Simone Schiller-Merkens Institutioneller Wandel und Organisationen
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Simone Schiller-Merkens
Institution...
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Simone Schiller-Merkens Institutioneller Wandel und Organisationen
VS RESEARCH
Simone Schiller-Merkens
Institutioneller Wandel und Organisationen Grundzüge einer strukturationstheoretischen Konzeption
Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Jens Beckert
VS RESEARCH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Dissertation Universität zu Köln, 2007
1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Christina M. Brian / Dr. Tatjana Rollnik-Manke VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-16174-7
Geleitwort
Keine andere Organisationstheorie hat die Organisations- und Managementforschung während der letzten drei Jahrzehnte so geprägt wie der neue soziologische Institutionalismus. Die beiden „klassischen“ Texte dieser Forschungsrichtung, der Aufsatz von John Meyer und Brian Rowan „Institutionalized Organizations: Formal Structure As Myth and Ceremony“ (1977) und der Aufsatz von Paul DiMaggio und Walter Powell „The Iron Cage Revisited: Institutional Isomorphism and Collective Rationality in Organizational Fields“ (1983), gehören heute zu den am meisten zitierten Texten in den Sozialwissenschaften. Der neue soziologische Institutionalismus war zunächst in den USA beheimatet, seit Mitte der neunziger Jahre fand er jedoch zunehmend das Interesse von Organisationsforschern in Europa. Insbesondere skandinavische Autoren wie Nils Brunsson, Barbara Czarniawska und Kerstin Sahlin-Andersson haben wesentlich zur theoretischen Weiterentwicklung dieser Forschungsrichtung beigetragen. Im deutschsprachigen Raum haben unter anderem Georg Krücken, Renate Meyer und Peter Walgenbach die Forschungsrichtung bekannt gemacht und wichtige Beiträge zu ihrer Weiterentwicklung geleistet. Ein seit den neunziger Jahren in der institutionellen Organisationstheorie zunehmend bedeutsames Thema ist die Frage der Konzeptualisierung von Prozessen institutionellen Wandels. Die Anfänge des soziologischen Institutionalismus betonten vor allem die Homogenisierung von Organisationsstrukturen. Die in einem Feld befindlichen Organisationen, so die Erwartung, würden sich immer stärker aneinander angleichen, nicht weil Effizienzanforderungen sie dazu zwingen würden, sondern weil sie sich aufgrund von Unsicherheit und um soziale Legitimation in dem Feld zu erlangen, an den vorherrschenden institutionellen Strukturen des Feldes orientierten. Die Betonung von Isomorphismus führte zu einer dominant statischen Perspektive; der Frage nach den Ursachen für den Wandel von organisationalen Feldern wurde hingegen kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Bei der Orientierung an Prozessen der Homogenisierung einmal legitimierter Organisationsstrukturen blieb damit unklar, wie neue Legitimationsmuster in organisationalen Feldern entstehen, was zwei miteinander verbundene Probleme mit sich brachte: unklar blieb, welche Rolle strategisch orientierten Akteuren zukommt und wie sich Wandlungsprozesse in die Theorie integrieren lassen, die gerade nicht zur Homogenisierung, sondern zu divergierenden Orga-
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Geleitwort
nisationsmustern führen. Mittlerweile ist Wandel zum Gegenstand einer Anzahl von Forschungsarbeiten des soziologischen Institutionalismus geworden. Doch gilt bis heute, dass in dem Verständnis der Dynamik von organisationalen Feldern die zentrale theoretische Herausforderung für die institutionelle Organisationstheorie besteht. Hier schließt die Arbeit von Simone Schiller-Merkens an. Gegenstand des vorliegenden Buches ist die Ausarbeitung einer theoretischen Konzeption zum Verständnis institutioneller Wandlungsprozesse. Im Kern besteht die Herausforderung dabei in der Konzeptualisierung des Verhältnisses von institutionellen Strukturen und der Handlungsautonomie von Akteuren. Weder dürfen Institutionen als handlungsdeterminierend betrachtet werden, noch wäre eine rein voluntaristische Konzeption der Gestaltung von Institutionen durch zweckrational handelnde Akteure mit den Theorieprämissen des soziologischen Institutionalismus vereinbar. Ausgangspunkt der Arbeit ist die Überzeugung, dass weder holistische noch individualistische Ansätze in der Sozialtheorie zu angemessenen Konzeptualisierungen institutionellen Wandels führen. Eine Lösung lässt sich vielmehr, so der Vorschlag der Autorin, von praxistheoretischen Ansätzen erwarten, wie sie insbesondere von Pierre Bourdieu und Anthony Giddens entwickelt wurden. Das vorliegende Buch trägt zur grundlagentheoretischen Weiterentwicklung des soziologischen Institutionalismus bei. Es setzt an dem zentralen theoretischen Problem dieser Forschungsrichtung an und leistet einen wichtigen Beitrag zu dessen Lösung. Die institutionalistische Organisationsforschung sollte das Buch aufmerksam zur Kenntnis nehmen und von den Ergebnissen lernen.
Jens Beckert
Vorwort
Dieses Buch stellt die überarbeitete Fassung der Dissertationsschrift dar, die während meiner Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Allgemeine Betriebswirtschaftlehre und Organisation an der Universität zu Köln entstanden ist. Seit Einreichung der Dissertation sind gerade im deutschsprachigen Raum einige wichtige Publikationen zum Thema Neoinstitutionalismus erschienen. Dass es überhaupt gelingen konnte, ein derart aktuelles Thema zu treffen, ist jedoch kaum das alleinige Verdienst des Nachwuchswissenschaftlers, sondern geht wesentlich auf die soziale oder institutionelle Einbettung desselben zurück. So ist es zunächst und grundlegend dem Wirken meines Doktorvaters, Professor (em.) Dr. Erich Frese, zuzuschreiben, dass ich diese Arbeit verfassen konnte. Er hat mich stets darin gefördert, meinen eigenen Forschungsinteressen nachzugehen; sei es, indem er am Lehrstuhl Umfeldbedingungen geschaffen hatte, die ein freidenkendes und selbstbestimmtes Forschen ermöglichten, oder sei es in seiner Vorbildfunktion, Forschung stets theoriegeleitet, also ausgehend von einer gründlichen Auseinandersetzung mit den theoretischen Grundlagen einer Fragestellung, zu betreiben. Wichtige fachliche Impulse für die eigene Arbeit habe ich im Rahmen von Konferenzteilnahmen erlangt. Hier traf ich auf Hauptvertreter des Institutionalismus und konnte die neuesten Forschungsfragen unmittelbar erfahren. Auch der fachliche Austausch über die Konferenzen hinaus – allen voran sei hier Peter Walgenbach und Achim Oberg gedankt – haben dazu beigetragen, die eigenen Ideen immer wieder kritisch zu überprüfen und weiterzuentwickeln. Überaus dankbar bin ich zudem Professor Dr. Jens Beckert, mit dem ein wichtiger Fachvertreter die Zweitkorrektur der Arbeit übernommen hat. Seine Kommentare haben wertvolle Anregungen für die vorliegende Überarbeitung geliefert. Insgesamt hat also die günstige Einbettung in das Feld der Wissenschaft dazu beigetragen, im Zuge der Promotionsphase ein aktuelles Forschungsthema einzugrenzen und auszuarbeiten. Doch bewegt man sich im Laufe seines Lebens
8
Geleitwort
auch in anderen bedeutsamen Feldern, und gerade hier empfindet die Autorin eine tiefe Dankbarkeit für die in jeglicher Hinsicht als bereichernd, inspirierend und unterstützend empfundenen Erlebnisse. Es sind meine Familie, meine Freunde und allen voran mein Mann, denen ich hier in besonderem Maße danken möchte.
Simone Schiller-Merkens
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung.................................................................................................... 17 1.1 Problemstellung ................................................................................... 17 1.2 Ziel und Aufbau der Arbeit.................................................................. 24 2 Institutioneller Wandel aus dem Blickwinkel der organisationswissenschaftlichen Forschung ............................................ 29 2.1 Grundlagen des organisationssoziologischen Institutionalismus......... 29 2.1.1 Erkenntnisinteresse................................................................... 31 2.1.2 Institution und Institutionalisierung – definitorische Anmerkungen ........................................................................... 32 2.1.2.1
Zur Pluralität des Bedeutungsgehalts von Institutionen............................................................. 32
2.1.2.2
Die Begriffe der Institution und der Institutionalisierung nach Berger und Luckmann.... 36
2.1.2.3
Institutionalität und Institutionalitätsgrad................ 43
2.1.3 Entwicklungsgeschichte des organisationssoziologischen Institutionalismus ..................................................................... 46 2.1.3.1
Klassischer Institutionalismus ................................. 49
2.1.3.2
Neoinstitutionalismus .............................................. 50
2.1.3.3
Alter versus neuer Institutionalismus?..................... 62
2.1.4 Theoretische Herausforderungen der jüngeren Forschungsentwicklung............................................................ 65
10
Inhaltsverzeichnis
2.2 Institutioneller Wandel ........................................................................ 72 2.2.1 Definition und Erkenntnisinteresse .......................................... 73 2.2.2 Quellen des institutionellen Wandels ....................................... 80 2.2.3 Prozess des institutionellen Wandels........................................ 88 2.2.3.1
Habitualisierung ...................................................... 89
2.2.3.2
Theoretisierung........................................................ 93
2.2.3.3
Diffusion.................................................................. 99
2.2.3.4
Abschließende Bemerkungen ................................ 113
2.3 Vorbemerkungen zu einer theoretischen Konzeption institutionellen Wandels .................................................................... 119 2.3.1 Anforderungen an eine theoretische Konzeption institutionellen Wandels ......................................................... 119 2.3.2 Strukturationstheorie im organisationssoziologischen Institutionalismus ................................................................... 121 3 Grundlagen der Strukturationstheorie .................................................. 129 3.1 Begriffliche Grundlagen .................................................................... 134 3.1.1 Soziales Handeln .................................................................... 134 3.1.2 Soziale Praktiken und Institutionen........................................ 136 3.1.3 Soziale Systeme und soziale Struktur..................................... 137 3.1.4 Strukturation........................................................................... 139 3.2 Strukturelle Analyse .......................................................................... 141 3.2.1 Regelbegriff in der Strukturationstheorie ............................... 142 3.2.2 Dimensionen der Struktur....................................................... 143 3.2.3 Struktur als virtuelle Ordnung sozialer Systeme .................... 146 3.3 Analyse des strategischen Verhaltens................................................ 147
11
Inhaltsverzeichnis
3.3.1 „Agency“ als grundlegende Handlungsmächtigkeit von Akteuren .......................................................................... 148 3.3.2 Handlungswissen – „knowledgeability“................................. 149 3.3.2.1
„Mutual Knowledge“ als geteilter Wissensvorrat der Akteure .................................... 149
3.3.2.2
Ebenen des Bewusstseins ...................................... 151
3.3.2.3
Strukturationstheoretisches Handlungsmodell ...... 152
3.3.3 Handlungsvermögen – „capability“........................................ 154 3.3.4 Grenzen menschlicher Handlungsmächtigkeit ....................... 155 3.4 Strukturation oder soziale Reproduktion ........................................... 158 3.4.1 Problem sozialer Ordnung...................................................... 159 3.4.2 Modell der Dualität von Struktur............................................ 161 3.4.3 Positionierung in Zeit und Raum: zur Integration sozialer Praktiken ................................................................... 163 3.4.4 Soziale Reproduktion am Beispiel einer Unternehmung........ 168 4 Grundzüge einer strukturationstheoretischen Konzeption institutionellen Wandels .......................................................................... 173 4.1 Einführende Anmerkungen zur strukturationstheoretischen Grundlegung ...................................................................................... 180 4.1.1 Soziale Ordnung oder sozialer Wandel als Untersuchungsgegenstand der Strukturationstheorie?............ 180 4.1.2 Erkenntnistheoretische Anmerkungen zu einer strukturationstheoretischen Analyse des sozialen Wandels.... 182 4.1.3 Potentielle Bedingungsfaktoren des sozialen Wandels aus Sicht der Strukturationstheorie......................................... 185 4.2 Bedingungen des institutionellen Wandels........................................ 190
12
Inhaltsverzeichnis
4.2.1 Strukturationstheorie als integratives Rahmenkonzept........... 190 4.2.2 Strukturationstheoretisches Modell an Bedingungsfaktoren des institutionellen Wandels................................................... 192 4.2.3 Anmerkungen zum Erklärungsbeitrag des Modells................ 199 4.3 Theoretische Herausforderungen und der Beitrag der Strukturationstheorie.......................................................................... 203 4.3.1 Akteurkonzeption ................................................................... 203 4.3.1.1
Dezentrierung des Subjekts als zentrales Theorem der Akteurkonzeption............................. 206
4.3.1.2
Aspekte der Handlungsmächtigkeit gegenüber Institutionen........................................................... 210
4.3.2 Prozessperspektive ................................................................. 216 4.3.2.1
Relevanz der Prozessperspektive........................... 217
4.3.2.2
Prozessperspektive und Institutionenbegriff.......... 219
4.3.2.3
Grundlage der Prozessperspektive: Institutionen als institutionalisierte soziale Praktiken................. 221
4.3.3 Konzeption des Mikro-Makro-Zusammenhangs .................... 228 4.3.3.1
Positionierung........................................................ 230
4.3.3.2
Kontextualität ........................................................ 235
5 Perspektiven für die Organisationsforschung ....................................... 245 5.1 Beitrag zum organisationssoziologischen Institutionalismus ............ 245 5.2 Institutioneller und organisatorischer Wandel ................................... 250
Literaturverzeichnis...........................................................................................253
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abb. 1:
Prozess der Institutionalisierung nach Berger und Luckmann (1969)..........................................................................39
Abb. 2:
Wesensmerkmale von Institutionen in Anlehnung an Berger und Luckmann (1969).......................................................42
Abb. 3:
Prozessmodelle von Greenwood/Suddaby/Hinings (2002) und Berger/Luckmann (1969) im Vergleich.................................76
Abb. 4:
Strukturation als Reproduktion sozialer Phänomene im Zuge der sozialen Praxis.........................................................141
Abb. 5:
„Agency“ – Aspekte menschlicher Handlungsmächtigkeit.........149
Abb. 6:
Modell der Dualität von Struktur: Struktur als Medium und Ergebnis sozialen Handelns..................................................162
Abb. 7:
Grenzen individualistischer und holistischer Forschungspositionen..................................................................179
Abb. 8:
Strukturationstheoretisches Modell institutioneller Wandelbedingungen....................................................................198
Abb. 9:
Praxistheoretische Akteurkonzeption der Strukturationstheorie...................................................................210
Abb. 10:
Verwobenheit von Mikro- und Makroebene in der sozialen Praxis: das strukturationstheoretische Konzept der Positionierung........................................................................231
Abb. 11:
Verhaltensrelevante Elemente sozialer Handlungskontexte......................................................................239
14 Abb. 12:
1 Einleitung
Verhaltensrelevante kontextuelle Elemente und Bedingungen des institutionellen Wandels..................................241
Tab. 1:
Institutionenbegriff: Beispielhafte Definitionen des kognitiven und materiellen Gehalts.............................................220
Abkürzungsverzeichnis
Abb.
Abbildung
Anm. d. Verf.
Anmerkung der Verfasserin
Aufl.
Auflage
Bd.
Band
EGOS
European Group for Organizational Studies
et al.
et alii
f.
folgende
ff.
fortfolgende
H.
Heft
Hrsg.
Herausgeber
hrsg.
herausgegeben
i.e.
that is
Jg.
Jahrgang
Kap.
Kapitel
MA
Massachusetts
resp.
respektive
S.
Seite
Tab.
Tabelle
TVA
Tennessee Valley Authority
v.
von
Vgl.
Vergleiche
vs.
versus
1 Einleitung
1.1 Problemstellung Der Wandel von Institutionen als gesellschaftsweit verbreiteten Praktiken ist ein Phänomen, dem gegenwärtig in der organisationswissenschaftlichen Forschung eine hohe Aufmerksamkeit zuteil wird. Dies mag nicht verwundern, angesichts des generellen Interesses an einer Auseinandersetzung mit Phänomenen des Wandels von und in Organisationen, wie es die Organisationsforschung seit den neunziger Jahren erlebt. Eine Forschungsperspektive, die den organisatorischen Wandel im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Prozessen des Wandels zu betrachten erlaubt, verspricht in dieser Hinsicht wichtige Erkenntnisbeiträge zu liefern. Vertreter der organisationssoziologischen Richtung im Institutionalismus verfolgen nämlich eine Sichtweise auf Organisationen, die eine grundsätzliche Verwobenheit organisatorischer und gesellschaftlicher Phänomene und Strukturen unterstellt. Organisationen gelten danach weniger als zweckgerichtet gestaltbare Entitäten, denn als sozial konstruierte Gebilde, die sich in den alltäglichen Handlungsprozessen manifestieren und verändern. Sie gelten als Kulturphänomene, die sich als Verkörperungen von gesellschaftsweiten institutionellen Mustern verstehen lassen. Damit zeugt der organisationssoziologische Institutionalismus von einer Organisationsauffassung, die im sozialen Handeln das eigentlich Konstitutive der Organisationen erkennt, zugleich aber auch von einer Korrektur rationalistischer Akteurmodelle, indem die gesellschaftlichen Grenzen individueller Macht und Einflussnahme angedeutet werden: Individuen gelten als in die Gewohnheiten und kulturellen Eigenheiten ihrer sozialen Kontexte eingebettete Akteure; sie tragen ihre kulturell geprägten Einstellungen, ihre sozialen Wissensbestände, in die Organisationen hinein, womit letztlich auch gesellschaftliche Aspekte das Handeln in Organisationen prägen.1
1
Vgl. zu dieser Sichtweise in der gegenwärtigen deutschsprachigen Organisationswissenschaft beispielsweise Sandner/Meyer [1994]; Ortmann/Sydow/Türk [1997]; Türk [1997]; Walgenbach [2000]; Windeler [2001]; Walgenbach/Tempel [2002]; Türk/Lemke/Bruch [2002]; Walgenbach/Beck [2003]; Beschorner [2004]; Beschorner/Lindenthal/Behrens [2004]; Beschorner et al. [2004]; Meyer [2004]; Walgenbach/Meyer [2008]. Siehe darüber hinaus die Beiträge im Sammelband von Allmendinger/Hinz [2002a].
18
1 Einleitung
Ein solches Verständnis von Organisationen erlaubt eine spezifische Sichtweise auf das Phänomen des organisatorischen Wandels. Einerseits ist der Wandel von Organisationen selbst, ihrer Strukturen und Handlungsroutinen, nicht von der Entwicklung gesellschaftlicher Institutionen zu trennen. Welche neuen Managementkonzepte eine Organisation beispielsweise einführt, hängt unter anderem davon ab, inwieweit diese im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext als sinnhaft gelten und legitimerweise einzuführen sind, inwieweit sich das jeweilige Konzept also in den Kanon gesellschaftlicher (institutionalisierter) Wertorientierungen und Handlungsnormen einzufügen weiß. Andererseits lässt sich der Wandel von Organisationen nicht gänzlich erfassen, sofern er allein auf die Entscheidungen von Managern zurückgeführt wird. Deren scheinbare Transformationsfähigkeit ist insoweit begrenzt, als sie auf der einen Seite selbst Träger institutionell geprägter Einstellungen sind, die ihre Entscheidungen – übrigens häufig durch den Manager selbst unerkannt – mitbeeinflussen. Ob sogenannte Entscheidungsträger einer Unternehmung beispielsweise für die Einführung von Sozialstandards plädieren,2 hängt nicht nur vom Druck relevanter Anspruchsgruppen der Gesellschaft ab (womit sich eine Entscheidung zugunsten der Einführung als Abwehr gesellschaftlicher, ggf. rechtlicher Sanktionierung verstehen lässt), sondern ist zugleich eine Frage ihrer eigenen Einstellungen, die sie im Laufe ihrer alltäglichen Sozialisation, sozusagen als „geronnene Erfahrung“,3 erwerben und erworben haben. Bewegen sie sich häufig in sozialen Teilbereichen der Gesellschaft, die sich für die Verbreitung von Sozialstandards einsetzen (beispielsweise Organisationen in kirchlicher Trägerschaft oder Nichtregierungsorganisationen), werden sie selbst möglicherweise ein grundlegendes ethisches Bewusstsein herausgebildet haben, was sich letztlich als kognitive Begrenzung ihres Entscheidungsspielraums durch (teil-)gesellschaftliche, institutionalisierte Wertvorstellungen auffassen lässt. Auf der anderen Seite geht organisatorischer Wandel nicht auf die Entscheidungen Einzelner zurück, sondern stellt vielmehr ein allgegenwärtiges Phänomen dar,4 und zwar als Ergebnis des Handelns aller Organisationsmitglieder, indem die gegebenen organisatorischen Regeln angesichts täglich veränderlicher Anforderungen neu ausgelegt oder die bestehenden Technologien durch ihre Anwender verändert werden.5 So unterliegen selbst die vermeintlich stabilen Handlungsroutinen in Organisationen alltäglichen Veränderungsprozessen.6 Und es ist die Gesamtheit an Organisationsmitgliedern, die 2 3 4 5 6
Vgl. grundlegend hierzu Scherer et al. [2002]. Homann [2002] S. 125. Vgl. Schreyögg/Noss [2000], Tsoukas/Chia [2002]. Vgl. Orlikowski [1992], [2000]. Vgl. Pentland/Rueter [1994], Feldman [2000], Feldman/Pentland [2003].
1.1 Problemstellung
19
nicht nur innerhalb der Organisation, sondern auch in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen agiert, wobei sie die dort erworbenen Werte und Anschauungsmuster immer wieder in die Organisationen hineinträgt und die internen Wandelprozesse entsprechend beeinflusst. Nun steht in dieser Arbeit nicht der organisatorische, sondern der institutionelle Wandel im Vordergrund. Die vorangegangenen Ausführungen sollten jedoch den Blick auf die organisationswissenschaftliche Bedeutung einer Perspektive gelenkt haben, die das Phänomen des Wandels gesamthaft zu betrachten erlaubt – als ein sozialen Phänomen, das in allen Teilbereichen der Gesellschaft in den alltäglichen Handlungsprozessen hervorgebracht wird. Es gilt zunächst einen Blick auf das Erkenntnisinteresse des organisationssoziologischen Institutionalismus zu werfen, das, so dürfte bereits offensichtlich geworden sein, Fragen der gesellschaftlichen Einbettung des Handelns von und in Organisationen berührt. Die konkrete Auseinandersetzung mit diesem generellen Erkenntnisinteresse hat im Laufe der Zeit einen Wandel erfahren. So lag der Schwerpunkt der nunmehr seit Anfang der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zunehmend populärer werdenden institutionalistischen Forschung zunächst auf der Frage, welche Bedeutung die gesellschaftlichen Grundorientierungen, Normen und Handlungsmuster – also jene sozialen Aspekte, die Institutionen Ausdruck verleihen – für das Handeln in und von Organisationen annehmen.7 Es galt, die Wirkung als gegeben angenommener Institutionen auf das Handeln zu bestimmen. Zu erklären suchte man auf diese Weise unter anderem die Ähnlichkeit von Organisationen, die in geographisch und/oder in sozial voneinander entfernten Kontexten – beispielsweise in verschiedenen Industrienationen oder in unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen (wie gewinnorientierten und nichtgewinnorientierten Bereichen) – tätig sind. Ähnlichkeiten hinsichtlich organisatorischer Gestaltungsformen und eingesetzter Managementmodelle wurden danach auf gleichartige institutionelle Bedingungen zurückgeführt. Diese Perspektive, die bis Ende der neunziger Jahre schwerpunktmäßig verfolgt wurde, lässt sich in Anlehnung an Hollis als eine „von oben nach unten“ gerichtete charakterisieren:8 Im Zentrum der Auseinandersetzung stand die Bedeutung von Institutionen als gegebenen Makrophänomenen („oben“) für die Mesoebene der Organisationen oder die Mikroebene des Handelns in und zwischen ihnen („unten“).9 Nicht von Bedeutung war hingegen die „von unten nach 7 8 9
Sofern im Laufe dieser Arbeit von Institutionalismus ohne beschreibenden Zusatz gesprochen wird, ist der organisationssoziologische Institutionalismus gemeint. Vgl. Hollis [1995] S. 31. Siehe zu „Bottom-Up and Top-Down“-Erklärungen ebenfalls Scott [1994b] S. 77 f. Wie noch zu zeigen sein wird, befasste sich die Mehrheit der Forschungsarbeiten mit dem Zusammenhang zwischen makro- und mesosoziologischer Ebene; es war im Wesentlichen
20
1 Einleitung
oben“ gerichtete Perspektive, die sich in der Frage äußert, welche Wirkung das Handeln in und von Organisationen auf die gesellschaftlichen Grundeinstellungen, Normen und Wertvorstellungen auszuüben vermag. Dass Institutionen als im Handeln veränderliche Phänomene gelten, wurde zwar prinzipiell anerkannt, spiegelte sich jedoch in den Forschungsarbeiten nicht angemessen wider. Dies änderte sich in den vergangenen Jahren. Gegenüber der bisherigen statischen Sichtweise von Institutionen dominiert mittlerweile eine dynamische. Damit liegt das vorrangige Erkenntnisinteresse darin, die Veränderlichkeit von Institutionen genauer zu untersuchen. Institutioneller Wandel ist das vorherrschende Thema. Betrachtet man erneut die grundsätzliche Organisationsauffassung des organisationssoziologischen Institutionalismus, wonach Organisationen als in die Gesellschaft eingebettete Phänomene gelten, versprechen sich die Institutionalisten anhand der dynamischen Betrachtungsweise nicht allein, Erkenntnisse über den Wandel von Institutionen als gesellschaftsweiten – oder allgemein: makrosozialen – Phänomenen zu erlangen. Zugleich erwarten sie, Aufschluss darüber zu gewinnen, warum sich Organisationen ihrerseits stetig verändern – wie sich also der institutionelle Wandel im Wandel von und in Organisationen niederschlägt. Angesichts der wechselseitigen Konstitution von organisatorischen und gesellschaftlichen Phänomenen geht es in der heutigen Auseinandersetzung gleichermaßen um eine „von oben nach unten“ und eine „von unten nach oben“ gerichtete Perspektive. Einseitige Perspektiven, wie sie noch in den Anfängen verfolgt wurden, werden überwiegend kritisch betrachtet: „To view organizations and organizational systems as being shaped by their environments without attending to the reverse effects – the ways in which organizations affect environments – is to oversimplify institutional processes to the point of distortion.“10
Sich mit dem Wandel gesellschaftlicher Praktiken, Grundorientierungen und Wertvorstellungen zu befassen, setzt also einerseits eine Untersuchung dessen voraus, wodurch und inwieweit Akteure die gesellschaftlichen Strukturen zu prägen vermögen (gemäß der „von unten nach oben“ gerichteten Perspektive). Andererseits ist jedoch weiterhin die entgegengesetzte Perspektive von Bedeutung, eröffnet sich das Verständnis der konstitutiven Rolle sozialen Handelns in Bezug auf Institutionen doch letztlich nicht ohne einen Blick auf die Wirkungsweise von Institutionen in den lokalen Momenten des Handelns. Wie und warum
10
Zucker [1977], [1983], die Untersuchungen auf die mikrosoziologische Ebene heruntergebrochen hat. Vgl. generell zur Unterscheidung von mikro- und makroinstitutionalistischen Ansätzen Scott [2001] S. 43; Walgenbach [2006a] S. 357. Scott [2001] S. 126.
1.1 Problemstellung
21
sich Institutionen wandeln, hängt auch davon ab, wie sie auf die Wünsche, die Überzeugungen und letztlich auf die Handlungen der Akteure zu wirken vermögen (was der „von oben nach unten“ gerichteten Perspektive entspricht). Mit dem neuen Forschungsinteresse am Phänomen des institutionellen Wandels sind neue Anforderungen an die theoretischen Forschungskonzeptionen entstanden, anhand derer sich die Dynamik von Institutionen erfassen und erklären lässt. Die anfänglichen theoretischen Konzeptionen, die – gleichsam „von oben nach unten“ – eine restriktive, handlungsdeterminierende Wirkung von Institutionen unterstellt haben, erscheinen in dieser Hinsicht als wenig geeignet: Handeln gilt hier als sozial determiniert, womit die Handelnden im Angesicht scheinbar unveränderlicher Institutionen zu „belanglosen Figuren“11 herabgestuft werden. Insoweit jedoch davon ausgegangen wird, dass sich der Wandel von Institutionen letztlich im Zuge sozialer Handlungsprozesse vollzieht, gilt es, die generelle Transformationsfähigkeit von Akteuren gegenüber den Institutionen – die „von unten nach oben“ gerichtete Perspektive – angemessen zu modellieren. Dies darf im Gegenzug allerdings nicht dazu führen, den Akteuren eine zu weitgehende Einflussnahme zuzusprechen. Institutionen lassen sich gerade nicht als ein aggregiertes Handlungsergebnis rational operierender Individuen begreifen. Sie entziehen sich vielmehr der bewusst rationalen Gestaltung durch Einzelne, indem sie einerseits deren Handeln bereits anleiten und ihrem Handeln andererseits in Zeit und Raum Grenzen gesetzt sind. Es lässt sich nun argumentieren, dass das Problem, das sich auf der Suche nach einem „general framework for examining the dynamics of change“12 offenbart, im Grundsatz tieferliegender Natur ist. Es hat seine Wurzeln in den sozialwissenschaftlichen Paradigmen, die sich zur Analyse institutionellen Wandels heranziehen lassen. Wie in dieser Arbeit gezeigt werden soll, sind es Holismus und Individualismus als die beiden am häufigsten vertretenen Paradigmen, die die Grenzen einer Analyse vorgeben.13 Während den Akteuren aus Sicht eines holistischen Ansatzes strenggenommen keinerlei Handlungsmacht gegenüber den Institutionen zugesprochen wird, betonen Vertreter individualistischer Ansätze ihre uneingeschränkte Handlungsmächtigkeit.14 Der Holismus vermag der 11 12 13
14
Hollis [1995] S. 38. Dacin/Goodstein/Scott [2002] S. 51. Vgl. zur Unterscheidung holistischer und individualistischer Forschungspositionen Hollis [1995] S. 144 ff. und Bhargava [1998] sowie zu den Grenzen von Holismus und Individualismus hinsichtlich der Erklärung sozialer Phänomene Giddens [1984] S. 207 ff., Schatzki [1996] Kap. 1 und Schiller-Merkens [2007], [2008]. Im Laufe dieser Arbeit wird Holismus und Individualismus jeweils eine spezifische Auffassung sozialer Akteure zugeordnet. Damit soll nicht ausgeschlossen werden, dass sich verschiedene Akteurmodelle, interpretativ-subjektiv oder instrumentell-objektiv, sowohl in holistischen als auch in individualistischen Ansätzen antreffen lassen (vgl. Alexander/Giesen
22
1 Einleitung
Bedeutung von Akteuren damit keinen angemessenen Raum einzuräumen, und der Individualismus negiert die zentrale Annahme des organisationssoziologischen Institutionalismus:15 dass sich soziales Handeln eingebettet in Kontexten gegebener Institutionen vollzieht und damit von gesellschaftsweiten Bedeutungen geleitet wird, die den einzelnen Akteuren nicht bewusst sein müssen und von ihnen auch nicht unmittelbar zu beeinflussen sind. So scheint die gleichzeitige Berücksichtigung von sozialer Einbettung einerseits und genereller (wenngleich begrenzter) Transformationsfähigkeit andererseits bereits durch die zugrundeliegenden Paradigmen verhindert. Angesichts der Grenzen holistischer und individualistischer Konzeptionen stellt sich die Frage nach einer alternativen theoretischen Grundlage zur Untersuchung von Phänomenen des institutionellen Wandels. Sie gehört zu den herausforderndsten Fragestellungen in der aktuellen Debatte, fallen mit Holismus und Individualismus doch die derzeit bedeutsamsten Forschungspositionen der Sozialwissenschaften außer Betracht. Auf der Suche nach einer Lösung scheinen sich zwei alternative Wege herauszubilden. Der erste Weg lässt sich als ein pragmatischer charakterisieren. Er besteht darin, die Grenzen zwischen Holismus und Individualismus als in konkreten Forschungsprojekten überwindbar anzusehen und Theorien aus beiden sozialtheoretischen Paradigmen miteinander zu kombinieren. Im englischsprachigen Raum ist es in dieser Hinsicht beispielsweise Campbell, der für einen „more constructive dialogue that explores the ways in which these paradigms might complement and connect to each other“ plädiert.16 Im deutschsprachigen Raum beschreitet Meyer diesen Weg, indem sie ihre Untersuchung eines Institutionalisierungsprozesses gleichermaßen auf aus individualistischen (Institutionenökonomie) wie holistischen Ansätzen (Neoinstitutionalismus) gewonnene Aussagen stützt.17 Diesem pragmatischen Weg lässt sich dann folgen, wenn man entweder die Differenzen zwischen den beiden Per-
15 16 17
[1987] S. 14 f.). Das zeigt beispielsweise die Arbeit von Meyer und Rowan (1977), der eine holistische Orientierung zugrunde liegt und die dennoch – man beachte die Entkopplungsthese – ebenfalls Züge eines instrumentellen Akteurverständnisses enthält, wie es beispielsweise institutionenökonomische und damit individualistische Theorien auszeichnet. Tendenziell lässt sich allerdings zeigen, dass Holismus und Individualismus jeweils mit einer charakteristischen Sichtweise der Rolle von Akteuren in sozialen Handlungsprozessen antreten: einer deterministischen einerseits und einer voluntaristischen andererseits. Letzteres wird im Fokus der weiteren Diskussion stehen. Vgl. nur DiMaggio/Powell [1991] S. 8 oder Meyer/Boli/Thomas [1994] S. 13. Campbell [2004] S. 4. Siehe auch Campbell/Pedersen [2001b]; Scott [2001] S. 211. Vgl. Meyer [2004]. Die Frage der Integrierbarkeit beider Perspektiven diskutiert sie auf S. 67 ff.
1.1 Problemstellung
23
spektiven nicht als wissenschaftstheoretisch begründet ansieht,18 oder einer „Multiparadigmenperspektive“ anhängt, die eine umfassendere – weil mehrere Paradigmen berücksichtigende – Erklärung sozialer Phänomene zu erreichen beansprucht.19 Geht man jedoch von einer Inkommensurabilität holistischer und individualistischer Perspektiven aus, womit deren radikale Verschiedenheit und ein Konkurrenzverhältnis unterstellt werden,20 lässt sich dieser pragmatische Weg nicht beschreiten. Der zweite Weg, zu einer angemessenen theoretischen Grundlage zur Untersuchung von Phänomenen des institutionellen Wandels zu gelangen, geht von der Inkommensurabilität der beiden Forschungspositionen aus. Damit wird angenommen, dass Individualismus und Holismus zwei konkurrierende wissenschaftstheoretische Grundpositionen der Sozialwissenschaften (Paradigmen) darstellen, was mit unterschiedlichen, gar widersprüchlichen ontologischen, epistemologischen und methodologischen Annahmen einhergeht.21 Einigkeit in den Ansichten über das grundlegende Wesen der sozialen Tatbestände, über die Erkenntnisse, die sich über sie zutage fördern lassen, und über die Art und Weise, sie zu erforschen, lässt sich zwischen den beiden Paradigmen letztlich nicht erzielen.22 Worin liegt nun aber eine Alternative zu Individualismus und Holismus? Eine solche wird in jüngerer Zeit in den sogenannten Praxistheorien gesehen, die auch innerhalb der Organisationsforschung zunehmende Beachtung erfahren.23 Die Bezeichnung Praxistheorien wird für eine recht heterogene Gruppe an Theorien herangezogen, zu der – neben weiteren – die Theorie der Praxis von Bourdieu und die Strukturationstheorie von Giddens zählen.24 Ihnen gemeinsam ist ein grundsätzliches Interesse daran, die Reduktionismen individualistischer und holistischer Betrachtungen sozialer Phänomene zu überwinden, indem zunächst ein alternatives sozialontologisches Aussagensystem geliefert wird. Was die Praxistheorien dabei in besonderer Weise auszeichnet, ist eine dynamische 18 19 20 21 22 23
24
Was im Grundsatz bedeutet, nicht von sozialtheoretischen Forschungsparadigmen auszugehen. Vgl. Meyer [2004] S. 70. Vgl. Scherer [2006] S. 43. Vgl. Scherer [2006] S. 40. Siehe zur Inkommensurabilitätsdiskussion in der Organisationsforschung außerdem Scherer [1998], Scherer/Steinmann [1999] und McKinley/Mone [2003]. Vgl. Burrell/Morgan [1979] Kap. 1. Vgl. McKinley/Mone [2003] S. 365. Vgl. beispielsweise Orlikowski [2002] und [2007], Tsoukas [2003] S. 611 ff., Nicolini/ Gherardi/Yanow [2003], Feldman [2004], Jarzabkowski [2005], Schatzki [2005] oder Whittington [2006]. Vgl. Bourdieu [1976], Giddens [1976], [1979], [1981], [1984], sowie zu Praxistheorien im Allgemeinen das Sammelband von Schatzki/Knorr Cetina/v. Savigny [2001], Reckwitz [2003], Stern [2003].
