiftung unterstützt ehemals suchtkranke Menschen bei der sozialen und beruflichen Integration nach einer erfolgreichen Therapie und gewährt gezielte finanzielle Hilfen. Durch eine enge Kooperation mit den örtlichen Beratungsstellen ist die Unterstützung der Stiftung eingebunden in eine ganzheitliche Lebensberatung nach dem Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe“.
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Wolfgang Spitz
Bei dem BDIU-Spendenabend zugunsten der Marianne v. WeizsäckerStiftung konnte BDIU-Präsident Wolfgang Spitz, in Gegenwart des Altbundespräsidenten Dr. Richard v. Weizsäcker, einen stattlichen Spendenscheck in Höhe von rund 40.000 Euro an die Schirmherrin der Stiftung, Frau Marianne v. Weizsäcker und an die Stiftungs-Geschäftsführerin, Frau Rita Hornung, überreichen. Mit ihren Spenden unterstützen die BDIU-Mitglieder die wertvolle Arbeit der Stiftung in ihren Bemühungen, den ehemals suchtkranken Menschen einen unbelasteten persönlichen und beruflichen Neustart zu ermöglichen.
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Trendumfragen des BDIU
Der BDIU führt bereits seit vielen Jahren, und zwar traditionell im Frühjahr und im Herbst eines jeden Jahres, eine Trendumfrage unter seinen Mitgliedsunternehmen durch. Diese beschäftigt sich u.a. mit der Entwicklung der Insolvenzen im gewerblichen Bereich und im Bereich der privaten Verbraucher sowie auch mit Fragen zum aktuellen Zahlungsverhalten der gewerblichen und der privaten Schuldner, den diesbezüglichen Ursachen und den sich hieraus ergebenden branchenspezifischen sowie den korrespondierenden gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen. Nachfolgend werden einige Auszüge aus der Frühjahrsumfrage 2010 zur Einschätzung der Situation von Verbrauchern (1.–6.) sowie der Wirtschaft (7.–11.) dargestellt.
1. Anzahl der Verbraucherinsolvenzen in Deutschland 2001–2010 Seit der Einführung des Verbraucherinsolvenzverfahrens in die im Jahre 1999 in Kraft getretene neue Insolvenzordnung (InsO) war bis zum Jahre 2007 ein kontinuierlicher Anstieg der Verbraucherinsolvenzen bis auf mehr als 100.000 Fälle zu verzeichnen. Hintergrund für diese erschreckende und alarmierende Entwicklung ist der Umstand, dass ca. 3 bis 4 Mio. Haushalte in Deutschland überschuldet sind, d.h., dass diese Haushalte nicht (mehr) in der Lage sind, ihre laufenden Verbindlichkeiten aus ihrem regelmäßigen Einkommen zurückzuführen. Gleichzeitig ist zu berücksichtigen, dass von einer Überschuldungssituation auch zahlreiche Familien betroffen sind, so dass im Ergebnis ca. 5–6 Mio. Personen direkt oder indirekt in einer akuten Überschuldungssituation leben. Insofern verwundert es nicht, dass die Anzahl der Verbraucherinsolvenzen nach einer (sehr) kurzen „Erholungsphase“ im Jahre 2008 bereits im Jahre 2009 wiederum angestiegen ist, und zwar auf rund 101.000 Fälle. Für das Jahr 2010
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erwartet der BDIU einen erneuten Anstieg bei den Verbraucherinsolvenzen auf einen neuen Rekordwert von bis zu 110.000 Fällen. Als Ursachen für diese bedenkliche Entwicklung sieht der BDIU insbesondere die Folgewirkungen der dramatischen Finanz- und Wirtschaftskrise des vergangenen Jahres. Abbildung 2:
Entwicklung der Verbraucherinsolvenzen in Deutschland, 2001–2010
Quelle: Statisches Bundesamt/ * Prognose Bundesverband Deutscher InkassoUnternehmen e.V.1
2. Welche Erfahrungen haben Sie insgesamt mit dem Zahlungsverhalten der Schuldner im Vergleich zum Herbst 2009 gemacht? Hat sich das Zahlungsverhalten gebessert, verschlechtert oder ist es unverändert geblieben? Wie anhand der nachfolgenden Grafik deutlich wird, hat sich das Zahlungsverhalten im privaten Sektor zum Zeitpunkt der Umfrage (Frühjahr 2010) gegenüber dem Herbst 2009 nur unwesentlich verbessert – die anziehende Konjunktur hat sich somit im Ergebnis (noch) nicht ausgewirkt.
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Alle Grafiken beruhen auf der Frühjahrstrendumfrage 2010 für die Pressekonferenz in Berlin am 22. April 2010 des Bundesverbands Deutscher Inkasso-Unternehmen e. V.
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Wolfgang Spitz Zahlungsverhalten privater Schuldner, Vergleich Frühjahr 2010 zu Herbst 2009
Quelle: Bundesverband Deutscher Inkasso-Unternehmen e.V.
3. Wenn Sie an die Gründe für das Nichtbezahlen von offenen Rechnungen denken, wo liegen Ihrer Meinung nach bei privaten Schuldnern zurzeit die Gründe? (Mehrfachnennungen möglich) Abbildung 4:
Ursachen für das Nichtbezahlen offener Rechnungen durch private Schuldner
Quelle: Bundesverband Deutscher Inkasso-Unternehmen e.V.
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Die vorangehende Grafik verdeutlicht zum einen, dass Überschuldung und Arbeitslosigkeit die wesentlichen Ursachen dafür sind, dass private Schuldner ihren finanziellen Verpflichtungen nicht nachkommen (können). Die Grafik belegt zum anderen aber auch, dass viele Schuldner durchaus zahlungsfähig, aber zahlungsunwillig sind bzw. dass sie eine gewisse Lässigkeit beim Umgang mit ihren Gläubigern an den Tag legen. Für die Inkassounternehmen gilt es, die zahlungsunwilligen bzw. „lässigen“ Schuldner zu identifizieren und sie durch eine auf ihre persönliche Situation zugeschnittene Mahnansprache zur Begleichung ihrer Verbindlichkeiten zu motivieren.
4. Wenn Sie einmal das Zahlungsverhalten junger Erwachsener (18 bis 24 Jahre) mit dem von über 25-Jährigen vergleichen, ist es Ihrer Erfahrung nach ungefähr gleich? Abbildung 5:
Zahlungsverhalten junger Erwachsener, Vergleich Frühjahr 2010 zu Herbst 2009
Quelle: Bundesverband Deutscher Inkasso-Unternehmen e.V.
Die Umfrageergebnisse zeigen, dass sich das Zahlungsverhalten von jugendlichen Erwachsenen nach den Erfahrungen der BDIU-Mitglieder im Berichtszeitraum nur mit wenigen Ausnahmen verbessert hat und insgesamt ein weiterhin negativer Trend festzustellen ist.
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5. Welche sind, Ihren Erfahrungen nach, die wesentlichen Gründe für die zunehmende Verschuldung junger Erwachsener (18 bis 24 Jahre)? (Mehrfachnennungen möglich) Anhand dieser Grafik wird deutlich, dass die mangelnde Finanzkompetenz – mit ihren unterschiedlichen Facetten bis hin zum schlechten Vorbild des Elternhauses – eine der ganz wesentlichen Ursachen „früher“ Schulden ist. Abbildung 6:
Wesentliche Gründe für die Verschuldung junger Erwachsener
Quelle: Bundesverband Deutscher Inkasso-Unternehmen e.V.
An diesem Befund ansetzend, fordert der BDIU schon seit mehreren Jahren, dass der Umgang mit Geld und Schulden in die Lehrpläne aller Schulen aufgenommen wird. Erfreulich ist, dass es inzwischen erste Projekte in dieser Richtung gibt – so wurde z.B. das Unterrichtsfach „Geldkunde“ an den Berliner Schulen eingeführt. Bedenklich hingegen sind aus Sicht des BDIU hingegen die hohen Umfragewerte zum Thema „Schlechtes Vorbild des Elternhauses“ und „Zu hohe Konsumausgaben“. Aus den Rückmeldungen der BDIU-Mitglieder ist immer wieder – und leider allzu oft – zu entnehmen, dass sich in vielen Familien, die Schuldenprobleme haben, die Eltern kaum nachhaltig um die Erziehung ihrer Kinder kümmern. Diese Befunde ergeben sich überdurchschnittlich häufig in Familien mit Migrationshintergründen, und hier sieht der BDIU ein stetig wachsendes gesamtgesellschaftliches Problem, das offen angesprochen und dringend angegangen werden muss, weil sonst eine junge Generation heranwächst, die kaum
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bzw. keine persönlichen und beruflichen Perspektiven hat. Zudem besteht die Gefahr, dass jugendliche Erwachsene, die Migrationshintergründe aufweisen bzw. aus bildungsfernen Schichten stammen, angesichts eines jedenfalls subjektiv empfundenen Konsumdrucks, aber kaum vorhandener finanzieller Spielräume, in die Kriminalität abgleiten.
6. Welche Maßnahmen sind aus Ihrer Sicht sinnvoll, um ein weiteres Ansteigen der privaten Verschuldung zu verhindern? (Mehrfachnennungen möglich) Abbildung 7:
Ansätze zur Verschuldungsprävention im privaten Sektor
Quelle: Bundesverband Deutscher Inkasso-Unternehmen e.V.
Die in der nachfolgenden Grafik dargestellten Erkenntnisse aus der BDIU-Mitgliederumfrage sprechen für sich. Auf das Thema „Vermittlung von Finanzkompetenz“ wurde soeben unter 5. bereits hingewiesen.
7. Unternehmensinsolvenzen in Deutschland 2001–2010 Die Verlaufskurve der Unternehmensinsolvenzen in den zurückliegenden 10 Jahren weist seit einem niedrigen Stand in den Jahren 2007 und 2008 seit dem Jahr 2009 wieder eine ansteigende Tendenz auf. Im Jahr 2009 waren 32.687 Unternehmensinsolvenzen zu verzeichnen – der deutliche Anstieg im Vergleich
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zum Vorjahr weist auf die Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise in den Jahren 2008 und 2009 hin: Zahlreiche Unternehmen mussten nicht nur mit drastischen Auftrags- und damit verbundenen Umsatzeinbrüchen sowie mit Forderungsausfällen kämpfen, sondern hatte zudem auch erhebliche Probleme insbesondere bei der Beschaffung von Betriebsmittelkrediten, weil auch die Kreditinstitute deutlich vorsichtiger mit der Gewährung solcher Kredite umgingen. Hierbei spielten zudem auch die „Basel II“ – Richtlinien vielfach eine Rolle, die den Banken eine risikoorientierte Kreditvergabe auferlegen. Diese Faktoren, oftmals noch einhergehend mit einer unzureichenden Eigenkapital-Ausstattung, führten bereits im vergangenen Jahr zum „Aus“ in vielen – vor allem kleineren und mittleren – Betrieben, verbunden mit entsprechenden Arbeitsplatz-Verlusten für die Beschäftigten. Die Insolvenz dieser Betriebe führte wiederum zu Zahlungsausfällen bei den dortigen Lieferanten, die dann ihrerseits in das finanzielle „Trudeln“ gerieten – ein Phänomen, das durchaus anschaulich als „DominoEffekt“ bezeichnet wird. Abbildung 8:
Entwicklung der Unternehmensinsolvenzen in Deutschland, 2001–2010
Quelle: Statistisches Bundesamt/ * Prognose Bundesverband Deutscher InkassoUnternehmen e.V.
Für das Jahr 2010 ist – trotz der sich immer stärker manifestierenden konjunkturellen Erholung mit einem weiteren Anstieg der Unternehmensinsolvenzen zu rechnen – ursächlich hierfür sind die Spätfolgen der Wirtschafts- und Finanzkrise der letzten beiden Jahre: Die ohnehin dünne Eigenkapitaldecke gerade der
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kleineren und mittleren Betriebe wurde in der Krise oftmals weitgehend aufgebraucht und zudem haben die Bilanzen dieser Betriebe für das Jahr 2009 haben nicht selten mit „roten Zahlen“ abgeschlossen, was sich unmittelbar negativ auf deren Bonität auswirkt. Dies wiederum erschwert vielfach den Zugang zu notwendigen Krediten, mit der Folge, dass trotz aller Anstrengungen das finanzielle „Aus“ eintritt – mit den bereits als „Domino-Effekt“ bezeichneten Auswirkungen für andere Betriebe. Zu hoffen bleibt dennoch, dass der wirtschaftliche Aufschwung eine derartige Kraft entfaltet, dass zumindest der eine oder andere Betrieb sich doch noch aus der finanziellen Schieflage retten kann und somit der aus der Sicht des Frühjahrs 2010 prognostizierte Jahreswert nicht in vollem Umfang erreicht werden wird.
8. Welche Branche hat zurzeit besondere Probleme mit dem Zahlungsverhalten ihrer Kunden? (Mehrfachnennungen möglich) Die in der Umfrage von den BDIU-Mitgliedsunternehmen genannten „ProblemBranchen“, nämlich das Handwerk insgesamt und speziell das Baugewerbe und der Dienstleistungssektor, sind schon seit mehreren Jahren prominent vertreten. Abbildung 9:
Branchen mit signifikanten Problemen beim Zahlungsverhalten ihrer Kunden
Quelle: Bundesverband Deutscher Inkasso-Unternehmen e.V.
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Mit Blick auf die speziellen Probleme in den kleineren und mittleren Handwerksbetrieben, bei denen die Tagesarbeit, aber weniger ein professionelles Forderungsmanagement im Vordergrund stehen, hat der BDIU eine Arbeitsgruppe gegründet, die sich mit der Entwicklung eines sog. „Handwerker-Checks“ befasst. Ausgehend von dem Befund, dass sich in den Handwerksbetrieben oftmals der Inhaber selbst oder die Ehefrau des Inhabers – im Rahmen ihrer begrenzten zeitlichen Kapazitäten – „nebenbei“ um das Rechnungs- und Mahnwesen kümmern, ist es das Ziel des „Handwerker-Checks“, diesen Betrieben eine standardisierte Beratung durch die BDIU-Mitglieder vor Ort anzubieten, in denen alle wesentlichen, für ein effizientes Forderungsmanagement maßgeblichen Aspekte analysiert und gleichzeitig Optimierungsmöglichkeiten aufgezeigt werden sollen.
9. Wenn Sie an die Gründe für das Nichtbezahlen von offenen Rechnungen denken, wo liegen Ihrer Meinung nach bei gewerblichen Schuldnern zurzeit die Gründe? (Mehrfachnennungen möglich) Bedenklich sind an diesen Befunden nicht nur die hohen Quoten, die auf eine zu geringe Eigenkapitalausstattung bzw. eine schlechte Auftragslage hinweisen, sondern insbesondere auch die Hinweise auf „hohe Zahlungsausfälle bei den eigenen Kunden“ – hier werden die Auswirkungen des „Domino-Effekts“ erneut sehr deutlich. Abbildung 10:
Ursachen für das Nichtbezahlen offener Rechnungen durch gewerbliche Schuldner
Quelle: Bundesverband Deutscher Inkasso-Unternehmen e.V.
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10. Welche Maßnahmen sollten Unternehmen Ihrer Meinung nach ergreifen, um gut durch die Wirtschaftskrise zu kommen? (Mehrfachnennungen möglich) Abbildung 11:
Maßnahmenvorschläge zur langfristigen Unternehmenssicherung
Quelle: Bundesverband Deutscher Inkasso-Unternehmen e.V.
Die „Botschaften“, die sich aus der vorangehenden Grafik ergeben, zeigen sehr deutlich, welchen Kernaufgaben sich jedes Unternehmen vorrangig widmen sollte – nicht zuletzt auch um sich langfristig möglichst „krisenfest“ zu machen.
11. Wenn Sie einmal an das nächste Jahr denken, also bis Ende 2011: Wie, schätzen Sie, wird sich das Zahlungsverhalten allgemein entwickeln? Diese letzte Übersicht macht deutlich, dass die BDIU-Mitgliedsunternehmen im Frühjahr 2010 (noch) keine wirkliche Verbesserung beim Zahlungsverhalten bzw. bei der sog. „Zahlungsmoral“ gesehen haben. Es bleibt abzuwarten, ob und inwieweit die zusehends erstarkende Konjunktur dieses Bild noch erhellen wird.
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Abbildung 12:
Prognose zur mittelfristigen Entwicklung des Zahlungsverhaltens
Quelle: Bundesverband Deutscher Inkasso-Unternehmen e.V.
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Aktuelle Gesetzgebungsverfahren der Bundesregierung zu Inkassorelevanten Themen
Der BDIU beteiligt sich, wie bereits ausgeführt, mit fachlichen Stellungnahmen aktiv an rechtspolitischen Initiativen. Nachfolgend sollen einige, nicht nur für die Inkassowirtschaft, sondern grundsätzlich auch für alle Bereiche der Wirtschaft relevante Gesetzgebungsvorhaben (Stand: 07/2010), mit denen sich der BDIU intensiv befasst, kurz dargestellt werden.
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Reform der Insolvenzordnung
Im Rahmen des 8-Punkte-Sparplans der Bundesregierung beschäftigt den BDIU insbesondere die geplante Wiedereinführung des „Fiskusprivilegs“, der die vorrangige Befriedigung der öffentlichen Hand im Insolvenzverfahren vorsieht. Der BDIU hat die Bundesregierung bereits nachdrücklich vor den möglichen Folgen gewarnt: Es steht zu befürchten, dass die Wiedereinführung des „Fiskusprivilegs“ zu einer geringeren Insolvenzquote der vorleistenden Gläubiger führt und insbesondere die Sozialversicherungsträger gleichlautende Forderungen erheben werden. Die befürchtete Benachteiligung der vorleistenden
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Gläubiger könnte daneben zu weiteren Liquiditätsengpässen bei den Gläubigern selbst führen. Die weiterhin geplante Verkürzung der Wohlverhaltensphase von 6 auf 3 Jahre in der Verbraucherinsolvenz setzt nach Ansicht des BDIU für die Schuldner zudem ein falsches Zeichen und führt zu einer weiteren Verschlechterung der Zahlungsmoral.
3.2
Privatisierung des Gerichtsvollzieherwesens
Die aktuellen gesetzgeberischen Planungen beschäftigen sich damit, die Gerichtsvollzieher als selbständige Unternehmer zu „privatisieren“. Die hoheitlichen Aufgaben in der Zwangsvollstreckung sollen die Gerichtsvollzieher sodann als private, „beliehene Unternehmer“ ausführen. Der BDIU hat gegen diese Pläne bereits grundlegende verfassungsrechtliche Bedenken angemeldet, und es hat den Anschein, dass für eine Umsetzung dieser Pläne, die eine Verfassungsänderung voraussetzen, die hierzu erforderliche Mehrheit im Parlament – ebenfalls wegen verfassungsrechtlicher Bedenken – nicht vorhanden ist, so dass diese Pläne momentan vorläufig „auf Eis“ liegen. Käme es zu einer Umsetzung dieser Pläne infolge anderer parlamentarischer Konstellationen, müssten die die Zwangsvollstreckung betreibenden Gläubiger – und damit letztlich auch die betroffenen Schuldner – mit einer Verdreifachung der Kosten der Zwangsvollstreckung rechnen. Ursache hierfür ist, dass das Gerichtsvollzieherwesen in der heutigen Form staatlich „subventioniert“ wird mit der Folge, dass die Gläubiger bzw. die Schuldner nur einen Teil der in einem Zwangsvollstreckungsverfahren anfallenden Kosten über die Kostenrechnungen der Gerichtsvollzieher bezahlen. Im Falle der Privatisierung des Gerichtsvollzieherwesens soll hingegen das sog. „Verursacherprinzip“ gelten, d.h., dass Gläubiger bzw. Schuldner sämtliche direkten und indirekten Kosten tragen sollen. Die daraus resultierende, schon erwähnte Verdreifachung der Zwangsvollstreckungskosten wird nach Einschätzung des BDIU faktisch eine Einschränkung des Rechtsgewährleistungsanspruchs, insbesondere für Gläubiger mit geringwertigen Forderungen, bewirken. Der „kleine“ Handwerker, der gegen seinen Schuldner eine Forderung von beispielsweise € 300,00 hat, wird deshalb dann wohl prüfen, ob er diese Forderung nicht gleich abschreibt. Aber: Wie oben bereits erläutert, sind es gerade die kleinen und mittleren Unternehmen, die aufgrund ihrer strukturellen Probleme für Insolvenzen überdurchschnittlich anfällig sind.
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Nicht zuletzt ist auch auf die finanziellen Belastungen hinzuweisen, die der Schuldnerseite entstehen. Auch wenn im Einzelfall eine Zwangsvollstreckung fruchtlos verläuft, so erhöhen die hiermit verbundenen Kosten letztlich die Gesamtforderung des Gläubigers und damit auch die Verschuldung des Schuldners – mit allen gesamtgesellschaftlichen Folgewirkungen und Folgekosten.
3.3
Reform der Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung
Die Reformregelungen zur Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung, die bereits teilweise in Kraft getreten sind und im Übrigen bis zum 01.01.2013 vollständig in Kraft treten sollen, sehen eine weitreichende Modernisierung des bisher gültigen Zwangsvollstreckungsrechts vor. So sollen u.a. die Möglichkeiten der Informationsgewinnung für den Gläubiger verbessert und eine Harmonisierung der Vorschriften der zivilrechtlichen Zwangsvollstreckung mit denen der Verwaltungsvollstreckung erreicht werden. Völlig unverständlich ist allerdings die vorgesehene Beschränkung der Auskunftsrechte des Gerichtsvollziehers. Dieser soll nämlich erst dann in die zum Schuldner gespeicherten Daten z.B. des Kraftfahrtbundesamts oder der Deutschen Rentenversicherung, Einblick nehmen können, wenn der Forderungsbetrag € 500,00 überschreitet. Der BDIU sieht durch die Reform nicht nur den Justizgewährleistungsanspruch für Gläubiger geringerer Forderungen gefährdet, weil die Beitreibung von Forderungen mit Werten unter € 500,00 erschwert wird. Zudem sieht der BDIU in der Grenzziehung bei € 500,00 ein bedenkliches Signal für die Zahlungsmoral der Verbraucher, da hiermit suggeriert wird, dass Forderungen unter € 500,00 als „Bagatelle“ einzuordnen sind.
3.4 Pfändungsschutzkonto („P-Konto“) Durch die am 01.07.2010 in Kraft getretenen Regelungen zur Einführung eines sog. Pfändungsschutzkontos hat der Gesetzgeber für Schuldner die Möglichkeit geschaffen, ein Konto einzurichten, welches pfändungsfrei gestellt wird, um den Schuldnern die laufenden Zahlungen für den Lebensunterhalt zu ermöglichen. Der Basispfändungsschutz in Höhe des Pfändungsfreibetrages von derzeit 985,15 € besteht unabhängig davon, aus welchen Einkünften das Kontoguthaben herrührt. Mithin besteht künftig auch für Selbstständige Pfändungsschutz für deren Kontoguthaben.
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Nach Auffassung des BDIU droht dadurch, dass die Informationen zum „P-Konto“ nach dem Willen des Gesetzgebers nur den Banken zur Verfügung stehen sollen, gegenüber den übrigen Gläubigern eine Benachteiligung, da diesen aufgrund der nicht zur Verfügung stehenden Informationen Mehrarbeit und zusätzliche Kosten aufgebürdet werden. Zudem widerspricht diese Einschränkung dem mit der Reform der Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung seitens des Gesetzgebers verfolgten – und auch vom BDIU begrüßten – Ziel der Verbesserung der Effizienz der Zwangsvollstreckung: Ein sinnvolles Vorgehen wäre es gewesen, den Gläubigern, die eine Kontopfändung durchführen lassen wollen, die Information zu einem etwa bereits bestehenden „P-Konto“ zur Verfügung zu stellen, um unnötige Vollstreckungsmaßnahmen und die damit verbundenen Kosten vermeiden zu können. Hierbei ist letztlich wiederum zu bedenken, dass die Kosten fruchtloser Vollstreckungsversuche sich beim Schuldner jedenfalls in Form einer Erhöhung seines Schuldenstandes auswirken.
3.5
Verschärfung des Datenschutzrechtes, insb. Einführung eines sog. „Datenbriefes“
Im Rahmen der jüngsten Novellierung des Datenschutzrechts wurden u.a. auch die Rechte der Betroffenen hinsichtlich ihres Anspruchs auf Selbstauskunft deutlich gestärkt. Offenbar gehen die einschlägigen Bestimmungen des BDSG einigen Referenten in den zuständigen Ministerien und wohl auch einigen Politikern noch nicht weit genug. Jedenfalls wird in Berlin erwogen, jedes Unternehmen zu verpflichten, Verbrauchern einmal jährlich einen sog. „Datenbrief“ zu übersenden. Mit diesem „Datenbrief“ soll der Verbraucher über sämtliche bei einem Unternehmen zu seiner Person gespeicherten Daten informiert werden. Das bedeutet, dass der Verbraucher grundsätzlich nicht mehr aktiv seinen Anspruch auf Selbstauskunft bei einer bestimmten speicherten Stelle geltend machen müsste, sondern dass er quasi „automatisch“ die Selbstauskünfte von allen Stellen, die personenbezogene Daten zu seiner Person gespeichert haben, erhalten würde. In der Folge befürchtet der BDIU – bei durchaus fraglichem Nutzen für die Verbraucher – einen extremen Verwaltungs – und Kostenmehraufwand für die betroffenen Unternehmen.
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Wolfgang Spitz Gesetz zur Neuordnung und Modernisierung des Pfändungsschutzes (GNeuMoP)
Das Ziel des Gesetzgebers ist die Schaffung einfacher und transparenter Regelungen zum Pfändungsschutz durch die Anpassung der Pfändungsfreibeträge an die des Sozial- und Wohngeldrechts. Insbesondere soll dabei der Pfändungsschutz für zusätzliche Leistungen, wie z.B. Urlaubs- und Weihnachtsgelder sowie Überstundenvergütungen, entfallen. Gleichzeitig ist die Einführung regional gestaffelter Wohngeldstufen vorgesehen. Der BDIU bemängelt, dass durch die geplanten Regelungen insbesondere eine Mehrbelastung der Drittschuldner durch die komplexeren Rahmenbedingungen – insbesondere was die die vorgesehenen Wohngeldstufen angeht – sowie eine „ungerechte“ Behandlung der Schuldner zu befürchten steht. Auch droht aufgrund des prognostizierten Anstieges der Anzahl der Vollstreckungsschutzanträge nach § 850f ZPO ein deutlicher Mehraufwand für die ohnehin bereits überlasteten Gerichte.
4
Forderungsmanagement der öffentlichen Hand
Der BDIU beschäftigt sich schon seit längerer Zeit intensiv mit der Frage der Verbesserung des Forderungsmanagements der öffentlichen Hand, die – nebenbei bemerkt – immer wieder (und in zunehmendem Maße) auch als „schlechter Zahler“ auffällig wird. Gerade in der jüngsten Zeit mehren sich die Berichte über hohe Defizite in den öffentlichen Kassen, insbesondere auch bei den Kommunen, in deren Folge Kindertagesstätten, Freibäder, Theater und andere kommunale Einrichtungen geschlossen werden müssen. Einige Kommunen erwägen darüber hinaus neben der Erhöhung bereits eingeführter auch die Einführung neuer kommunaler Abgaben wie z.B. einer „Bettensteuer“ für Hotelgäste, einer „Sonnenbank-Abgabe“ etc. Wie dramatisch die Situation vieler kommunaler Haushalte inzwischen geworden ist, belegen die Angaben der Präsidentin des Deutschen Städtetages, der Frankfurter Oberbürgermeisterin, Frau Petra Roth hingewiesen, die erklärte: „Unsere Haushalte sind völlig überstrapaziert. 2009 belief sich das Defizit in den kommunalen Haushalten auf 7,1 Mrd. Euro; für 2010 ist ein Rekorddefizit von etwa 15 Mrd. Euro zu befürchten“ („Frankfurter Rundschau“ vom 14.05.2010). Angesichts dieser erschreckenden Entwicklung ist es umso unverständlicher, dass die öffentliche Hand, insbesondere die Kommunen, der Einziehung
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ihrer eigenen Außenstände nicht ein deutlicheres Gewicht beimessen. Immerhin summieren sich alleine die Außenstände der Kommunen nach den Schätzungen des BDIU derzeit auf mindestens 12 Mrd. Euro. Soweit die Kommunen aufgrund eigener knapper Personalressourcen nicht in der Lage sind, ihre Forderungen – auch im Sinne der Steuer- und Abgabengerechtigkeit – konsequent und nachhaltig beizutreiben, bietet sich die Unterstützung durch die Inkassounternehmen als Verwaltungshelfer im Forderungseinzug geradezu an. Die BDIU-Mitglieder sehen hierbei jedenfalls deutliche Vorteile für die Kommunen, wie sich aus den Ergebnissen der BDIU-Mitgliederumfrage ergibt: Die Wirtschaftskrise bedroht in diesem Jahr massiv die kommunalen Einnahmen. Gleichzeitig haben die Kommunen hohe Außenstände. Daher empfehlen Experten, dass die Kommunen bei ihrem Forderungsmanagement die Unterstützung durch Inkassounternehmen nutzen sollen. Wo liegen Ihrer Meinung nach die Vorteile? (Mehrfachnennungen möglich) Abbildung 13:
Maßnahmenvorschläge zur Verbesserung des Forderungsmanagements im kommunalen Bereich
Quelle: Bundesverband Deutscher Inkasso-Unternehmen e.V.
Es wäre sicherlich vermessen, zu behaupten, dass die kommunalen Außenstände mit Unterstützung der Inkassounternehmen vollständig realisiert werden könnten. Aber selbst wenn von den derzeitigen Außenständen nur 10% oder 20% zusätzlich realisiert werden könnten, wären dies ganz erhebliche Beträge, mit
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denen sich die Defizite in den kommunalen Haushalten entsprechend verringern ließen!
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Schlussbemerkung
„Geld im rechten Augenblick zu haben, das allein ist Geld“ bemerkte bereits der Schriftsteller Daniel von Liliencron (1844–1909). Die Mitgliedsunternehmen des BDIU stehen ihren Auftraggebern als hoch qualifizierte, fachlich kompetente und seriöse Spezialisten nicht nur dafür, Geld im richtigen Augenblick (wieder) zu haben, zur Verfügung, sondern darüber hinaus für alle Aufgabenfelder, die ein modernes Forderungsmanagement ausmachen. Der BDIU als Vertreter der Inkassowirtschaft wird – wie schon während seines langjährigen Bestehens – auch in Zukunft hierfür nicht nur den Rahmen bilden, sondern gleichzeitig auch intensiv an einem weiteren, kontinuierlichen Ausbau des Gütesiegels „BDIU-Mitgliedschaft“ arbeiten.
II. Krisen im Blickpunkt der Wissenschaft
Junge Menschen und frühe Schulden – Finanzielle Handlungskompetenz im Fokus wirtschaftspädagogischer Forschung Nina Bender/Klaus Breuer
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Zur Situation verschuldeter Jugendlicher und junger Erwachsener in Deutschland
Frühe Schulden bereiten nicht selten den Weg in lang andauernde Schuldenkarrieren, so lautet der öffentliche Konsens. Einer steigenden Quote an verschuldeten jungen Menschen unter 25 Jahren muss daher auf breiter Ebene begegnet werden, so lautet der politische Konsens (BMAS, 2008, S. 178-179). Denn Kreditausfälle befördern nicht nur individuelle Krisen, sondern wirken sich in ihrer Gesamtheit gleichermaßen negativ auf die Volkswirtschaft aus. Ein Blick in die empirische Befundlage vermittelt zunächst ein stagnierendes Ausmaß der Jugendverschuldung im Zeitraum von 2004 bis einschließlich 2007 (Schufa Schuldenkompass, 2007, S. 48). Dennoch gibt allein der Anteil verschuldeter Jugendlicher mit ca. 13% auch bei stagnierender Ausprägung Anlass zur Auseinandersetzung mit dem beschriebenen Phänomen. Denn gerade für junge Menschen besteht die bereits eingangs beschriebene Gefahr des Eintritts in lange Überschuldungskarrieren, was eine besondere Betrachtung insbesondere dieser Altersgruppe notwendig und sinnvoll macht (Schufa Schuldenkompass, 2008, S. 67). Ein zusätzliches Argument für die Bedeutsamkeit dieser speziellen Gruppe ergibt sich aus den langfristigen Folgen früher Schulden. Einerseits ist es schwer, Forderungen zu decken, die bereits unter den Bedingungen eingeschränkter finanzieller Ressourcen entstanden sind. Zum anderen zeigt sich in jugendlichem Schuldenverhalten in den meisten Fällen ein rein konsumorientiertes Muster (Streuli, Steiner, Mattes & Shenton, 2008, S. 36-39). Im Zuge einer Begleitung junger Menschen zur Herausbildung autonomer und handlungsfähiger Persönlichkeiten, wie es die (Wirtschafts-)Pädagogik zum Ziel hat, ist daher der Blick auf den angemessenen Umgang mit Geld zu richten (Bender, 2009, S. 67). Dies impliziert nicht zuletzt die Fähigkeit zum Konsumverzicht. Ein drittes Argument, Jugendliche und junge Erwachsene unter 25 Jahren zu fokussieren, besteht in deren Lebenssituation, die sich als Übergangsphase von der finanziellen Abhängigkeit der Eltern hin zur finanziellen Autonomie beschreiben lässt.
C. W. Hergenröder (Hrsg.), Krisen und Schulden, DOI 10.1007/978-3-531-93085-5_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Jugendliche in diesem Alter sind nicht selten zum ersten Mal mit eigenem Gehalt und der selbständigen Erfüllung eigener Konsumwünsche konfrontiert. Die monetären Entscheidungen erreichen ab der Volljährigkeit und mit dem ersten eigenen Einkommen eine veränderte Tragweite, sowohl unter finanzieller als auch rechtlicher Perspektive. Zur Bewältigung (Resilienz) dieser bislang durch die Eltern gestützten oder begleiteten Aufgaben und Entscheidungen bedarf es der Genese einer hinreichenden Finanzkompetenz und eines planvollen und nachhaltigen Umgangs mit Geld. Eine Verschuldung, die nicht aus einer ökonomisch begründbaren Planung z.B. in Form einer Investition in Vermögenswerte entsteht, kann bei fehlender Steuerung sukzessive den Weg in die Überschuldung bereiten. Lange (2004, S. 81) stellt in Bezug auf das Konsumverhalten Jugendlicher fest, dass Schüler und Studierende rund 80% und Auszubildende noch 77% ihres Einkommens zeitnah wieder ausgeben. Gleichzeitig geben mehr als 40% der Befragten an, überhaupt nicht zu sparen. Dieser Mangel an Rücklagenbildung und finanzieller Weitsicht bildet ein weiteres Argument für die Untersuchung des Phänomens „Jugendverschuldung“. Eine Herausforderung bei der Untersuchung der spezifischen Gruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist die Tatsache, dass eine Vielzahl der „Kredite“ über private Schuldverhältnisse abgewickelt wird. Diese sind statistisch nur schwer zu erfassen. Die meisten jungen Schuldner nehmen zunächst ihr unmittelbares privates Umfeld als Gläubiger in Anspruch. Etwa 43% der Jugendlichen sind bei ihren Eltern, etwa 40% bei ihren Freunden verschuldet (Gabanyi, Hemedinger & Lehner, 2008, S. 54). Andererseits werden Verbindlichkeiten von Jugendlichen häufig durch die Eltern beglichen. Gleichzeitig erfüllen die Eltern zuweilen die Funktion einer Kontrollinstanz hinsichtlich finanzieller Verhaltensweisen, insbesondere dann, wenn die Jugendlichen noch am elterlichen Haushalt teilhaben. Damit erweitern oder begrenzen die Eltern als soziale Akteure den monetären Handlungs- und Entscheidungsraum des Einzelnen. Auf die Frage nach den Ursachen früher Schulden finden sich bislang überwiegend nur Antworten in eine spezifische Richtung. Den jungen Menschen fehle es am notwendigen Wissen, in angemessener Form mit ihren Finanzen zu haushalten (vgl. BMAS, 2008; Gabanyi, Hemedinger & Lehner, 2008; Krumpolt, 2008). Jedoch scheint ein eindimensionaler, auf die Vermittlung fachlicher Inhalte zugespitzter Lösungsvorschlag zumindest auf Basis der Erkenntnisse zur Kompetenzentwicklung zu kurz zu greifen. Insbesondere soziale und methodische Kompetenzen seien bei der Frage nach der Heranbildung angemessener Kompetenzen in variierenden Domänen zu berücksichtigen (vgl. Frey, Jäger & Renold, 2005; Kaufhold, 2006). In einigen wenigen Quellen finden sich darüber hinaus Hinweise auf ein mehrdimensionales Verständnis über die Ursachen von Schuldenprozessen. Ein Modell der Verursachung und Konsequenzen
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von Ver- und Überschuldung, welches die Annahme einer Mehrdimensionalität zu Grunde legt, findet sich bei Dessart und Kuylen (1986). Hier werden neben rein kognitiven auch soziale, psychologische sowie institutionelle Einflussfaktoren modelliert (Dessart & Kuylen, 1986, S. 323). Die Kriterien einer Bank zur Kreditvergabe gehören zu den institutionellen Faktoren. Sozioökonomische Faktoren sind z.B. das Einkommen, die Rolle der Familie oder die Dauer der Beschäftigung. Psychologische oder Persönlichkeitsfaktoren betreffen Kontrollüberzeugungen oder Selbstwirksamkeitserwartungen1 (vgl. Dessart & Kuylen, 1986, S. 322f.; Walbrühl, 2005, S. 20). Zur Entwicklung und zum Einsatz geeigneter Bewältigungsstrategien wird auf alle Dimensionen zugegriffen. Vielfach versuchen Studien zur Beschreibung von Bewältigungsprozessen Individuen in eine Typologie einzuordnen, die sich an den folgenden Formen der Bewältigung orientiert (Rahn, 2003, S. 93):
Aktive Bewältigung unter Nutzung sozialer Ressourcen Internale Bewältigungsstrategien Problemvermeidungsstrategien
In der Forschung zum Bewältigungshandeln (Resilienzforschung) müssen für die Phase der Adoleszenz Besonderheiten berücksichtigt werden (Rahn, 2003, S. 91). Bewältigung richtet sich in dieser Lebensphase nicht nur auf stressbelastete oder krisenhafte Situationen, sondern auch auf geforderte Entwicklungsaufgaben (Rahn 2003, S. 92). Zu diesen spezifischen Entwicklungsaufgaben gehört auch das Erreichen finanzieller Autonomie. Damit verbunden sind vor allem individuelle Herausforderungen, die sowohl berufliche Ausbildung als auch ein nachhaltiges, d.h. zur Bewältigung zukünftiger monetärer Anforderungen ausreichendes finanzielles Verhalten betreffen. Die Bedeutsamkeit ausreichender finanzieller Mittel für junge Menschen in der Phase ihrer beruflichen Ausbildung wurde jüngst in einem Bericht des Bundesinstituts für berufliche Bildung publiziert. Demnach hält es die Mehrheit der Auszubildenden in Deutschland (71%) für sehr wichtig, mit einem angemessenen Gehalt für ihre Arbeit entlohnt zu werden. Gründe hierfür werden unter anderem in dem vergleichsweise höheren Einstiegsalter in die berufliche Ausbildung gesehen. Während im Jahr 1993 noch die 1
Einige Autoren verwenden die Begriffe „Kontrollüberzeugungen“ und „Selbstwirksamkeitserwartungen“ synonym (Lasogga & Gasch, 2008, S.146). Andere Autoren sehen eine Trennbarkeit der Begriffe in dem Beitrag des Individuums zur Regulation eines Ereignisses. Es ist ein Unterschied, ob ein Mensch glaubt, ein Ereignis könne kontrolliert werden (Kontrollüberzeugung) oder ob ein Mensch glaubt, er selbst könne das Ereignis steuern (Selbstwirksamkeitserwartung). Krampen (1987) entwickelt hierzu ein Modell, innerhalb dessen er die Kontrollüberzeugung einer Handlungsebene des Individuums und die Selbstwirksamkeit zu einer eher psychologischen Ebene des Selbstkonzepts zuordnet.
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Nina Bender/Klaus Breuer
Hälfte aller neuen Auszubildenden unter 18 Jahren alt war und noch im elterlichen Haushalt lebte, sind es heute nur noch rund 30%. Das durchschnittliche Alter der am Beginn der Ausbildung stehenden jungen Menschen liegt heute bei 19,4 Jahren (Beicht & Krewerth, 2010, S. 1-2). Mit der Volljährigkeit erreicht ein junger Mensch eine entscheidende Etappe in der Phase der Adoleszenz. Damit verbunden ist der Wunsch nach Unabhängigkeit und gleichermaßen steigen die Konsumbedürfnisse. Dem gegenüber steht ein durchschnittlicher monatlicher Verdienst von knapp 500 Euro im 2. Ausbildungsjahr2. Daher verwundert es nicht, dass rund 82% der Auszubildenden in Kleinstbetrieben (weniger als 9 Beschäftigte) und 31% der Auszubildenden in größeren Unternehmen (mehr als 500 Beschäftigte) angeben, unzufrieden mit ihrer Vergütung zu sein (Beicht & Krewerth, 2010, S. 5). Dieser Auffassung entsprechend suchen sich viele junge Auszubildende einen Nebenjob, um das betriebliche Gehalt aufzustocken und die Bedürfnisse der erreichten Lebensphase dennoch befriedigen zu können, bzw. z.T. um die Kosten der Grundversorgung zu decken. Gleichzeitig kann neben der Tendenz zum Zweitjob eine Neigung zu zunehmender Verschuldung bei jungen Menschen festgestellt werden. Dies dient letztlich dem gleichen Zweck, entsprechend dem Lebensalter Unabhängigkeit zu erreichen und diese mit individuellen monetären Entscheidungen zu bekräftigen. Es wird deutlich, dass zu einer autonomen Lebensbewältigung eine entsprechende Handlungsfähigkeit in finanziellen Entscheidungen gehört. Aus den Erkenntnissen der Resilienzforschung ist indes bekannt, dass autonomes Handeln die Entwicklung geeigneter Bewältigungskompetenzen voraussetzt, welche wiederum durch eine Reihe von Prädiktoren befördert werden können (vgl. Loevinger, 1976; Hy & Loevinger, 1996; Korczak, 2005):
Positives Selbstbild Internale Kontrollüberzeugungen Vielfältige Interessen Konstruktive Problemlösefähigkeiten Materielle Ressourcen Soziale Kompetenzen
Betrachtet man die förderlichen Bedingungen für Resilienz, so wird deutlich, dass insbesondere internale Faktoren wie z.B. ein positives Selbstbild oder internale Kontrollüberzeugungen eine Rolle spielen. Transferiert auf die Fragestellung zur Genese finanzieller Handlungskompetenz finden wir damit Analogie in den angenommenen Modellen. Wissen wird dabei als das Entscheidungsver2
Dies bezieht sich nur auf betriebliche Ausbildungsverhältnisse. Ausgenommen sind überbetriebliche Ausbildungen oder z.B. vollschulische Ausbildungsverhältnisse.
Junge Menschen und frühe Schulden
49
halten maßgeblich determinierende Faktum interpretiert. Begleitet wird es von weiteren Dimensionen des individuellen Geldverhaltens, wie sozioökonomischen Faktoren, die sich in dem Ausmaß sozialer Unterstützung durch ein soziales Netzwerk wiederfindet sowie psychologische Faktoren, die auch Dimensionen wie die Selbstwirksamkeitserwartungen in finanziellen Situationen betreffen. Die Bedeutsamkeit des Konstrukts der Selbstwirksamkeit konnte in einem empirischen Zugang bei verschuldeten und nicht verschuldeten Jugendlichen geprüft werden.
2
Empirische Studie zur Bedeutsamkeit von Selbstwirksamkeit und wahrgenommener sozialer Unterstützung im Umgang mit Geld bei verschuldeten und nicht verschuldeten Jugendlichen und jungen Erwachsenen
Die Datenerhebung bei den verschuldeten Jugendlichen und jungen Erwachsenen erfolgte in einer Studie über die Schuldnerberatungsstelle der Caritas e.V. in Mainz. Hier wird eine spezielle Beratung für die Alterskohorte der unter 25Jährigen angeboten. Die Vergleichsgruppe wurde an der berufsbildenden Schule BBS I in Mainz befragt. Aus der berufsbildenden Schule konnten von ursprünglich 46 eingesetzten Fragebögen 34 in die Auswertung der Daten einbezogen werden. In der Schuldnerberatungsstelle der Caritas e.V. in Mainz wurden 40 Fragebögen verteilt, von denen 27 in die Auswertung einbezogen werden konnten. Die verbleibenden Fragebögen mussten aufgrund zu vieler fehlender Antworten von der weiteren Auswertung ausgeschlossen werden. Damit liegt die Rücklaufquote für beide Gruppen bei etwa 70%. Tabelle 1: Soziobiografische Merkmale Verschuldete Jugendliche bzw. junge Erwachsene Zugang Anzahl Geschlecht
Migration Alter
Quelle: eigene Darstellung.
Schuldnerberatungsstelle der Caritas e.V. in Mainz 27 17 weiblich 10 männlich 10 ohne deutsche Staatsangehörigkeit 17 mit deutscher Staatsangehörigkeit 19-25 Jahre
Nicht verschuldete Jugendliche bzw. junge Erwachsene Berufsbildende Schule I in Mainz 34 19 weiblich 15 männlich 14 ohne deutsche Staatsangehörigkeit 20 mit deutscher Staatsangehörigkeit 16-21 Jahre
50
Nina Bender/Klaus Breuer
Im Voraus wurde auf vergleichbare Voraussetzungen bei beiden Gruppen hinsichtlich deren Vorbildung geachtet. Überwiegend besitzen die Ratsuchenden bei der Schuldnerberatung keinen schulischen Abschluss oder einen Hauptschulabschluss. Vergleichbare kognitive Bedingungen finden sich bei den Schülerinnen und Schülern der BBS I insbesondere in handwerklich orientierten Ausbildungsberufen sowie bei Schülerinnen und Schülern aus dem Berufsvorbereitungsjahr3. Die folgende Tabelle zeigt im Überblick die Verteilung der Schulabschlüsse über beide Gruppen. Tabelle 2: Schulabschlüsse Gruppe
5
Schulabschluss HauptRealSonderschule schule schule 14 7 0
1
27
5
21
7
1
0
34
10
35
14
1
1
61
Kein Verschuldete Nicht Verschuldete Gesamt
Gesamt K.A.4
Quelle: eigene Darstellung.
Von den 34 nicht verschuldeten Personen befinden sich 6 im Berufsvorbereitungsjahr und stehen in keinem formalen Ausbildungsverhältnis. Von den 27 verschuldeten Probanden gibt die Mehrheit an, derzeit arbeitslos zu sein. Nur 4 der verschuldeten Jugendlichen und jungen Erwachsenen geben an, eine abgeschlossene Berufsausbildung zu besitzen. Tabelle 3: Berufliche Tätigkeit Gruppe Ja Verschuldete Nicht Verschuldete Quelle: eigene Darstellung.
3
9 25
Berufstätigkeit Nein k.A. 16 2 6 3
Gesamt 27 34
Das Berufsvorbereitungsjahr in Rheinland-Pfalz wird von Schülerinnen und Schülern besucht, die nach der Beendigung oder dem Abbruch einer allgemeinbildenden Schule weiterhin schulpflichtig sind, aber in keinem betrieblichen oder überbetrieblichen Ausbildungsverhältnis stehen. Das Berufsvorbereitungsjahr vermittelt berufliche Grundkenntnisse und ermöglicht unter bestimmten Auflagen das Nachholen des Hauptschulabschlusses. 4 „Keine Angabe“
Junge Menschen und frühe Schulden
51
Im Anschluss an die soziodemografischen Merkmale der Stichprobe interessieren insbesondere bei der Gruppe aus der Schuldnerberatung die Gründe für die frühe Verschuldung. Die folgende Abbildung zeigt, wofür sich die Probanden in der Hauptsache ver- bzw. überschuldet haben. Abbildung 14:
Schuldenträger
Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (2008). Lebenslagen in Deutschland. Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Köln: Bundesanzeiger Verlag. S. 51.
Die Nutzung von Handys und die Anschaffung von Gebrauchsgütern wie PCs oder Fernsehgeräten wird von den meisten Probanden als eine der Hauptursachen für das Eintreten einer krisenhaften Verschuldungssituation gesehen. Von den verschuldeten Jugendlichen und jungen Erwachsenen gibt keine Person an, die Schulden im Zuge größerer geplanter Investitionen wie z.B. Kapitalanlagen getätigt zu haben. Dies deckt sich mit Ergebnissen zur Jugendverschuldung aus Studien, die in Österreich durchgeführt worden sind (Gabanyi, Hemedinger & Lehner, 2008). Jugendliche nutzen Kredite demnach zur Sicherstellung eines gewünschten Lebensstils. Unabhängig davon, ob es ein privater oder ein institutioneller Kredit ist, scheint dieses Verhalten bei Jugendlichen mehr und mehr zur
52
Nina Bender/Klaus Breuer
„Normalität“ zu werden. In der vorliegenden Studie wurde ebenfalls gefragt, welche Personen oder Institutionen in der Wahrnehmung des einzelnen maßgeblich auf die Gelderziehung eingewirkt haben. Die folgende Tabelle zeigt die Ergebnisse. Tabelle 4: Sozialisatoren der Gelderziehung – Prozentuale Verteilung5 Verschuldete (n=27) Absolut Prozentual 9 33% Eltern 18 Selbst 67% 0 0 Großeltern 2 4% Freunde 2 4% Schule 2 4% Bank 2 4% Medien Quelle: eigene Darstellung.
Nicht-Verschuldete (n=34) Absolut 27 20 4 2 0 0 2
Prozentual 79% 59% 12% 6% 0 0 6%
Insbesondere unterscheidet sich der Anteil der elterlichen Erziehung bei beiden Gruppen deutlich. Während 79% der nicht verschuldeten Jugendlichen angeben, von ihren Eltern zum Umgang mit Geld erzogen worden zu sein, sind es bei den Verschuldeten nur 33%. Dagegen geben 67% der Verschuldeten an, sich den Umgang mit Geld selbst angeeignet zu haben. Eine unmittelbare Bedeutsamkeit erhält in diesem Zusammenhang die Frage nach der Entstehung von Selbstwirksamkeitserwartung. Diese ist zu verstehen als die individuelle Überzeugung oder der Glaube daran, neue oder komplexe Herausforderungen auf Basis der eigenen Kompetenzen bewältigen zu können (Jerusalem, 2005, S. 6). Der Sozialisationshintergrund spielt insofern eine Rolle, als dass individuelle Selbstwirksamkeit über vier wesentliche Kanäle entsteht und einer dieser Kanäle über die Beobachtung von Verhaltensweisen sozialer Partner erklärt werden kann (Jerusalem, 2005, S. 18):
5
Direkte persönliche (Erfolgs-)Erfahrungen („mastery experiences“) indirekte oder stellvertretende Erfahrungen über Bezugspersonen (Beobachtungslernen) symbolische Erfahrungen (z. B. sprachliche Überzeugungen) Wahrnehmung und Interpretation eigener Emotionen
Die absoluten Zahlen und Prozentwerte ergeben in der Summe mehr als n bzw. mehr als 100%. Dies liegt daran, dass die Probanden die Möglichkeit der Mehrfachauswahl von Antworten hatten.
Junge Menschen und frühe Schulden
53
Es kann im Zuge dieser Untersuchung nicht geklärt werden, welche (Miss-)Konzepte über das Beobachtungslernen am Modell „Eltern“ entstehen können bzw. über die selbstgesteuerte Aneignung finanzieller Handlungsstrategien erzeugt werden. Hierzu sind weitere Studien notwendig, die den Aspekt der Sozialisation in finanziellen Zusammenhängen in den Fokus stellen.
2.1
Selbstwirksamkeitserwartungen junger Menschen zum persönlichen Umgang mit Geld
In der vorgestellten Studie stehen internal angelegte Eigenschaften sowie soziale Merkmale im Mittelpunkt. Der Umgang mit Geld wird über das Konstrukt der „Selbstregulation in finanziellen Situationen“ abgebildet. In der Forschung zur Selbstregulation wird dabei das Konzept der Selbstwirksamkeitserwartung als essenziell betrachtet. Daneben steuern Merkmale wie die individuelle Fähigkeit zur Planung, die Kontrolle des eigenen Bewältigungsprozesses sowie in motivationaler Perspektive die Bereitschaft zur Aufrechterhaltung der zur Bewältigung einer Situation notwendigen Energie (Anstrengungsbereitschaft) den Erfolg eines Handlungsprozesses. Die Selbstwirksamkeit bildet dabei als subjektive Überzeugung zur eigenen Handlungskompetenz die zentrale Komponente der Selbstregulation (vgl. Bandura, 1997, S. 3; Friedrich & Mandl, 1997, S. 244; Jerusalem, 2005, S. 7). Die Selbstwirksamkeit wirkt zudem förderlich auf die genannten Steuerungsmerkmale. Laut Schwarzer und Jerusalem (2002, S. 37) setzt sich eine selbstwirksame Person bereits in der Motivationsphase höhere Ziele, als nicht selbstwirksame Personen. In der Handlungsphase dient eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung der zielführenden Überwachung des Handlungsgeschehens. In der Volitionsphase sind selbstwirksame Personen eher dazu befähigt, ihre Zielsetzung aufrecht zu erhalten. Selbstwirksamkeit und eine optimistische Selbstüberzeugung befördern eine kompetente Selbstregulation (Schwarzer & Jerusalem, 2002, S. 37). Zudem bilden sie bedeutsame Prädiktoren für den individuellen Lernerfolg, da sie das Anspruchsniveau der individuellen Ziele beeinflussen, die Anstrengungsbereitschaft und Ausdauer zur Zielerreichung bestimmen und dazu beitragen, Erfolge und Misserfolge zu bewältigen (Hannover & Kessels, 2008, S. 121). In der vorliegenden Studie sind die beschriebenen Steuerungsmerkmale über eine auf Finanzsituationen adaptierte Version eines Fragebogens zur Selbst6 regulation (TSRQ) erfasst worden. Der Fragebogen dient der Analyse metakog6
¤ 1996 Harold F. O’Neil, Jr. UCLA SCE/CREST, Los Angeles, CA 90095-1522; © 1999 Klaus Breuer für die Version in deutscher Sprache
54
Nina Bender/Klaus Breuer
nitiver und motivationaler Merkmale selbstregulativen Handelns und bildet die Dimensionen Planung, Selbstkontrolle, Anstrengungsbereitschaft und Selbstwirksamkeitserwartungen ab (vgl. Breuer & Brahms, 1999; Breuer & Eugster, 2006). Über analytische Verfahren ergibt sich eine von den ursprünglichen 4 theoretischen Faktoren abweichende Struktur. Die ursprünglichen Skalen der Planung und der Selbstkontrolle fallen für die vorliegende Stichprobe zu einer Skala „Sorgfalt bei finanziellen Entscheidungen“ zusammen. Eine starker Zusammenhang zwischen diesen beiden Merkmale erscheint plausibel, da die Kontrolle des Handlungsprozesses nur dann sinnvoll ist, wenn ein Ziel gesetzt ist und der Zeitpunkt bzw. die Mindestanforderungen zur Zielerreichung festgelegt wird. Die wechselseitige Abhängigkeit von „Planung“ und „Selbstkontrolle“ wird auch in der Literatur bestätigt (vgl. Schreblowski & Hasselhorn, 2006, S.153; Seel, 2003, S. 232; Wild, 1974, S. 44). Die Skala zur Selbstwirksamkeit (Subjektive Erwartungen zum erfolgreichen Umgang mit Geld) und die Skala zur Anstrengungsbereitschaft (Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit finanziellen Hürden) bleiben fast unverändert erhalten. Tabelle 5: Skalen zur Selbstregulation – modifizierte Skalen
Subjektive Erwartungen zum erfolgreichen Umgang mit Geld Sorgfalt bei finanziellen Entscheidungen Bereitschaft zur Auseinandersetz ung mit finanziellen Hürden
Gruppe
N
MW
SA
SA²
Sig. (einseitig, <0,05)
Verschuldete
27
2,66
1,301
1,693
Nicht Verschuldete
34
3,74
0,682
0,465
0,000
Verschuldete Nicht Verschuldete Verschuldete
27 34
3,32 3,49
1,203 1,158
1,447 1,341
0,118
27
3,22
1,261
1,590
Nicht Verschuldete
34
3,55
0,893
0,797
0,296
Quelle: eigene Darstellung.
Ein signifikanter Unterschied ergibt sich in der vorliegenden Studie für die Skala der subjektiven Erwartungen zum erfolgreichen Umgang mit Geld. Auch unter dem Aspekt der Bewältigung von finanziellen Anforderungssituationen bestätigt sich die Bedeutsamkeit des Konstrukts der Selbstwirksamkeitserwartung also als ein handlungssteuerndes Merkmal.
Junge Menschen und frühe Schulden 2.2
55
Wahrnehmung sozialer Unterstützung
Soziale Unterstützung wird definiert als „das Ergebnis kognitiv-emotionaler Verarbeitung und Bewertung sozialer Interaktionen (…), durch die Personen Hilfestellungen erleben oder erwarten, um persönliche Ziele zu erreichen oder Aufgaben und Belastungen zu bewältigen“ (Fydrich, Sommer & Brähler, 2007, S. 7). Zu den Unterstützungsressourcen zählen alle Personen aus dem sozialen Netz, die potentiell als Geber von Unterstützungsleistungen zur Verfügung stehen (Fydrich, Sommer & Brähler, 2007, S. 9). Zu den Inhalten sozialer Unterstützung zählen die Autoren Fydrich, Sommer und Brähler (2007, S. 11):
Emotionale Unterstützung (Vertrauen, Nähe, positive Gefühle, Akzeptanz) Unterstützung beim Problemlösen (Über ein Problem sprechen können, Ermutigung, Rückhalt, Rückmeldung) Praktische und materielle (instrumentelle) Unterstützung (sich Geld oder Gegenstände leihen können, praktische Hilfe erhalten, Entlastung) Soziale Integration (Interaktion erleben, Übereinstimmung von Werten und Einstellungen) Beziehungssicherheit (Vertrauen haben in relevante Beziehungen, Stabilität)
Entsprechend dieser inhaltlichen Dimensionen definieren sich auch die Skalen im eingesetzten Fragebogen „F-SozU“7. Unter dem Aspekt finanzieller Beziehungen spielt insbesondere die Dimension der materiellen Unterstützung eine bedeutsame Rolle. Es bleibt anzumerken, dass die genannten Dimensionen nicht als trennscharf zu interpretieren sind, sondern untereinander korrelieren (Fydrich, Sommer & Brähler, 2007). Soziale Unterstützung dient allgemein der Erhöhung des individuellen Wohlbefindens insofern sie als Ressource zur Erweiterung von Handlungsspielräumen verstanden und für die Bewältigung bevorstehender Aufgaben und Entscheidungen herangezogen werden kann. Diese Interpretation legt dem Konstrukt der sozialen Unterstützung ein im Wesentlichen instrumentelles Verständnis zugrunde. Betrachtet man den Zusammenhang sozialer Netzwerke und sozialer Unterstützung unter der Begrifflichkeit des „sozialen Kapitals“ wird deutlich, dass dieses einerseits notwendig ist, um soziale Netzwerke aufzubauen, Kontakte zu knüpfen und Beziehungen zu pflegen. Andererseits wirken gerade stabile und starke soziale Netzwerke und der damit verbundene Erhalt sozialer Unterstützung als Generator von sozialem Kapital (Röhrle & Sommer, 1994, S. 111). Die Forschungsgegenstände „Soziale Unterstützung“ und „Soziale 7
F-SozU. Fragebogen zur sozialen Unterstützung (Fydrich, Sommer & Brähler, 2007).
56
Nina Bender/Klaus Breuer
Netzwerke“ sind folglich eng miteinander verbunden8. Neben der sozialen Unterstützung werden auch belastende Relationen aus dem sozialen Umfeld erhoben. Über den F-SozU wird dabei die Intensität der sozialen Belastung erfragt. Im Mittelpunkt steht die Frage nach dem Ausmaß sozialer Belastung. Mit der Analyse der wahrgenommenen sozialen Unterstützung bei verschuldeten und nicht verschuldeten Jugendlichen und jungen Erwachsenen wird also untersucht, in welcher Qualität sich die jungen Menschen durch ihr soziales Umfeld unterstützt fühlen. Hierdurch kann auch geprüft werden, ob die Annahme einer sozialen Isolation als Folge prekärer Lebensumstände bei den verschuldeten Jugendlichen und jungen Erwachsenen der Stichprobe bestätigt werden kann. Die folgende Tabelle listet die Ergebnisse des T-Tests für das Konstrukt der wahrgenommenen sozialen Unterstützung und den entsprechenden Subskalen: Tabelle 6: Mittelwertvergleich sozialer Unterstützung bei verschuldeten und nicht verschuldeten Jugendlichen und jungen Erwachsenen
Wahrgenommene soziale Unterstützung Subskalen Praktische Unterstützung
Emotionale Unterstützung
Soziale Integration
Gruppe
N
MW
SA
SA²
Sig. (einseitig, <0,05)
Verschuldete
27
3,03
.686
.471
Nicht Verschuldete
34
3,63
.397
.158
0,000
Verschuldete Nicht Verschuldete Verschuldete Nicht Verschuldete Verschuldete Nicht Verschuldete
27 34
2,34 2,93
.803 .627
.645 .393
0,001
27 34
3,03 3,56
.850 .462
.723 .213
0,003
27 34
3,50 4,21
.685 .445
.469 .207
0,000
Quelle: eigene Darstellung.
Für die Skala der sozialen Unterstützung ergibt sich eine signifikante Differenz. Der Vergleich der Mittelwerte9 zeigt, dass sich die verschuldeten Jugendlichen 8
Es finden sich in der Literatur breite Empfehlungen zum ergänzenden Einsatz der sozialen Netzwerkanalyse mit Instrumenten zur Erhebung der wahrgenommenen sozialen Unterstützung. Die soziale Netzwerkanalyse liefert strukturelle Informationen, die wiederum durch die Erhebung der wahrgenommenen sozialen Unterstützung eine subjektnahe Interpretierbarkeit erlauben (vgl. Nestmann & Hurrelmann, 1994; Nestmann, 2000). 9 5-stufige Likert-Skala
Junge Menschen und frühe Schulden
57
und jungen Erwachsenen weniger sozial unterstützt fühlen, als die nicht verschuldeten Jugendlichen. Dieses Ergebnis spiegelt sich in den zugehörigen Subskalen wider. So empfinden verschuldete junge Menschen gleichermaßen weniger praktische und emotionale Unterstützung und fühlen sich weniger sozial integriert, als die Gruppe der nicht verschuldeten jungen Menschen. Neben der wahrgenommenen sozialen Unterstützung werden weitere Skalen zur Empfindung des sozialen Umfeldes erfragt. Die folgende Tabelle zeigt die Mittelwertvergleiche dieser Nebenskalen. Tabelle 7: Mittelwertvergleich der Nebenskalen sozialer Unterstützung bei verschuldeten und nicht verschuldeten Jugendlichen und jungen Erwachsenen
Soziale Belastung
Verfügbarkeit einer Vertrauensperson Reziprozität
Zufriedenheit mit Vertrauensperson
Gruppe
N
MW
SA
SA²
Sig. (einseitig, <0,05)
Verschuldete
27
1,79
.833
.694
Nicht Verschuldete Verschuldete Nicht Verschuldete Verschuldete Nicht Verschuldete Verschuldete Nicht Verschuldete
34
1,53
.646
.417
0,086
27 34
3,03 3,65
.794 .600
.630 .360
0,0005
27 34
2,65 3,09
.711 .567
.506 .321
0,0045
27 34
3,91 4,73
.758 .705
.575 .497
0,000
Quelle: eigene Darstellung.
Der Faktor „Soziale Belastung“ weist zwar einen Unterschied in den Mittelwerten auf. Hinsichtlich der vorliegenden Stichprobe ist dieser Unterschied jedoch nicht signifikant. Bei den übrigen Nebenskalen verhalten sich die Werte erwartungskonform und liefern signifikante Ergebnisse. So zeigt sich, dass die Gruppe der Verschuldeten in geringerem Umfang angeben, Zugang zu einer Vertrauensperson zu besitzen, als die Gruppe der nicht verschuldeten Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Reziprozität steht für die Einschätzung eigener Unterstützungsleistungen, d.h. inwieweit der Proband von sich selbst glaubt, soziale Unterstützung nicht nur zu empfangen, sondern auch an andere zu richten. Die Gruppe der nicht verschuldeten Jugendlichen und jungen Erwachsenen schätzt sich diesbezüglich stärker ein.
58
Nina Bender/Klaus Breuer
Die Ergebnisse zur wahrgenommenen sozialen Unterstützung zeigen, dass sich die verschuldeten Jugendlichen und jungen Erwachsenen deutlich weniger sozial unterstützt fühlen, als die nicht verschuldeten Jugendlichen. Damit einher geht die Wahrnehmung fehlender sozialer Integration und mangelnder praktischer sowie emotionaler Unterstützung. Die verschuldeten Jugendlichen fühlen sich „alleine gelassen“, während die Gruppe der nicht verschuldeten Jugendlichen eine ausgeprägte soziale Eingebundenheit verspürt. Die Annahme einer sozialen Ausgrenzung, sei sie nun durch Abkehr des sozialen Umfelds oder durch willentliche Isolation des Betroffenen, bestätigt sich in der vorliegenden Stichprobe. Die Bedeutsamkeit sozialer Einbindung und sozialer Unterstützung für die Bewältigung von Schuldensituationen steht diesem Befund gegenüber. Beratungs- und Schulungsmaßnahmen sollten sich daher auch stets auf die Reinklusion der Betroffenen in ein soziales Gefüge bzw. mit der Entwicklung sozialer Fähigkeiten beziehen (Bender & Rau, 2010).