24
1 Einleitung
Betrachtungsweise sozialer Phänomene, die – wie noch zu zeigen sein wird – gleichermaßen „von unten nach oben“ wie „von oben nach unten“ gerichtet begründet wird. Damit erlauben es die Praxistheorien, soziale Phänomene (seien es Institutionen, Strukturen oder Systeme) als durch soziale Handlungsprozesse konstitutiert zu betrachten, ohne dabei die Handlungsmächtigkeit der Akteure zu überzeichnen oder verkürzt zu modellieren. Dies macht sie gerade auch für die organisationssoziologische Auseinandersetzung mit dem institutionellen Wandel interessant, was Lounsbury in folgender Weise zu begründen sucht: „[P]ractice theorists focus attention on ontological problems having to do with how conceptions of reality are rooted in broader social and historical processes that operate beyond the direct consciousness of actors but are visibly instantiated in daily activities (…) [A]nalyses employing practice theories and methods (...) expand the scope of institutional analysis by redirecting attention to temporal and spatial variations in meaning and the ways in which actors, enmeshed in relatively durable power relations, engage in continual struggles for positional advantage.“25
Wenngleich sich der Inhalt dieser Aussage erst im Laufe der vorliegenden Arbeit erhellen wird, vermag sie zumindest eines zu verdeutlichen: Es erscheint grundsätzlich als aussichtsreich, den Beitrag der Praxistheorien zur Erforschung von Phänomenen des institutionellen Wandels genauer zu diskutieren. Diesem Anliegen hat sich die vorliegende Arbeit verschrieben. Dabei kann es jedoch nicht allein bei einer Diskussion des praxistheoretischen Erklärungspotentials bleiben. Vielmehr gilt es, dieses anhand einer eigenständigen praxistheoretischen Konzeption des institutionellen Wandels zu veranschaulichen. Beides wird im Rahmen der Arbeit zu erreichen versucht. 1.2 Ziel und Aufbau der Arbeit Grundlegendes Ziel des Buches ist es, eine praxistheoretische Konzeption institutionellen Wandels vorzulegen und damit einen Beitrag zur Weiterentwicklung des organisationssoziologischen Institutionalismus zu leisten. In Anbetracht der Vielfalt an Praxistheorien – Schatzki zählt zu den Praxisphilosophien beispielsweise Arbeiten von Ludwig Wittgenstein, Jean-François Lyotard, Michel Foucault, Pierre Bourdieu und Anthony Giddens –26 lässt sich diesem Ziel nicht ohne die Auswahl einer konkreten Praxistheorie näherkommen. Folgt man dem diesbezüglichen Diskurs in der organisationssoziologischen Institutionalismusfor25 26
Lounsbury [2003] S. 214. Vgl. Schatzki [2001] S. 1.
1.2 Ziel und Aufbau der Arbeit
25
schung, so erscheinen vornehmlich zwei Praxistheorien als aussichtsreiche Kandidaten: die Theorie der Praxis von Pierre Bourdieu und die Strukturationstheorie von Anthony Giddens. Während die Bourdieu’schen Überlegungen erst in jüngerer Zeit Einzug in die Institutionalismusforschung erhalten,27 findet die Strukturationstheorie bereits in einigen eindrucksvollen Forschungsarbeiten Anwendung. Neben verschiedenen empirischen Studien befindet sich mit Barley und Tolbert (1997) auch ein konzeptioneller Beitrag zum Thema des institutionellen Wandels darunter. In allen bisherigen Rezeptionen zeigt sich allerdings, dass wichtige Elemente der Strukturationstheorie außer Acht gelassen werden, die gerade ihren praxistheoretischen Gehalt dokumentieren. Werden diese jedoch nicht herangezogen, ist weniger augenscheinlich, auf welche Weise die Theorie die Problematik holistischer und individualistischer Konzeptionen zu überwinden hilft und damit zu einer aussichtsreichen dynamischen Betrachtung von Institutionen beizutragen vermag. In der vorliegenden Arbeit gilt es also, diesem Defizit zu begegnen und eine strukturationstheoretische Konzeption des institutionellen Wandels zu entwickeln, die die praxistheoretischen Aspekte der Theorie integriert. Angesichts der Tatsache, dass sich im organisationssoziologischen Institutionalismus bisher nur wenige Arbeiten finden, die sich dem Thema des institutionellen Wandels in einer umfassenden Weise widmen,28 dient das nachfolgende zweite Kapitel zunächst der Aufarbeitung des derzeitigen Stands der Forschung. Dabei werden einleitend die Grundlagen für ein generelles Verständnis des Forschungsprogramms des organisationssoziologischen Institutionalismus gelegt. In Anbetracht der vielfältigen und mitunter recht diffusen Vorstellungen von der Bedeutung zentraler Begriffe – „some of us even disagree about what institutions are in the first place“29 –, werden dazu anfänglich die Begriffe der Institution, Institutionalisierung und Institutionalität einzuführen sein. Anschließend gilt es die Entwicklungsgeschichte des organisationssoziologischen Institutionalismus nachzuzeichnen, lässt sich daran doch ein scheinbarer „pendulum swing“30 von einer eher individualistischen Sichtweise, wie sie in den klassischen Arbeiten von Selznick vertreten wurde, hin zu einer holistischen Sichtweise im sogenann27
28
29 30
Trotz des frühen Plädoyers bei DiMaggio/Powell [1991] S. 25 f. wird die Praxistheorie Bourdieus erst allmählich herangezogen, so beispielsweise zur Weiterentwicklung des Feldkonzepts (vgl. hierzu Lounsbury [2003]; Lounsbury/Ventresca [2003]; Mohr [2005]). Zwar finden sich zahlreiche Aufsätze und empirische Studien sowie mit Campbell [2004] eine umfassende Abhandlung zum Thema institutioneller Wandel. Diese betrachten jedoch entweder nur Teilaspekte des Themas oder sind – wie Campbells Monographie – nicht praxistheoretisch angelegt, sondern verfolgen den Weg einer multiparadigmatischen Betrachtungsweise. Campbell [2004] S. 3. Hirsch/Lounsbury [1997] S. 410.
26
1 Einleitung
ten Neoinstitutionalismus erkennen. Dieser erste einleitende Teil des zweiten Kapitels schließt mit einer Einführung in die aktuellen Entwicklungen der institutionalistischen Forschungsdiskussion. Die hier anzuführenden Themenfelder – Akteurmodell, Prozessorientierung und Mikro-Makro-Konzeption – stehen letztlich alle im Zusammenhang mit dem zentralen Forschungsthema des institutionellen Wandels. Sie lassen sich als theoretische Herausforderungen begreifen, die später als generelle Anforderungen an eine theoretische Konzeption des institutionellen Wandels wieder aufzugreifen sein werden. Der zweite Teil des zweiten Kapitels widmet sich dem eigentlichen Thema des institutionellen Wandels. Hierzu erfolgt zunächst eine definitorische Eingrenzung, bevor im Weiteren auf der Grundlage einer ausführlichen Analyse der bisherigen Forschungsarbeiten die Bedingungen herausgearbeitet werden, die als verursachende und begünstigende Faktoren institutioneller Wandelprozesse angesehen werden. Angesichts der Kritik, dass „a defect of the new institutionalist approach was precisely its failure to theorize and empirically investigate the institutional conditions under which cognitive taken-for-grantedness was more or less likely to occur“31, ist es interessant zu erkennen, dass ein genauerer Blick auf die zahlreichen empirischen Studien bereits ein gutes Verständnis solchermaßen wandelbegünstigender Bedingungen zu liefern vermag. Das zweite Kapitel endet mit einem dritten Teil, der mit Ausführungen zu den grundsätzlichen Anforderungen an eine theoretische Konzeption des institutionellen Wandels beginnt. Daran anschließend wird die bisherige Rezeption der Strukturationstheorie im organisationssoziologischen Institutionalismus überblicksartig dargestellt. Im dritten Kapitel wird mit der Strukturationstheorie das theoretische Fundament der vorliegenden Arbeit eingeführt. Wenngleich sich in der Organisationswissenschaft mittlerweile einige bedeutsame Forschungsarbeiten zur Strukturationstheorie finden,32 soll die Theorie hier in ihren Grundzügen dargestellt werden. Die Ausführungen richten sich damit vorrangig an den mit dieser Literatur nicht vertrauten Leser. Im vierten Kapitel werden schließlich die Grundzüge einer strukturationstheoretischen Konzeption institutionellen Wandels entwickelt. Dabei orien31 32
Stryker [2002] S. 181 (Hervorhebungen im Original). Hier seien für die deutschsprachige Forschung beispielhaft genannt: Walgenbach [1994], Ortmann [1995], [2001], Becker [1996], Beckert [1997], Ortmann/Sydow/Windeler [1997], Sydow/Windeler [1997], Windeler [2001] sowie die Arbeiten im Sammelband von Ortmann/ Sydow [2001]; für den englischsprachigen Raum beispielsweise Ranson/Hinings/Greenwood [1980], Riley [1983], Barley [1986], Willmott [1987], Yates/Orlikowski [1992], Whittington [1992] und [1994], Orlikowski [1992], [2000], [2002], Kilduff [1993], Lewis/Seibold [1993], DeSanctis/Poole [1994], Pentland/Rueter [1994], Barley/Tolbert [1997], Feldman [2004].
1.2 Ziel und Aufbau der Arbeit
27
tiert sich der Aufbau des Kapitels im Wesentlichen an den theoretischen Anforderungen an eine solche Konzeption, wie sie im Rahmen des zweiten Kapitels dargelegt wurden: Einerseits gilt es der Anforderung zu begegnen, eine hinreichend allgemeingültige sozialtheoretische Basis zu liefern, um möglichst viele der potentiell denkbaren Bedingungen des institutionellen Wandels integriert betrachten zu können. Andererseits sind die theoretischen Herausforderungen, wie sie im Zusammenhang mit den jüngeren Entwicklungstendenzen diskutiert wurden, angemessen zu berücksichtigen. Bevor der diesbezügliche Beitrag der Strukturationstheorie genauer zu untersuchen ist, wird eingangs zunächst der Frage nachgegangen, warum sich die Strukturationstheorie überhaupt als eine aussichtsreiche Kandidatin zur Erforschung sozialer Wandelprozesse ansehen lässt – wird sie doch überwiegend zur Analyse und Begründung sozialer Ordnungsprozesse herangezogen. Im zweiten und dritten Teil des vierten Kapitels wird dann der Beitrag der Strukturationstheorie zu den genannten Anforderungen erörtert. Hierzu wird jeweils ein einleitender Überblick gegeben und anschließend ein strukturationstheoretisch inspiriertes Modell zu dessen Lösung entwickelt. Im letzten Kapitel werden die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit zusammengeführt und ihr Beitrag zur Forschungspraxis des organisationssoziologischen Institutionalismus diskutiert. Die Arbeit schließt mit einem kurzen Blick auf ihren Beitrag zum Phänomen des organisatorischen Wandels.
2 Institutioneller Wandel aus dem Blickwinkel der organisationswissenschaftlichen Forschung
2.1 Grundlagen des organisationssoziologischen Institutionalismus Was ist Institutionalismus? Zur Annäherung an diese Frage bietet sich ein Blick in die einschlägige Fachliteratur an. Hier trifft man beispielsweise auf den folgenden Eingrenzungsversuch: „Als Institutionalismus kann man insgesamt diejenigen Ansätze bezeichnen, die sich mit der Untersuchung von Institutionen beschäftigen und dabei annehmen, dass Institutionen wichtig sind, um soziales Handeln und Prozesse der Gesellschaftsentwicklung zu verstehen.“1
Diese Definition ist recht allgemein gehalten und scheint auf den ersten Blick kaum Hilfe zu leisten für eine genauere Abgrenzung des Forschungsgebiets. Und doch verdeutlicht gerade ihr allgemein gehaltener Charakter bereits einen wesentlichen Aspekt: Es gibt nicht den einen Institutionalismus, der sich durch einen einheitlichen Kanon an Aussagen auszeichnen würde. Vielmehr finden sich zahlreiche wissenschaftliche Disziplinen, die eine institutionalistische Strömung aufweisen, wobei der Inhalt dessen, was als Institutionalismus bezeichnet wird, stets fachgebietsspezifisch ausgelegt wird: Verbreitung genießt der Institutionalismus sowohl in verschiedenen soziologischen Forschungsbereichen als auch in den Politikwissenschaften, in der Geschichtswissenschaft und in der Ökonomie.2
1 2
Hasse/Krücken [2005] S. 15. Mittlerweile sind zahlreiche Beiträge zur Unterscheidung verschiedener Strömungen des Institutionalismus erschienen, vgl. nur DiMaggio/Powell [1991] S. 2 ff., Mayntz/Scharpf [1995], Scott [2001] S. 28 ff., Campbell/Pedersen [2001a], Maurer/Schmid [2002], Campbell [2004] Kap. 1. Einblick in die institutionenökonomische Strömung gewähren Langlois [1986], North [1990], Furubotn/Richter [1997] oder Nee [2005]; vgl. schließlich Hall/Taylor [1998] und Göhler/Kühn [1999] zur politikwissenschaftlichen Strömung.
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2 Institutioneller Wandel aus dem Blickwinkel der organisationswissenschaftlichen Forschung
Die vorliegende Arbeit widmet sich dem Institutionalismus, wie er im Bereich der Organisationssoziologie betrieben wird.3 Wie allerdings noch deutlich werden wird, ist selbst der organisationssoziologische Institutionalismus nicht durch ein einheitliches Annahmengerüst gekennzeichnet, sondern seinerseits in verschiedene Richtungen zersplittert.4 Allein ein Blick in vier Sammelbände zum organisationssoziologischen Institutionalismus offenbart die Vielfalt an analytischen Grundlegungen und methodischen Herangehensweisen.5 Nicht ohne kritischen Unterton äußern sich daher Tolbert und Zucker: „There is very little consensus on the definition of key concepts, measures or methods within this theoretic tradition.“6
Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass das Verständnis des organisationssoziologischen Institutionalismus mit der Abgrenzung des jeweiligen Forschungsrahmens und der diesbezüglichen Wahl der theoretische(n) Grundlage(n) variiert. In diesem Zusammenhang weist beispielsweise Türk darauf hin, dass bereits die Definition des Untersuchungsobjekts „Institution“ nur auf der Grundlage eines ausgewählten sozialtheoretischen Bezugsrahmens gelingen kann.7 Es ist insoweit von grundsätzlicher Bedeutung, die sozialtheoretischen Grundlagen einer Auseinandersetzung mit Institutionen offenzulegen, bilden diese doch gewissermaßen das theoretische Rüstzeug, das einen bestimmten Blickwinkel auf das Forschungsobjekt erlaubt. Der sozialtheoretische Bezugsrahmen der vorliegenden Arbeit wird durch zwei Theorien geliefert. Wie bereits in der Einleitung Erwähnung gefunden hat, handelt es sich dabei auf der einen Seite um die Strukturationstheorie von Anthony Giddens. Ihr Erkenntnisinteresse ist sehr weit gefasst, bezieht sich die Theorie doch ganz allgemein auf die Erklärung sozialer Phänomene, was insbesondere Aspekte ihres Fortdauerns und ihrer Veränderung betrifft. Als allgemei3
4
5 6 7
Den grundlegenden Forschungsgegenstand der Organisationssoziologie bilden Organisationen. Im Gegensatz zur vorrangig organisationsbezogenen Perspektive der betriebswirtschaftlichen und sozialpsychologischen Organisationsforschung wird dabei allerdings eine gesellschaftsbezogene Blickrichtung auf Organisationen verfolgt. Diese stellt die Verankerung von Organisationen in der Gesellschaft in den Mittelpunkt der Betrachtung. Vgl. diesbezüglich, Dobbin [1994], Schimank [1994] sowie Allmendinger/Hinz [2002b]. Vgl. Scott [2001] S. 37 ff. Man mag daher der Charakterisierung des Institutionalismus als eines „roomy framework“ eine gewisse Berechtigung nicht absprechen. Vgl. Jennings/Greenwood [2003] S. 195. Vgl. Zucker [1988a], Powell/DiMaggio [1991], Scott/Meyer [1994] und Scott/Christensen [1995]. Tolbert/Zucker [1996] S. 175. Vgl. Türk [1997] S. 145.
2.1 Grundlagen des organisationssoziologischen Institutionalismus
31
ne Sozialtheorie ist sie entsprechend anwendbar auf eine Vielzahl spezifischer sozialwissenschaftlicher Problemfelder, so auch auf die hier interessierende Frage der Kontinuität und des Wandels von Institutionen. Als zweite sozialtheoretische Grundlage dieser Arbeit dient auf der anderen Seite die Gesellschaftstheorie von Peter Berger und Thomas Luckmann, die sie selbst als Theorie der Wissenssoziologie bezeichnet haben. Sie stellt eine wichtige Bezugsquelle für die organisationssoziologischen Institutionalisten dar, nicht nur weil der Prozess der Institutionalisierung den zentralen Gegenstand ihrer Theorie bildet, sondern auch weil sich auf dieser Grundlage die institutionenbestimmenden Merkmale sozialer Phänomene ableiten lassen. Im Kern wird es in den nun folgenden Abschnitten darum gehen, den organisationssoziologischen Institutionalismus in seinen Grundzügen zu umreißen. Während dazu einführend zunächst das Erkenntnisinteresse eingegrenzt sowie die zentralen Begriffe wie Institution, Institutionalisierung und Institutionalität definiert werden, werden anschließend die Entwicklungsgeschichte und die Entwicklungstendenzen in der gegenwärtigen Forschung beschrieben. 2.1.1 Erkenntnisinteresse Wenngleich der organisationssoziologische Institutionalismus nicht mit einem einheitlichen Gedankengebäude aufzuwarten vermag, herrscht weitgehende Einigkeit hinsichtlich der vorrangigen Erkenntnisinteressen. In Anlehnung an Türk lässt sich das Erkenntnisinteresse der organisationssoziologischen Institutionalismusforschung anhand zweier grundlegender Fragestellungen verdeutlichen:8
Inwieweit wird das Handeln in und von Organisationen geprägt von dauerhaften sozialen Phänomenen, wie sie in Form geteilter Wertorientierungen oder Anschauungsmuster, als habitualisierte soziale Praktiken und Routinen, als Managementmoden oder Gestaltungsphilosophien erscheinen? Wodurch erlangen soziale Phänomene ihren beständigen oder institutionalisierten Charakter? Wie erklärt sich ihre Beständigkeit in Anbetracht des stets potentiell veränderlichen Handelns von Akteuren?
Die erste Fragestellung spiegelt das bis in die späten neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts vorrangige Erkenntnisinteresse wider. Es zielt auf die Institutionalität sozialer Phänomene und die Frage, wie die Beständigkeit der 8
Vgl. Türk [2004] Sp. 924 f.
32
2 Institutioneller Wandel aus dem Blickwinkel der organisationswissenschaftlichen Forschung
Phänomene das Handeln von individuellen Akteuren und Organisationen beeinflusst. Im Zentrum steht die Auseinandersetzung mit der Wirkungsweise gegebener Institutionen im sozialen beziehungsweise auf soziales Handeln. Zentral sind in dieser Perspektive „questions about how social choices are shaped, mediated, and channeled by institutional arrangements.“9 Verfolgt wird hier eine „von oben nach unten“ gerichtete Perspektive, mit der die Wirkung einer Makroebene in Form von Institutionen auf eine Mesoebene (Organisationen) oder eine Mikroebene (Akteure) untersucht wird. Während in der vorangehenden Perspektive von gegebenen Institutionen ausgegangen wird, wird diese Annahme mit der zweiten Fragestellung aufgehoben. Hier richtet sich das Erkenntnisinteresse – das, wie noch darzustellen sein wird, charakteristisch für die jüngere Forschungsentwicklung ist – auf die Veränderlichkeit von Institutionen. Soweit Institutionen als veränderlich gelten, wird ihre Beständigkeit – also das, was soziale Phänomene grundsätzlich als institutionenhaft erscheinen lässt – in Frage gestellt. Darüber hinaus können sie ihren institutionenhaften Charakter nicht nur verlieren, sondern es können sich neue soziale Phänomene entwickeln, die ihrerseits an Beständigkeit gewinnen. Das Erkenntnisinteresse liegt hier in den Prozessen der Institutionalisierung und des institutionellen Wandels.10 Die Blickrichtung richtet sich auf den Zusammenhang zwischen mikro- und makrosozialen Phänomenen und scheint sich zunächst als eine „von unten nach oben“ gerichtete Perspektive darzustellen, mit der die Bedeutung des sozialen Handelns für die Institutionen Betrachtung findet. Jedoch ist auch hier die „von oben nach unten“ gerichtete Blickrichtung von Interesse, insoweit angenommen wird, dass die Art und Weise, wie Akteure auf die gegebenen Institutionen in ihren sozialen Handlungsprozessen Bezug nehmen, Rückschlüsse auf deren Beständigkeit zulässt. 2.1.2 Institution und Institutionalisierung – definitorische Anmerkungen 2.1.2.1 Zur Pluralität des Bedeutungsgehalts von Institutionen Wie bereits einleitend angesprochen, befasst sich eine Vielzahl unterschiedlicher Forschungszweige, wie Politikwissenschaften, Ökonomie, Geschichte und Soziologie, mit dem Forschungsobjekt der Institution.11 Entsprechend vielfältig ist 9 10 11
DiMaggio/Powell [1991] S. 2. Wie später zu zeigen sein wird, lässt sich Institutionalisierung im weitesten Sinne als ein Prozess des institutionellen Wandels ansehen. Vgl. Abschnitt 2.2.1. Siehe auch DiMaggio/Powell [1991] S. 3.
2.1 Grundlagen des organisationssoziologischen Institutionalismus
33
der Bedeutungsgehalt des Institutionenbegriffs. Es ließe sich nun vermuten, dass zumindest innerhalb eines Fachgebiets ein weitgehend einheitliches Verständnis des Begriffs vorherrschen sollte. Doch selbst innerhalb des organisationssoziologischen Institutionalismus variiert der konkrete Bedeutungsgehalt von Institutionen, wie die folgenden beispielhaft genannten Definitionen zeigen: „[W]e define institutions as shared rules and typifications that identify categories of social actors and their appropriate activities or relationships.“12 „Institutions are symbolic and behavioral systems containing representational, constitutive, and normative rules together with regulatory mechanisms that define a common meaning system and give rise to distinctive actors and action routines.“13 „Institution represents a social order or pattern that has attained a certain state or property.“14 „Not norms and values but taken-for-granted scripts, rules, and classifications are the stuff of which institutions are made…institutions are macrolevel abstractions, rationalized and impersonal prescriptions, shared typifications, independent of any particular entity to which moral allegiance might be owed.“15 „[I]nstitutions are those standardized activity sequences that have taken for granted rationales, that is, in sociological parlance, some common social „account“ of their existence and purpose.“16 „[I]nstitutions are multifaceted, durable social structures, made up of symbolic elements, social activities, and material resources.“17 „We conceive of institutions as both supraorganizational patterns of activity through which humans conduct their material life in time and space, and symbolic systems through which they categorize that activity and infuse it with meaning.“18 „[I]nstitutions can be described as cultural accounts under whose authority action occurs and social units claim their standing.“19 12 13 14 15 16 17 18 19
Barley/Tolbert [1997] S. 96. Scott [1994b] S. 68. Jepperson [1991] S. 145. DiMaggio/Powell [1991] S. 15. Jepperson [1991] S. 147. Scott [2001] S. 49. Friedland/Alford [1991] S. 232. Meyer/Boli/Thomas [1994] S. 24.
34
2 Institutioneller Wandel aus dem Blickwinkel der organisationswissenschaftlichen Forschung
„Institutionen lassen sich deshalb allgemein als übergreifende Erwartungsstrukturen definieren, die darüber bestimmen, was angemessenes Handeln und Entscheiden ist.“20 „[Institutionen sind] Sinnzusammenhänge des Handelns, symbolisiert in Leitideen und materialisiert in den Strukturen praktischen Alltagshandelns…“21
Sind Institutionen nun als soziale Strukturen zu verstehen? Oder sind es soziale Systeme – symbolische, kognitive oder normative? Sind es Handlungsmuster, Regelmäßigkeiten im Verhalten sozialer Akteure? Oder sind es die Regeln, die dem Handeln zugrunde liegen, die „Spielregeln“ des sozialen Miteinanders? Die Auffassung des Institutionenbegriffs variiert zweifelsohne.22 Allerdings lassen sich zumindest zwei Gemeinsamkeiten mit Blick auf die genannten Definitionen erkennen: Der Begriff der Institution gilt einerseits als eine Kategorie zur Charakterisierung sozialer Phänomene, der andererseits mit dem Merkmal der Beständigkeit in Zusammenhang steht. Auf der einen Seite sind die als Institution oder als institutionalisiert bezeichneten Objekte allesamt sozialer Natur. Das bedeutet, dass eine Institution nur dann als eine solche gilt, wenn sie sich – in noch näher zu spezifizierender Weise – im sozialen Handeln der Akteure wiederfindet. Auf der anderen Seite wird die Dauerhaftigkeit oder Beständigkeit als Merkmal der sozialen Phänomene in allen Definitionen mehr oder weniger betont. Dies mag nicht verwundern, hat ein solches Begriffsverständnis doch eine lange Tradition, wie die durch Institutionalisten viel zitierte Definition von Hughes aus dem Jahre 1936 unterstreicht: „The only idea common to all usages of the term institution is that of some sort of establishment of relative permanence of a distinctly social sort.“23
So verschiedenartig der Begriff der Institution also definiert werden mag, so übereinstimmend scheint insgesamt die grundsätzliche Ansicht, dass es sich um „Komplexe dauerhafter, gegenüber abweichendem Verhalten relativ resistenter Regeln, Normen, Deutungen, Orientierungen und Handlungsmuster“24 handelt. 20 21 22
23 24
Hasse/Krücken [2005] S. 15. Edeling [1999] S. 14. Sofern er überhaupt definiert wird, was nach Hirsch und Lounsbury aus gutem Grunde häufig unterbleibt: „[V]ery few claiming ownership of the concept [of institutions] are willing to provide a definition of what they mean by it...this is for good reason because most are too partial to either action or structuralist perspectives to be able to integrate the two and hence are understandably reluctant to make it more obvious.“ Hirsch/Lounsbury [1997] S. 407. Hughes [1936] S. 180. Türk [2004] Sp. 924.
2.1 Grundlagen des organisationssoziologischen Institutionalismus
35
Jedoch wäre der Begriff der Institution hinfällig, bezöge er sich auf jegliches soziale Handeln in seiner gewohnheitsmäßigen Form: Dies wird bereits durch den Begriff des Sozialen erfasst und bildet den grundlegenden Gegenstandsbereich der Soziologie.25 Obwohl der Begriff der Institution auf soziale Verhaltensregelmäßigkeiten hinweist, lässt sich nicht jedes soziale Verhaltensmuster als Institution bezeichnen. Dennoch kann prinzipiell festgehalten werden, dass die soziologischen Institutionalisten – im Gegensatz zu Institutionenökonomen, die den Institutionenbegriff zur Bezeichnung vertraglich basierter korporativer Gebilde heranziehen – einheitlich darauf verweisen, dass Institutionen ohne dauerhafte Handlungssequenzen – ohne „chronically repeated activity sequences“26 – nicht denkbar wären. Institutionen manifestieren sich letztlich in den konkreten sozialen Praktiken der Akteure.27 Der oben zitierten Definition von Jepperson folgend, soll nun angenommen werden, dass sich der Institutionenbegriff als ein Eigenschaftsbegriff sozialer Sachverhalte eignet: Er kennzeichnet diese als institutionalisiert.28 Wird der Institutionenbegriff zur Bezeichnung von Eigenschaften gebraucht, so werden die vorherrschenden Bedeutungsvarianten der verschiedenen institutionalistischen Konzepte, die Institutionen anhand verschiedener sozialtheoretischer Grundlegungen auf unterschiedlichen Ebenen untersuchen und mal im Sinne von Werten, Normen und Verhaltenserwartungen, mal im Sinne von Regeln, mal im Sinne von Sitten und Gebräuchen, mal im Sinne von kognitiven Skripten und Symbolsystemen verstehen, fassbarer.29 Sie alle befassen sich mit dem, was mitunter als Ausprägungen von Kultur bezeichnet wird: mit Ideologien, Interpretations- und Wahrnehmungsmustern, Mythen und Ritualen.30 Im Sinne des Jepperson’schen Begriffsverständnisses gelten die kulturellen Ausprägungen erst dann als Institutionen, wenn sie das Merkmal der Institutionalität aufweisen.31 Institutionen lassen sich folglich nicht per se mit kulturellen Ausprägungen gleichsetzen. Vielmehr können jene einen mehr oder weniger institutionalisierten Status erlangen – und zählen erst dann zur Kategorie „Institution“ –, der sich durch bestimmte, im Folgenden zu klärende Wesensmerkmale auszeichnet.
25 26 27 28 29 30 31
Vgl. Türk [1997] S. 146. Jepperson [1991] S. 145. Vgl. Türk [2004] Sp. 924. Vgl. Jepperson [1991] S. 145; Türk [1997] S. 143 ff. Vgl. zum Bedeutungsgehalt von Institutionen je nach institutionalistischer Strömung Scott [1994b] S. 56 ff.; Scott [2001] S. 47 ff. Vgl. Jepperson [1991] S. 150. Vgl. zum Ausmaß an Institutionalität Abschnitt 2.1.2.3.
36
2 Institutioneller Wandel aus dem Blickwinkel der organisationswissenschaftlichen Forschung
2.1.2.2 Die Begriffe der Institution und der Institutionalisierung nach Berger und Luckmann Die Frage, was als institutionalisiert gilt, lässt sich unter Rückgriff auf die Wissenssoziologie von Peter Berger und Thomas Luckmann klären. Ihre in Anlehnung an die Phänomenologie von Alfred Schütz32 erarbeitete Theorie bildet eine der wesentlichen Grundlagen des organisationssoziologischen Institutionalismus. Unter der zentralen Annahme, dass die Vorstellungen von der Welt sozial konstruiert seien, betrachten Berger und Luckmann den Prozess, durch den die Mitglieder einer Gesellschaft ein intersubjektiv geteiltes Wissen von der Welt herausbilden, in der sie sich alltäglich bewegen.33 Ihr Ziel ist es, die alltägliche Produktion und Reproduktion des Allerweltswissens von Akteuren zu erklären. Dabei definieren sie Allerweltswissen als „das Wissen, welches ich mit anderen in der normalen, selbstverständlich gewissen Routine des Alltags gemein habe.“34 Es ist ein Wissen um allgemein anerkannte, gesellschaftlich erwartete Verhaltensweisen, um die Regeln angemessenen und sinnhaften Handelns in Momenten der Interaktion. Das Alltagswissen ist von doppelter Bedeutung für die Mitglieder der Gesellschaft: Einerseits vermittelt es ihnen Gewissheit über das, was in routinemäßigen Handlungssituationen als angemessenes Verhalten gilt, und wirkt in dieser Hinsicht vertrauensbildend und handlungsleitend, andererseits erscheint es zugleich als fremdartig, da es gegenüber dem Einzelnen die Qualität eines unverrückbaren objektiven Faktums annimmt. Mit dem ersten Aspekt suchen Berger und Luckmann in Anlehnung an Max Weber zu betonen, dass die soziale Wirklichkeit immer auch durch den subjektiv gemeinten Sinn der in ihr agierenden Personen konstituiert wird, mit dem zweiten Aspekt ihre Anlehnung an die Durkheim’sche Gesellschaftstheorie zu unterstreichen, der die Wirkung sozialer Phänomene auf das Handeln mit derjenigen von Naturgegebenheiten verglichen und soziale Phänomene in dieser Hinsicht als dinghafte, natürlichen Gegenständen gleiche Fakten bezeichnet hat.35 Das Berger/Luckmann’sche Erkenntnisinteresse richtet sich nun auf die Frage, wodurch sich das spezifische Wissen individueller Akteure in Aller32
33 34 35
Schütz ging es darum, den Zusammenhang zwischen menschlichem Handeln und den Sinnstrukturen der Wirklichkeit zu erklären und damit die verstehende Soziologie philosophisch zu untermauern. Vgl. zu den Grundproblemen der verstehenden Soziologie Schütz [1960] S. 247 ff. sowie zu seiner phänomenologischen Perspektive der Sozialwelt als eine im Handeln entstehende Wirklichkeit den Überblicksartikel von Endreß [2003] S. 334 ff. Vgl. zum Verständnis von Welt im Sinne von Alltagswelt Berger/Luckmann [1969] S. 21 ff. Berger/Luckmann [1969] S. 26. Es finden sich die analogen Bezeichnungen „Alltagswissen“, „Rezeptwissen“ und „Jedermannswissen“. Vgl. Berger/Luckmann [1969] S. 18, 20.
2.1 Grundlagen des organisationssoziologischen Institutionalismus
37
weltswissen wandeln kann. Es geht ihnen um den Prozess sozialen Handelns, im Zuge dessen subjektiv gemeinter Sinn zu objektiver Faktizität wird.36 Diesen Prozess bezeichnen sie als Institutionalisierung: „Institutionalisierung findet statt, sobald habitualisierte Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok typisiert werden. Jede Typisierung, die auf diese Weise vorgenommen wird, ist eine Institution. Für ihr Zustandekommen wichtig sind die Reziprozität der Typisierung und die Typik nicht nur der Akte, sondern auch der Akteure.“37
Habitualisierung gilt als die Vorstufe oder die erste Phase im Prozess der Institutionalisierung. Sie bezieht sich auf den Prozess, in dem individuelle Akteure dauerhafte Handlungsakte und -muster entwickeln. Werden diese Handlungsmuster aufrechterhalten, setzt eine wechselseitige Typisierung der Handlungsakte ein: Die Akteure „speichern“ die wiederkehrenden Typen von Handlungen und die geteilten Beweggründe für diese Handlungen ab.38 Das Wissen um die typisierten Handlungsverläufe ist zunächst noch an die Gruppe von Individuen gebunden, unter denen sich diese entwickelt haben. Es kann sich jedoch allmählich von den Individuen lösen: Die Akteure verbinden die Handlungsmuster dann nicht mehr mit ihren individuellen Interaktionspartnern, sondern mit den Rollen, die die anderen im Handlungsverlauf übernehmen. Damit setzt eine Typisierung der Akteure ein, womit eine neue Phase des Institutionalisierungsprozesses beginnt: die Phase der Externalisierung, in der die Akteure sich von ihren personenspezifischen Verhaltenserwartungen lösen und einen allgemeinen Wissensvorrat an generalisierten Verhaltenserwartungen entwickeln.39 Die Typisierung sowohl der Handlungsakte als auch der Akteure beschreibt letztlich einen Prozess der Objektivierung, in der die sozialen Handlungsvorgänge im Durkheim’schen Sinne allmählich den Charakter objektiver Wirklichkeit erlangen.40 Ihr vermeintlicher Sachcharakter äußert sich beispielsweise in Aussagen wie „das macht man einfach so“, die die subjektive Gewissheit der 36 37 38 39 40
Vgl. Berger/Luckmann [1969] S. 20. Berger/Luckmann [1969] S. 58. Vgl. Berger/Luckmann [1969] S. 60. Berger und Luckmann definieren Externalisierung als Entäußerung subjektiv gemeinten Sinns. Vgl. Berger/Luckmann [1969] S. 53. Objektivierung – oder synonym: Vergegenständlichung, Verdinglichung – wird als der Vorgang bezeichnet, durch den Produkte menschlicher Entäußerung objektiven Charakter gewinnen. Vgl. Berger/Luckmann [1969] S. 64 f. und S. 94 ff. Tolbert und Zucker, die ein an Berger und Luckmann angelehntes Modell der Institutionalisierung vorgelegt haben, sprechen daher auch von einer Phase der Objektivierung („objectification“). Vgl. Tolbert/Zucker [1996] S. 182 ff.
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2 Institutioneller Wandel aus dem Blickwinkel der organisationswissenschaftlichen Forschung
einzelnen Akteure widerspiegeln, das gesellschaftlich – objektiv – richtige zu tun.41 Der Objektivitätsgehalt der Handlungsroutinen bleibt allerdings noch fragil, soweit die Routinen weiterhin innerhalb der Gruppe von Individuen vollzogen werden, die an ihrer Habitualisierung beteiligt waren. Sie sind ohne weiteres fähig, von den Habitualisierungen wieder abzulassen, bleiben diese doch „für ihre eigene Intervention aufgrund von Überlegung leicht erreichbar.“42 Dies ändert sich erst mit dem Übergang der Routinen auf eine neue Generation von Akteuren. Institutionalisierung beginnt damit, dass eine neue Generation von Akteuren im Sinne der typisierten Handlungsroutinen oder Praktiken agiert. Für die neuen Akteure haben die Praktiken „den Charakter historischer und objektiver Wirklichkeit“.43 Zwar sind sie menschliche Produkte, auf die neuen Akteure wirken sie jedoch vergleichbar dem Determinismus von Naturgesetzlichkeiten. Sie erscheinen als historische „soziale Fakten“, denen man offensichtlich schon seit langem folgt und die man entsprechend nicht zu hinterfragen braucht, sondern ohne weiteres übernehmen kann.44 Insoweit die neue Generation von Akteuren den Praktiken nun unhinterfragt und wie selbstverständlich folgt – letztlich also institutionenkonform agiert –, bekräftigt dies deren objektiven Wirklichkeitsgehalt nicht nur unter ihnen selbst, sondern zugleich gegenüber den Begründern.45 Mit dem Übergang auf eine neue Generation gelten typisierte Handlungsmuster als institutionalisiert. Betrachtet man den Begriff der Generation nun weniger als Bezeichnung lebensalterbezogener Phasen, sondern vielmehr im Zusammenhang mit der Übertragung von Praktiken in andere soziale Räume und auf neue Akteure, so kennzeichnet die Phase der Institutionalisierung letztlich eine Verbreitung typisierter Handlungsmuster. Dies entspricht der Auffassung innerhalb des noch darzustellenden Neoinstitutionalismus, wonach die Diffusion von Handlungsmustern als das definierende Merkmal ihrer Institutionalisierung herangezogen wird.
41 42 43 44
45
„For highly institutionalized acts, it is sufficient for one person simply to tell another that this is how things are done.“ Zucker [1977] S. 726. Berger/Luckmann [1969] S. 62. Berger/Luckmann [1969] S. 63. Hier zeigt sich der Einfluss von Durkheim, der Glaubensvorstellungen und gesellschaftlich festgesetzte Verhaltensweisen als Institutionen bezeichnete (vgl. Durkheim [1961] S. 100). Er betonte, Institutionen wie Dinge zu betrachten, die zwar Menschenwerk seien, jedoch objektiv, gleichsam wie Gesetzmäßigkeiten der Natur wirkten (vgl. hierzu insbesondere Durkheim [1961] S. 115 ff.). Ihre Gegenständlichkeit wird damit auf das Welterleben der Begründer zurückreflektiert, wie Berger und Luckmann es ausdrücken. Vgl. Berger/Luckmann [1969] S. 63.
39
2.1 Grundlagen des organisationssoziologischen Institutionalismus
Typisierung von Akteuren
HABITUALISIERUNG
Übergang auf eine neue Generation
EXTERNALISIERUNG
INSTITUTIONALISIERUNG
Typisierung von Handlungsakten
OBJEKTIVIERUNG LEGITIMIERUNG
Abbildung 1:
Prozess der Institutionalisierung nach Berger und Luckmann (1969)
Der Prozess der Institutionalisierung sozialer Verhaltensweisen (vgl. Abb. 1) wird durch soziale Kontrollmechanismen und durch Legitimation gestützt, denn „jede Weitergabe von institutionellem Sinn braucht Kontrolle und Legitimation.“46 Unter sozialer Kontrolle verstehen Berger und Luckmann weniger den Einsatz direkter Kontroll- und Zwangsmaßnahmen durch einzelne Akteure, als vielmehr eine wechselseitige Handlungskontrolle, wie sie zwischen Akteuren im alltäglichen Umgang miteinander gewohnheitsmäßig vollzogen wird.47 Soziale Kontrolle zeigt sich damit weniger bewusst initiiert, denn in einer wechselseitigen Reaktion auf das Verhalten der Interaktionspartner. Insoweit sich die anderen Akteure im Sinne der gegebenen Institutionen verhalten, bleibt die soziale Kontrolle implizit – das Verhalten der anderen findet in den wechselseitigen Handlungen Bestätigung. Handeln Akteure jedoch nicht institutionenkonform, 46 47
Berger/Luckmann [1969] S. 75. Vgl. Berger/Luckmann [1969] S. 66 f. Dies entspricht dem Verständnis reflexiver Handlungssteuerung bei Giddens, vgl. hierzu Abschnitt 3.3.2.3.
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2 Institutioneller Wandel aus dem Blickwinkel der organisationswissenschaftlichen Forschung
werden die wechselseitigen Verhaltenserwartungen, wie sie im Zuge der Sozialisation erlernt wurden, verletzt. In diesem Fall zeigt sich die soziale Kontrolle entweder in bewusst gewählten Sanktionsmaßnahmen oder – in moderaterer Form – in einer Irritation oder im Unverständnis der Interaktionspartner.48 Insgesamt stützt die andauernde soziale Kontrolle im Zuge der Handlungsprozesse nicht nur den Prozess der Institutionalisierung, sondern ebenso die Aufrechterhaltung einmal erlangter Institutionalität.49 Weiterhin vollzieht sich die Institutionalisierung von Verhaltensmustern nicht ohne deren Legitimierung. Legitimierung bezieht sich auf den Prozess der Rechtfertigung sozialer Handlungsmuster, mit dem die Bedeutung neuer Praktiken normativ begründet und kognitiv – das heißt im Allerweltswissen der Akteure – verankert wird.50 Der Bedeutungsgehalt habitualisierter Handlungen und die mit ihnen verbundenen Wertvorstellungen müssen auch von anderen als ihren Begründern nachvollzogen werden: „[O]bjectification itself is insufficient: there must be some diffusion and legitimation of the objectified item within a set of relevant actors – a society or an organizational field – in order for the item to be institutionalized.“51
Während die Begründer in der Regel relativ unproblematisch ihr eigenes Erinnerungsvermögen mobilisieren können, um die Sinnhaftigkeit der Handlungsmuster zu rechtfertigen und damit deren Objektivitäts- oder Gewissheitscharakter aufrechtzuerhalten, verfügt eine neue Generation nicht über einen entsprechenden Erfahrungsschatz. Daher bedarf es der Legitimation von Institutionen. Die neuen Akteure benötigen ein Gerüst an sinnkonstitutierenden und normativen Interpretationen, das die gesellschaftliche Bedeutung der Institutionen erklärt und sie damit rechtfertigt. Ein Großteil des Alltagswissens über Wesen und Legitimation institutioneneigener Verhaltensvorschriften wird „im Lauf der Sozialisation als objektive Wahrheit gelernt und damit als subjektive Wirklichkeit internalisiert.“52 Die Vermittlung findet vornehmlich auf vortheoretischer Ebene statt, durch das Erlernen von Symbolen, Glaubensvorstellungen, Mythen, Sprichwörtern und 48 49
50 51 52
Vgl. Hasse/Krücken [2005] S. 13 ff. Anders beurteilt dies Zucker. Sie geht davon aus, dass eine direkte soziale Kontrolle und die Sanktionierung von Verhaltensweisen nicht notwendig seien, sofern die Praktiken im Alltagswissen der Akteure bereits einen objektiven Status einnehmen, der Institutionalisierungsprozess also bereits abgeschlossen ist. Vgl. Zucker [1977] S. 728 und Zucker [1983] S. 5. Vgl. Berger/Luckmann [1969] S. 66 und 98 ff. Jennings/Greenwood [2003] S. 196. Berger/Luckmann [1969] S. 71.
2.1 Grundlagen des organisationssoziologischen Institutionalismus
41
Lebensweisheiten im Zuge der Teilnahme an institutionalisierten Handlungsverläufen.53 Das solchermaßen vermittelte Alltagswissen ist an habitualisierte Handlungsabläufe gekoppelt und daher überwiegend handlungspraktisch bewusst verankert,54 was sich darin äußert, dass Akteure weitgehend unhinterfragt, gleichsam ohne intensiveres Durchdenken, „institutionenkonform“ agieren. Dies impliziert, dass dem einzelnen Akteur dieses Wissen im Moment des Handelns in der Regel nicht unmittelbar oder diskursiv bewusst sein muss; er reflektiert nicht notwendigerweise darüber, wie zu handeln ist. Berger und Luckmann vertreten damit allerdings nicht das Bild von Akteuren als „cultural dopes“,55 die sich nicht von ihren kulturellen Prägungen zu distanzieren vermögen: Sie sprechen davon, dass die Legitimationsgründe zwar nicht jederzeit vom einzelnen Akteur gewusst werden, dass sie jedoch generell wissbar sind.56 An dieser Stelle lässt sich nun zusammenführend festhalten: Als institutionalisiert gelten in Anlehnung an Berger und Luckmann soziale Phänomene, die sich im Alltagswissen der Akteure durch verschiedene Wesensmerkmale auszeichnen: Historizität, Objektivität, Diffusion und Legitimität (vgl. Abb. 2).57
53
54
55
56 57
Vgl. Berger/Luckmann [1969] S. 70. Das Wissen um Wesen und Sinnhaftigkeit einer Institution kann ebenfalls im Zuge von Prozessen systematischer Reflexion übermittelt werden, in denen Theorien die Legitimation für Institutionen liefern. Vgl. Berger/Luckmann [1969] S. 101 f., 112 ff. Da der Prozess der Theoretisierung in der gegenwärtigen institutionalistischen Forschung häufiger Betrachtung findet, wird er im Zusammenhang mit institutionellem Wandel wieder aufzugreifen sein. Vgl. Abschnitt 2.2.3.2. Die Bezeichnung „handlungspraktisch bewusst“ geht auf Giddens zurück, der sie zur Bezeichnung desjenigen Wissens verwendet, das seinem Wesen nach praktisch ist: „es gründet in dem Vermögen der Akteure, sich innerhalb der Routinen des gesellschaftlichen Lebens zurechtzufinden.“ Giddens [1988] S. 55. Siehe ausführlich Abschnitt 3.3.2.2 der vorliegenden Arbeit. Der Ausdruck „cultural dopes“ geht auf Garfinkel zurück, der diesen in Kritik am Parsons’schen Akteurverständnis wählt: „By „cultural dope“ I refer to the man-in-thesociologist’s-society who produces the stable features of the society by acting in compliance with preestablished and legitimate alternatives of action that the common culture provides.“ Garfinkel [1967] S. 68. Vgl. Berger/Luckmann [1969] S. 108. Es ist zu betonen, dass es sich hierbei keinesfalls um unabhängige Kriterien handelt. So weist Meyer beispielsweise auf den wechselseitigen Zusammenhang zwischen Legitimität und Diffusion hin: „Praktiken oder Formen verbreiten sich in Feldern, weil sie legitim sind, und erreichen Legitimität ab einem gewissen Grad der Verbreitung.“ Meyer [2004] S. 119. Zucker bezieht sich auf den Zusammenhang zwischen Objektivität und Diffusion: „social knowledge, once institutionalized, exists as a fact, as part of objective reality, and can be transmitted directly on that basis.“ Zucker [1977] S. 726. Greenwood, Suddaby und Hinings betonen den Zusammenhang zwischen Diffusion, Objektivität und Legitimität: „as innovations diffuse they become „objectified“, gaining social consensus concerning their pragmatic value…, and thus
42
2 Institutioneller Wandel aus dem Blickwinkel der organisationswissenschaftlichen Forschung
HISTORIZITÄT
LEGITIMITÄT
OBJEKTIVITÄT
DIFFUSION
Abbildung 2:
Wesensmerkmale von Institutionen in Anlehnung an Berger und Luckmann (1969)
Institutionen sind insoweit als historische, zeitlich und räumlich weitreichende soziale Phänomene mit objektivem Wirklichkeitsgehalt und sozial legitimierter Existenz zu verstehen. Der Gewissheitscharakter bleibt bestehen, sofern die Institutionen von den handelnden Individuen auch subjektiv als wirklich oder sinnhaft erlebt werden. Dies ist einerseits daran gebunden, dass die institutionalisierten Verhaltensweisen fortwährend praktiziert und durch soziale Kontrolle immer wieder Bestätigung finden. Andererseits müssen sich die Akteure die legitimierenden Gründe für die Institutionen jederzeit bewusst machen können. Es muss begründbar bleiben, warum sie so, das heißt im Sinne institutionalisierter Verhaltensweisen, und nicht anders handeln.58 Sie müssen letztlich über ein
58
they diffuse even further…“ Greenwood/Suddaby/Hinings [2002] S. 61. Siehe schließlich auch Tolbert/Zucker [1996] S. 182 f. Hier zeigt sich die Bedeutung von Sprache, auf die später ebenfalls noch einzugehen sein wird. Der objektive Charakter von Institutionen wird dadurch aufrechterhalten, dass die Gesellschaft über ein sprachliches Zeichensystem verfügt, das es ihr ermöglicht, den sozialen
2.1 Grundlagen des organisationssoziologischen Institutionalismus
43
geteiltes Allerweltswissen verfügen. Schließlich ist noch ein weiterer Aspekt von Bedeutung: Die Akteure müssen das subjektive Empfinden haben, durch ein institutionenkonformes Verhalten gesellschaftlich legitimierten Zwecken dienen zu können: „Das Fortwirken einer Institution gründet sich auf ihre gesellschaftliche Anerkennung als permanente Lösung eines permanenten Problems.“59
Erlischt diese Anerkennung oder erübrigt sich das Problem im Laufe der Geschichte einer Gesellschaft, so wird auch die Institution nicht von Dauer sein.60 2.1.2.3 Institutionalität und Institutionalitätsgrad Wie dargelegt, kennzeichnet Institutionalisierung den sozialen Prozess, in dem subjektiv sinnhafte soziale Phänomene den Charakter objektiver Faktizität erlangen. Als Ergebnis eines Institutionalisierungsprozesses steht ein institutionalisiertes soziales Phänomen, wobei das Augenmerk je nach theoretischem Rahmen beispielsweise auf sozialen Praktiken, auf sozialen Handlungsregeln oder auf gesellschaftlichen, normativen Verhaltenserwartungen liegen kann.61 Das Ergebnis einer Institutionalisierung ist dementsprechend ein soziales Phänomen, das sich durch die Eigenschaft der Institutionalität auszeichnet. Der Hinweis aus dem englischsprachigen Raum, dass „institutionalization is both a process and a property variable“62 erübrigt sich im deutschsprachigen Gebrauch, lässt sich hier doch zwischen Institutionalisierung als einem Prozess und Institutionalität als einer Eigenschaft, die das Ergebnis dieses Prozesses charakterisiert, unterscheiden. Wie bereits angesprochen, ist die Eigenschaft der Institutionalität sozialer
59 60
61 62
Konsens über die Legitimität von Institutionen („legitimating accounts“) zu bewahren. Vgl. Berger/Luckmann [1969] S. 39 ff.; Meyer [2004] S. 130 ff. sowie Abschnitt 2.2.3.2 der vorliegenden Arbeit. Berger/Luckmann [1969] S. 74. Siehe hierzu auch Tolbert/Zucker [1996] S. 179; Suchman [1995b] S. 42. Die hier vorgelegte Definition des Institutionenbegriffs leitet dessen Bedeutungsgehalt ausschließlich aus der Theorie von Berger und Luckmann her. In der Literatur finden sich weitere Versuche, den Institutionenbegriff einzufangen. Zu den bekanntesten zählt das Säulenkonzept von Scott, mit dem er einen regulierenden, einen normativen und einen kognitiven Aspekt von Institutionen unterscheidet (vgl. Scott [2001] S. 51 ff.). Da sich sein Konzept jedoch auf verschiedene, inkommensurable Forschungsstränge stützt, wurde hier der Berger/Luckmann’schen Definition der Vorzug gegeben. Wie zu zeigen sein wird, sind dies im Sinne der Strukturationstheorie soziale Praktiken. Zucker [1977] S. 728; Zucker [1983] S. 2.
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Phänomene daran gebunden, dass diese in den sozialen Handlungsprozessen andauernde Bestätigung findet. Institutionalität setzt ein beständiges institutionenkonformes Verhalten einer Vielzahl von Akteuren voraus.63 Die für Institutionen konstitutive Bedeutung sozialer Handlungsprozesse impliziert allerdings, dass die Institutionalität sozialer Phänomene auch hinterfragt werden und ins Wanken geraten kann. Akteure können sowohl die Sinnhaftigkeit von Institutionen als auch die mit ihnen verbundenen normativen Erwartungen anzweifeln und sich anderweitig verhalten. Der Institutionalitätscharakter sozialer Phänomene kann sich dementsprechend auch verlieren. Insoweit Institutionen in sozialen Interaktionsprozessen hervorgebracht und verändert werden, sind unterschiedliche Grade an Institutionalität denkbar.64 Zumindest als idealtypisches Extrem vorstellbar wäre eine totale Institutionalität jeglicher Handlungsgrundlagen.65 In ihren Interaktionen würden Akteure dann gewissermaßen „institutionell programmiert“ handeln; ein Handeln außerhalb von Institutionen wäre nicht vorgesehen. Die Vorstellung totaler Institutionalität, in der jegliche in Interaktionssituationen auftretenden Probleme gesellschaftlicher Natur sind, für die durchweg sozial konstruierte Problemlösungen in Form von Institutionen vorherrschen, liegt indes fern jeder Praxis. Jede Interaktionssituation wartet zugleich mit Problemstellungen auf, für die noch keine gesellschaftlichen, routinisierten Lösungsansätze existieren. Darüber hinaus gelten menschliche Akteure nicht als programmierte sondern als handlungsmächtige Wesen, die generell über die Möglichkeit verfügen, – allen zu erwartenden Sanktionsmaßnahmen zum Trotz – entgegen institutionalisierter Verhaltenserwartungen zu handeln.66 Allerdings mag die Hürde nicht institutionenkonformen Verhaltens als unterschiedlich hoch empfunden werden, was ebenfalls mit dem Ausmaß an Institutionalität zusammenhängt. Worin äußert sich nun das Ausmaß an Institutionalität eines sozialen Phänomens? Anhand der vorangehend definierten institutionenbestimmenden Merkmale lässt sich vergleichsweise einfach konstatieren: im Ausmaß an Historizität, Objektivität, Legitimität und Diffusion. Mit Blick auf die Historizität lässt sich argumentieren, dass Institutionen mit der Dauer ihrer Existenz zunehmend seltener bewusst wahrgenommen, denn vielmehr unhinterfragt vollzogen werden. Ein solcher handlungspraktischer Umgang mit Institutionen lässt sich zugleich hinsichtlich der Diffusion annehmen: Institutionen, die in vielfältigen sozialen Systemen oder in einem räumlich weitgreifenden sozialen System zur 63 64 65 66
Vgl. DiMaggio [1988] S. 13. Vgl. Tolbert/Zucker [1996] S. 181. Vgl. Berger/Luckmann [1969] S. 84 f.; Jepperson [1991] S. 151. Vgl. Giddens [1984] S. 5 ff.
2.1 Grundlagen des organisationssoziologischen Institutionalismus
45
Anwendung gelangen, mögen aufgrund ihrer Verbreitung eher wie selbstverständlich im Handeln verfolgt werden. Ausgeprägt historische und verbreitete Institutionen werden also eher objektiven Fakten gleich behandelt und erreichen eine Form von praktischer Legitimität, die sich darauf gründet, dass sie bereits seit geraumer Zeit von einer Vielzahl von Akteuren unhinterfragt praktiziert werden. Dass die Institutionalität eines sozialen Phänomens mit dem Ausmaß an Historizität, Diffusion, Objektivität und Legitimität variiert, wird im organisationssoziologischen Institutionalismus verschiedenartig begründet. Eine verbreitete Begründung verweist auf die Zentralität von Institutionen im Sinne der Vernetztheit der mit ihnen übermittelten Sinngehalte: Je vernetzter eine Institution, umso zentraler ist ihre Position im Netzwerk an Sinngehalten oder Verhaltenserwartungen, die die Institution inhaltlich beschreiben.67 Der Rahmen an „unifying accounts“68, der die Institution stützt und legitimiert, speist sich insoweit aus Sinngehalten und Verhaltenserwartungen, die auch anderen Institutionen zugerechnet werden.69 Vielfältig vernetzte und in dieser Hinsicht zentrale Institutionen gelten als in hohem Maße institutionalisiert.70 Jepperson begründet dies unter anderem damit, dass das Ausmaß an Vernetztheit die Neigung der Akteure beeinflusst, eine Institution in Frage zu stellen oder gar sich gegen sie aufzulehnen. Je vernetzter eine Institution, umso weniger wahrscheinlich ist sie durch soziale Interventionen gefährdet – die Institution gilt als interventionsresistenter, was letztlich ihren hohe Institutionalität dauerhaft zu sichern vermag: „An institution is highly institutionalized if it presents a near insuperable collective action threshold, a formidable collective action problem to be confronted before affording intervention in and thwarting of reproductive processes.“71
Ein hohes Maß an Institutionalität wird andererseits mit der Internalisierung der mit einer Institution verbundenen Sinngehalte oder Verhaltenserwartungen begründet.72 Stark institutionalisierte Verhaltenserwartungen gleichen „taken-forgranted mental assumptions or modes of procedure that actors normally apply 67 68 69 70
71 72
Vgl. DiMaggio [1988] S. 13. Jepperson [1991] S. 152. Berger/Luckmann sprechen denn auch davon, dass Institutionen dazu tendieren, über ihre Sinngehalte zusammenzuhängen. Vgl. Berger/Luckmann [1969] S. 68. In diesem Zusammenhang verweist Zucker darauf, dass die Legitimität einer zentralen Institution auf die mit ihr vernetzten Institutionen übergreifen kann („contagion of legitimacy“). Vgl. Zucker [1988b] S. 38 ff. Jepperson [1991] S. 151. Vgl. Berger/Luckmann [1969] S. 139 ff.
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without being aware that they are applying them.“73 Je weniger bewusst sich die Akteure ihres institutionenkonformen Verhaltens sind, als umso institutionalisierter mag die entsprechende Institution gelten. Inwieweit sich die Akteure im Moment einer Interaktion bewusst machen, dass sie gerade in institutionalisierter Weise agieren, ist teilweise dadurch geprägt, wie stark sie die mit den Institutionen verbundenen Verhaltenserwartungen verinnerlicht haben. Haben sie die institutionalisierten Verhaltenserwartungen in hohem Maße internalisiert, ist es wahrscheinlich, dass sie diese in ihrer Selbstwahrnehmung nicht mehr als externe Erwartungen, sondern als vermeintlich eigene Erwartungen an sich selbst interpretieren.74 Im Ergebnis bleibt festzuhalten: Das Ausmaß an Institutionalität sozialer Phänomene ist das Ergebnis sozialer Handlungsprozesse, das sich anhand der Ausprägungen der institutionenbestimmenden Merkmale wie Historizität, Diffusion, Objektivität und Legitimität ermessen lässt. 2.1.3 Entwicklungsgeschichte des organisationssoziologischen Institutionalismus Die Entwicklungsgeschichte des Institutionalismus in der Soziologie lässt sich bis zu den begründenden Ansätzen des Fachgebiets zurückverfolgen. So heißt es zuweilen, der Institutionalismus sei so alt wie die Soziologie selbst.75 Bereits Emile Durkheim – einem der Begründer der Soziologie – war daran gelegen, dem Kernproblem der sozialen Ordnung auf den Grund zu gehen, und verwies auf die diesbezügliche Bedeutung gesellschaftlicher Tatbestände, die wie naturgemäße Fakten das soziale Handeln dominieren und Richtung Ordnung steuern.76 Später beschäftigte sich auch Talcott Parsons mit den Ursachen 73 74
75 76
Sewell [1992] S. 22. Ein Mediziner beispielsweise, der sich mit den berufständischen Normen seiner Tätigkeit in hohem Maße identifiziert und in ihrem Sinne (also norm- oder institutionengerecht) agiert, ohne dies deswegen zu tun, weil ihm andernfalls Sanktionen drohen würden, wird diese kaum als Anforderungen empfinden, die ihm offen von außen zugetragen werden. Aus Sicht des externen Beobachters lässt sich das Handeln des Mediziners jedoch sehr wohl auf institutionalisierte rollenbezogene Verhaltenserwartungen zurückführen (vgl. Berger/Luckmann [1969] S. 82 f. zur Rollenbezogenheit des Alltagswissens). Indem Kollegen oder Patienten sein Verhalten nicht monieren, stützen sie seine internalisierten Handlungsregeln (vgl. Schimank [2002] S. 49). In diesem Zusammenhang formulieren DiMaggio und Powell, dass Institutionen die Handlungspräferenzen von Akteuren beeinflussen: „Institutions…establish the very criteria by which people discover their preferences.“ DiMaggio/Powell [1991] S. 11. Vgl. DiMaggio/Powell [1991] S. 1. Er definierte die Soziologie als die Wissenschaft von den Institutionen, vgl. Durkheim [1961] S. 100.
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sozialer Ordnung und baute seinen Lösungsansatz auf die handlungsdeterminierende Wirkung internalisierter gesellschaftlicher Normen- und Regelsysteme.77 Beide suchten die Frage, wie angesichts individualnutzenorientierter Handlungen überhaupt stabile gesellschaftliche Verhältnisse gegeben sein können, unter Rückgriff auf Institutionen zu klären. Im Folgenden steht indes nicht der Institutionalismus innerhalb der Soziologie in Gänze zur Diskussion, geht es doch vielmehr darum, allein die Geschichte des Institutionalismus innerhalb des Zweigs der Organisationssoziologie nachzuzeichnen. Deren Beginn lässt sich in Anlehnung an DiMaggio und Powell in den Arbeiten von Philip Selznick erkennen, der in den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts als einer der ersten Sozialforscher auf die Bedeutung von Institutionen für das Handeln innerhalb von Unternehmungen verwiesen hat. Nach Selznick gewann die Entwicklung des organisationssoziologischen Institutionalismus erst wieder in den siebziger Jahren Auftrieb, namentlich mit den Aufsätzen von Meyer und Rowan (1977) und von Zucker (1977), die sich mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen der Einbettung von Organisationen in gesellschaftliche Kontexte aus Institutionen widmeten. In ihren Arbeiten spiegelt sich wider, wozu Berger und Luckmann wesentlich beigetragen haben und was mitunter als sogenannte „kognitive Wende“ charakterisiert wird:78 „a movement away from an early focus on shared norms and values as, for example, in the work of Durkheim and Parsons, to an emphasis on shared knowledge and belief systems.“79 Während die Wirkung von Institutionen auf das Handeln durch Selznick noch vorwiegend normativ begründet wurde, indem – anlehnend an Parsons – auf die durch Sanktionen gestützte, reflexiv bewusste Orientierung an gesellschaftlichen Normensystemen verwiesen wurde, wird in den nach der kognitiven Wende erschienenen Arbeiten auf die kognitive Verankerung des institutionengerechten Agierens abgestellt. Nun wird argumentiert, dass Institutionen weniger über gesellschaftliche Normen und explizite Regelsysteme, denn über ein gemeinschaftliches Wissen um Symbolsysteme, Interpretationsmuster und Wert77
78 79
Talcott Parsons geht in seinen Arbeiten der stabilisierenden, ordnungschaffenden Funktion sozialer Wertorientierungen nach. Soziale Ordnung beruht für ihn auf der Internalisierung gesellschaftlich vorgegebener Normen und Werthaltungen. Die internalisierten Werte und Normen bilden die zentrale Handlungsmotivation der Akteure und wirken damit unmittelbar handlungsbestimmend. Institutionalisierung spiegelt sich in der Internalisierung gegebener gesellschaftlicher Wertorientierungen wider: ein Gesellschaftssystem gilt in dem Maße als institutionalisiert, in dem die Systemmitglieder ihre Handlungen „implizit“ an den gesellschaftlichen Normen und Werthaltungen ausrichten. Vgl. beispielsweise Parsons [1951] S. 36 ff.; aber auch Scott [2001] S. 15 f. und 54 ff. sowie zu den Werken Talcott Parsons’ im Überblick Münch [2003] S. 26 ff. Vgl. DiMaggio/Powell [1991] S. 22; Knorr Cetina [1981] S. 2 ff. Scott [2001] S. 39.
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orientierungen vermittelt werden. Dabei wird angenommen, dass die Ausrichtung des sozialen Handelns an den Institutionen nicht aufgrund einer deliberativen Entscheidung zu einem „commitment“80 stattfindet, um Sanktionierungen zu vermeiden, sondern überwiegend selbstverständlich und handlungspraktisch bewusst erfolgt – eben aufgrund der durch die Sozialisierung gewonnenen kognitiven Orientierungen. Die Hinwendung zu den kognitiven Grundlagen sozialen Handelns zeigt sich in den institutionalistischen Arbeiten unter anderem in einer (unterschiedlich weit gehenden) Bezugnahme auf die Berger/Luckmann’schen Überlegungen, die Institutionen – wie bereits ausgeführt wurde – als kognitiv verankert ansehen: in einem gesellschaftlichen Wissensvorrat oder Alltagswissen, an dem jeder sozialisierte Akteur partizipiert und durch sein Handeln beiträgt.81 Im Weiteren soll die Entwicklungsgeschichte des organisationssoziologischen Institutionalismus anhand von vier einflussreichen Forschungsarbeiten nachgezeichnet werden. Dazu wird ein Aufbau gewählt, der auf einer von DiMaggio und Powell eingeführten Abgrenzung zwischen einem alten und einem neuen Institutionalismus fußt.82 Den Anfangspunkt bilden die klassischen institutionalistischen Arbeiten von Selznick; im Anschluss daran sind die Arbeiten von Meyer und Rowan (1977), von Zucker (1977) und von DiMaggio und Powell (1983) vorzustellen, die allesamt nach der kognitiven Wende entstanden sind. Sie werden von DiMaggio und Powell zu den begründenden Artikeln eines neuen Institutionalismus in der Organisationsforschung gezählt, für den sie die Bezeichnung „Neoinstitutionalismus“ propagiert haben, die sich zunehmend durchzusetzen scheint. Ihre scharfe Grenzziehung zwischen altem und neuem Institutionalismus ist indes nicht ohne Kritik geblieben. Auf diese wird abschließend einzugehen sein.
80 81
82
DiMaggio/Powell [1991] S. 13. Was hier als kognitiv bezeichnet wird, mag man mit der sozialpsychologischen Strömung des Kognitivismus in Verbindung bringen (vgl. hierzu den Überblicksartikel von Strati/Nicolini [1997]). Davon weicht allerdings das Begriffsverständnis innerhalb des organisationssoziologischen Institutionalismus ab. Hier geht es nicht um individuelle Wissensbestände, sondern um einen sozial konstruierten, kollektiven Wissensbestand – das Alltagswissen –, dessen Wirkung auf das Handeln sich gerade in einer weniger bewusst wahrgenommenen, objektiven Weise äußert. Im Vordergrund steht nicht das Individuum, sondern der Akteur als soziales Wesen. Mit der Frage, inwieweit der Institutionalismus (beziehungsweise, allgemeiner, die „cognitive sociology“) allerdings von einer Beschäftigung mit der „cognitive psychology“ profitieren könnte, setzt sich DiMaggio [1997] auseinander. Vgl. DiMaggio/Powell [1991] S. 11 ff.
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2.1.3.1 Klassischer Institutionalismus DiMaggio und Powell sehen in Selznick einen wichtigen Begründer der institutionalistischen Organisationsforschung.83 Als einer der ersten Organisationswissenschaftler setzt er sich mit der sozialen Einbettung von Organisationen auseinander. In seiner im Jahre 1949 erschienenen Studie „TVA and the Grass Roots“ legt Selznick die Entwicklungsgeschichte der Tennessee Valley Authority (TVA) dar, einer Organisation in staatlicher Trägerschaft, die sich im Wesentlichen der Stromerzeugung widmete.84 Darin schildert er, wie im Zuge der Interaktionen zwischen organisationsinternen und -externen Akteuren allmählich gemeinsame Wertvorstellungen und Interessen entstehen, die die strategische Ausrichtung von TVA bestimmen: „The TVA’s mission and means were forged out of the values and interests of the various parties and were subsequently legitimated, in retrospective fashion, as a rational means of organizing rather than as a normative/political compromise.“85
Selznick zeichnet den mikrosozialen politischen Prozess nach, wie organisatorische Regelungen, die zunächst aufgrund ihrer instrumentellen Bedeutung gewählt wurden, allmächlich einen Wert an sich erlangen. Sie erlangen eine Legitimität, die nicht (allein) auf ihrer Funktion als aufgabenlogisches Instrument zur Erreichung von Organisationszielen fußt, sondern darauf, dass die Organisationsmitglieder gemeinschaftlich von deren Sinnhaftigkeit überzeugt sind. Selznick betrachtet damit im Grundsatz einen Prozess der sozialen Konstruktion gemeinschaftlicher Wertorientierungen und Anschauungsmuster – kurzum, einen Prozess der Institutionalisierung organisatorischer Regelungen. Während Selznick in seiner TVA-Studie Institutionalisierungsprozesse zunächst noch aus einer deskriptiven Warte heraus betrachtet, richtet sich sein Interesse in späteren Arbeiten auf die strategisch bewusste Gestaltbarkeit solcher Prozesse.86 In seiner Arbeit „Leadership in Administration“ aus dem Jahr 1957 führt er aus: „The executive becomes a statesman as he makes the transition from administrative management to institutional leadership.“87
83 84 85 86 87
Vgl. DiMaggio/Powell [1991] S. 12. Vgl. Selznick [1949]. Jennings/Greenwood [2003] S. 197. Vgl. Scott [1987] S. 494 f. Selznick [1957] S. 4.
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So betrachtet er es als wesentlichen Bestandteil effizienten Führungsverhaltens, den Mitarbeitern die Sinnhaftigkeit ihrer Tätigkeiten zu vermitteln. Sinnstiftung setzt die Entwicklung eines geteilten Wertesystems voraus, das Selznick als die Sozialstruktur einer Organisation bezeichnet. Institutionalisierung stellt die Vermittlung entsprechender Werte dar: „[T]o institutionalize is to infuse with value beyond the technical requirements of the task at hand.“88
Dem Manager wird als „agent of institutionalization“89 die führende Rolle in der Gestaltung der organisatorischen Sozialstruktur zugesprochen. 2.1.3.2 Neoinstitutionalismus Mit einem mittlerweile einflussreichen Herausgeberwerk – „The New Institutionalism in Organizational Analysis“ – wollen Powell und DiMaggio im Jahre 1991 eine neue Strömung des Institutionalismus in der Organisationssoziologie begründen, die sie als den neuen oder Neoinstitutionalismus bezeichnen.90 Den Ursprung dieser Strömung setzen sie rückblickend auf das Erscheinen der drei – von ihnen als Meilensteine bezeichneten – Aufsätze von Zucker (1977), von Meyer und Rowan (1977) sowie von DiMaggio und Powell (1983). In ihrem einleitenden Beitrag grenzen sie den Neoinstitutionalismus von verschiedenen Richtungen innerhalb der Organisationsforschung ab, insbesondere von der Institutionenökonomie, von der Kontingenztheorie und den strukturfunktionalistischen Konzepten Talcott Parsons’ sowie von den Arbeiten Philip Selznicks, den sie als Vertreter eines alten Institutionalismus kennzeichnen. Die Merkmale eines neuen Institutionalismus skizzieren sie demgegenüber wie folgt: „The new institutionalism in organization theory and sociology comprises a rejection of rational-actor models, an interest in institutions as independent variables, a turn toward cognitive and cultural explanations, and an interest in properties of supraindividual units of analysis that cannot be reduced to aggregations or direct consequences of indivuals’ attributes or motives.“91
88 89 90 91
Selznick [1957] S. 17. Selznick [1957] S. 27. Vgl. Powell/DiMaggio [1991]. DiMaggio/Powell [1991] S. 8.
2.1 Grundlagen des organisationssoziologischen Institutionalismus
51
Mit dieser Aussage unterstreichen DiMaggio und Powell im Wesentlichen, dass sie einerseits den neuen Institutionalismus in Abgrenzung zur institutionenökonomischen Erforschung von Organisationen verstanden wissen wollen, und dass sie andererseits eine Abkehr von einem klassischen Institutionalismus, wie ihn Selznick betrieben hat, propagieren. Dies gilt es nachfolgend genauer zu betrachten. Die Abgrenzung von der Institutionenökonomie zeigt sich im Wesentlichen darin, dass Institutionen im Sinne des Neoinstitutionalismus aus einer kognitivkulturellen Perspektive heraus verstanden werden sollen. Institutionen gelten als sozial konstruierte Gebilde, die sich einer voluntaristischen und zweckgerichteten Gestaltung durch einzelne Akteure entziehen. Der Blick richtet sich vielmehr darauf, dass Akteure eingebettet in Kontexte aus gegebenen Institutionen handeln, die ihre Präferenzstrukturen und Handlungswahlen beeinflussen. In der Institutionenökonomie herrscht demgegenüber ein individualistisches Verständnis von Institutionen vor, wobei diese als korporative Gebilde begriffen werden, die im Ergebnis absichtsvollen Gestaltungshandelns entstehen.92 Dass das Gestaltungshandeln jedoch von einem nicht unbedingt diskursiv verfügbaren Alltagswissen um Institutionen geprägt wird, findet mit der institutionenökonomischen „atomized, undersocialized conception of human action“93 keine Berücksichtigung.94 Mit dem neuen organisationssoziologischen Institutionalismus soll daher der kognitiven Wende gefolgt werden und die weniger bewusst ablaufende Wirkung von Institutionen auf das Handeln in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken. Wie DiMaggio in einem eigenen Beitrag später betont, liegt der Schwerpunkt „on the taken-for-granted nature of organizational forms and practices, on precisely those aspects of organization that are unaffected by the particular interests of politically conceived actors.“95 Dies ist auch einer der Gründe, warum DiMaggio und Powell den Neoinstitutionalismus in Abgrenzung zu der institutionalistischen Forschung Selznicks begründen wollen: Selznick befasst sich nicht mit den kognitiv verankerten, gesellschaftlich geprägten und handlungspraktisch bewussten Motiven sozialen Handelns, die sie jedoch als eine der wesentlichen Ursachen sozialer Ähnlichkei-
92 93 94
95
Vgl. zum Verständnis des Institutionenbegriffs in der Institutionenökonomie Scott [1994b] S. 68 ff. Granovetter [1985] S. 483. Ein weiterer Aspekt der Abgrenzung von der Institutionenökonomie wird darin gesehen, dass jene eine „logic of instrumentality“ verfolgen, während im organisationssoziologischen Institutionalismus eine „logic of appropriateness“ vorherrscht. Vgl. Schneiberg/Clemens [2006] S. 201. Siehe auch Czarniawska/Sevón [1996] S. 3. DiMaggio [1988] S. 4.
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ten (oder allgemein: sozialer Ordnung)96 ausmachen.97 Vor diesem Hintergrund distanzieren sie sich davon, Institutionen als rational gestaltbare Entitäten anzusehen. Zwar hat dies auch Selznick nicht in einer radikal individualistischen Weise vertreten. Doch seine späteren Überlegungen zur Gestaltbarkeit sozialer Strukturen durch das Management lassen aus ihrer Sicht zumindest Anzeichen einer individualistischen Argumentation erkennen. Darüber hinaus soll sich der Neoinstitutionalismus in einer weiteren Hinsicht von den Selznick’schen Arbeiten unterscheiden: Institutionen sollen nicht mehr die abhängigen, sondern die unabhängigen Variablen stellen. Gegenüber Selznick, der die Entstehung von Institutionen betrachtet und Institutionen damit als die abhängigen Variablen untersucht hat, sehen DiMaggio und Powell den Schwerpunkt des Neoinstitutionalismus in einer Analyse der Wirkung bestehender Institutionen und konzipieren diese insoweit als die unabhängigen Variablen. So gehen sie davon aus, dass Organisationen und Organisationsstrukturen in gesellschaftliche Strukturen eingebettet sind, die auf das Geschehen innerhalb der Organisationen wirken und sich keinesfalls durch einzelne Personen beeinflussen lassen.98 Die gesellschaftlichen Strukturen in Form von etablierten Regeln, Normen und Prozeduren sind gegeben und wirken auf und durch das Handeln aller Personen innerhalb einer Organisation.99 Die vorherrschenden gesellschaftlichen Vorstellungen über angemessenes und rationales Handeln prägen letztlich die Weltsicht der Akteure und damit ihr Handeln, ohne dass diese darauf Einfluss nehmen könnten. Einen weiteren Unterschied zwischen klassischem und Neoinstitutionalismus wollen DiMaggio und Powell schließlich an der vorrangigen Untersuchungsebene festmachen. Im Gegensatz zu Selznicks Vorgehen sollen im Neoinstitutionalismus nicht mehr der lokale Kontext einer einzelnen, ausgewählten Organisation, sondern die Gesellschaft oder Teilbereiche der Gesellschaft (wie das noch zu erläuternde organisatorische Feld) den Untersuchungsrahmen bilden. Wie sich später allerdings noch zeigen wird, treffen diese von DiMaggio/Powell formulierten charakteristischen Aspekte eines Neoinstitutionalismus nicht auf jede der von ihnen als Meilensteine definierten Arbeiten zu.
96 97 98 99
Vgl. zum Problem sozialer Ordnung Abschnitt 3.4.1. Was letztlich nicht verwundern mag, forschte Selznick doch, bevor jene Werke erschienen, die eine Hinwendung zu den kognitiven Grundlagen sozialen Handelns propagierten. Vgl. Türk [2004] Sp. 923. Vgl. Powell [1995] S. 239; Lounsbury [2003] S. 210.