3
Zusammenfassung
Die vorliegende Studie liefert einen Vergleich von Bedingungsfaktoren monetären Handelns zwischen verschuldeten und nicht verschuldeten Jugendlichen und Erwachsenen im Alter von 16 bis 25 Jahren. Um dem Phänomen der Jugendverschuldung zu begegnen, wird in der öffentlichen Debatte nicht selten die Intensivierung schulischer Bemühungen im Sinne von Informations- und Wissensvermittlung zu finanziellen Themen verlangt. Finanzielles Handeln erscheint jedoch aus wirtschaftspädagogischer Sicht nicht allein durch das Vorhandensein finanziellen Wissens erklärbar. Vielmehr unterstützen die Ergebnisse die Annahme, dass weitere Bausteine das Geldhandeln beeinflussen, wie z.B. die Möglichkeit zur Wahrnehmung sozialer Unterstützung oder die Selbstwirksamkeit im Umgang mit Geld. Das soziale Umfeld kann individuelle Handlungsspielräume erweitern oder begrenzen und damit indirekt auf die Entwicklung von Bewältigungsstrategien in variablen Anforderungssituationen Einfluss nehmen. Dies gilt entsprechend für Situationen, in denen der Einzelne mit Geld agiert. Aus diesem Grund ist eine soziale Dimension in die Betrachtung des individuellen Geldhandelns auf allen Ebenen der Entwicklung, Durchführung und Reflexion von Präventions- oder Interventionsmaßnahmen mit einzubeziehen. Neben dieser sozialen Dimension fällt eine weitere wichtige Dimension in den Blick. Um angemessene Handlungen produzieren zu können, bedarf es einer adäquaten Selbsteinschätzung. Ein mangelndes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zur Bewältigung problembehafteter Situationen führt nicht selten dazu, dass das Individuum die bevorstehende Aufgabe abbricht oder gar nicht erst antritt. Entsprechend ist
Junge Menschen und frühe Schulden
59
die Dimension individueller Selbstwirksamkeitserwartung zum Umgang mit Geld ebenfalls zu berücksichtigen. Mit der vorliegenden Studie wird das Ziel verfolgt, Determinanten finanziellen Handelns zu erfassen, die über das reine „Wissen“ zu Geld hinausgehen und einen entscheidenden Beitrag zum Geldverhalten leisten. Hierüber soll der Kern finanziellen Handelns einem breiteren Verständnis zugeführt werden. Gleichzeitig dient die Studie einer empirischen Prüfung der Sensitivität der eingesetzten Instrumente hinsichtlich der untersuchten Gruppen von verschuldeten und nicht verschuldeten Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die in breiter angelegten Folgestudien zum Einsatz kommen sollen. Es kann gezeigt werden, dass sich die meisten jungen Menschen aus der Stichprobe im Zuge reiner Konsumorientierung, häufig aufgrund von Handykosten, verschulden. Diese Konsumschulden entsprechen nach der gegebenen Forschungslage dem Hauptanteil jugendlicher Schulden (Streuli et al., 2008, S. 63). Die Erziehung zum Umgang mit Geld findet bei der Gruppe der Verschuldeten aus ihrer eigenen Sicht in der Hauptsache selbstgesteuert statt (67%), während bei der Gruppe der nicht Verschuldeten die Eltern diese Aufgabe im Wesentlichen übernehmen (79%). Möglicherweise liegt hierin ein wesentlicher Einflussfaktor auf die Verschuldung Jugendlicher. Es sollte in diesem Zusammenhang geprüft werden, welche Bedeutsamkeit der elterlichen (Geld-)Erziehung zukommt und welche Auswirkungen eine defizitäre Erziehung in diesem Bereich durch fehlende Vorbilder oder die Vermittlung von Misskonzeptionen haben kann. Da die Stärke des Prädiktors individueller Selbstwirksamkeitserwartungen im Umgang mit Geld durch die Ergebnisse bekräftigt werden kann, ist es überdies anzustreben, die Förderung dieses Merkmals in die Entwicklung präventiver Maßnahmen mit einzubeziehen. Dies richtet sich unter anderem auf die Entwicklung eines kompetenten Sozialverhaltens, weswegen in der vorliegenden Studie auch Bezug auf die wahrgenommene soziale Unterstützung genommen wurde (Jerusalem, 2005, S. 19)10. Für diese kann konstatiert werden, dass sich verschuldete Jugendliche weniger sozial unterstützt fühlen, als die nicht verschuldeten Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Hiermit verbunden ist eine in geringerem Umfang empfundene soziale Integration mit fehlenden Möglichkeiten zum Erhalt praktischer und/oder sozialer Unterstützung. Weiterhin geben verschuldete Jugendliche an, kaum Zugang zu Vertrauenspersonen zu besitzen. Insgesamt fühlen sie sich in ihrer Situation eher alleine gelassen. Die Gruppe der nicht verschuldeten Jugendlichen zeigt eine deutlich höhere Selbstwirksamkeitserwartung im Umgang mit Geld. Die vorgestellten Ergebnisse geben Anlass, die Dimensionen „soziale Unterstüt10
Jerusalem (2005) beschreibt neben dieser sozialen Ebene zur Förderung individueller Selbstwirksamkeitserwartungen zudem zwei weitere. „Motiviertes Lernen“ und „Proaktives Handeln“ werden als förderliche Merkmale selbstwirksamen Handelns betrachtet.
60
Nina Bender/Klaus Breuer
zung“ und „Selbstwirksamkeitserwartungen“ im Kontext finanziellen Handelns in breiteren Studien vertiefend empirisch zu fundieren.
Literatur Bandura, A. (1997). Self-efficacy: The exercise of control. New York: Freeman. Beicht, U. & Krewerth, A. (2010). Geld spielt eine Rolle! Sind Auszubildende mit ihrer Vergütung zufrieden? In BIBB Report. Forschungs- und Arbeitsergebnisse aus dem Bundesinstitut für Berufsbildung, 14(10), S.1-15. Bender, N. & Rau, M. (2010). Die finanzielle Handlungskompetenz von Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Fokus der Exzellenzforschung. Zeitschrift Berufsbildung, Heft 123. Bender, N. (2009). Armut und Schulden als Gegenstand wirtschaftspädagogischer Forschung. In E. Wuttke, H. Ebner, B. Fürstenau & R. Tenberg (Hrsg.). Erträge und Perspektiven berufs- und wirtschaftspädagogischer Forschung. Schriftenreihe der Sektion Berufs- und Wirtschaftspädagogik der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaften (DGfE), (S. 67-78). Opladen: Barbara Budrich. Breuer, K. & Brahm, T. (2004). Die Abbildung von Befähigungen zur Selbstregulation. In M. Wosnitza, et al. (Hrsg.), Lernprozesse, Lernumgebung und Lerndiagnostik, (S. 363-374). Landau: Verlag Empirische Pädagogik. Breuer, K. & Eugster, B. (2006). Effects of Training and Assessment in Vocational Education and Training (VET): Reflections on the Methodology of Assessing the Development of Traits of Self-Regulation. Studies in Educational Evaluation, 32, (2006), S. 243-261. Elsevier. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (2008). Lebenslagen in Deutschland. Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Köln: Bundesanzeiger Verlag. Dessart, W. C. A. M., & Kuylen, A. A. A. (1986). The nature, extent, causes and consequences of problematic debt situations. Journal of Consumer Policy, 9, S. 311-334. Frey, A. & Balzer, L. (2005). Überfachliche Kompetenzen: Zur Validierung eines Indikatorensystems. In A. Frey, R. Jäger & U. Renold (Hrsg.), Kompetenzdiagnostik. Theorien und Methoden zur Erfassung und Bewertung von beruflichen Kompetenzen, (S.7-30). Landau: Verlag Empirische Pädagogik. Frey, A., Jäger, R., Renold, U. (2005). Kompetenzdiagnostik. Theorien und Methoden zur Erfassung und Bewertung von beruflichen Kompetenzen. In A. Frey, R. Jäger & U. Renold (Hrsg.), Kompetenzdiagnostik. Theorien und Methoden zur Erfassung und Bewertung von beruflichen Kompetenzen, (S.1-6). Landau: Verlag Empirische Pädagogik. Friedrich, H. F. & Mandl, H. (1997). Analyse und Förderung selbst gesteuerten Lernens. In F. E. Weinert & H. Mandl (Hrsg.), Psychologie der Erwachsenenbildung (S. 237293). Göttingen: Hogrefe. Fydrich, T., Sommer, G., Brähler, E. (2007). Fragebogen zur sozialen Unterstützung (F-SozU). Göttingen: Hogrefe Verlag.
Junge Menschen und frühe Schulden
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Nina Bender/Klaus Breuer
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Kriminalität in Krisen. Einige Anmerkungen zu späten Einstiegen in die Straffälligkeit Michael Bock
1
Das alte Stabilitätspostulat
Dass Kriminalität mit Krisen1 zusammenhängen kann, ist eigentlich eine Binsenweisheit. Not kennt kein Gebot, sagt der Volksmund und erinnert damit an große politische Krisen, Kriege oder Naturkatastrophen, in denen oder anlässlich derer gestohlen, geplündert, gebrandschatzt, vergewaltigt und gemordet worden ist, die aber in diesem Referat nicht gemeint sind, denn hier soll es um biographische Krisen und ihre Bedeutung für Kriminalität gehen – mit einem besonderen Augenmerk auf Krisen in höheren Lebensaltern. Bezüglich dieser hält sich mit einer gewissen Hartnäckigkeit die Vorstellung, Kriminalität, jedenfalls in ihren relevanten sozialschädlichen Erscheinungsformen, sei die Folge mehr oder weniger unveränderlicher Persönlichkeitszüge.2 1
2
Auf die Auseinandersetzung mit dem Begriff „Krise“ im Beitrag von Daniel Reupke in diesem Band (S. 165 ff.) wird verwiesen. Ähnlich wie in der Geschichtswissenschaft hat er auch in sozialwissenschaftlichen oder psychologischen Zusammenhängen zwar überwiegend eine negative Bedeutung, dies aber nicht durchgehend, denn es gibt auch dort die Vorstellung von Krise als eines Geschehens, aus dem auch positive Veränderungspotentiale entstehen können, die es ohne einen vorhergehenden Zusammenbruch alter Strukturen nicht geben könnte. Klassisch ist diesbezüglich des Stufenmodell von Erik H. Erikson (Identität und Lebenszyklus; 2. Aufl. 1973; ders.: Der vollständige Lebenszyklus; 2. Aufl. 1992), wonach es im Lauf des Lebens verschiedene Identitätskrisen gibt, die es zu bewältigen gilt, um sich in seiner Persönlichkeit weiterzuentwickeln. Aber auch in Schlagworten wie „Krankheit als Weg“ kommt eine positive, Reifungsprozesse katalysierende Wirkung von Krisen zum Ausdruck. Gar nicht selten finden sich übrigens Äußerungen von Straftätern, in denen sie ihre Inhaftierung im Rückblick als (oft letzte) Chance sehen, sich aus kriminogenen Verhaltensmustern zu befreien. In den Anfängen der Kriminologie war es insbesondere Lombrosos Vorstellung vom Kriminellen als „geborenem Verbrecher“ (delinquente nato), die das Stabilitätspostulat bedienten, aber auch psychoanalytische und sozialisationstheoretische Kriminalitätserklärungen fokussierten sich auf früh in der Biographie auftretende Defizite und entsprechend den frühen Einstieg in die Kriminalität, so als ob damit alles gesagt sei. Selbst die Etikettierungsansätze mit ihrem ganz anderen (konstruktivistischen) Hintergrund haben ein Bild von „krimineller Karriere“ gezeichnet, in dem es keine Möglichkeit zum Ausstieg gibt, weil die Übernahme des „Stigmas“ des Kriminellen in das eigene Selbstbild und die fortlaufende Chancenverschlechterung durch Verurteilungen und Inhaftierungen dies unmöglich zu machen schienen (alle angesprochenen Theorien bei Bock, Kriminologie, 3. Aufl. 2007).
C. W. Hergenröder (Hrsg.), Krisen und Schulden, DOI 10.1007/978-3-531-93085-5_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Michael Bock
So wird „der Kriminelle“ derzeit auch wieder medial inszeniert. Krisen und überhaupt die Wechselfälle des Lebens sind bei einer solchen Auffassung wenig belangvoll. Für die berühmten Kriminologen Gottfredson und Hirschi, die mit die letzten kriminologischen3 Vertreter des Stabilitätspostulats sind, ist die aus einer geringen Selbstkontrolle (low self-control) resultierende Neigung eines Menschen zur Begehung von Straftaten ein stabiler Wesenszug, der sich bereits früh im Leben zeigt und über lange Zeiträume hinweg erhalten bleibt. Gottfredson und Hirschi halten an dieser Erklärung fest, obwohl es außer Frage steht, dass die Kriminalitätsbelastung gerade nicht gleichmäßig über alle Altersgruppen verteilt ist, sondern nach einem steilen, bis zum 20. Lebensjahr andauernden Anstieg zunächst allmählich, nach dem 35. Lebensjahr schließlich wieder stärker abfällt. Abbildung 1:
Die Alterskurve
Quelle: Konstanzer Inventar Kriminalitätsentwicklung, 2004.
3
In der Psychiatrie ist es vor allem das Psychopathie-Konzept von Hare, das hier einschlägig ist, vor allem weil Hare bewusst oder unbewusst die Frage offen lässt, ob es sich bei der psychopathy um ein kategoriales (ein konstantes „Wesen“ verkörperndes) oder ein dimensionales (d. h. in Abstufungen und auch vorübergehend auftretendes) Phänomen handelt, wobei nur das letztere dem Stand der Forschung entspricht (vgl. Thalmann: Neues vom Psychopathen. In: MschrKrim 2009, S. 376-394 mit der entsprechenden Literatur). Ansonsten stimmen die Beschreibungen des aus der low self control resultierenden Verhaltens von Gottfredson und Hirschi weitgehend mit der psychiatrischen Diagnose der „dissozialen“ oder „antisozialen Persönlichkeitsstörung“ nach der ICD überein.
Kriminalität in Krisen
65
Die Erklärung von Kriminalität als Folge einer über den Lebenslauf hinweg stabilen „kriminellen Disposition“ steht nämlich nach Gottfredson/Hirschi nur scheinbar in Widerspruch mit der Alterskurve der Kriminalität. Alterskurve nach Gottfredson & Hirschi
low self-control
Abbildung 2:
Schwäche Dissozialität Kriminalität
Statuspassagen verändern nur die Verteilung von Kriminalität und Dissozialität
Quelle: eigene Darstellung.
Der altersbedingte Ausstieg aus der registrierten Delinquenz sei insofern trügerisch, als das aus der low self-control fließende antisoziale Verhalten nicht verschwinde, sondern sich lediglich von der Straße in den unmittelbaren sozialen Nahbereich und von der registrierten und sanktionierten Kriminalität ins Dunkelfeld verlagere. Mit den menschlichen Reifeprozessen variiere also nur die Ausdrucksform sozial auffälligen Verhaltens, während gleichzeitig die dahinter stehende Disposition der geringen Selbstkontrolle stabil bleibe.4
2
Die neuere Entwicklungskriminologie
In den neueren Theorien der Entwicklungskriminologie5 wird diese Sichtweise allerdings ziemlich radikal in Frage gestellt. Zwar ist der Befund bekannt und 4 5
Gottfredson/Hirschi, A General Theory of Crime, 1990 Agnew, Stability and Change in Crime Over the Life-Course: A Strain Theory Explanation, in: Thornberry (Hrsg.), Developmental Theories of Crime and Delinquency, 1997, S. 101-132; Greenberg: Delinquency and the Age Structure of Society, in: Messinger/Bittner (Hrsg.), Criminology Review Yearbook, 1979, S. 586-620; Thornberry: Toward an Interactional Theory of Delinquency, Criminology 1987, S. 863-891; Laub/Sampson, Shared Beginnings, Divergent Lives, 2003; Bock,
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Michael Bock
gesichert, dass wenige Straftäter unverhältnismäßig viele und schwere Straftaten begehen.6 Genauso deutlich drängt sich inzwischen aber auch ein dazu gegenläufiger Befund auf. Kriminelle Karrieren verlaufen in der Regel nicht kontinuierlich, sondern diskontinuierlich. Sie enden früher oder später, beginnen oft spät, verlaufen mit Unterbrechungen. Das bedeutet, kriminell zu werden ist meist auf eine bestimmte Phase im Leben beschränkt, der Satz „einmal kriminell – immer kriminell“ ist durch die neuere Forschung eindrucksvoll widerlegt worden.7 Damit war der Blick frei für die Berücksichtigung von äußeren, situativen Auslösern für vorübergehende, spät einsetzende oder intermittierende Kriminalitätsverläufe und damit auch für die Berücksichtigung von Lebenskrisen. Allerdings bleibt die Entwicklungskriminologie, was die Berücksichtigung solcher Krisen betrifft, in gewisser Weise immer noch konservativ. Sie berücksichtigt nämlich vorwiegend die Veränderungen, die sich in der Adoleszenz ergeben, denn für diese Altersstufe war der peak in der Alterskurve zu erklären und für sie ergaben sich auch plausible Erklärungen. Wenn die Entwicklungskriminologie an Kriminalität in Krisen denkt, meint sie daher vor allem die Adoleszenzkrise. Sie macht deutlich, dass die Adoleszenz bezüglich der sozialen Integration einerseits, der Risiken für kriminelles Verhalten andererseits eine besonders exponierte biographische Phase ist. Mit dem Eintritt in die Adoleszenz verliert das Elternhaus seine prägende Kraft, seine Vorgaben und Kontrollen verblassen, während andererseits die peer group mit ihren losen Kontakten an Bedeutung gewinnt. Statusfragen und Stilfragen werden entscheidend, sie beziehen sich aber (noch) nicht auf die zentralen Erwachsenenrollen von Beruf und eigener Familie – die Übernahme dieser Rollen wird im Gegenteil weiter hinausgezögert – sondern auf Zugehörigkeit, Freizeitaktivitäten und Konsumverhalten. Hier entsteht dann, in der Terminologie der Anomietheorien „anomischer Druck“, in der Terminologie der Bindungstheorien fehlt es an der kriminalitätshemmenden Kraft von Bindungen, in denen „soziales Kapital“ investiert ist. Die
6
7
Entwicklungskriminologie; in Weidner/Kilb (Hrsg.) Handbuch der Konfrontativen Pädagogik, 2010 (im Druck). Die internationale Forschung wurde diesbezüglich erst kürzlich erneut durch die gründliche Studie des LKA Hessen bestätigt, die auf entsprechende Zahlenverhältnisse verweist Koch-Arzberger, Bott, Kerner, Reich: Mehrfach- und Intensivtäter in Hessen, Kriminalistisch-Kriminologische Schriften der hessischen Polizei Band 1, Wiesbaden 2008 sowie Koch-Arzberger, Bott, Kerner, Reich, Vester: Mehrfach- und Intensivtäter in Hessen - Abschlussbericht, KriminalistischKriminologische Schriften der hessischen Polizei Band 2, Wiesbaden 2010 Tracy/Kempf-Leonhard, Continuity and Discontinuity in Criminal Careers, 1996; Kerner, Vom Ende des Rückfalls. Probleme und Befunde zum Ausstieg von Wiederholungstätern aus der sogenannten kriminellen Karriere; in: FS Kaiser, 1998, S. 141–176; Stelly/Thomas, Wege aus schwerer Jugendkriminalität: Eine qualitative Studie zu Hintergründen und Bedingungen einer erfolgreichen Reintegration von mehrfachauffälligen Jungtätern, 2004
Kriminalität in Krisen
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Adoleszenz ist also eine strukturell kriminalitätsbegünstigende Altersphase und insoweit ist Kriminalität bei Jugendlichen auch „normal“. Abbildung 3:
Alterskurve nach Agnew und Thornberry
Quelle: eigene Darstellung
Die großen empirischen Langzeituntersuchungen bestätigen dies eindrucksvoll. In der Dunedin-Kohortenstudie8 z. B. fand Terrie Moffitt zwei kategorial unterschiedliche kriminelle Verlaufsmuster.9 Zum einen die sehr seltenen persister, die früh in der Jugend mit ihren Straftaten beginnen und über einen langen Zeitraum hinweg bis ins (mittlere) Erwachsenenalter straffällig bleiben – für diese kleine Gruppe argumentiert sie ähnlich wie Gottfredson und Hirschi –, und zum anderen die häufig vorkommenden episodenhaften Verläufe, deren strafrechtliche Auffälligkeiten sich lediglich auf die jugendliche Reifungsphase beschränken. Die persister haben wenig Erfolg in der Schule, keine tragenden Bindungen, 8
Bei der Dunedin Multidisciplinary Health and Development Study, einer bis dato noch fortlaufenden multidisziplinären Langzeitstudie, wurde eine repräsentative Geburtskohorte von 1037 Kindern des Jahrgangs 1972/73 aus dem Bezirk Dunedin in Neuseeland von der Geburt an bis heute in jeweils zweijährigen Abständen untersucht. 9 Moffitt, Life-Course-Persistent and Adolescene-Limited Anti-social Behavior, in: Lahey/Moffit/ Caspi (Hrsg.), Causes of Conduct Disorder and Juvenile Delinquency, 2003, S. 49-75; in den Hauptbefunden ähnlich Farrington et al., Criminal Careers up to Age 50 and Life Success up to Age 48, Home Office Research Study 299, 2006; Laub/Sampson, Shared Beginnings, Divergent Lives. Delinquent Boys to Age 70, 2003; Stelly/Thomas, Einmal Verbrecher – immer Verbrecher? 2001
68
Michael Bock
eine geringe Selbstkontrolle und weisen ein eher niedriges Intelligenzniveau auf. Mit zunehmendem Alter verschärft sich ihre soziale Situation durch Schulabbruch, Arbeitslosigkeit, frühe Vaterschaft, Scheidung, übermäßigen Alkoholund Drogenkonsum oder Inhaftierung. Auslöser sind neuropsychologische Dysfunktionen in der frühen Kindheit – etwa Defizite im Sprechen, Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität, Aggressivität, Impulsivität –, die sich allerdings erst in der wechselseitigen Interaktion mit einer ungünstigen sozialen Umwelt verfestigen. Im Sinne einer aktiven Selbstselektion suchen sich die persister diejenige soziale Umgebung aus, die ihrem auffälligen Lebensstil entspricht, also z. B. sozial auffällige Partner, Milieukontakte in der Freizeit, „unsaubere“ berufliche Tätigkeiten. Dadurch kommt es mit der Zeit zu einer Kumulation sozial auffälligen Verhaltens in allen Lebensbereichen und schließlich zu einer stabilen kriminellen Karriere. Das zahlenmäßig weitaus häufiger auftretende episodenhafte auffällige Sozialverhalten findet sich nur in einzelnen Teilbereichen des Lebens wieder, etwa im Freizeit- und Kontaktbereich. Zur Erklärung dieser episodenhaften Kriminalität rekurriert Moffitt auf die oben ausgeführten anomie- und lerntheoretischen Überlegungen der Entwicklungskriminologie. Durch markante Lebensereignisse (z. B. eigener Hausstand, Heirat, Arbeitsstelle) oder auch unter dem Eindruck von Sanktionen hören die Betroffenen auf, Straftaten zu begehen. Voraussetzung hierfür ist freilich, dass sie im Unterschied zu den persistern über grundlegende kognitive, soziale, emotionale und moralische Handlungskompetenzen verfügen. Moffitt löst also den Konflikt zwischen dem Stabilitätspostulat und der Gegenposition der Entwicklungskriminologie, indem sie zwei verschiedene Typen beschreibt, die sich in ihrer Kohorte finden. Das sind alles sehr differenzierte Befunde, die sich auch unseren eigenen Forschungen mit der Angewandten Kriminologie widerspiegeln,10 aber über 10
Bock, Kriminologie, 3. Aufl. 2007; ders., Der Jugendstrafvollzug als Durchgangsstadium in der Biographie junger Männer, in: Kerner, Hans-Jürgen u. Marks, Erich (Hrsg.), Internetdokumentation des Deutschen Präventionstages. Hannover 2010, www.praeventionstag.de/Dokumentation. cms/930; ders.: MIVEA als Hilfe für die Interventionsplanung im Jugendstrafverfahren; in: ZJJ 4/2006, S. 282-290; ders.: Angewandte Kriminologie in der Interventionsplanung bei Straffälligen; in: Forum für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie 2006, S. 58-85; Bock/Brettel, Schulden und Kriminalität; in: ZVI (8. Jahrgang, Sonderheft: „Schulden, Armut, Netzwerke: historische Zusammenhänge – gegenwärtige Herausforderungen“) 2009, S. 2-8; Bock/Rau, Finanzielle Verhältnisse als kriminologischer Indikator sozialer Einbindung; in: Hergenröder, Curt Wolfgang (Hrsg.) Gläubiger, Schuldner, Arme – Netzwerke und die Rolle des Vertrauens. Wiesbaden: VS-Verlag 2010, S. 83-103; Rau, Soziale Netzwerke und ihr Beitrag zu Prozessen der Exklusion und Inklusion anhand von Biographien junger Migranten – Werkstattbericht; in: Jehle u.a. (Hrsg.) „Wirtschaftskriminalität – Gewaltdelinquenz: Aktuelle Entwicklungen und Prävention“, Tagung der Kriminologischen Gesellschaft vom 17.-19. September 2009 in Gießen (im Druck) 2010; Rau, Integration von Strafgefangenen mit Migrationshintergrund; in: Ker-
Kriminalität in Krisen
69
Kriminalität in krisenhaften Entwicklungen im Erwachsenenalter oder noch später sagen sie nichts, was schon deshalb nicht sein kann, weil die Probanden jetzt erst das 40. Lebensjahr erreichen. Alterskurve nach Moffitt Alterskurve nach Moffitt
psychopathy
Anomischer Druck Soziales Kapital
Abbildung 4:
Statuspassagen tangieren persister nur peripher strain
bond
persister
Quelle: eigene Darstellung.
Erklärungsansätze für diese Phänomene findet man am ehesten in der „Theorie der altersabhängigen informellen Sozialkontrolle“ von Sampson und Laub, die von „Wendepunkten“ (turning points)11 sprechen, die immer möglich seien und sowohl den Ausstieg als auch den späteren Einstieg in eine kriminelle Entwicklung oder intermittierende Verläufe erklären können, wobei hierbei allerdings weniger von krisenhaften life-events als Auslösern die Rede ist, sondern allgemeiner vom Aufbau oder Verlust sozialen Kapitals durch Veränderungen in der Einbindung eines Individuums in die informelle Sozialkontrolle. Die Andeutungen bei Sampson und Laub ändern daher nichts daran, dass diese Phänomene sowohl in der Theoriebildung als auch in der empirischen Forschung noch „unterbelichtet“ sind.
ner, Hans-Jürgen u. Marks, Erich (Hrsg.), Internetdokumentation des Deutschen Präventionstages. Hannover 2010, www.praeventions-tag.de/Dokumentation.cms/929. 11 Sampson/Laub, Crime in the Making, 1993, S. 8.
70 Abbildung 5:
Michael Bock Alterskurve nach Agnew, Thornberry, Sampson & Laup
Quelle: eigene Darstellung.
Es gibt also ein Forschungsdesiderat bezüglich Kriminalität in Krisen des höheren Lebensalters. Zur Verdeutlichung sei hier noch eine vereinfachte Version der Verlaufsformen aus der eigenen Angewandten Kriminologie bzw. der dort zum Einsatz kommenden Methode der idealtypisch-vergleichenden Einzelfallanalyse (MIVEA) hinzugefügt. Sowohl das worst-case-Szenario der kontinuierlichen Hinentwicklung zur Kriminalität (mit frühem oder spätem Beginn) als auch das best-case-Szenario des kriminellen Übersprungs (bei dem es gar keine Antezendentien für die Straftat gibt) umfassen fraglos auch Kriminalität in höheren Lebensaltern. Geradezu vorgesehen ist sie sogar bei der Kriminalität bei sozialer Unauffälligkeit, bei der die gelungene soziale Integration die operative Voraussetzung für die Deliktsbegehung (z. B. Wirtschaftskriminalität oder Pädophilie) ist. Allein in dem Feld, das durch (temporal und sektoral begrenzte) soziale Auffälligkeit bei auf soziale Integration gerichteten Grundintentionen konstitutiert wird, ist bisher eine Altersbegrenzung enthalten, die wohl damit zusammenhängt, dass auch die Probanden der Tübinger JungtäterVergleichsuntersuchung, aus deren qualitativer Auswertung die Angewandte Kriminologie und also auch diese Typologie hervorgegangen sind, nicht älter als 30 waren.12 12
Schon in der ersten Fassung (Göppinger, Hans: Angewandte Kriminologie. Ein Leitfaden für die Praxis – Unter Mitarbeit von Werner Maschke, 1985) ist bezüglich der „Kriminalität bei sozialer Unauffälligkeit“ wegen des breiten Spektrums der Delikte, die hier vorkommen können, als Zu-
Kriminalität in Krisen
71
Tabelle 1: Idealtypen der Stellung der Tat im Lebenslängsschnitt
auffällig Sozial-
verhalten
unauffällig
Grundintentionen auffällig unauffällig kontinuierliche Kriminalität im Hinentwicklung zur Rahmen der Kriminalität (KH) Persönlichkeitsreifung (KiP) Höheres Lebensalter? Kriminalität bei krimineller sonstiger Übersprung (KÜ) sozialer Unauffälligkeit (KsU)
Quelle: eigene Darstellung.
Zwar ist es in der eigenen Praxis forensischer Begutachtung mit der Angewandten Kriminologie schon lange aufgefallen, dass es nicht nur Fälle mit bis weit ins 4. Lebensjahrzehnt anhaltender „Persönlichkeitsreifung“ gibt, sondern auch Fälle später Lebenskrisen nach längst abgeschlossener Persönlichkeitsreifung und gelungener sozialer Integration, die in ihrer Phänomenologie genau die Kombination aus unauffälligen Grundintentionen und vorübergehender sozialer Auffälligkeit boten, aber es fehlt bisher auch für die Angewandte Kriminologie an einer hinreichenden empirischen Absicherung für die altersmäßige Entgrenzung dieser Verlaufsform.
kunftsaufgabe gestellt worden, „feinere Differenzierungen zu entwickeln … insbesondere auch im Hinblick auf die Relevanzbezüge und die Wertorientierung“ (dort S. 135). Diesen und viele andere Hinweise verdanke ich Werner Maschke, der an der Entwicklung der Angewandten Kriminologie maßgeblich beteiligt war und über große Erfahrung als kriminologischer Sachverständiger verfügt.
72
Michael Bock
Tabelle 2: Forschungsdesiderat: Kriminalität in Krisen in höheren Lebensaltern Kontinuität
Adoleszenz
40+ In/aus Krisen
Gottfredson und Hirschi Entwicklungskriminologie
low self control
Hellfeld
Dunkelfeld
abgelehnt
strain high bonds weak
Moffitt
persister
desister
MIVEA Idealtypische Verlaufsformen
KH
KiP
negative turningpoints nicht im Fokus
?
40+ white collar snakes in suits13 nicht im Fokus nicht im Fokus
KsU
Quelle: eigene Darstellung.
3
Postmoderne/Zweite Moderne
Dieses Desiderat wird noch deutlicher, wenn man die aktuellen zeitdiagnostischen Befunde der Soziologie in den Blick nimmt.14 Denn die Kontinuität biographischer Verläufe ist durch die gesellschaftlichen Veränderungen, die mit den Worten Postmoderne oder Zweite Moderne bezeichnet werden, für breite Bevölkerungsschichten weiter herabgesetzt worden.15
13
So der plakative Titel eines Buches über Wirtschaftsstraftäter mit psychopathischer (im Sinne von Hare) Persönlichkeit (Babiak/Hare, Snakes in suits. When psychopaths go to work, 2006). Vgl. zu diesem Problemkreis insbesondere die Arbeiten von Hendrik Schneider (Der Wirtschaftsstraftäter in seinen sozialen Bezügen. Aktuelle Forschungsergebnisse und Konsequenzen für die Unternehmenspraxis; in: Universität Leipzig/RoelfsPartner WP AG (Hrsg.) Düsseldorf 2009, S. 4-19; ders.: Person und Situation. Über die Bedeutung personaler und situativer Risikofaktoren bei wirtschaftskriminellem Handeln; in: Burkatzki (Hrsg.): Wirtschaftskriminalität, DNWE Schriftenreihe Folge 16, München und Mehring 2008, S. 135-153; ders.: Das Leipziger Verlaufsmodell wirtschaftskriminellen Handelns. Ein integrativer Ansatz zur Erklärung von Kriminalität bei sonstiger sozialer Unauffälligkeit; in: NStZ 2007, S. 555-562. 14 Vgl. etwa die Übersicht bei Prisching, Modelle der Gegenwartsgesellschaft, 2003 15 Klassich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, 12. Aufl. 2003
Kriminalität in Krisen
73
Tabelle 3: Kriminologisch relevante Effekte der Zweiten Moderne Kindheit und Erziehung Aufenthalt Leistung Freizeit Kontakte Werte
mehr Scheidungen und mehr Alleinerziehende stärkere örtliche Mobilität diskontinuierliche Erwerbsbiographien strukturelle Arbeitslosigkeit größeres Budget erweiterte Freizeitmöglichkeiten Erweiterung anonymer Kontaktmöglichkeiten Leben in patchwork-Familien Extremer Pluralismus Zunahme von „hedomat“
Quelle: eigene Darstellung.
Normalbiographien wie die, mit der auch noch die Entwicklungskriminologie rechnet, sind nicht mehr ohne Weiteres erwartbar. Trennung und Scheidung, Leben in patchwork-Familien, diskontinuierliche Erwerbsbiographien, örtliche Mobilität, Pluralisierung und Anonymisierung von Freizeitangeboten und Kontaktmöglichkeiten – all dies sind Erscheinungen der Gegenwartsgesellschaft, die – ganz ähnlich wie die Adoleszenzkrise – anomischen Druck erzeugen können bzw. soziales Kapital vernichten. Wenn – anomietheoretisch gesprochen – die bisherigen materiellen Lebensziele wegen Trennung, Scheidung oder Arbeitslosigkeit nicht mehr mit legalen Mitteln erreicht werden können, wächst der Druck zu illegalen Verhaltensalternativen. Und wenn – bindungstheoretisch gesprochen – die Kontrolle wegfällt, die durch das Bewusstsein davon entsteht, dass man einen geliebten Menschen oder eine berufliche Karriere auch verlieren kann und man sich deshalb an die Regeln hält, so sind das strukturell ganz ähnliche Konstellationen, die Hemmungen herabsetzen und kriminalitätsbegünstigend wirken. Es ist im übrigen auch erwartbar, dass ein unstrukturierteres und ausschweifenderes Freizeit- und Kontaktverhalten einerseits eskalierend wirkt, andererseits die materiellen Ressourcen weiter dezimiert und Reste sozialen Kapitals vernichtet, von den gesundheitlichen Folgen, die eine solche Lebensweise unvermeidlich mit sich bringt, einmal abgesehen, woran sich weitere Abwärtsschleifen anschließen können. Ein extremer weltanschaulicher Pluralismus, in dem eine Vielzahl von Moden und Lebensstilen medial vermittelt wird, ergänzt das biographische Krisenszenario mit prominenten Beispielen, beliebigen ideologischen oder subkulturellen Rechtfertigungsstrategien und angeblich normalen Ansprüchen, wobei die auf Hedonismus und materielle Bedürfnisbefriedigung
74
Michael Bock
angelegten Wertorientierungen im Vordringen sind.16 Die Zweite Moderne hat uns also einen Zuwachs biographischer Risiken beschert, die im Kontext von Kriminalitätstheorien voll anschlagen. Alle diese Effekte betreffen zwar auch die Adoleszenz – sie erschweren (und verlängern) nämlich die Meisterung der Adoleszenzkrise, wie sie entwicklungskriminologisch beschrieben wird – sie betreffen aber nicht nur die Adoleszenz, sondern auch und gerade Menschen in höheren Lebensaltern, weshalb eine zunehmende Kriminalität in Krisen bei erwachsenen und älteren Menschen nach beiden Theoriegruppen theoretisch erwartbar ist: Sowohl nach einer zu Ende gedachten Entwicklungskriminologie als auch nach den Theorien der Postmoderne oder Zweiten Moderne.
4
Empirische Befunde
Die Forschungslage ist schwierig. Bei der Betrachtung kriminalstatistischer Daten, die stets auch nach Altersgruppen ausgewiesen werden, finden wir zwar einen moderaten Anstieg der Kriminalität der über 40-Jährigen,17 für die anstehende Problematik ist dieser Befund jedoch zu unspezifisch, und zwar aus 3 Gründen. 1.
2.
3.
16
interferiert die demographische Entwicklung – die über 40-Jährigen werden überhaupt immer zahlreicher und so relativiert sich der Anstieg in der registrierten Kriminalität, den Verurteilungen und den Inhaftierungen. sind die über 40-jährigen Straftäter eine in sich völlig heterogene Gruppe. Grob gesprochen finden wir hier sowohl diejenigen, deren Kriminalität noch nicht ab- oder ausgeklungen ist, also die vorhin erwähnten persisters, als auch die hier besonders interessierenden erstmalig Straffälligen, bei denen also nach einer gelungenen gesellschaftlichen Integration und Legalbewährung (im Hellfeld) gleichwohl im mittleren Lebensalter oder noch später Kriminalität auftritt. Schließlich finden sich unter denen, die erst im höheren Lebensalter straffällig werden, auch die Straftäter, bei denen nicht krisenhafte Entwicklungen auftreten, sondern bei denen relativ stabile Grundintentionen, also Relevanzbezüge und Wertorientierung, einseitig übersteigert sind im Sinne von rücksichtslosem Macht-
Herrmann, Dieter, Werte und Kriminalität: Konzeption einer allgemeinen Kriminalitätstheorie, 2003; Inglehart, Modernization and Postmodernization. Cultural, Economic and Political Change in 43 Societies, 1997 17 Aufbereitet bei Göppinger-Maschke, Kriminologie, 6. Aufl. 2008, § 24, S. 389ff.
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und Gewinnstreben und bei denen die äußerlich intakte soziale Integration geradezu die operative Voraussetzung für die Deliktsbegehung ist. Es sollen daher nur einige aktuelle Befunde aus einer Untersuchung von 2009 vorgestellt werden, die mit Gefangenen der JVA Bremen durchgeführt worden ist. Dort wird seit dem Jahr 2003 eine relativ ausführliche Zugangsdiagnostik durchgeführt und wissenschaftlich ausgewertet – inzwischen existiert ein pool von 750 Fällen. Im Rahmen einer kriminologischen Masterarbeit hat Alexandra Eger-Römhild eine spezielle Auswertung zu der hier vorliegenden Thematik durchgeführt.18 Soweit dies aus den Strafregisterauszügen erkennbar wurde, waren 43 Gefangene aus diesem Fallmaterial 1. 2. 3.
über 40 zum ersten Mal inhaftiert und hatten keine strafrechtliche Vorbelastung.
In einem komplizierten statistischen Verfahren der Ziehung von Zufallsstichproben hat Eger-Römhild für diese Gruppe von 43 Gefangenen aus dem Gesamtpool von 750 eine Vergleichsgruppe – mindestens 40 Jahre, aber ohne das Merkmal des späten Einstiegs – gezogen (S. 39) um auf diese Weise biographische Besonderheiten des späten Einstiegs zu ermitteln. Aufschlussreich waren hierbei vor allem die Befunde zu den Bereichen Krisen und Sucht.19 Die Zahlen in Tabelle 1 sprechen für sich. Keineswegs haben die beiden Gruppen insgesamt in unterschiedlichem Maß mit Krisen zu kämpfen, aber das zeitliche Auftreten ist verschieden. Akute Krisen und kurz zurück liegende Krisen gibt es in 14 Fällen der Gruppe mit dem späten Einstieg, bei der Vergleichsgruppe in keinem einzigen Fall. Sehr unterschiedlich sind die Verhältnisse auch, wenn man die Art der Krisen in Tabelle 2 näher in den Blick nimmt. Partnerprobleme, Scheidung und beruflicher Stress sind in der Gruppe mit spätem Einstieg ganz eindeutig, nämlich in rund 2/3 der Fälle dominierend,20 18
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Eger-Römhild, „Kriminelle Karrieren“. Gibt es spezifische Auslöser für den späten Einstieg in Kriminalität? Eine empirische Untersuchung in der JVA Bremen, unveröffentlichte Masterthesis, Hamburg 2009 Wichtig, aber nicht einfach zu interpretieren sind auch die Befunde zu den sexuellen Kontakten, vor allem vor dem Hintergrund des Umstandes, dass das zur Inhaftierung führende Delikt weit überproportional der sexuelle Missbrauch ist. Diese Thematik wird hier nicht weiter verfolgt. Die gründliche Arbeit von Fischer-Jehle (Frauen im Strafvollzug. Eine empirische Untersuchung über Lebensentwicklung und Delinquenz strafgefangener Frauen, Köln 1991) ist zwar etwas älter, bestätigt aber auch für Frauen den Zusammenhang zwischen spätem Einstieg und krisenhaften Lebensereignissen. Auch sie operiert mit einer Gegenüberstellung von Früh- und Späteinsteigerin-
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Michael Bock
während die Krisen in der Vergleichsgruppe eher verteilt sind, aber doch mit einem klaren Übergewicht von biographisch frühen oder anhaltenden Krisen. Mit Partnerschaft und Beruf sind wir denn auch in dem Bereich, der nach allem theoretisch Vorgetragenen zu erwarten war, denn sowohl die klassischen Anomie- und Bindungstheorien als auch ihre entwicklungskriminologischen Nachfolger sehen gerade in diesen Feldern des Sozialverhaltens den Schlüssel für den Ausstieg aus der adoleszenzbedingten Kriminalität – und entsprechend finden sich hier bei Sampson und Laub die negativen turning points.21 Schulden oder Überschuldung sind im Übrigen bei den späten Einstiegen häufig die Folgen der Krisen und ebenso häufig sind (auch) Vermögensstraftaten die Delikte. Tabelle 4: Krisen und kritische Lebensereignisse Gruppe mit spätem Einstieg akute Krisen Krise bis 5 Jahre vor der Tat chronische oder regelmäßige Krisen kritische Lebensumstände
4 10 16 3
Vergleichsgruppe 0 0 23 9
Gruppe mit spätem Einstieg 1 2 3
Vergleichsgruppe 7 3 9
0
4
5 13 10 0
2 4 1 2
Quelle: Eger-Römhild S. 78.
Tabelle 5: Hintergründe für Krisen
Lebensumstände Kindheit Lebensumstände Erwachsen Tod/Krankheit/Unfall von Angehörigen Tod/Krankheit/Unfall bei selbstgewählten Kontakten Krankheit/Unfall selbst Partnerprobleme/Scheidung Beruflicher Stress Kindheitstraumata Quelle: Eger-Römhild S. 79.
nen, wobei die Späteinsteigerinnen durchweg in ihrer bisherigen Biographie weniger Belastungen und Auffälligkeiten zu verzeichnen hatten, insbesondere kaum Drogenabhängigkeit, während es später nicht selten zur Delinquenz kam, weil gewachsene Ansprüche infolge beruflicher- oder Partnerprobleme nicht mehr befriedigt werden konnten (Zusammenstellung der wichtigsten Befunde S. 242ff., Fallbeispiele 268ff.). 21 Vgl. oben Fn 11.
Kriminalität in Krisen
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Ergänzt werden diese Befunde noch durch einige Aspekte des Suchtverhaltens, wobei zwischen legalen und illegalen sowie zwischen stoffgebundenen und nicht stoffgebundenen Süchten unterschieden wurde. Tabelle 6: Suchtproblematiken Gruppe mit spätem Einstieg Schädlicher/süchtiger Gebrauch illegaler stofflicher Mittel Schädlicher/süchtiger Gebrauch legaler stofflicher Mittel Workaholic Strukturen Spielsucht Kick bei Straftat Extreme sportliche Aktivität
Vergleichsgruppe
5
21
9
9
7 2 1 0
0 1 0 1
Quelle: Eger-Römhild S. 80
Erwartbar war der Unterschied bei den stoffgebundenen Süchten. Die illegalen Varianten dominieren bei der Vergleichsgruppe das gesamte Bild und sind bekanntlich bei längeren und intermittierenden kriminellen Karrieren regelmäßig formend und verstärkend beteiligt. Ein in dieser Deutlichkeit nicht erwartbarer, aber durchaus plausibler Befund ist hingegen das Ergebnis zu den WorkaholicStrukturen. Immerhin 7 Probanden aus der Gruppe mit spätem Einstieg waren im Lebenslängsschnitt mit einem übersteigerten beruflichen Leistungsverhalten aufgefallen, das suchtartige Züge angenommen hatte22 und wegen der vor der Straffälligkeit eingetretenen Arbeitslosigkeit nicht mehr „befriedigt“ werden konnte. Leider sind diese Fälle bisher nicht wirklich in ihrer vollen biographischen Breite aufgearbeitet worden, aber dass hier plötzlich ein Übermaß an Freizeit vorlag, ohne dass irgendwelche konstruktiven Aktivitäten vorbereitet waren, liegt auf der Hand, so dass – vermutlich – das aus der Adoleszenzkrise zur Genüge bekannte wenig strukturierte Freizeitverhalten das Leben zu dominieren begann. Man verliert sich dabei in den Spielen, Filmen, chat-Räumen und blogs 22
In der MIVEA ist die Einschränkung der Freizeit durch verpflichtende/leistungsorientierte Tätigkeiten, zu denen auch Überstunden o. ä. zählen, eine D-idealtypische (von Kriminalität abhaltende) Verhaltenstendenz. Es fehlt aber nicht an dem Hinweis, dass bei Übersteigerung dieses Verhaltensmusters andere Bereiche und hier insbesondere der Kontaktbereich (Partnerschaft/Familie) in Mitleidenschaft gezogen werden können (Bock, Kriminologie, 3. Aufl. 2007, S. 171). Wenn nun durch Arbeitslosigkeit eine Lücke in der ganzen Lebensgestaltung entsteht, kann sie natürlich umso weniger durch andere Tätigkeitsfelder geschlossen werden, je mehr der – suchtartig ausgeweitete – Leistungsbereich vorher die anderen Bezüge eines Menschen aufgesogen und vernichtet hat.
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Michael Bock
der virtuellen Welt, macht in der realen Welt Bekanntschaften, die man sonst nicht gemacht hätte, bleibt länger und konsumiert mehr (ggf. auch anderes) an Orten, die man früher eher nicht aufgesucht hätte. Und abgesehen davon, dass sich aus diesem Verhalten eine Vielzahl von Delikten ergeben kann, sind die Folgen dieses aus den Fugen geratenen Freizeitverhaltens für die ggf. noch intakten Kontakte, Gesundheit und materielle Ressourcen verheerend.
5
Konsequenzen
Die 43 Gefangenen aus der Untersuchung von Eger-Römhild sind nicht weiter danach ausgelesen worden, ob es sich – gemessen an den idealtypischen Verlaufsformen der MIVEA – um einen kriminellen Übersprung handelt, also ein einmaliges Delikt, das gewissermaßen aus heiterem Himmel kommt, um eine Kriminalität bei sozialer Unauffälligkeit, bei der die relativ stabilen Grundintentionen eine Affinität zur Kriminalität aufweisen, oder ob es sich um die hier besonders interessierenden Formen einer Kriminalität in Krisen handelte, bei der temporale und sektorale soziale Auffälligkeiten zu verzeichnen sind, wobei zu beachten bleibt, dass es bezüglich dieser spät beginnenden Verläufe ohnehin regelmäßig auch Übergangsphänomene gibt. Insofern enthalten die Befunde eine gewisse Unschärfe, sowieso haben sie wegen der Größe der Stichprobe und der Auswahl in der JVA Bremen eine eingeschränkte Aussagekraft, was die Autorin auch sieht. Further research needed, heißt es einmal mehr. Aber research einer bestimmten Art. Es gibt inzwischen genügend Beispiele dafür, dass die Methodik der Angewandten Kriminologie nicht nur in der Einzelfallanalyse, also in forensischen Gutachten und Stellungnahmen eingesetzt werden kann, sondern mit Erfolg in der kriminologischen Forschung.23 Man müsste eine Stichprobe von Fällen mit spätem Einstieg untersuchen, aber in der vollen biographischen Breite der bisherigen Lebensentwicklung und der weiteren Delinquenz. Wichtig wäre natürlich eine Vergleichsstichprobe aus der Durchschnittspopulation. Wenn späte Einstiege in Kriminalität mit biographischen Krisen einhergehen, heißt das ja noch lange nicht, dass solche Krisen regelmäßig zu Kriminalität führen. Möglich ist ja auch, dass in der Durchschnittspopulation ähnliche Krisen auftreten, die aber anders bewältigt werden, so dass nicht die Krisen, sondern die fehlenden Resilienz- und coping-Potentiale letztlich entscheidend sind. Dies ist sogar wahrscheinlich, denn generell ist das D-idealtypische Verhalten, also das kriminoresistente Verhalten gemäß den analytischen Kriterien der MIVEA, kei23
Vgl. die Angaben in Fn 10
Kriminalität in Krisen
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neswegs durch die Abwesenheit von Problemen, Schwierigkeiten und Krisen gekennzeichnet, sondern durch eben diese Potentiale zu ihrer Bewältigung.24 Die Größe der Stichproben ist nach oben offen, die Finanzierung einer entsprechenden Untersuchung wäre natürlich davon abhängig, und ein für die Praxis der Bewährungshilfe oder andere Stellen von Hilfe und Beratung wertvolles Wissen würde generiert. Man müsste es nur wollen. Tabelle 7: Zielvorstellung: Idealtypen der Stellung der Tat im Lebenslängsschnitt
Sozialverhalten
Grundintentionen auffällig unauffällig auffällig kontinuierliche Kriminalität in Krisen Hinentwicklung zur (KiK) Kriminalität (KH) (Adoleszenz und spätere) unauffällig Kriminalität bei krimineller Übersprung sonstiger (KÜ) sozialer Unauffälligkeit (KsU)
Quelle: eigene Darstellung.
24
Bock, Kriminologie, 3. Aufl. 2007, S. 145ff. und S. 162ff.
Krisen und Schulden: Sozialpädagogische Perspektiven Désirée Bender/Tina Hollstein/Lena Huber/Cornelia Schweppe
1
Krise als Begriff der Sozialen Arbeit
Nicht nur im Alltag und in öffentlichen Diskursen gehört die Verwendung des Krisenbegriffs mittlerweile zur Normalität (vgl. Wengeler 2010). Auch in der Wissenschaft wird der Begriff gegenwärtig in vielen Disziplinen verwandt. Dabei gibt es „weder die Krise, auf die sich Krisenkonzepte beziehen, noch eine allgemeingültige Krisentheorie“ (Mennemann 2000, S. 210). Während die Krisenrhetorik jedoch in wissenschaftlichen Disziplinen wie z.B. der Soziologie und Psychologie1 zur Entwicklung verschiedener Krisenbegriffe führte, musste hingegen auf einen sozialpädagogischen Krisenbegriff bisher verzichtet werden (vgl. Honig 2005, S. 556). Stattdessen kann in Bezug auf die Soziale Arbeit festgestellt werden, dass die Entwicklung eines sozialpädagogischen Krisenbegriffs durch eine professionsbezogene Krisensemantik ersetzt wurde. D.h. Krisen fungieren als Ressource, um Bedeutung und Anspruch der Sozialen Arbeit zu legitimieren, indem Krisen nach Intervention verlangen und ggf. durch eine Krisenintervention der Sozialen Arbeit erfolgreich bewältigt werden können (vgl. Honig 2005, S. 557).2 Dementsprechend fehlen eine fachliche Auseinandersetzung mit dem Krisenbegriff aus sozialpädagogischer Perspektive und dessen systematische Ausformulierung in Bezug auf (sozial-)pädagogische Fragestellungen und Erläuterungen auch heute noch weitgehend, obgleich die Bedeutung des Begriffs der 1
2
So schreibt z.B. der Psychologe Gerald Caplan: „Eine Krise ist eine relativ kurze Periode psychischen Ungleichgewichts in einer Person, die sich bedrohlichen Umständen gegenübersieht, welche für sie ein bedeutsames Problem bilden, dem sie zum gegebenen Zeitpunkt weder entfliehen noch mit ihren üblichen Problemlösungsmöglichkeiten begegnen kann“ (Caplan 1964, zit. nach Ulich 1987, S. 37). Bereits der Vergleich der ersten beiden Auflagen des Handbuches „Grundriss Soziale Arbeit“ (Otto/Thiersch 1984, 2001) macht diese Erbschaft der Krisenrhetorik offenkundig: So wird hier der Übergang von der Sozialen Arbeit als kritischer Theorie des Sozialen zur Sozialen Arbeit als Profession dokumentiert. Eine Sozialpädagogik jedoch, die sich als Handlungswissenschaft versteht, interessiert sich nicht für die Entwicklung eines sozialwissenschaftlichen Krisenbegriffs. Mit der Folge, dass an die Stelle eines Krisenbegriffs die Krisenintervention tritt (vgl. Honig 2005, S. 557).
C. W. Hergenröder (Hrsg.), Krisen und Schulden, DOI 10.1007/978-3-531-93085-5_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Désirée Bender et al.
„Krise“ für die Disziplin der Sozialen Arbeit bereits in den 1960er Jahren von Mollenhauer betont wurde und auch anschließend einzelne Versuche zu verzeichnen sind, diesen Begriff für die sozialpädagogische Theoriebildung fruchtbar zu machen (Mennemann 2000, S. 208)3. Einen Beitrag zur sozialpädagogischen Krisenbegriffsbildung versucht der Erziehungswissenschaftler Hugo Mennemann zu leisten, der die Bedeutsamkeit des Krisenbegriffs für die (Sozial-)Pädagogik aufzeigt und postuliert, dass Krise „ein Zentralbegriff der Pädagogik, insbesondere auch einer handlungsfeldunabhängigen ‚allgemeinen Sozialpädagogik‘ sein“ könne (Mennemann 2000, S. 224). Da die Sozialpädagogik aus seiner Sicht sowohl professionspolitisch als auch aus wissenschaftstheoretischer Perspektive ihre Möglichkeiten verpasse, wenn nicht an der systematischen Ausformulierung von Konzepten mit Hilfe des Krisenbegriffs gearbeitet würde (vgl. Mennemann 2000, S. 224), entwickelt er eine Klassifizierung des Krisenbegriffs aus sozialpädagogischer Perspektive. Nach Aufarbeitung des Krisenbegriffs in soziologischen und psychologischen Theorien sowie in pädagogischen Ansätzen kommt er mit Blick auf die Entwicklung des sozialpädagogischen Fachbegriffs der „Krise“ zu dem Schluss: „Krise stellt in ihrem Problemgehalt eine die vorhandenen Bewältigungsmöglichkeiten übersteigende Belastungssituation dar, die als temporäre Erfahrung, raumzeitlich verdichtet vom Subjekt wahrgenommen wird“ (Mennemann 2000, S. 224). Als charakteristisch für solch eine krisenauslösende Belastungssituation erachtet Mennemann die „Kulmination unterschiedlicher Belastungsmomente, die sich nur schwer oder gar nicht auf eine Ursache zurückführen lassen“ (Mennemann 2000, S. 224). Vor allem sei die Annahme einer rein individuellen Verantwortlichkeit der Krisensituation abzulehnen. Zur Erklärung von Krisen bedürfe es in einem sozialpädagogischen Verständnis stattdessen der besonderen Berücksichtigung lebensweltlicher wie auch gesellschaftlicher Strukturen. Entsprechend wird mit Bezug auf soziologische Theorien die „steigende Krisengefahr für die Individuen“ (Mennemann 2000, S. 213) angesichts gesellschaftlicher Entwicklungen aufgezeigt und Krisenerfahrungen werden als „Begleiterscheinungen des gesamten Lebens quer zu unter3
So versuchten laut Mennemann Balzer und Rolli (1981) als erste und bisher einzige, in Orientierung an psychologischen Modellen den Krisenbegriff für die Sozialpädagogik nutzbringend einzuführen (vgl. Mennemann 2000, S. 208). Andere Autoren gehen auf den Krisenbegriff ein, ohne dabei jedoch an bestehende Konzepte aus Psychologie und Soziologie anzuknüpfen. So z.B. Winkler (1988), der konstatiert, dass „Sozialpädagogik es zu tun habe mit Menschen, die sich in einem >>Modus der Differenz<< bzw. in einer Krisensituation befinden, sich in seinen Überlegungen jedoch nicht auf bestehende Krisenkonzepte bezieht. Die Relevanz des Krisenbegriffs für die Sozialpädagogik stellt auf besondere Weise Burgheim (1994) heraus, wenn er postuliert, dass Sozialpädagogik von Anfang an eine Krisenpädagogik sei. Über diesen engen Zusammenhang zwischen Krisenpädagogik und Sozialpädagogik scheint mittlerweile weitgehend Konsens zu bestehen (vgl. Mennemann 2000, S. 221).
Krisen und Schulden
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schiedlichen sozialen Gruppen“ (Mennemann 2000, S. 213) verstanden. Statt einer monokausalen, individuumzentrierten Krisenbeschreibung verlangt somit ein der Komplexität von Krisen gerecht werdender sozialpädagogischer Krisenbegriff den Einbezug objektiver, struktureller Faktoren, d.h. einen erweiterten „Blick auf soziale, institutionelle und gesellschaftliche Bedingungsfaktoren von Krisen“ (Mennemann 2000, S. 219). Auf subjektiver Ebene wird eine Krisenerfahrung laut Mennemann „als eine die ganze Person in Frage stellende starke Bedrohungssituation erlebt“ (Mennemann 2000, S. 224). Gefühle von Überforderung, Verzweiflung und Angst können das subjektive Erleben prägen und Ausdruck des „Nicht-mehrweiter-Wissens“ in einer Krise sein. Da die weitere Entwicklung nicht absehbar ist, erscheint der Ausgang einer Krise somit als – bedrohlich – offen. Diese Offenheit, als zentraler Aspekt von Krisen, birgt jedoch zugleich die Möglichkeit einer positiven Wendung. D.h. Krisen sind als polar bzw. bivalent zu begreifen. Dieses Charakteristikum wird im Chinesischen explizit, wo der Begriff aus zwei Schriftzeichen bestehend, sowohl für „Gefahr“ (wei) als auch für „Gelegenheit bzw. Chance“ (ji) steht (vgl. Mennemann 2000, S. 207). Obgleich nicht negiert werden kann, dass Krisen auch „dysfunktional oder funktionslos sein können“ (Mennemann 2000, S. 220), bietet eine Krisenbewältigung die Chance eines positiven Wendepunktes, einer Erweiterung von Handlungsoptionen sowie Entwicklungsmöglichkeiten. Dieser Zusammenhang zwischen Krisenerfahrungen und möglichen Entwicklungsprozessen bildet den Ansatzpunkt sozialpädagogischen Handelns.
2
Schulden aus sozialpädagogischer Sicht
Der Schuldenbegriff taucht im Fachdiskurs der Sozialen Arbeit ebenso wie der Krisenbegriff meist im Hinblick auf Institutionen zu deren Bewältigung auf, sprich im Kontext von Schuldner- und Insolvenzberatung. In den Handbüchern zu Sozialpädagogik und Sozialarbeit findet man entsprechend auch keine theoretische Annäherung an den Schuldenbegriff selbst (mehr). Vielmehr wird implizit ein Verständnis für dessen Bedeutung in den Beschreibungen von Schuldnerund Insolvenzberatung offenkundig, das von Multikausalität und Komplexität ausgeht. So heißt es: „Schuldnerberatung (SB) ist ein sozialpädagogisch orientiertes, ganzheitliches Beratungsangebot für ver- und überschuldete Einzelpersonen oder Familien, mit dem Ziel, die verschiedenartigen, mit Ver- und Überschuldung verbundenen Probleme und Konflikte zu klären, zu beseitigen oder zu mindern“ (Proksch 2005, S. 704, Hervorhebung d. Verf.). Die Verbindung von Schulden und Krisen(intervention) zeigt folgende Definition von Schuldnerbera-
84
Désirée Bender et al.
tung auf: „Schuldnerberatung ist sozialpädagogische Hilfe zur Selbsthilfe und originäre Aufgabe der sozialen Arbeit. Sie wird erbracht als Krisenintervention (z.B. Sicherung der Wohnung, Sicherung der zum Lebensunterhalt unabdingbaren Finanzmittel), als aktuelle, lebenspraktische Unterstützungsleistung, als präventive Beratung oder als nachgehende Betreuungsarbeit“ (Proksch 2001, S. 1527, Hervorhebung d. Verf.). In Bezug auf die Adressaten von Schuldnerberatung lässt sich ein Wandel der Zielgruppe feststellen. Während bis Ende der 1970er Jahre fast ausschließlich Personen mit besonderen sozialen Schwierigkeiten, also z.B. Strafentlassene, Obdachlose, Nichtsesshafte oder Suchtabhängige Betroffene waren, wird sie mittlerweile aufgrund zunehmender Überschuldung der Privathaushalte, steigender Arbeitslosigkeit und steigender Scheidungszahlen sowie Verteuerung der Lebenshaltung (Mieten/Wohnen) immer mehr auch von Personen aus „Durchschnitts-Haushalten“ nachgefragt (vgl. Proksch 2001, S. 1528). Wie in Bezug auf Krisen festgestellt, liegt auch die Betroffenheit von Schulden inzwischen „quer zu unterschiedlichen sozialen Gruppen“ (Mennemann 2000, S. 213).
3
Krisen und Schulden – (k)ein monokausaler Zusammenhang?
Die Tatsache, dass der Schuldenbegriff – als zweiter zentraler Begriff des Aufsatzthemas – dem Krisenbegriff nachfolgend angeführt wird, kann Assoziationen nahe legen, die hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen beiden, Schulden als aus Krisen hervorgehend verstehen. Im Hinblick auf die oftmals individualisierte Krisensemantik könnten somit Schulden letztlich mit dem „Unvermögen“ eines Menschen, mit Krisen umzugehen, in einen direkten Zusammenhang gestellt werden und damit individuelle Verantwortlichkeitszuschreibungen nahe gelegt werden. In Auseinandersetzung mit dem Schuldenbegriff fällt auf, dass im alltäglichen Sprachgebrauch gleichermaßen eine enge Verbindung von Selbst und Schuld(en) eingegangen wird. So ist z.B. „Du hast selbst Schuld“ ein im Alltag geläufiger Ausspruch und der Wortstamm Schuld wird mit den Begriffreihen: 1. Haftung, Verantwortung, 2. Fehler, Unrecht, Verfehlung, Verschulden, Verstoß, Fehltritt erklärt (vgl. DUDEN. Das Synonymwörterbuch 2004). Entsprechend weisen auch die folgenden Synonyme für Schulden: „Lasten, Rückstände, Verpflichtungen, (Kaufmannsspr.) Passiva, Verbindlichkeiten“ (DUDEN. Das Synonymwörterbuch 2004) diese Assoziation von individueller Verantwortlichkeit und Schulden auf. Ebenso wenig wie jedoch Schulden zwangsläufig aus einem individuellen „Verfehlen“ im Umgang mit Geld wie auch aus einem spezifischen Umgang mit Lebenskrisen entstehen müssen, ist das Verhältnis von Krisen und Schulden
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derart zu bestimmen, als gehe mit der Aufnahme von Schulden zwangsläufig das Erleben einer Krise einher. Zum einen wird hierbei der Krisenbegriff auf eine rein ökonomische Perspektive reduziert, die der oben dargestellten Komplexität keinesfalls Rechnung trägt. Zum anderen ist feststellbar: „Die Aufnahme von Krediten und damit das vorübergehende Eingehen von Schulden gehört in einer Marktwirtschaft zum normalen wirtschaftlichen Verhalten privater Haushalte“ (BMAS 2008, S. 49). Eine Verschuldung kann jedoch, etwa durch das Hinzukommen unerwarteter finanzieller Entwicklungen wie z.B. Einkommensverluste aufgrund von Arbeitslosigkeit oder finanzieller Mehrbelastungen und damit verbundenen psychosozialen Problemen, mit vielfältigen Problemen und Belastungen einhergehen und letztlich einen krisenhaften Verlauf nehmen.
4
Krisen und Schulden aus sozialpädagogischer Sicht – eine Fallstudie
Im Folgenden soll anhand einer Fallstudie die Komplexität der Phänomene „Schulden“ und „Krisen“ sowie ihr möglicher Zusammenhang aus einer sozialpädagogischen Perspektive herausgearbeitet werden.
Fallportrait „Arturo Bertani“ Arturo Bertani ist Student und zum Zeitpunkt des Interviews 26 Jahre alt. Zusätzlich zu seinem Studium übt er zwei Nebenjobs aus, wozu auch die Arbeit in Nachtschichten gehört. Er lebt in einer eigenen Wohnung, die sich in der Nähe seines Elternhauses befindet. Seine Eltern sind in den 1970er-Jahren nach Deutschland migriert. Aktuell ist der Vater Rentner und die Mutter arbeitet im Pflegebereich. Arturo Bertani hat zurzeit ca. 6.000 Euro Schulden, die sich aus verschiedenen Quellen zusammensetzen.
Der Verschuldungsprozess im Kontext der prekären familiären finanziellen Situation Die Entwicklung seiner derzeitigen kritischen finanziellen Lage beschreibt Arturo Bertani zu Beginn seiner Erzählung folgendermaßen:
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Désirée Bender et al. „also ich hab momentan schon ein Haufen Schulden also der ist schon da der hat sich angeläppert über die Jahre hinweg also das fing nach der Schule an (..) gut das ist jetzt ein bisschen unstrukturiert also ich hab schon seit der Schule eigentlich schon vor dem Abi en Job und arbeite eigentlich seitdem schon die ganze Zeit das (.) hat sich dann irgendwann gelegt dann hat man sich noch paar Sachen dann gekauft weil man halt von zu Hause auch nicht unterstützt werden kann ich spiel ja in ner Band auch noch das kostet ja alles Geld man muss Instrumente kaufen man muss sich in die Sachen einleben und so sind dann auch die Schulden entstanden (lacht)“.
Der Fokus wird hier zuerst auf die prozessuale Entwicklung der eigenen Verschuldung gelegt: Die Schulden haben sich „angeläppert über die Jahre hinweg“. Mit diesem Verweis auf den langen, mehrjährigen Prozess der Schuldenentwicklung wird deutlich gemacht, dass er sich nicht abrupt und etwa wegen eines einzigen Grundes in dieser Höhe verschuldet hat. In Bezug auf die anfängliche Summe der Verschuldung hält der Befragte fest: „dann macht man das dann doch leichtsinniger als man denkt besonders wenn man grad en sehr guten festen Job hat wie das damals der Fall war und so hat sich das heute alles entwickelt“. Trotzdem er „schon seit der Schule“ arbeitete, um sich die Erfüllung eigener Bedürfnisse leisten zu können und auch nach der ersten Kreditaufnahme aktiv versuchte, die Schulden wieder abzubauen, haben sich diese inzwischen zu einem „Haufen“ entwickelt: „zusammengezählt (..) sind es jetzt doch (.) also es verteilt sich halt auf verschiedene Quellen (…) es sind schon um die 6000 Euro Schulden die jetzt da sind es waren mal mehr (lacht) aber es waren auch mal erheblich weniger“. Zum Ausdruck kommt eine Art Pendeln zwischen Schuldenabbau und weiterer Schuldenaufnahme. Finanzielle Mehrbelastungen wie z.B. durch den Auszug aus der elterlichen Wohnung oder die anstehende Rückzahlung eines Studienkredits tragen dazu bei, dass wieder Schulden aufgebaut werden müssen. Arturo Bertani erzählt: Als die Schuldenhöhe „sich dann irgendwann gelegt [hat] dann hat man sich noch paar Sachen dann gekauft weil man halt von zu Hause auch nicht unterstützt werden kann“. Auch wenn die Formulierung „von zu Hause nicht unterstützt werden zu können“ erkennbar macht, dass er seinen Eltern keine Schuld dafür zuweist, werden die fehlenden Unterstützungsmöglichkeiten im Elternhaus explizit mit als ein Verschuldungsgrund benannt. Die familiär schwierige finanzielle Situation könnte somit als eine Bedingung für die Schuldenentwicklung des Sohnes angesehen werden. Arturo Bertani erfährt schon seit vielen Jahren während des Aufwachsens in seiner Kernfamilie, wie belastend eine prekäre finanzielle Situation für seine Eltern (und damit auch für ihn) ist. Dies stellt unter anderem einen Grund dafür da, dass er bereits während seiner Schulzeit zu arbeiten beginnt. Es zeigt sich hier demzufolge, dass er gerade durch die Situation seiner Eltern schon als Jugendlicher einer Verschuldung
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gegenzusteuern versucht und seine eigenen Bedürfnisse selbst zu finanzieren sucht. D.h. die Erfahrungen, die er durch das Aufwachsen in einer Familie sammelt, die mit geringen finanziellen Mitteln auskommen muss, sensibilisiert ihn für die Schuldenproblematik und führt zunächst zu einer Haltung, die als aktives Gegensteuern zu Schulden durch Erwerbstätigkeit beschrieben werden kann. Da er – anders als seine Freunde – von seinen Eltern kaum finanzielle Unterstützung erwarten kann, kommt er schon in jungen Jahren für seine eigene Bedürfnisbefriedigung auf, die wiederum im Kontext des Aufwachsens in einem wirtschaftlich reichen Land wie Deutschland durch allgegenwärtige Werbemaßnahmen und vergleichsweise hohe Konsumgewohnheiten in allen Altersstufen sowie durch Vergleiche mit Peers angetrieben wird (vgl. Palentien 2004, S. 211). Um sich persönliche Bedürfnisse erfüllen zu können, die seine zum damaligen Zeitpunkt verfügbaren finanziellen Mittel übersteigen, verschuldet er sich erstmals. Obwohl Arturo Bertani also die belastende Situation seiner Eltern kannte und sie durch die frühe Aufnahme einer Arbeit für sich zu vermeiden versuchte, widerfährt auch ihm eine Schuldenentwicklung. Diese wurde dadurch angestoßen, dass er keine finanzielle familiäre Unterstützung erhalten konnte und sich durch seinen „festen Job“ in der Lage sah, eine kurzfristige Schuldenaufnahme zu bewältigen: „weil in zwei Jahren hat man es ja abbezahlt“. Freilich erscheint in diesem Kontext u.a. die Mitgliedschaft in der Band als ein Katalysator der Schuldenanhäufung, da durch das Anschaffen von Instrumenten weitere Kosten entstanden. Es wird hier deutlich, dass die Annahme einer „sozialen Vererbung“ des Schuldenrisikos im Sinne fehlender Finanzkompetenz der hier vorgestellten Fallkomplexität nicht gerecht werden kann, da eine persönliche Verschuldung trotz der Erfahrung der mit der Verschuldung einhergehenden Belastung der Eltern eben nicht als durch einen Kausalzusammenhang miteinander verbunden erscheint. Hingegen wird durch diese Erfahrung ein Bewusstsein um die Risiken und möglichen Konsequenzen einer Verschuldung entwickelt und schon früh in der Biographie des Sohnes die Vermeidungs- bzw. Entlastungsstrategie des Arbeitens eingeleitet. So kann die Erwerbstätigkeit des Sohnes zunächst zur Entlastung der finanziell prekären Familiensituation und zur Vermeidung der eigenen Verschuldung beitragen. Es zeigt sich hier eine durch die Erfahrungen im Elternhaus erlernte Verantwortungsübernahme Arturo Bertanis, der die Notwendigkeit einer Arbeitsaufnahme bereits im Jugendalter sieht. Hierbei ist noch zu betonen, dass seine Eltern ihn hierzu nicht ermuntern, sondern er diese Entscheidung selbst trifft (siehe nachfolgendes Zitat).