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a) Meyer/Rowan (1977) Die jüngere institutionalistische Forschung nimmt ihren Anfang in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Innerhalb einer Forschungsgruppe unter der Leitung des Stanforder Organisationssoziologen John Meyer wächst die Kritik an den vorherrschenden Erklärungsmodellen des Handelns von und in Organisationen.100 Sie erkennen, dass mit deren Fokus auf explizite, formale Regeln nicht das einzige Regulativ des Handelns in Organisationen angesprochen wird.101 Ebensowenig scheint die Struktur von Organisationen allein aufgabentechnologischen Erfordernissen zu genügen, wie es von der damals recht prominenten Kontingenztheorie vertreten wird. Vielmehr spiegelt sie zugleich die eher impliziten, symbolischen Erwartungen relevanter Umweltbereiche wider. Erste Ergebnisse aus der Forschungsgruppe legt John Meyer gemeinsam mit Brian Rowan im 1977 veröffentlichten Aufsatz „Institutionalized Organizations: Formal Structure as Myth and Ceremony“ dar. Dessen Grundidee ist es, dass in modernen Industriegesellschaften generelle Vorstellungen über rationale organisatorische Gestaltungsformen vorherrschen. Diese lassen sich als Rationalitätsmythen auffassen: Die Vorteilhaftigkeit organisatorischer Regelungen gründet sich nicht auf analytisch gewonnenen Erkenntnissen, sondern allein darauf, dass sie sich als allgemeine Normen etabliert haben und institutionalisiert sind: „In modern societies, the elements of rationalized formal structure are deeply ingrained in, and reflect, widespread understandings of social reality. Many of the positions, policies, programs, and procedures of modern organizations are enforced by public opinion, by the views of important constituents, by knowledge legitimated through the educational system, by social prestige, by the laws, and by the definitions of negligence and prudence used by the courts. Such elements of formal structure are manifestations of powerful institutional rules which function as highly rationalized myths that are binding on particular organizations.“102
Die Rationalitätsmythen stellen institutionalisierte Erwartungen an die einzelne Organisation dar. Als solche üben sie Druck auf die Organisationen aus: „organizations must incorporate them to avoid illegitimacy“.103 Die Umsetzung institutionalisierter Regeln verschafft den Organisationen Legitimität in den Augen relevanter Anspruchsgruppen. Mit einer institutionenkonformen – also einer an den gesellschaftlichen Erwartungen orientierten – Gestaltung der internen Struk100 101 102 103
Vgl. Meyer/Scott [1992] S. 7 ff. Vgl. Hasse/Krücken [2005] S. 18. Meyer/Rowan [1977] S. 343. Meyer/Rowan [1977] S. 345.
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tur weist sich eine Organisation als kompetentes Mitglied der Gesellschaft aus und reduziert die Gefahr von Kritik an den eigenen Managementpraktiken.104 Sie rechtfertigt ihre Managementpraxis unter Berufung auf gesellschaftlich anerkannte Konzepte, womit sie – so die Argumentation – den Ressourcenzufluss und damit ihre Überlebensfähigkeit sicherstellen kann. Meyer und Rowan gehen im Weiteren davon aus, dass die institutionalisierten Erwartungen nicht deckungsgleich mit den technischen Effizienzerfordernissen sind, die sich aufgrund spezifischer Produktionsverhältnisse stellen. Vielmehr sehen sich Organisationen mehr oder weniger einem potentiellen Konflikt zwischen aufgabenlogischen oder technischen Effizienzerfordernissen einerseits und symbolischen, institutionalisierten Erwartungen andererseits ausgesetzt. Meyer und Rowan begründen dies damit, dass Organisationen in unterschiedlichem Ausmaß in institutionalisierten Kontexten und in technischen Kontexten eingebunden sind, die sich jeweils durch eigene Anforderungen auszeichnen.105 So bewegen sich Schulen oder öffentliche Verwaltungen überwiegend in institutionalisierten Kontexten und unterliegen damit in geringerem Maße technisch begründeten Effizienzerfordernissen, als dies bei marktwirtschaftlichen Unternehmungen der Fall ist, die sich am Markt bewähren müssen. Dem Konflikt können Organisationen mit einer Strategie des Entkoppelns begegnen, indem sie sich faktisch an den technischen Erfordernissen ausrichten und den institutionalisierten Erwartungen lediglich in ritueller Weise Genüge leisten. So werden beispielsweise anerkannte Zertifizierungen vorgenommen106 oder es wird die Einführung innovativer Managementkonzepte kommuniziert, ohne dass sich diese Maßnahmen in entsprechenden Veränderungen der tatsächlichen Arbeitsabläufe widerspiegeln. Die eigentlichen internen Prozesse und Managementpraktiken werden von der nach außen kommunizierten formalen Struktur abgeschirmt. Mit ihrer Grundidee, dass Organisationen in Kontexten aus gegebenen Institutionen agieren und dementsprechend institutionalisierten Erwartungen ausgesetzt sind, haben Meyer und Rowan die bis dato vorherrschende Organisationsforschung um einen wesentlichen Aspekt erweitert: Sie beziehen soziokulturell bedingte Erklärungsfaktoren für das soziale Gebilde Organisation mit ein.107 Jedoch ist es fraglich, ob sie dem Anspruch gerecht werden können, eine Alternative zu voluntaristischen Erklärungsmodellen zu bieten.108 Es ist augenschein104 105 106 107 108
Vgl. Meyer/Rowan [1977] S. 349. Vgl. Meyer/Rowan [1977] S. 353, die die Bezeichnungen „relational and institutionalized contexts“ wählen. Vgl. zur ISO 9000-Zertifizierung Walgenbach [2000], Walgenbach/Beck [2002], [2003] sowie Beck/Walgenbach [2005]. Vgl. Tolbert/Zucker [1996] S. 178. Vgl. zum Folgenden auch Türk [1997] S. 132 f.
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lich, dass sie die (soziale) Struktur einer Organisation weiterhin als umfassend strategisch gestaltbares Instrument ansehen. So unterliegt es dem Nutzenkalkül entscheidungsautonomer Akteure, wie auf die institutionalisierten Erwartungen reagiert wird – sei es durch eine tatsächliche Ausrichtung der unternehmerischen Prozesse oder durch den bloßen Aufbau von Rationalitätsfassaden. Damit wird letztlich der Kern des Institutionenverständnisses unterminiert, wonach Institutionen gerade nicht strategisch verfügbar, also durch einzelne Akteure beeinflussbar sind, sondern gesellschaftlich gewachsene Anschauungsmuster darstellen, die über das routinisierte, praktisch bewusste Handeln nicht einzelner, sondern aller Akteure in einer Organisation wirksam werden. Und so stellen auch Tolbert und Zucker fest, dass Meyer und Rowan trotz ihres anfänglichen Verweises auf die Phänomenologie Berger/Luckmanns, wonach Institutionalität auf einer allgemeinen „taken-for-grantedness“ der sozialen Phänomene gründet, diese nicht konsequent in ihrem Konzept berücksichtigen: „This creates an inherent ambiguity in their underlying phenomenological argument, because the definition of „institutionalized“ itself contradicts the claim that institutional structures are apt to be decoupled from behavior.“109
Im Sinne Berger/Luckmanns wirken die institutionalisierten Erwartungen über die Anschauungsmuster der Akteure und prägen ihre Gestaltungsentscheidungen, und zwar weniger in einer vollumfänglich, denn in einer handlungspraktisch bewussten Weise. Ein strategischer Umgang mit ihnen setzt hingegen ersteres voraus, womit sie dann jedoch nicht mehr das Institutionalitätsmerkmal der „taken-for-grantedness“ auszeichnet. Darüber hinaus müsste eine konsequente Orientierung an Berger/Luckmann berücksichtigen, dass es nicht allein die Entscheidungsträger einer Organisation sind, die institutionalisierte Regeln mehr oder weniger internalisiert haben und entsprechend unhinterfragt in ihren alltäglichen Handlungen reproduzieren. Die (soziale) Struktur einer Organisation fußt vielmehr auf den Handlungsroutinen aller Mitglieder der Organisation, was der Idee ihrer zweckrationalen Gestaltung durch einige wenige entgegenstehen mag. Insgesamt halten Meyer und Rowan also an einem zweckrationalen Organisationsmodell fest, dem eine strenge Unterscheidung zwischen System und Umwelt sowie die Annahme einer strategischen Verfügbarkeit gesellschaftlicher Schemata zugrunde liegt. Abgesehen von dieser Kritik zählt der Aufsatz von Meyer und Rowan mittlerweile zu den Klassikern des Institutionalismus, hat er doch zahlreiche empirische Arbeiten angeregt sowie verschiedene Kerngedanken formuliert, die später 109
Tolbert/Zucker [1996] S. 179.
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von anderen Autoren weiterentwickelt werden. Dazu zählt der Gedanke der Entkopplung110 ebenso wie das mit der Gegenüberstellung von technischer und institutionalisierter Umwelt mit jeweils unterschiedlichen Anforderungen an die Organisation vorgelegte Umweltkonzept, das später beispielsweise von Scott und Meyer tiefergehend betrachtet wird.111 Als sehr einflussreich erwies sich zudem ihre Idee der Isomorphie als Strukturgleichheit von Organisations- und institutionalisierten Strukturen.112 Sie wird zunächst durch DiMaggio und Powell in ihrem 1983 publizierten Aufsatz „The Iron Cage Revisited: Institutional Isomorphism and Collective Rationality“ aufgegriffen, den es nachfolgend vorzustellen gilt. b) DiMaggio/Powell (1983) Während sich der Aspekt der Isomorphie in der Argumentation von Meyer und Rowan auf die nach außen kommunizierte „Rationalitätsfassade“ und weniger auf die eigentlich gelebte, sich in praxi abzeichnende faktische Struktur einer Organisation beziehen lässt,113 gehen DiMaggio und Powell einen Schritt weiter. Ihnen geht es um die Strukturgleichheit hinsichtlich der faktischen Strukturen von Organisationen. Im Kern suchen sie nach einem Erklärungsansatz für die zu beobachtende Verbreitung der bürokratischen Strukturform. Der übliche Verweis auf eine Effizienzsteigerung durch Bürokratie vermag in ihren Augen nicht die Ähnlichkeit von Strukturen verschiedenartiger Organisationen zu erklären. Hingegen gilt es, die Vernetztheit dieser Organisationen untereinander zu berücksichtigen, will man dem Sachverhalt der Isomorphie hinsichtlich des Merkmals Bürokratie näherkommen. Mit diesem Ziel führen DiMaggio und Powell eine
110 111
112 113
Vgl. hierzu im deutschsprachigen Raum die Arbeiten von Walgenbach [2000] und Walgenbach/Beck [2003]. Vgl. Scott/Meyer [1991], insbesondere S. 122 ff. (vgl. zur Umweltkonzeption von Meyer/Rowan auch Walgenbach [2006a] S. 360 ff.) sowie das Sammelband Scott/Meyer [1994]. Später hat sich Scott allerdings von dieser allzu schematischen Gegenüberstellung distanziert, sie als „restricted (and flawed) conception“ bezeichnet, mit der ganz offensichtlich negiert wird, dass auch die technischen Effizienzanforderungen gesellschaftlich geprägt sind und historisch gewachsene soziale Konstrukte darstellen. Vgl. zum Beispiel Scott [2001] S. 135. Vgl. Meyer/Rowan [1977] S. 346 f. Im Grunde behandeln Meyer und Rowan also die Frage, inwieweit Organisationen ein einheitliches Bild ihrer vermeintlichen Strukturen präsentieren. Es geht ihnen nicht um eine Analyse faktischer Strukturhomogenität.
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neue Analysekategorie ein: das organisatorische Feld.114 Das organisatorische Feld stellt nach Ansicht von Türk die Untersuchungsperspektive eines umweltbezogenen Institutionalismus dar,115 in der nicht die einzelne Organisation im Zentrum der Betrachtung steht, sondern eine Gruppe verschiedener organisatorischer Akteure – Zulieferer, Konsumenten, Wettbewerber, Regulierungsbehörden, Arbeits- und Berufsverbände –, die sich durch vielfältige direkte und indirekte Beziehungen untereinander auszeichnen.116 Grundlegende Annahme ist, dass sich mit zunehmender Interaktionshäufigkeit zwischen den Organisationen ein organisatorisches Feld etabliert117 und dass dies mit einer Angleichung von Organisationsstrukturen einhergeht, die nicht auf technisch oder aufgabenlogisch begründeten Effizienzüberlegungen fußt. Warum und wodurch die Homogenisierung von Organisationsstrukturen innerhalb des organisatorischen Felds begünstigt wird, suchen DiMaggio und Powell anhand von drei sogenannten Mechanismen zu begründen: Zwang, Nachahmung und Normierung.118 Eine durch Zwang hervorgerufene Isomorphie geht im Wesentlichen auf allgemeine Rechtsnormen zurück, die für alle Organisationen eines Felds bindend sind. So lassen sich beispielsweise vergleichbare Rechnungswesenaktivitäten auf ein einheitliches Gerüst an steuerrechtlichen Vorschriften zurückführen, die Einstellung von Umweltexperten oder gar die Gründung von Umweltabteilungen auf umweltrechtliche Regulierungen des Staates. Von zwangsweisem Isomorphismus lässt sich ebenfalls ausgehen, sofern machtvolle organisatorische Akteure innerhalb des Felds bestimmte Organisationsformen voraussetzen, wobei Nichtkonformität mit diesen Erwartungen mit Legitimitätseinbußen und 114
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118
Die Idee des organisatorischen Felds wurde weitgehend unabhängig voneinander von USamerikanischen und europäischen Soziologen entwickelt. Vgl. Swedberg [2003] S. 381. Vgl. für die europäische Perspektive Bourdieu/Wacquant [1996] S. 124 ff. In den USA waren es neben DiMaggio und Powell auch Scott und Meyer, die jedoch abweichend von sozialen Sektoren sprechen. Vgl. Scott/Meyer [1991] S. 117 f. Türk unterscheidet mit dem internen, dem umweltbezogenen und dem gesellschaftstheoretischen Institutionalismus verschiedene institutionalistische Forschungsrichtungen in Abhängigkeit von der jeweiligen Lokalisierung von Institutionen. Vgl. Türk [2004] Sp. 925 ff. Vgl. zu Definitionen des Begriffs DiMaggio/Powell [1983] S. 148; Hoffman/Ventresca [2002] S. 5 sowie ausführlich zum Feldkonzept und dessen Rezeption Scott [1994a] und Walgenbach [2002] S. 169 ff. Neben der Interaktionshäufigkeit werden als weitere feldbegründende Elemente die Bildung von Koalitionen und Machtverhältnissen zwischen Organisationen, die Zunahme zu verarbeitender Informationen und die Entwicklung eines gegenseitigen Bewusstseins, einer gemeinsamen Sache zu dienen, genannt. Da sich diese jedoch unter die zunehmende Interaktionshäufigkeit subsumieren lassen, seien sie hier lediglich am Rande erwähnt. Vgl. DiMaggio/Powell [1983] S. 148. Vgl. zu den Mechanismen DiMaggio/Powell [1983] S. 150 ff. sowie im deutschsprachigen Raum Walgenbach [2006a] S. 368 ff. und Meyer [2004] S. 116 ff.
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organisationsgefährenden Sanktionen einhergehen würde. Isomorphie innerhalb eines organisatorischen Felds kann weiterhin im Zuge der Nachahmung etablierter Managementpraktiken entstehen. Insbesondere in Situationen hoher Unsicherheit, in denen Handlungsbedingungen mehr- beziehungsweise wenig eindeutig erscheinen und adäquate Problemlösungsmethoden fehlen, ist zu erwarten, dass Organisationen sich an Modellen orientieren, die entweder bereits von erfolgreichen Organisationen umgesetzt oder von Unternehmungsberatern als „best practice“ propagiert werden. Isomorphie aufgrund von Nachahmung kann sich neben dieser intendierten Variante auch nicht intendiert verbreiten, so beispielsweise durch die Fluktuation von Mitarbeitern zwischen den Organisationen. Schließlich gründet sich Isomorphie auf Normen, die sich im Laufe einer zunehmenden Professionalisierung und entsprechenden Ausdifferenzierung von Spezialwissen entwickeln. Dabei entstehen berufständische normative Orientierungsrahmen einerseits durch die Vermittlung eines einheitlichen berufsbezogenen Wissens in Universitäten und anderweitigen Ausbildungsstätten, das die Absolventen anschließend in die Organisationen hineintragen. Andererseits gleichen sich Vorstellungen über professionelles Verhalten auch im Rahmen eines ständigen Austauschs unter den Berufsvertretern in gemeinsamen Berufsverbänden und Interessenvertretungen an. Die von DiMaggio und Powell dargelegten Mechanismen der Institutionalisierung haben eine enorme Akzeptanz in der Organisationsforschung erfahren, was sich allein schon darin äußert, wie häufig auf diesen Aufsatz in der Literatur Bezug genommen wird.119 Dabei hat sich gerade das Konzept des organisatorischen Felds als wichtiger Untersuchungsrahmen institutionalistischer Studien herausgestellt.120 Dies lässt sich damit begründen, dass das Feldkonzept im Gegensatz zu verbreiteten objektivistischen Umweltkonzeptionen auf die gesellschaftliche Konstruktion der Umwelt verweist. Dies betont beispielsweise Fligstein: „The idea of a field differs from the idea of a niche or the environment in one important sense. Both concepts imply an objective reality that is imposed on any given organization. The idea of a field suggests that the environment and the niche are themselves constructions of organizations and their key actors.“121 119 120
121
Vgl. die diesbezüglichen Ergebnisse einer Zitationsanalyse von Mizruchi/Fein [1999] S. 658. Vgl. die Tabelle bei Mizruchi/Fein [1999] S. 660 für einen Überblick über alle 26 im genannten Zeitraum veröffentlichten empirischen Studien sowie Walgenbach [2002] S. 173 ff. für knappe Beschreibungen ausgewählter Studien. Im Herausgeberwerk von Hoffman und Ventresca [2002] finden sich ebenfalls verschiedene empirische Studien, die eine Feldkonzeption zugrunde legen. Eine jüngere Studie zur „field recomposition“ liefern Reay/Hinings [2005]. Fligstein [1991] S. 313.
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Zudem wird das organisatorische Feld als eine Analysekategorie mittlerer Reichweite vorgeschlagen, die es erlaubt, mikro- und makrosoziologische Perspektiven miteinander zu verbinden.122 Schließlich hinterlässt der DiMaggio/Powell-Artikel noch in einer weiteren Hinsicht Spuren innerhalb der Institutionalismusforschung: seiner Definition von Institutionen. DiMaggio und Powell heben mit ihrer Konzeption im besonderen Maße die Diffusion, in eingeschränkterem Maße die Legitimität als institutionenbestimmende Merkmale hervor. Die übrigen Aspekte des sozialkonstruktivistischen Konzepts Berger/Luckmanns, Historizität und Objektivität, werden hingegen weniger deutlich betont.123 Man mag diese eingeschränkte Sichtweise von Institutionen, wie sie nicht selten anzutreffen ist, letztlich also auch auf die Konzeption von DiMaggio und Powell zurückverfolgen – selbst wenn die beiden eine solche Entwicklung keinesfalls intendiert hatten. c) Zucker (1977) Während die Aufsätze von Meyer/Rowan (1977) und DiMaggio/Powell (1983) die Bedeutung von Institutionen für Organisationen aus einer makrosoziologischen Perspektive heraus behandeln, ist der Organisationssoziologin Lynne Zucker an einer mikrosoziologischen Fundierung gelegen. Ihr Ziel ist es, die Wirkungsweise von Institutionen in sozialen Handlungsprozessen sowie die Dauerhaftigkeit institutionalisierter Handlungsformen verstehen zu lernen und damit eine gegenüber den makrosoziologischen Ansätzen komplementäre Betrachtungsweise zu liefern. Sie selbst fasst ihre Forschungsziele folgendermaßen zusammen: „[T]he microlevel approach represented in my 1977 paper and in subsequent papers (Zucker 1983; Tolbert and Zucker 1983; Zucker 1987) focuses upon institutionalization as a process rather than as a state; upon cognitive processes involved in the creation and transmission of institutions; upon their maintenance and resistance to change; and upon the role of language and symbols in those processes.“124
In ihrer 1977 erschienenen Studie „The Role of Institutionalization in Cultural Persistence“ untersucht Zucker die Bedingungen für die kulturelle Beständigkeit von Institutionen. In Anlehnung an die Ethnomethodologie nimmt sie an, dass 122 123 124
Vgl. Meyer [2004] S. 92 f. und 113; Hoffman/Ventresca [2002] S. 11. Und dies obwohl DiMaggio und Powell das Berger/Luckmann’sche Konzept als wesentliches Element der für den Neoinstitutionalismus charakteristischen kognitiven Wende werten. Zucker [1991] S. 104.
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der jeweilige Kontext, in dem Interaktionen stattfinden, die konkreten Handlungswahlen der Akteure beeinflusst.125 Dabei kann ein Kontext in stärkerem oder geringerem Maße die Reproduktion institutionalisierter Verhaltensweisen nahelegen. Das bedeutet, dass der Grad an Institutionalität, dem die Akteure unterliegen, mit dem Kontext variiert: „Settings can vary in the degree to which acts in them are institutionalized. By being embedded in broader contexts where acts are viewed as institutionalized, acts in specific situations come to be viewed as institutionalized.“126
Zucker verdeutlicht die verhaltensbeeinflussende Wirkung von Kontexten anhand von Organisationen. Sie sieht Organisationen als einen Kontexttyp, der sich durch ein hohes Maß an Institutionalität auszeichnet. Dies äußert sich ihrer Ansicht nach darin, dass eine Vielzahl an Handlungen innerhalb von Organisationen von unterschiedlichen Personen wiederholbar ist, ohne dass sich ihr Inhalt sowie die geteilte Überzeugung der Akteure hinsichtlich ihrer Sinnhaftigkeit verändern. In den Augen der Akteure repräsentieren solche Handlungen das, was man unhinterfragt tut, was man immer schon so und nicht anders gemacht hat. Jeder Akteur verfügt über „ready-made accounts“,127 um die Bedeutung der Handlungen zu begründen. Im Sinne von Berger und Luckmann – deren Konzept Zucker explizit zugrunde legt – sind diese Handlungen objektiv und veräußerlicht und gelten damit als institutionalisiert. Zuckers grundlegende Hypothese ist nun, dass die Dauerhaftigkeit einer Institution von dem Institutionalitätsgrad der Kontexte abhängt: Je höher der Grad an Institutionalität, umso wahrscheinlicher ist die kulturelle Beständigkeit („cultural persistence“) der Institution. Dabei ist eine Institution umso eher von Dauer, je leichter sie an andere weitervermittelt werden kann – womit sie zugleich 125
126 127
Das zentrale Erkenntnisinteresse eines Ethnomethodologen liegt in der Frage, wie Ordnung in „face-to-face“-Interaktionen entsteht beziehungsweise möglich ist. Es wird angenommen, dass Akteure über ein Wissen der handlungspraktischen Grundlagen sozialen Handelns verfügen, das Garfinkel als „socially-sanctioned-facts-of-life-in-society-that-any-bona-fide-member-ofthe-society-knows“ beschreibt (Garfinkel [1967] S. 76). Dieses implizite Wissen kann Interaktionsordnungen jedoch nur zum Teil erklären, da die Akteure ein gemeinsames Verständnis der Interaktionssituationen immer wieder neu aushandeln müssen. Dabei interpretieren sie die jeweilige Situation aus dem Blickwinkel ihres handlungspraktischen Wissens. Da jedoch nicht vorausgesetzt werden kann, dass die Akteure über ein in jeder Hinsicht einheitliches Wissen verfügen, ist Intersubjektivität das Resultat tagtäglicher Aushandlungsprozesse (vgl. DiMaggio/Powell [1991] S. 20). „Ethno stresses the local, indigenous production of knowledge; methodology, that the knowledge involves distinctions and rules necessary for conducting the work at hand.“ Scott [2001] S. 41. Zucker [1977] S. 728. Zucker [1977] S. 728 in Anlehnung an Garfinkel.
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einfacher in unveränderter Weise beibehalten wird – und je widerstandsfähiger sie gegenüber dem Veränderungsdruck einzelner Akteure ist.128 Objektivität und Externalität der Kontexte begünstigen die Weitergabe, Aufrechterhaltung und Veränderungsresistenz der jeweiligen Institution. Dies sucht Zucker anhand eines Laborexperiments zu testen, indem sie verschieden stark institutionalisierte Kontexte anhand unterschiedlicher Rollenzuschreibungen der Testpersonen simuliert129 und die kontextspezifischen Reaktionen der Personen in Bezug auf die Verhaltensäußerungen unterschiedlicher Rollenträger erhebt.130 Im Ergebnis zeigt sich, dass die Verhaltensäußerungen derjenigen Personen, die eine offizielle organisatorische Leitungsfunktion übernehmen, mit höherer Wahrscheinlichkeit von anderen unhinterfragt übernommen und beibehalten werden, als von Personen, die als Privatpersonen auftreten und entsprechend keine organisatorische Rolle einnehmen. Akteure vermögen also umso wahrscheinlicher andere zu einem Handeln in ihrem Sinne zu bewegen, je eher sie Rollen übernehmen, die als sozial anerkannt gelten und Legitimation vermitteln. Institutionalisierte Kontextbedingungen begünstigen damit die Aufrechterhaltung institutionalisierter Verhaltensweisen (und insoweit die Reproduktion ihrer selbst). Mit ihrer Studie legt Zucker einen wichtigen Beitrag zur mikrosoziologischen Grundlegung des Institutionalismus vor. Sie liefert eine mikrosoziologische Begründung der Wirkungsweise von Institutionen im sozialen Handeln und trägt damit zum Verständnis ihrer Wirkungsweise im Sinne der „von oben nach unten“ gerichteten Perspektive bei. Ihre Arbeit gilt als eine der wenigen ethnomethodologischen Studien im organisationssoziologischen Institutionalismus. Mikrosoziologische empirische Untersuchungen der kontextbezogenen Wirkungsweise von Institutionen sind gegenüber makrosoziologisch ausgerichteten Studien weiterhin in der Minderzahl. DiMaggio und Powells diesbezügliche Äußerung aus dem Jahre 1991 gilt selbst heute noch: „There has been little effort to make neoinstitutionalism’s microfoundations explicit…Most institutionalists prefer to focus on the structure of environments, macro- to microlevel effects, and the analytic autonomy of macrostructures.“131
128 129
130 131
Vgl. Zucker [1977] S. 729 f. Ein nicht institutionalisierter Kontext liegt vor, sofern die Testpersonen als Privatpersonen auftreten; ein institutionalisierter Kontext, sofern Testpersonen offizielle organisatorische (Führungs-)Positionen einnehmen und damit zu Trägern der Institution „Organisation“ werden. Eine ausführliche Zusammenfassung des Experiments findet sich bei Walgenbach [2006a] S. 384 ff. DiMaggio/Powell [1991] S. 16.
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Dass Zucker eine mikrosoziologische Studie vorgelegt hat, steht außer Zweifel. Inwieweit sie allerdings ihrem eigentlichen Forschungsanliegen gerecht wird, die Wirkungsweise von Institutionalisierungsprozessen aufzudecken und insbesondere die Frage der Dauerhaftigkeit von Institutionen zu untersuchen, kann durchaus kritisch diskutiert werden. Sowohl Untersuchungsdesign als auch -ergebnisse zielen nicht unmittelbar auf die Frage der Reproduktion oder dauerhaften Bestätigung institutionalisierter Verhaltensweisen in sozialen Handlungsprozessen ab. So hat Zucker nicht die Beständigkeit institutionalisierter Handlungen erhoben, sondern vielmehr die Übernahme von Einschätzungen anderer in Abhängigkeit von wechselnden Kontextbedingungen. Erfasst wurden allein verbale Verhaltensäußerungen, nicht aber Handlungen und insbesondere Handlungskonsequenzen. Unterstellt man, dass Handlungen und diskursive Verhaltensäußerungen nicht deckungsgleich sein müssen, lässt sich auf diese Weise kein Institutionalisierungsprozess, also die kontinuierliche Bestätigung institutionalisierter Handlungen, nachweisen. Dies würde voraussetzen, die Ergebnisse der sozialen Handlungsprozesse zu erheben. Zudem untersucht Zucker nicht die Weitergabe, Aufrechterhaltung und Veränderungsresistenz von organisatorischen Rollen – die ja in ihrer Studie die Institution repräsentieren sollen. Die Frage der Dauerhaftigkeit von Institutionen – oder genauer: der Aufrechterhaltung ihres Institutionalitätsgrads – bleibt damit letztlich unbeantwortet. Ähnlich äußert sich Türk, wenn er darauf hinweist, dass Zuckers Laborexperimente gerade nicht die Dauerhaftigkeit von Institutionen verdeutlichen, sondern vielmehr zeigen, „welche zurichtende Macht die gesellschaftlich institutionalisierte Organisationsform im Hinblick auf individuelle Verhaltensäußerungen, hier: Urteilsbildungen, hat.“132 Dennoch erscheint es bereits angesichts dieser Leistung als angemessen, ihre Arbeit als einen Meilenstein zu bezeichnen, wird doch die Wirkung von Institutionen auf der Mikroebene von den Institutionalisten häufig ausgeblendet. Mit der Kontextualität sozialen Handelns betrachtet Zucker im Übrigen einen Aspekt, der im Zuge des wachsenden Interesses am Phänomen des institutionellen Wandels wieder von Bedeutung ist. 2.1.3.3 Alter versus neuer Institutionalismus? Die Abgrenzung eines neuen oder Neoinstitutionalismus von einem alten Institutionalismus ist nicht ohne Kritik geblieben. Neben Selznick haben insbesondere Paul Hirsch und Michael Lounsbury die radikale Gegenüberstellung von altem
132
Türk [1997] S. 129.
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und Neoinstitutionalismus durch DiMaggio und Powell (1991) kritisiert.133 Zwar zeigen sie Verständnis dafür, dass sich in einer Gegenüberstellung verschiedene Forschungspositionen deutlicher hervorheben lassen. Sie werten diese jedoch einerseits als überzeichnet, indem Grundzüge des alten Institutionalismus fast ausschließlich unter Rückgriff auf selektive Aspekte aus Selznicks Arbeiten dargelegt werden, andererseits als unzureichend, um aktuellen Forschungsfragen in angemessener Weise nachzugehen. Insbesondere der zweitgenannte Kritikpunkt erscheint hier als betrachtenswert. So mutmaßen Hirsch/Lounsbury, dass DiMaggio und Powell mit ihrer einseitigen Kritik an einer vermeintlich alten oder gar veralteten institutionalistischen Perspektive vorrangig ihre eigene Perspektive propagieren wollen.134 Was sich hinter dem Titel Neoinstitutionalismus verbirgt, ist im Grundsatz eine holistische Perspektive. Wie später noch zu zeigen sein wird, zeigt eine holistische Perspektive nun aber ihre Grenzen – und zwar gerade in der Auseinandersetzung mit den derzeit aktuellen Fragen im Zusammenhang mit dem Phänomen des institutionellen Wandels. So wird beispielsweise die Rolle von Akteuren, von Macht und von Interessenkonflikten in Institutionalisierungs- und Deinstitutionalisierungsprozessen weitgehend ausgeblendet. Diese sind indes von Bedeutung, wendet man sich der Aufrechterhaltung und Veränderlichkeit von Institutionen in und durch soziale Handlungsprozesse(n) zu: „The details of micro-level action are needed to explain how macro-level institutions change.“135
Eine Analyse von Prozessen des institutionellen Wandels kann also nur gelingen, sofern auch mikrosoziale Aspekte Berücksichtigung finden – wie DiMaggio und Powell im Übrigen selbst feststellen, wenn sie dafür plädieren, handlungstheoretischen Grundlagen einen angemessenen Raum zu geben.136 Damit würde allerdings die scharfe Grenzziehung zum klassischen Institutionalismus von Selznick aufweichen, denn gerade dieser hat die Entstehung von Institutionen, wie sie sich in Interaktionsprozessen zwischen unterschiedlich politisch motivierten und machtvollen Akteuren vollzieht, in den Blick genommen. Und so fahren Hirsch und Lounsbury mit ihrer Kritik denn auch fort:
133 134 135 136
Vgl. Selznick [1996] sowie zum Folgenden Hirsch/Lounsbury [1997]. Kritisch äußert sich zudem Stinchcombe [1997]. Vgl. Hirsch/Lounsbury [1997] S. 407. Hirsch/Lounsbury [1997] S. 412. Vgl. DiMaggio/Powell [1991] S. 16.
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2 Institutioneller Wandel aus dem Blickwinkel der organisationswissenschaftlichen Forschung
„If neoinstitutional researchers allow for interests and political action to enter into institutional explanations, however, their clean bifurcation between the old and new institutionalisms is undercut.“137
Es ist vor diesem Hintergrund wenig einsichtig, welchen Mehrwert eine Abhandlung aufzuweisen verspricht, mit der letztlich die Ausgrenzung einer für die heutigen Forschungszwecke bedeutsamen institutionalistischen Strömung propagiert wird. Insofern lässt sich gerade angesichts der jüngeren Entwicklung im organisationssoziologischen Institutionalismus der Nutzen der Bezeichnung „neoinstitutionalistisch“ hinterfragen. Hier zeigt sich nämlich, dass sich vermeintlich „alte“ und „neue“ Richtungen ohne weiteres gemeinsam einschlagen lassen. So ist es durchaus möglich und bereits durch verschiedene Forschungsarbeiten belegt, mikropolitische Aspekte wie Machtdivergenzen und Interessenkonflikte – der angebliche Fokus des „alten“ Institutionalismus – aus der jüngeren kognitiven Perspektive heraus zu betrachten.138 Überhaupt entfernt sich die jüngere Forschung zunehmend von den Merkmalen, die DiMaggio und Powell einst als konstituierend für den Neoinstitutionalismus propagiert haben. Und selbst mit Blick auf die Arbeiten, die sie zu den begründenden Meilensteinen des Neoinstitutionalismus zählen, zeigt sich nicht jene Einheitlichkeit, die ihre Abhandlung zu suggerieren sucht. Insbesondere Zuckers Arbeiten lassen sich nicht ohne weiteres als neoinstitutionalistisch gemäß der DiMaggio/Powell’schen Kriterien klassifizieren. Zwar trägt Zucker zweifelsohne zur kognitiven Wende innerhalb des Institutionalismus bei, die DiMaggio/Powell als ein wesentliches Merkmal des Neoinstitutionalismus herausstellen. Betrachtet man jedoch die übrigen von ihnen genannten Merkmale, so beispielsweise die Abkehr von einer mikrosoziologischen zugunsten einer makrosoziologischen Perspektive oder die Konzeption von Institutionen als unabhängigen Variablen, wird offenbar, dass die Einordnung von Forschungsarbeiten unter ein einheitliches – und zwar holistisches – Dach mit der Bezeichnung Neoinstitutionalismus problematisch erscheinen kann. Beide Merkmale treffen nicht auf Zuckers Arbeiten zu, sucht sie sich doch gerade dem Prozess der Institutionalisierung zu widmen (womit Institutionen als veränderliche Variablen betrachtet werden) und die Wirkungsweise von Institutionen mikrosoziologisch zu analysieren. Im Ergebnis lässt sich festhalten: Unter dem Dach des organisationssoziologischen Institutionalismus versammeln sich mittlerweile – auch angesichts des jüngeren Forschungsinteresses am Phänomen des institutionellen Wandels – recht unterschiedliche Forschungsströmungen, die sich nicht unter die ursprüng137 138
Hirsch/Lounsbury [1997] S. 412. Wie es beispielsweise die Arbeiten im zweiten Teil des Herausgeberwerks von Lounsbury/Ventresca [2002] belegen.
2.1 Grundlagen des organisationssoziologischen Institutionalismus
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lich von DiMaggio/Powell formulierten Merkmale eines holistischen Neoinstitutionalismus fassen lassen. Der Inhalt der Bezeichnung „neoinstitutionalistisch“ wird damit zunehmend aufgeweicht. Man könnte vor diesem Hintergrund geneigt sein, den Neoinstitutionalismus in eine frühe und eine spätere Phase (oder gar eine neo-neo- oder postinstitutionalistische Phase) zu unterteilen. Der Nutzen einer zusätzlichen Unterteilung erscheint jedoch durchaus als fragwürdig. Aus diesem Grunde sei im Weiteren Hirsch und Lounsbury gefolgt, die auch dahingehend für eine Aussöhnung („reconciliation“) von „altem“ und „neuem“ Institutionalismus plädieren, dass zumindest nicht mehr von „Neo“-Institutionalismus die Rede ist. Das einende Dach ist schließlich der organisationssoziologische Institutionalismus, dessen Merkmale bereits einleitend festgehalten wurden.139 2.1.4 Theoretische Herausforderungen der jüngeren Forschungsentwicklung Während bisher die Geschichte des organisationssoziologischen Institutionalismus nachgezeichnet wurde, wird es im Folgenden darum gehen, einen genaueren Blick auf die jüngere Entwicklung zu werfen. Im Mittelpunkt des heutigen Forschungsinteresses steht zweifelsohne das Thema institutioneller Wandel. Da die diesbezüglichen Forschungstätigkeiten ausführlich im Laufe der nachfolgenden Kapitel behandelt werden, soll es an dieser Stelle zunächst darum gehen, die im Zusammenhang mit dem Thema diskutierten Problemfelder zu erörtern. Ausgangspunkt bilden dabei die bisher diskutierten Arbeiten (insbesondere jene von Meyer/Rowan (1977) und DiMaggio/Powell (1983)), da sich die jüngere Forschungsentwicklung gerade in ihrer kritischen Positionierung gegenüber diesen Arbeiten aufzeigen lässt. Die zentralen Problemfelder im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs spiegeln im Wesentlichen drei Entwicklungstendenzen wider. Sie reichen dabei
139
von einem Fokus des Forschungsinteresses auf Homogenität, Isomorphismus und der Verbreitung gegebener Institutionen hin zu einer Erforschung der Heterogenität und des Wandels von Institutionen (Prozessperspektive),
Eine vergleichbare Kritik an der Bezeichnung „neuer“ Institutionalismus äußert Andrew Abbott. Er stört sich insbesondere daran, dass damit eine Abgrenzung gegenüber bisherigen Arbeiten eines Fachgebiets suggeriert wird, wenngleich es sich lediglich um eine Weiterentwicklung auf der Grundlage bisheriger Arbeiten handeln mag. So hinterfragt er kritisch: „Is it necessary for each generation to rediscover disciplined eclecticism only after a phase of single-mindedness sufficient to generate coherent labels like „new institutionalism“…?“ Abbott [1992] S. 755.