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„Wir sind alle miteinander verwurschtelt“ Im folgenden Abschnitt wird die wechselseitige Abhängigkeit und Komplexität der Schuldenproblematiken, die in verschiedenen Teilen der Familie entstanden und sich gegenseitig verstärkten, deutlicher: „und grad wenn man jetzt wenn ich auf meine Eltern gucke die natürlich auch nicht viel Geld haben (..) die mich natürlich unterstützen die das versuchen aber soweit es geht aber ich krieg ja dann natürlich auch mit weil meine Eltern ja auch hier leben d.h. es ist nicht so dass ich jetzt (.) irgendwie mein Wohnort oder wo ich aufgewachsen bin weiter weg ist so dass ich das besser trennen könnte oder irgendwas sondern das ist schon alles miteinander verwurschtelt d.h. ich sehe ja auch dass meine Eltern selbst sehr knapp damit auskommen und mir dann immer noch was geben und dann auch noch versuchen an jeder Ecke noch was dazu zu geben das klappt natürlich nicht also das ist da will man auch gar nicht mehr unterstützt werden wenn man auch sieht dass sie einen noch unterstützen würden auch wenn sie es gar nicht mehr könnten und (..) nervt natürlich und baut en immensen Druck auf also weswegen man auch mehr machen möchte meine Eltern sind z.B. auch nicht damit zufrieden dass ich jetzt nachts arbeite oder generell die Jobs hab aber (..) ja die sind halt nix einzumischen weil sie selbst irgendwie genug Probleme haben“.
Innerhalb dieses Zitates wird die Verwobenheit zwischen Arturo Bertanis finanzieller und emotionaler Lage mit der seiner Eltern deutlich und es wird erkennbar, wodurch eine Autonomieentwicklung des Sohnes, durch die er „auf eigenen Beinen stehen könnte“, erschwert wird: Durch die räumliche Nähe bekommt sowohl der bereits aus seinem Elternhaus ausgezogene Sohn den Geldmangel seiner Eltern mit als auch diese wiederum über seine prekäre finanzielle Situation Bescheid wissen. Die Wohnortnähe beider Parteien verunmöglicht somit, dass man dem bzw. den jeweils anderen etwas „vormachen“ kann, also eine finanziell bessere Situation vortäuschen kann als dies real der Fall ist. Arturo Bertani ist hier einer mehrfachen Belastung ausgesetzt: Indem er weiß, wie es seinen Eltern geht, versucht er zu vermeiden, dass a) sie erkennen, dass es ihm finanziell auch schlecht geht und b) sie die Notwendigkeit verspüren, ihren Sohn unterstützen zu müssen. Insbesondere möchte er vermeiden, dass seine Eltern finanziell für ihn aufkommen müssen, weil er selbst sieht, dass ihnen das umso größere Probleme bereitet. Die Aufopferungsbereitschaft der Eltern für ihren Sohn wird deutlich anhand Arturo Bertanis Wortlaut: „wenn man auch sieht dass sie einen noch unterstützen würden auch wenn sie es gar nicht mehr könnten“. Er spricht den „immensen Druck“ an, der hierdurch bei ihm selbst entsteht. Sein Versuch, die eigene Situation zu verbessern, um das von den Eltern wahrgenommene Erfordernis, ihn unterstützen zu müssen, zu verringern oder zu beseitigen, besteht in der Aufnahme verschiedener Nebenjobs während seines Studiums. Seine Eltern
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wiederum sind „nicht damit zufrieden“, dass ihr Sohn mehreren Erwerbstätigkeiten nachgehen muss, um sich sein Leben und Studium finanzieren zu können. Gerne würden sie selbst ihn entlasten und ihm eine Situation ermöglichen, in der ihm genug Zeit für seine Studienarbeiten bleibt, doch ist ihnen dies finanziell nicht möglich. Auf beiden Seiten entstehen durch diese Dynamik ein „schlechtes Gewissen“ und eine emotionale Belastung, deren Ausgleichsversuche zur Formierung neuer Problematiken führen, wie im Folgenden deutlich wird: „also das ist so die finanzielle Situation meiner Eltern dass man versucht (.) also meine Eltern sehen sich irgendwie verpflichtet dazu auch irgendwie meine Schulden irgendwie abzubauen was ich gar nicht haben will (lacht) also das ist die versuchen mich zu unterstützen und wollen also meine Eltern irgendwie da also dieser Heimkehrplan zumindest von meinem Vater dass sie nach Italien gehen und da ihren Lebensabend verbringen wird halt von mir abhängig gemacht also die wollen halt mich erst im sicheren Nest sehen bevor sie sich dann nach Italien abmachen und das find ich sehr schlimm (lacht) also das kann ich natürlich nachvollziehen auf Seiten meiner Eltern aber trotzdem seh ich ja selbst dass meine Eltern grad so über die Runden kommen und dann wollen sie mich noch weiter unterstützen also sie wollen auch irgendwie das ist auch ein riesen Streitpunkt natürlich dass der natürlich auch innerhalb der Familie immer zu Problemen führt wenn man die ganze Zeit wenn´s finanzielle Engpässe die ganze Zeit gibt und immer wieder mehrere Pfennige umgedreht werden müssen und dann kriegt man wegen ziemlich kleinen Sachen sehr schnell riesengroße Streitereien also das ist sehr krass also wo man sich normalerweise vorstellt was (?) (.) man streitet doch nicht um so was jetzt um so ne Geldsache grad grad in der Familie sollte das egal sein (.) isses nicht (lacht) also da kommt mehr als man denkt auch ein sehr schlechtes Gefühl dabei im Nachhinein (.) aber (..) ja was soll man sagen (?)“.
Zum Ausdruck kommt ein „Verpflichtungsgefühl“ der Eltern, ihren Sohn finanziell zu unterstützen und seine „Schulden irgendwie abzubauen“. Zugleich hat Arturo Bertanis Vater den Wunsch, in sein Elternhaus in Italien zu ziehen, wo er mit seiner Frau seinen „Lebensabend verbringen“ möchte. Die Verwirklichung dieses „Heimkehrplans“ wird jedoch von der Lebenssituation des Sohnes „abhängig gemacht“. Da seine Eltern erst dann guten Gewissens nach Italien ziehen können, wenn er „im sicheren Nest“ ist und keine finanziellen Sorgen mehr hat, sieht Arturo Bertani sich selbst als Hindernis in der Verwirklichung der Träume seiner Eltern, was wiederum Druck auf ihn ausübt: So muss er a) schnellstmöglich die eigenen Schulden abbauen und b) sein Studium beenden, um sich sein Leben selbst finanzieren zu können. Es fällt auf, dass beide Ziele in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen: Schulden abzubauen erreicht Arturo Bertani, indem er arbeitet. Zu arbeiten raubt ihm jedoch die Zeit, die er benötigt, um in
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seinem Studium voran zu kommen. Arturo Bertani befindet sich in einem Dilemma. Um sein Studienvorkommen zu unterstützen, möchten seine Eltern für finanziellen Ausgleich sorgen, was für sie selbst, die „grad so über die Runden kommen“ ein prekäres Unterfangen darstellt. Hieraus entstehen neue Probleme in der Familie. Insbesondere wird hier von Arturo Bertani die Belastung durch die Kontinuität der finanziell angespannten Situation betont: „wenn man die ganze Zeit wenn´s finanzielle Engpässe die ganze Zeit gibt und immer wieder mehrere Pfennige umgedreht werden müssen“ (Hervorhebungen d. Verf.), resultieren daraus „sehr schnell riesengroße Streitereien“. Aus diesen wiederum geht Arturo Bertani selbst mit einem „sehr schlechten Gefühl“ heraus, doch diese Dynamik kann von keinem der Akteure kontrolliert werden. Die Sorge um den anderen und das Wissen um die schwierige Situation sowie ein Gefühl der Verantwortung für geliebte Menschen aus der eigenen Familie stellen zentrale Bedingungen dafür dar, dass die Belastung durch die schlechten finanziellen Situationen auf beiden Seiten fast als unerträglich empfunden wird. Ein Studienkredit, so kann aufgrund der gesamten Analyse hier ergänzt werden, konnte seinen Entlastungswunsch nicht erfüllen und der Akteur sieht sich in seinen Handlungsoptionen erschöpft. Die empfundene Ausweg- und Machtlosigkeit Arturo Bertanis wird anhand folgender Formulierung deutlich: „also das ist wirklich sehr verworren also das ist schon eigentlich so ein Kreis wenn man an der einen Stelle steht dann argumentiert denkt weiter dann steht man sofort wieder da und (.) weiß dann halt gar nicht wie man da mehr raus kommen soll“. Arturo Bertani sieht derzeit keinen Ausweg aus der komplexen Verstrickung in die Schuldenproblematik und erlebt diese Situation als krisenhaft.
Entwicklungsmöglichkeiten durch die Erfahrung prekärer finanzieller Lagen innerhalb familialer Verstrickungen Doch selbst in dieser Situation, in der Arturo Bertani sich aufgrund der als übermächtig empfundenen Dynamiken nicht in der Lage sieht, eine grundlegende Besserung herbeizuführen, kann er noch einen Vorteil erkennen: „was im Endeffekt aber ganz gut ist man lernt anders mit Geld umzugehen also dadurch dass wir irgendwie gelernt haben dass man eh die ganze Zeit wenig hat (.) haben meine Eltern irgendwie darauf gedacht dass man dann doch teilen lernt also dass man wenn man wenig hat dann kann man das bisschen halt ja auch noch teilen also das ist so der andere hat ja auch nicht mehr und das ist irgendwie mehr noch mal so auf Reziprozität einfach aufbaut dass man das dann halt macht das ist eigentlich das
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fand ich war im Endeffekt dann ne ganz gute Lehre dass man weiß wie man mit Geld also es ist letztlich nur Geld also man weiß halt natürlich man hat weltlich gesehen sehr viele Probleme damit und man hat eigentlich kein Grund lachend sich auf die Wiese zu setzen aber mein Gott meine Eltern ham glaub ich das ist das was ich glaub ich über die Jahre gelernt hab gemerkt dass man natürlich Geld braucht und mit Geld glücklicher leben kann oder zumindest einfacher aber das ist es ja dann doch nicht (.) also (lacht) das ist (.) also man lernt auch ohne dann zu leben (lacht) aber es ist jetzt nicht wirklich ne Zufriedenheit die man dann dabei hat also das ist irgendwie schwer auszudrücken und das jetzt wirklich darzustellen also man ist nicht (.) der Taugenichts dem Geld komplett egal ist also so ist es ja nicht also uns ist ja Geld nicht egal und ich will ja also wenn ich mich jetzt in der Zukunft seh dann wünsch ich natürlich dass ich meine Schulden abgebaut hab dass ich nen tollen gut bezahlten Beruf hab und ich mir einfach keine Geldsorgen machen muss (lacht) das ist ja klar das hat ja irgendwie jeder da ist mir Geld natürlich nicht egal“.
Eine auf den ersten Blick vielleicht paradox anmutende Folgerung unter Berücksichtigung der mit dem jahrelangen Kampf um und mit Geld einhergehenden Belastung, ist die Folgende: Arturo Bertani bekam durch seine Eltern seiner Ansicht nach vermittelt, „dass man doch teilen lernt also dass man wenn man wenig hat dann kann man das bisschen halt ja auch noch teilen“. An anderer Stelle des Interviews wird auch deutlich, dass er seinen Freunden gelegentlich Geld leiht, wenn diese es benötigen, obwohl sie im Allgemeinen mehr finanzielle Mittel zur Verfügung haben als er. Im Kontext der prekären finanziellen Situation hat er sich somit einen durch die Eltern vermittelten, bedeutsamen Wert angeeignet: die Bedeutsamkeit des „Teilen-Könnens“. Dies, so hält Arturo Bertani fest, „war im Endeffekt dann ne ganz gute Lehre“. Auf diese Weise kann er den belastenden Erfahrungen durch die finanzielle Situation etwas Positives abgewinnen: das Erlernen zentraler sozialer Kompetenzen.4 Zudem fällt in dem obigen Abschnitt auch die ambivalente Einstellung Arturo Bertanis zu Geld auf: auf der einen Seite lerne man „auch ohne dann zu leben“, auf der anderen Seite sei dies jedoch „nicht wirklich ne Zufriedenheit die man dann dabei hat“. Geld sei schon bedeutsam und der Besitz desselben führe zur Vermeidung „sehr vieler Probleme“. Es gäbe allerdings auch wichtigere 4
Mit dem auf Silbereisen (1995) zurückgehenden Begriff der sozialen Kompetenz wird „das Insgesamt an sozialen Kognitionen bezeichnet, das die Bewältigung von Anforderungen der Interaktion zwischen Menschen in spezifischen Kontexten erleichtert. Zu analytischen Zwecken können sozialkognitive Teilfähigkeiten unterschieden werden“ (Wild/Hofer/Pekrun 2001, S. 258). Beispiele für soziale Kompetenzen sind die Fähigkeit zur kognitiven Perspektivenübernahme, Empathie und Mitgefühl, des Weiteren persuasive Kompetenzen, Argumentationsfähigkeit, interpersonale Problemlösekompetenz, Ambiguitätstoleranz u.v.a. (vgl. Wild,/Hofer/Pekrun 2001, S. 258). In dem hier vorliegenden Fall kann davon ausgegangen werden, dass mit der Vermittlung des Wertes der Bedeutsamkeit des ,Teilen-Könnens“ (und Wollens) sowohl die Entwicklung sozialer Kompetenzen der kognitiven Perspektivenübernahme als auch der Empathie einhergehen.
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Dinge als Geld. Entsprechend lautet seine Bilanzierung: „also es ist letztlich nur Geld“. Hier deutet sich in Verbindung mit den Ausarbeitungen zur vorigen Textstelle an, dass die soziale, emotionale, familiale Bindung im Vergleich zu der Bedeutsamkeit von Finanziellem stark in den Vordergrund rückt. Diese Relativierung der Bedeutsamkeit von Finanziellem und die Aufwertung familialer Bindungen können auch als Haltung verstanden werden, die die Akteure zur Bewältigung ihrer schwierigen Situation einnehmen. Auf jene Haltung, die als „es-nicht-zu-schwer-nehmen“ beschrieben werden kann, verweist die folgende Textstelle: „das ist glaub ich auch so ne Einstellung die lernt man einfach oder die hab ich einfach über die Jahre dann einfach dann ja angeeignet dann das Akzeptieren davon das man denkt okay ist nicht lecker aber schön dann mach ich´s halt und was bringt´s halt weil sich jetzt die ganze Zeit nur hinzusetzen und zu weinen mein Gott (.) bringt halt einfach nicht viel ich mein natürlich hat man auch sehr viele Phasen wo man halt da sitzt und wirklich fertig ist mit der Welt oh Gott nein also wenn jetzt wirklich viel auf einmal nicht geklappt hat und oh gar nicht schön (lacht) aber besonders wenn man dann natürlich halt auch zu den Eltern guckt gleiche Situation und hm (.) und man dann hofft dass sich das irgendwie dann doch noch regelt“.
Arturo Bertani beschreibt hier einen Entwicklungsprozess, in dessen Verlauf er „über die Jahre“ hinweg gelernt hat, mit der schwierigen Situation umzugehen und diese zu „akzeptieren“, ohne zu resignieren. D.h. diese Akzeptanz im Sinne des Annehmens der schwierigen Situation impliziert nicht, dass diese als unabänderlich gegeben und endgültig hingenommen wird. Ziele wie das Studium werden nicht aufgegeben und auch der Schuldenabbau wird weiter vorangetrieben. Mit der Fähigkeit des „Akzeptieren-Könnens“ gelingt es ihm, die bestehende Problem- und Belastungskumulation (seine Geldsorgen, die Spannung zwischen dem Studium als Hürde des Schuldenabbaus und der Arbeit als notwendiges Mittel, zugleich aber Hürde des gewünschten Studienabschlusses sowie die Verwobenheit dieser Probleme mit der Lebenssituation der Eltern) auszuhalten. Entsprechend lässt ihn dies nicht verzweifeln, selbst „wenn man dann natürlich halt auch zu den Eltern guckt gleiche Situation“. Vielmehr kann er durch die Akzeptanz der Problematik Hoffnung schöpfen. Wenn Arturo Bertani jedoch angibt: „natürlich hat man auch sehr viele Phasen wo man halt da sitzt und wirklich fertig ist mit der Welt“, wird deutlich, wie gefährdet bzw. labil das hergestellte psychosoziale Gleichgewicht und die Aufrechterhaltung von Handlungsmächtigkeit ist. Er spricht von „sehr vielen Phasen“, in denen Perspektivlosigkeit und eine empfundene Ausweglosigkeit aus der Krisensituation innerhalb der Familie Überhand nehmen. Demnach alternative Handlungsmöglichkeiten zur Lösung der Belastungssituation nicht wahrgenommen werden und die aktuellen
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Versuche zur Bewältigung der komplexen Problemlage aus seiner Sicht auch scheitern könnten, kann er nur noch hoffen, „dass sich das irgendwie dann doch noch regelt“ und schließlich die erhoffte Besserung der komplexen familialen finanziellen Problematik eintritt.
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Fazit und Ausblick
Das Fallbeispiel Arturo Bertani zeigt die Komplexität der Schuldenproblematik auf. Dabei wird deutlich, dass Schulden durchaus mit Krisen verbunden sein können bzw. die Verstrickung in Schulden und damit einhergehende weitere psychosoziale Probleme auch als Krise verstanden werden kann. So wurde deutlich, dass die Krise Arturo Bertanis vor allem durch das komplexe Wechselverhältnis der Schuldensituation mit anderen Problematiken und vor allem derjenigen der Eltern ausgelöst wird, die in einer Kumulation verschiedenartiger Belastungen besteht. Es zeigt sich, wie die Schuldenproblematik von Arturo Bertani als eine starke Belastungssituation erlebt wird, die die vorhandenen Bewältigungsmöglichkeiten zumindest zeitweise übersteigt. Arturo Bertani kann lediglich noch auf Besserung hoffen; er und seine Familie können jedoch selbst kaum mehr tun, um zur Entlastung ihrer angespannten Situation beizutragen. Der Ausgang dieser Problematik erscheint ihm somit derzeit – bedrohlich – offen. Gleichzeitig verdeutlichen die Ausführungen, dass in diese Krise keineswegs nur Arturo Bertani involviert ist, was krisenverstärkend wirkt. Insbesondere durch die Verwobenheit mit der finanziellen Situation und den Lebensplänen seiner Eltern bzw. ihren Wünschen nach „Heimkehr“ und Schuldenfreiheit des Sohnes wird die (sich aus dem Verhältnis von Schulden, Studium und Arbeit konstituierende) Ausgangsproblematik Arturo Bertanis potenziert. Zudem bestehen Zusammenhänge zwischen der Krise und anderen Familienmitgliedern und Freunden, wie auch strukturellen Faktoren. Entsprechend müssen lebensweltliche und strukturelle Faktoren verstärkt in den (nicht nur sozialpädagogischen) Blick von Wissenschaftlern und Praktikern gerückt werden. Konzeptionen von SchuldenKriseninterventionen, die diese Bedingungsfaktoren vernachlässigen und Lebenskrisen und Schuldenbelastungen individualisieren, greifen demnach zu kurz. In diesem Zusammenhang muss auch auf neuere Tendenzen im wissenschaftlichen wie öffentlichen Diskurs verwiesen werden, Schulden(krisen) insbesondere auf (Finanz-)Kompetenzmangel zurückzuführen und diesen auf individueller Ebene mit entsprechenden Finanzkompetenztrainings zu begegnen.5 So 5
Interventionsstrategien wie Trainingsmaßnahmen in Bezug auf den Erwerb oder die Förderung der Finanzkompetenz, verstanden als „Kompetenz zur Gewinnung und nachhaltigen Nutzung finanzieller Mittel und Finanzdienstleistungen“, die sowohl „die Abwägung von Bedürfnissen und Alterna-
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konstatiert z.B. der ehemalige Schufa-Vorstandschef und Dipl. Mathematiker Rainer Neumann, dass „neben Arbeitslosigkeit und Scheidung [...] mangelnde finanzielle Allgemeinbildung, Unerfahrenheit und Informationslücken in Geldangelegenheiten die Hauptauslöser für Überschuldung [seien]“ und fordert entsprechend, dass „das Handeln von allen gefragt [sei], die in unserer Gesellschaft zu einer besseren Finanzbildung beitragen können“ (CIW Wirtschaftsnachrichten).6 Und auch Smolka und Rupp (2007) stellen in Bezug auf die seit Jahren zunehmende Zahl ver- und überschuldeter Privathaushalte fest: „Die Ursachen für diese Entwicklung sind komplex. Ergebnisse der Lebenslagen- und Armutsforschung belegen, dass nicht nur schwierige Familienverhältnisse, der Eintritt kritischer Lebensereignisse, wie z.B. Trennung oder Scheidung sowie mangelnde Integration in den Erwerbsbereich relevante Ursachen für Ver- und Überschuldung darstellen, sondern z.B. auch mangelnde Kenntnisse über materielle Belange“ (Smolka/Rupp 2007, S. 227). Diese Fokussierung auf finanzielle Bildung wird noch deutlicher, wenn sie dann ergänzend hinzufügen: „Solide finanzielle Bildung und „die Rationalität der Haushaltsführung und des Marktverhaltens“ (BMGS 2001, S. 71) aber geben den Ausschlag dafür, ob kritische Ereignisse oder prekäre Lebensverhältnisse erfolgreich bewältigt werden können“ (Smolka/Rupp 2007, S. 227). Als konkrete Risikofaktoren für Überschuldung und Armut wird in diesem Zusammenhang insbesondere auf „fehlende Planungskompetenzen, mangelhafte Kenntnisse von Märkten, Produkten und Verfahren – besonders in Bezug auf Geld – Unerfahrenheit im Umgang mit Behörden und eine nicht adäquate Nutzung öffentlich bereitgestellter Güter“ (Smolka/Rupp 2007, S. 227f.) verwiesen. Sicherlich nimmt der Umgang mit Geld – oder in Orientierung an einem umfassenderen Verständnis von Finanzkompetenz als Konglomerat aus finanzieller Bildung, Schlüsselkompetenzen und der psychologischen Bedeutung des Geldes (vgl. Mantseris 2004, S. 1) – Einfluss auf die Schuldenproblematik. An dem Fallbeispiel von Arturo Bertani wird jedoch explizit, dass die Ursache der Problematik nicht darin besteht, den Umgang mit Geld nicht richtig gelernt zu
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tiven der Bedürfnisbefriedigung“ einschließt als „auch die langfristige Vermögenssicherung im Blick [hat]“ (http://www.praeventionsnetzwerk-finanzkompetenz.de/downloads/zielsetzung undgrundlagen.pdf), werden in der Konsequenz häufig als Interventionsdesiderate formuliert. Mit der Folge, dass die zu fördernde Finanzkompetenz als Schwerpunktthema im Zusammenhang mit Schuldenprävention fungiert. In Trainingsseminaren sollen z.B. Jugendliche für die Schuldenthematik sensibilisiert werden, in dem u.a. ihr Wissens über die Bereiche, in denen Schulden gemacht werden, eruiert wird sowie die Besprechung von Themenbereichen wie Konto, Kredite, Zinsen, Mobiltelefone, Führerschein, Auto/Roller, Wohnung und Versicherungen erfolgt (vgl. hierzu: http://sos-alltagkoeln.de/seminar_schuldenpavention.html, abgerufen am 22.10.2010). Abrufbar unter: http://www.ciw-wirtschaftsnachrichten.de/aktuell/artikel/verschuldung-vonprivathaushalten-weiterhin-auf-hohem-niveau.hmtl (abgerufen am 21.10.2010).
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haben oder über mangelnde Schlüsselkompetenzen zu verfügen etc., somit ein Finanzkompetenzmangel vorliegt. Vielmehr ist in diesem Zusammenhang zu betonen, dass das Aufwachsen in einem mit Schulden belasteten Elternhaus gerade zu einem ausgeprägten Wissen um die starke emotionale Belastung einer Schuldensituation beiträgt, woraus unter anderem Vermeidungsstrategien der eigenen Verschuldung resultieren können.7 Zudem macht der Fall offenkundig, wie hoch der Preis des so oft propagierten „höchsten Guts Bildung“ sein kann. Eine prekäre finanzielle familiäre Lage macht das erfolgreiche und schnelle Absolvieren eines Studiums, ohne nebenbei arbeiten zu müssen oder finanzielle Fördersysteme wie BAföG und Studienkredite in Anspruch zu nehmen, nahezu unmöglich. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, wie voraussetzungsvoll diese finanziellen Fördersysteme sind8 und wie gefährdend sie auch im Zusammenhang mit Schulden sein können. Von diesen Ausführungen ausgehend, ist die „Schuldenkrise“ als relationale zu konzipieren. Mit dem Adjektiv relational soll nicht nur darauf verwiesen werden, dass Krise aus der Bewertung der vorhandenen eigenen Bewältigungsmöglichkeiten in Relation zu der konfrontierenden Belastung verstanden wird. Vielmehr soll mit dieser Begrifflichkeit hervorgehoben werden, dass von der „Schuldenkrise“ eines Einzelnen meist auch andere Personen tangiert werden und diese zudem durch gesellschaftliche Institutionen wie Studienkredite oder Studiengebühren mitbedingt sein kann. Ferner wird mit dem Begriff des Relationalen auch indirekt auf den Prozesscharakter von Krisen verwiesen. Festgehalten werden kann also letztlich, dass Schulden einen krisenhaften Verlauf haben, d.h. mit weiteren Belastungen einhergehen und von den Betroffenen als Krise erlebt werden können, sowie meist multikausal bedingt sind.9 In vielen Schuldnerberatungsstellen wird versucht, die Komplexität und Multikau7
Während über den Zusammenhang von mangelnder Finanzkompetenz und Schulden vielfältige Überlegungen angestellt werden, finden vergleichbare Reflexionen über Schulden und den Aufbau von Finanzkompetenz und auch sozialer Kompetenz bislang nicht statt. Das Entwicklungspotential, das Krisen und insofern auch krisenhaft erlebte Schuldensituationen bergen können, bleibt bisher weitgehend unberücksichtigt. Hier weiter zu forschen und entsprechende Ansätze für die Praxis zu entwickeln, könnte insbesondere im Hinblick auf emotionale Auswege aus der Krise von Interesse sein. 8 So wird etwa der Anspruch auf BAföG vom Einkommen und Vermögen des Antragsstellers und der Eltern abhängig gemacht (vgl. http://www.bafoeg-aktuell.de/cms/bafoeg/anspruch.html, abgerufen am 21.10.2010). Schulden finden hierbei keine Berücksichtigung. 9 Während im Zusammenhang von der Entstehung von Überschuldung, d.h. dem Nicht-Mehr Erfüllen Können der fälligen Zahlungsverpflichtungen über einen längeren Zeitraum (3-6 Monate) bzw. die Zahlungsunfähigkeit (§17, Abs. 2 S. I InsO), oftmals auf eine Verbindung unterschiedlicher Lebensereignisse, wie Arbeitslosigkeit, Krankheit, Trennung oder Scheidung und ferner eine „anbieterbegründete Überschuldung“ sowie mangelnde Finanzkompetenz hingewiesen wird, bleiben Komponenten wie Studium, Transnationalität, Soziale Verantwortung und familiäre (Ver-)Bindungen bislang weitgehend unberücksichtigt.
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salität der Schuldenproblematik aufzugreifen. Dennoch zeichnen sich Tendenzen ab, im Angebot der Schuldenpräventions- als auch der Schuldenentlastungsangebote sowie im wissenschaftlichen Diskurs der Förderung persönlicher Planungskompetenzen aktuell am meisten Gewicht beizumessen. So fordern z.B. Müller, Schulz und Thien: „Die Fähigkeit, kontrolliert mit Geld umzugehen, aber auch ein verantwortlicher Umgang mit Konsumwünschen muss verstärkt in geeigneten Projekten, inner- und außerschulisch sowie in der Jugendhilfe verankert, vermittelt werden“ (Müller/Schulz/Thien 2010, S. 411). Aber auch die Titel der verschiedenen Präventionsangebote und Ansätze wie „Fit fürs Geld“, „money crashkurs“, „Finanzführerschein“, um nur eine kleine exemplarische Auswahl zu nennen, sowie der Titel „Mehr Finanzkompetenz für Kinder und Jugendliche“ einer im November in München stattfindenden Tagung, veranstaltet vom Sozialreferat München in Kooperation mit dem Bayerischen Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz10, verdeutlichen diese Tendenz bzw. Fokussierung eindrucksvoll. Entgegen dieser Schwerpunktsetzung weisen unsere Überlegungen auf die Bedeutung einer Perspektiverweiterung in Praxis und Forschung hin. Der Fall Arturo Bertani verweist darauf, andere Lebensbereiche, wie das Studium sowie soziale Verantwortung und familiäre (Ver-)Bindungen zu berücksichtigen. Insbesondere zeigt sich, dass oftmals der Einbezug weiterer Personen, speziell von Familienmitgliedern zentral ist. Denn so wie kein Mensch eine Insel ist, so tangieren Schulden nicht nur eine Person oder liegen allein in deren Verantwortungsbereich. Eine Konzeption einer auch (bzw. gerade) durch Schulden ausgelösten (psychosozialen) Krise als relationale könnte Perspektiven aufzeigen, um diesen komplexen Zusammenhang in den Blick zu nehmen.
Literatur BMAS (Bundesministerium für Arbeit und Soziales) (Hrsg.) (2008): Lebenslagen in Deutschland. Der dritte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Bonn DUDEN. Das Fremdwörterbuch (2001), Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich DUDEN. Das Fremdwörterbuch (2001), Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich DUDEN. Das Herkunftswörterbuch Etymologie der deutschen Sprache (2001) Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich DUDEN. Das Synonymwörterbuch (2004). Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich Honig, Michael-Sebastian (2005): Krise/Krisenintervention. In: Kreft, Dieter/Mielenz, Ingrid (Hrsg.): Wörterbuch Soziale Arbeit. Aufgaben, Praxisfelder, Begriffe und Methoden der Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Weinheim und München
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Abrufbar unter: http://www.muenchen.de/Rathaus/soz/aktuell/eujahr2010/aktuelles/431782/201011-24_finanzkompetenz. html (abgerufen am 21.10.2010)
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Kreft, Dieter/Mielenz, Ingrid (Hrsg.) (2005): Wörterbuch Soziale Arbeit. Aufgaben, Praxisfelder, Begriffe und Methoden der Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Weinheim und München Mantseris, Nicolas (2004): Finanzkompetenz und Schuldenprävention. Skript für das Referat zur Fachtagung Schuldnerberatung der Diakonie Sachsen am 24.04.2008. Abrufbar unter: http://praeventionsnetzwerk-finanzkompetenz.de/downloads/ finanzkompetenzmantseris.pdf (abgerufen am 30.10.2010). Mennemann, Hugo (2000): Krise als ein Zentralbegriff der (Sozial-)Pädagogik – eine ungenutzte Möglichkeit? in: Neue Praxis, 30, S. 207-226 Müller, Christine/Schulz, Franziska/Thien, Ulrich (Hg.) (2010): Auf dem Weg zum Jugendintegrationskonzept. Grundlagen und Herausforderungen angesichts veränderter Lebenslagen junger Menschen. Berlin Palentien, Christian (2004): Kinder- und Jugendarmut in Deutschland. Wiesbaden. Proksch, Roland (2001): Schuldnerberatung. In: Otto, Hans-Uwe/Thiersch, Hans (Hrsg.): Handbuch Sozialarbeit Sozialpädagogik. Neuwied, Kriftel, S. 1527-1531 Proksch, Roland (2005): Schuldner- und Insolvenzberatung. In: Kreft, Dieter/Mielenz, Ingrid (Hrsg.): Wörterbuch Soziale Arbeit. Aufgaben, Praxisfelder, Begriffe und Methoden der Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Weinheim und München, S. 704708 Smolka, Adelheid/Rupp, Martina (2007): Die Familie als Ort der Vermittlung von Alltags- und Daseinskompetenzen. In: Harring, Marius/Rohlfs, Carsten/Palentien, Christian: Perspektiven der Bildung: Kinder und Jugendliche in formellen, nichtformellen und informellen Bildungsprozessen. Wiesbaden, S. 219-236 Ulich, Dieter (1987): Krise und Entwicklung. Zur Psychologie der seelischen Gesundheit. München Wengeler, Martin (2010): „Unsere Zukunft und die unserer Kinder steht auf dem Spiel.“ Krisendiskurse in der Bundesrepublik Deutschland. Vortrag auf dem 12. Kongress der Internationalen Vereinigung der Germanistik. Warschau, 30. Juli – 07. August 2010 Wild, Elke/Hofer, Manfred/Pekrun, Reinhard (2001): Psychologie des Lerners. In: Krapp, Andreas/Weidenmann, Bernd (Hrsg.): Pädagogische Psychologie. Weinheim, S. 201-270
Krisenbewältigung durch juristische Begriffsbildung – Verbraucherschutz als Schuldnerschutz Curt Wolfgang Hergenröder
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Privatautonomes Handeln als finanzieller Krisenfaktor Verbraucherinsolvenz und Schuldverhältnis
Die Zahlungsunfähigkeit weiter Kreise der deutschen und der europäischen Bevölkerung ist ein gesellschaftspolitisches Problem ersten Ranges.1 Betroffen von seiner individuellen Finanzkrise ist nicht nur der jeweilige Schuldner, vielmehr werden von der damit verbundenen Schattenwirtschaft auch die staatlichen und überstaatlichen Finanzsysteme kollektiv tangiert. Zwischen den einzelnen Rechtsordnungen besteht keineswegs Einigkeit, wie mit der einmal eingetretenen Überschuldung von Privatpersonen umgegangen werden soll.2 Die Spanne reicht von der unbeschränkten Vermögenshaftung bis hin zu sehr großzügigen Entschuldungskonzeptionen. Keine Restschuldbefreiung in diesem Sinne kennen u.a. Bosnien, Bulgarien, Kroatien, Italien, Kroatien, Lettland, Litauen, Portugal, Rumänien, die Türkei und Ungarn.3 Die Schuldner bleiben auf Dauer den Forderungen ausgesetzt. Wieder andere Länder wie die Schweiz4 und Spanien5 kennen zwar keine Restschuldbefreiung, ermöglichen dem zahlungsunfähigen Schuldner aber ein Sanierungsverfahren sowie ein Privatinsolvenzverfahren. Der Schuldner kann zwar keine Entschuldung erwirken, die nach Abschluss des Konkursverfahrens verbleibenden Forderungen werden aber beispielsweise gestundet. Die dritte Gruppe von Staaten weist Parallelen zur deutschen Verbraucherinsolvenz auf. 1
Für das Jahr 2008 werden für Deutschland 6,87 Millionen zahlungsunfähige Privatpersonen genannt, was bei 67,97 Millionen Menschen über 18 Jahren eine Quote von 10,11 % bedeutet, vgl. Creditreform Schuldneratlas Deutschland, 2008, 4. Zum quantitativen Ausmaß der individuellen Finanzkrisen näher Knobloch/Reifner/Laatz, iff-Überschuldungsreport 2009, S. 24 ff. 2 Überblick bei Schönen, ZVI 2009, 229; 2010, 81. 3 Das ungarische Konkursgesetz (Csödtörvény 1991. XLIX) ist nur auf Unternehmen ausgerichtet, eine der Restschuldbefreiung vergleichbare Regelung für Privatpersonen gibt es nicht. Die ungarische Regierung verzichtete bewusst auf ein der Restschuldbefreiung ähnliches Institut, da man der Ansicht war, sonst vorsätzlichen Verschuldungen Tür und Tor zu öffnen. 4 Dazu näher Schönen, ZVI 2010, 81 (86 ff.). 5 Vgl. Schönen, ZVI 2010, 81 (89 ff.).
C. W. Hergenröder (Hrsg.), Krisen und Schulden, DOI 10.1007/978-3-531-93085-5_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Befreiung von den Verbindlichkeiten kann man u.a. in den Benelux-Staaten6 Belgien, Luxemburg und den Niederlanden, ferner auf der britischen Insel7 in England, Irland, Nordirland, Schottland und Wales, in Frankreich8, Österreich9, Slowenien10, Tschechien11 sowie den skandinavischen Staaten12 Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden erlangen. Seit 31.3.2009 kann man sich auch in Polen13 seiner Schulden entledigen, in Griechenland gibt es entsprechende Überlegungen des Gesetzgebers.14 Freilich zeichnen sich die einzelnen Insolvenzrechte durch deutliche Unterschiede im Verfahren aus, insbesondere auch was die Länge der Wohlverhaltensperiode anbelangt. So kann die zahlungsunfähige Person in England in einem Jahr schuldenfrei werden, in Österreich braucht sie dazu sieben Jahre, nimmt man die Nachhaftung für gestundete Verfahrenskosten hinzu, sind es in Deutschland gar zehn Jahre.15 Angesichts dieser europäischen Vielfalt nimmt es nicht wunder, dass sich auch das deutsche Recht konzeptionell schwer tut; die Verbraucherinsolvenz ist ein ewiger Reformprozess geworden.16 Hinzuzufügen ist, dass das Institut der Restschuldbefreiung auch außerhalb Europas bekannt ist, so insbesondere geradezu traditionell in den USA17, aber zB auch in Südafrika18. Die §§ 304 ff. InsO, welche eine Sonderregelung für zahlungsunfähige natürliche Personen enthalten, stehen unter der amtlichen Überschrift „Verbrau6
Zur Entschuldung in den Benelux-Staaten Hergenröder/Alsmann, ZVI 2009, 177; siehe auch Schönen, ZVI 2009, 229 (239 f.: Belgien); 2010, 81 ff. (Luxemburg), 83 ff. (Niederlande). 7 Zum Privatinsolvenzrecht der britischen Insel Dimmling, ZinsO 2008, 1198; Hergenröder/Alsmann, ZVI 2007, 337; Schönen, ZVI 2009, 230 (232 ff.: England und Wales); Zilkens, Die discharge in der englischen Privatinsolvenz, 2006, S. 73 ff., 94 ff. 8 Dazu näher Delzant/Schütze, ZinsO 2008, 540; Hölzle, ZVI 2007, 1; Köhler, Entschuldung und Rehabilitierung vermögensloser Personen im Verbraucherinsolvenzverfahren – ein Vergleich der Verfahrensreformen in Frankreich und Deutschland, 2003, 367 f.; ders., ZVI 2003, 626; 644; Schönen, ZVI 2009, 230 (236 ff.). 9 Schönen, ZVI 2010, 81 (84 f.). 10 Schönen, ZVI 2010, 81 (88 f.). 11 Siehe Braun, ZinsO 2008, 355 (359); Schönen, ZVI 2010, 81 (91 f.). 12 Hierzu Hergenröder/Alsmann, ZVI 2010, 413. Vgl. zu Finnland auch Schönen, ZVI 2009, 230 (235 f.). 13 Schmidt, ZinsO 2009, 1243; Schönen, ZVI 2010, 81 (85 f.). 14 Kourouvani, ZVI 2010, 96. 15 § 4 b Abs. 2 S. 4 InsO. Kritisch zur Länge der Frist Hergenröder, DZWir 2001, 397 (408); FKInsO/Kothe, 5. Aufl., 2009, § 4 b Rn. 4. 16 Vgl. Hergenröder, DZWIR 2009, 221; ders., in: Hadding/Hopt/Schimansky (Hrsg.), Verbraucherschutz im Kreditgeschäft. Compliance in der Kreditwirtschaft (Schriftenreihe der Bankrechtlichen Vereinigung Bd. 29), 2009, S. 39; ders., DZWIR 2006, 265; ders., DZWIR 2006, 441; ders., FS Konzen, 2006, S. 287; ders., DZWIR 2001, 397. 17 Vgl. näher Schönen, ZVI 2010, 81 (92 ff.). Zur insolvenzrechtlichen Anerkennung des US-Chapter 11-Verfahrens Hergenröder/Gotzen, DZWIR 2010, 273 ff. 18 Dazu Schönen, ZVI 2010, 81 (91).
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cherinsolvenzverfahren und sonstige Kleinverfahren“. Schuldenbereinigungsplanverfahren (§§ 305 ff. InsO) sowie vereinfachtes Insolvenzverfahren (§§ 311 ff. InsO) sollen also einer ganz bestimmten Personengruppe vorbehalten bleiben. § 304 Abs. 1 S. 1 InsO spricht vom „Schuldner als natürliche Person, die keine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit ausübt oder ausgeübt hat“. Über die entsprechende insolvenzrechtliche Fragestellung hinaus lässt sich der Bogen zum materiellen Recht spannen. Denn das Attribut „Schuldner“ setzt voraus, dass es auch mindestens einen Gläubiger desselben gibt. Kraft des Schuldverhältnisses ist der Gläubiger berechtigt, von dem Schuldner die versprochene Leistung zu verlangen, vgl. § 241 Abs. 1 S. 1 BGB. Das Schuldverhältnis erlischt gem. § 362 Abs. 1 BGB, wenn die geschuldete Leistung bewirkt wird. Von einer Erfüllung der Verbindlichkeiten kann in Fällen der Zahlungsunfähigkeit freilich nicht die Rede sein. Das Bürgerliche Gesetzbuch enthält für entsprechende Fälle keine Regelung, von bestimmten Instituten im Erbrecht einmal abgesehen.19 „Pacta sunt servanda“ lautet der alte römischrechtliche Grundsatz20, der im Kern auch heute noch unverändert gilt und nichts anderes besagt als: Verträge müssen eingehalten werden. Geht also eine Person zu viele Verbindlichkeiten angesichts ihres finanziellen Leistungsvermögens ein, so hat sie für diese dennoch einzustehen. Insoweit handelt es sich um einen unserer Rechts- und Wirtschaftsordnung immanenten allgemeinen Rechtsgrundsatz; er kommt in dem Prinzip der unbeschränkten Vermögenshaftung zum Ausdruck. Der in den §§ 850 ff. ZPO normierte Pfändungsschutz der Zivilprozessordnung garantiert dem Schuldner zwar einen gewissen Mindeststandard; die Schulden als solche lässt er allerdings unangetastet. Gewährleistet wird lediglich das sozialstaatlich gebotene Existenzminimum.21 Abhilfe schafft hier nur das Restschuldbefreiungsverfahren nach §§ 286 ff. InsO. Wird Restschuldbefreiung erteilt, wirkt sie gem. § 301 Abs. 1 InsO gegenüber allen Insolvenzgläubigern und darüber hinaus auch gegenüber solchen Gläubigern22, die ihre Forderungen nicht entsprechend §§ 174 ff. InsO angemeldet hatten. 19
Zu nennen sind hier die Haftungsbeschränkung für den Erben nach §§ 1975, 1989 BGB sowie die Dürftigkeitseinrede bei Nachlassverwaltung oder Abweisung mangels Masse, § 1990 Abs. 1 Satz 1 BGB. 20 Siehe Dekretalen 1, 35, 1 Summarium (Gregor IX.). 21 Zwiespältig ist insoweit die im Jahre 2013 in Kraft tretende Reform der Zwangsvollstreckung zu sehen, vgl. im Einzelnen Hergenröder, DGVZ 2010, 201. 22 Laut Bundesstatistik hatten 36,8 % der überschuldeten Haushalte im Jahre 2008 einen bis vier Gläubiger, also vergleichsweise wenige Forderungsinhaber zu bedienen. 28,2 % der überschuldeten Haushalte wiesen fünf bis neun Gläubiger auf, 24,4 % hatten dann schon zehn bis neunzehn Gläubiger. Zwanzig und mehr Gläubiger verteilen sich auf 10,6 % der zahlungsunfähigen Haushalte, siehe mit Ausdifferenzierung nach Alter und Familienstand Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Statistik zur Überschuldung privater Personen 2008, 2009, 8, https://www-ec.destatis.de/
102 1.2
Curt Wolfgang Hergenröder Schuldnerschutz durch Sonderrechte für Verbraucher
Freilich sind Verbraucherinsolvenz und Restschuldbefreiung nur die legislative Reaktion auf einen unhaltbar gewordenen Zustand in der Gesellschaft.23 Die Verbindlichkeiten einer Vielzahl von Menschen aus Schuldverhältnissen haben einen so hohen Stand erreicht, dass der Staat an diesem Phänomen nicht länger vorbeigehen konnte.24 Zu einer Insolvenz kommt es aber erst gar nicht, wenn das materielle Recht präventiv wirkt. Es muss also darum gehen, der Begründung von Schuldverhältnissen vorzubeugen bzw. es dem Schuldner zu ermöglichen, sich von ihnen wieder loszusagen. Dies gilt jedenfalls für vertragliche Schuldverhältnisse. Ersteres kann durch die Normierung von Aufklärungs- und Informationspflichten erreicht werden, so beispielsweise geschehen in §§ 312 c i.V.m. Art. 246 §§ 1, 2 EGBGB, § 492 Abs. 2 i.V.m. Art. 247 §§ 6 bis 13 EGBGB. Auch Letzteres, die Einräumung einer Lossagungsmöglichkeit, war dem Bürgerlichen Recht von Anfang an nicht fremd, wie die Anfechtungsvorschriften der §§ 119 ff. BGB zeigen. Wer beim Abschluss eines vertraglichen Schuldverhältnisses im Irrtum ist oder arglistig getäuscht wird, kann sich vom Geschäft durch Anfechtung befreien. Ist der Schuldner ein „Verbraucher“ im Sinne des § 13 BGB, so ist die Rechtsordnung noch großzügiger: Der Verpflichtete kann sich bei Abschluss bestimmter Verträge durch Widerruf von seinen Verbindlichkeiten binnen gewisser Fristen befreien, ohne dass sein Vertragspartner dies verhindern kann, vgl. § 355 Abs. 1 S. 1 BGB i.V.m. § 312 Abs. 1 S. 1 BGB (Haustürgeschäfte), § 312 d Abs. 1 S. 1 BGB (Fernabsatzverträge), § 485 Abs. 1 BGB (Teilzeit-Wohnrechteverträge) und insbesondere auch § 495 Abs. 1 BGB (Verbraucherdarlehensverträge) sowie die damit „verbundenen Verträge“ gemäß § 358 Abs. 2 BGB. Im Gegenteil muss der Gläubiger den Schuldner sogar noch über seine diesbezüglichen Rechte belehren, siehe beispielsweise §§ 312 Abs. 2,
23
24
csp/shop/sfg/bpm.html.cms.cBroker.cls?cmspath=struktur,sfgsuchergebnis.csp&action=newsearch &op_EVASNr=startswith&search_EVASNr=69 Im Jahre 2008 belief sich die durchschnittliche Verschuldenshöhe in Deutschland auf 35.967 €. Davon entfielen auf die Kreditinstitute 20.960 €. Es folgen die Inkassobüros (2.984 €), öffentliche Gläubiger (2.552 €), Vermieter (919 €), Telefongesellschaften (641 €) und Versandhäuser (590 €). Die Zahlen sind kumulativ zu sehen, da es relativ selten ist, dass eine zahlungsunfähige Person nur bei einer Stelle Verbindlichkeiten hat. Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Statistik zur Überschuldung privater Personen 2008, 2009, 9, https://wwwec.destatis.de/csp/shop/sfg/bpm.html.cms.cBroker.cls?cmspath=struktur,sfgsuchergebnis.csp&acti on=newsearch&op_EVASNr=startswith&search_EVASNr=69 Die Bundesstatistik (Fn. 22) weist als niedrigstes Datum Forderungen unter 10.000 € aus, in diese Gruppe gehören 40,2 % der Schuldner. 28,0 % der erfassten Haushalte haben Schulden zwischen 10.000 € und 25.000 €, 16,6 % müssen 25.000 € bis 50.000 € abtragen. Mit 50.000 € bis 100.000 € Verbindlichkeiten haben 7,8 % der Haushalte zu kämpfen, 100.000 € und mehr belasten immerhin noch 7,5 % der deutschen Haushalte.
Krisenbewältigung durch juristische Begriffsbildung
103
355 Abs. 2 Satz 1, 360 BGB, ansonsten die Widerrufsfrist nach §§ 312 d Abs. 2, 355 Abs. 3 BGB nicht zu laufen beginnt, und das Widerrufsrecht gem. § 355 Abs. 4 S. 3 BGB unbefristet besteht. „Verbraucher“ werden von der modernen Zivilrechtsgesetzgebung aber auch anderweitig privilegiert, wie beispielsweise § 241 a BGB für unbestellte Leistungen, § 310 Abs. 2 BGB für das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, §§ 474 ff. für den Verbrauchsgüterkauf und §§ 491 ff. BGB für Darlehensverträge belegen. Dem Schutz des Verbrauchers widmet sich zwischenzeitlich ein ganzes Rechtsgebiet, das sog. Verbraucherprivatrecht.25 Es versucht, einen Ausweg aus dem Grunddilemma der Privatautonomie zu weisen: Kann Freiheit dazu dienen, sich durch seine rechtsgeschäftlichen Möglichkeiten selbst zu ruinieren und dadurch eben diese Freiheit ad absurdum zu führen? Treffend charakterisiert wird eine solchermaßen unkontrollierte Privatautonomie durch den alten französischen Kommunisten Roger Garaudy mit seiner Parabel vom „freien Fuchs im freien Hühnerstall“.26 Am Ende dieses Prozesses greift dann die Formulierung in § 17 Abs. 2 S. 1 InsO: „Der Schuldner ist zahlungsunfähig, wenn er nicht in der Lage ist, die fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen“, es kann entsprechend §§ 16, 17 Abs. 1 InsO Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens gestellt werden. Nun stand die Überschuldung nicht Pate für die Verbraucherschutzgesetzgebung. „Gestörte Vertragsparität“ lautet vielmehr das Zauberwort, mittels welchem die Privilegierung des Verbrauchers beim Vertragsschluss mit dem Unternehmer gerechtfertigt wird.27 Indes zeichnet sich der typische Vertrag zwischen Verbraucher und Unternehmer gerade nicht dadurch aus, dass dem Ersteren der Wille des Letzteren in Bezug auf den Inhalt der Vereinbarung durch Zwang aufoktroyiert wird. Insoweit wäre eine Regelung auch unnötig, weil entsprechende Fälle mittels der Anfechtung wegen Drohung nach § 123 Abs. 1 BGB zu lösen sind. Auch eine psychische Abhängigkeit wird kaum vorliegen, wie sie der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Inhaltskontrolle von Bürgschaften mittelloser Angehöriger der Kreditnehmer28 bzw. zur Sittenwidrigkeit von nachehelichen Unterhaltsverzichtsverträgen29 zugrunde lag. Ansatzpunkt ist vielmehr das Zusammentreffen des professionellen Anbieters mit dem privaten Abnehmer, aus diesem typisierten Sachverhalt heraus folgt der legislativen Konzeption nach das fremdbestimmte Handeln des Abnehmers als rollenbezogene Modellvorstel-
25
Vgl. Bülow/Arzt, Verbraucherprivatrecht, 2. Aufl., 2008, S. 8 ff. Siehe schon Honsell, JuS 1993, 817. 27 Bülow/Arzt (Fn. 25), S. 2 ff. 28 BVerfG NJW 1994, 36, dazu Hergenröder, DZWir 1994, 485. 29 BVerfG NJW 2001, 957; 2248; dazu Palandt/Brudermüller, 69. Aufl., 2010, § 1585 c BGB Rn. 16 mwN. 26
104
Curt Wolfgang Hergenröder
lung.30 Verbraucherprivatrecht erfasst also solchermaßen typisierte Ungleichgewichtslagen, es ist eine Reaktion auf die Krise der Vertragsfreiheit.
1.3
Der Verbraucher – ein Chamäleon
Der „Verbraucher“ genießt gegenüber anderen Rechtssubjekten einen doppelten Vorteil: Einmal erhält er die Möglichkeit, sich von Schuldverhältnissen loszusagen, ohne dafür auch nur eine Begründung abgeben zu müssen. Ist er zu viele Schuldverhältnisse eingegangen und kann er seine Zahlungsverpflichtungen nicht mehr erfüllen, dann ermöglicht es ihm das Insolvenzrecht, in einem vereinfachten Verfahren die Schulden völlig loszuwerden.31 Er wird also vor und nach seiner individuellen Krise – hier verstanden als Eintritt der Zahlungsunfähigkeit – normativ privilegiert. Damit stellt sich die Frage, wer jener „Verbraucher“ eigentlich ist, den das Recht solchermaßen begünstigt und der ersichtlich als Antipode des „Unternehmers“ zu sehen ist. Angesichts des schon erwähnten § 304 Abs. 1 S. 1 InsO liegt es nahe, nach normativen Ansätzen zu suchen. Eine einheitliche Definition des Verbrauchers kennen indes weder das europäische Unionsrecht noch das nationale Recht.32 Vielmehr wird in jedem Regelungsgebiet der Begriff durch den Zweck der einschlägigen Normen bestimmt.33 Aus diesem Grunde ist die Festlegung des Personenkreises durch Auslegung immer im Zusammenhang mit dem jeweiligen zweckgewidmeten Normenverbund vorzunehmen. Dabei kann ein Rechtssubjekt nicht schlechthin als Verbraucher oder Unternehmer bezeichnet werden. Die Eingruppierung erfolgt vielmehr nach der Rolle, in welcher die betreffende Person in der jeweiligen Situation handelt. Je nach Sachlage kann ein Rechtssubjekt also vom Produzenten zum Konsumenten und damit vom Unternehmer zum Verbraucher wechseln und umgekehrt; der Verbraucher wird damit zum Chamäleon.34 Dabei ist der Schutz des solchermaßen charakterisierten privaten Abnehmers keine Innovation der jüngsten Zeit. Spuren eines mehr oder weniger stark verwirklichten Verbraucherschutzes lassen sich früh finden.35 Lebensmittelrechtliche Vorschriften, Schutznormen vor Wucher und andere Preis- und Qualitätsvorschriften existierten bereits in städte- und landesherrlichen Normen des Mit30
Bülow/Arzt (Fn. 25), S. 3 ff. Ausnahmen enthält § 302 InsO, wobei nur Nr. 3 der Vorschrift vertragliche Schuldverhältnisse betrifft. 32 Dreher, JZ 1997, 167; MünchKommBGB/Micklitz, Bd 1., 5. Aufl. 2006, Vor §§ 13, 14 Rn. 64 ff., 88 ff. 33 Staudinger/Weick, 13. Aufl., Neubearb. 2004, § 13 BGB Rn. 23 ff., 30. 34 Vgl. Palandt /Ellenberger (Fn. 29), § 13 Rn. 2. 35 Staudinger/Weick (Fn. 33), Vor §§ 13, 14 BGB Rn. 2. 31
Krisenbewältigung durch juristische Begriffsbildung
105
telalters. Deutlich trat diese Zielrichtung auf nationaler Ebene zudem durch das Gesetz über Abzahlungsgeschäfte vom 16.5.1894 hervor. Bewusster, wenn auch nur punktuell, erfolgte jedoch die Verwirklichung des Verbraucherschutzes mit dem Regierungswechsel Ende der sechziger Jahre. Die neue sozialliberale Regierung unter Willy Brandt versuchte, die Marktwirtschaft stärker zu lenken. Infolgedessen wurden beispielsweise das Gesetz über Allgemeine Geschäftsbedingungen36, das Fernunterrichtungsgesetz, das Reisevertragsgesetz und Novellierungen des Kartellgesetzes, des Abzahlungsgesetzes, des gesamten Lebensmittelrechts sowie des Arzneimittelgesetzes auf den Weg gebracht.37 Eine Verwendung des Wortes Verbraucher oder gar eine Definition, wer Verbraucher sein soll, lässt sich allerdings nicht finden. Vielmehr wurden in der Regel Kaufleute aus dem Anwendungsbereich der jeweiligen (besonders verbraucherschützenden) Regelung ausgenommen, wie etwa in § 8 Abzahlungsgesetz von 1894 oder § 24 des Gesetzes zur Regelung der allgemeinen Geschäftsbedingungen von 1976. Aus diesem Grunde konnten nur solche Personen von dem Schutz profitieren, die auch nach heutiger Sicht als Verbraucher anzusehen wären.38 In jüngerer Zeit erfolgte die gesetzliche Normierung des Verbraucherschutzes im Wesentlichen auf Initiative der europäischen Union. Den Beginn machte das am 16.1.1986 verabschiedete Haustürwiderrufsgesetz39, das auf der Haustürwiderrufsrichtlinie 85/557/EWG40 beruhte. Nach dem Haustürwiderrufsgesetz wurden unter anderem das Gesetz über die Haftung für fehlerhafte Produkte vom 15.12.198941, das auf der Produkthaftungsrichtlinie 85/374/EWG42 basiert, das auf der Verbraucherkreditrichtlinie 87/102/EWG43 beruhende Verbraucherkreditgesetz vom 17.12.199044 und das auf der Pauschalreiserichtlinie45 des Rates vom 13.6.1994 aufbauende Gesetz zur Anpassung des Reiserechts46 erlassen. Ebenso erging das Gesetz über Fernabsatzverträge vom 27.6.200047 in Umsetzung der Fernabsatzrichtlinie 97/7/EG48. Bei nationalen Normen mit europäischem Hintergrund ist daher eine europarechtskonforme Auslegung im Auge zu behalten. Damit stellt sich die Frage nach Gemeinsamkeiten und Unterschie36
BGBl. 1976 I, S. 3317. Müller, Sandra, Der Arbeitnehmer als Verbraucher im Sinne des § 13 BGB, 2005, S. 40 mwN. 38 Medicus, JuS 1996, 761 (766). 39 BGBl. 1986 I, S. 122. 40 Abl. EG Nr. L 372 vom 31.12.1985, S. 31 f. 41 BGBl. 1989 I, S. 2198. 42 Abl. EG Nr. L 210 vom 7.8.1985, S. 29 f. 43 Abl. EG Nr. L 42 vom 12.2.1987, S. 48 f. 44 BGBl. 1990 I, S. 2840. 45 Abl. EG Nr. L 158 vom 23.6.1990, S. 59 ff. 46 BGBl. 1994 I, S. 1322. 47 BGBl. 2000 I, S. 897. 48 Abl. EG Nr. L 144 vom 4.6.1997, S. 19 f. 37
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den zwischen den einzelnen Verbraucherbegriffsverwendungen als Instrument der Krisenbewältigung. Dem soll in der Folge nachgegangen werden.
2
Der Verbraucherbegriff im Unionsrecht
2.1 Verbraucherschutz auf primärrechtlicher Ebene der Europäischen Union Auf primärrechtlicher Ebene formuliert Art. 169 AEUV unter dem Titel XV „Verbraucherschutz“, dass die Union „zur Förderung der Interessen der Verbraucher und zur Gewährleistung eines hohen Verbraucherschutzniveaus […] einen Beitrag zum Schutz der Gesundheit, der Sicherheit und der wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher sowie zur Förderung ihres Rechtes auf Information, Erziehung und Bildung von Vereinigungen zur Wahrung ihrer Interessen“ leistet. Durch Art. 12 und Art. 114 Abs. 3 AEUV wird diese Aufgabenzuweisung auf sämtliche Politiken und Maßnahmen der Union, insbesondere auch auf Rechtsangleichungsmaßnahmen, erstreckt. Mit Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon49 am 1.12.2009 ist nunmehr über Art. 6 Abs. 1 S. 2 EUV auch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7.12.200050 als verbindliches Primärrecht der Europäischen Union einzustufen. In deren Art. 38 ist ausdrücklich normiert, dass die Politiken der Europäischen Union ein hohes Verbraucherschutzniveau sicherstellen. Im Unterschied zu Art. 169 AEUV (i.V.m. Art. 12 und 114 Abs. 3 AEUV) verpflichtet Art. 38 GR-Ch nicht nur die Union, sondern auch die einzelnen Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union, vgl. Art. 51 Abs. 1 S. 1 GR-Ch.51 Auch wenn beide Vorschriften den Verbraucherschutz in Form eines absoluten Berücksichtigungsgebotes herausstellen52, liefern sie dennoch keine Definition des Verbraucherbegriffs.
49
Abl. EG Nr. C 306 vom 17.12.2007, S. 1 ff. Abl. EG Nr. C 364 vom 18.12.2000, S. 1 ff. Mörsdorf, JZ 2010, 759 (762 f.). 52 Mörsdorf, JZ 2010, 759 (761). 50 51
Krisenbewältigung durch juristische Begriffsbildung 2.2
107
Verbraucherschutzrichtlinien der Europäischen Union
a) Haustürwiderrufsrichtlinie Die Haustürwiderrufsrichtlinie vom 20.12.1985 sollte vor Verträgen schützen, die außerhalb von dazu bestimmten Geschäftsräumen ausgehandelt wurden. In Art. 2 der Richtlinie 85/577/EWG wird der Verbraucher als eine natürliche Person beschrieben, die bei dem Geschäft „zu einem Zweck handelt, der nicht beruflichen oder gewerblichen Tätigkeiten zugerechnet werden kann“. b) Verbraucherkreditrichtlinie Durch die Richtlinie 87/102/EWG vom 22.12.1986 soll sichergestellt werden, dass die Verbraucher über die Kreditbedingungen umfassend in Kenntnis gesetzt werden. Gem. Art. 1 Abs. 3 a der Richtlinie ist Verbraucher jede „natürliche Person, die bei den von dieser Richtlinie erfassten Geschäften zu einem Zweck handelt, der nicht einer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit zugerechnet werden kann“. c) Pauschalreiserichtlinie Die Richtlinie 90/314/EWG vom 13.6.1990 regelt Werbung, Abschluss und Abwicklung von Pauschalreiseverträgen. In Art. 2 wird der zu schützende Verbraucher als eine Person definiert, welche die „Pauschalreise bucht oder zu buchen sich verpflichtet“. d) Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen Die am 5.4.1993 erlassene Richtlinie 93/13/EWG soll Verbraucher vor missbräuchlichen Vertragsklauseln schützen. Nach Art. 2 ist als Verbraucher jede natürliche Person anzusehen, „die zu einem Zweck handelt, der nicht ihrer gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann“. e) Teilzeiteigentumsrichtlinie Die sog. Time-Sharing Richtlinie 94/47/EG vom 26.10.199453 bestimmt Informationspflichten und Rücktrittsmöglichkeiten beim Erwerb von Teilnutzungsrechten an Immobilien. Nach Art. 3 der Richtlinie ist Verbraucher eine natürliche Person, die zu privaten Zwecken handelt. f) Fernabsatzrichtlinie Zum Schutz vor ungewollten Verträgen im Fernabsatz wurde die Richtlinie 97/7/EG am 20.5.1997 erlassen. Verbraucher ist danach „jede natürliche Person, 53
Abl. EG Nr. L 280 vom 29.10.1994, S. 83 ff.
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die bei Abschluss von Verträgen im Sinne dieser Richtlinie zu Zwecken handelt, die nicht ihrer gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden können“. g) Verbrauchsgüterkaufrichtlinie Durch die Richtlinie 1999/44/EG vom 25.5.199954 wurde der Verbrauchsgüterkauf geregelt. Vor allem sollten durch die Richtlinie die Gewährleistungsrechte der Verbraucher einen besonderen Schutz erfahren. Verbraucher im Sinne der Richtlinie sollte gem. Art. 1 Abs. 2 „jede natürliche Person [sein], die im Rahmen der unter diese Richtlinie fallenden Verträge zu einem Zweck handelt, der nicht ihrer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit zugerechnet werden kann“. h) Richtlinien über Finanzdienstleistungen In verschiedenen Finanzdienstleistungsrichtlinien55, die dem Verbraucherschutz dienen sollen, wird auf Nachfragerseite nur zwischen „Kunde“, „Kleinanleger“ und „Einleger“ differenziert; auf den Begriff des Verbrauchers wird dagegen nicht abgestellt.
2.3
Fazit
Das Primärrecht liefert keine Definition des Verbraucherbegriffs. Nach dem Wortlaut der exemplarisch aufgezählten Richtlinien56 lässt sich zusammenfassend festhalten, dass als Verbraucher überwiegend eine natürliche Person angesehen wird, die weder zu beruflichen noch zu gewerblichen Zwecken handelt. Dennoch darf nicht übersehen werden, dass die europäischen Normen keinen einheitlichen Verbraucherbegriff verwenden. So soll auch die Pauschalreiserichtlinie Verbraucher bei der Buchung entsprechender Reisen schützen. Verbraucher ist danach aber schon jede Person, die eine Pauschalreise bucht. Von der Richtlinie werden also auch der Selbstständige und die juristische Person erfasst. Weitere EU-Richtlinien im Versicherungsrecht57, welche der „Verbraucherinformation“ dienen, lassen es ausreichen, wenn der Versicherungsnehmer eine natürliche Person ist. Eine Unterscheidung zwischen einem privaten oder gewerblichen Zweck beim Abschluss des Versicherungsvertrages wird nicht vorgenommen. 54
Abl. EG Nr. L 171 vom 7.7.1999, S. 12 ff. So etwa RL 92/49/EWG, RL 92/96/EWG, RL 2004/39/EG. 56 Weitere Richtlinien siehe Staudinger/Weick (Fn. 33), Vor §§ 13, 14 BGB Rn. 16. 57 Art. 31 und Erwägungsgrund 21 der 3. EG-Schadensversicherungsrichtlinie vom 18.6.1992, RL 92/49/EWG, Abl. EG 1992, Nr. L 228, S. 1 und Art. 31 sowie Erwägungsgrund 23 der 3. Lebensversicherungsrichtlinie vom 10.11.1992, RL 92/96/EWG, Abl. EG 1992, Nr. L 360, S. 1. 55
Krisenbewältigung durch juristische Begriffsbildung
109
Teilweise wird der Begriff des Verbrauchers auch nur mittelbar definiert, wie etwa bei der Produkthaftungsrichtlinie58, welche dem Geschädigten nur einen Anspruch gegen den Hersteller gibt, wenn die Sache für den gewöhnlichen privaten Ge- oder Verbrauch bestimmt ist und auch dazu verwendet wurde.