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2 Institutioneller Wandel aus dem Blickwinkel der organisationswissenschaftlichen Forschung
von einem strukturdeterministischen Modell übersozialisierter Akteure hin zu einem Akteurmodell, das gleichermaßen voluntaristische und deterministische Verkürzungen zu überwinden sucht, von einer einseitigen „von oben nach unten“ gerichteten Perspektive hin zu einer ausgeglichenen Mikro-Makro-Konzeption, die die Verwobenheit der sozialen Betrachtungsebenen abzubilden vermag.
Auf die jüngere Forschungsentwicklung ist nun näher einzugehen, wobei es zugleich zu begründen gilt, warum die bisher diskutierten Arbeiten keinen angemessenen konzeptionellen Beitrag zu den diesbezüglichen theoretischen Herausforderungen zu leisten vermögen. Das Forschungsinteresse der sogenannten „Meilensteine“ konzentrierte sich auf die Frage der Verbreitung oder Diffusion vorhandener institutioneller Strukturen. Ziel war es, das Verständnis von Isomorphieprozessen innerhalb organisatorischer Felder zu verbessern. Abgesehen von den Zucker’schen Arbeiten war die analytische Ebene vornehmlich eine meso- oder makrosoziologische. Soweit der Zusammenhang zwischen den Institutionen als gesellschaftlichen, makrosozialen Phänomenen und den Organisationen Berücksichtigung fand, war es im Sinne eines „von oben nach unten“: Es galt, die Bedeutung bestehender gesellschaftlicher Institutionen für ein homogenes Feld an Organisationen zu untersuchen. Damit blieb die potentielle Macht von Akteuren, Institutionen ihrerseits zu beeinflussen – entsprechend einer „von unten nach oben“ gerichteten Perspektive –, unberücksichtigt. „Agency“ als grundlegende Handlungsmächtigkeit von Akteuren wurde nur einseitig betrachtet. Akteure galten allein in der Hinsicht als handlungsmächtig, dass sie sich bewusst für oder gegen ein institutionenkonformes Verhalten entscheiden konnten, was sich beispielsweise in der Entkopplungsthese von Meyer und Rowan (1977) widerspiegelt. Dass Entscheidungen für oder gegen institutionalisierte Handlungsformen allerdings auf die Institutionen zurückwirken können, war in diesen Studien nicht von Bedeutung. Nun ist diese Akteurkonzeption unter anderem als Gegenbewegung zu den in der institutionalistischen Organisationsforschung ebenfalls vertretenen institutionenökonomischen Modellierungen zu verstehen.140 Während die Institutionen140
Vgl. DiMaggio/Powell [1991] S. 9. Wie bereits erwähnt wurde, sind Institutionen laut Ansicht der Institutionenökonomen unmittelbar auf das absichtsvolle Handeln von Akteuren zurückzuführen. So wird argumentiert, dass Institutionen, ihre Entstehung und Veränderung, allein dem rein ökonomischen Kalkül nutzenmaximierender Akteure unterliegen. Institutionen entstehen durch aktives Gestaltungshandeln dann, wenn ihr Nutzen die mit ihnen verbundenen Kosten übersteigt (vgl. Okruch [1999] S. 138). Sie werden verändert, wenn sich diese Kosten-NutzenRelation (aufgrund exogener Einflüsse) verändert hat. In der Institutionenökonomie wird mithin ein voluntaristisches Akteurmodell vertreten, mit dem die Akteure insofern als untersozialisiert erscheinen, als ihre gesellschaftliche Verankerung in gegebenen sozialen Strukturen
2.1 Grundlagen des organisationssoziologischen Institutionalismus
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ökonomen von einer uneingeschränkten Beeinflussung der Institutionen durch Akteure ausgehen, geht es den Begründern der vermeintlich neuen institutionalistischen Strömung um ein korrigiertes Modell, das die Macht übergeordneter Institutionen zu erfassen weiß. Sie gehen davon aus, dass Interessen und Handlungsweisen der Akteure institutionell geprägt sind, das heißt in einem sozialen Kontext gegebener Institutionen stattfinden, der Präferenzstruktur und Handlungswahl beeinflusst: „A key institutional insight is that individual preferences and choices cannot be understood apart from the larger cultural setting and historical period in which they are embedded. To the extent that we accept the idea that individual self-definition is partly constituted by a wider institutional structure, we challenge the notion that…social forms…are created and sustained by the aggregate choices of utilitymaximizing individuals.“141
Die Korrektur des Akteurverständnisses zeigt allerdings bereits, dass das Pendel nun von einer individualistischen in eine holistische Richtung umschlägt,142 mit allen entsprechenden Grenzen. Diese werden gerade vor dem Hintergrund des derzeitigen Interesses an der Erforschung institutionellen Wandels diskutiert.143 Dem Phänomen des institutionellen Wandels näherzukommen, setzt nämlich voraus, sowohl die Wirkungsweise von Institutionen im Moment des Handelns als auch die Beeinflussbarkeit von Institutionen durch die Akteure zu betrachten. Dazu gilt es bereits konzeptionell zu berücksichtigen, dass sich Akteure nicht einheitlich auf die feldweit verfügbaren Institutionen beziehen,144 sondern dies in unterschiedlicher Weise erfolgt – mehr oder weniger bewusst, mit aktivem Gestaltungsanspruch oder unhinterfragt folgend, in rein gewohnheitsmäßiger Form oder bewusst interpretierend.145 Es ist durchaus anzunehmen, dass auch
141 142 143 144 145
keinerlei Berücksichtigung erfährt (vgl. die Kritik Granovetters [1985] S. 483). Da der Wandel von Institutionen jedoch eingebettet in soziale Kontexte aus gegebenen Institutionen stattfindet, kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich das Wandelphänomen anhand eines solchen Akteurmodells hinreichend ergründen lässt. Powell [1991] S. 188. Vgl. Hirsch/Lounsbury [1997] S. 409. Vgl. Whittington [1992] S. 703; Hirsch/Lounsbury [1997] S. 411 ff.; Seo/Creed [2002] S. 223. Vgl. Hoffman/Ventresca [2002] S. 11 f. Wobei Unterschiede in der Bezugnahme auf institutionelle Regeln im soziologischen Institutionalismus nicht individualpsychologisch sondern soziostrukturell begründet werden – nicht individuelle Verhaltensmerkmale sondern die unterschiedlichen sozialen Kontextbedingungen prägen die Handlungswahl der Akteure im Moment der Interaktion (was im Übrigen gegen die Verwendung eines voluntaristischen Modells spricht). Dies entspricht einer generellen Tendenz in der Organisationswissenschaft, wonach sich psychologische gegenüber soziologischen
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2 Institutioneller Wandel aus dem Blickwinkel der organisationswissenschaftlichen Forschung
die interpretativen Prozesse auf der Mikroebene zum Wandel von Institutionen beitragen, wie Scott festhält: „Adjustments, refinements, amendments, shortcuts, modifications, departures at the micro level – all take their toll on the macro frameworks.“146
Insofern kann die Art und Weise, wie sich Akteure in ihren Interaktionsprozessen auf vorhandene Institutionen beziehen, auf die Institutionen zurückwirken, ohne dass die Akteure ein solches intendiert hätten. Neben dieser nicht intendierten Weise der Beeinflussung von Institutionen ist es denkbar, dass Akteure bewusst nach einer Veränderung der institutionellen Bedingungen streben. Wenngleich einem individuellen Akteur keine gestalterische Kraft hinsichtlich des Wandels von Institutionen zugesprochen werden kann, lässt sich dies zumindest für kollektive Akteure wie Organisationen annehmen.147 Hier spielt die Machtposition des Akteurs innerhalb des betrachteten sozialen Kontextes (beispielsweise dem organisatorischen Feld) eine Rolle. So wird das Handeln machtvoller Akteure deutlicher sichtbar sein, genauer beobachtet und von anderen eher nachgeahmt oder übernommen werden. Ein solchermaßen differenziertes Akteurverständnis vermag jedoch eine holistische Ausrichtung – zumindest wie sie von den Begründern des „Neoinstitutionalismus“ vertreten wurde – nicht zu vermitteln, wird doch die Determiniertheit sozialen Handelns betont. Akteure werden als übersozialisierte Wesen erachtet,148 sie gelten vorwiegend als Träger institutioneller Bestimmungen, weniger jedoch als interessengeleitete, kreative und die Existenz von Institutionen letztlich konstituierende Wesen. Akteure innerhalb eines Felds verhalten sich aus neoinstitutionalistischer Sicht homogen – ein jeder handelt im Sinne der von der Umwelt vorgegebenen sozialen Skripte.149 Ein Wandel institutionalisierter Skripte ist hier nicht vorgesehen oder ist allenfalls unter Rückgriff auf exogene Faktoren erklärbar, womit Ursache und Vollzug des Wandels außerhalb des betrachteten sozialen Raums verankert werden, die die Akteure faktisch vor
146 147 148 149
Akteurmodellen auf dem Rückzug befinden (vgl. Nord/Fox [1996]). Aus soziologischer Sicht interessieren weniger individuelle Einstellungen und Verhaltensmerkmale als vielmehr das Eingebundensein der Akteure in soziale Prozesse. Analyseeinheit ist damit nicht das Individuum, sondern im Zentrum der Betrachtung steht die wechselseitige Konstitution von Akteur und sozialem Kontext. Scott [2001] S. 188. Vgl. hierzu bereits Lawrence/Suddaby [2006]. Vgl. Zucker [1987] S. 454; Powell [1991] S. 183; Walgenbach [2002] S. 165. Siehe auch Wrong [1961], auf den der Ausdruck „übersozialisiert“ zurückgeht. Vgl. Hoffman/Ventresca [2002] S. 11.
2.1 Grundlagen des organisationssoziologischen Institutionalismus
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neue institutionelle Vorgaben stellen.150 Institutioneller Wandel geht jedoch ebenso auf endogene Faktoren zurück, die in den sozialen Handlungsprozessen verankert liegen, wie beispielsweise auf veränderte Interessenlagen, auf veränderte Machtverteilungen und Akteurkonstellationen oder auch auf nicht unmittelbar beabsichtigte (aber dennoch in Handlungsroutinen hervorgerufene) Veränderungen der sozialen Kontextfaktoren. Daher stellt sich mit dem zunehmenden Interesse an der Erörterung des Phänomens die theoretische Herausforderung, ein ausgeglichenes institutionensoziologischen Akteurmodell zu entwickeln, mit dem einerseits die prinzipielle Handlungsmächtigkeit und Gestaltungsfähigkeit von Akteuren hinsichtlich institutioneller Regeln erfasst wird, ohne andererseits die gesellschaftliche oder institutionelle Konstitution ihrer Interessen und Handlungsmotive zu negieren.151 Es gilt, die Defizite einseitig voluntaristischer oder deterministischer Akteurauffassungen zu überwinden. Wie bereits angesprochen, vollzieht sich institutioneller Wandel nicht ausschließlich auf einer abstrakten gesellschaftlichen Makroebene, unabhängig von den Interaktionen zwischen Akteuren. Institutioneller Wandel ist vielmehr ein historischer Prozess, der sich im sozialen Handeln realisiert und erst ex post auf der makrosozialen Ebene als solcher deuten lässt. Damit kommen zwei weitere (lediglich analytisch trennbare) Aspekte ins Spiel, die in der Auseinandersetzung mit institutionellem Wandel ebenfalls von Bedeutung sind: eine Prozessperspektive und ein konzeptioneller Beitrag zur Lösung des sogenannten Mikro-MakroProblems. Die gegenwärtig viel diskutierte Prozessperspektive zeugt am augenscheinlichsten von der Neuausrichtung des Forschungsinteresses, Institutionen nicht mehr als unabhängige, sondern als abhängige und damit veränderliche Variablen zu analysieren. In den Arbeiten von Meyer/Rowan (1977) und DiMaggio/Powell (1983) erhalten Institutionen hingegen noch als Bestandsgrößen, als Zustandsmerkmal oder unveränderliche Eigenschaft, Einzug in die Untersuchung. Zwar findet sich auch hier eine Prozessperspektive. Diese bezieht sich jedoch nicht auf das Objekt der Institution, sondern auf einen interorganisatorischen Prozess innerhalb eines abgrenzbaren Bereichs des institutionellen Lebens, dem organisatorischen Feld.152 Nicht die Prozesse der Entstehung (Institutionalisierung) und Veränderung von Institutionen (Deinstitutionalisierung) stehen im Vordergrund des Forschungsinteresses, sondern die Verbreitung vorhandener Institutionen
150 151 152
Vgl. Walgenbach [2006a] S. 393. Dieser Problematik wurde bereits eine Ausgabe des American Behavioral Scientist gewidmet (vgl. die Einleitung zur Sonderausgabe „Action in Institutions“ von Christensen et al. [1997]). Vgl. Walgenbach [2006a] S. 368.
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innerhalb organisatorischer Felder.153 Angesichts gegebener institutioneller „Fakten“ wird von einer zunehmenden Ähnlichkeit der Organisationen in Bezug auf die institutionellen Regeln ausgegangen. Untersuchungsgegenstand ist hier der Isomorphieprozess als ein Prozess der Diffusion einer Institution, der zu einer diesbezüglichen Angleichung der Organisationen führt. Im Gegensatz dazu setzt eine Auseinandersetzung mit dem Wandel von Institutionen voraus, diese selbst als Prozessgröße und insoweit als die abhängige Variable anzusehen.154 Die heutige Prozessperspektive innerhalb des organisationssoziologischen Institutionalismus zeigt sich daher in zweierlei Hinsicht: erstens in einer Verschiebung der Forschungsfrage von einer Zustands- zu einer Prozessbetrachtung von Institutionen und zweitens in theoretischen Konzepten, anhand derer sich die Prozessualität von Institutionen erfassen lässt.155 Die Verschiebung der Forschungsfrage ist offensichtlich, geht es heutzutage doch nicht mehr darum, die Verbreitung gegebener Institutionen zu analysieren, sondern Ursachen und Verlauf ihrer prinzipiellen Veränderlichkeit zu erörtern.156 Im Vordergrund stehen die Prozesse der Entstehung und Veränderung institutionalisierter Regeln, Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung, sowie die Bedingungen ihres jeweiligen Verlaufs. Auf der Suche nach theoretischen Modellen, die diesen Prozesscharakter von Institutionen zu erfassen vermögen, lässt sich unter anderem ein Wiederentdecken der Berger und Luckmann’schen Überlegungen erkennen,157 die in den bisher diskutierten Arbeiten kaum von Bedeutung waren. Mit dem Forschungsinteresse am institutionellen Wandel taucht schließlich ein weiteres, in den Sozialwissenschaften allgemein bekanntes Problemfeld auf: die Mikro-Makro-Problematik. Mit dem Mikro-Makro-Problem werden generell zwei Aspekte angesprochen, ein ontologischer und ein epistemologischer.158 Einerseits werden mit der Mikro-Makro-Unterscheidung verschiedene Realitätsebenen gekennzeichnet, womit der ontologische Aspekt angesprochen wird: „Mikro“ bezieht sich danach auf die Ebene des Individuellen und Informellen, 153
154 155 156
157 158
Soweit in diesen Studien von „institutional processes“ die Rede ist, sind also feldweite Isomorphie- oder Angleichungsprozesse gemeint, nicht jedoch die alltäglichen Interaktionsprozesse, in und mit denen Institutionen aufrechterhalten und verändert werden. Vgl. Scott [1994c] S. 84. Vgl. zu epistemologischen Aspekten einer Prozessmodellierung Scott [2001] S. 92 ff. sowie Scott [1994c] S. 89 ff. Zwei Kernfragen lauten dabei beispielsweise: Warum werden bestimmte Regelungen zu Institutionen, andere hingegen nicht? Was bietet Anlass dazu, Institutionen zu hinterfragen, womit sie ihren institutionalisierten Charakter verlieren können? Vgl. nur Barley/Tolbert [1997]. Vgl. Heintz [2004] S. 2 f. Vgl. zudem Alexander/Giesen [1987].
2.1 Grundlagen des organisationssoziologischen Institutionalismus
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„Makro“ auf das Überindividuelle und Organisierte. Andererseits werden unterschiedliche Erklärungsstrategien oder erkenntnistheoretische Positionen vermittelt, was den epistemologischen Aspekt widerspiegelt: Eine Makroposition verfolgt dabei derjenige, der einer höheren Ebene Gesetzmäßigkeiten zuschreibt, die sich ohne Rückgriff auf eine tiefere Ebene analysieren lassen. Eine Mikroposition wird hingegen eingenommen, sofern Strukturmerkmale der höheren Ebene – Makrophänomene – vollständig aus Prozessen der tieferen Ebene abgeleitet werden. Während die Makroposition letztlich das beinhaltet, was bisher als „von oben nach unten“ gerichtete Perspektive charakterisiert wurde, weist die Mikroposition eine „von unten nach oben“ gerichtete Perspektive auf. Beide Bedeutungsinhalte finden sich auch in der Diskussion um institutionellen Wandel. In ontologischer Hinsicht bilden Institutionen als überindividuelle Gebilde die makrosoziale Sphäre, während die mikrosoziale Ebene aus den sozialen Handlungen individueller Akteure besteht. Hinsichtlich der Frage, wie sich Erkenntnisse über die Veränderlichkeit von Institutionen erlangen lassen, würden Individualisten eine Mikroposition verfolgen, indem sie den institutionellen Wandel dem unmittelbaren Wirken von Akteuren zuschrieben. Dies wäre jedoch als einseitig zu werten, und zwar insofern, als die institutionellen oder strukturellen Bedingungen und die diesbezüglichen unbeabsichtigten Handlungskonsequenzen unberücksichtigt blieben. Holisten würden hingegen eine Makroposition einnehmen; wie angezeigt, würde Wandel danach unter Rückgriff auf äußere Faktoren erklärt. Auch diese Argumentation verliefe einseitig, bliebe damit doch der Prozess des Wandels im Zuge von Veränderungen auf der Interaktionsebene unbeachtet.159 Dies kommt auch im folgenden Zitat zum Ausdruck: „[I]n explaining deinstitutionalization [i.e. institutional change, Anm. d. Verf.], institutional theorists often present causes in the form of deterministic, reified environmental or technological forces: the trigger of change is not problematized. It is as if the hand of god (or, failing god, technology) magically reaches down. But both god and technology…have to be socially and collectively recognized in the first place.“160
Es gilt mittlerweile als unbestritten, dass sich Erkenntnisse über institutionellen Wandel nur über eine Lösung des Mikro-Makro-Problems erlangen lassen.161 159 160 161
Vgl. Hirsch/Lounsbury [1997] S. 415. Clegg/Hardy [1996] S. 680. Vgl. Heintz [2004] S. 28. Dies wird im Übrigen für Theorien des sozialen Wandels generell angenommen, vgl. beispielsweise Hernes [1976] S. 514 f.; Van de Ven [1987] S. 339; Van de Ven/Poole [1988] S. 19 und S. 25 ff.; Sztompka [1991] S. 51 ff; Mintzberg/Westley [1992] S. 57.
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2 Institutioneller Wandel aus dem Blickwinkel der organisationswissenschaftlichen Forschung
Dazu bedarf es eines theoretischen Konzepts, das die Verwobenheit von Prozessen der Mikro- und der Makroebene zu erfassen weiß. Hier wird weiterhin ein deutliches Forschungsdefizit angemahnt, wie Hoffman und Ventresca hervorheben: „Few institutional analyses fully connect the influence of institutional fields to culture and practice on the organizational level. Most research analyzes dynamics in terms of field-level change, not individual response.“162
Angesichts dieses Defizits wird es schließlich als eine weitere theoretische Herausforderung angesehen, den Zusammenhang zwischen den Mikroprozessen des sozialen Handelns und den Institutionen als Makrophänomenen konzeptionell derart aufzuarbeiten, dass sich „von oben nach unten“ und „von unten nach oben“ gerichtete Perspektiven gleichermaßen verfolgen lassen. Insgesamt lässt sich die Forschungsentwicklung im organisationssoziologischen Institutionalismus seit Mitte der neunziger Jahre also anhand von drei Themenfeldern charakterisieren, die allesamt mit dem zunehmenden Interesse an der Untersuchung institutionellen Wandels in Zusammenhang stehen: Akteurmodell, Prozessperspektive und Mikro-Makro-Konzeption. Es hat sich gezeigt, dass die wichtigen Beiträge aus den Jahren 1977 bis 1983 in dieser Hinsicht keine angemessenen konzeptionellen Beiträge zu liefern vermögen. Da ihr Forschungsschwerpunkt nicht auf dem Wandel von Institutionen lag, genügte ihnen eine deterministische Akteurauffassung, eine zustandsbezogene Betrachtung von Institutionen und eine einseitige Makro-Mikro-Ausrichtung („von oben nach unten“). Die aktuellen Diskussionen zeigen jedoch, dass die Erforschung des institutionellen Wandels ein ausgeglichenes – ebensowenig deterministisches wie voluntaristisches – Akteurmodell, eine prozessorientierte Betrachtung von Institutionen sowie eine ganzheitliche Mikro-Makro-Konzeption voraussetzt. Diese theoretischen Herausforderungen der jüngeren Institutionalismusforschung werden im vierten Kapitel wieder aufzugreifen sein. Nachfolgend gilt es zunächst, das Thema institutioneller Wandel genauer zu umreißen sowie einen ausführlichen Blick auf die bisherigen Forschungsergebnisse zu werfen. 2.2 Institutioneller Wandel Wie angezeigt, legt die heutige organisationssoziologische Institutionalismusforschung ihren Schwerpunkt auf die Untersuchung der Dynamik von Institutio162
Hoffman/Ventresca [2002] S. 11. Siehe auch Hasselbladh/Kallinikos [2000] S. 697.
2.2 Institutioneller Wandel
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nen.163 Während sich der vorangehende Abschnitt mit den jüngeren Entwicklungstendenzen und den diesbezüglichen theoretischen Herausforderungen auseinandergesetzt hat, liegt der Schwerpunkt der nachfolgenden Ausführungen darauf, sich den Ergebnissen bisheriger Studien zu widmen. Dazu gilt es zunächst, das Erkenntnisobjekt weitergehend einzugrenzen und das wesentliche Erkenntnisinteresse der Forschungsbemühungen festzuhalten. Anschließend werden die Ergebnisse zahlreicher Forschungsarbeiten ausgewertet. Dabei wird ein Aufbau gewählt, der nicht einzelne Studien in den Vordergrund stellt, sondern die Ergebnisse in einer an den Phasen eines institutionellen Wandelprozesses orientierten Weise präsentiert, wie sie in der Festlegung des Erkenntnisobjekts einleitend definiert werden. Auf diese Weise lässt sich nun zwar nicht der Beitrag einzelner Studien zu den genannten theoretischen Herausforderungen diskutieren. Der „Ertrag“ eines solchen Aufbaus wird jedoch darin gesehen, einen grundlegenden Überblick über jene Vielfalt an Bedingungen zu erlangen, die Beginn und Verlauf institutioneller Wandelprozesse potentiell zu beeinflussen vermögen. Darüber hinaus lässt sich auf diese Weise eine – neben den im vorangegangenen Abschnitt diskutierten theoretischen Herausforderungen – weitere analytische Anforderung an die Erforschung des Phänomens institutionellen Wandels generieren, die im vierten Kapitel wieder aufzugreifen sein wird. 2.2.1 Definition und Erkenntnisinteresse Betrachtet man die derzeitige Forschungslandschaft, so wird institutioneller Wandel häufig mit Deinstitutionalisierung gleichgesetzt. Während Institutionalisierung den sozialen Prozess kennzeichnet, in dem subjektiv sinnhafte soziale Phänomene den Charakter objektiver Faktizität erlangen,164 bezieht sich Deinstitutionalisierung entsprechend auf den sozialen Prozess, in dem Institutionen diese Eigenschaft verlieren oder sogar gänzlich von der Bildfläche verschwinden.165 Oliver, die eine Arbeit zu den Ursachen der Deinstitutionalisierung vorgelegt hat, definiert diese unter Rückgriff auf das Merkmal der Legitimität: „Deinstitutionalization is defined here as the process by which the legitimacy of an established or institutionalized organizational practice erodes or discontinues.“166
163 164 165 166
Dies konstatieren auch Dacin/Goodstein/Scott [2002] in ihrer Einleitung zu einer diesbezüglichen Sonderausgabe des Academy of Management Journal. Vgl. Berger/Luckmann [1969] S. 20. Vgl. Scott [2001] S. 182. Oliver [1992] S. 564.
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2 Institutioneller Wandel aus dem Blickwinkel der organisationswissenschaftlichen Forschung
Deinstitutionalisierung geht insoweit damit einher, dass institutionalisierte Praktiken ihre Legitimität verlieren und – so es sich um ein diskursiv bewusstes Abweichen von den Institutionen handelt – die unvoreingenommene Haltung gegenüber den Praktiken hinterfragt wird. Generell zeigt sich Deinstitutionalisierung auch in einem Verlust der anderen institutionenbestimmenden Eigenschaften. Es mag vordergründig als naheliegend erscheinen, institutionellen Wandel mit Deinstitutionalisierung gleichzusetzen. Holt man indessen weiter aus, so lässt sich prinzipiell jede Art der Veränderung von Institutionen in Prozessen sozialer Interaktion als institutionellen Wandel begreifen. Da Institutionen nicht nur Medium, sondern Ergebnis der sozialen Prozesse darstellen, ist ihr Institutionalitätscharakter ein veränderliches soziales Konstrukt. Vergegenwärtigt man sich die dieser Arbeit zugrunde gelegte Begriffsabgrenzung, wonach die Bezeichnung Institution einem sozialen Phänomen bestimmte Eigenschaften zuschreibt – wie Objektivität, Legitimität und Diffusion – so stellt sich institutioneller Wandel als eine Veränderung dieser Eigenschaften dar. Dabei kann sich ein Wandel in die eine oder andere Richtung äußern: Der objektive oder Gewissheitscharakter eines sozialen Phänomens (seine „taken-for-grantedness“) kann zu- oder abnehmen, seine Legitimität mag sich erhöhen oder hinterfragt werden, die Verbreitung des Phänomens kann zurückgehen oder wachsen. Vor diesem Hintergrund erschöpft sich institutioneller Wandel also nicht nur in einer Deinstitutionalisierung sozialer Phänomene. Vielmehr lässt sich im Sinne dieses weiten Verständnisses auch die Institutionalisierung zu den Prozessen des institutionellen Wandels zählen.167 Für diese weite Betrachtungsweise spricht, dass die Vorstellung von Institutionalisierung gewissermaßen „auf der grünen Wiese“ eine idealtypische Annahme darstellt. In der Realität agieren Akteure niemals in einem institutionsfreien Raum miteinander. Neue soziale Praktiken entwickeln sich in Kontexten, in denen bereits verschiedene institutionalisierte Praktiken vorherrschen. Institutionalisierung impliziert damit immer auch einen lokalen Wandelprozess, der sich als ein Prozess der „bricolage“ verstehen lässt, im Zuge dessen neue Praktiken aus Fragmenten bereits vorhandener Institutionen entstehen.168 Dies bedeutet in der Regel, dass neue Praktiken, selbst wenn sie die alten institutionalisierten Praktiken nicht nur ergänzen sondern ersetzen, stets Züge alter Praktiken enthalten. Daher argumentiert Scott: 167 168
Vgl. Scott [2001] S. 181; Jepperson [1991] S. 152 f. Vgl. Campbell [2004] S. 69 ff.; Scott [2001] S. 192. Siehe auch Bartunek [1984] S. 364 f., die den Wandel von Interpretationsschemata als eine Synthese alter und neuer Schemata beschreibt.
2.2 Institutioneller Wandel
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„It is somewhat arbitrary to distinguish the processes involved in creating institutions from those employed to change them. Institutions do not emerge in a vacuum; they always challenge, borrow from, and, to varying degrees, displace prior institutions.“169
Deinstitutionalisierungs- und Institutionalisierungsprozesse gehen mithin Hand in Hand. Institutioneller Wandel umfasst zumeist beide Prozesse und zeigt sich damit im Ergebnis in Gestalt einer Reinstitutionalisierung der Handlungsgrundlagen. Und so plädiert Scott andernorts dafür, „that it is useful to place studies of deinstitutionalization in a broader context of institutional change, because the weakening and disappearance of one set of beliefs and practices is likely to be associated with the arrival of new beliefs and practices.“170 Diese Auffassung wird von Greenwood, Suddaby und Hinings (2002) geteilt, die eines der wenigen Prozessmodelle des institutionellen Wandels vorlegen (vgl. Abb. 3).171 Sie beschreiben einen Prozess des institutionellen Wandels, der mit dem Wegbrechen institutionalisierter Praktiken beginnt (Deinstitutionalisierung) und sich mit dem Entstehen neuartiger Praktiken und deren allmählichen Institutionalisierung fortsetzt. Ausgehend von sozialen, technologischen oder rechtlichen Veränderungen, die dazu Anlass geben, vorhandene Institutionen zu hinterfragen („precipitating jolts“), grenzen Greenwood, Suddaby und Hinings die Phasen der Deinstitutionalisierung, Preinstitutionalisierung, Theoretisierung, Diffusion und Reinstitutionalisierung voneinander ab.172 Einem Prozess der Deinstitutionalisierung folgen damit verschiedene Stufen der Institutionalisierung: Preinstitutionalisierung als Phase, in der sich auf lokaler Ebene neue Handlungsmuster herausbilden, Theoretisierung als Phase, in der die Handlungsmuster und ihr Wirkungsbeitrag 169
170 171 172
Scott [2001] S. 95. In ähnlicher Weise hat sich Zucker bereits im Jahre 1983 geäußert: „[E]xplaining change in institutional structures must rest on the same aspects which predict their stability…change rests on the integration of the new structure with the old.“ Zucker [1983] S. 25. Scott [2001] S. 184. Eine überarbeitete Version des Modells findet sich bei Hinings et al. [2004]. Vgl. Greenwood/Suddaby/Hinings [2002] S. 59 ff. Grundsätzlich orientieren sich Greenwood, Suddaby und Hinings an dem Modell eines Institutionalisierungsprozesses von Tolbert/Zucker [1996], das wiederum unter Rückgriff auf das Berger/Luckmann’sche Modell entstanden ist. Dabei entspricht Preinstitutionalisierung der Phase der Habitualisierung bei Berger/Luckmann (Greenwood/Suddaby/Hinings wählen die Bezeichnung Preinstitutionalisierung in Anlehnung an Tolbert und Zucker); Theoretisierung lässt sich als Bestandteil der Legitimierung begreifen, die sich – wie die Objektivierung – bei Berger/Luckmann über mehrere Phasen erstreckt; Diffusion stellt letztlich die Übertragung auf andere Akteure dar („Generationen“ in der Berger/Luckmann’schen Begriffswelt) und gilt als weitere Voraussetzung, Institutionalität zu erlangen.
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2 Institutioneller Wandel aus dem Blickwinkel der organisationswissenschaftlichen Forschung
anhand sprachlicher Kategorien spezifiziert werden, Diffusion als Phase einer zunehmenden Objektivierung, in der die Handlungsmuster im Zuge ihrer Verbreitung an sozialer Akzeptanz gewinnen, und schließlich Reinstitutionalisierung als Phase, in der die neuen Praktiken den Status allgemeingültiger, gesellschaftlich angemessener, nicht zu hinterfragender Handlungsweisen erlangen („taken-for-grantedness“) und damit neben einer pragmatischen zudem eine kognitive Legitimierung erfahren.173
„Precipitating Jolts“
DEINSTITUTIONALISIERUNG
PREINSTITUTIONALISIERUNG
THEORETISIERUNG
DIFFUSION
REINSTITUTIONALISIERUNG
LEGITIMIERUNG moralisch und/oder pragmatisch
HABITUALISIERUNG
pragmatisch
EXTERNALISIERUNG
kognitiv
INSTITUTIONALISIERUNG
OBJEKTIVIERUNG LEGITIMIERUNG
Abbildung 3:
173
Prozessmodelle von Greenwood/Suddaby/Hinings (2002) und Berger/Luckmann (1969) im Vergleich
Greenwood, Suddaby und Hinings beziehen sich auf das Legimitätskonzept von Suchman, der verschiedene Formen der Legitimität unterscheidet, namentlich die pragmatische, die moralische und die kognitive Legitimität. Soziale Praktiken gelten dann als pragmatisch legitimiert, wenn sich mit ihnen Wirkungen erreichen lassen, die den Interessen der jeweiligen Anwenderoder Bezugsgruppe entsprechen – wenn sie also als nutzenrelevant bewertet werden. Sie werden in moralischer Hinsicht als legitim beurteilt, sofern sie dem vorherrschenden Normenoder Wertekanon entsprechen; und sie gelten als kognitiv legitimiert, wenn sie im Alltagswissen der Akteure den Status unverrückbarer Fakten annehmen – also Objektivität oder „taken-for-grantedness“ erlangt haben – und nicht weiter thematisiert, sondern unhinterfragt praktiziert werden. Vgl. Suchman [1995a] S. 577 ff.
2.2 Institutioneller Wandel
77
Greenwood, Suddaby und Hinings unterstellen, dass sich neue Praktiken im Zuge ihrer Verbreitung festigen und die dazugehörigen Verhaltenserwartungen einen institutionalisierten Status erlangen (beziehungsweise im Alltagswissen der Akteure Verankerung finden). Im Gegensatz dazu weist DiMaggio darauf hin, dass sich die Diffusion neuer Praktiken nicht notwendigerweise in Isomorphietendenzen niederschlagen muss, als deren Ergebnis ein gemeinsames Verständnis der feldweiten Institutionen steht. Vielmehr kann die Diffusion mit einer weiteren Heterogenisierung innerhalb des organisatorischen Felds einhergehen.174 Er begründet dies dahingehend, dass die Übernahme von Praktiken in der Regel mit lokalen Modifikationen verbunden ist, die ihrerseits wiederum Anstoß zu Veränderungen innerhalb des organisatorischen Felds geben können. Institutionalisierungsprozesse können erneut in Deinstitutionalisierungsprozesse umschlagen. Ersichtlich wird dies, sofern man die Rolle von Akteuren in Diffusionsprozessen berücksichtigt. Dabei zeigt sich, dass sich Institutionalisierung (als makrosozialer Prozess der Feldebene) auf der mikrosozialen, lokalen Ebene der Interaktionsprozesse als ein „process of constituency-building and interpretation“175 darstellt. Aus der Mikroperspektive der beteiligten Akteure lassen sich Diffusionsprozesse sowohl als Problemlösungs- und Entscheidungsprozesse als auch als Prozesse eines kollektiven „sense-making“ begreifen.176 Einerseits analysieren die Akteure den zu erwartenden Problemlösungsbeitrag einer Übernahme neuer sozialer Praktiken vor dem Hintergrund ihrer spezifischen Bedingungen. Andererseits interpretieren und bewerten sie die Praktiken aus dem Blickwinkel ihrer eigenen Erfahrungen und jeweiligen Handlungssituationen. In beiden Fällen wird die Übernahme der Praktiken mit einer „Übersetzung“ an die situativen Gegebenheiten in Verbindung stehen.177 Dies kann im Ergebnis eine Veränderung der Praktiken bedeuten: „General concepts and principles are translated as they are transmitted, producing divergent outcomes.“178
174
175 176 177 178
Vgl. DiMaggio [1988] S. 16. Siehe zur Heterogenität als Ergebnis von Diffusionsprozessen zum Beispiel die Studien von DiMaggio [1991]; Kraatz/Zajac [1996]; Kondra/Hinings [1998]; Lounsbury [2001]. DiMaggio [1988] S. 16. Vgl. zum ersten Gesichtspunkt Meyer [2004] S. 123 f.; Karnøe [1997] S. 424 ff. und Zilber [2002] S. 236 zum „sense making“ institutioneller Kontextbedingungen. Vgl. Czarniawska/Joerges [1996] S. 23 f.; Czarniawska/Sevón [2005] S. 7 f. Dacin/Goodstein/Scott [2002] S. 49 in Anlehnung an Czarniawska/Sevón [1996].
78
2 Institutioneller Wandel aus dem Blickwinkel der organisationswissenschaftlichen Forschung
Die lokalen Veränderungen der Praktiken können auf der Ebene der einzelnen Organisationen verbleiben,179 oder aber ihrerseits Veränderungsprozesse innerhalb des Felds initiieren, indem sie von weiteren Akteuren übernommen werden: „[L]ocal modifications represent a pool of potential innovations that may themselves diffuse to organizations throughout the field.“180
Insgesamt betrachtet, verlaufen Diffusionsprozesse als Übersetzungsprozesse also grundsätzlich ergebnisoffen; die lokalen Anpassungen können sowohl zu einer Institutionalisierung als auch zu einer Deinstitutionalisierung der Praktiken innerhalb des Felds beitragen.181 In diesem Zusammenhang sei angemerkt, dass – so die allgemeine Annahme – eine Übersetzung von Praktiken grundsätzlich stattfindet, und zwar unabhängig davon, ob es sich um die Übernahme einer neuen sozialen Praktik oder um die Reproduktion bestehender institutionalisierter Praktiken handelt. Die Umsetzung institutionalisierter Praktiken auf lokaler Ebene ist generell mit einer Übersetzung, einem „enactment“ angesichts situativer Bedingungen, verbunden: „Of course, construction of social order is a change process itself: (...) the operation of self-interest, and the micro- and macro-inconsistencies must constantly be countered by social construction if the social system is to remain coherent and thus stable.“182
Vor diesem Hintergrund mag es gerechtfertigt scheinen, auch Prozesse der Institutionalisierung, in denen die Institutionalität bestehender Praktiken im lokalen Kontext lediglich Bestätigung findet, im weitesten Sinne als Prozesse des institutionellen Wandels zu werten. Schließlich sei noch eine weitere Anmerkung hinzugefügt. Greenwood, Suddaby und Hinings wollen ihr Prozessmodell des institutionellen Wandels als ein Modell verstanden wissen, das sich ausdrücklich nicht auf den Wandel von Institutionen bezieht, wie er sich kontinuierlich und kaum durch die einzelnen Akteure erkannt im Zuge der alltäglichen Interaktionsprozesse vollzieht.183 Wie 179
180 181
182 183
Was im Übrigen die Entwicklung organisationsspezifischer sozialer Strukturen zu erklären vermag, auf die in Abschnitt 2.2.3.3, Gliederungspunkt a), wieder Bezug zu nehmen sein wird. DiMaggio [1988] S. 16. Sahlin-Andersson bezeichnet die Diffusion denn auch als einen „editing process…[in which diffusing] models are told and retold in various situations and told differently in each situation.“ Sahlin-Andersson [1996] S. 82. Zucker [1988b] S. 45. Vgl. Greenwood/Suddaby/Hinings [2002] S. 59.