3 3.1
Der Verbraucherbegriff im deutschen Zivilrecht Legaldefinition im Bürgerlichen Gesetzbuch
Zentrale Norm59 für die Bestimmung, wer als Verbraucher gilt und wer nicht, ist im Bürgerlichen Gesetzbuch § 13 BGB, welcher lautet: „Verbraucher ist jede natürliche Person, die ein Rechtsgeschäft zu einem Zwecke abschließt, der weder ihrer gewerblichen noch ihrer selbständigen beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann“. Die Norm steht in Wechselbeziehung zur Definition des Unternehmers in § 14 BGB. Der Gesetzgeber hat damit im Allgemeinen Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches eine Legaldefinition normiert, welche für die Anspruchsgrundlagen im Besonderen Teil, wie z. B. §§ 241a, 310, 312 – 312 d, 481 – 487, 491 – 504, 655 a, 661 a BGB herangezogen wird. Neben der Regelung im Bürgerlichen Gesetzbuch wird u.a. auch im Produkthaftungsgesetz60 ein Schutz vor Schäden aus mangelhaften Sachen normiert, wenn diese ihrer Art nach gewöhnlich für den privaten Ge- oder Verbrauch bestimmt und hierzu von dem Geschädigten hauptsächlich verwendet werden. Eine Verbraucherdefinition lässt sich im Produkthaftungsgesetz aber nicht finden. Hervorzuheben ist dabei, dass der Begriff „Verbraucher“ nicht der Neuzeit entstammt. Nachdem im Mittelalter „verbrauchen“ im Sinne von „gebrauchen“ und „abnützen“ verwendet wurde, diente der „Verbraucher“ später vor allem als Parallelbegriff zum englischen Wort „Consumer“. Im modernen Sprachschatz sollte der Verbraucher also im Gegensatz zum Kaufmann als der letzte Erwerber einer Sache verstanden werden.61 Teilweise werden auch heute neben dem allgemeinen Verbraucherbegriff Formulierungen, wie „Endverbraucher“62 oder „letzter Verbraucher“63 verwendet. Begrifflich gehen aus der Eingrenzung dieser Untergruppen keine Besonderheiten hervor. Beweggrund ist vielmehr bei einer 58
RL 85/374/EWG, in: Abl. EG Nr. L 210 vom 7.8.1985, S. 29 f. Zur Umsetzung in anderen europäischen Rechtsordnungen vgl. Staudinger/Weick (Fn. 33), § 13 BGB Rn. 17 ff. 60 BGBl. 1990 I, S. 2189. 61 Staudinger/Weick (Fn. 33), Vor §§ 13, 14 BGB Rn. 1 mwN. 62 § 3 Nr. 4 Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch. Vgl. auch EuGH NJW 2002, 2697 (2698). 63 Z. B. § 1 RabattG und §§ 6a, 6b UWG aF. 59
110
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Übergabe von einem Verbraucher zu einem anderen, den Wareninhaber zu bestimmten Handlungen zu verpflichten.64
3.2
Verbraucherleitbild als Auslegungskriterium
Neben der formalen Bestimmung, wer Verbraucher ist und damit in den persönlichen Anwendungsbereich der entsprechenden Norm fällt, bedarf es einer Abstimmung des solchermaßen gefundenen Ergebnisses mit dem Verbraucherleitbild.65 Das Leitbild stellt eine normativ-typisierende Modell- oder Zielgröße dar, welche für die Auslegung der einzelnen Merkmale und die Beurteilung des Erwartungshorizonts des Verbrauchers erforderlich ist.66 Vereinfacht dargestellt können drei Grundpositionen unterschieden werden, nämlich das altliberale, das informelle und das schützende Verbraucherleitbild:67
64
Nach dem „altliberalen“ Leitbild ist der Wettbewerb auf dem Markt zur Wahrung der Verbraucherinteressen ausreichend.68 Sollten bestimmte Marktteilnehmer Verbraucher ausnutzen, würde der Konkurrenzkampf zwischen den Anbietern die Benachteiligung ausgleichen. Eines besonderen Schutzes bedarf es folglich nicht. Die Privatautonomie bleibt vollständig gewährleistet. Beim Informationsleitbild wird ein Verbraucher zugrunde gelegt, der seine Interessen wahrnimmt und wirtschaftlich nachvollziehbar handelt. Einziges Problem des Verbrauchers sind seine Informationslücken. Dieses Defizit soll durch die Pflicht zur Informationsvermittlung beseitigt werden. Die hiermit gewonnene Markttransparenz wird nach dem Informationsleitbild zu einem funktionsfähigen Wettbewerb mit aufgeklärten Teilnehmern führen.69 Als strukturell unterlegener Marktteilnehmer wird der Verbraucher beim schützenden Verbraucherleitbild bzw. dem entsprechenden sozialen Modell verstanden.70 Durch die Unterlegenheit soll eine gestörte Vertragsparität gegeben sein, die bis zu einer Fremdbestimmung beim Vertragsinhalt führen
Staudinger/Weick (Fn. 33), Vor §§ 13, 14 BGB Rn. 6. MünchKommBGB/Micklitz (Fn. 32), Vor §§ 13, 14 Rn. 7; a.A. Staudinger/Weick (Fn. 33), § 13 BGB Rn. 5. 66 MünchKommBGB/Micklitz (Fn. 32), Vor §§ 13, 14 Rn. 6. 67 Staudinger/Weick (Fn. 33), § 13 BGB Rn. 2. 68 Dreher, JZ 1997, 167 ff.; Grunsky, BB 1971, S. 1113 (1116 f.). 69 Staudinger/Weick (Fn. 33), § 13 BGB Rn. 4. 70 Denkinger, Der Verbraucherbegriff, 2007, S. 113 ff.; Prütting/Wegen/Weinrich-Prütting, BGB, 5. Aufl., 2010, § 13 Rn. 6; Reich, ZRP 1974, 187 (190). 65
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kann.71 Nach diesem Leitbild ist die Störung so groß, dass Informationen allein den Mangel nicht beheben können. Stattdessen müssen zur Wiederherstellung der Parität weitreichende Schutzvorschriften erlassen werden. In der Literatur ist teilweise sogar die Rede vom Leitbild eines hilflosen, unmündigen und unkritischen Verbrauchers.72 Je nach Zweck und Bedürfnis der zu regelnden Materie werden die Idealtypenmodelle auf nationaler und unionsrechtlicher Ebene kombiniert und abgewandelt. Als Ausgangspunkt für europäische Rechtsakte wird insbesondere auch in der Rechtsprechung des EuGH regelmäßig ein selbstverantwortlicher, aber aufklärungsbedürftiger Bürger zugrunde gelegt.73 So hat das Informationsleitbild mit seinem im Vergleich zum schützenden Verbraucherleitbild geringeren Schutzniveau den Vorteil, dass der freie Fluss der Güter gewährleistet bleibt. Im Gegensatz zu intensiveren Verbraucherschutzvorschriften, wie sie etwa bei der Festlegung von Verpackungsarten gegeben sind,74 besteht zudem nicht die Gefahr einer unverhältnismäßigen Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit gem. Art. 28 AEUV.75 Dagegen wird auf nationaler Ebene der Verbraucherschutz oftmals umfassender ausgestaltet,76 die betreffenden Richtlinien werden nicht nur im Mindestmaß umgesetzt. Zumindest in der Vergangenheit legte der BGH in der Regel seinen Entscheidungen das Schutzmodell zugrunde.77 So orientierte sich die Rechtsprechung bei der Überprüfung von Maßnahmen der Werbung ganz offensichtlich an einem Durchschnittsverbraucher, der die Werbeaussage flüchtig und unkritisch aufnimmt.78 Im Rahmen der Beurteilung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen ging der BGH sogar von der verbraucherfreundlichsten Auslegung der Vertragsklausel aus und stellte auf das Verständnis eines „rechtsunkundigen“ Durchschnittskunden ab.79 Allerdings ist in jüngeren Urteilen eine Annäherung zur Rechtsprechung des EuGH erkennbar.80 Wo ursprünglich bei Re- bzw. Parallelautoimporten auf geringere Ausstattungsmerkmale unübersehbar hingewiesen werden musste, um nicht in den Bereich von irreführender Werbung zu gelan-
71
BVerfGE 89, 214 (233). Blaurock, JZ 1999, 801 (803). 73 Z. B. EuGH vom 7.3.1990, Slg. 1990, I-667. 74 EuGH NJW 1983, 507. 75 Dreher, JZ 1997, 167 (171). 76 Dreher, JZ 1997, 167 (173). 77 Vgl. BGH NJW 1981, S. 867 f. 78 Köhler/Bornkamm, UWG, 28. Aufl., 2010, § 1 Rn. 29. 79 BGH NJW 1981, S. 867 f. 80 MünchKommBGB/Micklitz (Fn. 32), Vor §§ 13, 14 Rn. 11. 72
112
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gen,81 reicht nach neuerer Rechtsprechung des BGH ein in der Werbung enthaltener Hinweis aus, dass es sich um einen EG-Neuwagen handle.82 Laut Bundesgerichtshof mache sich ein „aufmerksamer Verbraucher“ bei einem derartigen Hinweis Gedanken, ob das beworbene Angebot von Angeboten inländischer Händler abweiche.
3.3
Normzweck
Neben dem Wortlaut einer Vorschrift muss auch deren ratio berücksichtigt werden. Verbraucherschutz hat im Allgemeinen den Zweck, die Bevölkerung vor einer Beherrschung des Marktes durch einzelne mächtige Unternehmen und damit vor einer Manipulation der Konsumenten durch unlautere Geschäftspraktiken oder Sicherheitsrisiken neuartiger Produkte zu schützen.83 Im hier interessierenden verbraucherinsolvenzrechtlichen Zusammenhang tritt seine Bedeutung im Hinblick auf die Entschuldung zahlungsunfähiger Personen hinzu. Allerdings verfolgen europäische Rechtsetzungsakte mitunter nicht die gleichen Ziele wie die nationale Normgebung. Bis 1985 sollte das europäische Verbraucherrecht vor allem die Schwächeren schützen. Kennzeichnend dafür sind die Haustürwiderrufs- und die Produkthaftungsrichtlinie. Im Zuge der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte84 wurde das Verbraucherrecht mehr und mehr zur Errichtung eines einheitlichen Binnenmarktes benutzt.85 Dem Verbraucher wurde eine aktive Rolle bei der Realisierung des Binnenmarktes zugedacht. Er sollte selbstbewusst und mit berechtigten Erwartungen seiner Aufgabe nachkommen. Hierzu war die Ausstattung mit den nötigen Kompetenzen und Befugnissen erforderlich. Aus europäischer Sicht ist der Verbraucher also nicht strukturell schwächer als der Unternehmer, sondern vielmehr aufklärungs- und informationsbedürftig.86 Im Gegensatz zur europäischen Betrachtung geht der Schutz des Verbrauchers auf nationaler Ebene in der Regel weiter. Wie oben schon dargelegt, sieht auch das Bundesverfassungsgericht den Verbraucher als strukturell unterlegen an.87 Der Verbraucherschutz bezweckt auf nationaler Ebene also die Korrektur der gestörten Vertragsparität. Das unterschiedliche Schutzniveau zwischen europäischen und nationalen Rechtsakten ist unter normhierarchischen Gesichtspunkten in aller Regel unprob81
BGH NJW-RR 1992, S. 427. BGH NJW 1999, S. 3491 (3493). Blaurock, JZ 1999, S. 801. 84 Vom 17.2.1986, BGBl. II S. 1104. 85 MünchKommBGB/Micklitz (Fn. 32), Vor §§ 13, 14 Rn. 24, 73 ff. 86 MünchKommBGB/Micklitz (Fn. 32), Vor §§ 13, 14 Rn. 77 f. 87 BVerfGE 89, 214. 82 83
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113
lematisch. Die meisten europäischen Verbraucherschutzrichtlinien bezwecken eine Minimalharmonisierung. Anders als bei einer bisher nur vereinzelt geforderten Vollharmonisierung88 können danach die europäischen verhaltensbezogenen Mindeststandards schutzbezogen erweitert werden und alle Anforderungen erfüllen.89 Neben dem Gebot der subsidiären Kompetenzausübung der EU gem. Art. 5 EUV erlaubt auch Art. 169 Abs. 4 AEUV strengere Schutzvorschriften durch die Mitgliedsstaaten.
3.4
Elemente des Verbraucherbegriffs
Von Sonderregelungen abgesehen ist kennzeichnend für den Verbraucherbegriff sowohl im Unionsrecht als auch im nationalen Recht, dass er ein positives personelles Element und zwei negative Sachmomente enthält. a) Personelles Element Nur natürliche Personen können Verbraucher sein. Damit sind juristische Personen vom Anwendungsbereich ausgeschlossen und zwar auch dann, wenn sie in nicht erwerbswirtschaftlicher Absicht Waren erwerben.90 Während der EuGH ausschließlich natürlichen Personen die Verbrauchereigenschaft zuerkennt,91 wird teilweise in der Literatur bei Idealvereinen die entsprechende Charakterisierung von der Vergleichbarkeit mit Privatpersonen abhängig gemacht.92 Soweit Personengesellschaften juristischen Personen gänzlich gleichgestellt sind, fallen sie aus dem Verbraucherbegriff heraus.93 b) Negative Sachmomente Weiterhin darf die Handlung zum einen keiner gewerblichen, zum anderen keiner beruflichen Tätigkeit zuzuordnen sein. Die entsprechende Zurechnung spiegelt ein gewisses wertendes Element wieder.94 In § 13 BGB wird der berufliche Zweck sogar auf selbständige berufliche Tätigkeiten eingeengt und damit der Verbraucherbegriff erweitert.95 Entscheidend ist der objektiv zu bestimmende Zweck.96 Ist die Handlung ausnahmsweise kein Rechtsgeschäft, spielt dies im 88
MünchKommBGB/Micklitz (Fn. 32), Vor §§ 13, 14 Rn. 31 mwN. MünchKommBGB/Micklitz (Fn. 32), Vor §§ 13, 14 Rn. 78. 90 EuGH NJW 2002, 205. 91 EuGH NJW 2002, 205. 92 MünchKommBGB/Micklitz (Fn. 32), § 13 Rn. 12 f. 93 BGH NJW 2002, 368. 94 Staudinger/Weick (Fn. 33), Vor §§ 13, 14 BGB Rn. 18, § 13 BGB Rn. 63. 95 Staudinger/Weick (Fn. 33), § 13 BGB Rn. 1. 96 BGH NJW 2008, 435 (436). 89
114
Curt Wolfgang Hergenröder
Hinblick auf die Verbrauchereigenschaft keine Rolle.97 Auch Handlungen außerhalb eines Rechtsgeschäfts werden erfasst, so z. B. Gewinnzusagen gem. § 661 a BGB. Kann ein Zusammenhang zum Haushalt hergestellt werden, spricht dies für eine private Zweckbestimmung.98 Für die Beweislast gelten Besonderheiten nur, wenn sie in der Vorschrift niedergelegt sind; nach h. M. gibt es keinen Grundsatz „in dubio pro Verbraucher“.99 Bei gemischten Zwecken ist die Verbrauchereigenschaft zumindest dann zu bejahen, wenn der nichtprivate Zweck eine ganz untergeordnete Rolle spielt.100 Weitgehend unproblematisch wird die Einordnung von arbeitnehmerähnlichen Personen gesehen. Unabhängig vom Ausschluss der selbständig beruflichen Tätigkeit und der relativ freien Tätigkeit solcher Personen sind sie den unselbständigen Arbeitnehmern gleichgestellt.101 Im Fall eines Existenzgründers ist wohl trotz gegenteiliger Ansichten von keinem privaten Zweck auszugehen.102 Ebenso wird bei atypischen und branchenfremden Nebengeschäften zu entscheiden sein.103 Eine Berufung auf die Verbrauchereigenschaft ist allerdings nach Treu und Glauben versperrt, wenn der Rechtsinhaber vorspiegelt, gerade kein Verbraucher zu sein.104
3.5
Diskrepanz zwischen unionsrechtlichem und nationalem Verbraucherbegriff
Nach dem Unionsrecht ist der Verbraucher eine natürliche Person, die in bestimmten typisierten Situationen schutzbedürftig ist und selbstbewusst auf die Verwirklichung des Binnenmarktes hinwirkt.105 Dem Leitbild und der Kompetenzverteilung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten entsprechend vertritt der EuGH einen engen Verbraucherbegriff. Diese Auslegung ist unabhängig davon, ob der Beurteilung eine minimalharmonisierende Richtlinie oder eine abschließende Regelung zugrunde liegt. Danach steht die Marktteilnahme zu privaten Zwecken im Vordergrund. Eine in der Literatur geforderte Auslegungsregel „in dubio pro consumatore“ konnte sich vor dem Hintergrund der 97
Staudinger/Weick (Fn. 33), § 13 BGB Rn. 25 ff. MünchKommBGB/Micklitz (Fn. 32), § 13 Rn. 38. 99 Staudinger/Weick (Fn. 33), § 13 BGB Rn. 68. 100 EuGH, Rs. C-464/01, NJW 2005, 653; Streitstand vgl. Staudinger/Weick (Fn. 33), § 13 BGB Rn. 44 ff. 101 MünchKommBGB/Micklitz (Fn. 32), § 13 Rn. 48. 102 EuGH, Rs. C-269/95, JZ 1998, 896.; BGH NJW 1994, 2759; 2005, 1273 ff.; lediglich die §§ 491 bis 505 BGB sollen gem. § 507 BGB auch für Existenzgründer gelten. 103 MünchKommBGB/Micklitz (Fn. 32), § 13 Rn. 58 ff. 104 BGH NJW 2005, 1045. 105 MünchKommBGB/Micklitz (Fn. 32), § 13 Rn. 3. 98
Krisenbewältigung durch juristische Begriffsbildung
115
EuGH-Rechtsprechung zu einem engen Verbraucherbegriff nicht durchsetzen. Nach deutschem Verständnis äußert sich demgegenüber die strukturelle Unterlegenheit der natürlichen Person in der jeweiligen Situation.106 Der normhierarchisch unproblematischen erweiterten Auslegung des unionsrechtlichen Verbraucherbegriffs durch nationale Gewalten, insbesondere Gesetzgebung und Rechtsprechung, wird daher teilweise mit Skepsis begegnet.
4
Arbeitsrecht
4.1 Der Arbeitnehmer als Verbraucher Wie das traditionelle Verbraucherschutzrecht dient auch das Arbeitsrecht dem Schutz schwächerer Personen. Gerade beim Arbeitnehmer offenbart sich die strukturelle Unterlegenheit gegenüber dem Arbeitgeber. Offensichtlich wird diese Eigenschaft an dem für den Arbeitnehmer charakteristischen Merkmal der persönlichen Abhängigkeit. Nach allgemeiner Meinung ist der Arbeitnehmer eine Person, die aufgrund eines Arbeitsvertrages dem Arbeitgeber zur Leistung von Diensten nach dessen Weisungen verpflichtet ist.107 Damit erfüllt jeder Arbeitnehmer die Tatbestandsmerkmale des § 13 BGB: Er ist eine natürliche Person, die weder zu gewerblichen noch zu selbständigen beruflichen Zwecken ein Rechtsgeschäft abgeschlossen hat.108 Nach einer langen Zeit der akademischen Auseinandersetzung109 hat sich auch das BAG110 für eine Einbeziehung des Arbeitnehmers in den Verbraucherbegriff des § 13 BGB entschieden. Das Gericht stellt dabei zunächst auf den Wortlaut der Norm ab, welcher einen rechtstechnischen Oberbegriff bezeichne. Neben der systematischen Stellung im Allgemeinen Teil des BGB rekurriert das BAG auf die Entstehungsgeschichte der Norm, wonach die Übernahme des § 24 a AGBG ohne die Bereichsausnahme für das Arbeitsrecht in § 13 BGB und § 310 Abs. 3 BGB einem engen Verbraucherbegriff entgegenstehe. Darüber hinaus werde das Ergebnis durch § 15 UKlaG bestätigt. Nach der Norm könnten Unterlassungsklagen bei Klauselverstößen gegen die §§ 307 ff. BGB und verbraucherschutzwidrigen Praktiken im Arbeitsrecht nicht erhoben werden. Der Gesetzgeber müsse den Arbeitnehmer also als Verbraucher angesehen haben.111 Keine Rolle spiele dabei, ob das Rechtsgeschäft 106
MünchKommBGB/Micklitz (Fn. 32), § 13 Rn. 4. Zöllner/Loritz/Hergenröder/Hergenröder, Arbeitsrecht, 5. Aufl., 2008, S. 34 ff. 108 A.A. Staudinger/Weick (Fn. 33), § 13 BGB Rn. 53 a. E. 109 Staudinger/Weick (Fn. 33), § 13 BGB Rn. 53 mwN. 110 BAG NZA 2005, 1111; NZA 2006, 423; vgl. auch BVerfG NZA 2007, 85. 111 ErfKommArbR/Preis, 10. Aufl., 2010, § 611 BGB Rn. 182. 107
116
Curt Wolfgang Hergenröder
einen Bezug zum Arbeitsverhältnis habe oder nicht.112 Dagegen wurde im Schrifttum113 lange Zeit die Auffassung vertreten, ein Arbeitnehmer könne kein Verbraucher sein. Im Wesentlichen stellte man dabei auf den allgemeinen Sprachgebrauch ab. Ein Verbraucher soll demzufolge eine Person sein, die am Markt als Nachfrager Waren oder Dienstleistungen eines Unternehmers zum privaten Verbrauch erwirbt. Im Gegensatz dazu „verkaufe“ der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung gegen ein Entgelt und erst dieses Entgelt ermögliche die Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen. Aufgrund des fehlenden Bezuges zum Kauf von Waren oder Dienstleistungen verbiete sich eine Subsumtion des Arbeitnehmers unter den Verbraucherbegriff.114 Vor dem Hintergrund der systematischen Stellung des § 13 im Allgemeinen Teil des BGB und der vielfach konsumunabhängigen Regelungen in anderen Rechtsquellen vermag eine vorwiegend am historischen Wortsinn angelegte Auslegung nicht zu überzeugen. Neben kleineren Abweichungen wie etwa dem „Handeln bei Geschäften“ statt dem „Abschluss eines Rechtsgeschäftes“ ist sicherlich der bedeutsamste Unterschied zwischen § 13 BGB und dem „europäischen Verbraucherbegriff“ der nur beschränkte Ausschluss der selbständigen beruflichen Rechtsgeschäfte im nationalen Recht im Gegensatz zur völligen Ausgrenzung aller beruflich veranlassten Geschäfte auf europäischer Ebene.115 Entgegen einer vereinzelt vertretenen Auffassung, die auch im europäischen Verbraucherrecht nur selbständige berufliche Tätigkeiten ausgegrenzt sieht,116 wird der Arbeitnehmer, der etwa Arbeits- und Aufhebungsverträge abschließt oder Berufskleidung kauft, vom europäischen Verbraucherbegriff nicht geschützt. Derartige Verträge werden ausgeschlossen, weil sie Zwecke verfolgen, die unmittelbar und allein der Berufsausübung dienen.
4.2
Verbraucherschutz als Arbeitnehmerschutz
Durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz kam es auch auf dem Gebiet der Allgemeinen Geschäftsbedingungen zu Neuerungen. Während früher für das Arbeitsrecht in § 23 Abs. 1 AGBG aF. eine Bereichsausnahme vorgesehen war, kann heute nach § 310 Abs. 3 BGB eine Überprüfung von Formulararbeitsverträgen stattfinden. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass ein freies Aushandeln 112
Müller, Sandra, Der Arbeitnehmer als Verbraucher im Sinne des § 13 BGB, 2005, S. 87 ff. Bauer/Kock, DB 2002, 42; Henssler, RdA 2002, 129; Hromadka, NJW 2002, 2523; Mohr, AcP 2004, 660. So heute noch Zöllner/Loritz/Hergenröder/Zöllner (Fn. 107), S. 141. 114 Henssler, RdA 2002, 129 (134). 115 Z. B. HaustürwiderrufsRL 85/557/EWG, Abl. EG Nr. L 372 vom 31.12.1985, S. 31 f. 116 Faber, ZEuP 1998, 854 (871 ff.). 113
Krisenbewältigung durch juristische Begriffsbildung
117
eines Arbeitsvertrages ohnedies kaum vorkommt, regelmäßig gibt der Arbeitgeber den Vertragsinhalt vor. Der Grund für die frühere Ausgrenzung des Arbeitsrechts war die Überlegung, dass der Arbeitnehmer bereits durch besondere Schutzvorschriften, insbesondere durch kollektivrechtliche Vereinbarungen abgesichert sei.117 Demgegenüber wird nunmehr vom BAG ein Arbeitsvertrag als Verbrauchervertrag im Sinne des § 310 Abs. 3 BGB angesehen.118 Im Übrigen sind gem. § 310 Abs. 4 S. 2 BGB die im Arbeitsrecht geltenden Besonderheiten angemessen zu berücksichtigen, so dass unbillige Ergebnisse vermieden werden können. Die Frage, ob ein Arbeitnehmer als Verbraucher anzusehen ist, wurde auch bei der Zinsberechnung gem. § 288 Abs. 2 BGB relevant. Das BAG ließ allerdings die Entscheidung der Frage seinerzeit offen.119 Es wies darauf hin, dass mit § 288 BGB eine EU-Richtlinie120 umgesetzt werden sollte, welche nur im Geschäftsverkehr „zwischen Unternehmen oder zwischen Unternehmen und öffentlichen Stellen“ den erhöhten Zinssatz gewähren wollte. Folglich sei zumindest eine einschränkende Auslegung bezüglich dieser Rechtsgeschäfte geboten. Ebenso verfuhr das BAG bei einer am Arbeitsplatz geschlossenen arbeitsrechtlichen Beendigungsvereinbarung. Wiederum ließ das BAG offen, ob ein Arbeitnehmer Verbraucher im Sinne des § 13 BGB sei. Stattdessen lehnte das Gericht ein Widerrufsrecht nach § 312 Abs. 1 BGB i. V. m. § 355 BGB ab, weil eine Beendigungsvereinbarung am Arbeitsplatz nach der Entstehungsgeschichte der Norm, der gesetzlichen Systematik sowie dem Sinn und Zweck derselben kein Haustürgeschäft i. S. d. § 312 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BGB darstelle.121 Die Entscheidungen zeigen, dass die Verbrauchereigenschaft eines Arbeitnehmers nicht abstrakt bestimmbar ist, sondern ein etwaiger funktioneller Schutz erst aus dem Zusammenhang mit der jeweiligen Norm zu folgern ist.122 Anderes gilt freilich im Verbraucherinsolvenzverfahren, welches den Arbeitnehmer entsprechend § 304 Abs. 1 S. 1 InsO regelmäßig erfasst.
117
BT-Drucks. VII, Nr. 3919, S. 41. BAG ZIP 2005, 1699 (1703); NJW 2005, 3305 (3309). 119 BAG NZA 2005, 694 (697). 120 RL 2000/35/EG vom 29.06.2000 in: Abl. EG Nr. L 200, S. 35. 121 BAG ZIP 2004, 1561 (1564). 122 Benecke/Pils, ZIP 2005, 1956. 118
118 5
Curt Wolfgang Hergenröder Insolvenzrecht
5.1 Verbraucherbegriff der Insolvenzordnung Wie schon eingangs ausgeführt, hat der Gesetzgeber besondere Regelungen für ein Verbraucherinsolvenzverfahren getroffen.123 Abgesehen von der Überschrift des neunten Teils der Insolvenzordnung „Verbraucherinsolvenzverfahren und sonstige Kleinverfahren“ wird der Begriff des Verbrauchers jedoch in der Insolvenzordnung nicht ausdrücklich verwendet.124 Vielmehr beschränkt § 304 Abs. 1 InsO den Anwendungsbereich des neunten Abschnittes auf natürliche Personen. In Satz 1 der Norm wird zudem bestimmt, dass die natürliche Person eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit weder ausüben noch ausgeübt haben darf. Eine Ausnahme ist im darauf folgenden Satz 2 für Schuldner vorgesehen, die ihre selbständige wirtschaftliche Tätigkeit aufgegeben haben, überschaubares Vermögen besitzen und gegen die keine Forderungen aus Arbeitsverhältnissen bestehen. Obwohl der Verbraucherbegriff der Insolvenzordnung mit den übrigen Begriffsbestimmungen nicht völlig übereinstimmt,125 bestehen zumindest weitgehende Gemeinsamkeiten zum „europäischen“ Verbraucherbegriff und dem des § 13 BGB. Mithin sind nur natürliche Personen vom Anwendungsbereich erfasst und gewerblich sowie selbstständig beruflich handelnde Schuldner werden bis auf die beschränkte Gleichstellung in § 304 Abs. 1 S. 2 InsO ausgeklammert, kommen mithin nicht in den Genuss eines vereinfachten Verfahrens. Im Unterschied zum Verbraucherschutz im allgemeinen Zivilrecht auf nationaler und europäischer Ebene, der weitgehend der Wettbewerbs- und Marktverbesserung sowie dem Schutz des Verbrauchers dient, verfolgt das Verbraucherinsolvenzverfahren das Ziel, das Verfahren für den Verbraucher und die anderen Beteiligten überschaubar und mit möglichst geringen Kosten abzuwickeln.126 Es soll zusammen mit der Restschuldbefreiung der zahlungsunfähigen Person einen Ausweg aus der finanziellen Krise weisen.
5.2 Besonderheiten der Gesamtvollstreckung Die einzelnen (positiven und negativen) Tatbestandsmerkmale des Verbraucherbegriffs in § 304 InsO werden wie im allgemeinen Zivilrecht verstanden. Zwi123
FK-InsO/Kothe, 5. Aufl., 2009, § 304 Rn. 1. MünchKommInsO/Ott/Vuia, 2. Aufl., 2008, § 304 Rn. 50. 125 Haarmeyer/Wutzke/Förster/Smid, InsO, 3. Aufl., 2001, § 304 Rn. 3; Hess/Weis/Wienberg, InsO, 2. Aufl., 2001, § 304 Rn. 17. 126 MünchKommInsO/Ott/Vuia (Fn. 124), InsO, § 304 Rn. 51. 124
Krisenbewältigung durch juristische Begriffsbildung
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schen einer „selbstständigen wirtschaftlichen Tätigkeit“ im Sinne des § 304 Abs. 1 InsO und einer „gewerblichen bzw. selbständigen beruflichen Tätigkeit“ wie etwa in § 13 BGB bestehen im Ergebnis keine Unterschiede bei der Auslegung.127 Abweichungen können sich allerdings infolge der Beschränkung auf das einzelne Rechtsgeschäft bei § 13 BGB und der Gesamtbetrachtung der Tätigkeit durch die natürliche Person bei der Gesamtvollstreckung und damit im Insolvenzrecht ergeben.128 So gilt ein persönlich haftender Gesellschafter einer OHG oder KG als Kaufmann, weil er als eigentlicher Unternehmensträger angesehen wird.129 Ebenso ist bei einem geschäftsführenden Alleingesellschafter einer GmbH und wohl auch bei einer mehrheitlichen Beteiligung einer natürlichen Person an einer AG zu entscheiden.130 Diesem Personenkreis bleibt also das Verbraucherinsolvenzverfahren versagt, ihnen steht wie den juristischen Personen das Regelinsolvenzverfahren offen. Dagegen muss ein geschäftsführender Alleingesellschafter einer GmbH beim Kauf eines Staubsaugers für den privaten Gebrauch an der Wohnungshaustür als Verbraucher im Sinne des § 13 BGB angesehen werden, ihm stehen die Rechte nach §§ 355, 312 BGB zu. Nachdem § 304 Abs. 1 S. 1 InsO vom Schuldner als „natürliche Person, die keine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit ausübt oder ausgeübt hat“, spricht, erfasst die Vorschrift gerade die abhängig Beschäftigten bzw. diejenigen, welche mit Arbeitslosigkeit zu kämpfen haben.131 Standen jahrzehntelang allein Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung der Arbeitgeberseite, also der Selbständigen, im Zentrum der Aufmerksamkeit, so hat die Einführung der Verbraucherinsolvenz mit anschließender Restschuldbefreiung dazu geführt, dass auch der Insolvenz des Arbeitnehmers vermehrt Aufmerksamkeit zu schenken ist. Der Arbeitnehmer ist neben dem arbeitslosen Menschen der „Verbraucher“ im Sinne des Insolvenzrechts schlechthin.
5.3 Verbraucherbegriff und Restschuldbefreiung im vereinfachten Verfahren Gerade im Hinblick auf die finanzielle Überforderung natürlicher Personen wird die systemische Bedeutung des Verbraucherbegriffs deutlich, wenn durch § 304 Abs. 1 BGB juristischen Personen das vereinfachte Verbraucherinsolvenzverfahren versagt wird und zudem für diese Schuldnergruppe entsprechend § 286 InsO auch keine Restschuldbefreiung gewährt werden kann. Denn juristische Personen 127
FK-InsO/Kothe (Fn. 123), § 304 Rn. 6. FK-InsO/Kothe (Fn. 123), § 304 Rn. 7. 129 BGH NJW 2006, 917. 130 Braun/Buck, InsO, 3. Aufl., 2007, § 304 Rn. 17. 131 Zu diesem Problemkreis eingehend Hergenröder, ZVI 2011, 1. 128
120
Curt Wolfgang Hergenröder
sind keinem Nachforderungsrecht ausgesetzt, weil sie mangels Vermögens aufgelöst (§ 262 Abs. 1 Nr. 3 AktG, § 60 Abs. 1 Nr. 4 GmbHG) und dann in der Regel im Register gelöscht werden (§ 394 Abs. 1 S. 2 FamFG). Angesichts dieser legislativen Entscheidung besteht kein Anlass, juristische Personen als „Verbraucher“ im Sinne des Insolvenzrechts zu qualifizieren. Natürlichen Personen bleiben ihre Verbindlichkeiten demgegenüber erhalten. Diesen Schuldnern soll die Chance eröffnet werden, sich finanziell zu erholen und eine neue Existenz aufbauen zu können.132 Der finanziellen Überforderung der weder gewerblich noch sonst selbstständig beruflich tätigen Personen – also den besonders schutzwürdigen „typischen“ Verbrauchern – trägt § 304 Abs. 1 S. 1 BGB Rechnung.
6
Europäisches und nationales Zivilverfahrensrecht
6.1 Zivilprozessrecht der Europäischen Union Zuständigkeitsregelungen für Verbrauchersachen enthalten Art. 15 bis 17 EuGVVO. Nach Art. 15 Abs. 1 EuGVVO ist Verbraucher eine Person, die einen Vertrag zu einem Zweck geschlossen hat, welcher nicht der beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit dieser Person zugerechnet werden kann. Die Auslegung des Verbraucherbegriffs erfolgt dabei autonom, wobei in erster Linie Systematik und Zielsetzung der Verordnung zu berücksichtigen sind. Wie im übrigen Unionsrecht, ist auch hier der nicht berufs- oder gewerblich handelnde Privatverbraucher gemeint. Ob allerdings eine der nichtselbständigen beruflichen Tätigkeit zurechenbare Handlung, wie der Kauf von Arbeitskleidung durch einen Arbeitnehmer, unter den Anwendungsbereich fällt, muss aufgrund der engen Begriffsauslegung in der Rechtsprechung des EuGH bezweifelt werden. Ein privater Verbrauch bzw. Bedarf ist bei einem solchen Geschäft gerade nicht erkennbar. In jedem Fall muss die Verbrauchereigenschaft auf Kläger- oder Beklagtenseite in Person vorhanden sein; eine von einem Verbraucher abgetretene Forderung genügt nicht.
132
Zu den Gründen der Restschuldbefreiung näher Hergenröder, in: Hadding/Hopt/Schimansky (Hrsg.), Verbraucherschutz im Kreditgeschäft. Compliance in der Kreditwirtschaft (Schriftenreihe der Bankrechtlichen Vereinigung Bd. 29), 2009, S. 39 (52 ff.); siehe auch dens., DZWIR 2009, 221 (228 ff.).
Krisenbewältigung durch juristische Begriffsbildung
121
6.2 Zivilprozessordnung Auch im Zivilprozessrecht finden sich Normen, welche den Verbraucherbegriff zugrunde legen. So wurde für Klagen aus Haustürgeschäften im Sinne des § 312 BGB für den Verbraucher ein zusätzlicher besonderer und für den Unternehmer ein ausschließlicher Gerichtsstand begründet, vgl. § 29 c Abs. 1 ZPO. Wer Verbraucher im Sinne des § 29 c ZPO ist, bestimmt sich wie im materiellen Recht nach § 13 BGB.133 Weiter dienen die §§ 29 Abs. 2, 38 Abs. 1 ZPO dem Schutz der ökonomisch oder intellektuell Schwächeren. Den Gläubigern soll es verwehrt bleiben, unter Ausnutzung von Gerichtsstandsvereinbarungen Versäumnisurteile gegen solche Vertragspartner zu erstreiten.134 Im Gegensatz zu Vorschriften jüngeren Datums erfolgt die Abgrenzung des durch diese Zuständigkeitsvorschriften privilegierten Personenkreises jedoch nur mittelbar über den Begriff des Verbrauchers. Vielmehr wird der Anwendungsbereich von §§ 29 Abs. 2, 38 Abs. 1 ZPO auf Kaufleute, juristische Personen des öffentlichen Rechts sowie öffentlich-rechtliches Sondervermögen beschränkt. Die Abgrenzung erfolgt also rein subjektbezogen. Werden die genannten Voraussetzungen in der Person der Prozesspartei nicht erfüllt, ist weder eine Gerichtsstandsvereinbarung über den Erfüllungsort zulässig noch kann das zuständige Gericht ohne weiteres nach § 38 Abs. 1 ZPO festgelegt werden. Schließlich bestimmt § 1031 Abs. 5 ZPO für Schiedsvereinbarungen, an denen ein Verbraucher beteiligt ist, eine besondere Form. Danach muss die Schiedsvereinbarung in einer eigenhändig unterzeichneten Urkunde enthalten sein, um den Verbraucher nicht bei umfangreichen Klauselwerken ohne seine Kenntnis einer Schiedsvereinbarung zu unterwerfen. Der Verbraucherbegriff orientiert sich dabei wiederum an § 13 BGB.135 Im Übrigen bestehen noch weitere Berührungspunkte mit Verbrauchervorschriften, etwa in § 688 Abs. 2 Nr. 1 ZPO. In der Regel nehmen diese Vorschriften auf die einschlägigen Regelungen des BGB Bezug, so dass kein spezifisch prozessrechtlicher Verbraucherbegriff geprägt wird.
7
Internationales Privatrecht
Auch bei Sachverhalten mit Auslandsberührung muss dem Verbraucherschutz Rechnung getragen werden. So trifft Art. 6 Rom I-VO136 eine besondere Regelung für die kollisionsrechtliche Behandlung von Verbraucherverträgen. Die 133
Zöller/Vollkommer, ZPO, 28. Aufl., 2010, § 29 c Rn. 1. BT-Drucks. VII, Nr. 1384, S. 3. Zöller/Geimer (Fn. 123), § 1031 Rn. 35. 136 VO (EG) Nr. 593/2008, Abl. EU 2008 Nr. L 177, S. 6. 134 135
122
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Vorschrift soll dem strukturellen Informations- und Erfahrungsungleichgewicht des Verbrauchers gegenüber dem professionellen Vertragspartner Rechnung tragen.137 In Art. 6 Abs. 1 Rom I-VO wird ein Verbraucher als eine natürliche Person definiert, welche einen Vertrag zu einem Zweck abschließt, der nicht ihrer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit zugerechnet werden kann. Im Vergleich zur Vorgängernorm des Art. 29 EGBGB138 wurde unter anderem durch die Aufnahme der Wörter „natürliche Person“ und der Aufhebung der Vertragstypenbegrenzung in Abs. 1 (nur „ein Vertrag“ statt „bei Verträgen über die Lieferung beweglicher Sachen oder die Erbringung von Dienstleistungen“) auch eine Konkretisierung hin zum unionsrechtlichen Verbraucherbegriff vorgenommen.139 Wieder muss der Vertragszweck also dem privaten Lebensbereich der natürlichen Person zugeordnet werden können,140 Geschenke an Verwandte und private Freunde sind nicht ausgeschlossen.141 Die Problematik um Geschäfte im Zusammenhang mit einer unselbständigen Tätigkeit, wie dem Kauf von Arbeitskleidung und eigenem Arbeitswerkzeug, stellt sich auch im Rahmen dieser Vorschrift. Von der wohl überwiegenden Meinung in der Literatur werden derartige Geschäfte für die Qualifikation als „Verbraucher“ als unschädlich angesehen.142 Ebenso vertritt die wohl herrschende Auffassung in der Literatur,143 dass eine überwiegende Privatbezogenheit des Geschäfts für die Verbrauchereigenschaft reicht, während der EuGH eine ganz untergeordnete Rolle des beruflichgewerblichen Zwecks fordert.144 Unterschiede zwischen Rechtsprechung und Literatur bestehen auch bei der Abtretung. Während der EuGH145 im Fall einer Abtretung durch einen Verbraucher an einen gewerblichen Zessionar den verbraucherschützenden Gerichtsstand gem. Art. 13 GVÜ (heute Art. 15 EuGVVO) verneinte, sieht die Literatur146 trotz der Vergleichbarkeit der Normen keinen Wegfall der Schutzbedürftigkeit auf kollisionsrechtlicher Ebene.
137
Staudinger/Magnus, 13. Aufl., 2002, Art. 29 EGBGB Rn. 1. Art. 6 Rom I-VO ersetzt seit 17.12.2009 Art. 29 EGBGB. Art. 29 EGBGB führte schon 1986 eine Definition des Verbraucherbegriffs in das deutsche Internationale Privatrecht ein. Die Vorschrift ging wiederum auf Art. 5 des Römischen EWG-Übereinkommens über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (EVÜ) vom 19.6.1980, Abl. EG 1980 Nr. L 266, zurück. 139 Palandt/Thorn (Fn. 29), Rom I Art. 6 Rn. 1. 140 Palandt/Thorn (Fn. 29), Rom I Art. 6 Rn. 5. 141 Staudinger/Magnus (Fn. 137), Art. 29 EGBGB Rn. 33. 142 MünchKommBGB/Martiny, Band 10, 5. Aufl. 2010, Rom I-VO, Art. 6 Rn. 7 m.w.N. 143 MünchKommBGB/Martiny (Fn. 142), Rom I-VO, Art. 6 Rn. 9. 144 EuGH NJW 2005, 653. 145 EuGH NJW 1993, 1251. 146 Staudinger/Magnus (Fn. 137), Art. 29 EGBGB Rn. 37. 138
Krisenbewältigung durch juristische Begriffsbildung 8
123
UN-Kaufrecht
Im UN-Kaufrecht von 1980 wird der Verbraucherbegriff nicht direkt definiert. In Art. 2 lit. a werden aber Käufe vom Anwendungsbereich ausgenommen, sofern sie „Waren für den persönlichen Gebrauch oder den Gebrauch in der Familie oder im Haushalt“ sind, „es sei denn, dass der Verkäufer vor oder bei Vertragsabschluss weder wusste noch wissen musste, dass die Ware für einen solchen Gebrauch gekauft wurde“.147 Im Hinblick auf ein einheitliches UN-Kaufrecht hat die Auslegung von Art. 2 lit. a unabhängig von nationalen Begriffsbestimmungen zu erfolgen.148 Trotz der nicht ausdrücklichen Begrenzung auf natürliche Personen ist auch hier eine Eingrenzung auf den privaten Bereich erkennbar. Mit dem Merkmal „persönlicher Gebrauch oder den Gebrauch in der Familie oder Haushalt“ soll ein privater Verwendungszweck zum Ausdruck gebracht werden. Der private Verwendungszweck steht im Gegensatz zu einer beruflichen oder gewerblichen Zweckrichtung. Aus diesem Grunde wird der Kauf von Berufsbekleidung oder -ausrüstung vom UN-Kaufrecht erfasst.149 Zudem kommt ein Ausschluss nur in Frage, wenn der Vertrag ausschließlich private Zwecke verfolgt; eine gemischte Zweckrichtung ist also nicht ausreichend.150 Bei der Abstellung auf die Vorstellung des Verkäufers handelt es sich wohl um eine besondere Ausformung des Verbots venire contra factum proprium. Da das Unionsrecht und die nationalen Rechtsnormen eine so starke Einschränkung nicht kennen, kann es zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. UN-Kaufrecht und deutsches Verbraucherrecht, dessen Anwendbarkeit nach Art. 3 ff. Rom I-VO zu ermitteln ist, sind beispielsweise anwendbar, wenn ein Kaufvertrag unter beide Anwendungsbereiche fällt, weil die Ware für den persönlichen Gebrauch gekauft wurde, der Verkäufer dies aber nicht wissen musste. Bei der Überschneidung in diesem Grenzbereich dürfte dem UN-Kaufrecht im Rahmen seines sachlichen Regelungsbereichs Vorrang zukommen.151
9
Sonstige Verbraucherschutznormen
Verbraucherbegriffsbestimmungen lassen sich neben dem Zivilrecht auch in anderen Rechtsgebieten finden. Beispielsweise wird im Lebensmittel- und Fut147
MünchKommBGB/Micklitz (Fn. 32), Vor §§ 13, 14 Rn. 42. Staudinger/Weick (Fn. 33), § 13 BGB Rn. 11. 149 Staudinger/Magnus, , Wiener UN-Kaufrecht, Neubearb. 2005, Art. 2 CISG, Rn. 11 ff. 150 Schlechtriem/Schwenzer/Ferrari, UN-Kaufrecht, 5. Aufl., 2008, Art. 2 Rn. 12. 151 Staudinger/Magnus (Fn. 137), Art. 2 CISG Rn. 10; Bülow/Arzt (Fn. *), S. 198; MünchKommBGB/Martiny (Fn. 142), UN-Kaufrecht, Art. 90 Rn. 103. 148
124
Curt Wolfgang Hergenröder
termittelgesetzbuch152 in § 3 Nr. 4 der Verbraucher als eine Person angesehen, der ein „Bedarfsgegenstand zur persönlichen Verwendung oder zur Verwendung im eigenen Haushalt abgegeben wird“. Auch in diesem Fall wird durch das Tatbestandsmerkmal der „persönlichen Verwendung“ ein Ausschluss von juristischen Personen und professionellem Bewegzweck des Empfängers deutlich.
10 Krisenbewältigung durch Verbraucherschutz als Prävention und Reaktion Ausgangspunkt der Überlegungen war die Frage, wie die Rechtsordnung der Krise der Privatautonomie und der damit verbundenen finanziellen Krisensituation einer Vielzahl von Rechtssubjekten im Hinblick auf die ökonomische, soziale und intellektuelle Überlegenheit einer Vertragspartei begegnet. Das Verbraucherprivatrecht kann auf zweifache Weise dem Verbraucher bei der Bewältigung seiner finanziellen Krisensituation dienlich sein: Neben dem nachträglich ansetzenden Verbraucherinsolvenzverfahren mit anschließender Restschuldbefreiung dienen die verbraucherschützenden Vorschriften auf präventive Weise dem Schuldnerschutz, indem bereits dem Entstehen von Schulden entgegengewirkt wird, sei es durch vertragsabschlussrelevante vorherige Aufklärung und Information oder durch Einräumung eines Widerrufsrechts. Betrachtet man die Verbraucherdefinitionen in den unterschiedlichen Rechtsvorschriften, dann treten in der Regel zwei Merkmale hervor. Zum einen ist dies die Beschränkung auf natürliche Personen (Subjektsbezug) und zum anderen die Ausgrenzung von gewerblich oder beruflich zurechenbaren Tätigkeiten (situativer Objektsbezug). Trotz vereinzelter Abwandlungen scheinen diese Eckpunkte das Wesen des Verbraucherbegriffs auszumachen. Der Schuldnerschutz durch Sonderrechte für Verbraucher lässt sich also rechtsgebietsübergreifend auf einen gemeinsamen Kern zurückführen. Bedeutsam ist dabei, dass sich dieser gemeinsame Kern wie ein roter Faden von der Begründung des Vertragsverhältnisses über die prozessuale Durchsetzung bis hin zur Entschuldung zieht.
152
BGBl. 2009, I S. 2205.
Krise und Schulden – Eine (rechtliche) Begriffsklärung Carsten Homann
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Das Verhältnis von Sprache und Gesetz
Mit Artikel 20 Absatz 3 Satz 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland hat sich die juristische Methodik des Rechtspositivismus1 im deutschen Recht niedergeschlagen. Die Vorschrift lautet: „Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Recht und Gesetz gebunden.“ Nach dem Rechtspositivismus hat sich die juristische Tätigkeit allein auf die Anwendung von aus dem Gesetzestext direkt entnommenen Fallregulierungen zu fokussieren; mit der schriftlichen Fixierung in Gesetzen soll das gesprochene Recht antizipatorisch und eindeutig festgelegt werden.2 Die Anwendung dieser positiven Rechtsregeln erfolgt durch die sog. Subsumtion, also die Unterordnung eines einzelnen zu entscheidenden Falles unter den im Gesetzestext formulierten Tatbestand3. Die tatsächliche Tätigkeit der Gesetzesanwendung ist indes komplexer als der Blick auf die vorgenannte Definition erkennen lässt.4 Auch die Lehre des Rechtspositivismus kommt nicht umhin, dass Rechtsanwendung eine Interpretation des Gesetzestextes vonnöten macht, also sprachliches Verstehen und sprachliche Auslegung bedingt.5 Damit unterwirft sich das Recht der Sprache.6 „Gesetze sind Sätze: Sprachereignisse.“7 Die Sprache stellt den Träger von Gesetzesvorschriften dar, ohne sie würden Gesetze nicht bestehen. Folglich ist das Recht aber auch den Schwächen der Sprache unterworfen: Mehrdeutigkeit, Vagheit und Abstraktheit, sprich: Ungenauigkeiten der Sprachen gehen zu seinen Lasten. Das ideale Gesetz 1
Den Gegenpart spielt das sog. Naturrecht. Der Rechtspositivismus war Gegenstand des Methodenstreits der Weimarer Staatsrechtslehre, hierzu Geis: Der Methoden- und Richtungsstreit in der Weimarer Staatslehre, JuS 1989, 91. 2 Busse, Recht als Text, 1992, 15 f. 3 Engisch, Einführung in das juristische Denken, 10. Auflage 2005, 38. 4 Busse (Fn. 2), 17. 5 Busse (Fn. 2), 1992, 18. 6 Im vorliegenden Zusammenhang gehen wir von der deutschen Sprache aus, vgl. § 184 Satz 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG): „Die Gerichtssprache ist deutsch.“. 7 Gast, Juristische Rhetorik, 4. Auflage 2006, Rn. 19.
C. W. Hergenröder (Hrsg.), Krisen und Schulden, DOI 10.1007/978-3-531-93085-5_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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setzt die ideale Sprache voraus!8 Eine Voraussetzung die kaum erfüllbar erscheint. Daher spielt in der rechtlichen Fallbearbeitung die Auslegung eine große Rolle. Einer solchen bedürfen beispielsweise Gesetze, einzelne Willenserklärungen oder auch ganze Verträge. Dabei werden auch die Grenzen deutlich, die das Recht selbst der Sprache setzt: So hat der wirkliche Wille bei der Auslegung einer Willenserklärung gemäß § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) Vorrang vor dem buchstäblichen Sinn des Ausdrucks. Verträge sind nach § 157 BGB nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte auszulegen. Während § 133 BGB auf den empirischen Willen abstellt (sog. natürliche Auslegung), verweist § 157 BGB auf die objektive Erklärungsbedeutung (sog. objektiv-normative Auslegung).9 Darauf aufbauend hat sich in der Rechtsprechung mit Blick auf die Gesetzesauslegung schnell die Auffassung durchgesetzt, dass nicht der Wortlaut allein, sondern auch der Zweck der Norm zur Auslegung heranzuziehen ist.10 Somit stellt die Sprache den Ansatzpunkt des Rechts dar, aber nicht notwendigerweise seine Begrenzung. In diesem Sinne haben sich vier klassische Auslegungsmethoden herausgebildet, die hier nur kurz angerissen werden sollen. Ausgangspunkt aller Auslegungen ist die Wortbedeutung (sog. sprachlichgrammatikalische Auslegung). Gibt es keine gesetzliche Festlegung (sog. Legaldefinition11), so gilt zunächst der Sprachgebrauch der Juristen, im Übrigen der allgemeine Sprachgebrauch. Ein eindeutiger Wortsinn ist grundsätzlich Grenze jeder Auslegung12, es sei denn, der aus der Historie der Vorschrift zu ermittelnde Gesetzeszweck befiehlt eine abweichende Auslegung13. Damit sind auch schon zwei weitere Auslegungsmethoden genannt, die sogleich beschrieben werden sollen, denen aber noch die systematische Auslegungsmethode vorangestellt werden soll. Hiernach gilt, dass der einzelne Rechtssatz im Gesamtzusammenhang der Rechtsordnung steht und so auch zu verstehen ist.14 Auch die systematische Auslegung begrenzt die Auslegung einer Vorschrift, es sei denn, die ratio legis erfordert wiederum anderes.15 Die historische Auslegung anhand der Gesetzgebungsgeschichte bezieht ihre Bedeutung vor allem in der Ermittlung des Gesetzeszwecks.16 Dabei kommt es nach hM auf den anhand des Wortlauts ob-
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Gast (Fn. 7), Rn. 19. Palandt/Ellenberger, BGB, 69. Auflage 2010, § 133, Rn. 1. 10 BGHZ 2, 176, 184; 13, 28, 30. 11 Vgl. § 121 BGB: „Die Anfechtung muss in den Fällen der §§ 119, 120 ohne schuldhaftes Zögern (unverzüglich) erfolgen,…“. 12 BGHZ 46, 74, 76. 13 BGHZ 2, 176, 184. 14 Palandt/Sprau (Fn. 9), Einleitung, Rn. 42. 15 BGH 46, 74, 76. 16 BGHZ 46, 74, 80; 62, 340, 350. 9
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jektivierten Willen des Gesetzgebers an17, der subjektive hat keine Bedeutung18. Folglich sind ausdrückliche Stellungnahmen des Gesetzgebers nicht bindend; beziehen sie sich hingegen auf den Gesetzeszweck, besteht in der Regel eine solche Bindung.19 Die teleologische Auslegung nimmt die ratio legis in den Blick, orientiert sich also am Gesetzeszweck und ist regelmäßig für das Ergebnis der Auslegung entscheidend.20 Ansatzpunkt ist der mit der konkreten Norm verfolgte Zweck. Ergänzt wird die Auslegung dadurch, dass die Norm in den Zusammenhang einer gerechten und zweckmäßigen Ordnung gestellt wird.21 Bestehen mehrere Auslegungsalternativen, so muss ein Ergebnis durch Abwägung gewonnen werden. Nach diesem Überblick soll nun mit der eigentlichen Begriffsbestimmung begonnen werden. Eine Klärung der Begriffe Krise und Schulden macht infolge der vorstehenden Erläuterung eine Untersuchung aus Sicht der Alltagssprache und der juristischen Terminologie notwendig.
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Bestandsaufnahme, Teil 1: Die Begriffe Krise und Schulden im Duden
Zieht man zur Begriffsklärung des Wortes Krise den Fremdwörterduden22 heran, so erhält man die folgenden Erklärungen: 1. Entscheidungssituation, Wende-, Höhepunkt einer gefährlichen Entwicklung. 2. gefährliche Situation.
Ähnliches findet man sodann auch im Bedeutungswörterbuch23 des Dudens. Dabei ergibt sich ein erster Widerspruch: Während Krise eher negativ besetzt ist (bspw. Ölkrise, Finanz- und Wirtschaftskrise) lässt sich den Begriffen Entscheidungssituation bzw. Wendepunkt auch eine positive Bedeutung abgewinnen. Ein Zusammenhang mit den Schulden ergibt sich hier noch nicht. Anders wird dies, wenn man durch die Recherche im Synonymwörterbuch24 noch folgende Begrifflichkeiten hinzugewinnt: Dilemma, Kalamität, Klemme (ugs.), Schlamassel (ugs.), Schwierigkeit, Zwickmühle. 17
BVerfGE 1, 299, 312; 10, 234 244; 62, 1, 45; BGHZ 46, 74, 76; 49, 221, 223. Zur Gegenauffassung siehe nur Rüthers, JZ 2006, 53. 19 Palandt/Sprau (Fn.9), Einleitung, Rn. 45. 20 BGHZ 2, 176, 184; 54, 264, 268; 78, 263, 265; 87, 381, 383. 21 Palandt/Sprau (Fn. 9), Einleitung, Rn. 46. 22 10. Auflage, 2010. 23 4. Auflage, 2010. 24 5. Auflage, 2010. 18
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So werden die Wörter Klemme, Schwierigkeit oder auch Zwickmühle in der Umgangssprache vielfach mit dem Adjektiv finanziell verbunden, um zu verdeutlichen, dass die Zahl der Verbindlichkeiten einer Person höher sind, als deren Vermögen dies bewältigen kann. Zeit, sich mit dem Begriff Schulden zu befassen. Sucht man im Universal-25 und Bedeutungswörterbuch des Dudens nach diesem Stichwort, findet man schuldig, verpflichtet sein; sich schuldig machen bzw. im Rückstand sein, Schulden haben bei, schuldig sein.
Im Synonymwörterbuch erhält man noch die bedeutungsähnlichen Begriffe Lasten, Rückstände, Verpflichtungen; (Kaufmannsspr.): Passiva, Verbindlichkeiten.
Gerade die drei letztgenannten Termini sind dem Juristen aus seiner Sprache sehr bekannt. Wer Schulden hat, der hat auch Verbindlichkeiten, Verpflichtungen gegenüber seinem Gläubiger. Gerät der Schuldner dann in finanzielle Schwierigkeiten, sind die Verbindlichkeiten also nicht mehr durch ausreichendes Einkommen oder Vermögen gedeckt, dann könnte hierin eine Krise gesehen werden. Teilweise kennt das Recht diese Wörter, teilweise nicht. Teilweise werden sie in unserem Zusammenhang gebraucht, teilweise auch nicht.
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Bestandsaufnahme, Teil 2: Die Begriffe Krise und Schulden im BGB und der Insolvenzordnung
3.1 Bürgerliches Gesetzbuch Sucht man im BGB nach dem Begriff Krise, so findet dies ein schnelles Ende: Das Wort entdeckt man kein einziges Mal! Dabei sind Krisen dem BGB nicht fremd. Die außerordentlich fristlose Kündigung eines Dienst- oder Arbeitsverhältnisses (§ 626 BGB) kann ebenso eine Krise darstellen, wie die Scheidung von Eheleuten (§§ 1564 bis 1588 BGB) oder der Tod eines Menschen (§§ 1922 bis 2385). Für letzteren, den Erblasser, liegt ohne weiteres eine Krise vor, mit dem vermeintlich schlimmsten denkbaren Ende. Daneben kann die Krise auch dessen Erben treffen (gesetzlich, §§ 1924 bis 1936 BGB, bzw. testamentarisch, § 1937, §§ 2064 bis 2146, §§ 2229 bis 2264 BGB) bzw. die Personen, die gerade nicht zu Erben wurden (vgl. zum Pflichtteilsrecht eines gesetzlich erbberechtigten, aber enterbten Abkömmlings, § 2303 BGB). Von der (finanziellen) Krise 25
6. Auflage, 2006.
Krisen und Schulden – eine (rechtliche) Begriffsklärung
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findet sich im BGB allerdings keine Spur, ein nicht unerwartetes Ergebnis. Schließlich gilt der alte Grundsatz: Geld hat man zu haben.26 Im Übrigen gibt es für diese Situation schließlich ein eigenes Gesetz, die Insolvenzordnung (InsO). Auch das Wort Schulden findet sich entgegen einer ersten Erwartung nur wenige Male im BGB, und dann auch nur in Form von zusammengesetzten Hauptwörtern. Es gibt die Hypotheken-, Grund- und Rentenschulden in § 238 BGB und die Gesellschaftsschulden in § 733 BGB. Begrenzt man sich indes auf den Wortstamm Schuld, so erhält man auf einen Schlag unzählige Ergebnisse. Geradezu prominent ist das Wort Schuld vertreten, trägt doch eines der fünf Bücher des BGB diesen Namen: das Recht der Schuldverhältnisse. Es umfasst die §§ 241 bis 853 BGB, also etwa ein Viertel aller Normen des BGB. Unterteilt werden die Vorschriften in das Allgemeine (Abschnitt 1 bis 7, §§ 241 bis 432 BGB) und das Besondere Schuldrecht (Abschnitt 8, §§ 433 bis 853 BGB). Während in den ersten sieben Abschnitten die allgemeinen Grundlagen kodifiziert wurden (bspw. Abschnitt 1: Inhalt der Schuldverhältnisse; Abschnitt 4: Erlöschen von Schuldverhältnissen), enthält der Abschnitt 8 einzelne Schuldverhältnisse, vom Kaufvertrag (§§ 433 bis 453 BGB) über den Mietvertrag (§§ 535 bis 580a BGB) bis hin zur unerlaubten Handlung (§§ 823 bis 853 BGB); neuerdings findet man auch Regelungen zum Reisevertrag (§§ 651a bis 651m BGB) oder dem Zahlungsdienstevertrag (§§ 675f bis 675i BGB). Es verwundert sicher nicht, dass es im Schuldrecht sodann von Schuld-Begriffen nur so wimmelt. Zu Anfang findet man das Schuldverhältnis (§ 241 Abs. 1 BGB): Kraft des Schuldverhältnisses ist der Gläubiger berechtigt, von dem Schuldner eine Leistung zu fordern. Es gibt die Gattungsschuld (§ 243 BGB) und die Wahlschuld (§ 262 BGB), den Schuldschein (§ 371 BGB), das Schuldanerkenntnis (sogar in zwei Vorschriften, nämlich § 397 BGB und § 781 BGB) und die Schuldübernahme (§ 414 BGB). Es kann einer Schuldner sein, es können aber auch mehrere gemeinsam schulden (sog. Gesamtschuldner, § 421 BGB). Auch im Sachenrecht, dem dritten Buch des BGB, finden sich Schuld-Begriffe. Im Rahmen von grundpfandrechtlichen Sicherungen können sowohl der persönliche Schuldner (§ 1174 BGB), als auch der dingliche Schuldner, also der Eigentümer eines Grundstücks (§ 1173 BGB), den Gläubiger befriedigen. Die Grundschuld ist ein solches Grundpfandrecht (§ 1191 BGB), ebenso die Hypothek (§ 1113 BGB). Befriedigt der persönliche Schuldner den Gläubiger, so geht die Hypothek insoweit auf ihn über, als er von dem Eigentümer oder einem Rechtsvorgänger des Eigentümers Ersatz verlangen kann (§ 1164 Abs. 1 BGB). Anknüpfungspunkt ist immer ein Schuldverhältnis, welches zum einen die einzelne Leistungsbeziehung bezeichnet (§ 241 BGB, s.o.), zum anderen aber auch weiter geht und die Gesamtheit aller Rechtsbezie26
Vgl. Palandt/Sprau (Fn. 9), § 276, Rn. 28; Hergenröder, Krisenbewältigung durch juristische Begriffsbildung – Verbraucherschutz als Schuldnerschutz, S.2.
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hungen zwischen Schuldner und Gläubiger meint27. So ist beispielsweise der Mietvertrag ein Schuldverhältnis im weiten Sinne, die Zahlung des Mietzinses durch den Mieter an seinen Vermieter nach § 535 Abs. 2 ein Schuldverhältnis im (engen) Sinne des § 241 BGB. Das Schuldverhältnis entsteht durch Rechtsgeschäfte (einseitige bzw. zweiseitige [=Vertrag]) oder Gesetz. Als Beispiel für letzteres sei die unerlaubte Handlung (§§ 823 bis 853 BGB) erwähnt, die einem Geschädigten bei schuldhafter Schädigung bestimmter Rechtsgüter einen Anspruch gegen den Schädiger gewährt. Schuldverhältnisse erlöschen durch die Leistung des Schuldners (§ 362 BGB) oder auch auf andere Weise. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das Schuldrecht die Beziehungen zwischen zwei oder mehreren Personen, v.a. im rechtsgeschäftlichen Verkehrs (Güter- und Wirtschaftsverkehr) regelt.28 In diesem Sinne kann eine Verbindung zu den Duden-Erklärungen schuldig (sein), verpflichtet sein, im Rückstand sein, Schulden haben bei gezogen werden. Wo die Allgemeinsprache aber die Begriffe schuldig (sein), sich schuldig machen mit den vorgenannten in einen Topf wirft, differenziert die juristische Fachsprache. Diese Begriffe würde der Jurist eher im Zusammenhang mit der Frage einer Verantwortlichkeit für etwas, einem Vertretenmüssen oder Verschulden sehen. Verwiesen sei auf die oberhalb stehenden Ausführungen zur unerlaubten Handlung als gesetzlichem Schuldverhältnis, wo eine schuldhafte Schädigung vorausgesetzt wird. Zu diesem Aspekt findet man im BGB eine weitere, allgemeine Regelung. § 276 lautet in seinen drei Absätzen: (1) Der Schuldner hat Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten, wenn eine strengere oder mildere Haftung weder bestimmt noch aus dem sonstigen Inhalt des Schuldverhältnisses, insbesondere aus der Übernahme einer Garantie oder eines Beschaffungsrisikos zu entnehmen ist. [...] (2) Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. (3) Die Haftung wegen Vorsatzes kann dem Schuldner nicht im Voraus erlassen werden.
Schuldig sein oder schuldig machen ist danach im Zusammenhang mit der Frage der Haftung aus einem Schuldverhältnis zu sehen. Nach dem BGB trägt der Schuldner, der ein Schuldverhältnis eingegangen ist, damit aber nicht die Schuld an dieser Situation. Er ist im Sinne seiner Verpflichtung nur verantwortlich dafür, dass diese Verpflichtung eingehalten wird. Tut er dies nicht, tritt eine Leistungsstörung ein. So ist eine Pflicht aus dem Vertrag beispielsweise dann verletzt, wenn ein Schuldner die geschuldete Leistung zu spät erbringt (Verzug, 27 28
BGHZ 10, 391, 395. Palandt/Sprau (Fn. 9), Einleitung vor § 241, Rn. 1.