2.2 Institutioneller Wandel
79
später noch zu zeigen sein wird, verlaufen Prozesse des institutionellen Wandels allerdings auch in einer solchen routinemäßig vollzogenen, lediglich handlungspraktisch bewussten Weise.184 Gerade die Übersetzung von Praktiken erfolgt vielfach nicht auf der Grundlage einer reflexiv bewussten Übernahme, der eine singuläre Handlungsabsicht vorausgeht, sondern eher im Zuge des Handelns selbst, indem die jeweiligen situativen Bedingungen routinemäßig wahrgenommen, interpretiert und im konkreten Handeln eher beiläufig „verarbeitet“ werden. Zudem verbreiten sich soziale Praktiken nicht nur im Zuge theoriegestützter Diskurse, in denen ihre Vorteilhaftigkeit zum Thema gemacht wird. Eine Verbreitung ist ebenfalls in handlungspraktisch bewusster Weise möglich, indem Akteure die neuen Praktiken in neue Handlungskontexte hineintragen und neuen Akteuren gegenüber „einfach“ in entsprechender Weise agieren, ohne dass dies offen angesprochen wird. Auch eine solche rein personengebundene Verbreitung kann im Ergebnis einen institutionellen Wandel bedeuten. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass sich sowohl Institutionalisierungs- als auch Deinstitutionalisierungsprozesse als Prozesse des institutionellen Wandels ansehen lassen, wobei zwei Aspekte für diese weite Betrachtungsweise sprechen:
Deinstitutionalisierungs- und Institutionalisierungsprozesse gehen miteinander Hand in Hand, finden Entstehung und Übernahme neuer Praktiken doch niemals in einem institutionsfreien Raum – gewissermaßen „auf der grünen Wiese“ – statt. Institutionalisierung stellt sich selbst als ein – wenngleich lokaler – Wandelprozess dar, betrachtet man die übliche Übersetzung („translation“) von Praktiken an die jeweiligen, situationsspezifischen Gegebenheiten in den Momenten der Interaktion.185
Es wurde argumentiert, dass sich institutioneller Wandel in Prozessen der sozialen Interaktion vollzieht, als dessen Ergebnis die Institutionalität sozialer Praktiken reproduziert, verstärkt, verändert oder gänzlich hinterfragt werden kann. Institutioneller Wandel äußert sich dabei – als momenthaftes, im Zuge weiterer Interaktionen veränderliches Ergebnis – in veränderten Graden an Institutionalität. Steigende Institutionalität wird in Prozessen der Institutionalisierung neuartiger sozialer Praktiken erreicht,186 abnehmende Institutionalität ist das Ergebnis aus Deinstitutionalisierungsprozessen. Wie dargelegt wurde, ist die Institutiona184 185 186
Vgl. zur Definition handlungspraktischer Bewusstheit Abschnitt 3.3.2.2. Vgl. zur Institutionalisierung als Übersetzung auch die aktuelle Studie von Zilber [2006]. Dies umfasst die von Jepperson unterschiedenen Arten institutionellen Wandels der „institutional formation“ und der „institutional development/elaboration“. Vgl. Jepperson [1991] S. 152.
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2 Institutioneller Wandel aus dem Blickwinkel der organisationswissenschaftlichen Forschung
lisierung neuer Praktiken üblicherweise mit einer Deinstitutionalisierung alternativer Praktiken verbunden; Reinstitutionalisierung ist somit eine charakteristische Entwicklung in Interaktionsprozessen, die im Kontext gegebener Institutionen stattfinden. Für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema bedeutet das zu klären, welche Bedingungen Akteure zu einer unveränderten Reproduktion vorhandener Institutionen bewegen und unter welchen Bedingungen sie zu einem nicht institutionenkonformen Verhalten neigen.187 Im Folgenden sollen insbesondere zwei Arten betrachtet werden, in denen ein nicht institutionenkonformes Handeln Ausdruck gewinnen kann: in der Entwicklung neuartiger Praktiken einerseits und in ihrer Übernahme andererseits. Während der erstgenannte Aspekt die auslösenden Bedingungen oder Quellen eines institutionellen Wandels betrifft, bezieht sich der zweite Aspekt auf die Bedingungen des weiteren Verlaufs institutioneller Wandelprozesse. Beide Aspekte begründen das Erkenntnisinteresse, wie es der derzeitigen Erforschung institutionellen Wandels zugrunde liegt. In den beiden folgenden Abschnitten gilt es vorzustellen, welchen diesbezüglichen Erkenntnisbeitrag die bisherige Forschung bereits hervorgebracht hat. In Anlehnung an die beiden vorgenannten Aspekte werden dazu zunächst die Bedingungen behandelt, die als potentielle Auslöser institutioneller Wandelprozesse diskutiert werden. Im darauffolgenden Abschnitt werden die Bedingungen zu betrachten sein, die den weiteren Verlauf institutioneller Wandelprozesse zu beeinflussen vermögen. Im Ergebnis wird es darum gehen, die Erkenntnisse verschiedenster Forschungsarbeiten zusammenzuführen, die Aufschlüsse darüber zulassen, warum welche Typen von Akteuren Wandel initiieren, welches die Träger institutionellen Wandels sind, wovon es abhängt, dass Wandelinitiativen von anderen Akteuren aufgegriffen werden, und wodurch die verschiedenartige Reaktion unterschiedlicher Akteure auf besondere Ereignisse und auf Wandelinitiativen beeinflusst wird.188 2.2.2 Quellen des institutionellen Wandels Was die Frage nach den Quellen institutionellen Wandels anbelangt, genügt es, sich mit denjenigen Bedingungen auseinanderzusetzen, die einen Deinstitutionalisierungsprozess in Gang setzen können, lassen sich doch auf diese Weise die Bedingungen einer unveränderten Reproduktion institutionalisierter Praktiken ableiten. Dies sei kurz begründet, bevor anschließend auf die auslösenden Be187 188
Vgl. Scott [2001] S. 95. Vgl. Tolbert/Zucker [1996] S. 186; Scott [2001] S. 211; Dacin/Goodstein/Scott [2002] S. 47.
2.2 Institutioneller Wandel
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dingungen näher einzugehen ist. Es zählt zu den Grundannahmen des organisationssoziologischen Institutionalismus, Akteure als sicherheitsorientierte, stabilitätssuchende Wesen zu begreifen: „Central to institutional theory is the assumption that humans have a preference for certainty and predictability…“189
Zwecks Unsicherheitsreduktion neigen sie dazu, sich vorzugsweise an den institutionalisierten Verhaltenserwartungen zu orientieren.190 Angesichts dieses grundlegenden Sicherheitsbedürfnisses lässt sich vermuten, dass Akteure im Alltag routinehafte, institutionalisierte Handlungsabläufe bevorzugen, was zu einer Stabilisierung des Status Quo, also der gegebenen Institutionen, beiträgt. Dafür spricht außerdem, dass Akteure auch aufgrund einer ressourcenbedingten Pfadabhängigkeit dazu tendieren werden, vorhandene Institutionen zu reproduzieren: „Those affected by an institution will be committed to it by the resources they have invested in its reproduction. In this way, institutions are stabilized by mutually reinforcing sytems of practices, interests, and ideas.“191
Vor diesem Hintergrund ist also zu vermuten, dass Akteure im Sinne gegebener Institutionen handeln, sofern nicht besondere Ereignisse und Bedingungen sie davon abhalten. Daher gilt es, diejenigen Bedingungen zu spezifizieren, unter denen ein nicht den institutionalisierten Verhaltenserwartungen entsprechendes Handeln wahrscheinlich ist. Deckt man nun die Bedingungen auf, die ein nicht institutionenkonformes Verhalten erwarten lassen (und entsprechend Deinstitutionalisierungstendenzen auszulösen imstande sind), lässt sich im Gegenzug aus deren Nichtvorliegen auf die Bedingungen von Reproduktion und Institutionalisierung schließen. Im weiteren Verlauf werden daher ausschließlich die potentiellen Auslöser von Deinstitutionalisierungsprozessen behandelt. Setzt man sich mit den Quellen des institutionellen Wandels auseinander, kommt man nicht umhin, einen Blick in die grundlegende konzeptionelle Arbeit von Oliver aus dem Jahre 1992 zu werfen. Mit ihrer Abhandlung über die Ursprünge institutionellen Wandels will sie einen umfassenden Katalog an potentiellen Auslösern von Deinstitutionalisierungsprozessen liefern. Unter der grundlegenden Annahme, „that under a variety of predictable conditions, institutiona189 190 191
DiMaggio [1988] S. 8; analog Greenwood/Suddaby/Hinings [2002] S. 59. Vgl. Berger/Luckmann [1969] S. 57 und 61 zu der durch Institutionen vermittelten Routinegewissheit. Holm [1995] S. 401.
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2 Institutioneller Wandel aus dem Blickwinkel der organisationswissenschaftlichen Forschung
lized processes or practices will be vulnerable to challenge, reassessment or rejection“,192 spezifiziert sie die Bedingungen, die Deinstitutionalisierungstendenzen wahrscheinlich werden lassen. Diese kategorisiert sie in drei Arten von auslösenden Faktoren, namentlich in funktionale, politische und soziale Faktoren.193 Die Kategorien zeichnen sich laut Oliver jeweils durch einen eigenen Mechanismus aus, über den Deinstitutionalisierungsprozesse angestoßen werden: „[T]hreats to the persistence of an institutionalized practice may be explained by a decline in (a) the functional necessity of the practice, (b) the political interests and agendas that support its maintenance, (c) the degree of cultural consensus among actors that perpetuate it or (d) the structural integrity of proximity and interaction patterns that are necessary to sustain institutional coherence.“194
So wird entweder der Nutzen einer Praktik hinterfragt (funktionaler Mechanismus), oder es erodiert das Machtgefüge, das die Praktik bisher gestützt hat (politischer Mechanismus), oder der unausgesprochene gesellschaftliche Konsens – die „taken-for-grantedness“ – der Praktik schwindet (sozialer Mechanismus), oder es ereignet sich ein Auseinanderbrechen von Interaktionsgefügen, in denen die Praktik angewendet wird (sozialer Mechanismus). Die einzelnen Kategorien von Faktoren sind nun näher zu betrachten. Als funktionale oder technische Faktoren gelten nach Oliver solche Faktoren, die Deinstitutionalisierungstendenzen in Konsequenz einer veränderten Einschätzung der Nützlichkeit oder technischen Instrumentalität einer institutionalisierten Praktik auslösen. Dies wiederum kann darauf zurückgehen, dass die Orientierung an der Praktik von wichtigen Interaktionspartnern oder Akteuren nicht mehr entsprechend honoriert wird, dass die Praktik nicht zur Zielerreichung beiträgt,195 oder dass präzisere Erkenntnisse über den (fehlenden) Nutzenbeitrag der Praktik beziehungsweise über die Vorteilhaftigkeit alternativer Praktiken gewonnen wurden. Dabei kann eine abwertende Einschätzung des Nutzenbeitrags einer Praktik auf unerwartet eingetretene externe Ereignisse zurückgehen,
192 193 194 195
Oliver [1992] S. 564. Oliver spricht synonym von Faktoren und „pressures“. Oliver [1992] S. 581. Oliver bezieht sich hier auf einen Konflikt zwischen ökonomischen und sozialen Zielen, wobei sie unterstellt, dass institutionalisierte Praktiken zur Erreichung sozialer Ziele beitragen. Hier findet sich im Kern die Meyer/Rowan’sche Dichotomisierung von technischen und institutionellen Erfordernissen wieder, womit letztlich unbeachtet bleibt, dass Praktiken zur Erreichung ökonomischer Ziele ebenfalls einen institutionalisierten Status einnehmen können. Vgl. Oliver [1992] S. 572.
2.2 Institutioneller Wandel
83
die den unhinterfragten, handlungspraktischen Umgang mit der Praktik erschüttern: „Idiosyncratic events…and unexpected deviations from taken-for-granted collective norms…tend to throw traditionally perpetuated beliefs and taken-for-granted assumptions into disarray.“196
Deinstitutionalisierungstendenzen können weiterhin durch politische Mechanismen entstehen, wobei diese im Gefolge von Interessen- und Machtveränderungen auftreten. Interessenverschiebungen sowie Veränderungen in der Machtverteilung unter den Akteuren, die die vorherrschenden Institutionen geprägt haben und deren Macht maßgeblich auf diesen ruht, können dazu führen, dass mikropolitische Konflikte ausgetragen werden, in denen die Legitimität der Institutionen hinterfragt wird. Als ursächlich für Interessen- und Machtverschiebungen wertet Oliver ernsthafte Krisen in der Leistungsfähigkeit einer Organisation, das Auftreten interner Unternehmercharaktere, die neuartige Lösungen für vorhandene Probleme liefern, oder das Wegbrechen von Beziehungen zu Akteuren, auf deren Anforderungen oder Wirken die Existenz der Institution(en) wesentlich zurückgeht. Während die funktionalen und politischen Faktoren darüber wirken, dass Akteure die institutionalisierten Praktiken in bewusster Weise anzweifeln und aufgrund dieser Überlegungen ihr Handeln intendiert verändern, beziehen sich soziale Faktoren der Deinstitutionalisierung auf weniger bewusst und weniger beeinflussbar ablaufende Mechanismen. Das Wirken sozialer Faktoren äußert sich laut Oliver in einer zunehmenden Differenzierung sozialer Gruppen hinsichtlich gemeinsamer Anschauungsmuster und Grundeinstellungen („normative fragmentation“). Als soziale Faktoren nennt sie eine hohe Mitarbeiterfluktuation, häufige Wechsel an der Führungsspitze, zunehmende Diversität in der Mitarbeiterzusammensetzung (Spezialisierung) sowie Unternehmungszusammenschlüsse, die dazu führen können, dass gewachsene institutionalisierte Verhaltensweisen an Einfluss verlieren: „New members with backgrounds and experiences that differ from existing members bring different interpretive frameworks and social definitions of behaviour to the organization that act to diminish consensus and unquestioning adherence to taken-for-granted practices.“197
196 197
Oliver [1992] S. 574. Oliver [1992] S. 575.
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Neue Akteure bringen neue Sichtweisen sowie alternative Handlungsmöglichkeiten ein, wodurch die scheinbare Offensichtlichkeit und Unabdingbarkeit bisherigen institutionalisierten Handelns untergraben oder zumindest in Frage gestellt wird. Ein Wissen um alternative Handlungsformen vermag insoweit die Deinstitutionalisierung vorherrschender Institutionen auszulösen.198 Deinstitutionalisierung geht damit auf die Existenz heterogener, teilweise auch konfliktärer Anschauungsmuster und Praktiken zurück. Des Weiteren können Veränderungen in den Interaktionsmustern eines organisatorischen Felds (Feldstruktur) – zurückzuführen auf eine räumliche Differenzierung oder auf veränderte Mitgliedschaften in gemeinschaftlichen Organisationen wie beispielsweise Berufsverbänden – Deinstitutionalisierungstendenzen auslösen: „[W]hen the structure of an institutional field becomes more physically dispersed, loosely connected, non-interactive or locally differentiated, deinstitutionalization of collective values and practices is more likely to occur.“199
Insgesamt führt Oliver den Beginn von Deinstitutionalisierungsprozessen also auf Faktoren aus den drei beschriebenen Kategorien „funktional“, „politisch“ und „sozial“ zurück. Damit vermag sie es, jene auslösenden Faktoren zusammenzustellen, wie sie auch von anderen als bedeutsam angesehen werden. Nicht nur formulieren andere Autoren eine vergleichbare Aufstellung an Faktoren.200 Zugleich finden sich zahlreiche empirische Studien, die verschiedene der von Oliver erfassten Faktoren untersuchen.201 So gibt es jene, die institutionellen Wandel auf eine radikale Veränderung exogener Größen („environmental shocks“) zurückführen, was laut Oliver in die Kategorie funktionaler Faktoren fällt.202 In diesem Sinne argumentiert beispielsweise Fligstein, der in seiner Ana198 199 200 201
202
Vgl. auch Clemens [1998] S. 118. Oliver [1992] S. 578. Vgl. Powell [1991] S. 194 ff., Scott [2001] S. 187 ff. oder Kraatz/Moore [2002] S. 121, deren Faktoren sich den von Oliver genannten unterordnen lassen. In ihrem einleitenden Beitrag in der Sonderausgabe des Academy of Management Journal zum Thema institutioneller Wandel ziehen Dacin et al. die Kategorien von Oliver heran, um die nachfolgenden Studien einzuordnen (vgl. Dacin/Goodstein/Scott [2002] S. 46 f.): in den Studien von Thornton, von Lounsbury, von Lee/Pennings und von Kraatz/Moore werde im Sinne der funktionalen Faktoren argumentiert, Greenwood/Suddaby/Hinings und Townley untersuchen politisch begründete Auslöser von Deinstitutionalisierungsprozessen und Zilber stelle auf die sozialen Ursprünge einer Deinstitutionalisierung ab. Vgl. die bereits beschriebene Studie von Greenwood, Suddaby und Hinings, die mit „precipitating jolts“ verschiedene Arten externer Ereignisse unterscheiden, die zu einer Destabilisierung etablierter (institutionalisierter) Praktiken beitragen: soziale Faktoren („social upheaval“ in Anlehnung an Zucker [1986]), technologische Faktoren sowie regulatorische Faktoren (Änderungen in der Gesetzgebung oder Rechtsprechung). Vgl. Greenwood/Suddaby/Hinings
2.2 Institutioneller Wandel
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lyse des Wandels von Modellen der Konzernorganisation die Destabilisierung der vorherrschenden Modelle unter anderem auf exogene Schocks oder Ereignisse zurückführt.203 Daneben finden sich Studien, die vornehmlich anhand eines politischen Mechanismus argumentieren und institutionellen Wandel ursächlich in soziopolitischen Konflikten verankert sehen.204 Beispielhaft sei hier Hoffman zitiert, der die politische Sichtweise in einer seiner Studien in der folgenden Weise charakterisiert: „[The political view depicts] organizational fields as „arenas of power relations“…wherein field-level constituents engage in institutional war…The outcome of this war is the product of a political negotiation process in which politics, agency relationships, and vested interests…guide the formation of institutions that will guide organizational behavior.“205
Auch das vieldiskutierte Konzept des institutionellen Unternehmers als eines Akteurs, der aufgrund verschiedentlich definierter Machtfaktoren Wandelprozesse auszulösen imstande ist,206 lässt sich im Sinne von Oliver hier zuordnen. Schließlich bewegen sich solche Forschungsarbeiten, die Deinstitutionalisierungsprozesse als durch Veränderungen auf lokaler Ebene angestoßen erachten, im Bereich der Oliver’schen Kategorie sozialer Faktoren. In diesen Arbeiten wird üblicherweise die Bedeutung von Akteuren als Träger und Vermittler von Institutionen hervorgehoben. Es wird argumentiert, dass sich die Akteure in unterschiedlichen institutionellen Sphären bewegen und ein je nach individuellen Erfahrungen und Lebenswegen eigenes Repertoire an Handlungspraktiken tragen.207 Damit verfügen einzelne Akteure über ein recht breites und vielschichtiges Handlungsrepertoire, das sie befähigt, institutionalisierte Schemata und Praktiken in neue Kontexte zu übertragen.208 Die Vielschichtigkeit vorhandener
203
204 205 206 207 208
[2002] S. 59 f. Tolbert und Zucker unterscheiden als Arten exogener Veränderungen technologische Veränderungen, Veränderungen in der Gesetzgebung und Veränderungen der „market forces“. Vgl. Tolbert/Zucker [1996] S. 182. So urteilt Clemens [2002] S. 399 über Fligsteins umfangreiche Studie aus dem Jahre 1990. Er selbst schreibt dazu: „[F]or an organizational field...to be altered requires an enormous crisis or an invasion by outside firms.“ Fligstein [1990] S. 287. Siehe auch Fligstein [1991] S. 322. Vgl. beispielsweise Hirsch [1986]; Clemens [1993] und [1997]; Stryker [1994], [2000] und [2002]; Galvin [2002]; Lounsbury/Ventresca/Hirsch [2003]; Maguire/Hardy [2006]. Hoffman [1999] S. 367. Vgl. DiMaggio [1988] S. 14 sowie die diesbezüglichen Ausführungen in Abschnitt 2.2.3.3, Gliederungspunkt b). Vgl. Clemens [1997] S. 48. Siehe hierzu beispielsweise die Studie von Kraatz/Moore [2002] zur Rolle von Führungswechseln in Prozessen des institutionellen Wandels. Vgl. Sewell [1992] S. 17.
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institutionalisierter Praktiken und die Übertragung kontextfremder Praktiken vermögen im Zuge eines sozialen Mechanismus Prozesse des institutionellen Wandels einzuleiten.209 Schließlich kann auch die bereits erwähnte Übersetzung institutionalisierter Praktiken an die lokalen Gegebenheiten des jeweiligen Handlungskontextes als ursächlich für institutionellen Wandel im Sinne der Oliver’schen Kategorie sozialer Faktoren gelten. In diesem Zusammenhang ist beispielsweise die individuelle Weise zu nennen, mit der Akteure auf rollenspezifische Regeln Bezug nehmen, was zu einer allmählichen Veränderung gesellschaftlicher Rollenerwartungen im Sinne des Oliver’schen sozialen Mechanismus beitragen kann: „All formal roles are continually eroded by the personal characteristics of the current incumbent, by the characteristics of those with which he or she is in interaction, and by aspects of the situation – shaped by the process not simply of role taking but also of role making in which the formal attributes of the role are modified (...). Institutionalized rules, then, contain the seeds of their own disruption by specifying conditions under which they legitimately should be modified.“210
Insgesamt betrachtet, erscheint die von Oliver vorgelegte Kategorisierung mithin als hilfreich, einen Überblick über die potentiell auslösenden Bedingungen institutionellen Wandels zu gewinnen sowie verschiedene Studien hinsichtlich ihres Erkenntnisinteresses einzuordnen. Bei näherem Hinsehen zeigt die Kategorisierung jedoch auch kritische Aspekte. Erstens lässt sich die kategorielle Zuordnung der Faktoren nicht in allen Fällen nachvollziehen. So ließe sich beispielsweise hinterfragen, warum Veränderungen in Gesetzgebung und Rechtsprechung der Kategorie sozialer Faktoren zugeordnet werden. Oliver begründet dies damit, dass unter diese Kategorie all’ jene Ereignisse fallen, die außerhalb der Kontrollierbarkeit durch die einzelne Organisation liegen.211 Diese Begründung mag nun aber auch auf andere der genannten Faktoren zutreffen, gerade auf die unvorhergesehen eintretenden externen Ereignisse, die Oliver indes der Kategorie „funk209
210 211
Dies vollzieht sich entweder in bewusster, reflektierender Weise, indem die Akteure die Sinnhaftigkeit der in diesem Kontext vorhandenen institutionalisierten Praktiken offen zur Diskussion stellen (womit laut Oliver ein funktionaler Faktor wirken würde), oder aber nicht diskursiv bewusst initiiert, indem sie diese Praktiken immer weniger und schließlich gar nicht mehr anwenden und durch die neuen Praktiken ersetzen. Institutionen verändern sich sowohl im Zuge lokaler Problemlösungsprozesse als auch dadurch, dass Ideen aus anderen Kontexten – entweder diskursiv bewusst oder gleichsam beiläufig – in einen neuen Kontext übertragen werden. In den Worten von Zilber [2002] S. 249 gesprochen: „Actors can be passive carriers of institutional meanings and actions, or they can be (or become) more active in associating or dissociating actions with specific meanings.“ Vgl. ebenfalls Scott [2001] S. 212. Zucker [1988b] S. 26. Die Idee eines „role-making“ geht auf Turner [1962] zurück. Vgl. Oliver [1992] S. 578.
2.2 Institutioneller Wandel
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tional“ zugeordnet hat. Im Übrigen mag man auch diese Einordnung hinterfragen, berücksichtigt man, dass externe Ereignisse nicht notwendigerweise einen funktionalen Mechanismus induzieren, sondern ebensogut unmittelbare Machtveränderungen implizieren (man denke nur an Ressourcenverteilungen, die sich im Zuge von Naturkatastrophen schlagartig verändern – laut Oliver Ausdruck eines politischen Mechanismus) oder auch vorhandene Wertvorstellungen radikal in Frage stellen können (was Oliver dem Wirken des sozialen Mechanismus zuschreibt). Damit ließe sich überzeugender argumentieren, dass externe Ereignisse sowohl über funktionale als auch über politische und soziale Mechanismen Deinstitutionalisierungsprozesse hervorzurufen imstande sind. Demgemäß lässt sich zweitens die Dreiteilung in voneinander unabhängige Kategorien funktionaler, politischer und sozialer Faktoren grundsätzlich überdenken, hält man sich vor Augen, dass jeder Prozess des institutionellen Wandels mit Veränderungen in allen drei Kategorien einhergeht. Dabei ist nicht immer ohne weiteres zu ermitteln, welcher Aspekt ursprünglich auftritt beziehungsweise welcher Mechanismus ursächlich für einen Wandel von Institutionen verantwortlich zeichnet. Führen beispielsweise erst Interessenkonflikte innerhalb einer Gruppe von Akteuren dazu, dass diese auch kontextfremde Praktiken ins Spiel bringen? Oder ist es das Einbringen kontextfremder Praktiken, das dazu führt, dass die Akteure ihre Interessen und entsprechenden Handlungsweisen überdenken? Verändern sich die internen Machtverhältnisse, gerade weil die Akteure ein Wissen über neuartige Praktiken aus anderen Kontexten hereinbringen, womit sie gegenüber den anderen einen Wissensvorsprung haben, den sie zwecks Erlangens einer vorteilhafteren Machtposition einsetzen? Oder sind es anderweitig zu begründende interne Machtverschiebungen, die Akteure dazu veranlassen, zwecks Verteidigung ihrer eigenen Machtposition auf neuartige Praktiken zurückzugreifen? Bereits an diesen Beispielen politischer und sozialer Mechanismen zeigt sich, dass die Suche nach dem ursprünglichen Auslöser von Veränderungsprozessen ein schwieriges, wenn nicht gar unmögliches Unterfangen darstellt. Überhaupt lässt sich institutioneller Wandel nicht kausal auf eine alleinige Kategorie oder gar einen einzelnen der genannten Faktoren zurückführen. Vielmehr handelt es sich um ein multifaktorielles Phänomen, das auf zahlreiche Bedingungsfaktoren zurückgeht. Zudem sind institutionelle Wandelprozesse als historische Phänomene zu werten. Die Ursachen institutioneller Wandelprozesse hängen von den spezifischen, historisch einmaligen Kontextbedingungen einer untersuchten Periode ab. So lassen sich zwar aus einer einzelnen Studie Erkenntnisse über die auslösenden Faktoren des untersuchten Deinstitutionalisierungsprozesses ziehen. Verallgemeinern lassen sich diese Erkenntnisse indes nicht. Welche Faktoren in welchen Phasen eines institutionellen Wandelpro-
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2 Institutioneller Wandel aus dem Blickwinkel der organisationswissenschaftlichen Forschung
zesses bedeutsam sind, lässt sich nicht generell festhalten, sondern ist historisch bedingt.212 Trotz dieser Kritik liegt die Bedeutung der Oliver’schen Kategorisierung zumindest darin, ein Bündel potentiell denkbarer auslösender Bedingungen aufzuzeigen, die sich in empirischen Untersuchungen historisch einmaliger Wandelprozesse betrachten lassen. In einem nächsten Schritt gilt es nun zu eruieren, wie wahrscheinlich es ist, dass die genannten Faktoren tatsächlich zum Beginn eines institutionellen Wandelprozesses beitragen können. So lässt sich beispielsweise angesichts vielschichtiger und widersprüchlicher Institutionen – für Oliver ja ein möglicher sozialer Faktor – nicht per se davon ausgehen, dass daraufhin Wandelprozesse angestoßen werden. Ebensowenig müssen selbst solche Ereignisse, die die bisherigen Handlungsbedingungen zunächst erschüttern, dazu führen, dass Akteure dauerhaft von ihren institutionalisierten Verhaltensweisen lassen. Inwieweit Wandelprozesse initiiert und fortgeführt werden, ist von weiteren Bedingungen abhängig, die im folgenden Abschnitt näher zu diskutieren sind. 2.2.3 Prozess des institutionellen Wandels Legt man die Sichtweise Berger und Luckmanns zugrunde, so stellt institutioneller Wandel ein sozial konstruiertes Phänomen dar. Es tritt nicht ad hoc und kurzfristig auf oder lässt sich durch das strategische Handeln einzelner Akteure plangemäß verwirklichen. Institutioneller Wandel ereignet sich vielmehr allmählich im Zuge einer Vielzahl räumlich und sozial voneinander getrennter Interaktionsprozesse. Der Ausgang eines institutionellen Wandelprozesses lässt sich damit nicht auf das Wirken einzelner Akteure reduzieren. Zwar haben Akteure einen gewissen Einfluss auf den Verlauf institutioneller Wandelprozesse, den es im Rahmen dieses Abschnitts zu konkretisieren gilt. Ihr Einfluss zeigt jedoch insofern Grenzen, als der Wandel von Institutionen soziale Räume erfasst, die so weitgreifend sind, dass einzelne Akteure diesen kaum in ihrem Sinne zu steuern vermögen. Institutioneller Wandel ist an raumzeitlich verteilte soziale Handlungsprozesse gebunden, die sich im Übrigen unter den situationsspezifischen Bedingungen wechselnder lokaler Handlungskontexte ereignen. In Anbetracht der historisch einmaligen Bedingungen innerhalb dieser Kontexte sowie der unterschiedlichen menschlichen Handlungsmächtigkeit, auf diese zu reagieren, stellen sich soziale Handlungsprozesse prinzipiell als ergebnisoffen dar: Ihr Er212
Ereignisse und Fakten sind historisch zu begreifen, das heißt in ihrer Abhängigkeit von historisch einmaligen Kontextbedingungen. Vgl. Abbott [1992] S. 756; Schülein [1987] Kap. 2.1.
2.2 Institutioneller Wandel
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gebnis lässt sich nicht im Vorhinein bestimmen. Wenngleich damit ausgesagt wird, dass die Erforschung institutionellen Wandels im Ergebnis keine allgemeingültigen Kausalaussagen zu präsentieren weiß, lassen sich dennoch Erkenntnisse aus den bisherigen Studien ziehen. So ist es möglich, verschiedene Bedingungen zu diskutieren, die darauf zu wirken scheinen, wie institutionelle Wandelprozesse prinzipiell verlaufen können. Hier lassen sich aus den jüngeren institutionalistischen Studien Bedingungen ableiten, die zu beeinflussen vermögen, ob und wie die den Wandel potentiell auslösenden Faktoren aufgegriffen und weiterverfolgt werden. Die nachfolgenden Abschnitte widmen sich diesen Bedingungen, die aus einer Analyse unterschiedlicher sowohl konzeptioneller als auch empirischer Studien gewonnen werden. Dabei wird ein Aufbau gewählt, der sich an dem unter Abschnitt 2.2.1 vorgestellten Prozessmodell des institutionellen Wandels orientiert. 2.2.3.1 Habitualisierung Welche spezifischen Bedingungen finden sich im weiteren Verlauf eines institutionellen Wandelprozesses? Wovon hängt es ab, dass auch andere Akteure als die Begründer neuer Handlungspraktiken ihre Praktiken in analoger Weise ändern? Grundlagen zum Verständnis des Verlaufs institutioneller Prozesse wurden bereits von Berger und Luckmann gelegt, die als erste entsprechende Voraussetzung die Habitualisierung von Handlungsmustern innerhalb einer Gruppe von Akteuren genannt haben. Bevor auch andere Akteure als diejenigen, die den ersten Veränderungsimpuls gegeben haben, neue Praktiken aufgreifen, müssen sich diese zunächst als feste, gewohnheitsmäßige Handlungsmuster entwickelt haben und in den bisherigen Handlungsverläufen verankert sein. Es müssen sich erst einmal Praktiken herausgebildet haben, bevor sie von anderen übernommen werden können. Legt man die Definition von Giddens zugrunde, dann stellen Praktiken habitualisierte Handlungsmuster dar: „[W]hen speaking of regularized types of acts I shall talk of human practices, as an ongoing series of „practical activities“.“213
Auf welche Weise sich neue Handlungsmuster herausbilden, lässt sich erneut in Anlehnung an Oliver unterscheiden. In ihrer Kategorisierung der Auslöser von Deinstitutionalisierungsprozessen hat Oliver darauf verwiesen, dass die auslö213
Giddens [1976] S. 75.
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senden Faktoren grundsätzlich auf zwei Arten auf Interaktionsprozesse wirken:214 Entweder lösen die Faktoren ein direktes „Störgefühl“ bei den Akteuren aus, womit ein Reflexionsprozess über die Sinnhaftigkeit der bisher institutionalisierten Praktik einsetzt und das bisherige, institutionengeleitete Handeln überdacht wird, oder die Akteure handeln entgegen institutionalisierter Verhaltenserwartungen, ohne jedoch entsprechende Handlungsabsichten bewusst vorangestellt zu haben.215 Im ersten Fall bilden laut Oliver funktionale und politische Faktoren den Anstoß, wobei es zu einer bewusst wahrgenommenen „Krise der Handlung“ kommt, in der die bislang habitualisierten Reaktionsschemata nicht mehr greifen.216 Die Akteure zweifeln am Nutzen der Institution (an deren ökonomischen Nutzen oder politischen Wert) beziehungsweise fragen sich, was ihnen ein institutionengemäßes Handeln einzubringen vermag, und konzipieren ein alternatives Handlungsmuster. Im zweiten Fall sozialer Faktoren werden nichtinstitutionengemäße Handlungen mehr oder weniger spontan vollzogen, ohne dass dies auf deliberativen Entscheidungsprozessen beruht. Vielmehr sind es soziale Faktoren wie beispielsweise eine diffuse Vielfalt institutioneller Vorgaben, die ein nicht intendiertes Abweichen von Institutionen wahrscheinlich werden lassen. Im Falle heterogener, möglicherweise gar widersprüchlicher Institutionen ist der empfundene Druck, sich gemäß einer bestimmten Institution zu verhalten, gering. In dieser Situation ist es denkbar, dass die Akteure im Sinne einer einzelnen der zugrundeliegenden institutionalisierten Praktiken handeln, ohne dass sie damit bewusst von den übrigen Institutionen abweichen wollen. Alternativ ist es möglich, dass sie sich an keine der institutionalisierten Praktiken halten, sondern „innovativ“ handeln. Im Ergebnis realisieren sie einen Wandel
214 215
216
Vgl. Oliver [1992] S. 575. Als Beispiel seien deutsche Manager genannt, die erstmalig mit chinesischen Managern verhandeln und sich in ihren Handlungsweisen an dem orientieren, was in ihrer Gesellschaft als sinnhaftes und angemessenes Verhalten gilt. Dies mag im Widerspruch zu den institutionalisierten Praktiken des chinesischen Kulturraumes stehen, was bedeuten kann, dass die deutschen Manager entweder ganz bewusst ihre Praktiken überdenken und verändern, oder dass sich beide Seiten eher handlungspraktisch bewusst, allmählich im Handeln einander annähern. So formuliert Bergmann [1988] S. 90 in einer Auseinandersetzung mit der Sozialtheorie George Herbert Meads: „Das Bewußtsein kommt erst ins Spiel, wenn emergente Ereignisse oder Handlungsprobleme den Übergang in die Reflexion fordern“ – wenn also eine „Krise der Handlung“ auftritt. Auf diese Weise soll letztlich vermittelt werden, dass routinehaftes Handeln durch scheinbar unbewusste Handlungsabsichten geleitet wird und dass (diskursives) Bewusstsein erst mit dem Auftreten von Krisen einsetzt. Im Gegensatz dazu sieht Giddens auch das routinehafte Handeln als bewusst gesteuert an, und zwar im Sinne eines handlungspraktischen Bewusstseins. Vgl. hierzu Abschnitt 3.3.2.2.
2.2 Institutioneller Wandel
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auf lokaler Ebene, ohne dass sie dies als primäre Handlungsabsicht verfolgt hätten.217 Vor diesem Hintergrund bleibt festzustellen, dass sich von Institutionen abweichende Handlungsmuster entweder intendiert oder nicht intendiert entwickeln: „[S]ome changes may be intended, willed by the agents, effected as the realization of their preconceived projects; other changes may emerge as unintended side-effects, by-products of actions aimed at entirely different goals.“218
Erfolgt ein Abweichen intendiert, so entscheiden sich die Akteure bewusst gegen ein institutionenkonformes Verhalten und entwickeln aufgrund reiflicher Überlegung ein alternatives Handlungsmuster. Erfolgt dies nicht intendiert, so variieren die Akteure ihre Handlungsmuster gegenüber den institutionellen Bedingungen, ohne einen solchen Wandel als primäre Handlungsabsicht zu verfolgen. Das Ergebnis der Phase der Habitualisierung stellt sich als ein Wandel auf lokaler Ebene dar: Eine Gruppe von Akteuren hat eine neue Praktik herausgebildet, mit der sie entweder intendiert oder nicht intendiert von den institutionalisierten Praktiken abweichen. Hat nun die erste Gruppe von Akteuren Handlungsabläufe entwickelt, die sie selbst bereits regelmäßig und routinisiert wiederholen, kann die Praktik als einigermaßen stabil gelten, so dass sie sich auf andere Gruppen übertragen lässt beziehungsweise von anderen übernommen werden kann. Mit der Habitualisierung ist indes lediglich die Vorstufe des institutionellen Wandels realisiert. Institutioneller Wandel bedingt nicht nur den Wandel institutionalisierter Verhaltensweisen innerhalb einer einzelnen Gruppe, sondern setzt entsprechend veränderte Verhaltensweisen in einem größeren sozialen Kontext voraus. Legt man beispielsweise ein organisatorisches Feld als Analyserahmen zugrunde, so muss sich der lokale Wandel als ein feldweiter Wandel fortsetzen. Es bedarf also der Verbreitung der neuen Praktik innerhalb des organisatorischen Felds, im Zuge derer die Praktik allmählich einen legitimierten und allgemeingültigen – objektivierten – Status erlangen kann. Die Ausbreitung einer neuen Praktik innerhalb eines größeren sozialen Raums (der Einfachheit halber sei weiterhin an ein organisatorisches Feld gedacht) vollzieht sich ebenfalls auf zwei Arten, die sich erneut hinsichtlich der 217
218
Wenngleich in den Ausführungen vereinfachenderweise von einer neuen Praktik die Rede ist, die eine andere institutionalisierte Praktik ablöst oder verändert, gilt es nicht zu verkennen, dass sich Veränderungen in praxi üblicherweise auf mehrere Praktiken beziehen, sind Praktiken doch in vielfältiger Weise mit anderen Praktiken verwoben. Eine einzelne Praktik kann beispielsweise mehrere (Teil-)Praktiken umfassen oder mit anderen Praktiken sequentiell verbunden sein. Sztompka [1993] S. 274.
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primären Handlungsintention der Akteure voneinander abgrenzen lassen. Zielen die Akteure darauf ab, mit einer Übertragung der Praktik einen institutionellen Wandel hervorzurufen (ein gängiges Ziel sozialer Bewegungen), so sei von einem intendierten Übertragungsmechanismus die Rede. Verfolgen sie kein entsprechendes Ziel, handeln jedoch auch gegenüber anderen Akteuren im Sinne der neuen, nicht institutionenkonformen Praktik, soll dies von einem nicht intendierten Übertragungsmechanismus zeugen.219 Diffusion – oder gar die Initiierung institutionellen Wandels – ist dann kein Ziel der Akteure. Zudem ist ihnen möglicherweise gar nicht bewusst, dass sie mit der neuen Praktik von den vorherrschenden Institutionen abweichen und dass eine Verbreitung des neuen Handlungsmusters einen institutionellen Wandel bedeuten würde. Im Folgenden wird vereinfachend angenommen, dass der intendierte Verlauf eines institutionellen Wandelprozesses maßgeblich von einer Theoretisierung der neuen Handlungsgrundlagen getragen wird, wohingegen der nicht intendierte Verlauf auf einer personengebundenen Übertragung unter vorrangiger Verwendung sozialer Kontrollmechanismen beruht.220 Hinsichtlich der intendierten Übertragung soll davon ausgegangen werden, dass die Objektivierung mit einer Theoretisierung einhergeht, in der über die Sinnhaftigkeit der neuen Praktik(en) offen debattiert und die Diffusion der Praktik in weiten Teilen durch die Verwendung von Medien gestützt wird.221 Im Gegensatz dazu kann angenommen werden, dass sich die Objektivierung im Falle der nicht intendierten Übertragung im Zuge eines personenbezogenen Mechanismus einstellt. Hier vollzieht sich der Wandel nicht auf der Grundlage bewusst vorgenommener Theoretisierungsbemühungen. Die Verbreitung der neuen Praktik ist dann nicht – wie im Falle des intendierten Wandels – an eine breite Verwendung medialer Unter219
220
221
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Abgrenzung intendiert – nicht intendiert nicht impliziert, dass Akteure nicht intendiert handeln. Jede soziale Handlung beruht auf Prozessen der subjektiven Reflexion, was bedeutet, dass sich die Beteiligten mit bestimmten Handlungsabsichten tragen und in diesem Sinne intendiert handeln. Soweit hier von einem nicht intendierten Wandelmechanismus die Rede ist, soll also nicht generell das absichtsgeleitete Handeln von Individuen in Frage gestellt werden. Vielmehr stellt die Bezeichnung darauf ab, anzuzeigen, inwieweit ein Wandel auf lokaler Ebene oder die Verbreitung einer neuen Praktik mit der vorrangigen Handlungsabsicht verfolgt wurden, entgegen vorherrschender Institutionen zu handeln oder für einen institutionellen Wandel einzutreten. Damit soll nicht negiert werden, dass auch im Falle einer intendierten Übertragung soziale Kontrollmechanismen zur Anwendung gelangen. Grundsätzlich gilt jedoch, dass eine „theoretisierte“ Praktik in ihrer Verbreitung weniger auf relationale Beziehungen, das heißt auf eine Übermittlung über direkte und indirekte soziale Beziehungen unter Verwendung sozialer Kontrollmechanismen, angewiesen ist. Vgl. Meyer [2004] S. 128. Damit findet Theoretisierung hier in engerer Weise Verwendung, als dies beispielsweise bei Meyer der Fall ist, die die Entwicklung theoretisierender „accounts“ grundsätzlich als einen Bestandteil institutioneller Wandelprozesse ansieht. Vgl. Meyer [2004] S. 131.
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stützung gekoppelt. Vielmehr ereignet sich die Diffusion durch eine Übertragung von Person zu Person, wobei diese vorwiegend soziale Kontrollmechanismen einsetzen, um in ihren Interaktionen ein Handeln im Sinne der neuen Praktik zu erreichen. Die Diffusion ist an direkte Interaktionsbeziehungen gebunden, womit sich ein institutioneller Wandel, der weitgehend auf dem personengebundenen Übertragungsmechanismus fußt, langsamer vollzieht als im Falle einer durch Theoretisierung gestützen Übertragung: „Shared understandings generated by an interacting pair may homogenize the actors involved, but not larger populations.“222
In der weiteren Auseinandersetzung mit den Bedingungen des institutionellen Wandelprozesses steht die Behandlung einer theoriegestützten Diffusion im Vordergrund. Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen stellt damit die Annahme dar, eine Gruppe von Akteuren strebe danach, innerhalb eines organisatorischen Felds einen institutionellen Wandel herbeizuführen. Die Verbreitung alternativer Handlungsmuster hängt nun in einem ersten Schritt davon ab, den neuen Praktiken im Zuge der Theoretisierung eine erste Grundlage ihrer Legitimation zu verschaffen. 2.2.3.2 Theoretisierung Haben Akteure eine neue Praktik innerhalb ihrer lokalen Handlungsabläufe habitualisiert und verfolgen nun das Ziel, eine entsprechende Veränderung von Institutionen anzustoßen, hängt dies im Weiteren davon ab, sie der breiten Masse innerhalb des organisatorischen Felds als legitime Handlungsweise zu vermitteln. Dies setzt einen Theoretisierungsprozess voraus. Der Prozess der Theoretisierung findet in der jüngeren Auseinandersetzung mit institutionellem Wandel zunehmend Beachtung, lassen sich hierüber doch Erkenntnisse über die Legitimierung neuartiger Handlungsgrundlagen – und damit über ein wesentliches Element der Institutionalisierung – erlangen.223 Im Zuge der Theoretisierung werden die Grundlagen für die Legitimität einer zu institutionalisierenden Praktik gelegt. Laut Suchman drückt sich die Legitimität einer Praktik in der generellen, geteilten Überzeugung aus, dass diese angesichts sozial konstruierter Normen, Werte, Glaubensvorstellungen und Definitionen als 222 223
Strang/Meyer [1993] S. 493. Vgl. zum Beispiel Munir [2005]; Greenwood/Suddaby/Hinings [2002]; Strang/Soule [1998]; Tolbert/Zucker [1996]; Suchman [1995a].
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wünschenswert, sachgerecht und angemessen zu beurteilen ist.224 Legitimität lässt sich in einem ersten Schritt beziehungsweise in Teilen mit Hilfe der Theoretisierung erzeugen.225 Theoretisierung bedeutet, die Legitimation einer neuen Praktik anhand abstrakter sprachlicher Kategorien inhaltlich zu spezifizieren. Dies setzt sowohl die Spezifikation eines Problems als auch die Rechtfertigung dessen voraus, welchen Problemlösungsbeitrag die neue Praktik zu leisten vermag:226 „By theorization we mean the self-conscious development and specification of abstract categories and the formulation of patterned relationships such as chains of cause and effect.“227
Theoretisierung beinhaltet einerseits, einen Sachverhalt als unbefriedigend darzulegen und ein entsprechendes Empfinden bei einer ausgewählten Gruppe an Akteuren zu wecken. Es gilt, ein Problembewusstsein zu erzeugen, wodurch Akteure überhaupt erst auf Neuartiges aufmerksam werden. Andererseits sind im Rahmen der Theoretisierung Ursache-Wirkungszusammenhänge zu formulieren, anhand derer sich die Vorteilhaftigkeit einer neuen Praktik im Sinne einer wünschenswerten, sachgerechten und angemessenen Problemlösung belegen lässt. Theoretisierung bezieht sich auf einen Prozess der sozialen Konstruktion, der sich in diskursiven Austauschprozessen ereignet und sich über einen längeren Zeitraum erstreckt.228 Als Ergebnis der Theoretisierung steht ein gemeinsames Verständnis bezüglich der Sinnhaftigkeit einer bestimmten Praktik. Ein gemeinsames Verständnis lässt sich nicht ad hoc herstellen, sondern bedarf des regelmäßigen diskursiven Austauschs. Die anfänglich vorgegebenen Konzeptionen erfahren dabei kleinere und größere Veränderungen. Wenngleich sich Theoretisierung also prinzipiell als ergebnisoffener sozialer Prozess darstellt, finden sich dennoch Ansätze, wie einzelne Akteure, die einen institutionellen Wandel herbeizuführen intendieren, auf diesen einwirken können. Wie noch zu zeigen sein wird, spielt dabei die strategische Verwendung von Sprache als symbolisches Instrument eine wesentliche Rolle. In welchem Maße sich ein Theoretisierungsprozess gestalten lässt sowie die Bedingungen, die den Erfolg eines solchen Unterfangens mitbestimmen, seien nun nachfolgend näher behandelt. 224 225
226 227 228
Vgl. Suchman [1995a] S. 574. Laut Greenwood, Suddaby und Hinings verhilft die Theoretisierung dazu, neue Praktiken als pragmatisch und moralisch legitim zu vermitteln. Vgl. Greenwood/Suddaby/Hinings [2002] S. 60. Vgl. Tolbert/Zucker [1996] S. 183. Strang/Meyer [1993] S. 492. Vgl. Greenwood/Suddaby/Hinings [2002] S. 72; Munir [2005] S. 94.
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Grundsätzlich hängt der Erfolg von Theoretisierungsbemühungen davon ab, inwieweit es gelingt, in der Argumentation an vorhandene kulturelle Gegebenheiten anzuknüpfen. Dahinter verbirgt sich einmal mehr die Annahme, dass Akteure ein gewisses Maß an sich wiederholenden Vorgängen benötigen. Die vorherrschenden Institutionen stellen Orientierungsmuster zur Ausrichtung des Verhaltens dar, was den Akteuren einen grundlegenden Halt in ihren alltäglichen Interaktionen vermittelt. Theoretisierungen gelten nun als umso überzeugender, je eher sie einen Zusammenhang zu den bekannten institutionalisierten Handlungsgrundlagen herstellen: „Das „Wesen“ eines Accounts liegt darin, etwas potentiell Zweifelhaftes durch Bezugnahme auf beziehungsweise seine Verankerung in etwas Unhinterfragtem zu rechtfertigen.“229
Je eindeutiger in der Theoretisierung an vorhandene kulturell legitimierte Handlungsgründe angeknüpft wird (und auf diese Weise ein „account“ geliefert wird), umso wahrscheinlicher ist die Akzeptanz des Neuartigen. Durch Rückgriff auf bekannte kulturelle Kategorien wird ein „cultural linkage“ im Sinne von Strang und Meyer aufgebaut: Es werden soziale Ähnlichkeiten aufgezeigt, was die Identifikation mit dem Neuartigen erleichtert.230 Sprache nimmt im diskursiven Prozess der Theoretisierung eine wichtige Stellung ein, wie es bereits Berger und Luckmann vermerken: „Die objektivierte soziale Welt wird von der Sprache auf logische Fundamente gestellt. Das Gebäude unserer Legitimation ruht auf der Sprache, und Sprache ist ihr Hauptinstrument.“231
So ist Sprache als symbolisches Instrument derart einzusetzen, dass in der Wahl der sprachlichen Kategorien auf solche Begriffe zurückgegriffen wird, die institutionell belegt sind, die also symbolische Bedeutungen in sich tragen beziehungsweise auf bestehende institutionalisierte Handlungsregeln verweisen.232 In
229 230 231
232
Meyer [2004] S. 133. „[T]he cultural understanding that social entities belong to a common social category constructs a tie between them.“ Strang/Meyer [1993] S. 490. Berger/Luckmann [1969] S. 69. Siehe auch Hoffman [1999] S. 352, Greenwood/Suddaby/Hinings [2002] S. 60 f., Meyer [2004] S. 130; Phillips/Lawrence/Hardy [2004] S. 637; Suddaby/Greenwood [2005] S. 37. Vgl. zur Rolle von Sprache im Prozess der Objektivierung grundlegend Berger/Luckmann [1969] S. 39 ff. sowie die frühe Studie von Zucker [1983], in der sie sprachliche Kategorien zur Beurteilung des Institutionalitätsgrads heranzieht.
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der Entwicklung neuen Rezeptwissens ist auf das vorherrschende gesellschaftliche Rezeptwissen Bezug zu nehmen.233 Hinweise zur Rolle von Sprache als symbolisches Instrument finden sich in der Literatur zum „linguistic framing“, einem Konzept, das auch innerhalb der institutionalistischen Forschung Anwendung findet. Das Konzept des „framing“ bezieht sich generell auf eine Steuerung der Wahrnehmung von Akteuren. Im Zentrum stehen Prozesse, in denen unter Einsatz von Sprache soziale Interpretations- und Wahrnehmungsschemata beeinflusst werden sollen.234 Die Verwendung des Konzepts innerhalb des organisationssoziologischen Institutionalismus geht auf eine Untersuchung von Hirsch aus dem Jahre 1986 zurück. In dieser mittlerweile viel zitierten Studie beschäftigt sich Hirsch mit der Institutionalisierung von Unternehmungsübernahmen in den USA. Dabei liegt sein Hauptaugenmerk auf der Rolle von Sprache in der Institutionalisierung dieser neuen sozialen Praktik. Seine Analyse fußt auf der oben genannten These von Berger und Luckmann, wonach die Objektivierung neuartiger Handlungsmuster mit einer Bildung sprachlicher Elemente und Kategorien einhergeht. Hirsch arbeitet drei wesentliche Bedeutungen von Sprache (beziehungsweise von „linguistic frames“) in sozialen Handlungsprozessen heraus.235 Erstens wirkt Sprache grundlegend institutionenbildend, sie ermöglicht die Institutionalisierung einer innovativen Praktik: „[T]o conceive of an institution…presupposes their convergence: experience requires description and expression before it can be ordered; sequences of experience must be routinized and legitimated as roles before they can be constituted and analyzed as institutions.“236
Neben dieser Bedeutung von Sprache, die Hirsch als deren institutionelle Funktion bezeichnet, kommen der Sprache in diskursiven Handlungsprozessen zwei weitere Funktionen zu: eine kognitive und eine sozialpsychologische Funktion. Sprache übernimmt insofern eine kognitive Funktion, als sie eine Ressource darstellt, die Akteure dazu nutzen, innovative Ereignisse zu beschreiben, zu ordnen und in ihrer Sinnhaftigkeit zu erfassen. So weisen sich die Akteure gegenseitig soziale Rollenmuster und damit institutionalisierte Handlungsskripte 233 234 235 236
Vgl. zu Rezeptwissen Berger/Luckmann [1969] S. 70 f., die den Begriff analog zu Alltagsund Allerweltswissen verwenden. Vgl. Fiss/Hirsch [2005] S. 30; Benford/Snow [2000] S. 614. Vgl. Hirsch [1986] S. 822 ff. Hirsch [1986] S. 827. Hiermit knüpft Hirsch erneut an Berger und Luckmann an, die die Bedeutung von Rollen als Träger oder Vermittler von Institutionen in sozialen Handlungsprozessen betont haben. Vgl. Berger/Luckmann [1969] S. 78 ff.
2.2 Institutioneller Wandel
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zu. Durch die sprachliche Zuweisung von Rollen werden die reziproken Verhaltenserwartungen gesteuert, womit wiederum eine gegenseitige Bewertung des Verhaltens ermöglicht wird. Zudem werden durch die Anwendung bekannter Bilder und literarischer Genres Ereignisse in einen bestimmten sozialen Rahmen eingebunden, womit zugleich eine Ausgrenzung jener Ereignisse erfolgt, die gesellschaftlich als unangebracht angesehen werden. Schließlich wirkt Sprache zugleich sozialpsychologisch, indem sie hilft, Ereignisse in einer bestimmten Weise zu rechtfertigen und ihnen damit eine möglicherweise empfundene Belastung zu nehmen. Diese Wirkungen von Sprache lassen sich ansatzweise durch ein strategisches „linguistic framing“, das heißt einen strategisch gewählten Einsatz von Sprache in Theoretisierungsprozessen, realisieren.237 In einer aktuellen Studie unterscheiden Suddaby und Greenwood fünf sogenannte rhetorische Strategien, die zwecks Theoretisierung institutioneller Wandelbemühungen herangezogen werden können. Sie bezeichnen diese als teleologische, historische, kosmologische, ontologische und wertbasierte Strategie.238 Eine teleologische Rhetorik zeichnet sich dadurch aus, dass der Wandel als unabdingbares Mittel zur Erreichung gesellschaftlich bedeutsamer Endziele dargestellt wird. Um mit den Worten von Suchman zu sprechen, lässt sich durch ein Aufzeigen der Nutzenrelevanz die pragmatische Legitimierung einer neuen Praktik unterstützen.239 Dies ist daran gebunden, einen überzeugenden Bezug zwischen den akteurindividuellen und den übergeordneten gesellschaftlichen Zielen herzustellen. Als zweite Strategie sehen Suddaby und Greenwood eine ontologische Argumentation, anhand derer ein Wandel unter Rückgriff auf logische Kategorien begründet wird. Dabei wird die Unabdingbarkeit eines Wandels anhand von Inkonsistenzen zwischen logisch-analytischen Kategorien nahegelegt, die aus den der Beurteilung zugrundeliegenden (Meta-)Theorien gewonnen werden. Wandel zielt darauf ab, diese Inkonsistenzen aufzuheben, wobei zumeist argumentiert wird, dass auf diejenigen Praktiken zu verzichten sei, deren theoretisches Fundament im Konflikt zum bevorzugten theoretischen Rahmen steht. In einer kosmologischen Argumentationsstrategie wird der Wandel als naturgegebene Konsequenz universeller Entwicklungen dargestellt, auf die die Akteure keinen Einfluss auszuüben vermögen. Hier wird der Eintritt eines institutionellen Wandels als unausweichlich dargelegt, unabhängig davon, ob sich die Akteure ihm nun beugen oder widersetzen. Eine historische Argumentationsstrategie wird verfolgt, sofern in der Begründung des Wandels vornehmlich auf 237 238 239
Vgl. Fligstein [2001] S. 113; Suddaby/Greenwood [2005] S. 40. Vgl. Suddaby/Greenwood [2005] S. 51 ff. Siehe ebenfalls Kieser [1996] S. 23 ff. Vgl. Suchman [1995a] S. 578.
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Traditionen verwiesen wird. Institutioneller Wandel wird insofern als erforderlich dargestellt, als er eine Aufrechterhaltung von Traditionen ermöglichen kann, die aufgrund geänderter makrosozialer Bedingungen andernfalls „untergehen“ würden. Schließlich wird wertbasiert argumentiert, soweit die normative Autorität bestehender Wertesysteme hervorgehoben wird. In dieser rhetorischen Strategie wird die Bedeutsamkeit des Wandels unter Anknüpfung an gesellschaftlich vorherrschende Wertmaßstäbe begründet. Ziel ist es dann, die neue Praktik moralisch zu legitimieren.240, 241 Gerade die letztgenannte Strategie der Theoretisierung führt im Grundsatz wieder zum Ausgangspunkt der Argumentation zurück: Eine Theoretisierung wird umso wahrscheinlicher einen Prozess des institutionellen Wandels voranbringen, je eher ein Bezug zu den vorherrschenden Institutionen – die ja die allgemeinen Wertmaßstäbe reflektieren – hergestellt wird. Es wird angenommen, dass dies umso leichter gelingt, je allgemeingültiger (institutionalisierter) die Werte sind, anhand derer die Bedeutung einer neuen Praktik begründet wird.242 Dies kommt im Besonderen solchen Werten zu, die in einem kulturellen Raum weit verbreitet sind und sich in den Praktiken verschiedenster sozialer Systeme widerspiegeln. Wird in der Theoretisierung an Werte wie Fortschritt oder Individualität angeknüpft, die im westlichen Kulturraum einen allgemeingültigen, institutionalisierten Status einnehmen, ist eine Akzeptanz der neuen Praktik wahrscheinlicher. Bezogen auf die Verbreitung neuartiger organisatorischer Gestaltungskonzepte im industrialisierten Teil der Welt mag also folgendes gelten: "[T]he better an organizational recipe is justified in terms of a wide range of celebrated values, such as renewal, progress, individualism, effectiveness, and efficiency, the better it travels.“243
Im Gegensatz dazu kann sich eine Theoretisierung schwierig gestalten, sofern sich der soziale Raum, innerhalb dessen sich eine neuartige Praktik verbreiten soll, hinsichtlich der zugrundeliegenden Werte uneinheitlich oder segregiert zeigt. Sind die allgemeinen makrosozialen Bedingungen der institutionellen 240 241
242 243
Vgl. Suchman [1995a] S. 579. Als weitere, nicht genannte rhetorische Strategie sind Argumentationen denkbar, in denen auf die bereits erlangte Legitimität der betreffenden Praktik verwiesen wird, sei es innerhalb einer Gruppe von Akteurtypen, der auch die angesprochene Gruppe potentieller Anwender angehört (vgl. Strang/Soule [1998] S. 275 f.), oder sei es in einem anderen kulturellen Raum (vgl. Strang/Meyer [1993] S. 500). Vgl. Meyer [1996] S. 250; Strang/Meyer [1993] S. 500 ff. Røvik [2002] S. 117.
2.2 Institutioneller Wandel
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Umgebung vielfältig oder sogar widersprüchlich, herrscht kein genereller gesellschaftlicher Konsens über angemessene Verhaltensformen vor, an die sich in der Argumentation über die Vorteilhaftigkeit der neuen Praktik anknüpfen ließe. Damit deutet sich bereits an, dass der Erfolg von Theoretisierungsbemühungen nicht allein durch die Art der gewählten Theoretisierungsstrategie beeinflusst wird, sondern zugleich weiteren soziostrukturellen Bedingungen unterliegt, die im Rahmen des nachfolgenden Abschnitts behandelt werden. 2.2.3.3 Diffusion Wie bereits angedeutet wurde, ist mit der Theoretisierung der Prozess der Legitimierung einer Praktik nicht vollständig abgeschlossen. Im Zuge der Theoretisierung kann gewissermaßen erst die instrumentelle Basis einer Institutionalisierung erarbeitet werden, nicht hingegen die kognitive Verankerung im kollektiven Alltagswissen der Akteure. Mit den Worten von Suchman gesprochen, kann mit Hilfe der Theoretisierung allenfalls der Prozess der pragmatischen Legitimierung, in eingeschränkter Weise der Prozess der moralischen Legitimierung, unterstützt werden, beruhen beide doch wesentlich auf diskursiven Auseinandersetzungen.244 Dies gilt hingegen nicht für die kognitive Legitimierung, deren Ergebnis – abgesehen von einem veränderten Alltagswissen – eine unausgesprochene Orientierung an den neuen Handlungspraktiken darstellt. Die kognitive Legitimierung vollzieht sich erst im Zuge einer kontinuierlichen Reproduktion der Praktiken in den alltäglichen Handlungsabläufen. Soziale Praktiken sind erst dann vollumfänglich legitimiert – und gelten entsprechend als institutionalisiert –, sofern sie einer neuen Generation von Akteuren als selbstverständlich gelten, also einen Objektivitäts- oder „taken-for-granted“-Status erreicht haben. Dies setzt ihre Übertragung auf eine neue Generation von Akteuren voraus. Im Folgenden seien daher weitere Bedingungen genannt, die den Verlauf des Diffusionsprozesses neuartiger sozialer Praktiken mitbestimmen können. Ausgangspunkt bilden die Bedingungen, die in einem ersten Schritt beeinflussen können, wie eine Organisation auf die durch eine Theoretisierung gestützten Praktiken reagiert. Dabei wird vereinfachend davon ausgegangen, dass die Verbreitung neuer Praktiken im Falle einer Theoretisierung nicht in einer handlungspraktisch bewussten, kaum reflektierten Weise erfolgt, sondern dass einer Übernahme jeweils ein lokaler Entscheidungsprozess vorangeht. Begründen lässt sich dies mit der aufgrund der Theoretisierung geweckten Aufmerksamkeit: Die regelmäßigen öffentlichen Diskurse über die Vorteilhaftigkeit einer innovativen Praktik 244
Vgl. Suchman [1995a] S. 585.
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gehen nicht unberücksichtigt an den Akteuren vorbei, sondern lenken die Aufmerksamkeit in Richtung einer Wahrnehmung des Neuen. a) Organisationsspezifische soziale Bedingungen In welcher Weise die Akteure eines Felds auf die theoretisierten Praktiken reagieren, wird von organisationsspezifischen Bedingungen beeinflusst.245 Die Überlegung, neuartige Praktiken zu übernehmen, geht grundsätzlich damit einher, dass die Akteure einer Organisation neue Probleme wahrnehmen, die sich aus ihrer Sicht nicht mehr – oder zumindest nicht zufriedenstellend – durch die vorhandenen institutionalisierten Praktiken lösen lassen.246 Von den vorherrschenden Institutionen geprägte Kosten-Nutzen-Abwägungen spielen hier eine entscheidende Rolle. Die Akteure hinterfragen dabei die Relevanz des vorliegenden Problems. Handelt es sich um ein erfolgskritisches Problem, dessen Nichtlösung den Unternehmungserfolg maßgeblich gefährden könnte? Daneben stellt sich die Frage der Problemlösungsfähigkeit durch die Anwendung bisheriger Praktiken. Lässt sich das Problem anhand der bisherigen Praktiken wenigstens noch einer befriedigenden Lösung zuführen oder erscheinen diese nicht mehr als geeignet? Schließlich stellen Kosten und Nutzen einer Neuorientierung entscheidungsrelevante Größen dar. Mit welchen Umstellungskosten wäre die Übernahme der neuartigen Praktik verbunden? In welchem Maße ließe sich mit der neuen Praktik eine Lösung der neuen Probleme erreichen? Im vorangehenden Abschnitt wurde bereits gezeigt, dass sich die Entscheidungsfindung der potentiellen Anwender einer neuen Praktik durch die Art der Theoretisierung beeinflussen lässt. An dieser Stelle sei eine weitere Bedingungsvariable genannt: die individuelle Historie einer Organisation. Die KostenNutzen-Abwägungen werden generell durch den bisherigen Entwicklungsverlauf der Organisation beeinflusst.247 In Anlehnung an die These der Pfadabhängigkeit lässt sich argumentieren,248 dass sich im Zuge vergangener Entscheidungen organisationsspezifische Praktiken und Verhaltensmuster herausgebildet haben, die die Wahrnehmung und das Entscheidungsverhalten in der Gegenwart prägen.249 Auch die These der Übersetzung von Institutionen im Kontext ihrer Anwendung 245 246 247 248 249
Vgl. Walgenbach [2002] S. 173 ff.; Greenwood/Hinings [1996] S. 1031 ff. Vgl. Tolbert/Zucker [1996] S. 182; Meyer [2004] S. 106 f. Vgl. Powell [1991] S. 192 f. Vgl. zur Verwendung der These der Pfadabhängigkeit im Institutionalismus Campbell [2004] S. 65 ff. Siehe ebenfalls Powell [1991] S. 192. Vgl. ebenfalls Stinchcombes Studie aus dem Jahr 1965, in der er das „imprinting“ von Organisationen durch die im Gründungsprozess erfolgten Entscheidungen aufzeigt.
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besagt im Kern, dass Organisationen soziale Praktiken individuell ausgestalten und organisationsspezifische soziale Strukturen entwickeln. Das bedeutet, dass Organisationen im Hinblick auf neuartige Praktiken in unterschiedlicher Weise – in Abhängigkeit von ihrem bisherigen Entwicklungsverlauf – reagieren werden. Als weitere vermittelnde Bedingung, die im Entscheidungsprozess über die Umsetzung neuartiger Praktiken von Bedeutung ist, gilt das wahrgenommene Verhalten der anderen Akteure im organisatorischen Feld: „[D]ecision-makers’ perception of relative costs and benefits of adopting will be influenced by observations of other organizations’ behavior…the more organizations that have adopted the structure, the more likely will decision-makers perceive the relative balance of costs and benefits to be favorable.“250
Welche Kosten sind zu erwarten, sofern man sich gegen eine Praktik entscheidet, die sich allmählich zur Institution, zum Standard, des Felds entwickelt? Die Anzahl der Akteure, die eine neuartige Praktik bereits verfolgen – entsprechend also der bereits erreichte Diffusionsgrad der Praktik innerhalb des Felds –, beeinflusst ebenfalls die Kosten-Nutzen-Überlegungen. Je verbreiteter eine Praktik bereits ist, umso wahrscheinlicher werten die Akteure diese als „gute Wahl“, was Auswirkungen auf die Kosten-Nutzen-Abwägungen zugunsten der neuen Praktik hat.251 Allerdings ist es nicht allein die Anzahl der Akteure, sondern insbesondere ihre Macht in den Augen der anderen, die das Entscheidungsverhalten der Akteure nachhaltig prägt. b) Macht Die Macht derjenigen Akteure, die eine neuartige Praktik entweder eigenständig entwickelt oder bereits übernommen, oder maßgeblich deren Theoretisierung vorangetrieben haben, spielt eine wesentliche Rolle in der Entscheidung einer Organisation, diese selbst umzusetzen.252 Organisationen orientieren sich in ihrem eigenen Entscheidungsverhalten am Verhalten anderer Akteure ihres Umfelds.253 Zu den für das eigene Handeln 250 251
252 253
Tolbert/Zucker [1996] S. 183. Es wird angenommen, dass dies nur bis zu einer gewissen Grenze Geltung beanspruchen kann: eine weit verbreitete Praktik kann dazu Anlass geben, sich von ihr abzusetzen, um durch eine solche Differenzierung einen Wettbewerbsvorteil zu erlangen. Vgl. Kondra/Hinings [1998]. Diese Überlegung verbirgt sich ebenfalls hinter der „s-shape curve of institutionalization“ bei Lawrence/Winn/Jennings [2001] S. 626 f. Vgl. Tolbert/Zucker [1996] S. 182. Vgl. Fligstein [1985] S. 389.
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als relevant erachteten Akteuren zählen die unmittelbaren Wettbewerber, beobachtet werden jedoch ebenso Organisationen aus anderen Bereichen. Generell stehen die als machtvoll angesehenen Akteure im Fokus, wobei sich Macht hier im Wesentlichen in monetären Erfolgsgrößen widerspiegelt, aber auch im Alter einer Organisation, in ihrer Größe, in ihrem Zugang zum Ressourcenmarkt oder ihrer aus anderen Gründen gewonnenen Reputation (zum Beispiel aufgrund einer gesellschaftlich angesehenen Produktpalette, eines anerkannten sozialen Engagements oder der Beschäftigung bekannter, einflussreicher Persönlichkeiten). Im Institutionalismus wird Macht zumeist relational definiert, das heißt anhand der Netzwerkposition eines Akteurs.254 Als machtvoll gelten danach die zentral positionierten Akteure eines organisatorischen Felds (oder eines anderen sozialen Raums), die per definitione über die meisten sozialen Beziehungen innerhalb des betrachteten Netzwerks verfügen. Sie gelten insofern als machtvoll, als sie die Fähigkeit besitzen, den Verlauf sozialer Handlungsprozesse zu beeinflussen, indem sie „über Sozialisationsprozesse (…) verfügen, und damit die Macht, Wirklichkeit zu setzen.“255 Machtvollen Akteuren wird eine Vorbildfunktion zugesprochen; die von ihnen entwickelten oder gewählten Handlungspraktiken haben Modellcharakter und gelten aufgrund ihrer Anwendung durch die Machtinhaber als sozial autorisiert. Durch ihre soziale Autorisierung erlangen die Praktiken das, was Aldrich und Fiol als soziopolitische Legitimität bezeichnet haben,256 nämlich ein Ausmaß an öffentlicher Akzeptanz, welches Auswirkungen auf die weitere Diffusion der Praktik haben kann. „Thus the popularity of various ideas and recipes and the range and speed of their diffusion may depend on whether they have been socially authorized, that is, clearly associated with those actors who are celebrated as particularly successful.“257
Für die Diffusion einer neuen Praktik heißt das zweierlei. Einerseits mag die Diffusion als umso wahrscheinlicher gelten, je deutlicher und je mehr machtvolle Akteure deren Relevanz hervorheben oder diese bereits implementiert haben.258 So sucht beispielsweise Fligstein zu zeigen, dass sich neue Managementkonzepte
254 255 256 257 258
Vgl. hierzu grundlegend die Studie von DiMaggio/Powell [1983]. Siehe ebenfalls Scott [1991] S. 176 sowie zur relationalen Definition von Macht Emirbayer [1997] S. 291 f. Berger/Luckmann [1969] S. 128. Sie definieren soziopolitische Legitimität als „the extent to which a new form conforms to recognized principles or accepted rules and standards.“ Aldrich/Fiol [1994] S. 645 f. Røvik [2002] S. 116; siehe dort ausführlich zu „social authorization“ S. 122 ff. Vgl. Townley [2002] S. 169; Strang/Soule [1998] S. 274 f.; Tolbert/Zucker [1996] S. 185.
2.2 Institutioneller Wandel
103
ausgehend von den machtvollen Akteuren eines Felds verbreiten.259 Andererseits hängt die Schnelligkeit einer Diffusion davon ab, ob es die zentralen Akteure waren, die die Praktik ins Leben gerufen haben, oder ob deren Entwicklung auf Außenseiter des organisatorischen Felds zurückgeht. Sind die zentral positionierten Akteure selbst die Innovatoren, mag eine Verbreitung der neuen Praktik zügiger vonstatten gehen, verfügen sie doch bereits über die sozialen Beziehungen, um die Diffusion – auch unter Einsatz der genannten Theoretisierungsstrategien – voranzutreiben.260 Hingegen verfügen Außenseiter nicht über ein vergleichbar dichtes Netz an Beziehungen, um ihre Innovation zu propagieren. Stehen nur wenige Kanäle zur Kommunikation bereit, ist zu vermuten, dass die Verbreitung der neuen Praktik entsprechend langsam einsetzt.261 Die Wahrscheinlichkeit, dass zentrale Akteure allerdings bereits als Initiatoren eines institutionellen Wandels auftreten, wird in der Literatur als gering eingestuft. Die Frage, welche Typen von Akteuren aus welchen Gründen am wahrscheinlichsten einen Wandel initiieren, wird ausführlich im Zusammenhang mit dem Konzept des institutionellen Unternehmertums diskutiert. Dieses Konzept erfährt gegenwärtig eine breite Beachtung,262 was sich mit dem generell zunehmenden Interesse an einer ausgereifteren Konzeption der Handlungsmächtigkeit („agency“) von Akteuren begründen lässt.263 Institutionelle Unternehmer werden ganz allgemein als Akteure definiert, deren Ziel es ist, neue Institutionen hervorzubringen.264 Die verschiedenen Forschungsarbeiten zum Thema zeichnen sich durch die grundlegende Annahme aus, dass institutionelles Unternehmertum am Rande organisatorischer Felder entsteht:
259 260
261
262
263
264
Vgl. Fligstein [1985] S. 389 und [1990] Kap. 8. Wie noch zu zeigen sein wird, hängt dies wiederum von der gegebenen Struktur des organisatorischen Felds ab. Vgl. die nachfolgenden Ausführungen zu den makrosozialen Bedingungen institutionellen Wandels unter Gliederungspunkt c). Dies muss dann nicht der Fall sein, wenn die Außenseiter zwar über wenige Beziehungen verfügen, dafür aber über die „richtigen“. Sind sie mit den zentralen Akteuren des Felds verbunden, und können sie diese zu einer Übernahme der Praktik bewegen, die anschließend als „subsidiary actors“ (DiMaggio [1988] S. 15) den institutionellen Wandel unterstützen, kann dies die Verbreitung einer Praktik beschleunigen. Dasselbe gilt, sofern sie über Beziehungen zu einflussreichen Theoretikern verfügen. Darauf wird in Kürze einzugehen sein. Vgl. beispielhaft Fligstein [1997]; Beckert [1999]; Campbell [2004] S. 74 ff.; Maguire/Hardy/Lawrence [2004]; Dorado [2005]; Hwang/Powell [2005]; Munir/Phillips [2005]; Battilana [2006]; Greenwood/Suddaby [2006]; Leca/Naccache [2006]. Allerdings ist es fraglich, inwieweit sich dies anhand des Konzepts erreichen lässt, stehen die Aussagen zum institutionellen Unternehmertum doch vielfach einem voluntaristischen Handlungskonzept nahe. Vgl. DiMaggio [1988] S. 14, auf den die Bezeichnung institutioneller Unternehmer zurückgeht.
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„Within organizational fields, the locus of change will originate in those units that are least subject to isomorphic pressures (...) innovation and diversity will be more likely to come from the periphery of organizational fields or from outside sources.“265
Begründet wird dies einerseits damit, dass die Außenseiter eines Felds in weitaus geringerem Maße dem Konformitätsdruck der vorherrschenden Institutionen ausgesetzt sind.266 Auch wird darauf verwiesen, dass die am Rande des Felds positionierten Akteure eher im Austausch mit anderen organisatorischen Feldern stehen. Sie kommen dadurch mit anderen Institutionen in Berührung und verfügen entsprechend über ein breiteres Wissensspektrum an Handlungspraktiken. Die Disposition zum Wandel steigt mit dem Wissen um alternative Praktiken. Andererseits wird angeführt, dass die Macht der zentralen Akteure auf den vorherrschenden Institutionen beruht, womit ihnen ein Interesse an der Aufrechterhaltung der Institutionen unterstellt werden kann: „[T]he interests of the most powerful institutional players, who are the only ones capable of bringing about change at the institutional level, have been built into the institutional rules…“267
Sie werden aus diesem Grunde wenig geneigt sein, einen institutionellen Wandel herbeizuführen, wodurch ja eine Grundlage ihrer Macht wegbrechen könnte. Diese Aussage lässt sich allerdings dahingehend relativieren, dass das Interesse zentraler Akteure, selbst einen Wandel zu initiieren oder sich zumindest frühzeitig neuer sozialer Praktiken anzunehmen, mit dem potentiellen Ansehen der Praktik innerhalb der Gesellschaft variieren kann. So wird argumentiert, dass, sofern es sich um eine potentiell prestigeträchtige Praktik handelt, zentral positionierte Akteure ein Interesse daran haben werden, diese frühzeitig zu implementieren; handelt es sich hingegen um eine auf den ersten Blick weniger aussichtsreiche, Reputation vermittelnde Praktik, so werden es eher die „marginal men“ sein, die sich frühzeitig der neuen Praktik annehmen.268 An dieser Stelle bleibt zunächst festzuhalten, dass die Bedeutung von Akteuren im Diffusionsprozess in Verbindung mit dem Ausmaß ihrer Macht variiert, wobei angenommen wurde, dass sich Macht in der Netzwerkzentralität der Akteure widerspiegelt. Betrachtet wurden vornehmlich solche Machtinhaber, die von anderen Akteuren deswegen als Referenzgruppe zur Orientierung des Ver265 266 267 268
Powell [1991] S. 198. Vgl. Leblebici et al. [1991] S. 358; Stryker [2002] S. 181. Munir [2005] S. 95. Vgl. Strang/Meyer [1993] S. 504.