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§ 286 BGB), diese gar nicht mehr erbringen kann (Unmöglichkeit, § 275 BGB) oder schuldhaft Gesundheit/Eigentum der anderen Vertragspartei schädigt (§§ 282 i.V.m. 241 BGB). Nur dann kommt es im Hinblick auf weitergehende Ansprüche (bspw. Schadenersatz bei der Pflichtverletzung einer Vertragspartei, § 280 BGB) auf sein Verschulden bzw. Vertretenmüssen an. Nichts anderes will die Vorschrift des § 276 Abs. 1 S. 1 BGB sagen. Um den Umstand, dass Schuldner nichts mit Schuld zu tun hat, so wird es vielfach unverstanden verkürzt dargestellt, noch deutlicher hervorzuheben, sei an dieser Stelle ein Exkurs in das Strafrecht gewagt. Um die Straftat im Ganzen durch allgemeine Merkmale theoretisch darstellen zu können, wird sie nach hM als eine tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhafte Handlung beschrieben (sog. dreistufiger Deliktsaufbau)29: Dabei bedeutet die Tatbestandsmäßigkeit der Handlung, dass sie mit den vom Gesetz umschriebenen Merkmalen eines bestimmten Deliktstypus übereinstimmt (bspw. Diebstahl, § 242 StGB: Wegnahme einer fremden, beweglichen Sache). Die Rechtswidrigkeit benennt das negative Werturteil über die Tat, drückt also den Widerspruch zu den generellen Sollens-Anforderungen des Rechts aus. Die Schuld beschreibt zuletzt den Sachverhalt, auf Grund dessen dem Täter aus seiner Tat ein Vorwurf gemacht werden kann.30 Sie ist beispielsweise dann ausgeschlossen, wenn der Straftäter seine Tat entweder im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 17 StGB) begangen hat oder einem Verbotsirrtum erlegen ist (§ 20 StGB). In beiden Fällen handelt er dann ohne Schuld. Damit gilt hier wie im BGB: Die Verwirklichung eines strafrechtlichen Tatbestandes bzw. die Begründung einer zivilrechtlichen Verbindlichkeit etabliert noch keinen Schuldvorwurf. Damit ist der Schuldner nicht schuldig wegen seiner schuldrechtlichen Verpflichtung. Er weiß sich vielmehr als zentrale Gestalt in einem Schuldverhältnis, welches vielerlei Inhalte haben kann und aus welchem heraus das Recht eines anderen resultiert, ein Tun oder Unterlassen zu verlangen (vgl. die Definition der Forderung in § 194 BGB). Als Ergebnis bleibt festzuhalten, dass sich das Wort Krise im BGB nicht findet. Den Begriff der Schuld(en) trifft man hingegen in unzähligen Vorschriften an. Dabei ist aus der Sicht der Rechtssprache zwischen der Situation des Schuldverhältnisses in allen seinen Ausprägungen abzugrenzen von der Frage des Verschuldens, also der individuellen Verantwortlichkeit. Diese spielt erst im Bereich des Leistungsstörungsrechts eine Rolle.
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BGHSt 1, 131, 132; 9, 370, 375. Zum Vorstehenden vgl. Schönke/Schröder-Lenckner/Eisele, StGB, 28. Auflage 2010, Vorbemerkungen zu den §§ 13ff., Rn. 12.
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3.2 Insolvenzordnung Gerade nach dem vorstehend Gesagten überrascht es doch sehr, dass sich der Begriff Krise auch in der Insolvenzordnung nicht finden lässt. In keiner einzigen Vorschrift ist das Wort genannt! Dies lässt nur den Schluss zu, dass andere Begriffe anstatt dem der Krise vom Gesetzgeber benutzt worden sind. Dies ist durch Auslegung vorhandener Begriff zu erreichen. Der prägende Begriff der Insolvenzordnung ist erwartungsgemäß der der Insolvenz: „Insolvenz ist der Oberbegriff für einen wirtschaftlichen Zustand, der sich als Zahlungsunfähigkeit, drohende Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung darstellt und ein gerichtliches Insolvenzverfahren auszulösen vermag.“31 Aus dieser Definition lässt sich herauslesen, dass neben der wirtschaftlichen Lage eine rechtliche Wertung dahingehend zu erfolgen hat, ob Zahlungsunfähigkeit bereits eingetreten ist oder lediglich droht bzw. ob eine Überschuldung gegeben ist. Dementsprechend differenziert die zitierte Kommentierung u.a. zwischen der rechtlichen Insolvenz und der wirtschaftlichen Krise, die in ihrer Bedeutung nicht identisch seien.32 Eine (betriebs-)wirtschaftliche Krise verpflichte zunächst nicht zur Antragstellung. Vielmehr sei es erforderlich, dass auch eine rechtliche Krise eintrete, die als Insolvenzgründe Eingang in das Gesetz gefunden habe.33 Voraussetzung für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens ist neben der Antragstellung durch den Schuldner oder seine Gläubiger (§ 13 Abs. 1 S. 2 InsO) eben auch das Vorliegen eines Eröffnungsgrundes (§ 16 InsO). Der Numerus clausus der Eröffnungsgründe, normiert in den §§ 17 bis 19 InsO, differenziert danach, ob der Schuldner oder ein Gläubiger das Verfahren beantragt hat bzw. ob der Schuldner eine natürlich oder juristische Person ist. In allen Fällen ist die Zahlungsunfähigkeit allgemeiner Eröffnungsgrund (§ 17 Abs. 1 InsO). Zahlungsunfähig ist der Schuldner, wenn er nicht (mehr) in der Lage ist, seine fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen; sie wird widerleglich vermutet, wenn er seine Zahlungen eingestellt hat (§ 17 Abs. 2 S. 2 InsO). Nur wenn der Schuldner ein Insolvenzverfahren beantragt, reicht die drohende Zahlungsunfähigkeit als Eröffnungsgrund aus. Anknüpfend an die Definition zur Zahlungsunfähigkeit liegt drohende Zahlungsunfähigkeit dann vor, wenn der Schuldner voraussichtlich nicht in der Lage sein wird, die bestehenden Zahlungspflichten im Zeitraum der Fälligkeit zu erfüllen (§ 18 Abs. 2 S. 1 InsO). Mit der Aufnahme dieses Eröffnungsgrundes verband der Gesetzgeber seinerzeit die Erwartung, dass in-
31
Uhlenbruck/Pape, InsO, 13. Auflage 2010, § 1, Rn. 2. Uhlenbruck/Pape (Fn. 31), § 1, Rn. 2. 33 Uhlenbruck/Uhlenbruck (Fn. 31), § 16, Rn. 1. 32
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solvente Schuldner möglichst früh in ein Insolvenzverfahren gelangen.34 In diesem Falle könne eine wesentliche Verbesserung der Sanierungschancen erwartet werden.35 Mit der Begrenzung auf den Schuldnerantrag sollten Außenstehenden die Möglichkeit genommen werden, mittels eines Insolvenzantrags auf den Schuldner Druck auszuüben.36 Die Überschuldung ist der dritte und letzte Eröffnungsgrund, aber auch der „klassische“.37 Er ist gegeben, wenn das schuldnerische Vermögen die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt (es sei denn, es gibt eine positive Fortführungsprognose38), § 19 Abs. 2 S. 1 InsO. Da die Überschuldung qua Gesetz nur auf juristische Personen Anwendung findet, im Rahmen dieses Beitrages aber natürliche Personen im Vordergrund stehen, ist von einer vertieften Auseinandersetzung Abstand zu nehmen. Vielmehr soll im Folgenden noch ein vertiefter Blick auf das Vorkommen des Begriffs Schulden in der InsO geworfen werden. Zusammenfassend lässt sich bezüglich der Krise festhalten, dass dieser Begriff zwar nicht ausdrücklich, der Insolvenzordnung aber doch in Form der Eröffnungsgründe immanent ist. Der Begriff der Schulden kommt wie im BGB nicht für sich, sondern nur in Zusammenhang mit anderen Wörtern vor. Komplett ist er im Schuldenbereinigungsplan (§§ 305 bis 309 InsO) enthalten. Bedeutender vertreten sind hingegen der Schuldner als zentrale Person des Verfahrens (siehe nur die Vorschriften der §§ 1, 3, 4a bis 4d, 20 und 97 InsO) und die Restschuldbefreiung (§§ 4a bis 4d, 201, 287 bis 303 InsO). Daneben finden sich auch das (Dauer-)Schuldverhältnis (u.a. §§ 55 Abs. 2 und 108 InsO) und die Schuldurkunde (§ 178 InsO) bzw. der Schuldtitel (§§ 141, 179, 184 InsO). Dieser Befund überrascht keineswegs, setzen doch die Eröffnungsgründe einerseits immer voraus, dass Zahlungsverpflichtungen des Schuldners gegenüber anderen Personen, seinen Gläubigern bestehen. Insoweit ergibt sich eine Parallele zum Befund im BGB mit dem Unterschied, dass das Insolvenzrecht (grundsätzlich39) von mehr als einer Zahlungsverpflichtung und mehr als einem Gläubiger ausgeht. In der Rückschau hat das Insolvenzrecht materiell die Begriffe Krise und Schulden zu bieten, auch wenn die Krise formell, d.h. als Begriff in der InsO nicht zu finden war. 34
BT-Drs. 12/2443, S. 114. Siehe ausführlich Möser, Die drohende Zahlungsunfähigkeit als neuer Eröffnungsgrund, 2006. 36 BT-Drs. 12/2443, S. 114. 37 Uhlenbruck/Uhlenbruck (Fn. 31), § 19, Rn. 1. 38 Dieser Einschub wurde zum 18.10.2008 mit dem Gesetz zur Umsetzung eines Maßnahmenpakets zur Stabilisierung des Finanzmarkts v. 13.10.2008 in § 19 Abs. 2 InsO eingefügt und soll mit dem 1.1.2014 wieder herausgenommen werden. 39 So setzt das deutsche Insolvenzrecht keine Mindestzahl an Gläubigern und auch keine Mindesthöhe der Forderungen für ein Insolvenzverfahren voraus, vgl. Uhlenbruck/Uhlenbruck (Fn. 31), § 14, Rn. 48; vgl. auch BGH, ZVI 2006, 56. 35
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Carsten Homann Überblick40 über das Restschuldbefreiungsverfahren nach der Insolvenzordnung
4.1 Einleitung Das Restschuldbefreiungsverfahren nach §§ 286 ff. InsO steht im vielfachen Zusammenhang mit einem Insolvenzverfahren über das Vermögen natürlicher Personen (in der Form eines sog. Regel- oder Verbraucherinsolvenzverfahrens). Nach dessen Beendigung bestehen die Verbindlichkeiten des Schuldners weiter, da im Verfahren selbst meist nur eine anteilige Befriedigung der Gläubiger erreicht wird41. Die Insolvenzgläubiger können ihre restlichen Forderungen anschließend unbeschränkt geltend machen, § 201 Abs. 1 InsO (sog. Nachforderungsrecht). Dabei kommt es zu einem wesentlichen Unterschied in der Behandlung der Verfahren natürlicher und juristischer Personen: Grundsätzlich besteht das Nachforderungsrecht auch gegenüber juristischen Personen, jedoch sehen sie sich – im Gegensatz zu natürlichen Personen – rein tatsächlich keiner Nachhaftung ausgesetzt. Bei ihnen ist die Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder der Beschluss, durch den die Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse abgelehnt (§ 26 InsO) wird, Auflösungsgrund.42 Es schließt sich in der Regel die Löschung wegen Vermögenslosigkeit gem. § 394 Abs. 1 FamFG an. Somit besteht für die Gläubiger keine Möglichkeit mehr, ihre Ansprüche weiter durchzu43 setzen, so dass von einer „faktischen Restschuldbefreiung“ infolge des Insolvenzverfahrens gesprochen werden kann. Das Restschuldbefreiungsverfahren nach §§ 286 ff. InsO schafft demnach seit dem Jahr 1999 einen Ausgleich für natürliche Personen, indem es auch ihnen durch Erteilung der Restschuldbefreiung ermöglicht wird, ihre Gläubiger an der Anspruchsdurchsetzung zu hindern, vgl. § 301 Abs. 1 S. 1 InsO. a) Situation des Schuldners vor und nach Inkrafttreten der InsO Das Nachforderungsrecht war auch schon in der Vorläuferregelung des § 201 InsO, nämlich in § 164 Abs. 1 der Konkursordnung (KO) normiert. Durch das Nachforderungsrecht, das allein durch die allgemeinen Verjährungsvorschriften begrenzt war, sah sich der Schuldner häufig während der gesamten Dauer seines 40
Vertiefend etwa Mohrbutter/Ringstmeier-Pape/Sietz, Handbuch Insolvenzverwaltung, 8. Auflage 2007, §§ 16,17; Uhlenbruck/Vallender (Fn. 31), Vor § 286; Nerlich/Römermann-Römermann, InsO, Stand: 2009, Vor §§ 286-303 InsO; Foerste, Insolvenzrecht, 4. Auflage 2008, Rn. 526 ff. 41 Foerste (Fn. 40), Rn. 526. 42 Siehe bspw. für die GmbH § 60 I Nr. 4 und 5 GmbHG, für die AG § 262 I Nr. 3 und 4 AktG. 43 Mohrbutter/Ringstmeier-Pape/Sietz (Fn. 40), § 17, Rn. 25.
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beruflich aktiven Lebens mit Zwangsvollstreckungsmaßnahmen konfrontiert, was seine Motivation, einer erwerbswirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen, verminderte und ihn zu einem Abgleiten in Schwarzarbeit und Schattenwirtschaft ermutigen konnte. Gleichzeitig wuchsen seine Schulden durch anfallende Zinsen weiter an – ein Umstand, der jegliche Perspektive auf ein schuldenfreies Leben zunichtemachte.44 b) Situation nach Inkrafttreten der InsO Mit Inkrafttreten der InsO am 1.1.1999 und der Einführung des Restschuldbefreiungsverfahren nach den §§ 286 ff. InsO wurde auf die Kritik am Nachforderungsrecht reagiert und dem Schuldner erstmalig45 ein Verfahren zur Verfügung gestellt, durch das er sich den Nachforderungen seiner Gläubiger dauerhaft entziehen kann. Dem redlichen Schuldner Gelegenheit zu geben, sich von seinen restlichen Verbindlichkeiten zu befreien, ist – neben der gemeinschaftlichen Befriedigung der Gläubiger – nunmehr erklärtes Ziel des Insolvenzverfahrens 46 (§ 1 S. 2 InsO).
4.2 Das Restschuldbefreiungsverfahren nach der Insolvenzordnung RSB können gemäß § 286 InsO nur natürliche Personen erlangen. Als der RSB vorausgehende Verfahren kommen das reguläre Insolvenz- oder das sog. vereinfachte Verfahren nach §§ 311 ff., 304 ff. InsO in Betracht. Im Folgenden wird der Fokus auf Letzeres gelegt. Der Weg zur RSB kann in die folgenden vier Schritte unterteilt werden: Den ersten Schritt bildet – wie sich mittelbar aus § 305 Abs. 1 Nr. 1 InsO entnehmen lässt – der erfolglos durchgeführte außergerichtliche Einigungsversuch. Als Zweites hat der Schuldner einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens, verbunden mit einem Antrag auf Erteilung der Restschuldbefreiung zu stellen (sog. Eigenantrag), § 305 Abs. 1 und 2 InsO. Diesem ist auch die Abtretungserklärung nach § 287 Abs. 2 S. 1 InsO beizufügen. Das Insolvenzgericht prüft den Antrag im sog. Eröffnungsverfahren. Wenn sämtliche Voraussetzungen (§§ 11 ff. InsO) erfüllt sind, hat das Gericht der Frage nach zu gehen, ob die Durchführung eines Schuldenbereinigungsplanverfahrens sinnvoll ist, § 306 Abs. 1 S. 3 InsO. Verneinendenfalls oder bei dessen Er44
Mohrbutter/Ringstmeier-Pape/Sietz (Fn. 40), § 17, Rn. 2; Nerlich/Römermann-Römermann (Fn. 40), Vor §§ 286-303 InsO, Rn. 3; Foerste (Fn. 40), Rn. 527. 45 Die KO kannte ein solches Verfahren nicht, vgl. Uhlenbruck/Vallender (Fn. 31), Vor § 286, Rn. 2. 46 Strittig ist, ob diese Ziele gleichrangig sind, vgl. MünchKomm-InsO/Ganter, 2. Auflage 2008, § 1, Rn. 97.
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folglosigkeit eröffnet es das Insolvenzverfahren, § 27 Abs. 1 S. 1 InsO. Ab diesem Zeitpunkt läuft auch die für die Restschuldbefreiung maßgebliche sechsjährige Wohlverhaltensperiode nach § 287 Abs. 2 S. 1 InsO. Das Insolvenzverfahren endet mit dem Schlusstermin. In ihm findet die Schlussverteilung nach § 196 InsO statt, das Insolvenzverfahren wird sodann aufgehoben, § 200 Abs. 1 InsO, und die Restschuldbefreiung angekündigt, § 291 Abs. 1 InsO. Schließlich entscheidet das Gericht nach Ablauf der Wohlverhaltensperiode über die RSB. Sie wirkt gemäß § 301 Abs. 1 InsO gegen alle Insolvenzgläubiger (vgl. die Legaldefinition in § 38 InsO). Ausgenommen von dieser Wirkung sind die in § 302 InsO aufgeführten Forderungen. Das Gericht kann die RSB unter den in § 303 InsO genannten Voraussetzungen widerrufen.
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Fazit
Die Begriffe Schulden und Krise finden sich auch im Recht wieder. Das Schuldrecht ist im BGB an prominenter Stelle platziert. Gleichsam kommt der rechtlichen Krise in der InsO eine herausragende Position zu, findet ihre Ausprägung als Eröffnungsgründe. Insoweit konnte zudem der prognostizierte rechtliche Zusammenhang zwischen Schulden und Krise nachgewiesen werden. Ist der Schuldner nicht (mehr) in der Lage, seine fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen, so liegt Zahlungsunfähigkeit im Sinne der Insolvenzordnung vor. Ansatzpunkt war eine kurze sprachliche Untersuchung anhand der Duden-Reihe, deren Ergebnisse nicht nur Anhalt gaben, sondern auch zur Differenzierung innerhalb der Juristensprache Anlass boten. Zuletzt wurde überblicksmäßig noch der rechtliche Ausweg aus der Schuldenkrise dargestellt.
Krisen im Recht Sonja Justine Kokott
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Krisen
Die Welt ist voller Krisen. Wir verfolgen – eingebettet in eine Medienkrise – die globale Krise mit der aktuellen Welt- bzw. nationalen Wirtschaftskrise und die Finanzkrise, die Unternehmens- und Immobilienkrisen nach sich zieht. Einer Vertrauenskrise folgt die politische Krise, gar nicht zu sprechen von der ökologischen Krise und der psychosozialen bzw. psychischen Krise, in der wir uns selbst befinden dürfen. Es wird von Krisenphasen gesprochen und die Krisenvorsorge, das Krisenmanagement und die Krisenintervention versprechen eine Krisenbewältigung. Wir nutzen die Weite des Erscheinungsbildes Krise in vielerlei Kontexten und die Häufigkeit ihrer Verwendung lässt darauf schließen, dass ein Phänomen beschrieben wird, welches ein Geschehnis von enormer gesellschaftlicher und persönlicher Relevanz greifbar werden lässt. Viele Wissenschaften haben das Ausdruckspotential des Terminus Krise erkannt und in ihren eigenen wissenschaftlichen Kontext eingebettet. In der Medizin beschreibt der Begriff der Krise den Höhepunkt einer schweren Erkrankung, in dessen Verlauf sich entscheidet, ob Selbstheilungskräfte die Genesung einleiten werden oder ein Zusammenbruch erfolgt. Im psychologischen Verständnis geht mit einer Krise der Verlust des seelischen Gleichgewichts einher, dessen Wiederherstellung dem Betroffenen mit seinen eigenen Mitteln verwehrt bleibt.1 Bei der Rezeption des Krisenbegriffs aus der Medizin in die Wirtschaftswissenschaften rückte dessen ausgeprägte handlungsbezogene Bedeutung in den Hintergrund und es trat ein subjektivierendes und objektivierendes Begriffsverständnis in den Vordergrund. Die Volkswirtschaftslehre verbindet den Terminus mit konjunkturellen Phänomenen und konzentriert sich auf den kritischen Zeitraum zwischen einem Aufschwung und einer Rezession. Eine Wirtschaftskrise be1
Statt vieler sei der amerikanische Sozialpsychiater und Begründer des vierphasigen Krisenmodells Gerald Caplan benannt, der Anfang der 60er Jahre auf dem Feld der Psychiatrie eine Welle der Krisentheorien und Begriffsdiskussionen auslöste. Er beschreibt die Krise als eine Periode des Ungleichgewichts, die von psychischem und physischem Unbehagen begleitet sowie von begrenzter Dauer ist, und die zeitweilig die Fähigkeit der Person, kompetent zu bewältigen oder die Sache in den Griff zu bekommen, stark strapaziert. Vgl. Gerald Caplan, Principles of preventive psychiatry, 1964.
C. W. Hergenröder (Hrsg.), Krisen und Schulden, DOI 10.1007/978-3-531-93085-5_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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zeichnet die Phase einer deutlich negativen Entwicklung des Wirtschaftswachstums, in der Regel verknüpft mit hoher Arbeitslosigkeit, Verarmungstendenzen in breiten Bevölkerungsschichten und sozialen Unruhen. Die Finanzkrise als eine Spielart der Wirtschaftskrise auf den Finanzmärkten hingegen ist durch einen Rückgang der Vermögenswerte und die Zahlungsunfähigkeit zahlreicher Unternehmen der Finanzwirtschaft charakterisiert. Im betriebswirtschaftlichen Sinne werden Unternehmenskrisen als ungewollte und ungeplante Prozesse von begrenzter Dauer und Beeinflussbarkeit sowie ambivalentem Ausgang beschrieben, die in der Lage sind, den Bestand des gesamten Unternehmens substanziell und nachhaltig zu gefährden oder sogar existenziell zu bedrohen.2 Die Soziologie als die Wissenschaft von der Gesellschaft und der in ihr lebenden Menschen bezeichnet sich gar selbst als Krisenwissenschaft, deren Entstehung dem Bedürfnis geschuldet war, zeitgenössische gesellschaftliche Veränderungen zu erklären und akute soziale Probleme zu lösen.3 In der soziologischen Systemtheorie stellen Krisen systemabhängige Phänomene dar, die unerwartete Bedrohungen nicht nur einzelner Werte, sondern des Systembestands in seinem eingelebten Anspruchsniveau beschreiben und Probleme der Anpassung von System und Mitwelt, von Stabilität und Wandel oder von Komplexitätssteigerung und deren Bewältigung in den Vordergrund rücken.4 Der Krisenbegriff dient vielen Wissenschaften als ein multidimensionales Phänomen zur Beschreibung von Destabilität im weitesten Sinne; es wird eine Problemsituation fokussiert, die mit den herkömmlichen Lösungstechniken nicht überwunden werden konnte, sondern ein spezifisches Krisenmanagement verlangt und die – je nach Standort des Betrachters – als negativ oder positiv beurteilt wird. Aus etymologischer Sicht geht der Terminus in seinem Ursprung auf das altgriechische Wort krisis zurück, das ganz allgemein jeglichen Bruch einer bis zu diesem Zeitpunkt kontinuierlichen Entwicklung beschreibt. Im engeren Sinne wird eine Trennung, Entscheidung oder auch die Zuspitzung einer schwierigen Situation ausgedrückt, die den Höhepunkt oder Wendepunkt einer bedrohlichen Entwicklung darstellt und diesen kennzeichnet.5 Im Chinesischen wird der moderne westliche Begriff Krise wie die meisten chinesischen Substantive aus zwei Schriftzeichen zusammengesetzt, die – wenn auch in seiner linguistischen 2
Ulrich Krystek, Unternehmungskrisen. Beschreibung, Vermeidung und Bewältigung überlebenskritischer Prozesse, Wiesbaden 1987, 6 f. 3 Siehe statt vieler die Festschrift zum 65. Geburtstag von Dankwart Danckwerts: Soziologie als Krisenwissenschaft, Hans Uske/Hermann Völlings/Jochen Zimmer/Christof Stracke (Hrsg.), Berlin, Hamburg, Münster 1998. 4 Niklas Luhmann, Sinn als Grundbegriff der Soziologie, in: Jürgen Habermas/Niklas Luhmann (Hrsg.): Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung?, Frankfurt am Main 1971. 5 Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 24. Auflage, Berlin 2002.
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Ableitung nicht gänzlich unstreitig – den Begriff Gefahr mit dem Begriff Gelegenheit bzw. Chance zusammenführen.
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Die Rechtswissenschaft artikuliert den Begriff Krise nicht. Im Recht selbst ist der Terminus nicht angelegt. Ihm wohnt kein spezifisch rechtswissenschaftlicher Bedeutungsgehalt inne. Er wird weder in Gesetzen aufgegriffen noch besteht das Bedürfnis, den Begriff im Rahmen einer Nominaldefinition durch Gerichte oder die Rechtslehre zu bestimmen. In dieser Verwendung ist die Krise der Rechtswissenschaft fremd. Ist die Krise kein Begriff des Rechts, steht dem nicht entgegen, dass sie selbst deren Objekt sein kann. Auch das Recht steht stetig vor der krisenhaften Herausforderung, mit bereits vorhandenen Normen und Lösungstechniken Veränderungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit einzufangen. Das Recht als anpassungsbedürftiges Element beschrieb bereits Eugen Ehrlich: „Jede Rechtsentwicklung beruht daher auf der gesellschaftlichen Entwicklung, und alle gesellschaftliche Entwicklung besteht darin, dass sich die Menschen und ihre Verhältnisse im Laufe der Zeit ändern.“6
Alles Recht entwickelt sich. Seine Wandelbarkeit ist heute unbestritten.7 Die rechtliche Steuerung einer Gesellschaft bleibt niemals ein Zustand, sondern stellt stets und unvermeidlich einen Prozess dar. Sich beständig alter und neuer Tatsachen zu vergewissern war und ist Gegenstand der Rechtswissenschaft.8 Die sozialen Umbrüche unserer Gesellschaftsordnung fordern das Recht heraus. Es muss auf die ökonomischen, technologischen, kulturellen, sozialen und politischen Veränderungen reagieren. Die Jurisprudenz muss sich für den Wandel und die Bedeutung gesellschaftlicher Strukturen interessieren, um sich über eine notwendige Schöpfung, Anpassung, Auslegung und Weiterentwicklung jeglicher Normgestaltung im Klaren zu werden und durch die Kenntnis der Zusammenhänge des Rechts und der Gesellschaft zu einem der Realität nahen Regelwerk und einem adäquaten Interpretationshorizont zu gelangen.9 Diesem evolutionären 6
Eugen Ehrlich, Grundlegung der Soziologie der Rechts, 1913 (4. Auflage hrsg. von Manfred Rehbinder Berlin 1989), S. 319. 7 Zur Geschichtlichkeit des Rechts vgl. etwa Thomas Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie, 5. Auflage, Tübingen 2009, S. 360 ff. 8 Zur Rechtstatsachenerforschung Gerhard Struck, Rechtswissenschaft und Soziologie, in: Dieter Grimm (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften 1 (1976), S. 13 ff. 9 Aus der Schar der zahlreichen Väter dieses Gedankens Eugen Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts (1913); Max Weber, Rechtssoziologie (1960); den methodischen Bezug suchend Hans
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Charakter des Rechts steht ein statisches Element gegenüber, das dem Bedürfnis der Menschen nach Rechtsklarheit, dessen Bestimmtheit und insbesondere Beständigkeit geschuldet ist. Ein Rechtssystem bewegt sich stetig in dem Zwiespalt zwischen dem Schutz des Vertrauens der dem Recht Unterworfenen in die bereits bestehende rechtliche Regelung und dem Bedürfnis nach der Anpassung an neue Entwicklungen. Aus politisch sozialen Bedingungen entstandene rechtliche Institute erstarren nach dem Wegfall ihrer Randbedingungen nicht selten in dogmatischen Figuren. Auf der anderen Seite warten soziale und technische Neuerungen auf eine Aufnahme in das Recht. Gegenwärtig werden die dem Gesetzes- und Richterwerk zugrundeliegenden Anknüpfungstatsachen insbesondere durch die Globalisierung mitsamt dem enormen Informationszuwachs auf die Probe gestellt. Sachlich verlangen das Wachstum der Bevölkerung, das enge Zusammenleben der Menschen, der hohe Grad der sozialen Arbeitsteilung, der technische und wirtschaftliche Fortschritt und die Zunahme unpersönlicher Kommunikationen immer detailliertere Regelungen, so dass der außerrechtliche Gestaltungsspielraum schmilzt. Auf diesen Zuwachs an Komplexität und Schnelligkeit reagieren die politischen Kräfte in Deutschland seit den 1970er Jahren mit einer Verrechtlichung der Lebensverhältnisse. Sie befinden sich in der schwierigen Situation, einerseits die Wirklichkeit immer weniger einfangen zu können und andererseits Klagen über eine Gesetzesflut und der rechtlichen Überwucherung aller gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Beziehungen ausgesetzt zu sein.10 Heute besteht mehr denn je die Aufgabe, einen gesunden Ausgleich zwischen dem einem Vertrauensschutz geschuldeten prinzipiellen Abstand des Rechts von der aktuellen Entwicklung der Gesellschaft und der notwendigen Reaktion auf den gesellschaftlichen Wandel zu finden.
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Abbau von Hierarchie
Der Weg der Entscheidung für eine rechtliche Regelung wird durch einen unsere Gegenwart prägenden Umstand erschwert, dem Abbau von Hierarchie. Diese Tendenz resultiert aus dem Zuwachs an Komplexität unserer Lebensverhältnisse und dem ansteigenden Wertepluralismus, der Werteentscheidungen in Frage stellt, die in Gesetzeswerken ihren Ausdruck gefunden haben. Das Phänomen
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Wüstendörfer, Zur Methode soziologischer Rechtsfindung (1971); einen aktuellen Überblick verleiht das Gedächtnissymposium für Edgar Michael Wenz, in: Horst Dreier (Hrsg.), Rechtssoziologie am Ende des 20. Jahrhunderts (2000). Ausführlich Thomas Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie, 5. Auflage, Tübingen 2009, S. 361 ff.
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findet sich im gesamten Gemeinwesen wieder und hat Auswirkungen auf den Umgang mit staatlicher Autorität. Im Verhältnis des Staates und seiner Bürger setzen Entscheidungen der Verwaltungsbehörden und Gerichte ein hierarchisches Gefälle voraus. Mit dessen Schwinden gewinnt das kooperative Verwaltungshandeln als eine Form der konsensualen Steuerungstechnik in der Verwaltungspraxis zunehmend an Bedeutung und löst klassisch-regulative Steuerung auf. Das Konsenssystem als ein Weg der alternativen Streitschlichtung tritt vermehrt neben das ins Gesetzessystem übernommene Entweder/Oder eines Gerichtsurteils und wird zugunsten von subjektiven Sichtweisen aufgelöst. Die Unterschiedlichkeit der beidseitigen Ausgangspunkte wird bei der Streitschlichtung nicht manifestiert, sondern als Grundlage der gemeinsam zu erarbeitenden Entscheidung eines für die Zukunft tragfähigen Konsenses genutzt.11 Der Abbau hierarchischer Strukturen im Privatbereich wird anhand der Entwicklungen in der ehemals patriarchalisch geprägten Ehe- und Familienstruktur sichtbar. Die familiären Verhältnisse sind flexibler, ambivalenter und polivalenter geworden und zeichnen sich durch unterschiedliche Formen des Zusammenlebens aus. Die wachsende Individualisierung der Lebensvorstellungen bewirkt eine Auflösung altbewährter und übersichtlicher Bindungen. Das traditionelle Modell der Familie als eine durch dichte und feste Beziehungsstränge verbundene lebenslange Gemeinschaft wird für längere oder kürzere Zeitphasen häufig durch viele mehr oder weniger intensive Gemeinschaftsbeziehungen mit wechselnden sozialen Bezugsfeldern ergänzt oder ersetzt. Innerhalb der neuen komplexen Lebensrealität und zwischen den sich auflösenden traditionell überschaubaren Gemeinschaftsmodellen sowie der zunehmend bürokratisierten komplexen Gesellschaft entsteht eine Vielzahl von persönlichen, sozialen und institutionellen Netzwerken. Auch im Ordnungsgefüge der Wirtschaft- und Arbeitswelt haben hierarchische Strukturen an Bedeutung verloren. Die moderne westliche Welt wird durch die Vergesellschaftung aller Lebensbereiche auf dem Weg zu einer globalen Gemeinschaft gekennzeichnet, deren Teilbereiche in hohem Maße arbeitsteilig miteinander verzahnt sind. Unternehmen bemühen sich um eine greifbare Erfassung der Marktrealität und um flexible sowie konkurrenzfähige Organisationsformen, die den Wettbewerb um knapp werdende Ressourcen und neue Kundenstämme in einem aufgeteilten Markt entscheiden. Überblick und Orientierung heißt die Devise. Dem traditionellen Vertrauen auf den sich ereignenden Zufall wird das Bedürfnis nach kalkulierbaren Vernetzungsstrategien entgegengesetzt. 11
Umfassend Günter Hager, Konflikt und Konsens. Überlegungen zu Sinn, Erscheinung und Ordnung der alternativen Streitschlichtung, Tübingen 2001; Wolfgang Hoffmann-Riem, Mediation – Ein Beispiel einer neuen Konfliktkultur, in: Hoffmann-Riem, Modernisierung der Justiz, Frankfurt 2001.
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Die Internationalisierung der Märkte, die Innovationsdynamik bei Produkten und Prozessen, die Globalisierung der Ressourcenbeschaffung mit dem Hintergrund der Ressourcenverknappung sowie die demographische Entwicklung führen eine Veränderung der Wettbewerbssituation mit sich, der mit Symbiosen und Kooperationen begegnet wird. Die Innovationspotentiale der Informations- und Kommunikationstechnik entfalten sich bei der Entwicklung neuer Arbeitsorganisationen und neuer Unternehmensgebilde. Aufgabenorientierte und projektgebundene Arbeitsformen, die Teamarbeit und Verknüpfungen in Netzwerken bedingen, treten vermehrt in den Vordergrund und erfüllen die Regelbedürfnisse moderner Wirtschaftsorganisationen. Netzwerke sind die Antwort auf die Dynamik und Komplexität der heutigen ökonomischen Wirklichkeit. Es handelt sich hierbei um lösungsorientierte Systeme, die mit einer hohen Eigendynamik handeln und neben die klassische Aufbauorganisation Hierarchie treten, die sich seit der Erfindung des modernen Managements vor gut 100 Jahren herausgebildet hatte. Als Governance-Form ökonomischer Aktivität werden Netzwerke als hybride Organisationsformen zwischen Markt und Hierarchie eingeordnet12 und führen eine eigentümliche Fusion von Hierarchien und Märkten herbei.13 Gegenüber der klassischen Linienorganisation liegen ihre Vorteile in der höheren Flexibilität, Effizienz und Produktivität und ihre Nachteile in ihrer schweren Kontrollierbarkeit. Sie zeichnen sich durch komplex-reziproke kooperative Beziehungen aus, dienen der Schaffung von Wettbewerbsvorteilen und entstehen sowohl auf der individuellen als auch auf der kollektiven Ebene.
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Netzwerke
Zeichnet sich unser heutiges Dasein in seiner privaten, wirtschaftlichen und sozialen Dimension in weitem Umfang durch die Existenz und Dynamik weitreichender Netzwerkstrukturen aus, lädt dieses Phänomen ein, unser Rechtssystem daraufhin zu überprüfen, ob und in welcher Form diese Art der Veränderung unseres gesellschaftlichen Daseins Eingang in das gegenwärtige Normkonstrukt gefunden hat. Es kann festgestellt werden, ob ein Bedarf nach einer Neuaufnahme der veränderten gesellschaftlichen Strukturen in das Recht besteht oder diese 12
Ronald Harry Coase, The nature of the firm. In: Economica 4 (1937) S. 386-405. Umfassend zu der Diskussion um das Verhältnis von Netzwerken zu Markt und Hierarchie vgl. etwa Timo Renz, Management in internationalen Unternehmensnetzwerken, Wiesbaden 1998; Jörg Sydow, Strategische Netzwerke – Evolution und Organisation, 6. Auflage, Hallstadt 2005, S. 98 ff. 13 Hartmut Kreikebaum, Dirk Ulrich Gilbert, Glenn O. Reinhardt, Organisationsmanagement internationaler Unternehmen – Grundlagen und moderne Netzwerkstrukturen, 2. Auflage, Wiesbaden 2002, S. 188 ff.
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bereits in das existente rechtliche Regelwerk eingeordnet, mithin unter bereits geregelte Normsachverhalte subsumiert werden können.
4.1 Netzwerk als Rechtsbegriff? Netzwerke drücken ein Phänomen aus, um Erscheinungen des Seins adäquat zu beschreiben. Besonders hervortretende Eigenschaften dieses Erscheinungsbildes stellen seine Unbestimmtheit und Offenheit und die hieraus resultierenden Vorteile dar. Gerade aus diesem Grunde ist der Netzwerkbegriff in aller Munde.14 Die genannten Eigenschaften des Netzwerkes verbieten eine unmittelbare juristische Begriffstransformation. Sie bewirken, dass ein Gebilde dauerhafter sozialer Koordination kooperativ oder hierarchisch gestaltet sein kann, sich der unterschiedlichsten formellen oder informellen Instrumentarien bedient und selbst seine Entstehung sowohl einer ausdrücklichen Planungsstrategie als auch einem nach spontanen Bedürfnissen ausgerichteten Zufall zu entstammen vermag. Eine solche Umschreibung der Beziehungsstränge verschiedener Akteure auf der Basis der Informalität und regelmäßiger Gleichrangigkeit15 und mithin die dem Netzwerkphänomen immanente Flexibilität oder die der Erscheinung gar zugesprochene Lernfähigkeit16 versperrt dem Terminus den Guss in eine juristische Gehaltsform und verhindert die unmittelbare juristische Begriffstransformation. Zudem wird der Ausdruck Netzwerk in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen mit unterschiedlichem Bedeutungsgehalt verwendet, wodurch seine Qualifikation als Begriff in der Rechtssprache in ein diffuses Licht gestellt wird. Im interdisziplinären Wortgebrauch verwischen sich die Konturen. Der Mangel einer rechtswissenschaftlichen Theorie erschwert eine Aufnahme ins Recht, weil hierfür Eigenschaften des Phänomens zu benennen wären, auf die problembezogen mit Rechtsregeln reagiert werden müsste. Ist das „Netzwerk“ als Begriff im Recht nicht angelegt,17 macht das den Terminus nicht einfach irrelevant. Er zieht eine Verbindung und erleichtert der 14
Zur Unterscheidung von Netzwerkbegriff und Netzwerkmetapher Christoph Möllers, Netzwerke als Kategorie des Organisationenrechts, in: Janbernd Oebbecke (Hrsg.), Nicht-normative Steuerung in dezentralen Systemen (2005), S. 285 ff. 15 Dieser Aspekt ist keinesfalls unumstritten; Hierarchische Strukturen nicht ausschließend Christoph Möllers, Transnationale Behördenkooperationen, ZaöRV 65 (2005), 351, 380. Zur Rolle der Europäischen Kommission als Zentralstelle Gabriele Britz, Vom Europäischen Verwaltungsverbund zum Regulierungsverbund?, EuR 2006, 46 ff. 16 Martin Eifert, Innovationen in und durch Netzwerkorganisationen: Relevanz, Regulierung und staatliche Einbindung, in: Martin Eifert/Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Innovation und rechtliche Regulierung (2002), S. 88 ff. 17 Richard M. Buxbaum, Journal of Institutional and Theoretical Economics 149, 698 ff., der seine Argumentation mit der bekannten Feststellung „Network is not a legal concept“ abschließt; Gun-
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Rechtswissenschaft den Eintritt in das Reich der Nachbardisziplinen. Ob als „Verweisungsbegriff“18 bezeichnet oder als „Brückenbegriff“19 metaphorisch ausgefüllt, dient seine Verwendung der Vermittlung realistischen Bedeutungsgehalts in die juristische Handhabung. In dieser Funktion sind Netzwerke positivdogmatisch längst Bestandteile des geschriebenen Rechts und seiner richterlichen Ausformung. Sie sind in einzelnen Gesetzen,20 Gerichtsentscheidungen und in rechtswissenschaftlichen Publikationen21 auffindbar. Die Bedeutung der Sprache für das Recht im Hinblick auf seine terminologische Erneuerung sollte nicht unterschätzt werden.22 Auch ohne Qualifikation als Rechtsbegriff bleiben Netzwerke natürlich Gegenstand rechtlicher Beurteilung.
4.2 Netzwerk als Organisationskategorie? Netzwerke sind hermetisch nicht geschlossen. Interaktionen vollführen sich in einem mehr oder weniger an feste oder variable Regeln angelehnten Ordnungssystem. Das Netzwerk will offen bleiben für Kooperationsformen jeglicher Art, seine Flexibilität ist der Kernpunkt der Konstruktion und ermöglicht den beteiligten Akteuren disparate Ziele zu verknüpfen. Auf eine Organisationsebene gehoben, könnte man das Merkmal der Gleichrangigkeit als rechtliches Abgrenzungskriterium wählen, um den Weg für eine Einordnung in eine rechtliche Organisationskategorie zu ebnen. Dieser Weg ist steinig, bereits die Horizontalität des Gebildes stößt in den Wirtschaftswissenschaften auf Zweifel und wird nicht als eine fest bestimmte Eigenschaft des Gebildes anerkannt. Der Zuweisung in eine im Recht bestehende Organisationskategorie steht jedoch weitaus gewichtither Teubner, Coincidentia oppositorum: Das Recht der Netzwerke jenseits von Vertrag und Organisation, in: Marc Amstutz (Hrsg.), Die vernetzte Wirtschaft – Netzwerke als Rechtsproblem (2004), S. 11 ff. 18 Christoph Gusy, „Wirklichkeit“ in der Rechtsdogmatik, JZ 1991, 213, 220. 19 Wolfgang Hoffmann-Riem, Methoden einer anwendungsorientierten Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Eberhard Schmidt-Aßmann/Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft (2004), S. 9, 61 f. 20 Vgl. etwa § 50 a GWB; zum Netzwerk der Wettbewerbsbehörden Ulf Böge/Anja Scheidgen, Das neue Netzwerk der Wettbewerbsbehörden in der Europäischen Union, EWS 2002, 201 ff. 21 Vgl. etwa den Tagungsband der 47. Assistententagung Öffentliches Recht, in: Boysen/Bühring/ Franzius/Herbst/Kötter/Kreutz/Lewinski/Meinel/Nolte/Schönrock (Hrsg.), Netzwerke (2007); Gunther Teubner, Das Netzwerk als Vertragsverbund: Virtuelle Unternehmen, Franchising, Justin-time in sozialwissenschaftlicher und juristischer Sicht (2004), S. 10 ff. (siehe auch http://www.jura.uni-frankfurt.de/ifawz1/teubner/dokumente/netzwerk_buch.pdf). Kritisch Jean Nicolas Druey, Das Recht als Recht für Netzwerke: Eine Wegskizze, KritV 2006, 163, 169 f. 22 Unlängst Heinrich Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie (1977), S. 194: „Recht gewinnt Gestalt nur durch das Medium der Sprache. Das Recht ist dadurch existentiell an die Sprache gebunden“.
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ger der Umstand entgegen, dass ein herausragendes Merkmal rechtlich anerkannter Zusammenarbeitsformen in der Möglichkeit besteht, einen sanktionierten Willen verbindlich zu machen und mithin hierarchische Macht auszuüben. Dringend stellt sich somit die Frage, ob dem Numerus clausus rechtlicher Organisationsvorschläge ein weiterer hinzuzufügen sein sollte. Diese Frage darf verneint werden. Dem Recht kann es nicht gelingen, das Netzwerk als solches in einen Rechtstatbestand umzuwandeln und die Erscheinung als Rechtsinstitut sui generis auszuformen.23 Das Recht vermag die Qualität einer einzelnen Verbindung – sozusagen einer Binnenstruktur – zu bestimmen, die sich durchaus durch ihre Interaktivität innerhalb verschiedener Elemente auszeichnen darf. Es ist jedoch nicht in der Lage, eine auf Flexibilität und Offenheit ausgerichtete Verbundenheit an sich rechtlich zu kategorisieren und somit sozialen Institutionen Eingang in ein rechtliches Ordnungsschema zu gewähren.
4.3 Netzwerk als Handlungskooperation? Administrative Vernetzungen beschäftigen das öffentliche und insbesondere das europäische Recht. Gerade in überstaatlichen Politikbereichen erlebt das Denken in Handlungsformen eine gewisse Konjunktur.24 Behördliche Kooperationen zeichnen sich dadurch aus, dass sie mehr darstellen als die Summe ihrer Mitglieder und die Art ihrer Vernetzung Aktionsmöglichkeiten und Nutzungschancen anbietet, die über formelle Rahmenbedingungen hinausgehen. Als Folge dieser Interaktionsmuster treten Legitimationsfragen auf, wenn Netzwerke als Akteure staatlichen und überstaatlichen Handelns einberufen werden. Häufig handeln Netzwerke nicht als selbständige Verwaltungsträger, denen eigene Rechte und Pflichten zugeordnet werden könnten. Andererseits wird es schwer fallen, ihre Handlungen übersichtlich einzelnen Handlungsbestandteilen der beteiligten Verwaltungseinheiten zuzuordnen. Bei der Frage nach der Zurechnung handelt es sich jedoch keineswegs um eine typische Problematik in einem Netzwerkkonstrukt, sondern um einen jeglicher menschlicher Interaktion eigenen Umstand, der seiner Einordnung harrt. Für diese Fälle der interadministrativen Verflechtungen hält das Recht bereits Normenkonstrukte vor, die relevante Fragen nach der Zurechnung, Transparenz und der Legitimation zu beantworten vermögen. Der Einfügung eines gesonderten rechtlichen Rahmens bedarf es nicht mehr. 23
A.A. Gunther Teubner, Die Perspektive soziologischer Jurisprudenz: Das Recht der Netzwerke, in: Machura/Ulbrich (Hrsg.): Recht, Gesellschaft, Kommunikation, Festschrift für Klaus F. Röhl (2003), S. 40, 46 f. 24 Jürgen Bast, Grundbegriffe der Handlungsformen der EU – entwickelt am Beschluss als praxisgenerierter Handlungsform des Unions- und Gemeinschaftsrechts (2006).
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4.4 Netzwerk als Vertragsverbund? a) Vertragsnetzwerke als Herausforderung der Zivilrechtsdogmatik Das Fehlen einer Verrechtlichung netzwerkartiger Sozial- und Wirtschaftsstrukturen schließt nicht aus, dass das Recht für die Handlungslogik eines Netzwerks ein normatives Konzept entwickelt und bereithält. Im Bereich des Privatrechts konfrontiert das Netzwerkkonstrukt den legislativen Normsetzer und den richterrechtlichen Anwender mit den Risiken und Chancen der Vertragsnetze. Derartig komplexe Leistungsbeziehungen sind als Folge spezialisierter Arbeitsteilung zum herausragenden Merkmal unserer gegenwärtigen Marktwirtschaft geworden. Sie werden gar als das Rückgrat der marktwirtschaftlichen Wertschöpfungskette wahrgenommen.25 Wirtschaftlich bedeutsame Formen netzwerkförmiger Kooperationen zeigen sich nicht nur bei der Warenproduktion und Warenvermarktung, sondern auch bei der Dienstleistungserbringung und insbesondere im Finanzsektor bei der Kreditvergabe und im bargeldlosen Zahlungsverkehr.26 Ob Netzwerkstrukturen auf der Produktionsebene in der Form von „just in time“Zulieferverbindungen, auf der Absatzebene wie etwa beim Franchising oder im Kreditwesen analysierend, gerade der bilaterale Austausch innerhalb der Multilateralität des Netzwerkphänomens gibt der Rechtsdogmatik Fragen auf. Die Verknüpfung mehrerer Schuldverhältnisse unter einer komplexen wirtschaftlichen Intention stellt die auf die Verbindung von Gläubiger und Schuldner konzentrierte Zivilrechtsdogmatik vor neue Herausforderungen. Die Koordinations- und Haftungsprobleme weisen in ihrer eigentümlichen Mischung sowohl auf das Vertrags- als auch auf das Verbandsrecht, wobei zu konstatieren ist, dass weder der Vertrag einerseits noch der Verband anderseits die Emergenz der konstituierten Netzeinheiten zu erfassen vermag. Das Recht hält für den Bereich zwischen bilateraler Interessenwahrnehmung einerseits und gesellschaftsrechtlichem Verbund andererseits zwischen synallagmatischem Vertrag und formaler Organisation keinen dogmatischen Vorschlag vor. Es stellt sich die Frage, ob es eines speziellen Normengefüges bedarf, das der spezifischen Netzwerklogik gerecht werden kann. Sollte eine solche Verrechtlichung von Netzwerken sinnvoll erscheinen, ist abzuhandeln, wie die Lücke in der Typologie privatautonomer Handlungsmodelle zwischen Vertrag, Delikt und Gesellschaft zu füllen sein könnte. Sollten die Risiken einer Netzwerkorganisation von adäquaten rechtlichen Zurechnungsvorschriften und Haftungssystemen bereits innerhalb des Vertragsund Gesellschaftsrechts aufgefangen werden, muss auf das bereits vorhandene 25 26
So ausführlich Stefan Grundmann AcP 207 (2007), 718, 721 ff. Die ersten Gedanken zum Verbundcharakter des bargeldlosen Zahlungsverkehrs finden sich bei Wernhard Möschel AcP 186 (1986), 187, 211 ff.
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juristische Handwerkszeug zurückgegriffen werden, um mit Hilfe des geltenden Rechts die neuartigen Rechtsfragen zu lösen, die Vertragsnetze hervorbringen. Vor dem Eintauchen in Überlegungen um dogmatische Konstruktionen eines Vertragsnetzes ist es sinnvoll, sich die soziologische Betrachtungsweise eines zugrundeliegenden Vertragskonstrukts zu vergegenwärtigen und sich der Vorteile einer solchen rechtssoziologischen Sichtweise gewahr zu werden.
b) Vertrag als soziale Struktur Die zivilrechtliche Dogmatik fasst den Vertrag als zweiseitiges Rechtsgeschäft und als die Übereinstimmung zweier komplementärer Willenserklärungen auf.27 Das gesetzgeberische Leitbild ist auf die einmalige und auf die sofortige Abwicklung angelegte rechtsgeschäftliche Verbindung zwischen zwei Beteiligten gerichtet. Seine Grundlage fußt auf dem Willen und der gewollten Selbstverpflichtung der an dem Vertragswerk beteiligten Parteien. Das Konsensmodell der Rechtsgeschäftslehre stößt auf Schwierigkeiten, wenn sich der aus dem sozialen Kontext abgeleitete Erklärungssinn einer Willensäußerung und der wirkliche Wille nicht decken. Grenzen erfährt das methodologische Konstrukt ebenfalls durch die institutionellen Grenzen der Vertragsfreiheit. Fehlt die Willenserklärung, vermag das dogmatische Modell auf dem Weg von den vertraglichen zu den vertragsartigen Sphären Verantwortungsrelevanzen und Haftungsfragen wie etwa im Falle einer Auskunft, eines sozialtypischen Verhaltens oder einer berufsspezifischen Betätigung nicht klarzustellen oder zu beantworten. Gerade diese Grenzfälle animierten Vertreter28 rechtssoziologischer Wirklichkeitsbetrachtung, die nicht konsensuellen Elemente des Vertrages aufzuzeigen und seine soziale Funktion als Mittel innerhalb eines rechtlich geordneten sozialen Prozesses wahrzunehmen. Den vertraglichen Konsens als sozialen Sachverhalt zu erfassen birgt die Möglichkeit in sich, das Interaktionssystem Vertrag in seinem gegenüber den einzelnen Willenserklärungen emergenten Ausmaß zu erfassen. Willenserklärungen treten in einem solchen funktionalen Blickwinkel in den Schatten der sozialen Handlungsstruktur. Die Vertragsfreiheit in all ihrer facettenreichen Ausformung wird nicht vom Standpunkt der Autonomie einer individuellen Rechtspersönlichkeit aus definiert, sondern aus ihrer sozialen Funktion
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Statt aller Werner Flume, Das Rechtsgeschäft (1965), S. 601 ff. Hingewiesen sei auf die Vertragslehre von Emile Durckheim, Die Regeln der soziologischen Methode (1895), S. 256 ff., und auf die Lehre vom Vertrag bei Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), S. 398 ff.
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hergeleitet.29 Hierdurch gelingt es, neben der Selbstbindung durch eine Willenserklärung auch die Bindung infolge einer bestimmten Selbstdarstellung zu erfassen.30 Die Rechtsfigur des Vertrages wird als soziale Institution reflektiert. In den umfassenden rechtssoziologischen Konzeptionen der unmittelbaren Gegenwart sind die Parteien Subsysteme jener sozialen Systeme, an denen sie partizipieren.31 Die „Juridifizierung des Vertrags“ wird als fortschreitende Verrechtlichung von Reziprozitätsverhältnissen begriffen.32 Der vertragliche Konsens ist sozialer Sachverhalt, die Berücksichtigung der gegenseitigen Reziprozitätserwartungen entfernt das Recht vom individuellen Willenskonzept und verbindet die Pflichtenbindung mit der Sozialbindung. Mit der Rechtsdogmatik gemein hat dieser Ansatzpunkt, dass auch das Recht selbst sich nicht damit begnügen konnte, die Entstehung vertraglicher Pflichten allein auf den Parteiwillen zu stützen. Die Notwendigkeit, das Vertragsumfeld einer rechtlichen Begutachtung zu unterziehen, wird hierbei keinesfalls in Zweifel gezogen. Allein der Inhalt der nichtkonsensuellen Elemente des Vertrages eröffnet eine Diskussion über den rechtlichen Ursprung und den Umfang jeglichen Vertrauensschutzes in der Form der Schutzpflichten und begründeten vertraglichen Erwartungshaltungen. Hat die soziologische Jurisprudenz den Vertrag als sozialen Sachverhalt vor Augen und ist sich seiner Emergenz bewusst, wird für das Recht die soziale Transparenz sichtbar, die das Vertragsgebilde umgarnt und welche die formale Definition des Vertrages als Übereinstimmung von Willenserklärungen nicht herauszuarbeiten vermag. In dieser Form bereichert die soziologische Jurisprudenz die Rechtsanwendung. Steht der Vertrag als sozialer Sachverhalt im Mittelpunkt der Analyse, wird ein mehrdimensionaler sozialer Tatbestand beleuchtet, an den sich unterschiedliche Anforderungen der Umwelt knüpfen. In einer solchen Wirklichkeitskonstruktion kommt dem durch die vertragliche Bindung konstituierten Sinnzusammenhang von Handlungen nicht nur die Bedeutung zu, sich in der Beziehung zwischen den Parteien mit ihrem individuellen Erwartungshorizont bewähren zu müssen; vielmehr gilt auch das Gebot, die Integrität jener Institutionen und sozialen Systeme nicht zu beeinträchtigen, die erst die Bedingungen für das autonome Handeln zur Verfügung stellen.
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Vgl. etwa Ludwig Raiser, Vertragsfunktion und Vertragsfreiheit, in: Hundert Jahre Deutsches Rechtsleben, Festschrift Deutscher Juristentag, Bd. 1 (1960), S. 101 ff. 30 Umfassend Gunther Teubner, Alternativkommentar zum BGB (1980), § 242 RdNr. 93 ff. 31 Zu sozialen Systemen und partizipierenden Teilsystemen Niklas Luhmann, Soziale Systeme (1984), S. 289 ff. 32 Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (1993), S. 459 ff.; zum Verhältnis von Netzwerken und Systemen Boris Holzer, Netzwerke und Systeme. Zum Verhältnis von Vernetzung und Differenzierung, in: Christian Stegbauer (Hrsg.) Netzwerkanalyse und Netzwerktheorie – Ein neues Paradigma in den Sozialwissenschaften (2008), S. 155 ff.
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c) Netzvertrag und Vertragsnetz Vor dem Hintergrund der soziologischen Reflexion eines Vertragskonstrukts ist für den Betrachtungsgegenstand Netzvertrag der Boden geebnet. Der Begriff Vertragsnetz oder Netzvertrag kann die unterschiedlichsten Konstellationen beschreiben, die einer bildlichen Darstellung zugänglich als Kette, Stern, Dreieck oder Kreis sichtbar gemacht werden und zudem untereinander verknüpft sein können.33 Visualisierungsvarianten innerhalb der sozialwissenschaftlichen Netzwerkanalyse können in ihren graphischen Darstellungsformen hierbei ihren eigenen Beitrag leisten.34 Der Schwerpunkt der soziologischen Sichtweise liegt auf dem besonderen Strukturmerkmal von Netzwerken, dem gegenseitigen Vertrauen.35 Neben die formale Beziehung und den nicht nur auf das Gegenseitigkeitsverhältnis beschränkten reziproken Austausch tritt das besondere Vertrauensfundament als sozialer Mechanismus, der das verbindende Element zwischen vergangenen Erfahrungen und einer kontingenten Zukunft knüpft. Sein Ursprung liegt außerhalb der formalen Beziehung in den vielfältigsten Formen sozialer Interdependenz begründet.36 Für das Recht gilt es, die innerhalb und an das Netzwerk gerichteten Reziprozitätserwartungen und Vertrauensvorschüsse im Grad ihrer Berechtigung zu erfassen und hierdurch eine adäquate Risikoverteilung zu filtern. Dieses Unterfangen wird bei unvorhergesehenen Konstellationen anspruchsvoll, wenn festgestellt wird, dass nicht zwischen allen an dem Netz Beteiligten primäre Leistungspflichten bestehen, vertragliche Sorgfaltspflichten jedoch zur Entstehung gelangt sind. Traditionell werden ein Vertragsverhältnis begleitende berechtigte Erwartungspositionen im Zivilrecht mit Hilfe der ergänzenden Vertragsauslegung erfasst. Die Abgrenzung zwischen dem rechtlichen Institut der ergänzenden Vertragsauslegung und gesetzlichen Haftungsmodellen wird in der Rechtsprechung zudem durch eine objektivierende Betrachtung unterstützt.37 Zur Beurteilung einer Schutzpflicht genügt hiernach mangels ausdrücklicher oder konkludent zu ermittelnder Anhaltspunkte die objektive Interessenlage. Ein wirklicher innerer Erklärungswille wird vernachlässigt. Je mehr Interessen an einer Transaktion beteiligt sind, desto notwendiger wird die objektivierende Vertragsauslegung, um die entstehenden Schutzbedürfnisse des Rechtsverkehrs einzufan33
Beschreibend Stefan Grundmann AcP 207 (2007), 718, 722 f.; Wellenhofer KritV 2006, 187. Curt Wolfgang Hergenröder/Sonja Justine Kokott ZVI 2009 (Sonderheft), 27, 36 f. m.w.N. 35 Ausführlich zu Strukturmerkmalen von Netzwerken Jörg Sydow/Arnold Windeler, Steuerung von und in Netzwerken – Perspektiven, Konzepte, vor allem aber offene Fragen, in: Jörg Sydow/Arnold Windeler (Hrsg.), Steuerung von Netzwerken (2000), S. 1, 11 ff. 36 Umfassend Gunther Teubner ZHR 165 (2001), 550, 554 f. 37 Beispielhaft sei auf das Urteil des BGH vom 2.11.1983, – IV a ZR 20/82 –, NJW 1984, 355, 356 hingewiesen; bestätigt von BGH vom 13.07.1994, – IV ZR 294/93 –, NJW 1995, 51, 52. 34
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gen. Unabhängig von den Schwächen38 einer solchen Vorgehensweise gibt die Relativierung des subjektiven Einzelwillens in der rechtsgeschäftlichen Transaktion die richtige Richtung vor. Die objektivierte Beurteilung öffnet der zweckorientierten Interpretation die Türe. In diesen Zusammenhang gesellt sich das Besondere der Netzwerkstruktur, die sich dadurch auszeichnet, dass der Vertrag nicht nur auf die verschiedenen Einzelverhältnisse hin gedacht werden darf, sondern sich auf das verbundene Ganze zu konzentrieren hat. Vertragsverbindungen innerhalb eines Netzes ist eigen, dass die Handlungsorientierung der Beteiligten einen bestimmten übergeordneten Zweck im Fokus hat, der die vertragsinterne Koordination leitet. Verschiedene Verträge und Absprachen sowie stillschweigend vorausgesetzte Verhaltensgebote und -verbote werden unter einem von allen Beteiligten erstrebten Ziel und in der Überzeugung gebündelt, dass nur das gleichgerichtete Zusammenwirken aller den Erfolg des Projekts zu garantieren vermag. Die Konstruktion wird durch den Faktor charakterisiert, dass alle Verträge unter dem Dach der gemeinsamen Intention zusammentreten und nicht notgedrungen alle Parteien miteinander vertraglich verbunden sind. Die Einzelverträge sind inhaltlich miteinander verwoben, die angestrebten Transaktionen selbst dienen wiederum der Erfüllung anderweitiger Verpflichtungen. Die Komplexität im Zusammenwirken und die Zielgerichtetheit im Handeln legt die Vermutung nahe, dass der Wille zu einer gemeinsamen Zweckverwirklichung auch die Verantwortung für die rechtlichen Folgen umfasst, welche zur Zielerreichung notwendig bzw. dieser dienlich sind. An der doppelseitigen Orientierung39 in Bezug auf die Erwartungen der Netzteilnehmer an den einzelnen Vertrag und das gesamte Netz sollten sich dogmatische Abbildungen komplexer Netzwerkstrukturen messen lassen können. Gerade die Konzentration auf das Kollektiv des Netzes macht die soziale Dynamik sowie den Erfolg des Netzverbundes aus und trägt die besonderen Risiken für Beteiligte und Außenstehende in sich. Eine Reduzierung auf das einzelne Vertragsverhältnis vernachlässigt das mancherorts als „generalisierte Reziprozität“40 bezeichnete Strukturmerkmal eines Netzwerkverbunds, das in der flexiblen 38
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Das klassische Vertragsmodell geht von Vertragsverhandlungen aus, die durch eine umfassende persönliche Einflussnahme auf den Vertragsinhalt und weitreichende subjektive Erkenntnismöglichkeiten gekennzeichnet sind. Dieses Modell stößt auf heute mittlerweile oft veränderte Umstände beim Vertragsschluss, die nicht nur in Schriftform, sondern auch fernmündlich oder per technisch unterstützter EDV abgewickelt werden und häufig vorformulierte Vertragsbedingungen enthalten. Zur Individualorientierung der Netzknoten und der Kollektivorientierung des Netzes vgl. Dan Wielsch, Iustitia mediatrix: Zur Methode einer soziologischen Jurisprudenz, in: Calliess/FischerLescano/Wielsch/Zumbansen (Hrsg.), Festschrift für Gunther Teubner (2009), S. 395, 405 f. Gunther Teubner, Das Netzwerk als Vertragsverbund: Virtuelle Unternehmen, Franchising, Justin-time in sozialwissenschaftlicher und juristischer Sicht (2004), S. 121 (siehe auch http://www.jura.uni-frankfurt.de/ifawz1/teubner/dokumente/netzwerk_buch.pdf).
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Verknüpfung der wechselseitigen Verträge zu finden ist und Erwartungshaltungen aufnimmt, die sich nicht auf die Ebene des vertraglichen Synallagmas beschränken lassen.
d) Rechtsfolgen – der Netzwerkspezifik geschuldet In komplexen Netzwerkstrukturen trifft das Recht auf die unterschiedlichsten Figuren koordinierter Vertragssysteme. Bei der Betrachtung der rechtlich relevanten Beziehungsebenen bieten sich zwei unterschiedliche Richtungen an. Zum einen gerät die Beziehung der durch das einzelne Vertragsverhältnis gebundenen Vertragsparteien ins Visier des Interesses, wenn es um die Verteilung netzwerkinduzierter Vor- oder Nachteile geht. Es steht zur Untersuchung, in welcher Form die vorhandenen Netzwerkstrukturen die bilateralen Beziehungsebenen beeinflussen und das gemeinsame Ziel Modifikationen im Rahmen des isolierten Einzelvertrags hervorbringt bzw. rechtfertigt. Angesprochen sind netzwerkspezifische Treuepflichten und Kontrollmaßstäbe für allgemeine Geschäftsbedingungen des Vertragsnetzwerks. Müssen etwa Mengenrabatte im Netz weitergegeben werden, wenn die Einkaufsmenge sich nur durch das Netz selbst erreichen ließ? Können Einwendungen eines einzelnen Vertragsverhältnisses von anderen Netzteilnehmern erhoben werden? Sind Abreden im Einzelvertragsverhältnis missbräuchlich, wenn sie dem Netzzweck zuwiderlaufen? Zum anderen bedürfen diejenigen Vertrauenstatbestände des Netzkonstrukts einer besonderen Aufmerksamkeit, die im Verhältnis der einzelnen Netzwerkteilnehmer zueinander über einen Einzelvertrag und deliktische Ansprüche hinausgehende Schutzpflichten hervorrufen oder die Risikoverteilung verändern und somit das Verhältnis von Kooperation und Konkurrenz der verschiedenen Netzteilnehmer betreffen. Haftet etwa ein Netzteilnehmer dem anderen, obwohl er selbst mit diesem vertraglich nicht verbunden ist? Muss ein Netzteilnehmer Weisungen eines anderen berücksichtigen, obwohl keine direkte Vertragsverbindung zwischen beiden besteht? Wer hat innerhalb der personellen Komplexität auftretende Schäden auszugleichen?
e) Deutungsstand komplexer Vertragssysteme Bei der Durchsicht privatrechtlicher Literatur fällt auf, dass rechtsrelevante Vernetzungen in den letzten Jahren des Öfteren zum Gegenstand rechtswissenschaftlicher Abhandlungen wurden. Auf der Suche nach dogmatischen Strukturen im Falle von unbaren Zahlungsvorgängen wurde eine neue dogmatische Kategorie
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des Verbund- oder Netzvertrages in Erwägung gezogen, welche die Ketten von Einzelverträgen in ihrer Einbettung in das Gesamtsystem als multilaterale Verbindung zu erfassen sucht.41 Das dogmatische Konstrukt geht von dem Eintritt des Kunden in das Zahlungsnetz im Moment der ersten Kontaktaufnahme mit einem am Netz beteiligten Kreditinstitut aus. Von diesem Moment an sollen vertragliche Leistungs- und Sorgfaltspflichten zwischen dem neuen Kunden und allen Verbundteilhabenden in der Annahme zur Entstehung gelangen, dass alle Netzwerkteilnehmer dem agierenden Geschäftspartner von vornherein konkludent Vollmacht erteilt hätten, für sie als Stellvertreter tätig zu werden.42 Die Konstruktion in der Form, dass alle Kreditinstitute Vollmacht erteilen würden, mit Kunden aller anderen Institute vertragliche Fundamente zu begründen, wurde als Fiktion beurteilt43 und hat sich aufgrund der weit reichenden dogmatischen Bedenken nicht durchgesetzt.44 Der Annahme eines Triallagmas,45 das die Wirksamkeit der drei Vertragsverhältnisse bei der Transaktion Kartenzahlung voneinander abtrennt, wird der Widerspruch zu den grundlegenden Vertragsvereinbarungen der am Zahlungsvorgang beteiligten Parteien entgegengehalten.46 Orientiert sich das Recht an der Relation zwischen den Parteien, wird dem Vertragszweck, der das einzelne Vertragsverhältnis mit dem Netzverbund in Beziehung setzt, besondere Bedeutung beigemessen. Die Überlagerung der individuellen Vertragszwecke mit einem einheitlichen Netzzweck zum Nutzen aller am Verbund Beteiligter weist auf eine gesellschaftsähnliche Konstruktion hin.47 Einer gesellschaftsrechtlichen Typologisierung steht jedoch die Widersprüchlichkeit im Verhältnis des einzelnen Vertragszweckes und des Netzzweckes entgegen, die sich keinesfalls stetig in ihrer Zielrichtung gleichen. Das Gesellschaftsrecht verlangt den an einem Gesellschaftsvertrag beteiligten Parteien ein uneigennütziges Handeln zugunsten des eine Gesamthand führenden Gesell41
Wernhard Möschel AcP 186 (1986), 187, 211 ff.; siehe ferner Mathias Rohe, Netzverträge – Rechtsprobleme komplexer Vertragsverbindungen (1998), S. 141, 168 ff. Ausführlich Mathias Rohe, Netzverträge – Rechtsprobleme komplexer Vertragsverbindungen (1998), S. 141 ff. 43 Mit umfassender Begründung und weiteren Fundstellen Stefan Grundmann AcP 207 (2007), 718, 725 f.; Gunther Teubner ZHR 165 (2001), 550, 558. 44 Vgl. etwa Uwe Hüffer ZHR 151, 93, 106 f.; weitere Nachweise bei Gunther Teubner, Das Netzwerk als Vertragsverbund: Virtuelle Unternehmen, Franchising, Just-in-time in sozialwissenschaftlicher und juristischer Sicht (2004), S. 104 (siehe auch http://www.jura.unifrankfurt.de/ifawz1/teubner/dokumente/netzwerk_buch.pdf). 45 Peter W. Heermann, Drittfinanzierte Erwerbsgeschäfte – Entwicklung der Rechtsfigur des trilateralen Synallagmas auf der Grundlage deutscher und U.S.-amerikanischer Rechtsentwicklungen (1998); ders. KritV 2006, 173 ff. 46 So etwa Stefan Grundmann AcP 207 (2007), 718, 726 f. 47 Vgl. etwa Andreas K. Baumgarten, Das Franchising als Gesellschaftsverhältnis (1993); Michael Martinek, Franchising (1987); Axel Merz, Qualitätssicherungsvereinbarungen – Zulieferverträge, Vertragstypologie, Risikoverteilung, AGB-Kontrolle (1992). 42
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schaftszwecks ab. Eine solche uneigennützige Förderung des Netzzweckes und sein Vorzug vor dem gemeinschaftlichen Erfolg bleibt einem Netzkonstrukt fremd, da der gemeinsame Zweck nicht Inhalt einer vertraglichen Absprache wurde.48 Es existieren weder Vereinbarungen bezüglich einer einheitlichen Vertretungsmacht noch werden gemeinschaftliche Gesellschafterbeschlüsse angestrebt, die das Eigeninteresse abbedingen könnten.49 Die teilnehmenden Vernetzenden wollen eigenständig bleiben und werden in diesem Entschluss durch den Grundsatz der Privatautonomie gestützt und bestätigt.50 Im Grunde dominiert das jeweilige Einzelinteresse, der gemeinsame Zweck ist diesem untergeordnet. Dies lässt sich bereits anhand der Tatsache einsehen, dass manche Vertragspartner lediglich den eigenen Vertragsinhalt kennen und ihnen oft nicht einmal andere im Netz verankerte Vertragsverbindungen bekannt sind.51 Das Vertrauen der autonomen Netzteilnehmer richtet sich vielmehr auf einen zukünftig erwarteten Vorteil in dem Wunsch, möglichst wenig eigenen Risiken ausgesetzt zu sein bzw. Risiken auf andere Netzteilnehmer verteilen zu können. Gegner eigenständiger Netzvertragstheorien machen den einzelnen Vertrag mitsamt der doppelseitigen Interessenorientierung zum Ausgangspunkt ihrer Betrachtung.52 Einigkeit besteht in dem Faktum, dass die Eingebundenheit des einzelnen Vertragsverhältnisses in ein Netzkonstrukt Veränderungen in der rechtlichen Beurteilung der Rechte und Pflichten im Einzelvertrag mit sich bringt.53 Zugleich stimmt man darin überein, dass es einer eigenständigen Dogmatik der Vertragsnetze bzw. eines besonderen Netzvertragsorganisationsrechts nicht bedarf, da das geltende Vertrags- und Deliktsrecht bereits vielfältige Rechtsinstitute und gesicherte Wertungsaspekte zur Lösung von Problemkonstellationen im Netzkonstrukt zur Verfügung stellt, deren neue Anwendung aufgrund des Netzwerkphänomens sich reibungslos in das bereits vorhandene methodische Instrumentarium reiht. Unter der grundsätzlichen Ablehnung von Direktansprüchen54 zwischen vertraglich nicht verbundenen Mitgliedern im Netz wird aufgezeigt, inwieweit die Netzeingebundenheit des Einzelvertrags den Inhalt und die Reichweite der Schutz- und Treuepflichten der Vertragspartner be48
Vgl. hierzu etwa Gunther Teubner, Das Netzwerk als Vertragsverbund: Virtuelle Unternehmen, Franchising, Just-in-time in sozialwissenschaftlicher und juristischer Sicht (2004), S. 78 ff. (siehe auch http://www.jura.uni-frankfurt.de/ifawz1/teubner/dokumente/netzwerk_buch.pdf). 49 Ausführlich Stefan Grundmann AcP 207 (2007), 718, 728. 50 Fritz Niklisch BB 2000, 2166, 2168; ebenso Marina Wellenhofer KritV 2006, 187, 188 ff. 51 Diesen Aspekt besonders hervorhebend Fritz Niklisch BB 2000, 2166, 2168. 52 So schon Gunther Teubner ZHR 165 (2001), 550, 559 f.; jüngst Stefan Grundmann AcP 207 (2007), 718, 732 ff.; Marina Wellenhofer KritV 2006, 187, 190, 199. 53 Vgl. etwa Knut Werner Lange, Das Recht der Netzwerke – Moderne Formen der Zusammenarbeit in Produktion und Vertrieb (1998), RdNr. 465. 54 Ausführlich Stefan Grundmann AcP 207 (2007), 718, 732 ff.
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einflusst und worin diese rechtlichen Spezifika ihre dogmatische Fundierung finden.55 Die Berücksichtigung der Funktionsfähigkeit des Netzverbundes als das Fundament für die Verwirklichung der eigenen Interessen – mithin der Netzzweck – wird als die übereinstimmend zugrunde gelegte Geschäftsgrundlage erkannt und findet in der Figur des Wegfalls der Geschäftsgrundlage maßgebliche Kriterien für Problemkonstellationen, in denen der Netzzweck, den alle Mitglieder des Netzverbundes als wichtig erachten, in unerwarteten Ausnahmefällen eine Beeinträchtigung erfährt und einer Partei das Festhalten am Vertrag nicht mehr zugemutet werden darf oder eine Anpassung des Vertragsinhalts angemessen erscheint.56 Demselben Bedürfnis versucht die Ausarbeitung der Rechtskategorie des Vertragsverbundes zu genügen, um das Netzwerk juristisch auszuformen und die hiermit verbundenen Risiken für die beteiligten Akteure zu erkennen und zu gestalten.57 Vertragliche Schutz- und Treuepflichten der Netzmitglieder kommen in einer Unterteilung in Kooperations-, Loyalitäts-, Systemförderungs- sowie Informations-, Hinweis- und Warn-, Geheimhaltungs- und Gleichbehandlungspflichten zur Ausführung.58 Von besonderem Interesse sind Fallgestaltungen eines Binnendurchgriffs im Netz, wenn im Verhältnis zwischen vertragsmäßig nicht gebundenen Netzmitgliedern ein Schaden entstanden ist. Als vertragliche bzw. quasivertragliche Rechtsgrundlagen werden etwa die Haftung für den Erfüllungsgehilfen, der Vertrag mit Schutzwirkung zu Gunsten Dritter oder die Anwendung des § 826 BGB geprüft.59 Auch sonstige Schutzpflichten und Weisungsrechte im Verhältnis zu Dritten sowie deren eigenen Einstandspflichten werden als weitere Grundbausteine auf dem Weg zu einer Dogmatik der Vertragsnetze in die Diskussion gebracht, um die im realen Wirtschaftsverkehr hochaktuellen Netzwerkverbindungen dogmatisch einzufangen.60
Fazit Dem Terminus Krise wohnt kein spezifischer rechtswissenschaftlicher Bedeutungsgehalt inne. In der Rechtwissenschaft beherbergt das Erscheinungsbild 55
Federführend Stefan Grundmann AcP 207 (2007), 718 ff.; Marina Wellenhofer KritV 2006, 187 ff. Ausführlich Stefan Grundmann, Festschrift für Harm Peter Westermann (2008), S. 227 ff. 57 Gunther Teubner, Netzwerk als Vertragsverbund: Virtuelle Unternehmen, Franchising, Just-intime in sozialwissenschaftlicher und juristischer Sicht (2004), S. 10 ff. (siehe auch http://www.jura.uni-frankfurt.de/ifawz1/teubner/dokumente/netzwerk_buch.pdf). Kritisch Jean Nicolas Druey, Das Recht als Recht für Netzwerke: Eine Wegskizze, KritV 2006, 163, 169 f. 58 Ausführlich Marina Wellenhofer KritV 2006, 187, 192 ff., 194 ff. 59 Marina Wellenhofer KritV 2006, 187, 199 ff. 60 Umfassend zu finden bei Stefan Grundmann AcP 207 (2007), 718, 749 ff. 56
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Krise ein metaphorisches Anwendungsfeld. Veränderungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit fordern das Recht heraus, sich zu entwickeln und seine Wandelbarkeit und Anpassungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Gegenwärtig verursacht die Globalisierung der Welt mitsamt dem enormen Informationszuwachs stetig schnellere soziale Umbrüche und verändert gesellschaftlich fundierte Strukturen. Die steigende Komplexität der Lebensverhältnisse birgt einen Abbau von Hierarchie in sich und fördert das Entstehen und Intensivieren von Netzwerkstrukturen im privaten, wirtschaftlichen und politischen Umfeld. Anhand des aktuellen Phänomens Netzwerk kann die Anpassungsbedürftigkeit und Anpassungsfähigkeit des Rechts erfahrbar werden. Netzwerkartige Organisationsgeflechte haben bereits in vielerlei Form Eingang in das rechtliche Regelwerk erfahren; ob als besondere Kooperationsform in administrativen, politisch nationalen oder überstaatlichen Bereichen oder als Vertragsnetzwerk in privatrechtlichen Verbindungen: Netzwerkstrukturen werden das Recht auch in Zukunft intensiv beschäftigen.
Krankheit als Auslöser einer Überschuldungssituation von Privatpersonen – Ursachen-Wirkungsbeziehung von Krankheit und Schuldenkrise Eva Münster/Stephan Letzel
Überschuldung von Privatpersonen kann durch verschiedene Gründe ausgelöst werden. Die Auswertungen des Statistischen Bundesamtes zeigen auf, dass die drei häufigsten Hauptgründe der Überschuldung die Arbeitslosigkeit (29%), gefolgt von Trennung, Scheidung, Tod des Partners (13%), sowie Erkrankung, Sucht oder Unfall (10%), sind.1 Während in der Altersgruppe der unter 25Jährigen der krankheitsbezogene Hauptgrund bei 6,4% der Überschuldeten ursächlich für die Schuldenkrise verantwortlich gemacht wird, sind es bei den 55 bis unter 65-Jährigen 14,2% der Überschuldeten, die aufgrund von Erkrankung, Sucht oder Unfall in die finanzielle Ausgabenarmut geraten (s. Abb 1).2 Abbildung 1:
Anteil der beratenden Personen mit dem Überschuldungshauptauslöser „Erkrankung, Sucht, Unfall“ nach Altersgruppen
Quelle: Statistisches Bundesamt, Wirtschaft und Statistik 11/2008; S. 963-973.
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Statistisches Bundesamt, Wirtschaft und Statistik 11/2008; S. 963-973. Statistisches Bundesamt, Wirtschaft und Statistik 11/2008; S. 963-973.
C. W. Hergenröder (Hrsg.), Krisen und Schulden, DOI 10.1007/978-3-531-93085-5_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Eva Münster/Stephan Letzel
Eine Stratifizierung des Hauptauslösers „Erkrankung, Sucht, Unfall“ nach dem Haushaltstypus ergibt, dass besonders bei alleinlebenden Bürgerinnen (11,6%) und Bürgern (14,8%) häufig dieser die Ursache für die Überschuldungssituation ist (s. Abb 2).3 Abbildung 2:
Anteil der beratenden Personen mit dem Überschuldungshauptauslöser „Erkrankung, Sucht, Unfall“ nach Haushaltstyp
Quelle: Statistisches Bundesamt, Wirtschaft und Statistik 11/2008; S. 963-973.
Die dargestellten Ergebnisse des Statistischen Bundesamtes basieren auf einer Befragung der Schuldner- und Insolvenzberater über die zu beratenden Personen, wobei lediglich ein singulärer Hauptgrund der Überschuldungssituation der Klienten erfasst wird. Fragt man die überschuldeten Bürgerinnen und Bürger selbst, so wird der Hauptgrund „Erkrankung, Sucht oder Unfall“ noch häufiger benannt. In der ASG-Studie (Armut, Schulden und Gesundheit) des Instituts für Arbeits-, Sozialund Umweltmedizin der Universitätsmedizin Mainz wurden mittels einer standardisierten schriftlichen Befragung insgesamt 666 Klienten und Klientinnen der Schuldner- und Insolvenzberatungsstellen in Rheinland-Pfalz 2006/07 befragt. Unter anderem wurden Erkenntnisse über die Gründe der Überschuldung, den Gesundheitszustand und die Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen, die der Zuzahlung bedürfen, eruiert. Die detaillierte Beschreibung der Studie, die
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Statistisches Bundesamt, Wirtschaft und Statistik 11/2008; S. 963-973.
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in den Jahren 2006/07 durchgeführt wurde, kann im Detail bei Münster et al. nachgelesen werden4 5. 32,6% des Kollektivs (n=217) der ASG-Studie führten als Hauptgrund der Überschuldung eine Krankheit (23,3%), eine Sucht- und Abhängigkeitserkrankung (12,6%) oder einen Unfall (2,3%) an.6 Bei der Betrachtung der Hauptgründe der Überschuldung gilt zu berücksichtigen, dass 16,2% aller Probanden nur einen einzigen Hauptgrund angaben, während jeweils etwa ein Viertel zwei (23,6%) bzw. drei (25,3%) Hauptgründe nannten (s. Abb. 3).7 Abbildung 3:
Anzahl an Hauptgründen der Überschuldung (n=666, ASGStudie)
30,0 25,3 23,6
Prozentualer Anteil (%)
25,0
20,0 15,8
15,1
15,0 8,7
10,0
6,5 3,9
5,0 1,1 0,0 keine Angaben
1
2
3
4
5
6
>6
Anzahl an Hauptgründen der Überschuldung
Quelle: Münster E, Letzel S.: Überschuldung, Gesundheit und soziale Netzwerke. Expertise für das Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend zur Bearbeitung des 3. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung. Publiziert in: Materialien zur Familienpolitik: Lebenslagen von Familien und Kindern; Überschuldung privater Haushalte. Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend 2008; Nr. 22:55-128. 4
Münster E, Rüger H, Ochsmann E, Alsmann C, Letzel S.: Überschuldung und Gesundheit – Sozialmedizinische Erkenntnisse für die Versorgungsforschung. Arbeitsmed. Sozialmed. Umweltmed. 2007; 42, 12: 628-634. 5 Münster E, Letzel S.: Überschuldung, Gesundheit und soziale Netzwerke. Expertise für das Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend zur Bearbeitung des 3. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung. Publiziert in: Materialien zur Familienpolitik: Lebenslagen von Familien und Kindern; Überschuldung privater Haushalte. Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend 2008; Nr. 22:55-128. 6 Vgl. Fußnote 5. 7 Vgl. Fußnote 5.
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Deutlich zeigen beide Erhebungsverfahren, sowohl die Befragung der Schuldnerund Insolvenzberater für die Bundesstatistik als auch die Befragung der Überschuldeten in der ASG-Studie, dass eine Erkrankung schwerwiegende finanzielle Folgen haben kann. Die Kaskade der Schuldenkrise aufgrund einer Erkrankung ist auf eine Einkommensreduzierung sowie einer Ausgabensteigerung bei Krankheit zu erklären. Je nach Krankheitsverlauf und Krankheits-/Rehabilitationsprognose können verschiedene Einbußen im Einkommen auftreten: Sofern im zuständigen Tarifvertrag keine andere Regelung festgehalten ist, wird einem Arbeitnehmer und einem Auszubildenden im Falle der Arbeitsunfähigkeit maximal für die Dauer von sechs Wochen i.d.R. das Arbeitsentgelt weitergezahlt. Anschließend greift bei pflichtversicherten Arbeitnehmern das Krankengeld der gesetzlichen Krankenkassen. Es beträgt 70 Prozent des letzten vollen monatlichen Brutto–, aber höchstens 90 Prozent des letzten vollen monatlichen Nettoeinkommens. Abhängig von der generellen Beitragspflicht und dem Zusatzbeitrag für Kinderlose in der Pflegeversicherung ist bei dem Bezug von Krankengeld mit effektiven Einkommenseinbußen von etwa 25% gegenüber dem letzten Nettoeinkommen zu kalkulieren. Wegen derselben Krankheit wird Krankengeld für längstens 78 Wochen innerhalb einer Frist von drei Jahren gezahlt. Für Selbstständige ist das Krankengeld seit dem 1.1.2009 nicht mehr eine gesetzlich vorgeschriebene Regelleistung, sondern eine Wahlleistung der gesetzlichen Krankenkassen. Dies birgt die Gefahr, dass Personen sich nicht ausreichend absichern und im Krankheitsfall mit hohen Einkommenseinbußen konfrontiert werden. Sofern eine Krankheit oder Behinderung den Betroffenen auf nicht absehbare Zeit außerstande setzt, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden (teilweise erwerbsgemindert), bzw. mindestens 3 Stunden (vollständig erwerbsgemindert) täglich erwerbstätig zu sein, kann unter bestimmten Voraussetzungen eine Rente wegen Erwerbsminderung bezogen werden. Der Bezug von Erwerbsminderungsrente führt normalerweise zu erheblichen finanziellen Einbußen. In nicht wenigen Fällen müssen ergänzend Grundsicherungsleistungen beim zuständigen Sozialamt beantragt werden. Zu drastischen Einkommenseinbußen kommt es, wenn der Arbeitsplatz aufgrund der Erkrankung verloren geht oder ein befristeter Vertrag nicht verlängert wird. Die Versorgungsansprüche auf Arbeitslosengeld (ALG I) treten ein. Die Bezugszeit beträgt in der Regel 1 Jahr, die Höhe liegt zwischen 60 % und 67 % des vorangegangenen Nettolohnes. Danach, oder wenn kein Anspruch auf Arbeitslosengeld I besteht, folgt der Bezug von ALG II (Hartz IV), welches die Grundsicherungsleistungen für er-
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werbsfähige Hilfsbedürftige bringt. Die Höhe des Arbeitslosengeldes II richtet sich nach der Bedürftigkeit des Antragsstellers. Die Sicherung des Lebensunterhalts geschieht durch die Regelleistung und flankierend können die tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung gezahlt werden, soweit sie angemessen sind. Die Ausgabenseite von Erkrankten kann sich je nach Krankheitslage, Lebensalter und sozialer Situation deutlich erhöhen. Hierbei hat das Gesundheitsmodernisierungsgesetz seinen Beitrag geleistet, da in vielfältiger Weise eine Erhöhung der Eigenbeteiligung bei der medizinischen Versorgung von dem Erkrankten abverlangt wird. Als Beispiele seien die 10.- Euro-Praxisgebühr sowie die Zuzahlung bei Arznei- Heil- und Hilfsmitteln (mind. 5.- €, -höchstens 10.- €),und die Streichung der Sozialklausel, d.h. der generellen Zuzahlungsbefreiung bei Unterschreiten einer bestimmtem Einkommensgrenze, genannt. Die Auswirkungen dieser Reform belasten besonders Kranke mit langwierigen chronischen Verläufen, sowie Personen die von Armut betroffen sind. So auch das Kollektiv der Überschuldeten: Insgesamt gab die Mehrzahl der 666 Probanden der ASG-Studie an, sowohl aus Geldmangel vom Arzt verschriebene Medikamente in den letzten 12 Monaten nicht gekauft (65,2%), als auch aufgrund der Schuldensituation und der 10-Euro-Selbstbeteiligung einen Arztbesuch unterlassen zu haben (60,8%)8 9. Weitergehend können sich die Ausgaben von Kranken steigern, da für alltägliche Abläufe Unterstützung „eingekauft“ werden muss, wie z.B. bei der Haushaltsführung oder der Versorgung und Betreuung von weiteren Familienangehörigen wie z.B. Kindern.
Was bedeuten diese Erkenntnisse für die Versorgung von Kranken? 1.
Die negativen wirtschaftlichen Folgen einer Krankheit können zur Überschuldung und damit zur Zahlungsunfähigkeit einer Privatperson führen und ggf. die Haushaltsmitglieder, wie Ehepartner und Kinder, tangieren. Æ Die soziale und sozialmedizinische Beratung von Patienten ist von großer Bedeutung. Frühzeitig sollte in der medizinischen Beratung der Faktor
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Münster E, Rüger H.: Überschuldung bei Krebspatienten: Finanzielle Not, ein Thema für das medizinische Versorgungssystem. FORUM, 23, 3, 42-44 (Mitgliederzeitschrift der Deutschen Krebsgesellschaft) 2008 9 Münster E, Rüger H, Ochsmann E, Alsmann C, Letzel S.: Over-indebtedness and Additional Payments to the German Health-Care System - Discrimination up on Destitution in Expenditure. Gesundheitswesen. 2010; 72: 67-76
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Eva Münster/Stephan Letzel „Schulden“ angesprochen werden und ggf. das Fachwissen der Schuldnerund Insolvenzberatungsstellen einbezogen werden.
2.
Überschuldung bei Erkrankten kann dazu führen, dass Arztbesuche aufgrund der 10 Euro-Praxisgebühr unterlassen werden, und die vom Arzt verschriebenen Medikamente wegen der Zuzahlungspflicht bei gesetzlicher Krankenversicherung nicht gekauft werden. Weiteres defizitäres Inanspruchnahmeverhalten bei zuzahlungspflichtigen medizinischen und psychotherapeutischen Leistungen ist zu erwarten. Æ Ärzte sollten neben dem sozialen Umfeld auch die finanzielle Situation eines Patienten erfassen, um ggf. sozialmedizinische Hilfestellungen geben zu können. Hier wäre besonders die Härtefallregelung zu nennen, die einkommensschwache bzw. durch Zuzahlungen stark belastete gesetzlich krankenkassenversicherte (GKV) von der Zuzahlungspflicht ab der Belastungsgrenze befreit. In §62 SGB V wird die Belastungsgrenze nach dem Bruttoeinkommen definiert. In der Regel werden GKV-Versicherte von der Zuzahlung für Gesundheitsleistungen ab der Belastungsgrenze befreit, d.h. wenn 2% des jährlichen Bruttoeinkommens durch die Zuzahlungsgebühren überschritten wird. Bei chronisch Kranken lag diese Belastungsgrenze zum Zeitpunkt der Erhebung bei 1%. Problematisch bei dieser gesetzlich festgelegten Belastungsgrenze ist, dass sie sich auf das Bruttoeinkommen einer Person bezieht – überschuldete Personen könnten bei dieser Regelung benachteiligt werden, da wegen scheinbar ausreichendem Bruttoeinkommen die tatsächliche finanzielle Notsituation, bedingt durch Zahlungen an Gläubiger, dem Gesetz folgend keine Berücksichtigung findet. Weitergehend muss neben der Frage, ob die Härtefallregelung flächendeckend bei Betroffenen bekannt ist, auch gefragt werden, ob der bürokratische Aufwand der aktiven Antragsstellung für spezifische Bevölkerungsgruppen, wie die der überschuldeten Bürger, eine Überforderung und damit Benachteiligung darstellt – besonders, wenn neben der finanziellen Not noch eine schwerwiegende Erkrankung vorliegt. Bisher liegt wenig wissenschaftliche Erkenntnis zu dem Bekanntheitsgrad und der notwendigen Inanspruchnahme der Härtefallregelung in Deutschland vor.
3.
Da die Überschuldungssituation nachweislich neben der geringeren Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen auch in weiteren Lebensbereichen, wie z. B. Ernährung und körperlicher Aktivität, negativ assoziiert ist,
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sollte der Therapieverlauf im Hinblick auf die sozial-gesundheitlichen Faktoren hinterfragt werden. Æ Soziale und sozialmedizinische Beratung könnte z.B. Hilfestellungen geben, wie eine gesunde Ernährung bei Krankheit auch mit geringen finanziellen Mitteln möglich ist. 4.
Der Diagnoseverlauf, der wiederum Einfluss auf die Prognose einer Krankheit nehmen kann, könnte bei überschuldeten Privatpersonen im Vergleich zu Bürgern ohne finanzielle Not verzögert sein. Æ Wissenschaftliche Forschung zu Gesundheitssystemveränderungen, wie die der Zuzahlungsverpflichtungen, ist im Hinblick auf Armutsgruppen zu fordern. Die „10€-Praxisgebühr“ könnte besonders in dem Kollektiv der überschuldeten Privatpersonen dazu führen, dass der Diagnoseverlauf verlängert und die Prognose einer Krankheit verschlechtert wird.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Überschuldung aufgrund von Krankheit in Deutschland existiert und dies besonderer Beachtung bei der sozialmedizinischen Versorgung bedarf. In der Beratung von Patienten muss das gesellschaftlich tabuisierte Thema der Überschuldung berücksichtigt und ggf. durch das Fachwissen der Schuldner- und Insolvenzberatungsstellen erweitert werden. Sozialpolitisch dürfen die wirtschaftlichen Folgen von Erkrankungen in der Versorgung nicht außer Acht gelassen werden.
Finanzkrise historisch – Kreditnetzwerke in der SaarLorLux-Region während der Krisenszenarien des 19. Jahrhunderts Daniel Reupke
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Vorüberlegungen
Eine entscheidende Wende – so wie Thukydides das Wort verwandte – bedeutet der griechische Begriff Krise. Allgemein meinte er in der Historiographie eine negativ konnotierte Zeiterfahrung, die gleichzeitig einen Wendepunkt oder Umbruch darstellt.1 Im 17. Jahrhundert fand das Wort Eingang in die Sprache von Militärs und Medizinern. Folgt man der Typologie von Jacob Burckhardt, dann haben Krisen immer bestimmte Ähnlichkeiten. Für ihn gab es große Krisen, beständige Krisen, gescheiterte Krisen und selbstgemachte Scheinkrisen. Die echten Krisen charakterisiere eine tiefgreifende Erschütterung der politischen und sozialen Grundlagen eines Landes. Dabei verliefen die Veränderungsprozesse besonders dynamisch: „Entwicklungen, die sonst Jahrhunderte brauchen, scheinen in Monaten und Wochen wie flüchtige Phänomene vorüberzugehen und damit erledigt zu sein.“2 Die Krise schlechthin sei der Krieg („Völkerkrisis“), aber Burckhardt kennt auch religiöse und politische Krisen. Viele Krisen seien seiner Meinung nach in Wahrheit keine Krisen, da sie keine tiefgreifenden Veränderungen nach sich zögen (Scheinkrisen). In (historischen) Typologien fehlen aber häufig die Naturkatastrophen als Krisenauslöser.3
1
Koselleck, Reinhard: Krise. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Stuttgart: Klett, 1982. Bd. 3, S. 617650. Kosellecks Artikel ist sehr begriffsgeschichtlich; Robinson, James A.: Crisis. In: International Encyclopaedia of the Social Sciences. 1968. Bd. 3, S. 510-514. Robinson legt den Schwerpunkt auf der Entscheidungskomponente. 2 Burckhardt, Jacob: Die geschichtlichen Krisen. In: Ders.: Weltgeschichtliche Betrachtungen. Über geschichtliches Studium. Historische Fragmente. Leipzig: Dieterich, 1985 (Sammlung Dieterich 401). S. 155-197, Zitat S. 162f. 3 Für eine ausdifferenzierte Typologie vgl. Vierhaus, Rudolf: Zum Problem historischer Krisen. In: Faber, Karl Georg; Meiser, Christian (Hg.): Historische Prozesse. München: Beck, 1978. S. 313329.
C. W. Hergenröder (Hrsg.), Krisen und Schulden, DOI 10.1007/978-3-531-93085-5_11, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Für den Geschichtswissenschaftler4 ist die Krise Teil der Narrative, die von ihm entdeckt und systematisiert werden sollte. Reinhart Koselleck sieht eine Krise als eine offene Situation, „in der eine Entscheidung fällig ist, aber noch nicht gefallen ist.“5 Dies zeigt das Potential der Krise für zukünftige Entwicklungen: Die Situation ist aufzunehmen, zu systematisieren, dann eine Prognose für die Zukunft zu erstellen, unter der Berücksichtigung der Entscheidungsoptionen, die wiederum Erfahrungswerten entspringen können.6 Der Begriff Krise wird heute meist pejorativ verwendet. Bei richtigen Entscheidungen kann eine Krise jedoch unter bestimmten Umständen die positive Lösung eines dramatischen Höhepunkts sein und eine bessere Zukunft zeitigen. Eine endgültige Krisendefinition in den Geschichtswissenschaften steht jedoch noch aus, was an der komplexen Wahrnehmung und interdependenten Zusammenwirkung von historischen Prozessen liegen kann.7 Andere Diszipline sind bei der Definition, Systematisierung und Prognostizierung von Krisen schon weiter. Ähnlich dem historischen Prozessdenken sieht beispielsweise die Wirtschaftswissenschaft eine ökonomische Krise als negative Entwicklung des konjunkturellen Zyklus, der besonders anfällig für äußere Faktoren sein kann, die eine krisenhafte Entwicklung fördern können. Neoklassisch ist eine Krise die Folge eines exogenen Schocks oder verfehlter Steuerung.8 Aktuell wird häufig auch auf die Theorie der Krise als Folge exzessiver Spekulation in einer boomenden Konjunktur zurückgehend auf die Postkeynesianer Hyman Minsky und Charles P. Kindleberger rekurriert, die der neoklassischen Theorie vom Gleichgewicht der Märkte jedoch widerspricht.9 Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich von England kommend der Begriff der Wirtschaftskrise. Diese wurde bald in Geld- und Handelskrise ausdifferenziert und die Überproduktionskrise kam hinzu.10 4
Zur Sichtweise von Historikern auf Krisen vgl. Starn, Randolph: Historians and „Crisis“. In: Past & Present 52 (1971), S. 3-22. 5 Koselleck, Reinhart: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 61989 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 36). S. 134. 6 Koselleck, Kritik, S. 105. 7 Vierhaus, Problem, S. 313-329. 8 Vgl. Baßeler, Ulrich; Heinrich, Jürgen; Utecht, Burkhard: Grundlagen und Probleme der Volkswirtschaft. Stuttgart: Schäffer-Poeschel, 192010. Kap. 10 und 28; Rothengatter, Werner; Schaffer, Axel: Makro kompakt. Grundzüge der Makroökonomik. Heidelberg: Physica, 22008. In: Springer-Online unter , aufgerufen am 15.07.2010. Kap. 10f.; Vockel, Joachim: Kreislauf und Krise – Wirtschaftstheorien im Überblick. Eine illustrierte Skizze zur Einführung in die Volkswirtschaftslehre. Köln: Papy-Rossa, 2003. 9 Vgl. Kindlberger, Charles P.: Manias, Panics, and Crashes. A History of Financial Crises. New York: Wiley, 42000; Minsky, Hyman: John Maynard Keynes. Finanzierungsprozesse, Investition und Instabilität des Kapitalismus. Marburg: Metropolis, 1990. 10 Koselleck, Krise, S. 641-644.
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Joseph Schumpeter erkannte, dass die Konjunktur generell in regelmäßigen Auf- und Abschwüngen mit unterschiedlichen Längen und Amplituden verläuft.11 Dann ist die Wirtschaft, folgt man der Neuen Institutionenökonomik (NIÖ), eingebettet in eine soziokulturelle Umgebung, mit der sie interagiert und von der sie dependiert.12 Eine einzelne Krise ist also sowohl punktuelles Ereignis, als auch Teil eines fortlaufenden, immerwährenden Prozesses. Damit kann eine Krise für die Zukunft durchaus „Lernpotential“13 entfalten. Allerdings führen Konjunkturkrisen meist nur zur Anpassung der Wirtschaft an veränderte Bedingungen mit dem Ziel der weiteren Gewinnmaximierung. Hingegen ziehen Strukturkrisen tiefgreifenden Wandeln im Bereich von Institutionen und Regelrahmen nach sich.14 So hat die Wirtschaftskrise15 immer die beiden Dimensionen von Konjunkturverlauf und Strukturrahmen. Wirtschaft hat demnach eine zeitliche, eine geschichtliche Komponente:16 Wirtschaftsgeschichte muss gleichmäßig die historische und die ökonomische Komponente berücksichtigen. Dabei möchte sie heute reine Statistiken mit kulturgeschichtlichen Erkenntnissen unterfüttern,17 was sowohl den Blick auf Konjunktur als auch auf Struktur ermöglicht. Dies macht es gleichzeitig häufig notwendig, sich von der Makro- auf die Mikroebene zu begeben. Hier ist es möglich, die Auswirkung von großen Krisen in einem regionalen Rahmen zu be11
Vgl. Schumpeter, Joseph A.: Konjunkturzyklen. Eine theoretische, historische und statistische Analyse des kapitalistischen Prozesses. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1961. 12 Zur Einführung in die NIÖ anhand von wirtschaftshistorischen Beispielen Wischermann, Clemens; Nieberding, Anne: Die institutionelle Revolution. Eine Einführung in die Wirtschaftsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Stuttgart: Klett, 2004. 13 Grabas, Margrit: Der entwicklungsrelevante Zusammenhang von Krise und Wandel. Die Gründerkrise von 1873/79 als historische Lernkapazität zur Bewältigung der aktuellen Finanz- und Weltmarktrezession. In: SOLONline. Ideen-Diskurs & Strategische Lage, PDF-Datei unter , darin S. 1; Reifner, Udo. Die Geldgesellschaft. Aus der Finanzkrise lernen. Wiesbaden: VS; GWV Fachverlag GmbH, 2010. 14 Grabas, Krise, S. 1f. 15 Zu Wirtschaftskrisen vgl. u. a. Bechtel, Heinrich: Wirtschaftsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert. München: Callwey, 1956. Bd. 3; Duckenfield, Mark: History of Financial Disasters 1763-1995. London; u. a.: Pickering & Catto, 2006; Tilly, Richard H.: Bankenkrise in Mitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart: Steiner, 2000 (Geld und Kapital 3). 16 Vgl. Hodgson, Geoffrey M.: How Economics Forgot History. The Problem of Historical Specificity in Social Science. London; New York: Routledge, 2001; Matis, Herbert; Senft, Gerhard (Hg.): Wie viel Geschichte braucht die Ökonomie. Markierungspunkt von Eugen Böhm-Bawerk bis Joseph A. Schumpeter. Wien: Löcker, 2007; und hier insbesondere der Aufsatz von Leonhard Bauer, S. 327-340. 17 Vgl. zu diesen neuen Ansätzen Berghoff, Hartmut; Vogel, Jakob (Hg.): Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels. Frankfurt am Main; New York: Campus, 2004; sowie die Beiträge von Margrit Grabas, Hartmut Berghoff, Mark Spoerer und Christoph Boyer in der Miszelle „Kultur in der Wirtschaftsgeschichte“. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 94 (2007), S. 173-188.
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obachten – ein wichtiges Desiderat der Wirtschaftsgeschichte. Gleichzeitig ergibt sich vielleicht die Gelegenheit, Ableitungen aus der Vergangenheit für derzeitige und zukünftige Entwicklungen zu gewinnen. Dieses Desiderat und dieser Ansatz sollen anhand der ersten Ergebnisse eines laufenden Forschungsprojektes diskutiert werden.
2
Einleitung
Geld und Kredit, Krise und Verlust betraf die Menschen zu allen Zeiten in besonderem Maße. Wenig Geld oder gar Schulden zu haben, das war die Regel in vergangenen Tagen. Seit fünf Jahren läuft – zunächst im interdisziplinären rheinlandpfälzischen Exzellenzcluster „Gesellschaftliche Abhängigkeiten und soziale Netzwerke. Historische Forschungen und Gegenwartsanalysen zu Chancen und Risiken einer sozialen Beziehungsform“18 und mittlerweile als DFG-Projekt an der Universität des Saarlandes – das Projekt von Gabriele Clemens zur Kreditvergabe im 19. Jahrhundert. Dabei konzentriert man sich auf den ländlichen Raum, wo damals noch über 80 Prozent der Bevölkerung lebten und finanzielle Bedürfnisse hatten, die in Ermangelung von Banken durch Kredit von Privat an Privat gedeckt werden mussten. Das Projekt19 möchte für Deutschland herausarbeiten, was in Frankreich bereits vor gut einem Jahrzehnt erforscht wurde. Dort zeigte der Sozial- und Wirtschaftshistoriker Gilles Postel-Vinay in der mikrohistorische Pilotstudie „La terre et l'argent“20 durch eine frankreichweite, stichprobenmäßige Erfassung und Auswertung von Notariatsakten, wie lokale Kreditmärkte organisiert waren, welches Gewicht der Reputation von Schuldnern und Gläubigern und dem Wissen über die Kreditfähigkeit zukam. Er arbeitete die hohe Bedeutung der strong ties, der engen Verwandtschafts- oder Klientelbeziehungen heraus, berücksichtigte aber auch die weak ties, etwa bei losen Bekanntschaften. Seine Kollegin Laurence Fontaine ging davon aus, dass sich ein Kreditwesen in Netzwerkbeziehungen organisierte, die halfen, das notwendige Vertrauen für die Investition des Gläubigers in die Person des Schuldners herzustellen.21 18
Vgl. . Vgl. . 20 Postel-Vinay, Gilles. La terre et l'argent. L'agriculture et le crédit en France du XVIIIe au début du XXe siècle. Paris: Michel, 1998. 21 Fontaine, Laurence; u. a. (Hg.): Des personnes aux institutions. Réseaux et culture du crédit du XVIe au XXe siècle en Europe. Louvain-la-Neuve: Acad. Bruyant, 1997; oder dies.: Antonio and Shylock: Credit and Trust in France, c. 1680 - c. 1780. In: Economic History Review 54 (2001, 1), S. 39-57. 19
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Soziale Netzwerke sind also ein Schlüssel, um Mechanismen am Kreditmarkt offenzulegen und zu erklären. Historische Netzwerkforschung steckt noch in den Kinderschuhen,22 während in der Soziologie die Soziale Netzwerkanalyse (SNA) eine recht gängige Methode ist.23 Im 19. Jahrhundert, als es auf dem Land noch keine Banken gab,24 wurde in erster Linie Geld von Privat an Privat verliehen. Für die eingebundenen Personen wirkten diese Netzwerke handlungskoordinierend, indem sie durch die Vermittlung eines zentralen Ego die Ressourcenflüsse (Informationen, Geld) zwischen den Alteri in der Peripherie steuern. Diese wechselseitigen Beziehungen erzeugen nach Pierre Bourdieu Soziales Kapital,25 welches Vertrauen unterstützt. Die Mitgliedschaft in einem Netzwerk stellt für das einzelne Mitglied gegenüber den anderen Mitgliedern Sicherheit her und reduziert die Komplexität des Vorganges der Kreditvergabe, wodurch Vertrauen entsteht – nach Niklas Luhmann die conditio sine qua non für Geldgeschäfte.26 Nun können Historiker interessante Fragestellungen entwickeln, aber nicht immer existieren aussagekräftige Quellen, um diese zu beantworten. Vor diesem Problem steht die Forschung in unserem Untersuchungsraum nicht. Dieser liegt in einem Karree mit den Eckpunkten Luxemburg, Trier, Saarbrücken und Metz. In Folge der Französischen Revolution und der Revolutionskriege trat in den neuen linksrheinischen Departements 1803 auch das Loi Ventôse27 in Kraft. Dieser Notariatsordnung verdanken wir eine seit dem beginnenden 19. Jahrhundert einsetzende, fast geschlossene Überlieferung der für die Hypothekeneintragung notwendigen notariell beglaubigten Kreditverträge. Unser Forschungsprojekt analysiert diese für ausgewählte Städte. Untersucht werden die Notariatsakten der saarländischen Amtsstadt Merzig,28 des luxemburgischen Remich29 und in der französischen Landstadt Sierck-les-Bains30. 22
Erstmals in geschichtswissenschaftlichem Kontext angewandt wurde die SNA bei Padgett, John F.; Ansell, Christopher: Robust Action and the Rise of the Medici. In: American Journal of Sociology, 98 (1993, 6), S. 1259-1319. 23 Einführend Jansen, Dorothea: Eine Einführung in die Netzwerkanalyse. Grundlagen, Methoden, Anwendungen. Wiesbaden: VS, 32006. 24 Zum Vorhanden- und Nichtvorhandensein von Bank im 19. Jahrhundert Born, Karl Erich: Geld und Banken im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart: Kröner, 1977 (Kröners Taschenausgabe 428). 25 Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital-Kulturelles Kapital-Soziales Kapital. In: Kreckel, Reinhard (Hg.): Soziale Ungleichheiten. Göttingen: Schwartz, 1983 (Soziale Welt 2). S. 183-198. 26 Grundlegend Luhmann, Niklas: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart: Lucius & Lucius, 1989 (UTB 2185). 27 Umfassend zum Gesetz an sich und für die Region im Besonderen ist die Arbeit von Weisweiler, Wilhelm: Geschichte des rheinpreußischen Notariates. Essen: Baedecker, 1916-1925. 2. Bd.e. 28 Kell, Johann Heinrich: Geschichte der Stadt Merzig und des Merziger Landes. Merzig: Stadt Merzig, 1958. Die Stadt Merzig hatte 1864 4.000, der Kreis 1843 42.000 Einwohner. 29 Schmit, Gustav: Onst Land. Band 1: Der Kanton Remich: ein Heimatbuch und touristischer Führer für luxemburger Volks-, Kunst- und Kulturkunde. o. O., 1937; Sivering, Henri: Statistique du
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Die notariellen Kreditverträge, welche in den hiesigen Regional- und Nationalarchiven31 liegen (für Merzig 7.320 von insgesamt überlieferten 36.500 Urkunden) werden von Hand durchgearbeitet und die beinhaltenden Daten in eine standardisierte Maske aufgenommen. Des Weiteren werden Inventare, die nach dem Tode einer Person mit minderjährigen Kindern angefertigt werden mussten, hinzugezogen, um Kleinstkredite und Kredite auf Schuldschein („auf Privatunterschrift“) nachzuweisen. Die Analyse wird durch die Betrachtung von Löschungen und Quittungen abgerundet, die Erkenntnisse über Kapitalflüsse und Kreditlaufzeiten ermöglichen. Diese standardisiert erhobenen Daten können mit dem für die historische Fachinformatik entwickelten Computerprogramm KLEIO32 ausgewertet werden. Die erhaltenen Berechnungen dienen nach einer Aufbereitung in diversen Kalkulationsprogrammen im nächsten Schritt zur Rekonstruktion der Netzwerke an den jeweiligen Orten, welche mit der Software VennMaker33 und visone34 dargestellt werden sollen. Diese quantitative Netzwerkforschung wird ergänzt – der Soziologe sagt trianguliert35 – durch qualitative Daten, die in Familienrekonstruktionen mit Hilfe von Ortsfamilienbüchern36 und in Materialien der jeweiligen Stadtarchive bestehen. Historische Netzwerkforschung ist also immer mehr als reine Soziale Netzwerkanalyse und viel weniGrand-Duché de Luxembourg. Luxembourg: Bruck, 1865. Die Stadt Remich hatte 1864 2.242 Einwohner, der Kanton 15.000. Images du patrimoine. Band 26: Lorraine. Canton de Sierck-les-Bains, Moselle. Metz: Édition Serpenoise, 1987. Dictionaire topographique. Bd. 23: Moselle. Paris: Imp. Nat., 1868. Die Stadt Sierck hatte um 1850 800 Einwohner, der Kanton 1868 knapp 14.000 Einwohner. 31 Bestand Notariat Merzig 587-28 im Landesarchiv des Saarlandes (im Folgenden LAS), Bestand MCN Remich in den Archives Nationales Grand Ducal (ANGD) und Bestand 38E in den Archives Departémental de la Moselle (AD57). 32 Vgl. dazu Woollard, Matthew; Denley, Peter: Source-Oriented Data Processing for Historians: a Tutorial for . St. Katharinen, 1993 (Halbgraue Reihe zur Historischen Fachinformatik, Serie A: Historische Quellenkunden 23). 33 VennMaker ist von einer Expertengruppe aus Soziologen und Historikern erst jüngst an der Universität Trier entwickelt und spezielle zur Beantwortung solcher Fragestellungen designt worden. Mehr zu VennMaker auf . 34 Vgl. dazu Baur, Markus; u. a.: visone – Software for Visual Social Network Analysis. Mutzel, Petra; Jünger, Michael; Leipert, Sebastian (Hg.): Graph Drawing. Springer, 2002 (LNCS 2265). S. 463-464. Mehr zu visone auf . 35 Vgl. hierzu Franke, Karola; Wald, Andreas: Möglichkeiten der Triangulation quantitativer und qualitativer Methoden in der Netzwerkanalyse. In: Höllstein, Bettina; Strauss, Florian (Hg.): Qualitative Netzwerkanalyse. Konzepte, Methoden, Anwendungen. Wiesbaden: VS, 2006. S. 153-175. 36 Verburg, Werner: Die Einwohner von Merzig 1670-1870. Saarlouis: Vereinigung für Heimatkunde im Landkreis Saarlouis, 2001 (Quellen zur Genealogie im Landkreis Saarlouis und angrenzenden Gebieten 4). Es handelt sich um eine CD-ROM, in deren Datenbeständen über ein BrowserFenster navigiert wird. Zur Belegangabe werden im Folgenden die Randzahlen (Rz.) benutzt, die sich auch in der zweibändigen Druckversion des Werkes befinden; Kayser, Prosper; Kayser, Roger: Familienchronik Stadt Remich. Luxembourg: Institut Grand-Ducal, 2000. Zu Sierck existiert kein Familienbuch. 30
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ger soziologisch ausgerichtet; ihre Definition ist ein Desiderat der modernen Geschichtswissenschaft. Die mittlerweile aus den Daten errechneten Ergebnisse37 für Merzig lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Im 19. Jahrhundert beherrschten in der ländlichen Region des Saargaus Privatpersonen den Kreditmarkt. Man lieh Geld von Privat an Privat, vorzugsweise verliehen wohlhabende Ortsnotabeln, wie Kaufleute, Beamte oder Rentner an Bauern, Handwerker und Tagelöhner. Durch gegenseitige Bekanntschaft innerhalb geschlossener sozialer Systeme und durch wechselseitige Sozialkontakte entstand das notwendige Vertrauen der Gläubiger in die Person des Schuldners. Kredit wurde als Rentenkredit vergeben: Der Schuldner musste zum jährlichen Verfallstag (häufig der 11. November) lediglich die Zinsen (in 80 Prozent der Fälle in Höhe von 5 Prozent pro Jahr) an den Gläubiger zahlen. Das Kapital an sich blieb man dauerhaft schuldig und vererbte die Schulden auch an seine Kinder, solange der Gläubiger das Geld nicht mit einer angemessenen Kündigungsfrist zurück verlangte. Zur Sicherheit diente ausschließlich Grundbesitz, meist im zwei- bis dreifachen Wert der Schuldsumme.38 Durch diese ökonomisch, sozial und geographisch geschlossenen Kreise war für die übergroße Mehrheit der ländlichen Bevölkerung Wirtschaftskrisen im gesamtwirtschaftlichen Sinne keine direkte Bedrohung. Gefahr für ihre Existenz ging vielmehr auch von Kriegen oder Naturkatastrophen aus. Folgende Ausschnitte aus unseren umfangreichen Ergebnissen stellen nun einige Reaktion der Mikroebene – unserer Untersuchungsregion – auf verschiedene Krisenszenarien der Makroebene beispielhaft vor.
3
Krisenszenarien
3.1 Wirtschaftskrisen Zunächst soll ein Blick auf die Gesamtauswertung für Merzig einen Überblick über die Entwicklung dieses regionalen Kreditmarktes verschaffen:39 Betrachtet 37
Hier und im Folgenden handelt es sich um eigene Berechnungen an den oben aufgeführten Beständen, die auf dem beschriebenen Weg zu Stande kamen. 38 Vgl. Clemens, Gabriele B.; Reupke, Daniel: Kreditvergabe im 19. Jahrhundert zwischen privaten Netzwerken und institutioneller Geldleihe. In: Clemens, Gabriele B. (Hg.): Schuldenlast und Schuldenwert. Kreditnetzwerke in der europäischen Geschichte 1300-1900. Trier: Kleiomedia, 2008. S. 193-220. 39 Auswertung von notariellen Obligationen aus dem Bestand LAS, Notariat Merzig 587-28 für den Zeitraum von 1800 bis 1900. Für eine ausführliche Auswertung sei verwiesen auf Clemens, Gabriele B.; Reupke, Daniel: Zwischen privaten Netzwerken und institutioneller Geldleihe – Die kul-
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Daniel Reupke
man die Veränderung von Anzahl und Volumen der Obligationen von 1800 bis 1900, so fällt eine deutliche Zweiteilung auf: Bis zum Ende der 1850er Jahre pendelte die Anzahl der Obligationen um 45 pro Jahr bei sehr flach ansteigendem Volumen, welches selten über 10.000 Thalern pro Jahr lag. Ausschläge nach unten erklären sich in dieser Zeit häufig durch krisenhafte Erscheinungen. In einer Zeit, in der eine frühindustrielle Landbevölkerung von gewöhnlichen Wirtschaftskrisen nicht erreicht wurde, stellten Krieg und Naturkatastrophen weitaus größere Unsicherheitsfaktoren dar. Dementsprechend liegen Tiefpunkte in den Kriegs- und Revolutionsjahren 1809, 1814/15 und 1847/48, aber auch in den Zeiten von wetterbedingten Hungerkrisen (1820er mit dem durchschnittlich kältesten Winter von 1829/30 und die frühen 1840er Jahre)40. Der zweite Teil beginnt 1856, als Merzig an das Eisenbahnnetz angeschlossen wurde. Es muss dies auch gleichzeitig die Take off-Phase der Merziger Industrialisierung gewesen zu sein. Die Anzahl der Kreditverträge stieg bis auf über 100 pro Jahr und das Volumen pro Vertrag verdreifachte sich. Die Verknüpfung von Eisenbahnbau, Industrieller Revolution und Konjunkturzyklen hat bereits Reinhard Spree nachgewiesen.41 Im Übrigen scheint fast die ganze Kreditentwicklung der Stadt Merzig ein Abbild der Konjunkturentwicklung zu sein.42 In den späten 1860er Jahren stagniert die Entwicklung in Folge der Verunsicherung durch diverse Kriege. Bemerkenswerterweise hat die Gründerzeit nach dem Sieg über Frankreich im Krieg 1870/71 und der damit verbundene Gewinn eines erweiterten Einzugsbereiches durch die Annexion des benachbarten Elsass zunächst keine Auswirkungen auf Merzig. Warum hier der Kreditmarkt zykluswidrig reagierte, bliebe noch zu klären. Erst verspätet, dafür umso heftiger zieht der Kreditbedarf in der Region nach 1875 an. In Merzig überwand man den Tiefpunkt der Gründerkrise schneller und boomt zu Beginn der 1880er Jahr. In diese Zeit fielen viele Firmengründungen von ortsansässigen Handwer-
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41
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turelle Praxis des Kredits im 19. Jahrhundert (Arbeitstitel). In: Quaderni Storici, Frühjahr 2011 (in Vorbereitung). Vgl. Glaser, Rüdiger: Klimageschichte Mitteleuropas. 1000 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen. Mit Prognosen für das 21. Jahrhundert. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 22008. Spree, Reinhard: Die Wachstumszyklen der deutschen Wirtschaft von 1840 bis 1880. Mit einem konjunkturstatistischen Anhang. Berlin: Duncker & Humblot, 1978 (Schriften zur Wirtschaftsund Sozialgeschichte 29). Kap. 4. Vgl. Grabas, Margrit: Konjunktur und Wachstum in Deutschland von 1895 bis 1914. Berlin: Duncker & Humblot, 1992 (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 39); Spree, Reinhard: Wachstumstrends und Konjunkturzyklen in der deutschen Wirtschaft von 1820 bis 1913. Quantitativer Rahmen für eine Konjunkturgeschichte des 19. Jahrhunderts. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1978.
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kern und Kaufleuten.43 Daraufhin kam es wieder zu einer Beruhigungsphase von etwa zehn Jahren, die sich aber weiterhin auf einem hohen Niveau bewegte. Zu Beginn der 1890er Jahre setzte dann ein kräftiges und nachhaltiges Wachstum am Kreditmarkt ein, dass im Gefolge einer massiven Baukonjunktur entstand,44 welche finanziell von der Kreissparkasse und der Arbeiterpensionskasse der Firma Villeroy & Boch befördert wurde. Die Stückzahl der Schuldverschreibungen steigt bis auf durchschnittlich 250 pro Jahr und das Volumen pro Jahr auf 250.000 Thaler. Auf diesem Niveau bewegte sich der Merzig Kreditmarkt weiter bis 1914. Fokussieren wir nun den teilweise zykluswidrig reagierenden Zeitraum von 1865 bis 1885. Hier lassen sich die Auswirkungen einer der schwersten Wirtschaftskrisen des 19. Jahrhunderts auf den Untersuchungsort Merzig genauer nachvollziehen. Das Szenario der Gründerkrise45 hatte sich ab 1873 musterhaft entwickelt: Auf eine überhitzte Baukonjunktur folgten Liquiditätsengpässe. Am 09. Mai 1873 setzte die Wiener Wertpapierbörse den Handel aus und bereits am ersten Tag der Krise wurden an Börsenplatz 78 Insolvenzen gemeldet. Ein Zeitgenosse beschrieb die Situation wie folgt: „Am 9. Mai sistierte die Wiener Börse ohne weiteres ihren Verkehr und damit auch sich selber. Die Börsenräume waren offen, aber nicht als ein Markt, sondern als ein Tummelplatz der wildesten Leidenschaften. (...) Das war der folgenschwere Ausgangspunkt jenes Mißtrauens, welches sich von da ab immer tiefer einfraß.“46 Das Misstrauen machte seinen Weg um den Globus, erreichte die Vereinigten Staaten, von dort das Vereinigte Königreich und dann wieder Kontinentaleuropa. Im Deutschen Reich beendete die Krise die Hausse der Gründerzeit, welche eine Folge des Sieges über Frankreich im Krieg 1870/71 war – der daraus 43
Vgl. Grabas, Margrit: Der vergessene Mittelstand. Entwicklung und Bedeutung kleiner und mittelgroßer Unternehmen an der Saar in der Zeit des krisenhaften Strukturwandels 1873 bis 1894/95. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 89 (2002, 1), S. 41-71. 44 Zimmermann, Clemens: 150 Jahre Sparkasse Merzig-Wadern. Merzig: MDU, 2007, S. 19-21. 45 Zur Gründerkrise allgemein Baums, Theodor: Kartellrecht in Preußen. Von der Reformära zur Gründerkrise. Tübingen: Mohr, 1990 (Vorträge und Aufsätze Walter-Eucken-Institut 127); Grabas, Margrit: Die Gründerkrise von 1873/79 – Jähes Ende liberaler Blütenträume. Eine konjunkturhistorische Betrachtung vor dem Hintergrund der Globalisierungsrezession von 2008/2009. In: Internationale Wissenschaftliche Vereinigung Weltwirtschaft und Weltpolitik 19 (2009), Nr. 182/183, S. 66-82; Hanloser, Gerhard: Krise und Antisemitismus. Eine Geschichte in drei Stationen von der Gründerzeit über die Weltwirtschaftskrise bis heute. Münster: Unrast, 2003; Weigt, Anja: Der deutsche Kapitalmarkt vor dem Ersten Weltkrieg – Gründerboom, Gründerkrise und Effizienz des Deutschen Aktienmarktes bis 1914. Frankfurt am Main: Knapp, 2005 (Schriftenreihe des Center for Financial Studies an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main: Monographien 21); Durch die Nähe zum Untersuchungsraum allerdings mit einem Fokus auf die industrialisierte Region im Saarkohlebecken ist relevant Hammerschmitt, Klaus-Dieter: Die Gründerkrise an der Saar. Saarbrücken: masch, 1973. Univ. Staatsarbeit, Saarbrücken, 1973. 46 Zit. n. Grabas, Krise, S. 4.
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resultierenden allgemeinen Euphorie, der Kapitalüberschüsse durch die französischen Reparationszahlungen, sowie der liberalisierten Gesetzgebung im Bereich der Aktiengesellschaften. Aus einer Hochstimmung war Misstrauen geworden, und dieses hielt bis zum Tiefstpunkt der Krise 1879 an. Der steigende Export konnte zwar die weggebrochene Binnennachfrage ausgleichen, jedoch war dieser durch weitere Produktionssteigerungen bei durchaus vorhandener Marktsättigung und folglich weiterhin sinkenden Preisen erkauft – eine Deflationsspirale, die nicht aufhörte sich zu drehen vor den 1890er Jahren. Anhand der Projektdaten lässt sich die Krise nur teilweise ablesen (Tabelle 1)47. Verunsicherungen in den ausgehenden 1860er-Jahren hatten bereits zu schwankenden Werten bezüglich Kreditvolumen und Anzahl der Kreditverträge geführt. Dies traf insbesondere für 1868 zu, als sich bei einem starken Wirtschaftswachstum das Kreditvolumen halbierte. Nach dem Krieg 1870/71 hatte der Markt Schwierigkeiten sich wieder zu erholen. Erst um die Jahre 1873 und 1874 – also gerade zu Beginn der Gründerkrise – scheint der Gründerboom in Merzig angekommen zu sein. Dies dürfte eine Folge der spezifischen Struktur der Region gewesen sein, worauf Michael Pohl für den nahen Saarbrücker Raum bereits hingewiesen hat.48 Dementsprechend heterogen war die Situation in der zweite Hälfte des Jahrzehnts bis 1880: Während die Krise im Deutschen Reich ihrem Höhepunkt zusteuerte, stiegen in Merzig Volumen und Stückzahl mit starken Schwankungen bis auf jeweils das Doppelte an. Auffällig ist die Erhöhung des Zinsniveaus in diesen Jahren. Die Mischung aus Nachfrage nach Kredit bei gleichzeitiger unsicherer Wirtschaftslage führte zu höheren Zinsen als Risikoausgleich, was vor allem Unternehmen betraf.49 Erst nach 1880 sank der Zinssatz sogar unter das Niveau von fünf Prozent. Der Anstieg in Stückzahl der abgeschlossenen Verträge war deutlich nachhaltig, während das Volumen nachfragebedingt volatil war. So wird deutlich, dass die Krise auf der Makroebene kein vollständiges Abbild auf der Mikroebene zeichnet.
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48
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Auswertung von notariellen Obligationen aus dem Bestand LAS, Notariat Merzig 587-28 der Notare Falkenbach, Franken und Lurtz für die genannten Jahre. Pohl, Michael: Die Geschichte der Saarländischen Kreditbank Aktiengesellschaft. Saarbrücken: SDV, 1972 (Veröffentlichungen der Kommission für saarländische Geschichte und Volksforschung 5). S. 23f. Nachdem die Reichsinterestenordnung den allgemeinen Zinssatz über 450 Jahre hinweg bei fünf Prozent festgeschrieben hatte, öffnete 1861 das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch diese Regelung, indem nun für Handelskredite auch sechs Prozent verlangt werden durften.
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Tabelle 1: Obligationen in Merzig 1865 bis 1885 – Konjunkturdaten50 Jahr
Stückzahl
Volumen
Zinssatz
Konjunkturentwicklung
1865
67
16.086,99
5,00
0,31
1866
53
16.946,66
5,00
0,96
1867
61
22.485,34
5,00
0,19
1868
42
10.611,17
5,00
5,86
1869
66
20.217,16
5,00
0,63
1870
53
25.173,16
5,00
-0,13
1871
51
20.999,98
5,00
3,42
1872
46
25.590,00
5,04
7,03
1873
57
28.315,00
5,02
4,23
1874
65
25.183,08
5,06
7,33
1875
60
33.933,16
5,02
0,60
1876
62
29.862,97
5,02
-0,58
1877
87
42.153,84
5,05
-0,63
1878
144
67.523,50
5,20
4,70
1879
110
49.757,84
5,12
-2,29
1880
135
78.112,99
5,17
-0,90
1881
148
79.733,43
5,24
2,50
1882
92
161.131,06
5,04
1,80
1883
109
70.890,66
5,04
5,30
1884
94
55.636,27
4,97
2,60
1885
117
77.729,83
5,03
2,50
Quelle: eigene Darstellung nach Spree, Wachstumszyklen, S. 370.
3.2 Kriege Neben Wirtschaftskrisen wurde die ländliche Bevölkerung der Untersuchungsregion aber auch von anderen Krisenszenarien erfasst. Kommen wir zunächst zur „Völkerkrisis“ – dem Krieg: Nach den preußisch-französischen Spannungen um die spanische Thronfolge im Sommer 1870 und der berühmten Emser Depesche Bismarcks, erklärte Frankreich Preußen und damit dessen deutschen Verbündeten am 19. Juli 1870 den Krieg. Die Feindseligkeiten begannen am 02. August 50
Die Kreditvolumina sind in Thaler angegeben. Die Umrechnung von Franken, Thaler, Mark usf. erfolgte nach Nelkenbrecher, Johann Christian: Taschenbuch der Münz-, Maaß- und Gewichtskunde für Kaufleute. Berlin: o. V., 81803; und Lünen, L. v.: Reductions-Tabellen der deutschen Reichsmark in die Währungen von Preußen resp. Norddeutschland, Süddeutschland und der Franken, sowie aus jeder dieser Währungen in die drei anderen von einem Pfennig (Kreuzer, Centime) bis 100.000 Mark, Thaler, Gulden und Franken, nebst einem Anhange, enthaltend die Reduction der deutschen Reichsmark in die Feingehalt-Währung der Franken. Metz: Dt. Buchhandlung, 1874; sowie eigenen Beobachtungen (Annäherungsverhältnis: 3,75 Franken = 1 Thaler = 3 Mark).
176
Daniel Reupke
mit dem Artillerieangriff des französischen Kronprinzen auf Saarbrücken. Vier Tage später vertrieben preußische Truppen unter hohen Verlusten die Franzosen von den Höhen oberhalb der Saar. Die gegnerische Hauptarmee ergab sich am 02. September 1870 bei Sedan, wo Kaiser Napoleon III. in Gefangenschaft geriet. Mit der Belagerung von Paris, dem Aufstand der Commune und der französischen Niederlage bei St. Quentin rückte der deutsche Sieg in greifbare Nähe, der nach der Reichsgründung im Spiegelsaal zu Versailles am 14. Januar 1871 durch den Frieden von Frankfurt am 10. Mai des gleichen Jahres besiegelt wurde.51 Abbildung 1:
Obligationen in Merzig 1869 bis 1871 – Marktentwicklung
Quelle: eigene Darstellung.
Wie reagierte der Kreditmarkt des Untersuchungsortes Merzig – es liegt 40 Kilometer nordwestlich von Saarbrücken und 7 Kilometer östlich der französischen Grenze – auf die unmittelbare Bedrohung durch kriegerische Handlungen? Die 51
Zum Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 allgemein: Ganschow, Jan; Haselhorst, Olaf; Ohnezeit, Maik: Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71. Vorgeschichte, Verlauf, Folgen. Graz: Ares, 2009; Roth, Francois: La guerre de 1870. Paris: Fayard, 1990; Schieder, Theodor (Hg.): Reichsgründung 1870/71. Tatsachen, Kontroversen, Interpretationen. Stuttgart: Seewald, 1970; Wetzel, David: A Duel of Giants. Bismarck, Napoleon III, and the Origins of the franco-prussian War. Madison Wisc.: Univ. of Wisconsin Press, 2001; speziell zu Saarbrücken sehr interessant ist die allerdings national gefärbte Darstellung von Ruppersberg, Albert: Saarbrücker Kriegschronik. Ereignisse in und bei Saarbrücken und St. Johann sowie am Spicherer Berg 1870. Saarbrücken: Klingbeil, 1895.
Finanzkrise historisch
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Grafik (Abb. 1) zeigt die Nachfrage nach Krediten im Jahresverlauf:52 Die schwarze Kurve für das ,Normaljahr‘ 1869 steigt wie gewöhnlich zum Frühjahr an, wo Geld für Saatgut oder für über den Winter verbrauchte, nun teure Lebensmittel benötigt wurden. Danach sinkt die Anzahl der beurkundeten Schuldverschreibung bis zur Erntezeit im August/September, wo durch den Verkauf der produzierten Güter ausreichend Geld vorhanden war. Sprunghaft steigt der Bedarf dann zum November wieder an, wo es daran ging, Vorräte für den Winter zu kaufen und – noch wichtiger – Zinsen und Tilgungen anderer Kredite zu bedienen, die traditionell zum 11. November, dem Martinstag, fällig waren, wofür man sich bei ungünstigen Ernten erneut Geld leihen musste. Die (dunkelgraue) Kurve für das Kriegsjahr 1870 verläuft zunächst ähnlich und geringfügig gedämpft. Über die ersten Kriegsmonate Juli, August und September bricht der Kreditmarkt jedoch zusammen. Betrachtet man die Datumsangaben auf den Urkunden ist der letzte Tag normalen Markthandelns der 19. Juli – der Tag der Kriegserklärung. Die Marktentwicklung geht auch 1871 (dargestellt durch die hellgraue Kurve) nur sehr gedämpft vor sich und erreicht selbst den gewöhnlichen Höhepunkt im Spätherbst nur zeitverzögert. Krieg führt also zu einer nachhaltigen Verunsicherung, die sich nicht mit Angebot- oder Nachfragemangel, sondern mit Vertrauensmangel begründen lässt. Netzwerke scheinen hier nicht mehr vertrauensbildend zu wirken. Nun wäre zu prüfen, wie nachhaltig die Verunsicherung war. 25 Kilometer westlich von Merzig liegt bereits in Frankreich ein weiterer Untersuchungsort – Sierck-les-Bains. Im August 1870 war die 1. Deutsche Armee unter dem Kommando von General Karl Friedrich v. Steinmetz von Trier kommend in einiger Entfernung an der Stadt vorbeigezogen und hatte Truppenteile zur Belagerung von Thionville in dem Raum abgestellt (bis November). Gemäß der Abmachung aus dem Friedensschluss fielen Elsass und Lothringen an das Deutsche Reich. Sierck wurde von einer französischen Kantons- zu einer deutschen Kreisstadt. Die Jahre nach 1871 brachten für den Ort deutliche Modernisierungen mit sich (Eisenbahnanschluss, Poststation), aber auch erhebliche Bevölkerungsverluste durch die Abwanderung von Teilen der französischsprachigen Einwohnerschaft, die durch Zuwanderung aus dem Reich nie ausgeglichen wurde. Der Eisen- und Kohleboom in der Region um Thionville zog eine Binnenmigration in Richtung der Arbeitsplätze nach sich, während der Kreis Sierck nach wie vor agrarwirtschaftlich geprägt blieb.53
52
53
Auswertung von notariellen Obligationen aus dem Bestand LAS, Notariat Merzig, 587-28 der Notare Falkenbach, Franken und Lurtz für die genannten Jahre. Elsass-Lothringischer Atlas. Frankfurt am Main: Selbstverlag des Elsass-Lothringischen Instituts, 1931. S. 14, 27 und 39.
178
Daniel Reupke
Tabelle 2: Obligationen in Sierck 1867 und 1885 laut Registre des Recettes Jahr Stückzahl Schuldner
Gläubiger
Bauern Handwerker Handel Beamte Sonstige Bauern Handwerker Handel Beamte Sonstige
1867 151 45 40 6 0 50 5 11 15 54 66
1885 17 10 Sierck 3 Canton 2 außerhalb SP 1 außerhalb F 1 0 Sierck 1 Canton 2 außerhalb SP 4 außerhalb F 9
1867 151 31 80 10 30
1885 17 3 14 0 0
10 120 21 0
1 11 2 3
Quelle: eigene Darstellung.
1870 und 1871 brach der Kreditmarkt der Region von einem sehr hohen Niveau aus zusammen.54 Tabelle 2, welche die Anzahl an Schuldverschreibungen für die Stichjahre 1867 und 1885 aufführt, zeigt, wie dieser sich unter den veränderten Rahmenbedingungen nur teilweise erholte.55 Nicht nur die Anzahl der beteiligten Personen hatten sich geändert: Es beherrschten zwar weiterhin Ortsnotabeln wie Handelsleute, Beamte, gut situierte Rentiers und Großgrundbesitzer (hier unter Sonstiges zusammengefasst) den Kreditmarkt. Allerdings gehörten nun zahlenmäßig weniger Personen zu dieser Gruppe als vor dem Krieg, und es waren nicht mehr vorrangig Beamte und Kaufleute, sondern auch und vor allem wohlhabende Handwerker und Bauern. Diese stammten nun zu gleichen Anteilen aus Frankreich beziehungsweise dem preußischen Saargebiet und nicht mehr zum überwiegenden Teil aus Frankreich. Manche hatte auch schon vor dem Krieg wirtschaftliche Beziehungen nach Sierck unterhalten oder gehörten zu den Migranten, die die nun deutschen Gebiete verließen. Die Netzwerke scheinen recht flexibel gewesen zu sein und konnten mittelfristig auch unter veränderten Bedingungen Vertrauen im Kreditmarkt herstellen.
54 55
Auswertung von notariellen Obligationen aus dem unvollständigen Bestand AD57 38E36. Dieser Vergleich fußt ausnahmsweise nicht auf Notariatsakten, die für den besagten Zeitraum weitgehend unvollständig oder verlorengegangen sind, sondern auf den Registre des Recettes. Diese vollständig überlieferten Listen verzeichneten jeden vor einem Notar oder einer anderen staatlichen Autorität geschlossenen Vertrag, um die dafür fälligen Gebühren zu berechnen und deren Erhebung zu kontrollieren. Sie wurden im Gefolge der Französischen Revolution eingeführt und blieben auch nach der deutschen Annektion erhalten. Die Listen für die Jahre 1867 und 1885 sind zu finden in AD57, 3Q28 166 bis 169 und 3Q28 214 bis 217.
Finanzkrise historisch
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3.3 Naturkatastrophen Abbildung 2:
Obligationen in Merzig 1805 bis 1825 – Marktentwicklung mit Volumen und Stückzahl
Quelle: eigene Darstellung.
Traf dies nun auch für das Szenario einer Naturkatastrophe zu? Eine Betrachtung der in den Jahren 1805 bis 1825 in Merzig ausgefertigten Obligationen in Relation zum Volumen der einzelnen Verträge (ohne den jeweils 10 Prozent höchsten und niedrigsten Beträgen, vgl. Abb. 2)56 lässt bereits in den Kriegsjahren 1808 und 1812 erkennen, dass die Anzahl der Kreditverträge steigt, während das Volumen sinkt. Betrachtet man zusätzlich die Kreditgeber, so fällt auf, dass diejenigen Geldgeber, die über ausreichende Mittel verfügten, sich vom Markt fernhalten, während der auffällig hohe Bedarf an Kleinkrediten in jener Phase durch institutionelle Kreditoren gedeckt wurde. Eine solche Reaktion auf eine Krise zeigte mit aller Deutlichkeit der Kreditmarkt während der Hungerkatastrophe der Jahre 1816 bis 1818. In der Nacht vom 10. zum 11. April 1815 brach der Vulkan Tambora im Südpazifik aus. Von der Forschung wird er als stärkster Vulkanausbruch der vergangenen 10.000 Jahre gewertet.57 Nach der gewaltigen Explosion gelangten große Mengen Asche und Aerosole in die Stratosphäre, die über die Erde verteilt wurden und die Sonneneinstrahlung behinderten. Die Folge war ein sogenannter 56
57
Auswertung von notariellen Obligationen aus dem Bestand LAS, Notariat Merzig, 587-28 der Notare Marx und Artois für die genannten Jahre. Behringer, Wolfgang: Kulturgeschichte des Klimas. Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung. München: Beck, 2007. S. 217f.
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‚vulkanischer Winter‘, in dem die jährlichen Durchschnittstemperaturen um drei bis vier Grad sanken und es in Kanada und der Schweiz im Juli schneite. Weltweit bewirkte der Vulkanausbruch eine mehrjährige Abkühlung, Ernteausfälle, Hungerjahre und daraus folgend ein Auswanderungswelle aus Europa. Die Situation war für die Menschen allgemein sehr bedrückend und zeitigte viele Merkwürdigkeiten. Als Ersatz für die vielen durch Futtermangel verendeten Reitpferde erfand Karl Drais sein zweirädriges Laufrad – die Draisine.58 Einige Engländer, die den verregneten Sommer 1816 am Genfer See in ihren Häusern verbringen mussten, schrieben zur Ablenkung Geschichten: Es entstand das Gruselmärchen „Frankenstein“ von Mary Shelly, und Lord Byron verarbeitete seine Eindrück in dem Gedicht „Darkness“.59 Das stark gebrochene Licht durch den hohen Staubanteil in der Luft inspirierte zeitgenössische Maler – allen voran William Turner – zu der besonderen Farbigkeit und Stimmung ihrer Bilder.60 Den Zeitgenossen war der Auslöser der Krise in keinster Weise bewusst: Um die Not der Ärmsten zu lindern und um ihre eigene Position zu festigen, ließ die neue preußische Verwaltung links des Rheins unter anderem diejenigen erfassen, die Unterstützung brauchten, und diejenigen, die bereit oder fähig waren, zu spenden. Die Anweisung zur Erstellung der Liste im Kreis Merzig durch den kommissarischen Landrat Werner vom 01. Dezember 1816 enthält jedoch keine Erklärung zu den Ursachen der Hungerkatastrophe.61 Dort heißt es nur, dass „Königliche Majestät […] sobald Allerhöchst-Dieselbe von dem GetreideMangel womit die Rheinprovinz bedroht, Nachricht erhalten“ hatte, landesväterliche Gegenmaßnahmen ergriffen habe. Man kaufte Getreide im Osten, welches im Frühjahr und Sommer 1817 an den Rhein geliefert wurde. Kombiniert mit lokalen Gegenmaßnahmen konnten so die schlimmsten Auswüchse der Krise verhindert werden.62 Eine Analyse dieser überlieferten Listen führt zu folgendem 58
Lessing, Hans-Erhard: Automobilität – Karl Drais und die unglaublichen Anfänge. Leipzig: Maxime, 2003. S. 138 und 525. Furgang, Kathy: Tambora: a Killer Volcano from Indonesia. New York: Rosen Publishing Group, 2001; Oppenheimer, Clive: Climatic, environmental, and human consequences of the largest known historic eruption: Tambora volcano (Indonesia) 1815. In: Progress in Physical Geography 27/2 (2003), S. 230-259; Vgl auch , aufgerufen am 15.07.2010. 60 Zerefos, Cristos S.; Gerogiannis, V. T.; Balis, Dimitris S., Zerefos, Stelios C.; Kazantzidis, Andreas: Atmospheric effects of volcanic eruptions as seen by famous artists and depicted in their paintings. In: Atmospheric Chemistry and Physics 7 (2007), S. 4027-4042; einsehbar unter . Vgl. auch , aufgerufen am 15.07.2010. 61 LAS, Stadt Merzig, 1989. 62 Bass, Hans-Heinrich: Hungerkrisen in Posen und im Rheinland 1816/17 und 1848. In: Gailus, Manfred; Volkmann, Heinrich (Hg.): Der Kampf ums tägliche Brot: Nahrungsmangel, Versorgungspolitik und Protest 1770–1990. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1994 (Schriften des Zentral59
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Ergebnis: Wie andernorts ist ein insgesamt erschreckendes Maß an Armut zu konstatieren. 43 Prozent der Bevölkerung war 1817 unterstützungsbedürftig. Ein Siebtel der Einwohnerschaft galt als völlig arm, war also dauerhaft auf Hilfe angewiesen.63 Dies ist der Sockel der sozialen Pyramide, an der Spitze standen 20 Prozent der Bevölkerung, die in der Lage und bereit waren, zu spenden. Innerhalb dieser Gruppe gab es eine kleinere Anzahl von vermögenden Notabeln. Hier finden wir die Gutsbesitzer, den Kaufmannsstand, Gewerbetreibende und hohe Beamte und Funktionsträger, wie die örtlichen Notare. Diese Situation lässt sich deutlich an den erhobenen Projektdaten ablesen: Der Kreditbedarf stieg sprunghaft an – 1818 und 1819 gehörten mit 107 beziehungsweise 90 abgeschlossenen Verträgen zu den Spitzenjahren. Betrachtet man jedoch das Kreditvolumen pro Vertrag, dann ist dieses auffallend gering. Das bedeutet, dass signifikant viele kleine Kredite an in Not geratene Bauern und Tagelöhner vergeben wurden. Dabei lässt sich gelegentlich der Kauf von Saatgut als Begründung der Kreditaufnahme nachweisen. Auffällig ist, dass diese Kredite eben nicht von Ortsnotabeln gegeben wurden, die Kredit in der Regel als Rentenkredit – also zur Geldanlage – gaben, sondern von den Kirchenfabriken und dem örtlichen Hospital. Während die beiden letztgenannten sich in der Pflicht sahen zu helfen, wollten erstere ihr Risiko selbstverständlich klein halten. Diese Erkenntnis wäre auch ein Anreiz, zu untersuchen, welche Bedeutung der durch die Säkularisierung geschwächten Kirche als Kreditgeber zukam – ein Aspekt den die aktuelle Säkularisationsforschung bislang außer Acht gelassen hat.64 Es ist nämlich auch zu bedenken, dass sich die Notabeln der Stadt in dieser Zeit keineswegs vollständig vom Kreditmarkt fern hielten. Als Verwalter der diversen öffentlichen Fonds vermittelten sie auch weiterhin auf Grundlage ihrer umfangreichen Ortskenntnisse Kredite. Jüdische Kreditoren zogen sich fast vollständig aus dem Markt zurück, ihnen war die Geldleihe in dieser Zeit offensichtlich generell zu risikoreich. Eine ganz andere Reaktion auf eine biologisch verursachte Krise zeigte der Kreditmarkt des Weinbauortes Remich. Überraschendes visualisiert Abbildung 3, die die in den genannten Stichjahren abgewickelten Obligationen in dem jeweiligen Kreis bzw. Kanton heruntergebrochen auf 1.000 Einwohner verzeichinstituts für Sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin 74). S. 151-175, hier S. 155f. und 158-163. 63 Fehn, Klaus; Laufer, Wolfgang: Beiträge zur Sozialgeschichte der Stadt Merzig in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 25 (1977), S. 169-187; 26 (1978), S. 69-78; 27 (1979), S. 82-102. 64 Vgl. die zum 200jährigen Säkularisationsjubiläum zahlreich erschienen Bände, die sich hauptsächlich auf die kulturellen und politischen Auswirkungen dieses Prozesses konzentrieren u. a. Mölich, Georg; Oepen, Joachim; Rosen, Wolfgang (Hg.): Klosterkultur und Säkularisation im Rheinland, Essen: Klartext, 2002; und Decot, Rolf: (Hg.): Kontinuität und Innovation um 1803. Säkularisation als Transformationsprozess: Kirche, Theologie, Kultur, Staat. Mainz: Von Zabern, 2005.
182
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net.65 Die Kurven der beiden Orte bewegen sich über drei Viertel des 19. Jahrhunderts relativ parallel mit etwas stärkeren Ausschlägen in Merzig beispielsweise nach der Hungerkrise 1817/18. Aber ab etwa 1875 entwickeln sich die Graphen auseinander. Während der Kapitalbedarf in Remich gegen Null geht, scheint er in Merzig zu explodieren. Nun war gerade ein Weinbauort wie Remich im 19. Jahrhundert in einer besonderen Situation: Das Auftreten der Reblaus66 ab der Jahrhundertmitte hatte teilweise verheerende Folgen für solch monostrukturelle Orte, wie Postel-Vinay durch seine Ergebnisse zum Languedoc zeigt.67 Dort brach der Kreditmarkt nach dem Auftreten der Phylloxera zusammen und erst mit der Notwendigkeit der Neuanschaffung von Rebstöcken verfestigte er sich wieder nachhaltig. Remich war von diesem Schädling lange Zeit verschont geblieben68 und konnte von infolge der Verknappung stark gestiegenen Weinpreisen erheblich profitieren. Man war so wohlhabend, dass sich selbst in Nachlassinventaren keine Aktiva und Passiva mehr finden lassen. Krisen können also auch nachhaltig positive Wirkungen entfalten. Einige Quellen deuten darauf hin, dass das verdiente Geld gespart und nicht ausgegeben wurde. Gleichfalls ist es häufiger anzutreffen, dass die Weinbauern gewöhnliches Ackerland im benachbarten Preußen kauften, um ihr Risiko über mehrere Produktionszweige zu streuen.69 1907 jedoch erreichte die Reblaus auch Remich. Für dieses Jahr steigt der Kreditbedarf in der Stadt gemessen an den Stückzahlen der Schuldverschreibungen an. Doch eine genauere Betrachtung offenbart, dass lediglich ein Winzer Kreditnehmer war. Eine signifikante Erhöhung sowohl der Gesamtzahl als auch der auf Winzer entfallenden Kreditvolumina ist nicht zu erkennen. Erklärbar ist dies nicht nur durch Rücklagen, die in der guten Zeit gebildet worden waren, sondern auch durch die Vorsorgemaßnahmen, die die großherzogliche Regierung vorgenommen hatten.70 Bereits frühzeitig hatte man begonnen, die Grenzen zu kontrollieren, Weinberge wurden ständig überprüft, Seuchenherde schnell erkannt. Zur Frage der Bekämpfung der Phylloxera stand man in Kontakt mit vielen europäischen Regierungen und deren beauftragten Behörden. An von der Plage betroffenen Weinbauern wurden resistente Stöcke, die in den Weinbauschulen in Remich und Grevenmacher seit längerem aus amerikanischen Reben 65
Auswertung von notariellen Obligationen aus dem Bestand ANGD, MCN Remich und LAS, Notariat Merzig 587-28 für den Zeitraum zwischen 1800 und 1914. 66 Vgl. Garrier, Gilbert: Le phylloxéra: une guerre de trente ans; 1870–1900. Paris: Michel, 1989. 67 Postel-Vinay, La terre, S. 318-338. 68 Zur Reblaus in Luxemburg Massard, Joseph A.: Vor hundert Jahren: Die Reblaus ist da! Ein ungebetener Gast aus Amerika bringt den Luxemburger Weinbau in Gefahr. In: Lëtzebuerger Journal 2007, Nr. 143, S. 19-21. 69 Vgl. die Ausführungen von Gonner, Nicolas: Die Moselbrücke zu Remich. Luxemburg: Heintzé, 1863. 70 ANGD, CdD 1264, CdD 1723, Viti-A-060/4 und Viti-A-060/5.
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gezüchtet wurden, zu günstigen Preisen, an bedürftige Kultivateure auch zu besonders verbilligten Konditionen, abgegeben. Abbildung 3:
Obligationen in den Kreisen Merzig und Remich 1805 bis 1914 – Marktentwicklung auf 1.000 Einwohner gerechnet
Quelle: eigene Darstellung.
3.4 Bankenpleite Wie auf der Makroebene Großbanken in die Pleite geraten können, so können auch Geldverleiher auf lokaler Ebene Konkurs gehen. In Folge des Gründungsbooms der Sparkassen, der in den deutschen Ländern flächendeckend nach 1850 einsetzte, entstanden auch auf dem Land Geldinstitute, die ins Kreditgeschäft einstiegen: Nach der Gründung der Merziger Kreisspar- und Darlehenskasse im Jahre 185771, begann diese zunächst sozialdisziplinarisch zu wirken und die unteren Bevölkerungsschichten zum Sparen für schlechte Zeiten anzuregen. So wollte sich der Staat von seiner Pflicht entlasten, die Bedürftigen in Krisen zu unterstützen. Den Merziger Kreditmarkt betrat die Kasse jedoch erst um 1880, um dem angeblich allgegenwärtigen Wucher jüdischer Handelsleute entgegenzutreten.72 Ihre Konditionen waren transparent und fair: Die Rückzahlung der Kre71
Vgl. Zimmermann, Sparkasse. Für die Saarregion ist weiterhin von Bedeutung Thomes, Paul: Die Kreissparkasse Saarbrücken. Ein Beitrag zur Geschichte der öffentlichen Sparkassen Preußens. Frankfurt am Main: Knapp, 1985 (Schriftenreihe des Instituts für Bankhistorische Forschung 6). 72 Zu diesem Thema vgl. Hirsch, Frank: Netzwerke in der neueren Geschichte. In: Hergenröder, Curt Wolfgang: Gläubiger, Schuldner, Arme. Netzwerke und die Rolle des Vertrauens. Wiesbaden: VS, 2010. S. 133-142.
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dite erfolgte zu sehr niedrigen Zinssätzen (3,5 bis 5 Prozent) und in festen jährlichen Raten. Mit dem Trend zur Institutionalisierung des Kreditgeschäftes traten bald auch Privatpersonen professioneller auf dem Kreditmarkt auf. So bezeichnete sich der Kaufmann Nicolas Bauer, einer der bedeutendsten Einwohner der wachsenden Kreisstadt, in seinen Obligationen selbstbewusst als „Bankier“, ohne dieses Geschäft hauptberuflich zu betreiben. Bald darauf trat auch die neu gegründete „Merziger Volksbank Mohm & Graewe“ in Erscheinung. Um sie entwickelte sich in den Jahren von 1897 bis 1908 eine wirtschaftskrimireife Geschichte:73 Nicolas Mohm war Verwaltungsbeamter und zuletzt General-Agent der Kreissparkasse. Er genoss großes Vertrauen in der Stadt. Mit zwei Partnern hatte er 1897 eine Ziegelei gegründet. Peter Graewe war ein junger Rechtsanwaltsgehilfe und führte das Büro des Rechtsanwaltes Wenzel in Merzig in dessen Auftrag weiter, nachdem dieser nach Trier gegangen war.74 In dieser Funktion übertrug ihm – der ohne kaufmännische Erfahrung war – das Amtsgericht die Verwaltung eines hinterlassenen Vermögens von 300.000 Mark. Er arbeitete auch als Rechtsberater, konnte aber nach 1895, als Rechtsanwalt von Napolski in Merzig ansässig wurde, nicht mehr vor Gericht auftreten. Zu dieser Zeit entstand der Plan zur Gründung einer Bank: Mohm sprach Graewe zunächst wegen einer Partnerschaft für die Bank an. Ohne Gesellschaftervertrag mit einer mündlich verabredeten Gewinnteilung von zwei Fünftel zu drei Fünftel für Mohm und einem Startkapital von 2.000 Mark wurde das Bankhaus aus der Taufe gehoben. Der Name ,Volksbank‘ war wohl kalkuliert: Er bezog sich auf den beliebten und erfolgreiche Verbund einzelner Genossenschaftsbanken nach den Ideen Friedrich Wilhelm Raiffeisens75, hatte aber nichts mit den damaligen oder heutigen Volksbanken zu tun. Eine breit angelegte Werbeaktion in der Merziger Volkszeitung verkündete im Juni 1897, das neue Geldinstitut biete dem Publikum die „vortheilhaftesten Bedingungen mit der durch […] bisherige Thätigkeit begründeten eingehenden Kenntnis von Personen- und Vermögensverhältnissen im hiesigen Kreise, […] pünktliche und rasche Erledigung […] bei gewissenhafter und zuverlässiger Prüfung [unter, E.d.V.] Vermeidung der vielen Bürgschafts- und Hypothekenbestellungen in allen Fällen, wo es
73
74
75
Den Weg in die Pleite der Unternehmung überliefern einige Schriftstücke des Bestandes LAS, Stadt Merzig, 599 und 601. Zu den Rechtsanwälten in Merzig vgl. Wettmann-Jungblut, Peter: Rechtsanwälte an der Saar. Geschichte eines bürgerlichen Berufsstandes. Hg. vom Saarländischen Anwaltsverein, mit einem Beitrag von Rainer Möhler. Blieskastel: Gollenstein, 2004. Vgl. Klein, Michael: Leben, Werk und Nachwirkung des Genossenschaftsgründers Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818–1888). Dargestellt im Zusammenhang mit dem deutschen sozialen Protestantismus. Bonn: Habelt, 21999.
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offenbar überflüssig erscheint“.76 Zu den Geschäften, die auf eigene Rechnung oder als Vermittler getätigt werden sollten, gehörten Darlehensvergabe, auch gegen Faustpfand bei entsprechendem Zinsfuß, genauso wie Spar- und Girokontoführung, Wertpapierhandel, Cessionsankäufe, Maklertätigkeiten und Vermögensverwaltung, jedoch nicht Börsenspekulation und Handel mit Industriepapieren, was eindeutig als zu risikoreich benannt wurde.77 In den ersten Jahren war die Entwicklung der Bank recht dynamisch. Zwischen 1897 und 1908 wurden 51 Schuldverschreibungen mit einem Gesamtvolumen von rund 50.000 Mark abgeschlossen. Deutlich mehr als das Doppelte dürfte an Spareinlagen akquiriert worden sein. Das Geld ging an Bauern, Tagelöhner und Fabrikarbeiter in der Merziger Umgebung. Die größten Beträge jedoch erhielten je ein Kaufmann, ein Händler und ein Eigentümer in der Stadt selbst, was 20 Prozent der Gesamtsumme ausmachte. Bezüglich der Bedingungen gibt es keine Besonderheiten, lediglich der Zinssatz liegt am oberen Rand des ortsüblichen Rahmens.78 Mohm leitete die Bankgeschäfte, Graewe sollte in der Bank nur die rechtlichen Angelegenheiten regeln. Ansonsten arbeitete er die meiste Zeit im Büro der Merziger Volkszeitung als Teilhaber und Redakteur. Als diese in finanzielle Schwierigkeiten geriet, verband er seine Zeitung stärker mit dem Bankhaus, dessen Geschäftsentwicklung äußerst positiv verlief. Der hauptberuflich als Gastwirt tätige Bankbuchhalter wies Graewe 1907 erstmals darauf hin, dass Mohm deutlich mehr Gelder aus der Bank zog und in seine Ziegelei steckte, als wirtschaftlich möglich. Graewe versuchte daraufhin, Ordnung in die Bücher zu bekommen, wobei ihm Rechenfehler und nicht vorhandene Aktiva durch Überbewertung von Immobilien in beträchtlicher Höhe auffielen. Um die Bank zu sanieren, wollte er seine Zeitung verkaufen, was aber an der engen Verbindung zwischen Bankhaus und Zeitungsverlag scheiterte. Derweilen war Mohm stets rührig gewesen, neue Kunden durch allerlei Überredungskünste zu gewinnen. Seit 1905 hatte er sich an einem Steinbruch beteiligt, der keinen Gewinn abwarf. Einen Taxator bezahlte er dafür, den Wert dieser Immobilien beim Dreifachen des eigentlichen Wertes anzusetzen. Gleichzeitig legte er die Kundengelder, die eigentlich nur als Spareinlagen gedacht waren, in risikoreiche Papiere und Geschäfte mit geringen Zinsgewinnen an. Die Konkurrenzsituation verschärfte sich für das angeschlagene Unternehmen, als im Frühjahr 1908 das Bankhaus Röchling aus Saarbrücken eine Filiale in Merzig eröffnete.79 Nachdem im April 76
LAS, Stadt Merzig, 601, Zeitungsausschnitt ohne Folio oder Datum. LAS, Stadt Merzig, 601, Zeitungsausschnitt ohne Folio oder Datum. 78 Auswertung von notariellen Obligationen aus dem Bestand LAS, Notariat Merzig, 587-28 der Notare Falkenbach und v. Napolski für die genannten Jahre. 79 LAS, Stadt Merzig, 322, Bericht vom 1. Quartal 1908. 77
186
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des Jahres Mohm auch noch verpflichtet wurde, eine hohe Alimentenzahlung zu leisten, begannen Kunden der Bank ihre sofort kündbaren Einlagen zurückzufordern. Mangels liquider Mittel war die Auszahlung jedoch nicht möglich, weswegen am 18. Juli der Konkurs durch die Anleger beantragten wurde. In den vierteljährlichen Berichten der Stadt an den Landrat wurde die Situation nach der Pleite nachdrücklich geschildert: „Der Zusammensturz wirkte wie eine Bombe und [es, E.d.V.] ist die Erbitterung der Bevölkerung gegen die Geschäftsführung der Bank eine große.“80 Insbesondere Arbeiter und Bauern hätten ihr hart erarbeitetes Vermögen verloren. Laut Börsenbericht waren von den Forderungen in einer Gesamthöhe von 490.000 Mark einschließlich 120.000 Mark an Hypothekenforderungen durch den Wert der Liegenschaften nur rund 20 Prozent gedeckt. Graewe stellte umgehend seinen gesamten Besitz zur Verfügung, während Mohm sich weigerte, Teile seines Eigentums in die Konkursmasse einzubringen. Zwei Jahre später, im Juli 1910 hatten sich die beiden Eigentümer vor dem Trierer Landgericht wegen Konkursvergehen durch mangelhafte Buchführung, Betrug durch spekulative Anlage von festen Einlagen und Depotunterschlagung zu verantworten. Das Gericht sah lediglich das Konkursvergehen und teilweise den Betrug als bewiesen an und verurteilte den Angeklagten Graewe unter Berücksichtigung seiner Situation der vollständigen Mittellosigkeit zu 150 Mark Geldstrafe, den Angeklagten Mohm zu einer Gefängnisstrafe von 4 Monaten – und was nach wenig klingt, war für damalige Verhältnisse eine nachdrückliche Strafe, war das Wirtschaftsstrafrechts doch gerade erst im Entstehen begriffen.81
80 81
LAS, Stadt Merzig, 322, Bericht vom 3. Quartal 1908. LAS, Stadt Merzig, 599, Zeitungsausschnitt vom 15.07.1910.
Finanzkrise historisch Abbildung 4:
187 Obligationen in Merzig 1907 bis 1911 – Marktentwicklung und Konjunkturdaten
Quelle: eigene Darstellung. Die Mischung aus Unkenntnis, überbewerteten Immobilien und risikoreichen, unprofitablen Anlagen ähnelt so manch anderem, historisch gewordenem Fallverlauf. Wie reagierte der Merziger Kreditmarkt? Eine Auswertung der Jahre 1907 bis 1912 (Abb. 4) zeigt, dass er relativ unbeeindruckt blieb. Die Anzahl der erstellten Obligationen zirkuliert zwischen 200 und 250, ein Einbruch ist nicht erkennbar. Betrachtet man im Vergleich die konjunkturelle Entwicklung, zeigt sich, dass bei verschlechterten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen 1908 und 1909 der Kreditbedarf stieg und auch befriedigt wurde.82 Mangelndes Vertrauen lag augenscheinlich nicht vor. Offenbar fingen andere Mechanismen die krisenhaften Erscheinungen auf. Die Wirtschaftskraft und Marktposition der Kreissparkasse, der ein großes Vertrauen entgegengebracht wurde, befriedigte die Nachfrage nach Kredit. Jedoch waren viele Menschen um ihre Ersparnisse gebracht worden – der gut gemeinten Sozialdisziplinierung fehlte es an Kontrolle der ausführenden Institutionen.
4
Schluss und Ausblick
Zurück zur Gründerkrise von 1873: Überspekulationen hatten damals in einer Hochkonjunktur eine Börsenkrise verursacht, der eine lang anhaltende Weltwirtschaftskrise folgte, die auch von einem sofort wieder anspringenden Export nicht 82
Auswertung von notariellen Obligationen aus dem Bestand LAS, Notariat Merzig, 587-28 der Notare Falkenbach und v. Napolski für die genannten Jahre.
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Daniel Reupke
abgefangen werden konnte. Ähnlich war es mit der letzten großen Krise – der Finanzkrise von 2008.83 In der Hausse platzte eine Spekulationsblase insbesondere im Zusammenhang mit dem Immobilienmarkt. Eine Rezession begann, die durch steigende Exporte abgefangen zu werden scheint. Diese Ähnlichkeiten sind deutlich und negieren den gerne tradierten Vergleich der Krise von 2008 mit der des Schwarzen Freitag von 1929, als auf ein krisenhaft verlaufendes Jahrzehnt Börsenkrach und Bankenkrise in der Großen Depression mündeten.84 Immobilienkrisen hatten alle ,Krachs‘ eingeleitet (1872, 1927, 2007). Sowohl 1873 als auch 2008 waren staatlicherseits umfangreiche Deregulierungen vorausgegangen, doch bei der Gründerkrise veräbsäumte es der Staat schnell die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu verändern; bei der 2008er Finanzkrise griffen staatliche Stellen zunächst unterstützend ein. Regulierungsgesetze wurden damals wie heute jedoch nur zögerlich umgesetzt. In beiden Fällen addierten und perpetuierten sich die krisenauslösenden Faktoren. Neuere wirtschaftswissenschaftliche Studien gehen davon aus, dass der Mensch in seinem ökonomischen Handeln nicht auf einen „homo oeconomicus“ reduziert werden kann, der vernunftgemäß handelt und mit vollständigen Informationen ausgestattet, eigennützig und gewinnmaximierend vorgeht. Dieser Typus entspräche dem Modell der lange vorherrschenden neoklassischen Wirtschaftstheorien. Vielmehr ist er „homo culturalis“ bzw. „homo sociologicus“, der sich auch von Sehnsüchten, Dummheiten oder Habgier leiten lässt. Zudem sind die Akteure in einem Markt von psychologischen Faktoren, kulturellen Normen und Vertrauen beeinflusst. So warnte drei Jahre vor der Finanzkrise der legendäre US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler und Liberalismuskritiker Kenneth Galbraith85 vor einem Realitätsverlust, der dem Glauben an die Unfehlbarkeit des eigenen Sachverstandes entspringe, der nur Selbstbereicherung in jeder Form zum Ziel habe und der die Ursache für den kommenden Zusammenbruch sein wird. Der bedeutende deutsche Historiker und Zeitzeuge der Gründerkrise 83
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Grabas, Krise, S. 2, deren Ansätze weiterverfolgt werden sollten. Vgl. auch Braunberger; Fehr (Hg.): Crash. Finanzkrise gestern und heute. Frankfurt am Main: Verlag FAZ, 2009; Brunnermeier, Markus K.: Deciphering the Liquidity and Credit Crunch. In: Journal of Economic Perspectives, Bd. 23, Nr. 1, Winter 2009, S. 77-100; Reinhart, Carmen; Rogoff, Kenneth: Dieses Mal ist alles anders: Acht Jahrhunderte Finanzkrisen. München: Finanzbuch, 22010; Schmidt, Susanne: Markt ohne Moral Das Versagen der internationalen Finanzelite München: Droemer Knaur, 2010; Sinn, Hans-Werner: Kasino-Kapitalismus. Wie es zur Finanzkrise kam, und was jetzt zu tun ist. Berlin: Econ, 22009. Zur Krise von 1929 vgl. Conze, Werner (Hg.): Die Staats- und Wirtschaftskrise des Deutschen Reichs 1929/33. Stuttgart: Klett, 1967. (Industrielle Welt 8); Galbraith, John Kenneth: The Great Crash 1929. Boston: Houghton Mifflin, 1979. Gazier, Bernard: La crise de 1929. Paris: Presses Univ., 1983 (Que sais-je? 2126). Galbraight, Kenneth: Die Ökonomie des unschuldigen Betrugs. Vom Realitatsverlust der heutigen Wirtschaft. München: Siedler, 2005.
Finanzkrise historisch
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Heinrich v. Treitschke äußerte sich ähnlich, als er schrieb: „Während der Gründerzeit schien es wirklich, als ob die Grenzen der menschlichen Dummheit ins Unermeßliche sich gesteigert hätten.“86 Die Betrachtung von und der Vergleich mit historischen Krisen zeigt viele Ähnlichkeiten auf. Die Nähe von Wirtschaft und Geschichte scheint deutlich. Mit Schumpeters Zyklusmodell kann man davon ausgehen, dass jede Krise mit vergehender Zeit einmal überwunden werden kann und doch die nächste Krise bestimmt kommen wird. Häufig vernachlässigt jedoch die Wirtschaftswissenschaft die Krise zu Gunsten der Themenbereiche Wachstum und Steuerung. Vielmehr würde die Wirtschaftswissenschaft dadurch lebensnähe gewinnen.87 Dabei ist der Blick auf die Geschichte – im vorliegenden Falle auf die Mikroebene – unerlässlich, um Krisenreaktionen offenzulegen. Die mikrohistorischen Untersuchungsergebnisse sind jedoch deutlich heterogener, als die geglätteten Erkenntnisse der Makroökonomie und sind demnach weniger geeignet, um makrohistorische Konzepte abzuleiten. Versteht man aber die Mechanismen der Vergangenheit, so lassen sich heutige Organisationsformen erklären und künftige Krisen vielleicht verhindern. Es gibt also ein ,Lernpotential‘ für die Wirtschaftswissenschaften aus den Geschichtswissenschaften. Betrachtet man die Projektergebnisse, so kann man feststellen, dass Netzwerke die Voraussetzung schafften, um Sozialkapital zu akkumulieren und so das Vertrauen eines potentiellen Kreditgebers in seine Investition zu verstärken. Sie versagen bei völligem Mangel an Zutrauen in die Zukunft wie im Falle des Krieges. Genauso lassen sie sich aber wiederherstellen, wenn die Rahmenbedingungen stimmen und Vertrauen der Verunsicherung weicht. Die erste Ableitung aus historischen Krisen für die Gegenwart ist also: Vertrauen herstellen. Wenn, wie im Falle der Reblausplage, eine Naturkatastrophe auf eine gut vorbereitete Gemeinschaft trifft und dadurch die schlimmsten Folgen abgemildert werden können, dann lautet die zweite Ableitung: Vorsorgen für den Ernstfall. Und wie im Falle der Bankenpleite müssen die Menschen erwarten können, dass die Institutionen am Kreditmarkt ausreichender Kontrolle unterliegen. Vertrauen schaffen, Vorsorge fördern und Kontrollen verbessern sind auch die Lehren der Krise von 1873. Trotz steigender Exporte dauerte die allgemeine Erholung der Wirtschaft bis zum Ende der 1880er Jahre. Danach setzte jedoch ein nachhaltiges Wachstum ein, das mit wenigen Unterbrechungen bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg andauerte – auch so können die Folgen der entscheidenden Wende aussehen. 86 87
Zit. n. Bechtel, Wirtschaftsgeschichte, S. 185. Zu diesem Gedanken Rosenberg, Hans: Die Weltwirtschaftskrise 1857–1859. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 21974 (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1396). Vorbemerkung, insbesondere S. XIV.
Augustus’ Krisenmanagement in den Provinzen: Schuldenbekämpfung durch Verwaltungsmaßnahmen? Susanne Schake
1
Einleitung
Krisen und Schulden moderner Staaten stellen eine Thematik dar, die dem zeitgenössischen Leser nur allzu bekannt sein dürfte. Dass das Phänomen von der Verschuldung ganzer Bevölkerungsteile jedoch kein neuzeitliches ist, sondern vielmehr bereits so alt wie die Geschichte der Geldwirtschaft selbst, mag wohl manchen überraschen. So lässt sich bereits in antiken Staatsgebilden wie dem Imperium Romanum eine regelrechte Schuldenkultur finden, welche Hand in Hand mit der fast sprichwörtlich gewordenen „Krise der römischen Republik“ einher ging und schließlich ganze Städte und Regionen in den Ruin treiben sollte. Diese Krise, welche sich nicht nur auf finanzielle Faktoren, sondern auf ein ganzes Ursachenbündel zurückführen ließ, sollte schließlich zum Untergang der Republik und der Einführung einer neuen Herrschaftsform, des augusteischen Prinzipats führen. Das neue Oberhaupt des römischen Reiches, Augustus, versuchte in der Folgezeit, einigen dieser Krisenfaktoren entgegenzuwirken, indem er vielfältige Neuerungen, vor allem im Bereich der Verwaltung, einführte. Ein Teil dieser Neuerungen soll im Folgenden betrachtet werden. Es handelt sich um diejenigen Maßnahmen, die positive Effekte auf die prekäre Lage in den Provinzen haben sollten. Diese Regionen, die im Laufe der Zeit von den Römern erobert worden waren, wurden nämlich seit jeher als römische Einnahmequelle betrachtet, aus welcher man unbedarft schöpfen konnte und dienten somit dem (oftmals verschuldeten) Angehörigen der römischen Oberschichten als finanzielle Sanierungsgebiete. Denn die Bewohner dieser Regionen hatten nicht nur regelmäßige Abgaben an das Reich zu leisten, sondern wurden zudem von den Angehörigen des römischen Ritter- und Senatorenstandes, die vor Ort tätig waren, bis an den Rande des Ruins getrieben. Wie dies genau in der späten Phase der römischen Republik (1 Jh. v. Chr.) vonstatten ging, d.h. wie sich eine Art Verschuldungsmechanismus in den eroberten Reichsgebieten etablieren konnte und welche Bedeutung die römische Verwaltung in diesem Zusammenhang hatte, soll im folgenden Abschnitt zunächst erläutert werden, um dann im darauf-
C. W. Hergenröder (Hrsg.), Krisen und Schulden, DOI 10.1007/978-3-531-93085-5_12, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Susanne Schake
folgenden Teil die diesbezüglichen Neuerungen des Augustus in den Blick nehmen zu können, welche schließlich – bis zu einem gewissen Punkt – der Durchbrechung dieser Verschuldungsmechanismen dienlich sein sollten.
2
Republik
Betrachtet man zunächst genauer die Krise der römischen Republik, so war sie sicher in erster Linie eine Krise der Herrschaftsorganisation. Das römische Reich war insbesondere seit dem 2. Jh. v. Chr. immer weiter gewachsen, dadurch, dass eroberte Gebiete im östlichen und westlichen Mittelmeerraum, beispielsweise in Kleinasien und Nordafrika an Rom und das italische Kernland als Provinzen angegliedert wurden. Das Regierungs- und Verwaltungsmodell des ehemaligen Stadtstaates, welches nicht den Gegebenheiten entsprechend ausgebaut worden war, sah sich zunehmend überfordert mit den politischen und wirtschaftlichen Bedürfnissen des Reiches. Abbildung 1:
Die Ämterlaufbahn der späten, römischen Republik (cursus honorum)1 Z e n s o r (2 ) P ro k o n s u l (2 ) K o n s u l (2 ) P r o p r ä to r ( 8 ) P r ä to r ( 8 )
Ä d il (4 )
V o lk s t r i b u n ( 1 0 )
Q u ä s to r (2 0 )
Quelle: eigene Darstellung. 1
Erläuterungen: Sobald ein Römer das Amt des Quästors inne hatte, wurde er in den Senat aufgenommen und konnte anschließend die nächst höheren Ämter bekleiden. Ehemalige Prätoren und Konsuln wurden nach der Ausübung ihres Amtes in Rom für ein Jahr zur Verwaltung in die Provinzen geschickt und in dieser Zeit als Proprätoren und Prokonsuln bezeichnet. Sie waren gemeinsam mit einigen Quästoren die einzigen Magistrate, die außerhalb Roms tätig waren (grau unterlegt). Das ursprünglich höchste Amt des Zensors war in der späten Republik nur noch sporadisch besetzt und kann darum zu dieser Zeit nicht mehr als fester Bestandteil des cursus honorum gewertet werden. Die Zahlen in den Klammern geben die Anzahl der jeweiligen Magistrate pro Amtsperiode an, wie sie zur Zeit Sullas festgelegt worden waren (~ 80 v. Chr.).
Augustus’ Krisenmanagement in den Provinzen
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Die Zahl der Amtsträger2, der sogenannten Magistrate, reichte für die vielfältigen Aufgaben, die es innerhalb eines römischen Weltreiches zu bewältigen gab, bei weitem nicht mehr aus und war zudem nicht der einzige problembehaftete Bereich der römischen Herrschaftsorganisation. Denn der Charakter der römischen Ämter barg ebenso mannigfaltige Eigentümlichkeiten in sich: Die Ämter waren zunächst Ehrenämter, was bedeutete, dass privates Vermögen – oder auch eine hohe Kreditwürdigkeit – eine erste Voraussetzung für deren Bekleidung darstellte. Das zweite Kriterium war in der Regel die Zugehörigkeit zur traditionellen Elite, d.h. dem Senatorenstand, oder man musste zumindest über gute gesellschaftliche Verbindungen zu diesem verfügen, wie es z.B. bei zahlreichen Angehörigen des Ritterstandes gegeben war. Fachliche Qualifikation oder besondere Vorkenntnisse spielten hier keine Rolle. Die Ämter unterlagen zudem allesamt dem Prinzip der Annuität, d.h. sie wurden von dem Amtsträger nur für ein Jahr ausgeübt, wonach dieser sich in der Regel um die Bekleidung des nächst höheren Amtes bewarb. Eine Spezialisierung auf einen Verwaltungsbereich lag somit für einen Senator außerhalb des Möglichen und wurde für diesen als sozialinadäquat betrachtet. Insgesamt sprachen also Anzahl und Wesen der Ämter gegen eine effektive römische Verwaltung, die jedoch – in Anbetracht einer bis dato mehr als hundert Jahre andauernden Vorherrschaft im Mittelmeerraum – offenbar funktionsfähig war. Doch wie war es möglich, dass das römische Weltreich mit einem in zweifacher Hinsicht unausgebildeten Verwaltungsapparat, der – wie es der Rechtshistoriker Wolfgang Kunkel ausgedrückt hat – „in einem für den modernen Betrachter kaum fasslichen Maße unbürokratisch“3 war, überhaupt funktionieren konnte? Die Lösung lag für den römischen „Staat“ darin, auf die privaten Ressourcen der Magistrate zurückzugreifen, d.h. es wurde von den Amtsträgern erwartet, dass sie sich für die Bewältigung der anfallenden Aufgaben eigenes Hilfspersonal besorgten und finanzierten. Am naheliegendsten war für diese 2
Vgl. Abb. 1. Die Frage, warum es nicht zu einer Vergrößerung des Apparates kam, lässt sich im Zusammenhang mit dem Selbstverständnis der elitären Führungsschicht erklären. Die Nobilität, d.h. die adlige Senatorenschicht, der traditionellerweise alle Konsuln entstammten, konzentrierte die Macht im Wesentlichen in ihren Händen, indem sie den Senat ihren Interessen entsprechend lenkte. Sie war einerseits nicht dazu bereit, diese Macht durch eine Vergrößerung des offiziellen Verwaltungs- und Regierungsapparates weiter aufzuteilen, versuchte aber andererseits zugleich durch die begrenzte Anzahl der Amts- und Machtinhaber eine bessere Kontrolle des Einzelnen zu gewährleisten, falls ein Mitglied der Elite nach zu großer Geltung streben sollte. Der kleine Verwaltungsapparat diente also im Wesentlichen der Abgrenzung der führenden Schicht nach Außen sowie dem Schutz vor Machtbestrebungen von Innen heraus. Vgl. Eich, Peter, Zur Metamorphose des politischen Systems in der römischen Kaiserzeit. Die Entstehung einer „personalen Bürokratie“ im langen dritten Jahrhundert (Klio 9), %erlin 2005, S. 49-52. 3 Kunkel, Wolfgang, Staatsordnung und Staatspraxis der römischen Republik. Zweiter Abschnitt. Die Magistratur, München 1995, S. 105.
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Zwecke der Einsatz ihrer eigenen familia, d.h. der eigenen Sklaven und Freigelassenen als inoffizielle Hilfskräfte.4 Sie erledigten Schreibarbeiten, Botengänge und alle übrigen anfallenden Tätigkeiten und bildeten somit eine notwendige Ergänzung zu dem nur rudimentär vorhandenen Verwaltungsapparat. Ähnlich sah es auf ökonomischer Ebene aus. Für die finanziellen Belange des Reiches, wie z.B. den Einzug der Steuern und Zölle in den Provinzen, stand im Großen und Ganzen kaum Personal zur Verfügung.5 Darum hatte man schon früh ein sogenanntes Pachtsystem ersonnen: Die zu erwartenden Einkünfte6 für die „Staatskasse“ wurden in einer Art Auktion an die höchstbietenden Geschäftsmänner verpachtet, worauf diese dann die gebotene Summe an Rom entrichteten und sich ihrerseits um die Eintreibung der Gelder in den Provinzen kümmerten. Um nun die Steuereinkünfte ganzer Regionen pachten zu können, schlossen sich die Pächter, welche zumeist aus dem vermögenden Ritterstand stammten, zu kapitalstarken Gesellschaften (societates publicanorum) zusammen, die zudem ganze Stäbe von Mitarbeitern für die Arbeit vor Ort finanzieren konnten: Aufseher, Einnehmer und sonstige Bürokräfte, welche zum Teil auch aus der familia der einzelnen Pächter stammten – ein Personalaufwand, den sich der römische „Staat“ sparen konnte. Da die Pächter in erster Linie private Unternehmer waren, verstanden sie es, aus diesem Geschäft enorme Profite herauszuschlagen. Sie stellten überhöhte Forderungen an die Steuerzahler, nutzten falsche Maße und Gewichte, weigerten 4
5
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Die in Rom tätigen Magistrate erhielten in der Regel eine geringe Anzahl an untergeordnetem Hilfspersonal, welches sich aus den öffentlichen Sklaven (servi publici), aber auch aus Freigelassenen und Freigeborenen rekrutierte. Diese Gehilfen konnten ebenso für die Arbeit in den Provinzen genutzt werden, mussten jedoch aufgrund ihrer geringen Anzahl durch weiteres Personal ergänzt werden, was nur durch die Heranziehung der familia des Amtsinhabers und der ihm unterstellten, vor Ort tätigen Soldaten gewährleistet werden konnte. Vgl. Herrmann-Otto, Elisabeth, Sklaverei und Freilassung in der griechisch-römischen Welt (Studienbücher Antike, Bd. 15), Hildesheim 2009, S. 179. Die Form der Steuern und die Vorgehensweise bei deren Einzug waren in den verschiedenen Reichsgebieten unterschiedlich geregelt. Während in den östlichen Gebieten zumeist der „Zehnte“, d.h. Naturalabgaben von Steuerpächtern eingezogen wurden, wurde in den noch wenig urbanisierten Gebieten des Westens zunächst eine grobe Pro-Kopf-Steuer von den Stammeshäuptlingen eingesammelt und entrichtet oder falls es schon zu Gemeindebildungen gekommen war, konnten Statthalter und Quästor direkt mit diesen in Verbindung treten, um die Tribute einzunehmen. Genauer zu den einzelnen Formen und Vorgehensweisen bzgl. des Steuer- und Zolleinzuges: Dessau, Hermann, Geschichte der römischen Kaiserzeit. Erster Band: Bis zum ersten Thronwechsel, Berlin 1924, S. 141-147. Die Einkünfte für die römische „Staatskasse“ bestanden im Wesentlichen aus direkten, auf Kopf und Boden bezogenen Steuern (tributa) und indirekten Steuern (vectigalia), wie z.B. Erbschafts-, Freilassungs- und Verkaufssteuern. Des weiteren mehrten sich die „staatlichen“ Gelder durch Zollabgaben, Domänenerträge und natürlich durch Kriegsgewinne. Insbesondere zu dem komplexen Bereich der indirekten Steuern, siehe Günther, Sven, „Vectigalia nervos esse rei publicae“. Die indirekten Steuern in der Römischen Kaiserzeit von Augustus bis Diokletian, Wiesbaden 2008.
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sich Quittungen auszustellen und unterschlugen Steuern. Konnten die Provinzialen schließlich den an sie gestellten Forderungen nicht mehr nachkommen, so vermittelten die Pächter Kredite an sie – Kredite, an denen sich weitere Mitglieder der römischen Oberschicht eine goldene Nase verdienten. Die Pächter arbeiteten nämlich mit Geldverleihern, oder besser gesagt mit Wucherern zusammen, welche – wie der Name schon sagt – Kredite zu Wucherzinsen vergaben.7 Die von den Steuerpächtern in die Enge gedrängten Provinzialen gingen in ihrer Verzweiflung auf die Wucherhändel ein und wurden so nicht selten in den wirtschaftlichen Ruin getrieben.8 Wie hoch die Forderungen der Wucherer waren und wie ruinös ein solcher Kredit nicht nur für Einzelne, sondern auch für ganze Städte werden konnte, wird deutlich in einem Brief des bekannten Redners und Politikers Cicero, in dem er von einer Auseinandersetzung zwischen dem Geldverleiher Scaptius und der griechischen Stadt Salamis berichtet.9 Letztere hatte bei dem Geldverleiher einen enormen Kredit aufgenommen, welchen dieser zu einem Jahreszins von 48% zurückerstattet haben wollte. Die Salaminier erklärten sich zu einem Zinssatz von 12% und jährlichem Zinseszins bereit, die Summe zurückzuzahlen. Doch der Kreditgeber bestand auf den von ihm festgelegten Zinssatz und forderte insgesamt 200 Talente (= 4,8 Millionen Sesterzen). Cicero versuchte in der Sache zu vermitteln, was als Statthalter Kilikiens auch seine Aufgabe war. Da er zu Beginn seiner Amtszeit ein Edikt erlassen hatte, in welchem er angegeben hatte, einen Zinsfuß von 12% mit jährlichem Zinseszins als angemessen zu erachten, schlug er sich – wenn auch nur zögerlich – auf Seiten der Stadt. Ein solches Verhalten war aber eher die Ausnahme. Obwohl der Schutz der Provinzialen offiziell auch als Aufgabe des Statthalters galt, wurde diese nur in den seltensten 7
Die Wucherer (faeneratores) stammten entweder selbst aus vermögenden Kreisen – zumeist aus dem Ritterstand – oder betrieben ihre Geschäfte im Auftrag solcher Männer, sozusagen als deren Agenten. Da es insbesondere der Senatorenschicht verboten war, Geldgeschäfte zu betreiben, ließen diese häufig solche Händel von ihren Sklaven und Freigelassenen, die in solchen Fällen als Strohmänner eingesetzt wurden, besorgen. 8 Wucherer wie Staatspächter (publicani) waren den Untertanen aufgrund ihres Profitstrebens und der damit einhergehenden Geschäftspraktiken verhasst. Für ihr schlechtes Ansehen sprechen bspw. Liv. 45,18,4: „[...] ubi publicanus esset, ibi aut ius publicum vanum aut libertatem sociis nullam esse.“ und Mk 2,15-17: „Und es begab sich, da er zu Tische saß in seinem Hause, setzten sich viele Zöllner und Sünder zu Tische mit Jesu und seinen Jüngern; denn ihrer waren viele, die ihm nachfolgten. Und die Schriftgelehrten und Pharisäer, da sie sahen, dass er mit den Zöllnern und Sündern aß, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst und trinkt er mit den Zöllnern und Sündern? Da das Jesus hörte, sprach er zu ihnen: Die Starken bedürfen keines Arztes, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, zu rufen die Sünder zur Buße, und nicht die Gerechten.“ 9 Cic. ad. Att. V 21,11f. Scaptius war in diesem Fall nur ein Strohmann. Eigentlicher Finanzier war M. Iunius Brutus, der sich in Rom für die notwendigen Senatsbeschlüsse einsetzte, um seine Schulden eintreiben zu können. Cic. ad. Att. V 21,12f.; VI 1,4-6. 2,7. 3,5.
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Fällen von diesem wahrgenommen.10 Denn auch die römischen Statthalter hatten zumeist finanzielle Interessen in den Provinzen. Als Mitglieder der senatorischen Oberschicht war den Statthaltern aufgrund eines Gesetzes aus dem Jahr 218 v. Chr. der Handel und sonstige Geschäfte, welche in irgendeiner Weise gewinnorientiert waren, untersagt. Sie sollten ihr Vermögen in Grund und Boden investieren, wie es sich nach alter Sitte, vor allem für die ehrwürdige, oberste Schicht des römischen Volkes, gehörte.11 Nun kam es aber im Laufe der Zeit so, dass die Senatoren, die über Jahre hinweg ihre meist ererbten Vermögen für die Erfüllung von Ehrenämtern geopfert hatten, nicht mehr nur den gewinnbringenden Geschäften der anderen Schichten zusehen wollten. Gerade fernab von Rom, während ihrer Statthalterschaft in den Provinzen, sahen sie zumeist die Gelegenheit nun ihrerseits Gewinne einzunehmen und für die vielfältigen Ausgaben, die sie im Rahmen ihrer öffentlichen Tätigkeit gehabt hatten, „entschädigt“ zu werden.12 Sie sanierten also ihre Finanzen – gleichwohl wie die anderen in den Provinzen tätigen Römer – auf Kosten der dort lebenden Bewohner. Wie sehr sie in der ausbeuterischen Praxis geübt waren, lässt der zeitgenössische Historiker Velleius Paterculus durchblicken, wenn er über den, durch seine desaströse Niederlage gegen die Germanen berühmt gewordenen, syrischen Statthalter Quintilius Varus sagt:
10
Vgl. Dessau, Geschichte der römischen Kaiserzeit, S. 143. Allgemein zählten zu den Aufgaben eines Statthalters in erster Linie Kontrolltätigkeiten: Er sollte die Ordnung in der Provinz aufrechterhalten und ihm oblag die Aufsicht über die Finanzen, wozu die Einführung neuer Lokalsteuern, die Auszahlung von Gehältern oder Vergütungen, die Kontrolle der Vermietung des städtischen Landbesitzes und die Überprüfung der Abrechnung der Magistrate zählten. Zudem hatte er die wichtige Aufgabe der Rechtsprechung inne. Vgl. hierzu Jacques, Francois; Scheid, John, Rom und das Reich: Staatsrecht, Religion, Heerwesen, Verwaltung, Gesellschaft, Wirtschaft, Hamburg 2008, S. 192-199. 11 Liv. 21, 63, 2: „Legem, quam Q. Claudius tribunus plebis […] tulerat, ne quis senator cuive senator pater fuisset maritimam navem, quae plus quam trecentarum amphorarum esset, haberet. Id satis habitum ad fructus ex agris vectandos; quaestus omnis patribus indecorus visus.“ Das besagte Gesetz, welches als lex Claudia de nave senatorum bezeichnet wurde, erlaubte demnach Senatoren und ihren Kindern lediglich den Besitz von Schiffen mit einem maximalen Ladevolumen von 300 Amphoren, schränkte sie also in ihren Handelsmöglichkeiten stark ein und verwies sie somit indirekt auf die Besinnung zu traditionell-agrarischen Werten und somit den Grundbesitz als ökonomische Basis. Zugleich wurde auf den Ansehensverlust hingewiesen, der durch den als indecorus betrachteten Handel erfolgte. 12 Die Ausgaben, die ein Römer im Zusammenhang mit der sukzessiven Ausübung der Ämter hatte, waren enorm: Zunächst musste er in die Wahlwerbung investieren, welche vornehmlich in Bestechungsgeldern und der Ausrichtung von Spielen für das Volk bestand, um dann – nach erfolgter Wahl – bei der Ausübung seines Amtes sich selbst und sein Personal finanziell unterhalten zu können.
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„Dass er wahrhaft kein Verächter des Geldes war, beweist seine Statthalterschaft in Syrien. Als armer Mann betrat er das reiche Syrien und als reicher Mann verließ er das arme Syrien.“13
Über die vielfältigen Möglichkeiten der Provinzausbeutung durch den Statthalter sind wir besonders gut durch die sogenannten Verrinischen Reden des Cicero unterrichtet.14 Gaius Verres, der in der späten Republik 3 Jahre lang als Proprätor in Sicilia tätig war, gilt noch heute als Exempel für den korrupten, geldgierigen Statthalter schlechthin. Er wurde schließlich sogar wegen seiner Vergehen in der Provinz angeklagt, über welche uns die niedergeschriebene Prozessrede Ciceros, der Anwalt der Gegenseite war, bis ins kleinste Detail informiert. Verres hatte zunächst die sizilischen Abgaben nicht an die höchstbietenden Männer verpachtet, sondern an ihm bekannte Männer, von welchen er wusste, dass sie der eigenen Bereicherung auf Kosten der Provinzialen nicht abgeneigt waren.15 In gemeinsamer Praxis beuteten sie daraufhin die Bewohner der Insel aus, indem Verres allerlei Sondersteuern einführte und die üblichen Abgaben zu hoch ansetzte. Sollten die Sizilier schließlich nicht mehr zahlen können, so traten die Pächter als Geldverleiher auf, wobei Verres auch hierbei Teilhaber an den gewonnenen Zinsgeldern war. Er selbst verlieh sogar Geld gegen Wucherzinsen, 13
Vell. II 117,2: „[...] pecuniae vero quam non contemptor, Syria, cui praefuerat, declaravit, quam pauper divitem ingressus dives pauperem reliquit.“ 14 Häufig angewandte Finessen der Statthalter, mit denen sie sich auf Kosten der Provinzialen bereichern konnten, sahen folgendermaßen aus: Die Statthalter hatten auf ihren Reisen durch die Provinz ein Anrecht auf freie Unterkunft und Beförderung für sich und ihr ganzes Personal, wobei zwar staatliche Gelder zur Entschädigung für den Aufwand der Provinzialen gestellt wurden, welche aber zumeist nicht den Weg aus den Taschen des Statthalters fanden. Zudem konnten sie Sonderauflagen machen, neue Zölle einführen und genannte Lücken im Steuersystem füllen – allesamt Maßnahmen, die allein im Ermessen des Statthalters lagen. Vgl. Dessau, Geschichte der römischen Kaiserzeit, S. 148-151. Insbesondere Badian, Ernst, Publicans and Sinners. Private Enterprise in the Service of the Roman Republic, Oxford 1972, S. 113-118 sieht nicht allein die Pächter als „scourge of the provinces“ an, sondern weist ausdrücklich auf die Rolle unfähiger und korrupter Statthalter und ihrer Untergebenen bei der Ausbeutung der Provinzen hin. 14 Häufig angewandte Finessen der Statthalter, mit denen sie sich auf Kosten der Provinzialen bereichern konnten, sahen folgendermaßen aus: Die Statthalter hatten auf ihren Reisen durch die Provinz ein Anrecht auf freie Unterkunft und Beförderung für sich und ihr ganzes Personal, wobei zwar staatliche Gelder zur Entschädigung für den Aufwand der Provinzialen gestellt wurden, welche aber zumeist nicht den Weg aus den Taschen des Statthalters fanden. Zudem konnten sie Sonderauflagen machen, neue Zölle einführen und sogenannte Lücken im Steuersystem füllen – allesamt Maßnahmen, die allein im Ermessen des Statthalters lagen. Vgl. Dessau, Geschichte der römischen Kaiserzeit, S. 148-151. Insbesondere Badian, Ernst, Publicans and Sinners. Private Enterprise in the Service of the Roman Republic, Oxford 1972, S. 113-118 sieht nicht allein die Pächter als „scourge of the provinces“ an, sondern weist ausdrücklich auf die Rolle unfähiger und korrupter Statthalter und ihrer Untergebenen bei der Ausbeutung der Provinzen hin. 15 Cic. Verr. II 3,148-150.
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was er aber nicht in eigener Person tat, sondern – weil es einem Statthalter verboten war Geschäfte zu machen – seine Pächter besorgen ließ.16 Zudem war er – wie andere Statthalter auch – zugleich Teilhaber an der Staatspacht; er besaß sozusagen Anteile an der Pacht, welche sich bei einer hohen eingenommenen Steuersumme in große Gewinne verwandelten.17 Auch dies durfte er freilich nicht öffentlich zeigen, weshalb er in den Büchern der Pächter als Gaius Verrucius geführt wurde.18 Vor allem bei den Naturalabgaben, den wichtigsten sizilischen Abgaben, trieb es Verres auf die Spitze. Hatten die Bauern laut Gesetz den zehnten Teil der Ernte abzugeben, so verlangte Verres weitaus mehr, wie wir von Cicero erfahren: „Welcher Landwirt hat, als du Prätor warst, nur ein Zehntel geleistet, wer nur zwei Zehntel? Wer glaubte nicht, die größte Wohltat empfangen zu haben, wenn er mit drei Zehnteln statt einem >d.h. mit allem! Anmerkung d. Verf.@ davon kam, mit Ausnahme der wenigen, die wegen der Teilnahme an deinen Diebstählen überhaupt nichts zu leisten brauchten? Sieh doch, welcher Unterschied zwischen deiner Brutalität und der Großzügigkeit des Senates besteht. Wenn der Senat durch die politischen Verhältnisse gezwungen wird, die Einziehung eines zweiten Zehnten zu beschließen, dann fasst er seinen Beschluss mit der Maßgabe, dass man den Landwirten für diesen Zehnten ein Entgelt zahle; was über die Schuld hinaus eingezogen wird, soll nämlich für gekauft, nicht für beschlagnahmt gelten. Du aber hast so viele Zehnte nicht auf Grund eines Senatsbeschlusses, sondern nach deinen neuartigen Erlassen und verruchten Anordnungen beigetrieben und erpresst, und dann glaubtest du, etwas Großes geleistet zu haben, wenn du einen höheren Pachterlös erzieltest als L. Hortensius, der Vater unseres Q. Hortensius hier, als Cn. Pompeius, als C. Marcellus, die sich nicht von der Gerechtigkeit, vom Gesetz, vom Herkommen entfernt haben?“19
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Cic. Verr. II 2,170. Warf Cicero noch im Jahr 70 v. Chr. vor dem Hintergrund des Prozesses Verres als furchtbares Verbrechen vor, ein (inoffizieller) socius der Pachtgesellschaften gewesen zu sein, so erwähnte er im Jahr 59 v. Chr. hingegen ganz beiläufig die Anteile Caesars an der Staatspacht. Cic. Verr. II 3,130. 3,140, Cic. in Vat. 29. Obgleich solche Geschäfte den Senatoren nach wie vor verboten waren, war es doch ein offenes Geheimnis, wie viele von ihnen in diese Händel verstrickt waren. Zu der vermehrten Beteiligung der Senatoren an den Staatspachten seit den siebziger und sechziger Jahren des ersten vorchristlichen Jahrhunderts, vgl. Badian, Publicans and Sinners, S. 101-104. 18 Cic. Verr. II 2,186-191. 19 Cic. Verr. II 3,42: „Quis arator te praetore decumam dedit? quis duas? quis non maximo se adfectum beneficio putavit cum tribus decumis pro una defungeretur, praeter paucos qui propter societatem furtorum tuorum nihil omnino dederunt? Vide inter importunitatem tuam senatusque bonitatem quid intersit. Senatus cum temporibus rei publicae cogitur ut decernat ut alterae decumae exigantur, ita decernit ut pro his decumis pecunia solvatur aratoribus, ut, quod plus sumitur quam debetur, id emi non auferri putetur: tu cum tot decumas non senatus consulto, sed novis edictis tuis nefariisque institutis exigeres et eriperes, magnum te fecisse arbitrare si pluris vendideris quam L. 17
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Auch bei dem hier erwähnten außerordentlichen Kornankauf wusste Verres, enorme Gewinne einzustreichen: Er nahm das vom Senat zur Verfügung gestellte Geld, legte es bei den Pächtern an, um darauf Zinsen zu erhalten, belieferte Rom mit den „Zehnten“, die er sowieso zuviel eingezogen hatte, erklärte das zusätzliche Getreide, das die Gemeinden zu liefern hatten, für unbrauchbar und ließ sich stattdessen den Marktwert von ihnen in Geld ausbezahlen, worauf noch eine Gebühr für seine Schreiber kam.20 Dieses System der Ausbeutung basierte im Großen und Ganzen auf Unterdrückung. Nicht nur bei Verres, sondern auch bei anderen Statthaltern, welche gemeinsame Sache mit Steuerpächtern und Wucherern machten, war es üblich, dass sie ihre von Rom verliehene militärische Befehlsgewalt zur Eintreibung ihrer Forderungen nutzten. Sie stellten militärische Einheiten zur Verfügung, um Druck auf Steuerzahler und Schuldner auszuüben, was bisweilen nicht nur bei Drohungen blieb.21 Verres war bei weitem nicht der einzige Statthalter seiner Art, vielmehr der Einzige, über dessen Vergehen wir so ausführlich unterrichtet sind.22 Dass es in vielen Regionen des Reiches ähnlich aussah, wissen wir von den Klagen und Unruhen in den einzelnen Provinzen, aber auch von weiteren Repetundenprozessen, d.h. Prozessen wegen ausbeuterischer Erpressung gegen die Statthalter.23 Diese, welche im Grunde genommen die einzige Möglichkeit für die Provinzialen waren, sich zu wehren, waren allerdings äußerst uneffektiv. Die Richterbänke waren nämlich ebenfalls mit Angehörigen der römischen Oberschichten besetzt: entweder von Senatoren, die sich irgendwann noch selbst in den Provinzen finanziell sanieren wollten oder von Rittern, welche zu großen Teilen an den Pachtgeschäften beteiligt waren. Die Interessenverflechtungen und die gegenseiHortensius, pater istius Q. Hortensi, quam Cn. Pompeius, quam C. Marcellus, qui ab aequitate, ab lege, ab institutis non recesserunt?“ Vgl. auch Cic. Verr. II 3,40. 20 Cic. Verr. II 3,165. Von der mit dem Kaufgetreide in Zusammenhang stehenden Ausbeutung durch Verres handelt ein ganzer Abschnitt der Verrinischen Reden: Cic. Verr. II 3,163-187. 21 Cic. Verr. II 3,66. Die ganze Rede ist durchzogen von Einzelbeispielen, die die Gewalttaten von Verres und seinen Männern sowie die Demütigungen erläutern, welche die sizilische Bevölkerung unter diesen erdulden musste. 22 Zudem darf man nicht den unter dem Statthalter wirkenden Personalstab vergessen, der in der Regel auch an der Vermehrung seines Reichtums interessiert war. Vgl. zum Beispiel den Legaten M. Lollius, dem Geld weitaus wichtiger war als eine gute Amtsführung. Vell. II 97,1. Vgl. Dessau, Geschichte der römischen Kaiserzeit, S. 149. 23 Die Repetundenprozesse boten den Geschädigten die Möglichkeit, einen römischen Statthalter, durch welchen sie Unrecht erfahren hatten, vor Gericht zu ziehen. Zu den Vergehen, die in diesem Rahmen behandelt wurden, zählten Raub, Erpressung, die Annahme von Geschenken sowie Steuervergehen (Einzug neuer Steuern, rechtswidrige Erhöhung, etc.). Ein Schuldurteil konnte bei dem Magistraten zur Minderung seiner Ehre und für den Ankläger zu einem Schadensersatz führen. Vgl. Ausbüttel, Frank M., Die Verwaltung des Römischen Kaiserreiches. Von der Herrschaft des Augustus bis zum Niedergang des Weströmischen Weltreiches, Darmstadt 1998, S. 183-185, Dessau, Geschichte der römischen Kaiserzeit, S. 149f.
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tigen Loyalitäten – oder modern ausgedrückt: die Lobbybildung innerhalb der römischen Oberschicht sorgte dafür, dass die Statthalter sich bei ihrem Tun sicher fühlen konnten. Und sollte dies einmal nicht ausreichen, dann hatte man als ehemaliger Statthalter ja etwas Geld in der Hinterhand, um die Richter zu besänftigen. Auch hierfür liefert die Verresrede wieder den deutlichsten Beweis, in der Cicero erläutert, „...dass C. Verres in Sizilien vor zahlreichen Zuhörern oft genug erklärt hat: er habe eine mächtige Stütze, auf die er sich verlassen könne, wenn er die Provinz ausplündere; auch trachte er nicht nur für sich nach Geld, er habe vielmehr die drei Jahre seiner sizilischen Prätur so eingeteilt, dass er sehr gut abzuschneiden glaube, wenn er den Gewinn des ersten Jahres für sich verwende, das zweite seinen Anwälten und Beschützern überlasse, das dritte jedoch, das reichste und ergiebigste, ganz für seine Richter aufspare.“24
Und Cicero befürchtete, in Anbetracht dieser Absurdität, „...dass die auswärtigen Nationen noch Gesandte an das römische Volk schicken würden, um die Abschaffung des Gesetzes und Gerichtshofs gegen Erpressungen zu erwirken. Wenn es nämlich keine Prozesse mehr gebe, dann werde, meinen sie, ein jeder nur so viel rauben, als er für sich und seine Kinder zu benötigen glaube.“25
Die Gerichte waren somit als Kontrollinstanzen unwirksam.26 Juvenals berühmt gewordene Frage Aber wer kontrolliert die Kontrolleure?27 war in diesem Fall eindeutig zu beantworten: Niemand. 24
Cic. Verr. I 14,1: „[...] C. Verrem in Sicilia, multis audientibus, saepe dixisse, se habere hominem potentem, cuius fiducia provinciam spoliaret: neque sibi soli pecuniam quaerere, sed ita triennium illud praeturae Siciliensis distributum habere, ut secum praeclare agi diceret, si unius anni quaestum in rem suam converteret; alterum patronis et defensoribus traderet; tertium illum uberrimum quaestuosissimumque annum totum iudicibus reservaret.“ Ausnahmsweise ging diese Rechnung im Fall des Verres nicht auf, denn die erdrückende Beweislast und die umfangreichen Zeugenlisten, welche Cicero in Sicilia zusammengetragen hatte, veranlassten Verres, den Prozess vorzeitig verloren zu geben und sich seiner Strafe durch Selbstverbannung zu entziehen. Er ging ins Exil nach Massilia (Marseille) und genoss dort, fernab Roms, ein Leben im Wohlstand, bis er schließlich im Jahr 43 v. Chr. wegen seines Reichtums ein Opfer der Proskriptionen, welche auch Cicero – allerdings aus anderen Gründen – das Leben kosteten, werden sollte. 25 Cic. Verr. I 14,2: „[...] fore uti nationes exterae legatos ad populum Romanum mitterent, ut lex de pecuniis repetundis iudiciumque tolleretur. Si enim iudicia nulla sint, tantum unum quemque ablaturum putant, quantum sibi ac liberis suis satis esse arbitretur.“ 26 Die Gerichte standen – egal ob sie mit Rittern oder Senatoren besetzt waren – immer unter dem Druck der mächtigen und vermögenden Pächter, die durch ihre Organisation in den societates publicanorum eine Plattform und ein gemeinsames Sprachrohr hatten und dadurch ihre politische Macht entfalten konnten. Besonders in Zeiten, in denen die Gerichte von Rittern, d.h. von Angehörigen der geschäftetreibenden Oberschicht und Mitgliedern der Pachtgesellschaften, geleitet wur-
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Eine zweite potenzielle Kontrollinstanz existierte zwar, war aber ebenfalls aufgrund des eng verwobenen römischen Beziehungsgeflechtes unwirksam: die Quästoren, welche nicht nur in Rom, sondern auch in den Provinzen die Aufsicht über die Finanzen des Reiches inne hatten. Sie standen erst am Anfang ihrer Karriere und wollten sie es zu etwas bringen, durften sie es sich mit den angesehenen und in der Hierarchie weit über ihnen stehenden Statthaltern nicht verscherzen. Beziehungen und gegenseitige Gefälligkeiten waren die Basis jeder römischen Karriere, weshalb eine wirksame Kontrolle der Statthalter durch die Quästoren nicht gegeben sein konnte.28 Aber auch umgekehrt gab es zahlreiche Quästoren, welche in die Händel der Pächter verstrickt waren – auch ohne das Wissen des Statthalters. Von einem Vorgehen gegen die ausbeuterische Praxis in den Provinzen kann jedenfalls insgesamt keine Rede sein. Die Oberschicht, oder zumindest die meisten ihrer Vertreter hatten nicht unbedingt das Staatswohl oder das der Untertanen im Sinn, sondern waren vielmehr darauf bedacht, in die eigene Tasche zu wirtschaften und möglichst große Summen aus den Provinzen davon zu tragen. Dass dies den wirtschaftlichen Ruin und die Verschuldung ganzer Regionen bedeutete, war ihnen gleichgültig. Die Folgen hatte jedoch das römische Reich zu tragen: Es hatte nicht nur mit den damit zusammenhängenden Unruhen und reichsweiten Krisenherden zu kämpfen, sondern auch mit den wirtschaftlichen Krisen der Provinzen, deren Rückwirkungen auf Rom nicht ausblieben und im schlimmsten Falle in einer Stagnation der provinzialen Einnahmen enden konnten – ein Todesstoß nicht nur für die den, konnten sie ihren Einfluss geltend machen und ihre wirtschaftlichen Interessen durchsetzen, wie sie in einem Prozess aus dem Jahr 92 v. Chr. demonstrierten. Sie verurteilten den konsularischen Legaten P. Rutilius Rufus, der gemeinsam mit dem Statthalter Q. Mucius Scaevola in die Provinz Asia geschickt worden war, um die Geschäftspraktiken der publicani zu beleuchten und die Missstände zu beheben. Die saubere und vorbildhafte Amtsführung der beiden Beamten brachte ihnen die Gegnerschaft vieler Ritter – allen voran die der Pächter – ein, die sich in ihren unlauteren Machenschaften gestört fühlten und dies den integren Männern heimzahlen wollten. So verurteilte die aus Rittern zusammengesetzte quaestio perpetua de repetundis, die eine wachsende Zahl von publicani vorzuweisen hatte, im Zuge einer Machtdemonstration den völlig unschuldigen und korrekten Legaten. Cic. Font. 38, Cic. de orat. 1,227-231. 27 Iuvenalis, Saturae VI, 347f.: „Sed quis custodiet ipsos custodes?“ 28 De iure war der Quästor selbständig in der Verwaltung der Staatsgelder. De facto hingegen war er sehr eingeschränkt, da er in Anbetracht seiner weiteren Karriere auf die Gunst der ranghöheren Magistrate angewiesen war – ganz im Gegensatz zu der Gunst der Provinzialen. Außerdem entstammten zahlreiche Quästoren dem Ritterstand und hatten damit häufig selbst Verbindungen zu den geschäftstüchtigen, in den Provinzen tätigen Kreisen, so dass ihnen an einer genauen Kontrolle der finanziellen Vorgänge zwischen diesen und dem Statthalter nicht unbedingt gelegen war. Vgl. Schulz, Raimund, Herrschaft und Regierung. Roms Regiment in den Provinzen in der Zeit der Republik, Paderborn 1997, S. 239-246, Eich, Zur Metamorphose des politischen Systems, S. 56f. Zusätzlich gab es in vielen Provinzen rein praktische Schwierigkeiten bei der finanziellen Kontrolle des Statthalters durch den Quästor. In Sicilia bspw. hatte der Quästor seinen Sitz in Lilybaeum, der Statthalter hingegen residierte in Syrakus, so dass zwischen beiden die ganze sizilische Insel lag.
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römische „Staatskasse“, sondern auch für die römische Herrschaft. Der Praxis der Ausbeutung, die gemeinsam von Statthaltern, Steuerpächtern und Wucherern perfektioniert worden war, musste entgegengewirkt werden und Augustus sollte Veränderungen auf der Verwaltungsebene einleiten, die, wenn auch nicht der gänzlichen Beseitigung, so doch einer Einschränkung dieser Praxis dienlich waren.
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Prinzipat
Nach Beendigung der Bürgerkriege, welche durch die Machtgier einzelner Römer verursacht worden waren, hatte Augustus im Jahr 27 v. Chr. formal die Republik wieder hergestellt. Formal deshalb, weil er selbst inzwischen durch hohe Finanzkraft und die ihm ergebenen römischen Legionen zu so großer Macht gelangt war, dass nur die Erfahrungen mit den Diktaturen der vorangegangenen Jahre, vor allem das Schicksal seines Großonkels Caesar, ihn davon abhielten, offen nach der Macht im „Staate“ zu greifen. Er lehnte somit eine offizielle Einsetzung als Oberhaupt des Reiches (z.B. als Diktator auf Lebenszeit) ab, ließ sich aber vom Senat mit zahlreichen Amtsvollmachten ausstatten, so dass aufgrund seiner hohen machtpolitischen Stellung de facto eine neue Staatsform entstanden war, das sogenannte Prinzipat29 – quasi eine Monarchie hinter republikanischer Fassade.
Änderungen im Verwaltungspersonal Die erste bedeutende Änderung, die diese neue Staatsform mit sich brachte, betraf nun sogleich die Statthalterschaften in den Provinzen. Infolge der Übertragung der prokonsularischen Gewalt an Augustus fand noch im Jahr 27 v. Chr. eine regelrechte Aufteilung der Provinzen, zum einen in die des Augustus, zum anderen in die des Senats, statt. Augustus wurde im Großen und Ganzen mit der Verwaltung und Kontrolle all derjenigen Provinzen betraut, die als „unbefriedet“ 29
Der Begriff „Prinzipat“ lässt sich von dem lateinischen Wort princeps herleiten, was soviel bedeutet wie „der Erste“. Er bezeichnet die nachrepublikanische, römische Herrschaftsstruktur, die neben der Beibehaltung der traditionellen Institutionen durch die Vorherrschaft eines Einzelnen gekennzeichnet war, der die führenden Männer des Staates (principes civitatis) in seinem Ansehen (auctoritas) bei weitem überragte, so dass er „zum princeps par excellence“ avancierte. Bellen, Heinz, Grundzüge der römischen Geschichte. Bd. 1: Von der Königszeit bis zum Übergang der Republik in den Prinzipat, Darmstadt 1994, S.164; vgl. auch R. Gest. div. Aug. 34: „Post id tempus auctoritate omnibus praestiti, potestatis autem nihilo amplius habui quam ceteri qui mihi quoque in magistratu conlegae fuerunt.“
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oder als von Unruhen bedroht galten und die dementsprechend mit der Stütze seiner Macht – den Legionen des Reiches – besetzt waren.30 Dies bedeutete nicht nur, dass er von Seiten des römischen „Staates“, d.h. von Senat und Volk den Oberfehl über das römische Heer erhielt und damit eine wesentliche Absicherung seiner machtpolitischen Stellung erreichte, sondern auch, dass er offiziell als oberster Verwaltungsbeamter, d.h. als Statthalter in diesen Provinzen eingesetzt wurde. Da er jedoch unmöglich an all diesen Orten zugleich als Statthalter tätig sein konnte, brauchte er zu diesem Zweck Stellvertreter, die sogenannten legati Augusti pro praetore (Vgl. hierzu wie zum Folgenden Abb. 2). Sie stammten wie die Statthalter der Senatsprovinzen in der Regel aus dem Senatorenstand, obwohl Augustus nun gelegentlich auch Ritter an die Spitze von zumeist kleineren Provinzen setzte, welche dann aber als Präsidialprokuratoren oder Präfekte bezeichnet wurden.31 Die wichtigste Neuerung hierbei war nun, dass all diese für Augustus stellvertretend eingesetzten Statthalter von diesem persönlich ernannt wurden, was folgende Konsequenzen nach sich zog: Ihre Stellung hatte keinen offiziellen Charakter, weshalb sie vom Prinzip der Annuität, welchem die ehemals republikanischen Magistrate noch immer unterlagen, entbunden war. Sie konnten demnach so lange in ihren Positionen bleiben wie es Augustus beliebte, welcher sich als oberster Verwaltungsbeamter seiner Provinzen selbst in einer zeitlich quasi unbeschränkten Stellung befand.32 Eine fehlende zeitliche Begrenzung ergab sich demnach auch für das untere Verwaltungspersonal dieser Statthalter, welches sich seinerseits wiederum anders zusammensetzte als der Stab der Prokonsuln in den senatorischen Provinzen. Gab es in diesen noch – wie zu Zeiten der Republik – die Quästoren, die den 30
R. Gest. div. Aug. 26, Cass. Dio 53,12f. Zu Zeiten der Republik entstammten die Statthalter ausschließlich dem Senatorenstand und waren von prokosularischem oder proprätorischem Rang (vgl. Abb. 1). Die Frage, weshalb Augustus auch Ritter als seine Stellvertreter und damit indirekt als oberste Verwaltungsbeamte einer Provinz einsetzte, konnte in der Forschung bisher nicht eindeutig geklärt werden. Lediglich für Ägypten schienen machtpolitische Gründe klar im Vordergrund zu stehen, da das reiche Gebiet eine ideale Basis für Machtansprüche einzelner Senatoren darstellte, wie es sich bereits im Fall des Antonius gezeigt hatte. Hinzu kam die zunehmende Bedeutung Ägyptens für die Getreideversorgung Roms, welche nur dadurch gesichert werden konnte, dass man das Gebiet in die Hände eines Mannes gab, welcher Rom und dem Kaiser loyal ergeben war und keine eigenen politischen Machtbestrebungen verfolgte. Erklärungsversuche für die Besetzung der übrigen Provinzen mit ritterlichen Präfekten oder Präsidialprokuratoren liefern Eck, Werner, Die Verwaltung des Römischen Reiches in der Hohen Kaiserzeit. Ausgewählte und erweiterte Beiträge, Bd.1, Basel 1995, S. 29-54, 83-102, 327340 und Jacques, Rom und das Reich, S. 184-186. 32 Offiziell sollte er die Stellung so lange inne haben, bis die Befriedung und Ordnung der ihm zugewiesenen Provinzen garantiert sei, was Augustus in 10 Jahren zu erreichen gedachte. Das ihm verliehene imperium proconsulare maius musste in der Folgezeit deshalb in regelmäßigen Abständen verlängert werden. Vgl. Cass. Dio 53,13,1. Der Senat sollte jedoch nie wieder die vollständige Verwaltungshoheit über diese Gebiete erhalten. 31
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Einzug der Hauptsteuern gemeinsam mit den Statthaltern überwachen sollten, so führte Augustus auch hier eine veränderte Personalpolitik ein. Er setzte an deren Stelle – wiederum persönlich und ohne Mitsprache des Senates – sogenannte Prokuratoren in seinen Provinzen ein. Den Prokurator kannte man schon in der Republik, wo dieser als persönlicher Agent, meist aus dem Freigelassenenmilieu stammend, auftrat und für Angehörige der römischen Oberschichten verschiedene private Dinge, meist finanzieller Natur, besorgte.33 Augustus setzte nun mehrere dieser privaten Helfer nicht nur für die Sorge um seine persönlichen finanziellen Belange in den Provinzen ein, sondern auch für die Angelegenheiten des „Staates“, welche vor allem in der Kontrolle der öffentlichen Einnahmen und Ausgaben bestanden.34 Für diese Stellen zog er in traditioneller Art und Weise seine eigenen Freigelassenen heran, aber auch römische Ritter, welche ihm loyal ergeben waren.35 Als zusätzliche Gehilfen gab er ihnen weitere, von ihm abhän33
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Vgl. Weaver, Paul R.C., Familia Caesaris. A Social Study of the Emperor's Freedmen and Slaves, Cambridge 1972, S. 267-281. Die finanziellen Belange des Prinzeps in den Provinzen umfassten bspw. die Verwaltung von Einnahmen aus den kaiserlichen Ländereien und Bergwerken und von Erbschaften, die dem Kaiser zufielen, sowie den Einzug von herrenlosen Gütern oder solchen, die einem wegen Majestätsbeleidigung Verurteilten gehörten. Vgl. Ausbüttel, Die Verwaltung des Römischen Kaiserreiches, S. 13f. Was die öffentlichen Einnahmen und Ausgaben betraf, so waren die Provinzprokuratoren zuständig für die Truppenversorgung, die Steuerveranlagung, Verpachtungen und den Einzug der Hauptsteuern von den Gemeinden. Jacques, Rom und das Reich, S. 199f., Weaver, Familia Caesaris, S. 267-281. Allgemein zum Einsatz der Prokuratoren, s. Cass. Dio 53,15,3-6; vgl. Boulvert, Gérard, Esclaves et affranchis imperiaux sous le Haut-Empire romain. Rôle politique et administratif, Neapel 1970, S. 387-418, Pflaum, Hans-Georg, Les carrières procuratoriennes équestres sous le Haut-Empire romain, Paris 1960–1961, Eck, Die Verwaltung des Römischen Reiches, S. 15f., Dessau, Geschichte der römischen Kaiserzeit, S. 191-195, Hirschfeld, Otto, Die kaiserlichen Verwaltungsbeamten bis auf Diocletian, Berlin 31963, S. 410-465. Cass. Dio 53,15,3. 54,21,3. Später treten die Provinzprokuratoren als Paare auf, wobei einer den Rang eines Ritters, der andere den Rang eines Freigelassenen inne hatte. Vgl. Jacques, Rom und das Reich, S. 189. Zur Eignung der Ritter als Prokuratoren: Die Ritter waren nicht nur auf den Statthalterposten, sondern auch auf den Prokuratorenstellen von Vorteil, da sie als Angehörige der städtischen Oberschichten meist schon über administrative Erfahrungen verfügten, sich aufgrund ihrer wirtschaftlichen Betätigungen oft besser als die Senatoren mit der Ökonomie auskannten und da sie zahlenmäßig den Senatorenstand überragten, d.h., dass der Prinzeps unter ihnen eine größere Auswahlmöglichkeit hatte. Siehe dazu: Ausbüttel, Die Verwaltung des Römischen Kaiserreiches, S. 168f., Eck, Die Verwaltung des Römischen Reiches, S. 100f., Hirschfeld, Die kaiserlichen Verwaltungsbeamten, S. 413-415. Zur besonderen Eignung der Freigelassenen als Prokuratoren: Sie erhielten als Sklaven bereits eine hervorragende Ausbildung in den kaiserlichen Finanzbüros und reiften nach jahrelanger Tätigkeit und Erfahrung zu regelrechten Fachleuten heran. Vgl. Herrmann-Otto, Elisabeth, Ex ancilla natus. Untersuchungen zu den „hausgeborenen“ Sklaven und Sklavinnen im Westen des Römischen Kaiserreiches (Forschungen zur antiken Sklaverei, Bd. 24), Stuttgart 1994, S. 314-324, 353-369, Dies., Sklaverei und Freilassung, S. 185-187. In der Forschung wurde zudem vermutet, dass sie die Ritter beaufsichtigen sollten, bzw. dass die Einsetzung als Paar einer gegenseitigen Aufsicht dienen sollte. Die Quellen zeigen jedoch, dass Freigelassene in der Regel länger als die Ritter am selben Ort eingesetzt wurden, weshalb die Gewährleistung
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gige Sklaven und Freigelassene – oder im römischen Sprachgebrauch: Angehörige seiner familia36 – als Personalstab bei, die sich um alle anfallenden Aufgaben kümmerten, wie z.B. um Botengänge, Archiv- und Schreibarbeiten, die Kassenführung oder auch die Aufsicht über ganze Sachbereiche und das dazugehörige Personal.37 Bei dieser veränderten Personalpolitik sollte es jedoch nicht bleiben: Selbst in den senatorischen Provinzen setzte er Prokuratoren ein, die jedoch offiziell – da hier noch die republikanischen Quästoren existierten – nur für die finanziellen Privatangelegenheiten des Prinzeps zuständig waren, sein sogenanntes patrimonium. So verwalteten sie beispielsweise seine in den Provinzen gelegenen Ländereien oder überwachten persönliche Einnahmen und Ausgaben, die vor Ort anfielen wie z.B. den Einzug von Gütern oder Erbschaften zugunsten des Kaisers.38 Aufgrund seines Ansehens und seiner zunehmenden machtpolitischen Stellung erfuhren jedoch alle von ihm eingesetzten Prokuratoren bald einige Kompetenzerweiterungen, welche sicher auch denjenigen, die in den senatorischen Provinzen tätig waren, einen Einblick in die dortige (offizielle) Rechnungsführung ermöglicht haben.39 von Kontinuität und die besondere fachliche Qualität der Freigelassenen eher als Gründe für deren Einsatz gelten können. Hinzu kommt die Verfügungsgewalt, die der Prinzeps über seine Freigelassenen ausüben konnte, was zu einer besseren Kontrolle dieser Funktionäre führte. Vgl. Hirschfeld, Die kaiserlichen Verwaltungsbeamten, S. 412f., Weaver, Familia Caesaris, S. 279-281, Schrömbges, Paul, Zum römischen Staatshaushalt in tiberischer Zeit, in: Gymnasium 94, 1987, S. 25f. Siehe auch Anm. 39. 36 Vgl. Ausbüttel, Die Verwaltung des Römischen Kaiserreiches, S. 11f., Herrmann-Otto, Sklaverei und Freilassung, S. 180f. Die familia des Prinzeps wurde später, einhergehend mit der Institutionalisierung der neuen Staatsform und der Übertragung des Beinamens „Caesar“ an spätere principes, als familia Caesaris bezeichnet. 37 Zu den Tätigkeiten der kaiserlichen Sklaven und Freigelassenen im Dienste des Reiches, siehe Hirschfeld, Die kaiserlichen Verwaltungsbeamten, S. 58-64, Eck, Die Verwaltung des Römischen Reiches, S. 16f. 38 Zur Einsetzung der Patrimonialprokuratoren in Provinzen des Prinzeps und des Senats, vgl. Alpers, Michael, Das nachrepublikanische Finanzsystem. Fiscus und Fisci in der frühen Kaiserzeit (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte, Bd. 45), Hamburg 1993, S. 42f., Eck, Die Verwaltung des Römischen Reiches, S. 16, Jacques, Rom und das Reich, S. 183, Ausbüttel, Die Verwaltung des Römischen Kaiserreiches, S. 14f. Vgl. Anm. 33 zum Aufgabenbereich der Patrimonialprokuratoren. 39 Hatte ihre Stellung zunächst einen rein privaten Charakter, so gewann diese mit der Verfestigung der neuen Staatsform und dem wachsenden politischen Gewicht ihres Klienten/Patrons/Herrn zunehmend an öffentlicher Qualität. Vgl. Schrömbges, Zum römischen Staatshaushalt, S. 25f., Weaver, Familia Caesaris, S. 270f. Dafür spricht auch die Befähigung zur Rechtsprechung in Steuerprozessen, die den Prokuratoren, sogar denen des patrimonium Caesaris, in claudischer Zeit übertragen wurde. Siehe hierzu Jacques, Rom und das Reich, S. 198f., Eck, Die Verwaltung des Römischen Reiches, S. 15-18. Dass die Patrimonialprokuratoren des Prinzeps Zugang zu den „staatlichen“ Kassen in den senatorischen Provinzen erhalten haben werden, kann als äußerst wahrscheinlich gelten, in Anbetracht der Tatsache, dass bereits zu Zeiten der Republik Privatsklaven der Ma-
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Abbildung 2: Die obersten Verwaltungsbeauftragten der römischen Provinzen, das unter ihnen tätige Personal und dessen Zuständigkeiten40
Einsatzort Sozio-politischer Status
Prokonsul
legatus Augusti pro praetore
Präsidialprokurator / Präfekt
Senatorische Provinz
Provinz des Augustus
Provinz des Augustus
Senator
Senator
Ritter
Prokuratoren
Prokuratoren
familia Caesaris
familia Caesaris
Patrimonialprokuratoren
Patrimonialprokuratoren
Statthalter und Quästor Sklaven und Freigelassene des ProkonPersonalstab suls PatrimonialFinanzbelange des prokuratoren Augustus Quelle: eigene Darstellung. Kontrolle des Steuereinzuges
Einer allumfassenden finanziellen Kontrolle, die durch die von Augustus abhängigen Personen gewährleistet wurde und in dessen Oberaufsicht mündete, stand demnach nichts mehr im Wege. Vor allem die zahlreich eingesetzten Sklaven und Freigelassenen des Prinzeps stellten in dieser Hinsicht möglichst zuverlässige Helfer dar, denn Augustus konnte von diesen – um mit den Worten Cassius Dios zu sprechen – „sogar unter Zwang erfahren, wenn eine Unregelmäßigkeit unterlief“.41 Sie stellten somit verlässliche Augen und Ohren für den Prinzeps
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gistrate zum Zwecke der Rechnungsprüfung Zugang zum aerarium erhalten hatten. Plut. Cat. min. 18. Vgl. auch Alpers, Das nachrepublikanische Finanzsystem, S. 262. Erläuterungen: Alle Personen, die in Provinzen des Augustus mit einer Verwaltungstätigkeit betraut waren, standen in einem Abhängigkeitsverhältnis zu Augustus, ebenso wie die von ihm persönlich eingesetzten Patrimonialprokuratoren in den senatorischen Provinzen (grau unterlegt). Cass. Dio 52,25,5. Als pater familias hatte der Prinzeps das Entscheidungsrecht über Leben und Tod seiner Sklaven. Für seine Freigelassenen galt dies zwar nicht, doch standen sie weiterhin in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihrem früheren Herrn. Sie waren dem Patron gegenüber zu Ehrerbietung (reverentia) und Gehorsam (obsequium) sowie zu gewissen Diensten (operae) verpflichtet, welche z.B. Arbeitsverpflichtungen, die Pflege bei Krankheit, die tägliche Aufwartung oder auch die Unterstützung bei Wahlen umfassten. Sie waren also zu besonderer Treue und Loyalität angehalten, wobei es insbesondere für Freigelassene mächtiger Patrone essentiell sein konnte, diese Verpflichtungen zu erfüllen. Gerade der kaiserliche Freigelassene konnte seinen Reichtum und seinen potenziellen Einfluss nur auf die Beziehung zu seinem Herrn zurückführen und konnte den „Platz an der Sonne“ nur durch dessen Gunst und Förderung erreichen und womöglich dauerhaft beanspruchen, da es ihm selbst an hohem sozialen Prestige fehlte. Freigelassene waren daher für den Prinzeps (durch ihre Abhängigkeit von ihm als Patron) die am leichtesten zu lenkenden
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dar, der sich dadurch dauerhaft einen hervorragenden Überblick über alle Vorgänge im Reich verschaffen konnte.
Änderungen im Steuerwesen Auch im Steuerwesen sollte es unter Augustus zu Neuerungen kommen. Die Besteuerung vieler Provinzen war nach Jahrzehnten des Bürgerkriegs und der Ausbeutung durch römische Funktionsträger in Unordnung geraten und musste stabilisiert werden, während in den neuen, vorwiegend westlichen Provinzen, die keine vorgefertigten Verwaltungsstrukturen aufweisen konnten, ein Besteuerungssystem überhaupt erst etabliert werden musste. Zu diesem Zweck ließ Augustus etwa zu Beginn unserer Zeitrechnung die Bevölkerung des Reiches und ihre Vermögensverhältnisse erfassen. Wir kennen die diesbezügliche Quellenstelle aus der Bibel, genauer gesagt aus der sogenannten Weihnachtsgeschichte, welche gleich zu Anfang darüber berichtet, weshalb die hochschwangere Maria auf Reisen war: „In dieser Zeit befahl der Kaiser Augustus, dass alle Bewohner des römischen Reiches namentlich in Listen erfasst werden sollten. Eine solche Volkszählung hatte es noch nie gegeben. Sie wurde durchgeführt, als Quirinius Statthalter in Syrien war. Jeder musste in die Stadt gehen, aus der er stammte, um sich dort eintragen zu lassen >…@“42
Der Grund war demnach eine Volkszählung, welche Augustus im Rahmen eines reichsweiten Zensus angeordnet hatte, was bedeutete, dass Listen über die Bewohner des Reiches sowie deren Besitz anfertigt wurden, auf deren Basis Augustus schließlich ihm angemessen erscheinende Steuern festlegte.43 Zusammen mit dieser Steueranpassung setzte er nun auch Veränderungen in der Praxis der Einziehung durch. Die Hauptsteuern wurden nun vielerorts44 vermehrt in Form einer Pro-KopfSteuer, welche unabhängig vom Vermögensstand des jeweiligen Steuerzahlers war, eingenommen. Augustus schaffte den Zehnten, der zur Zeit der Republik so Personen und sie waren sich darüber bewusst, dass ihre Ersetzung oder Beseitigung im administrativen Bereich – falls sie einmal nicht mehr in der Gunst des Prinzeps stehen sollten – aufgrund ihres geringen Sozialprestiges kaum eine öffentliche Resonanz haben würde. Sie taten demnach ihr Bestes, den Wünschen und Anforderungen des Prinzeps zu entsprechen. 42 Lk 2,1-3. 43 R. Gest. div. Aug. 8, Cass. Dio 53,22,5 (Gallien). Vgl. auch Jacques, Rom und das Reich, S. 173176. 44 Vgl. Schrömbges, Zum römischen Staatshaushalt, S. 35, mit zahlreichen Quellenangaben.
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viel Platz für ungerechtfertigte Forderungen gelassen hatte, demnach weitestgehend ab und verwandelte diese Abgabe in feste Pauschalbeträge.45 Diese wurden auch nicht mehr von Staatspächtern eingezogen, sondern von den einzelnen Gemeinden bzw. deren Stadtverwaltungen (d.h. den Dekurionen) selbst, die die Gelder dann an die Prokonsuln oder die Prokuratoren, je nach Art der Provinz, weiterleiteten.46 Die Pächter fielen quasi als Zwischeninstanz aus und verloren ihre Haupteinnahmequellen wie z.B. die Hauptsteuern der großen und reichen Provinz Asia,47 was das Ende der großen Pachtgesellschaften einleitete. Im Zusammenhang mit dem Einzug der zentralen Steuern (auf Kopf und Boden) traten sie nur noch in Ausnahmefällen auf und dort, wo diese weiterhin in Naturalabgaben bestanden wie beispielsweise in Afrika.48 Die indirekten Abgaben wie beispielsweise Zölle und unregelmäßige Leistungen wie die Freilassungs- oder die neu eingerichtete Erbschaftssteuer blieben hingegen zunächst weiterhin in den Händen der Pächter. Sie kamen vermutlich erst im Laufe des 2. Jahrhunderts, die Zölle sogar noch später, unter die Kontrolle kaiserlicher Beauftragter. Bei Einzug dieser Abgaben waren jedoch die Möglichkeiten der Ausbeutung wesentlich geringer als bei den großen, ganze Provinzen umfassenden Pachten der Hauptsteuern. Zudem schien man hier dazu überzugehen, den Pächtern nur eine feste Quote der verrechneten Beträge zuzugestehen, da bei diesen Einkünften sowieso nicht von vornherein eine konkrete Pachtsumme abzuschätzen war. Enorme Profite waren kaum mehr möglich und damit einhergehend verloren die Pachtgesellschaften nach und nach an Größe und Einfluss.49
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Dabei dienten Reformen durch C. Julius Caesar in der Provinz Asia offenbar als Vorbild. Drexhage, Heinrich-Wilhelm, Wirtschaftspolitik und Wirtschaft in der römischen Provinz Asia in der Zeit von Augustus bis zum Regierungsantritt Diokletians (Asia Minor Studien, Bd. 59), Bonn 2007, S. 32f. 46 Cass. Dio 53,15,3. Zu den genauen Aufgaben der Statthalter im Zusammenhang mit der Steuererhebung, s. Ausbüttel, Die Verwaltung des Römischen Kaiserreiches, S. 85-88. Zur Rolle der Städte (civitates) und der dort ansässigen Führungseliten (Angehörige des ordo decurionum) in der Reichsverwaltung, s. Ausbüttel, Die Verwaltung des Römischen Kaiserreiches, S. 39-46, 191f. 47 Diese waren schon unter Caesar den Pächtern entrissen worden. Zur selben Zeit hatte dieser bereits dazu gedrängt, die Einziehung der Steuern auch in anderen Regionen des Reiches den civitates anzuvertrauen. App. b.c. V,4, Cass. Dio 42,6,3. Vgl. auch Dessau, Geschichte der römischen Kaiserzeit, S. 184f. 48 CIL VI 31713. Vgl. Dessau, Geschichte der römischen Kaiserzeit, S. 162f., Schrömbges, Zum römischen Staatshaushalt, S. 35f. App. Pun. 20,135 berichtet hingegen von Kopf- und Bodensteuern aus dieser Region. 49 Vgl. Tac. ann. IV 6,3, Schrömbges, Zum römischen Staatshaushalt, S. 35-38, Ausbüttel, Die Verwaltung des Römischen Kaiserreiches, S. 87f., Dessau, Geschichte der römischen Kaiserzeit, S. 190f., Hirschfeld, Die kaiserlichen Verwaltungsbeamten, S. 77-109, Jacques, Rom und das Reich, S. 199f., Eck, Die Verwaltung des Römischen Reiches, S. 23f. Insbesondere zur Erhebung der Zöl-
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Besoldung Augustus versuchte also insgesamt durch eine allgegenwärtige Kontrolle sowie durch wesentliche Veränderungen im Besteuerungswesen, die Bereicherungsmöglichkeiten der Oberschichten in den Provinzen einzudämmen. Um die führenden Schichten aber nicht durch den Entzug ihrer „traditionellen“ Einnahmequellen gegen sich aufzubringen und um sich der Loyalität seiner neuen Funktionselite zu versichern, führte er erstmals ein Besoldungssystem50 ein, wie wir durch den Geschichtsschreiber Cassius Dio erfahren: „Der Kaiser erteilt sowohl den Prokuratoren als auch den Prokonsuln und Propraetoren bestimmte Anweisungen, damit sie beim Abgang in die Provinzen genauen Vorschriften unterliegen. Denn diese Ordnung sowie die Ausbezahlung eines Gehaltes für sie und ihre Mitarbeiter wurden damals eingeführt. In früheren Zeiten hatten nämlich gewisse Personen ein Geschäft daraus gemacht, indem sie den Beamten alles, was zur Ausübung ihrer Tätigkeit nötig erschien, zur Verfügung stellten und damit die Staatskasse belasteten; unter Caesar >Augustus; Anmerkung d. Verf.@ aber hatte man zum ersten Mal damit begonnen, dass die Beamten selbst ein bestimmtes Gehalt erhielten. Und zwar wurde dieses nicht für alle in gleicher Höhe festgesetzt, sondern ungefähr so, wie es die Bedürfnisse erforderten.“51
Die Quellen geben zu dem neu eingeführten Besoldungssystem leider kaum konkretere Auskünfte. Lediglich für claudische Zeit (41-54 n. Chr.) ist ein prokuratorisches Gehalt von 200.000 Sesterzen überliefert, welches die dem 52 administrativen Personal entgegengebrachte Großzügigkeit erahnen lässt. Die Vergütung öffentlicher Stellen sollte schließlich einen Trend auslösen, der weg le, s. Ausbüttel, Die Verwaltung des Römischen Kaiserreiches, S. 92-94, Dessau, Geschichte der römischen Kaiserzeit, S. 163-166. Cass. Dio 52,23,1. 52,25,2f. 53,15,4f. Weiterführung unter Claudius: Cass. Dio 60,24,2, Suet. Claud. 24. Der Ausbau des Besoldungssystems in späterer Zeit wird auch durch die Nennung von konkreten Gehaltsstufen der Prokuratoren sowie von Gehältern für die Statthalter der Provinzen Asia und Africa bestätigt: Cass. Dio 79,22,5. Vgl. Hirschfeld, Die kaiserlichen Verwaltungsbeamten, S. 432-434, Eck, Die Verwaltung des Römischen Reiches, S. 17. 51 Cass. Dio 53,15,4f. 52 Suet. Claud. 24. Die Höhe des Gehaltes wird besonders deutlich, wenn man es in Relation zu den Jahreslöhnen anderer Berufsgruppen des frühen ersten nachchristlichen Jahrhunderts setzt: Legionär: 912 Sesterzen, Arbeiter im Weinberg: 1.460 Sesterzen, Pfauenzüchter: 60.000 Sesterzen, Hofarzt: 250.000 Sesterzen. Tac. ann. I 17, Cass. Dio 57,4,2, Mt. 20,1f., Plin. n.h. 10,45. 29,7. Ein Verdienst von mehr als einem Denar pro Tag (umgerechnet: 1450 Sesterzen/Jahr) war jedoch für gewöhnliche Arbeitskräfte eher selten. Zudem verdeutlicht das von Kloft für stadtrömische Verhältnisse berechnete Existenzminimum, welches bei 500-750 Sesterzen lag, noch einmal die enorme Höhe des prokuratorischen Gehaltes. Kloft, Hans, Die Wirtschaft des Imperium Romanum, Mainz 2006, S. 106-110. 50
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von den Ehrenämtern führte und den Funktionsträgern damit einen Grund weniger liefern sollte, sich am Besitz der Provinzialen zu vergreifen.
4
Zur Effektivität der augusteischen Maßnahmen
Nun lässt sich abschließend fragen, wie effektiv all diese Änderungen waren und welche Wirkung sie auf die missliche Lage der Provinzialen haben konnten. Die fehlende zeitliche Beschränkung für die Tätigkeit der meisten neuen Funktionsträger ermöglichte nicht nur – im Vergleich zur Republik – die Gewährleistung von Kontinuität, sondern trug auch zur Professionalisierung des Verwaltungspersonals bei. Dies galt in besonderer Weise für die Sklaven und Freigelassenen des Prinzeps, da sie bis zu ihrem Tode in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Herrscher, ihrem Herrn und Patron, standen und sich dieses Verhältnis sogar mit Verfestigung des Prinzipates auch auf die nachfolgenden Herrscher übertrug, d.h. sie waren nicht mehr an eine einzelne Person wie Augustus gebunden, sondern an das Herrscherhaus. So konnten sie, wenn der Nachfolger ihren Einsatz bestätigte, viele Jahre auf demselben Posten oder zumindest im selben Verwaltungsbereich tätig gewesen sein, theoretisch auch bis zu ihrem Tod oder einer irgendwie erfolgten Pensionierung.53 Der fortwährende Einsatz diente demnach der Professionalisierung des Verwaltungspersonals, welches zuvor – um den Althistoriker Dessau zu zitieren – nur „aus dem vielhundertköpfigen, so viele Unreife, halbe Knaben, so viele Nullen, so viele Streber umfassenden Senat“54 stammte und die Herausbildung eines Spezialistentums als sozialinadäquat betrachtete.55 Augustus förderte somit zugleich die Entstehung von erfahrenen Finanzexperten, die durch ihre Zuverlässigkeit eine genaue Kontrolle nicht nur des öffentlichen Haushaltes, sondern auch der damit zusammenhängenden Funktionsträger garantieren sollten.56 Dass nicht zuletzt die neue Besteuerungspraxis eine Verbesserung der provinzialen Finanzlage zur Folge hatte, was sich mit der Zeit im Aufblühen der Provinzregionen und der inneren Stabilisierung des Reiches zeigte, und dass die Neuerungen demnach ihr Ziel nicht völlig verfehlten, lässt sich also nicht leug53
Vgl. Hirschfeld, Die kaiserlichen Verwaltungsbeamten, S. 459. Dessau, Geschichte der römischen Kaiserzeit, S. 134. 55 Vgl. Eck, Die Verwaltung des Römischen Reiches, S. 22f. 56 Augustus ließ die Einkünfte und Ausgaben des Staates aufs Genaueste überwachen und ließ zu diesem Zweck eine Übersicht über den Haushalt des gesamten Reiches (breviarium totius imperii) anlegen. Suet. Aug. 101, Tac. ann. I 11, Cass. Dio 56,33,2. Augustus hatte somit direkten Zugang zu der Haushaltsführung und vermied die Einmischung von möglicherweise korrupten Funktionsträgern in die Buchführung dadurch, dass er die Mitglieder seiner familia damit betraute. Vgl. Alpers, Das nachrepublikanische Finanzsystem, S. 259-263. 54
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nen.57 Denn obwohl die Pächter weiterhin als wirtschaftliche Funktionsträger bestehen blieben, waren sie doch durch den Entzug ihrer wichtigsten Einnahmequellen und die Überwachung durch zuverlässige Gehilfen des Prinzeps nicht mehr in der Lage, größere Schäden in den Provinzen zu verursachen. Vor allem die Kontrolle über die Pächter sollte im Verlauf des ersten Jahrhunderts noch weiter zunehmen, zum einen durch die Ernennung weiterer Prokuratoren, die eigens zur Aufsicht der einzelnen Steuerbereiche und Zollbezirke ernannt wurden und zum anderen durch die reichsweite Übertragung der Kontrollfunktion im Bereich der Steuererhebung an Prokuratoren.58 Insgesamt scheint es also gerechtfertigt, die augusteische Neuordnung in Zusammenhang mit einer einsetzenden Verbesserung der ökonomischen Verhältnisse in zahlreichen Regionen des Reiches zu bringen, wie der zeitgenössische Historiker Tacitus gleichfalls bestätigt: „Auch die Provinzen waren jener Ordnung der Dinge nicht abgeneigt. Verleidet war ihnen Senats- und Volksherrschaft wegen der Machtkämpfe der führenden Männer und der Habsucht der Beamten; schwach war der Schutz der Gesetze, die durch Eigenmächtigkeit, politische Umtriebe, vor allem durch Bestechung unwirksam gemacht wurden.“59
Die neue Ordnung brachte zweifelsohne viel Gutes mit sich. Doch wirft man einen genaueren Blick in die vorhandenen Überlieferungen, so wird deutlich, dass auch sie nicht frei von neuen – oder eigentlich alten – Mängeln war. Die Einführung der Gehälter, die der Habgier der römischen Amtsträger entgegensteuern sollte, verfehlte in manchen Fällen offensichtlich ihre intendierte Wirkung. Selbst das neue Personal war mit dem Vordringen in Machtpositionen60 auch zunehmend kreativer geworden im Auffinden neuer, zusätzlicher Einnahmequellen. Bei Cassius Dio erfahren wir beispielsweise von dem Freigelassenen Licinius, der von Augustus als Prokurator in Gallien eingesetzt worden war und 57
Kloft, Die Wirtschaft des Imperium Romanum, S. 113-116. Der früheste Nachweis für die Aufsicht bei der Einziehung der Erbschaftssteuer durch einen Prokurator lässt sich für die Zeit Vespasians (69-79 n. Chr.) finden: CIL VI 8443 = D 1546. Vgl. Weaver, Familia Caesaris, S. 271, Ausbüttel, Die Verwaltung des Römischen Kaiserreiches, S. 15, 32, 87, Jacques, Rom und das Reich, S. 199f., Eck, Die Verwaltung des Römischen Reiches, S. 23f., 349-354. 59 Tac. ann. I 2. Vgl. zur steigenden wirtschaftlichen Prosperität der Provinzen: Schrömbges, Zum römischen Staatshaushalt, S. 46f., Kloft, Die Wirtschaft des Imperium Romanum, S. 113-117. 60 Dass selbst Freigelassene und Sklaven zunehmend in Machtpositionen gelangten, beweist deren Reichtum und Einfluss. Sie hatten die Aufsicht über die öffentlichen Kassen, standen an der Spitze der stadtrömischen Zentralkanzleien und befanden sich in engem Kontakt zum Herrscher des Reiches. Allein der Neid der Zeitgenossen auf die Freigelassenen der principes spricht Bände. Vgl. Plin. ep. 7,29. 8,6, Tac. ann. XII 53. XIII 23. XIV 55. XIV 65, Suet. Claud. 28. Vgl. zur potentiell einflussreichen Stellung der Sklaven und Freigelassenen des Prinzeps Herrmann-Otto, Sklaverei und Freilassung, S. 184-189. 58
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den Methoden, die er ersonnen hatte, um mit prall gefüllten Taschen das reiche Gebiet zu verlassen: „Er trieb seine Schlechtigkeit so weit, dass er, weil einige Abgaben monatlich entrichtet wurden, das Jahr in vierzehn Monate teilte, indem er erklärte: der Monat Dezember sei erst der zehnte Monat, sie müssten noch zwei Augustische, von denen er den einen den elften (undecember), den anderen den zwölften Monat (duodecember) nannte, dazurechnen und die auf sie fallenden Abgaben bezahlen.“61
Selbst falls diese – kaum glaubliche – Anekdote nicht völlig der Wahrheit entsprach, so verweist sie dennoch auf die fortwährende Habgier und Dreistigkeit, die den Männern in der administrativen Spitze – auch in der Kaiserzeit noch – zu eigen war. In diesem Fall hatten sich die Provinzialen jedoch bei Augustus persönlich Gehör verschafft, der nicht lange zögerte und seinen Gehilfen absetzte.62 Das direkte Eingreifen des Prinzeps schien demnach noch die verlässlichste Möglichkeit gewesen zu sein, den Provinzbewohnern, denen Unrecht widerfahren war, aus ihrer Misere zu helfen.63 Korruption und Ungerechtigkeiten im Bereich der Verwaltung existierten somit als gesellschaftliches Problem nach wie vor, welches Augustus nicht im Stande war gänzlich zu beheben. Der Gedanke, sich mit dem loyalsten Personal zu umgeben, welches er finden konnte, nämlich mit den von ihm Abhängigen, kann dennoch als wohlüberlegter Ansatz gelten, erschien er doch auf den ersten Blick, gemeinsam mit dem neuen Besteuerungssystem als durchaus geeignet, um der untragbaren Situation der Provinzialen, die kaum noch einen Ausweg aus ihrer Verschuldung sahen, abzuhelfen. Dass Augustus tatsächlich an einer Besserung der Zustände gelegen war, ist eindeutig. Allein schon deshalb, weil dieses Anliegen zweifelsohne nicht ganz uneigennützig war. Die Maßnahmen zielten nämlich vor allem auf das Abwen61
Cass. Dio 54,21,5. Cass. Dio 54,21,6. 63 Vor allem die Beibehaltung der Repetundengesetze (lex Julia de repetundis) und die dazugehörigen Prozesse, welche zunehmend vom Kaiser selbst geleitet wurden, gaben den Provinzialen ein Mittel zur Hand, sich Hilfe an oberster Stelle gegen die Ausbeutungen zu suchen, wodurch der Kaiser sich seinerseits als Wohltäter zeigen konnte. Die Gesetze wurden zudem dahingehend ausgedehnt, dass nicht mehr nur römische Magistrate, sondern auch deren Bedienstete sowie in der Verwaltung tätige Ritter wegen ausbeuterischer Erpressung angeklagt werden konnten. Die weitere Entwicklung unter den darauffolgenden principes zeigt jedoch, dass ein gerechter Herrscher viel dazu beitragen konnte, um in den Provinzen für Recht und Ordnung zu sorgen. Sie untersuchten persönlich Vorfälle, die vom Volk gemeldet wurden, kontrollierten streng die Magistrate bei der Durchführung von Verpachtungen und setzten bestechliche Statthalter ab. Vgl. Vell. II 126,4 (Tiberius), Cass. Dio 60,4,4. 60,10,3. 60,25,4 (Claudius). Wie effektiv die weiterhin durchgeführten Repetundenprozesse waren, d.h. welche Chancen die Provinzialen hatten, das ihnen zugefügte Unrecht wieder zurechtzurücken und ob sie tatsächlich Wiedergutmachungen erhielten, bleibt jedoch unklar. Vgl. Plin. Pan. 80,3, Jacques, Rom und das Reich, S. 207f. 62
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den von Unruhen, die sich gegen die römische Fremdherrschaft und deren Konsequenzen, sprich: die Ausbeutung, richteten. Ebenso sollten sie finanzielle Einnahmen für die römische „Staatskasse“ sichern, was nur durch eine stabile Wirtschaftslage der Provinzen gewährleistet werden konnte. Die Durchbrechung der Verschuldungsmechanismen in den Provinzen galt somit vielmehr dem Wohlergehen Roms und der Herrschaftssicherung als dem kleinen Provinzler selbst.64 Dies wird schließlich deutlich in einem Ausspruch des zweiten Prinzeps Tiberius, der der augusteischen Ordnung und deren Prinzipien treu blieb und den Statthaltern, die eine Erhöhung der Steuern von ihm forderten, zur Antwort gab: „Die Aufgabe eines guten Hirten ist es, die Schafe zu scheren, aber ihnen nicht das Fell über die Ohren zu ziehen.“65
Denn dann hatte der Hirte schließlich selbst nichts mehr von ihnen. Im gleichen Sinne reagierte Augustus in 40 Jahren Herrschaft völlig pragmatisch und Schritt für Schritt auf akute Erfordernisse der Zeit und tat sein möglichstes, um der drückenden Schuldenlast der Provinzen abzuhelfen.66 Er leitete Veränderungen in der Verwaltung ein, die sich unter den nachfolgenden Herrschern weiterentwickeln und noch effektiver ausformen sollten.67 Doch konnten sie trotz aller guten 64
Stahl, Michael, Imperiale Herrschaft und provinziale Stadt. Strukturprobleme der römischen Reichsorganisation im 1.–3. Jh. der Kaiserzeit, Göttingen 1978, S. 144-148. Siehe auch Tac. ann. III 54f., wo die Bedeutung der Provinzen für das Reich besonders deutlich wird. 65 Suet. Tib. 32: „>...@ boni pastoris esse tondere pecus, non deglubere.“66 Augustus reagierte zumeist lediglich auf akute Nöte und Erfordernisse und führte keineswegs eine von vornherein systematische Erneuerung der römischen Verwaltungsstruktur durch. Selbst in den Wirren der Bürgerkriege geboren, konnte er als Zeitgenosse keinen umfassenden Einblick in die vielfältigen Ursachen des Untergangs der Republik haben, wie er dem außenstehenden Betrachter – etwa dem Forscher von heute – gegeben ist, so dass es verfehlt wäre, seine Neuerungen im Rahmen eines großen‚ auf eingehender Analyse beruhenden Planes zu verstehen. Vgl. Schrömbges, Zum römischen Staatshaushalt, S. 39. 66 Augustus reagierte zumeist lediglich auf akute Nöte und Erfordernisse und führte keineswegs eine von vornherein systematische Erneuerung der römischen Verwaltungsstruktur durch. Selbst in den Wirren der Bürgerkriege geboren, konnte er als Zeitgenosse keinen umfassenden Einblick in die vielfältigen Ursachen des Untergangs der Republik haben, wie er dem außenstehenden Betrachter – etwa dem Forscher von heute – gegeben ist, so dass es verfehlt wäre, seine Neuerungen im Rahmen eines großen‚ auf eingehender Analyse beruhenden Planes zu verstehen. Vgl. Schrömbges, Zum römischen Staatshaushalt, S. 39. 67 Neuerungen wie die Einführung von staatlichen Haushaltsbüchern und die dauerhafte Betrauung eines festen Personenkreises mit Verwaltungsaufgaben sollten zukunftsweisend sein und später zur Entstehung regelrechter Verwaltungsressort führen. Die römischen Finanzen wurden bspw. bereits unter Claudius durch ein zentrales Büro in Rom gelenkt und überwacht, welchem ein kaiserlicher Freigelassener mit dem Titel „a rationibus“ vorstand. Auch die Einsetzung von loyalem Verwaltungspersonal durch den Prinzeps sollte wegweisend sein, so dass bereits unter Augustus’ Nachfolger Tiberius selbst die Statthalter der senatorischen Provinzen aus seinem unmittelbaren Gefolgschaftskreis stammten. Schrömbges, Zum römischen Staatshaushalt, S. 48f., Vogel-
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Absichten doch nur bis zu einem bestimmten Punkt eine Verbesserung der Zustände leisten. Denn wie das Verhalten der neuen Amtsträger zeigte, lag der Knackpunkt gewissermaßen an anderer Stelle. Augustus konnte zwar die defizitären Strukturen des Staates verändern, aber es lag nicht in seiner Macht, die Gesellschaft und ihre Moral von Grund auf zu verändern – wenngleich er dies durch eine umfangreiche Sittengesetzgebung68 versuchte.
68
Weidemann, Ursula, Die Statthalter von Africa und Asien in den Jahren 14–68 n. Chr. Eine Untersuchung zum Verhältnis von Princeps und Senat (Antiquitas I,31), Bonn 1982, S. 530-550. Hier ist jedoch leider nicht der geeignete Ort, um diesem interessanten Bereich der augusteischen Reformen, welcher aufgrund seines Umfangs ein eigenes Thema darstellt und darum einer gesonderten Betrachtung bedürfte, näher nachzugehen.
Schulden und Krise in spätmittelalterlichen Städten Thomas Wirtz
Die im Zuge der gegenwärtigen Finanzkrise von staatlicher Seite gewährten Kredite und „Rettungsschirme“ haben das Thema der Verschuldung der öffentlichen Haushalte erneut in den Fokus gerückt. Zur Stützung von Banken und der Realwirtschaft wurden enorme Summen bereit gestellt, welche die Staatshaushalte noch auf Jahrzehnte belasten werden. Laut dem aktuellen Bericht des IWF liegt denn auch darin eine große Gefahr für die Wiederkehr einer Bankenkrise, da viele Geldinstitute Staatsanleihen besitzen, die im Falle einer Abwertung wiederum die Banken in Mitleidenschaft ziehen könnten.1 Der folgende Beitrag will aus historischer Perspektive die Möglichkeiten und Probleme verschuldeter Städte im Spätmittelalter kurz anreißen; er diente als Einführung zur Podiumsdiskussion auf dem Symposium „Schulden und Krisen“ am 16. Juli in Mainz, an der der Autor für die Geschichtswissenschaften teilnahm. Von einer Finanzverwaltung der Städte lässt sich in Deutschland erst ab der Mitte des 14. Jahrhunderts sprechen. Das von der kaufmännischen Oberschicht geübte Rechnungswesen fand über verschiedene Ein- und Ausgabenregister (Zoll- und Markteinnahmen, Akzisen- und Baubücher, etc.) Eingang in die städtische Verwaltung und differenzierte sich immer weiter aus.2 Dabei zeigen sich noch grundsätzliche Unterschiede zur modernen Finanzverwaltung: Es gab kein eigentliches Budget für den Haushalt, besonders ein vorausplanender Voranschlag fehlte völlig. Des weiteren mündeten alle Ausgaben und Einnahmen noch nicht in einen städtischen Gesamthaushalt, sondern jedes Amt führte gesonderte Rechnungsbücher. Zudem entwickelte sich das Steuerwesen nur langsam, direkte Steuern wurden selten und dann hauptsächlich als Vermögenssteuer erhoben.3 Gerade die Ausgabenseite unterlag extremen Schwankun1
IMF: Global Financial Stability Report – Sovereigns, Funding and Systemic Liquidity (October 2010), Summary Version, S. 2ff. (http://www.imf.org/external/pubs/ft/gfsr/2010/02/pdf/text.pdf) 2 Eberhard Isenmann: Die deutsche Stadt im Spätmittelalter: 1250–1500; Stadtgestalt, Recht, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, Stuttgart 1988, S. 166ff. 3 Bernhard Kirchgässner: Zur Frühgeschichte des modernen Haushalts. Vor allem nach den Quellen der Reichsstädte Eßlingen und Konstanz, In: Maschke/Sydow (Hrsg.): Städtisches Haushalts- und Rechnungswesen (= Stadt in der Geschichte, Veröffentlichungen des Südwestdeutschen Arbeitskreises für Stadtgschichtsforschung Band 2), Sigmaringen 1977, S. 38f.
C. W. Hergenröder (Hrsg.), Krisen und Schulden, DOI 10.1007/978-3-531-93085-5_13, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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gen, besonders bei kriegerischen Auseinandersetzungen oder Expansion des städtischen Besitzes. Hierbei kam der Kreditaufnahme eine große Bedeutung zur Deckung der Ausgaben zu. Anleihen sahen die Ratsgremien als „ordentliche Deckungsmittel der städtischen Finanzwirtschaft und unterschieden sich dadurch wesentlich von den Anleihen des modernen Staates“.4 Zur Kreditbeschaffung verkauften die Stadträte Ewig- oder Leibrenten, die im Laufe des 15. Jahrhunderts um einen Zinsfuß von 4 bzw. 10% pendelten. Waren diese Kredite ursprünglich noch durch eine konkrete Liegenschaft der Stadt als Pfand abgesichert, trat bald die ganze Kommune als Bürge für die Darlehen auf. Zunächst suchten die Städte bei ihren eigenen Bürgern um Geld nach, wandten sich aber auch an regionale und überregionale Finanzplätze wie Frankfurt. Die halbjährlichen Messen der Stadt boten über die Händler Kontaktmöglichkeiten zwischen kreditsuchenden Kommunen und Bürgern anderer Städte, die ihr Geld in Renten anlegen wollten. Frankfurt strahlte dabei weit über die Region hinaus und so lassen sich auf den Messen vermittelte Kredite von so weit entfernten Orten wie Antwerpen und Augsburg oder von Minden bis Basel finden.5 Die Messen dienten gleichzeitig auch als Zahlungsort und -termine für die vereinbarten Zinsen. Als Gläubiger traten nicht nur sehr finanzstarke Personen auf, sondern eine Vielzahl von Kleinanlegern, die sich aus allen Schichten der Bevölkerung rekrutierten und zum Teil nur geringe Summen investierten.6 Für diese konnten nicht gezahlte Zinsen (der zeitgenössische Ausdruck Rente oder Pension deutet das bereits an) zu erheblichen Problemen führen, da sie ihr Geld nicht selten aus Gründen der Altersvorsorge anlegten. Dies ist auch daraus ersichtlich, dass solche Gläubiger oft kein Interesse an der Rückzahlung ihrer Kredite hatten, sondern auf langfristige Zinszahlungen aus waren. Nur deshalb konnten sie von den verschuldeten Städten unter Druck gesetzt werden, die in wirtschaftlich günstiger Lage versuchten, ihre Renten in für sie billigere Anleihen zu konvertieren. Nicht selten sahen sich die Gläubiger gezwungen, ihr eingesetztes Kapital zu erhöhen, was de facto einer Senkung des Zinsfußes entsprach, um ihre Zinsansprüche
4
Bruno Kuske: Das Schuldenwesen der deutschen Städte im Mittelalter (Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Ergänzungsheft XII), Tübingen 1904, S.9. Michael Rothmann: Gemeiner Nutzen auf Kredit. Der Frankfurter Rentenmarkt und sein Einzugsgebiet im Spätmittelalter, In: Von Seggern/Fouquet/Gilomen (Hrsg.): Städtische Finanzwirtschaft am Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit (=Kieler Werkstücke Reihe E: Beiträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Band 4), Frankfurt a.M. 2007, S. 223ff. 6 Kuske, Schuldenwesen (wie Anm. 4), S. 58. 5
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überhaupt halten zu können.7 Hier begann sich bereits ein Geldmarkt abzuzeichnen, „auf dem sich Angebot und Nachfrage auf die Verzinsung auswirkten.“8 Doch nicht die finanziell günstigen, sondern die krisenhaften Zeiten sind Thema dieses Symposiums. Geriet eine Stadt in Zahlungsschwierigkeiten so haftete die gesamte Bürgerschaft für die aufgenommenen Kredite. Dadurch wurden private auswärtige Beziehungen, gerade auch die der Händler, beträchtlich in Mitleidenschaft gezogen, was sich verstärkend auf eine Krise auswirken konnte. Ganz handfest bestand zum Beispiel die Möglichkeit, Bürger der Schuldnerstädte in Geiselhaft zu legen, um so den Zinsforderungen Nachdruck zu verleihen.9 Aus gegebenem Anlaß und Ort soll im Folgenden beispielhaft die Schuldenkrise der Stadt Mainz im 15. Jahrhundert vorgestellt werden und welche wirtschaftlichen, wie politischen Konsequenzen diese nach sich zog.10 Traten die Mainzer Bürger um 1400 noch als Kreditgeber der Frankfurter auf, so änderte sich dies mit den innerstädtischen Zunftunruhen in Mainz von 1411. Nun waren es die Mainzer, die sich mit Kreditgesuchen an die Messestadt wandten, da ihr Haushalt in eine Schieflage geraten war. So ist es auch bezeichnend, wenn die Zünfte während der dreijährigen Auseinandersetzung ein Mitspracherecht beim Verkauf städtischer Anleihen einforderten.11 Die schleichende Überschuldung der Stadt Mainz machte sich schon bald bemerkbar, als 1413 Mainzer Händler auf der Frankfurter Messe beschimpft wurden, als sie um Aufschub für ihrer Zinszahlungen baten. In den Folgejahren sprach Frankfurt immer wieder ein nur zeitlich begrenztes Messegeleit für die Mainzer aus, ermöglichte der Stadt aber damit, ihren wichtigsten Absatzmarkt nicht zu verlieren. Um die drückende Schulden um ein weniges abzubauen, sahen sich die Mainzer gezwungen, einen Vertrag mit ihrem Erzbischof abzuschließen, der ihnen zwar 8000 Gulden einbrachte, für die sie aber Zugeständnisse an den Klerus machen mussten. Hier wurde bereits deutlich, wie die um Autonomie bemühten Städte durch Überschuldung auch politisch in die Defensive geraten konnten.
7
Ebd., S. 50ff. Bernd Fuhrmann: Der rat aber war zu rat mer ewigs gelts zu verkauffen – Das kommunale Kreditwesen Nürnbergs im 15. Jahrhundert, In: Von Seggern/Fouquet/Gilomen (Hrsg.), Städtische Finanzwirtschaft (wie Anm. 5), S. 145. 9 Kuske, Schuldenwesen (wie Anm. 4), S. 75f. und S. 80. 10 Im Wesentlichen verweise ich dabei auf die Ausführungen von Michael Rothmann: Die Frankfurter Messen im Mittelalter (= Frankfurter historische Abhandlungen Bd. 40), Stuttgart 1998, S. 42365 und Ders., Gemeiner Nutzen auf Kredit (wie Anm. 5), besonders S. 201-209. 11 Siehe hierzu auch Kuske, Schuldenwesen (wie Anm. 4), S. 76: „Die Solidarhaft der Bürger macht die Heftigkeit, mit der die revolutionären Bewegungen in den Städten manchmal auftraten, mit begreiflich.“ 8
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Der innerstädtische Konflikt in Mainz brach 1428 erneut aus und führte zu einer neuen Zusammensetzung des Rates. Dieser begann alsbald damit den Frankfurter Gläubigern die Zinszahlungen zu verweigern, sollten diese nicht einer Zinsminderung zustimmen. Wegen der ungehaltenen Gläubiger bedurften die Mainzer Händler in der Folgezeit eines besonderen Geleits zu den Messen, bereits 1430 kam es zu Übergriffen als einige Händler als Geiseln in die Schuldhaft gesteckt wurden. Doch so drastisch solche Maßnahmen auch waren, es stellte sich kein Erfolg damit ein, weil die Mainzer schlichtweg kein Geld auftreiben konnten. Die Schuldenkrise der Stadt am Rhein wurde zu einer Hängepartie, die u.a. auch Kleinanleger in fernen Augsburg betraf. Selbst König Sigismund schaltete sich ein und verlangte ein Schuldenmoratorium, er konnte aber nur kurzzeitig die Gemüter beruhigen. Mittlerweiler war die Zinslast der Stadt Mainz von 50% ihrer Einnahmen im Jahr 1411 auf 75% im Jahr 1436 gestiegen. Als der Rat 1437 die Zahlungsunfähigkeit einsehen musste, sahen sie sich gezwungen ihren Schuldnerstädten Frankfurt, Worms und Speyer ihre Bücher zu öffnen, damals wie heute ein unerhörter Vorgang. Dies offenbarte die katastrophale Haushaltslage: Allein die Zinslast betrug jährlich knapp 18500 Gulden, für das Folgjahr wurde ein Haushaltsdefizit von mindestens 8000 Gulden angenommen, wobei ausstehende Zinszahlungen noch nicht mit hineingerechnet worden waren. Um sich wieder etwas Luft zu verschaffen wurden die Steuern erhöht und die Mainzer liehen sich sogar nach langen Verhandlungen nochmals 4000 Gulden von den Frankfurtern, auch in Worms und Speyer fragten sie erneut nach. Doch all dies führte zu keiner Besserung. Mainz war schlichtweg überschuldet, was sich auch in neuerlichen Unruhen niederschlug, die 1444 den erst 1428 eingesetzten Rat erneut stürzte. Wieder kam es zu einer Wirtschaftsprüfung, die aufzeigte, dass der Schuldenberg sich auf über 370000 Gulden abgehäuft hatte. Im Jahre 1446 verwehrten die Frankfurter den Mainzern schließlich das Messegeleit, die daraufhin jedoch antworteten, dass in diesem Falle überhaupt keine Aussicht mehr auf Rückzahlung bestände, das sie die Ausnahmeeinfälle empfindlich treffen würden. Mainz konnte fast keiner Zinszahlung mehr nachkommen, weshalb auch alle Sanktionen wirkungslos blieben oder die Lage eher noch verschlechterten. Zehn Jahre später war klar, dass die Gläubiger weiter Zugeständnisse machen mussten, wenn sie ihr Geld überhaupt wieder sehen wollten, und so wurden die Zinssätze für Ewigrenten sogar halbiert. Erst dieser Verzicht führte zu einer Entspannung, der es den Mainzern ermöglichte, wenigstens von nun an den jährlichen Rentenzahlungen nachzukommen. Als Adolf von Nassau schließlich 1462 in der Mainzer Stiftsfehde die Stadt eroberte, meldeten sich auch sofort die Frankfurter Gläubiger zu Wort, stießen bei dem neuen Erzbischof jedoch auf taube Ohren, der die Renten verfallen ließ.
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Allein die Frankfurter verloren so an die 80000 Gulden, die Mainzer hingegen ihre politischen Freiheiten als freie Reichsstadt. An Hand dieses historischen Beispiels lassen sich sehr gut die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Konfliktpotenziale einer Schuldenkrise erkennen. Dabei waren die Wege aus der Krise den heutigen doch recht ähnlich: Steuererhöhungen bei gleichzeitigen Sparmaßnahmen zur Konsolidierung des Haushalts, eine mittelfristige Neuaufnahme von Krediten zur Erhaltung des Handlungsspielraums, Sanktionen gegen den Schuldner und Zugeständnisse der Gläubiger. Die Aussichten auf Erfolg solcher Maßnahmen waren und sind jedoch ungewiss.
Autorenverzeichnis
Bender, Désirée, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Erziehungswissenschaften, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Bender, Nina, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Bock, Michael, Prof. Dr. Dr., Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Breuer, Klaus, Prof. Dr., Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Förstermann, Ulrich, Prof. Dr., Vizepräsident der Johannes GutenbergUniversität Mainz Hergenröder, Curt Wolfgang, Prof. Dr., Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Hollstein, Tina, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Erziehungswissenschaften, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Homann, Carsten, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Huber, Lena, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Erziehungswissenschaften, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Irsigler, Franz, Prof. Dr., Institut für Geschichtliche Landeskunde, Universität Trier Kokott, Sonja Justine, Dr. LL.M., Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Johannes Gutenberg-Universität Mainz
C. W. Hergenröder (Hrsg.), Krisen und Schulden, DOI 10.1007/978-3-531-93085-5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Autorenverzeichnis
Letzel, Stephan, Prof. Dr. med. Dipl.-Ing., Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin, Universitätsmedizin, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Münster, Eva, Prof. Dr., Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin, Universitätsmedizin, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Rau, Matthias, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Reupke, Daniel, M.A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lehrstuhl für Neuere Geschichte und Landesgeschichte, Universität des Saarlandes, Saarbrücken Schake, Susanne, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Alte Geschichte, Universität Trier Schweppe, Cornelia, Prof. Dr., Institut für Erziehungswissenschaften, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Seifert, Dirk, Dr., Ministerium für Wirtschaft, Verkehr, Landwirtschaft und Weinbau Rheinland-Pfalz Spitz, Wolfgang, Präsident Bundesverband Deutscher Inkasso-Unternehmen (BDIU) e.V., Berlin Wirtz, Thomas, M.A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Trier