2.2 Institutioneller Wandel
105
haltens angesehen werden, weil sie ihnen sozial ähnlich sind (wie beispielsweise Wettbewerber oder Unternehmungen benachbarter Industriezweige). Akteure identifizieren sich leichter mit ihnen, weil sie sie derselben sozialen Kategorie – derselben Akteurklasse – zuordnen und insoweit annehmen, dass sie vergleichbaren Bedingungen unterliegen. Dies kann die Wahrscheinlichkeit und die Schnelligkeit eines Diffusionsprozesses beeinflussen.269 Bisher unerwähnt blieb, wie sich die Macht anderer organisatorischer und individueller Akteure, wie Gesetzgebern, Unternehmungsberatern, Wissenschaftlern, Berufsverbänden und sozialen Bewegungen, auf den Diffusionsprozess auswirken kann. Auch Gesetzgebungsinstanzen, die den rechtlichen Rahmen des Handelns innerhalb organisatorischer Felder definieren, üben Macht in Diffusionsprozessen aus.270 Die Macht von Gesetzgebern wird dabei nicht anhand von Zentralität begründet, sondern äußert sich in Form von Sanktionsmacht, also der Fähigkeit, unrechtmäßiges Handeln zu sanktionieren. Gesetzesänderungen gelten nicht nur als Auslöser von institutionellen Wandelprozessen. Vielmehr können sie Einfluss auf den Verlauf von Diffusionsprozessen nehmen, soweit sie in der Folge einer neuentwickelten Praktik erlassen werden. So hat Hirsch am Beispiel von Unternehmungsübernahmen in den USA gezeigt, dass sich diese Praktik erst dann durchgesetzt und stark verbreitet hat, nachdem der Gesetzgeber entsprechende Gesetze erlassen hatte, die deren Ausübung regulieren sollten. Die Praktik feindlicher Unternehmungsübernahmen begann in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, zunächst angetrieben durch einige wenige Akteure, die keine Verbindungen zur wirtschaftlichen Elite aufwiesen. Sie galten als Außenseiter, deren Position ihnen keinerlei Status innerhalb der „peer community“ vermittelte. Der Widerstand der wirtschaftlichen Elite war zunächst gering, handelte es sich doch um eine innovative Praktik, die zunächst wenig Verbreitung erfuhr und innerhalb der Gesellschaft zudem als illegitim galt. Die Gefahr für die großen Unternehmungen, selbst ein Kandidat einer feindlichen Übernahme zu werden, wuchs jedoch im Laufe der Zeit. Dies führte dazu, dass der Staat gesetzliche Regelungen verabschiedete, die die Praktik der feindlichen Übernahme regulieren sollten.271 Damit setzte zwar vorübergehend ein Rückgang der Praktik ein. Gleichzeitig gewann sie jedoch gerade aufgrund ihrer gesetzlichen Verankerung an Ansehen und Legitimität. Ab 1973 begannen denn auch große Unternehmungen, die traditionelle Achtung gegenseitiger Unabhängigkeit aufzugeben, 269 270
271
Vgl. Strang/Meyer [1993] S. 490 ff. Vgl. hierzu beispielsweise die Studien von Tolbert/Zucker [1983] und Sutton/Dobbin [1996]. Vgl. zur Bedeutung von Gesetzgebungsinstanzen für das Handeln von und in Organisationen ebenfalls den Überblicksartikel von Edelman/Suchman [1997] zum diesbezüglichen Stand der Forschung. Festgeschrieben im 1968 verabschiedeten „Williams Act“. Vgl. Hirsch [1986] S. 809 f.
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und übernahmen andere Unternehmungen.272 Nun waren es nicht mehr Außenseiter, die feindliche Übernahmen praktizierten, sondern zentral positionierte und insoweit mächtige Vertreter der Wirtschaftselite. Das Hinzutreten dieser einflussreichen Akteure bedeutete einen Legitimitätszuwachs der Praktik und förderte deren weitere Verbreitung. Im Ergebnis veranschaulicht die Studie von Hirsch die Bedeutung von Macht in Diffusionsprozessen, ausgeübt von sozial ähnlichen, zentralen Akteure einerseits und der Gesetzgebungsinstanz andererseits. Darüber hinaus ist für den Verlauf von Diffusionsprozessen das Wirken einer weiteren Kategorie an Akteuren von maßgeblicher Bedeutung: den Theoretikern. Als Theoretiker gelten diejenigen Akteure, die den Prozess des Erklärens und Rechtfertigens zu kanalisieren suchen.273 Zu ihnen zählen Wissenschaftler, Intellektuelle, Politiker, Berufsverbände, namhafte Repräsentanten von Berufsgruppen, Beratungsunternehmungen und Mediengesellschaften.274 Sie beeinflussen den Prozess des institutionellen Wandels entweder dadurch, dass sie theoretische Konzepte entwickeln, anhand derer die Relevanz einer neuen Praktik (mehr oder weniger) wissenschaftlich begründet wird, oder dadurch, dass sie eine Diskussionsplattform zur Verfügung stellen, wodurch Akteure, die andernfalls keine Verbindungen zueinander aufweisen, miteinander in einen öffentlichen Diskurs treten können. Letzteres wird insbesondere von Berufsverbänden wahrgenommen, wobei Greenwood, Suddaby und Hinings ihre Rolle im Wandelprozess folgendermaßen konkretisieren: „[A]ssociations can legitimate change by hosting a process of discourse through which change is debated and endorsed: first by negotiating and managing debate within the profession; and, second, by reframing professional identities as they are presented to others outside the profession.“275
Die Macht von Theoretikern ruht indes nicht nur – wie im Beispiel der Berufsverbände – auf ihrer zentralen Position oder ihrer Fähigkeit, überzeugende Theo272 273
274 275
Zu den ersten „Traditionsbrechern“ zählten Unternehmungen aus der Öl- und der Tabakindustrie. Analog werden sie als „carriers“ (Sahlin-Andersson/Engwall [2002]), „change agents“ (Strang/Soule [1998]) und „champions“ (Tolbert/Zucker [1996]) bezeichnet. Auch der von Meyer [1996] eingeführte Begriff der „Others“ als denjenigen Akteuren, die die Verbreitung neuer Praktiken und Ideen unterstützen, lässt sich in diesem Zusammenhang heranziehen. Vgl. Strang/Meyer [1993] S. 494; Tolbert/Zucker [1996] S. 183; Strang/Soule [1998] S. 271 f.; Sahlin-Andersson/Engwall [2002] S. 9 ff. Greenwood/Suddaby/Hinings [2002] S. 59. Vgl. zur Rolle von Berufs- und Interessenverbänden in institutionellen Wandelprozessen ebenfalls die Studien von Hoffman [1997], Lounsbury [2001], Galvin [2002].
2.2 Institutioneller Wandel
107
rien zu entwickeln, sondern gerade auch auf dem mit ihrer Rolle verbundenen sozialen Status.276 Ist ihre Rolle als Theoretiker in hohem Maße gesellschaftlich angesehen und kulturell legitimiert (wie beispielsweise im Falle eines Wissenschaftlers), genießen sie gesellschaftliche Akzeptanz und können öffentlichkeitswirksam auftreten. Ihr Status eröffnet ihnen einen erleichterten Zugang zu den Massenmedien, wodurch sie ein noch breiteres Publikum anzusprechen vermögen. Im Abschnitt zur Theoretisierung wurde gezeigt, dass Theoretisierungsbemühungen umso wahrscheinlicher einen Diffusionsprozess in Gang setzen können, je eher es gelingt, in der Argumentation an vorhandene kulturelle Gegebenheiten anzuknüpfen. Hier lässt sich nun ergänzen, dass der Erfolg der Theoretisierung von der Macht der Theoretiker abhängt, die wesentlich vom gesellschaftlichen Ansehen ihrer Rolle bestimmt wird.277 Die Inhaber prestigeträchtiger Rollen verkörpern letztlich die kulturellen Werte, die von einem breiten Publikum als erstrebenswert angesehen werden. Insofern ist es ihnen gegeben, auch die mit neuen Praktiken verbundenen Wertvorstellungen überzeugend zu repräsentieren. Insgesamt lässt sich also festhalten, dass der Prozess der Verbreitung einer theoretisierten Praktik durch das Handeln machtvoller Akteure beeinflusst wird: „[T]he success of an institutionalization project and the form that the resulting institution takes depend on the relative power of the actors who support, oppose, or otherwise strive to influence it.“278
Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass die Bedeutung der Akteure variieren kann. Je nach Phase des institutionellen Wandelprozesses üben unterschiedliche Typen von Akteuren in unterschiedlicher Weise Einfluss aus: Anfänglich mögen es überwiegend Akteure sein, die über eine geringe relationale Macht verfügen, für die weitere Verbreitung einer neuen Praktik wächst die Bedeutung der zentralen Akteure, der Theoretiker als Träger prestigeträchtiger, machtvoller Rollen sowie des Gesetzgebers als eines sanktionsmächtigen Akteurs: „[I]nstitutionalization can be conceptualized as a (...) process in which different sets of agents – each of which occupies a different position in the organization field, has 276 277
278
Vgl. Meyer [2004] S. 128. Dies konstatieren auch Berger und Luckmann: „Welche [der Theorien, Anm. d. Verf.] gewinnen wird, hängt von der Macht, nicht vom theoretischen Genie ihrer Legitimatoren ab.“ Berger/Luckmann [1969] S. 117. Vgl. in jüngerer Zeit die Arbeit von Phillips/Lawrence/Hardy [2004], in der sie davon ausgehen, dass textliche Zeichen, die von machtvollen Akteuren vertreten oder produziert werden, mit einer höheren Wahrscheinlichkeit von anderen aufgegriffen und als allgemeingültig anerkannt werden. DiMaggio [1988] S. 13.
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different stakes in the outcome, and controls different kinds of discursive resources – commit themselves to a given practice only at certain stages of the game.“279
Im Zuge eines institutionellen Wandelprozesses können also unterschiedliche Typen von Akteuren Macht im Sinne des Einflusses auf den weiteren Prozessverlauf übernehmen. Allerdings weisen Strang und Meyer darauf hin, dass es nicht Machtfaktoren allein sein können, die erklären, warum neuartige Praktiken zunehmend diffundieren. Vielmehr sind weiterhin die allgemeinen makrosozialen Bedingungen zu berücksichtigen, die beeinflussen, ob eine durch Theorien gestützte und durch machtvolle Akteure propagierte Praktik sich tatsächlich durchsetzen kann.280 c) Makrosoziale Bedingungen Soziales Handeln wird durch soziale Strukturen geprägt. Interaktionsprozesse finden innerhalb von Kontexten statt, die sich durch charakteristische soziale Strukturen auszeichnen: „Jede soziale Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass (...) Strukturelemente in jeweils spezifischen Ausprägungen die Möglichkeit des Handelnden teils beschränken, teils erweitern.“281
Die im Handlungsmoment gegebenen sozialen Strukturen stellen die sozialen oder soziostrukturellen Bedingungen dar. Sie beeinflussen, wie auf die potentiell einen Wandel auslösenden Faktoren reagiert wird, ob sich Wandelinititativen formieren und inwieweit Akteure ihre Macht innerhalb des Felds einzusetzen vermögen. Bereits mit der Behandlung der organisationsspezifischen Bedingungen wurden soziostrukturelle Bedingungen angesprochen: Es wurde argumentiert, dass Organisationen spezifische Orientierungsmuster und Verhaltenspraktiken entwickeln. Diese lassen sich als Ausdruck organisationsspezifischer sozialer Strukturen begreifen, die das Handeln der Organisation mitbestimmen. Während dort mikro- und mesosoziale Strukturen im Vordergrund standen, sollen hier die Bedingungen diskutiert werden, die makrosozialen Strukturen Ausdruck verleihen. Zu den makrosozialen Bedingungen, die den Verlauf von Prozessen 279
280 281
Sutton/Dobbin [1996] S. 808. Zur wechselnden Bedeutung verschiedener Akteurtypen im institutionellen Wandelprozess siehe auch die Studien von Leblebici et al. [1991] und Clemens [1993]. Vgl. Strang/Meyer [1993] S. 495. Schimank [2002] S. 19.
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des institutionellen Wandels prägen, zählen die Netzwerkstruktur des jeweiligen sozialen Raums, die Einbettung in einen größeren strukturellen Kontext sowie das Verhältnis der im Handlungsmoment gegebenen Institutionen. Die Netzwerkstruktur zeigt sich in der Art, Menge und Vielfalt der sozialen Beziehungen zwischen den Akteuren des organisatorischen Felds.282 Sie hat Auswirkungen auf das Verhalten von Akteuren im Moment der Interaktion. Als ein Merkmal der Netzwerkstruktur gilt die „connectedness“, die sich in der Möglichkeit zu persönlicher Interaktion widerspiegelt.283 Persönlicher Austausch erleichtert die Harmonisierung von Handlungsmustern; Akteure, die häufig persönlich miteinander interagieren, bilden zügiger ein gemeinsames Verständnis über die Sinnhaftigkeit neuer Praktiken heraus. Ein anderes Merkmal der Netzwerkstruktur ist die strukturelle Ähnlichkeit. Als strukturell ähnlich gelten solche Akteure, die innerhalb des Netzwerks eine vergleichbare Position einnehmen, das heißt über vergleichbare soziale Beziehungen verfügen.284 Wenngleich strukturell ähnliche Akteure nicht unmittelbar miteinander interagieren, wird ihnen doch unterstellt, sich gegenseitig in ihrer Handlungswahl zu beeinflussen. Begründet wird dies mit dem Aspekt sozialer Nähe. Sowohl im Falle von „connectedness“ als auch im Falle struktureller Ähnlichkeit ist die soziale Distanz als gering einzustufen.285 Die sozial nahen Akteure begreifen sich untereinander als wichtige Orientierungspunkte in der Ausrichtung des eigenen Verhaltens. Greifen nun Akteure veränderte Handlungspraktiken auf, so ist zu vermuten, dass es ihnen die sozial nahen Akteure gleichtun werden. Die Diffusion neuartiger Praktiken mag somit auch von dem Ausmaß an sozialer Nähe abhängen.286 Umgekehrt kann die Netzwerkstruktur des organisatorischen Felds die Diffusion von Praktiken auch erschweren.287 So ist die Diffusion neuer Praktiken dann als schwierig zu beurteilen, sofern die Akteure nur wenige soziale Beziehungen untereinander aufweisen. In Feldern, in denen die Akteure weitgehend isoliert agieren, ist es fraglich, wie alternative Praktiken überhaupt bekannt werden sollen, fehlen doch die entsprechenden Wege, diese zu vermitteln. Auch ist die relationale Macht der Akteure entsprechend gering, womit es kein Einzelner vermag, hinreichend gewichtigen Einfluss auf den Wandelprozess zu nehmen. Schließlich ist unter diesen Bedingungen davon auszugehen, dass es keine ge282
283 284 285 286 287
Verschiedene Studien beschäftigen sich mit der Bedeutung von Netzwerkstrukturen hinsichtlich der Diffusionswahrscheinlichkeit einer neuen Praktik. Vgl. hierzu die Auswahl entsprechender Studien bei Walgenbach [2002] S. 175. Vgl. DiMaggio/Powell [1983] S. 148; Burt [1992] S. 18 f. Vgl. Burt [1992] S. 19. Vgl. Meyer [2004] S. 126. Vgl. Strang/Soule [1998] S. 272. Vgl. Clemens [1998] S. 117 f.
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meinsamen Weltbilder oder geteilte Wahrnehmungsmuster gibt, an die sich im Rahmen einer Theoretisierung anknüpfen ließe.288 In Anlehnung an Lounsbury (2001) lässt sich als ein weiteres Merkmal der Netzwerkstruktur betrachten, welche Klassen oder Typen von Akteuren untereinander soziale Beziehungen aufweisen. In seiner Studie beschäftigt sich Lounsbury damit, warum Organisationen innerhalb desselben organisatorischen Felds unterschiedlich auf eine Gesetzesänderung reagieren, welche die Implementierung einer neuen Praktik erfordert. Er sucht zu zeigen, dass sich dies auf die Netzwerkstruktur des Felds zurückführen lässt: Trotz einheitlicher institutioneller Gegebenheiten verhalten sich Organisationen deswegen unterschiedlich, weil sie sich darin unterscheiden, ob sie Beziehungen zu einem bestimmten Akteurtyp pflegen, der maßgeblich für eine Verbreitung der Praktik eintritt. Organisationen, die Beziehungen zu diesem Akteurtyp (hier: einer sozialen Bewegung) unterhalten, beziehen darüber ein Repertoire an Handlungsgründen – gewissermaßen „Theoretisierungsmaterial“ –, womit sich die Einführung der Praktik intern auch gegenüber gegnerischen Parteien rechtfertigen lässt: „Field-level organizations can affect intraorganizational dynamics by altering power relations among competing constituencies when some groups draw on the resources of such external organizations to advance their goals at the expense of other groups.“289
Lounsbury zeigt, dass sie die neuen Praktiken eher übernehmen als solche Organisationen, die keine Beziehung zu der sozialen Bewegung aufweisen, die sie mit entsprechenden „Argumentationsressourcen“ versorgen würde. In Anlehnung an das Ergebnis der Studie lässt sich mithin argumentieren, dass die Diffusion einer Praktik auch davon abhängt, welche Typen von Akteuren über soziale Beziehungen relational miteinander verbunden sind. Für Akteure, die Beziehungen zu denjenigen Typen von Akteuren aufweisen, die als Theoretiker auftreten, sich also maßgeblich für eine Legitimierung neuer Praktiken einsetzen, ist eine Übernahme der Praktiken wahrscheinlicher. Als Zwischenergebnis lässt sich zunächst festhalten, dass den spezifisch ausgeprägten Merkmalen der Netzwerkstruktur innerhalb eines organisatorischen Felds ein Einfluss auf den Verlauf von Diffusionsprozessen zugesprochen wer288
289
Auch Powell betrachtet die Schwierigkeit institutionellen Wandels in Abhängigkeit von den Gegebenheiten des Netzwerks. Er begründet dies damit, dass im Falle eines heterogen (zum Beispiel mit vielfältigen Berufsgruppen) besetzten Felds ein ausgeprägteres Konfliktpotential vorherrscht, was das Herausbilden gemeinsamer Handlungsmuster erschweren kann. Vgl. Powell [1991] S. 196 f. Lounsbury [2001] S. 40.
2.2 Institutioneller Wandel
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den kann. Des Weiteren wird die Diffusion einer neuen Praktik auch von der Einbettung des organisatorischen Felds in einen größeren strukturellen Kontext abhängen. Grundsätzlich agieren die Akteure eines Felds nicht vollkommen losgelöst von soziostrukturellen Bedingungen, die außerhalb des Felds entstanden sind. Insbesondere Meyer und seine Mitstreiter zeigen mit ihren Studien, wie der globale Kontext für das lokale Handeln an Bedeutung gewinnt.290 Gegenstand ihrer „world polity“-Forschung bildet die weltweite Verbreitung kultureller Orientierungsmuster, so beispielsweise des Individualismus oder universalistischer Gerechtigkeitsnormen.291 Analog weist auch Giddens darauf hin, dass soziales Handeln im Zeitalter der Globalisierung zunehmend von Bedingungen beeinflusst wird, die außerhalb der lokalen, im Alltäglichen erreichbaren Kontexte entstanden sind. Er behandelt diese Entwicklung unter dem Stichwort „disembedding“, womit er die Entwurzelung des lokalen Handlungsraums zu bezeichnen sucht.292 Analog lässt sich formulieren, dass mit der Einbettung des Lokalen in größere soziale Räume seine Entwurzelung einhergeht.293 Die Einbettung des organisatorischen Felds in einen globalen Kontext ist nicht ohne Bedeutung für die Diffusion einer neuen Praktik. So ist zu vermuten, dass die Wahrscheinlichkeit ihrer Verbreitung davon abhängt, inwieweit sie mit den globalen soziostrukturellen Bedingungen harmoniert. Sofern die Ausübung der neuen Praktik den globalen makrosozialen Bedingungen nicht zuwiderläuft, sondern sich innerhalb dieses Bedingungsgefüges bewegt und möglicherweise sogar zu deren Aufrechterhaltung beiträgt, ist eine Verbreitung – gegenüber dem Konfliktfall – als wahrscheinlicher anzusehen.294 Die Bedeutung der soziostrukturellen Bedingungen gilt indes nicht nur für den globalen Kontext. Vielmehr lässt sich allgemein festhalten, dass die Diffusion neuer Praktiken umso wahrscheinlicher sein mag, je eher sie sich in den Rahmen der vorherrschenden Institutionen fügen – also keine Widersprüche, Konflikte oder Konkurrenz gegenüber den bestehenden Institutionen aufweisen.295 Hingegen kann die Verbreitung neuer Praktiken ins Stocken geraten, 290 291 292 293 294 295
Vgl. hierzu die verschiedenen Arbeiten in Meyer [2005]. Vgl. Krücken [2005] S. 9. Vgl. hierzu ausführlich Abschnitt 4.1.3 der vorliegenden Arbeit. So konstatieren Dacin/Ventresca/Beal denn auch: „embeddedness essentially involves both connection and disconnection.“ Dacin/Ventresca/Beal [1999] S. 341. Worauf bereits im Zusammenhang mit der Theoretisierung hingewiesen wurde, vgl. Abschnitt 2.2.3.2. Darauf wird in Abschnitt 4.2.2 erneut einzugehen sein; vgl. an dieser Stelle bereits Clemens/Cook [1999] S. 448 ff.; ebenso die konzeptionelle Arbeit von Seo/Creed [2002] und die beiden Studien von Thornton [2002] und Townley [2002] zur Bedeutung widersprüchlicher institutioneller Logiken in institutionellen Wandelprozessen.
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sofern sie in Widerspruch, Konkurrenz oder Konflikt zu bestehenden Praktiken stehen, was zu Gegenbewegungen und Widerständen Anlass geben kann. So zeigt sich eine Konkurrenzbeziehung darin, dass die Einführung neuer Praktiken mit einer Ablösung bestehender Praktiken verbunden ist. Dies kann Widerstände derjenigen Akteure hervorrufen, die für eine Aufrechterhaltung der vorhandenen Institutionen eintreten.296 Wie im vorangehenden Abschnitt deutlich gemacht wurde, hängt dabei die Frage, ob sich ein institutioneller Wandel durchsetzt, unter anderem von der Macht der Akteure ab, die sich für oder gegen einen Wandel einsetzen. Sind es die machtvollen Akteure, die sich gegen einen Wandel aussprechen, ist davon auszugehen, dass sie eine breite und durchsetzungsstarke Gegenbewegung zu mobilisieren vermögen. Hinter den vorangehenden Ausführungen verbergen sich letztlich zwei wichtige Annahmen. Grundlegend wird angenommen, dass das Verhältnis der vorherrschenden Institutionen untereinander zu den makrosozialen Bedingungen eines institutionellen Wandels zählt. Des Weiteren wird davon ausgegangen, dass Institutionen in verschiedener Weise miteinander in Verbindung stehen können.297 Sind die Institutionen beziehungsweise institutionalisierten Praktiken in hohem Maße miteinander vernetzt, so stützen sie sich gegenseitig und fußen auf einem integrierten Gerüst an Legitimationen, die sich nicht untereinander ausschließen. Zeigt sich das vorhandene Institutionengefüge in dieser vernetzten Weise, vermag eine Verbreitung neuer Praktiken schwierig zu realisieren sein. Institutionen, die mit zahlreichen anderen institutionalisierten Praktiken verbunden sind, gelten als weitgehend stabil gegenüber Wandelinitiativen: „A given institution is less likely to be vulnerable to intervention if it is more embedded in a framework of institutions…a framework by unifying accounts based in common principles and rules.“298
Powell begründet die Schwierigkeit institutionellen Wandels angesichts vernetzter Institutionen damit, dass eine Neueinführung von Praktiken Veränderungen des gesamten Institutionengefüges bedingen würde.299 Die Hürde eines institutionellen Wandels wäre entsprechend hoch. Dies stellt sich in gegenteiliger Weise dar, sofern die vorherrschenden Institutionen kein solchermaßen homogenes Gefüge bilden. Zeigen sich die makrosozialen Bedingungen in Gestalt vielfäl-
296 297 298 299
Motiviert beispielsweise dadurch, dass ihre Macht auf den alten, abzulösenden Praktiken ruht, womit ihnen der institutionelle Wandel einen Machtverlust einbringen würde. Vgl. zur Interdependenz von Institutionen Clemens [1998] S. 114 f. Jepperson [1991] S. 151 f. Vgl. Powell [1991] S. 191 f.
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tiger und teilweise auch widersprüchlicher Institutionen, kann die Verbreitung neuer Praktiken leichter umzusetzen sein: „[C]ontradictions among social institutions generate sufficient indeterminacy to allow a space in which collective action may produce significant change.“300
Je höher zudem die Heterogenität der vorhandenen Institutionen, umso weniger ausgeprägt ist die Verbindlichkeit oder die gesellschaftliche Erwartung, sich gemäß einer einzelnen Institution zu verhalten.301 Man mag mutmaßen, dass sich hier Möglichkeiten der Verbreitung neuer Praktiken eröffnen, wird doch die Mobilisierung potentieller Anwender einfacher zu realisieren sein, je diffuser sich der gesellschaftliche Erwartungsdruck darstellt, dem sie gegenwärtig unterliegen. Generell scheint es also gerechtfertigt, die Wahrscheinlichkeit einer Diffusion neuer Praktiken auch an der Heterogenität der makrosozialen Bedingungen – oder allgemeiner: an dem Verhältnis der jeweils gegebenen Institutionen – festzumachen.302 2.2.3.4 Abschließende Bemerkungen Die vorangehenden Ausführungen wurden unter der Annahme geschrieben, dass ein institutioneller Wandel durch die Bemühungen von Akteuren (oder Akteurgruppen wie beispielsweise sozialen Bewegungen) intendiert initiiert wird. Es wurde angenommen, dass ein solches Bestreben mit einer öffentlich ausgetragenen, mediengestützten Debatte einhergeht, innerhalb derer „Theorien“ hinsichtlich der Sinnhaftigkeit alternativer Handlungsformen erzeugt und verbreitet werden. Die Bedingungen, die die Wahrscheinlichkeit und den Verlauf eines intendiert ausgelösten Wandelprozesses prägen, wurden nicht nur hinsichtlich der Theoretisierung, sondern auch für die weitere Diffusion diskutiert. Es stellt sich nunmehr die Frage, inwieweit sich diese Bedingungen auch mit Blick auf einen Wandelprozess heranziehen lassen, der sich weitgehend in nicht intendierter Weise vollzieht. Gelten die genannten Bedingungen analog für den personengebundenen Verbreitungsmechanismus, mit dem neuartige Praktiken allein über 300 301 302
Clemens [1998] S. 112. In diesem Zusammenhang ist auch von „weak institutional pressures“ die Rede. Vgl. beispielhaft Glynn/Barr/Dacin [2000] S. 730. Dass die Heterogenität des Institutionengefüges nicht nur als eine Bedingung im weiteren Verlauf des Prozesses institutionellen Wandels anzusehen ist, sondern zugleich als Auslöser von Wandelprozessen gelten kann, wurde bereits in der Darstellung der Oliver’schen Systematisierung in Abschnitt 2.2.2 angesprochen.
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Interaktionsbeziehungen, von Akteur zu Akteur, weitergetragen werden? Die Antwort lautet: weitgehend ja. Auch im Falle einer nicht intendierten Übertragung neuer Praktiken im Zuge von Interaktionen gilt, was eingangs im Zusammenhang mit der Theoretisierung dargelegt wurde: Sprache bildet ein wesentliches Medium der Verbreitung neuer Sachverhalte, Auffassungen und Praktiken. Entsprechend findet auch im Zuge einer personengebundenen Verbreitung neuartiger Praktiken eine bewusste Anwendung von Sprache statt. Es ist jedoch anzunehmen, dass der sprachliche Diskurs nicht die neue Praktik zum Gegenstand hat. Das bedeutet, dass sich die Akteure keinen intensiven Theoretisierungsbemühungen hingeben werden, im Rahmen derer sie die Sinnhaftigkeit ihres neuartigen Handelns ausführlich – unter Rückgriff auf vorhandene Theorien und unter Hinzuziehung gesellschaftlich legitimierter Theoretiker – zu begründen suchen. Ein Wandel der institutionellen Gegebenheiten entspricht annahmegemäß nicht der primären Handlungsintention der beteiligten Akteure. Allerdings mag sich im Zuge des neuartigen Handelns allmählich eine Debatte über die Sinnhaftigkeit eines veränderten – nicht institutionenkonformen – Handlungsablaufs entwickeln, worauf in Kürze einzugehen sein wird. Ferner ist davon auszugehen, dass auch im Falle einer personengestützten Verbreitung organisationsspezifische soziale Bedingungen ihre Wirkung entfalten. Wenngleich sich diese weniger in ausführlichen Kosten-NutzenÜberlegungen zeigen werden, wird doch das Verhalten der Akteure im Interaktionsmoment davon geprägt sein, in welcher organisationstypischen Weise sie sozialisiert wurden.303 Ihre konkrete Handlungswahl wird von den ihnen vertrauten mikro- und mesosozialen Strukturen beeinflusst sein. Zudem spielt auch Macht eine Rolle in der Übertragung neuer Praktiken von Person zu Person. Während die Bedeutung von Macht in der obigen Argumentation überwiegend mit Blick auf einen organisatorischen Akteur behandelt wurde, steht hier die Macht des Individuums im Vordergrund. Dabei sind die machtverleihenden Faktoren vergleichbar. So leitet sich die Macht einer Person ebenfalls davon ab, über welche und wieviele soziale Beziehungen sie verfügen kann (Netzwerkposition). Hinzu treten Faktoren, die im Besonderen individuellen Akteuren Macht verleihen, wie das generelle Ansehen der sozialen Rolle, die der Akteur in einer
303
Über die jeweils betrachtete Organisation hinaus spielt der generelle Erfahrungshorizont der Akteure eine Rolle. So lässt sich beispielsweise in Anlehnung an die Studie von Fligstein [1985] vertreten, dass der jeweilige Erfahrungshorizont eines Managers – seine Sozialisation in unterschiedlichen sozialen Bereichen (hier: unternehmerischen Funktionsbereichen) – sein Entscheidungsverhalten hinsichtlich der Einführung neuer Praktiken (hier: eine multidivisionale Organisationsstruktur) prägt. Siehe hierzu zudem die Studie von Kraatz/Moore [2002].
2.2 Institutioneller Wandel
115
Interaktion einnimmt, sowie die Macht der Organisation, in dessen Namen der Akteur agiert.304 Schließlich wirken sich die makrosozialen Bedingungen der Handlungskontexte ebenfalls auf den Verlauf einer personengestützten Übertragung neuer Handlungsmuster aus. Auch hier gilt es, den individuellen Akteur in den Blickwinkel zu nehmen. Hinsichtlich der Netzwerkstruktur lässt sich dann annehmen, dass das Ausmaß an Vernetztheit („connectedness“), also der Verfügbarkeit sozialer Beziehungen im Interaktionsmoment, über die Wahrscheinlichkeit der Übernahme neuartiger Praktiken entscheidet. Im vorangehenden Abschnitt wurde argumentiert, dass ein hoher Grad an Vernetztheit die Wahrscheinlichkeit der Diffusion erhöht. Dies gilt an dieser Stelle entsprechend. Allerdings lässt sich zugleich das gegenteilige Argument anführen, dass nämlich eine hohe Vernetztheit die Verbreitung einer neuen Praktik auch verhindern kann.305 Während oben ins Feld geführt wurde, dass die Vernetztheit Möglichkeiten der gegenseitigen Einflussnahme eröffnet, kann sich dies dann nachteilig auf die Übernahme einer Praktik auswirken, sofern keiner der bisher vernetzten Akteure selbst für eine Verbreitung eintritt. Betrachtet man den Fall der Interaktion zwischen einem Akteur, der bisher keine sozialen Beziehungen zu dem Netzwerk aufweist, sowie einem oder mehreren Netzwerkbeteiligten, so ist die Ablehnung einer neuen Praktik, die von dem vormals nichtbeteiligten Akteur eingebracht wird, wahrscheinlich. Enge soziale Beziehungen können die Tendenz zu einer strukturellen Trägheit („structural inertia“) erhöhen, womit eine Ablehnung von außen herangetragener neuartiger Handlungsweisen zwecks Absicherung des Status Quo einhergeht.306 Neben der Netzwerkstruktur stellen sich schlussendlich auch Vielfalt, Widersprüchlichkeit oder Konflikthaftigkeit der vorherrschenden Institutionen als makrosoziale Bedingungen dar, die institutionelle Wandelprozesse auch im Falle einer rein personengestützten Ausbreitung neuer Praktiken zu beeinflussen vermögen. Die diesbezüglichen Ausführungen lassen sich ohne Einschränkung übertragen, so dass analog folgende Aussage gelten mag: „When practices conflict or are incomplete in their institutionalization, institutional pressures are weak and organizations [as well as individuals, Anm. d. Verf.] will likely have a greater range of available responses to institutional forces.“307
304 305 306 307
Vgl. zum Verhältnis individueller und organisatorischer Akteure generell Mayntz/Scharpf [1995] S. 49 ff. Was im Übrigen gleichermaßen für die obige Argumentation Geltung beanspruchen kann. Vgl. Clemens/Cook [1999] S. 450; Zucker [1988b] S. 31. Glynn/Barr/Dacin [2000] S. 730. Siehe auch D’Aunno/Sutton/Price [1991] S. 641 f. und Powell [1991] S. 194 ff.
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2 Institutioneller Wandel aus dem Blickwinkel der organisationswissenschaftlichen Forschung
Die Offenheit, sich in den Interaktionen an den neuen Praktiken anderer Akteure zu orientieren, ist dann als höher einzuschätzen, wenn die gegebenen Institutionen einen geringen Institutionalisierungsgrad aufweisen, ihnen also eine geringe verbindliche Kraft zukommt. Abschließend sei angemerkt, dass die Trennung in einen intendierten und einen nicht intendierten Übertragungsmechanismus eine idealtypische analytische Unterscheidung darstellt. Es handelt sich um einen modellhaften Bezug auf reale Wandelprozesse, was notwendigerweise eine Vereinfachung der sozialen Wirklichkeit impliziert. In der Realität gehen nicht intendierte und intendierte Übertragungen von Handlungsmustern Hand in Hand. Einen rein intendierten Prozess des institutionellen Wandels kann es nicht geben. Ein Wandel von Institutionen stellt sich nicht automatisch durch das intendierte Handeln einzelner Akteure ein, wenngleich sich in der Praxis sehr wohl Bemühungen einzelner Akteure antreffen lassen, sich gegen vorherrschende Institutionen aufzulehnen. Inwieweit sie in ihren Bemühungen indes erfolgreich sind und ihre Intention eines institutionellen Wandels Realität wird, hängt vom weiteren Verlauf des Wandelprozesses sowie von den Bedingungen, die auf ihn einwirken, ab. Zudem zeichnet einen institutionellen Wandelprozess aus, dass sich nicht alle Akteure des Felds mit der unmittelbaren Absicht tragen, einen Wandel von Institutionen zu bewirken. Das heißt also, dass ein Prozess des institutionellen Wandels in der Regel beide Formen der Übertragung enthält.308 Dies zeigt sich ebenfalls darin, dass ein institutioneller Wandelprozess, der weitestgehend auf einer nicht intendierten, personengebundenen Übertragung beruht, zugleich Elemente einer theoriegeleiteten Übertragung enthalten kann. Denkbar wäre beispielsweise, dass erst nachdem eine gewisse Verbreitung der neuen Praktik „stillschweigend“ vonstatten gegangen ist, eine Diskussion darüber einsetzt, welche Vor- und Nachteile mit der veränderten Verhaltensweise einhergehen: „[C]hanges in interaction may precipitate changes in interpretation.“309 308
309
Diese Ansicht wird im Übrigen von Holm geteilt, der mit seiner Unterscheidung zweier Handlungsebenen ebenfalls eine intendierte und eine nicht intendierte Variante voneinander abgrenzt. Kern seines Modells bildet die Unterscheidung hierarchisch anzuordnender Arten des Handelns gegenüber Institutionen: das alltagspraktische Handeln spielt sich innerhalb einer institutionellen Rahmenstruktur ab, dieses stellt Handeln auf einer ersten Ordnungsebene dar. Davon ist solches Handeln zu unterscheiden, das auf die bewusste Beeinflussung von Institutionen abzielt, sogenanntes Handeln auf zweiter oder höherer Ordnungsebene. Institutionen verändern sich nun nicht allein dadurch, dass Akteure bewusst deren Wandel anstreben. Ebensogut ist institutioneller Wandel möglich, der sich ausschließlich auf der ersten Ordnungsebene bewegt, sich also im Zuge des Alltagshandelns realisiert, ohne dass dieser Prozess bewusst gesteuert werden würde. Vgl. Holm [1995] S. 400 f. Campbell [1997] S. 17.
2.2 Institutioneller Wandel
117
Damit würde eine Theoretisierung erst nach einer gewissen personengestützten Diffusion der Praktik einsetzen. Ebensowenig schließt eine intendierte, theoriegestützte Übertragung aus, dass Akteure die neuen Praktiken zugleich nicht intendiert übertragen, beispielsweise dann, wenn sie die Praktiken selbst bereits seit geraumer Zeit anwenden, deren Umsetzung also in ihre eigenen Handlungsabläufe integriert haben, und nun auch gegenüber anderen Akteuren in der ihnen mittlerweile vertrauten, veränderten Weise agieren. Man kann sogar sagen, dass eine Reinstitutionalisierung genau dies voraussetzt – dass Akteure nämlich wie selbstverständlich mit den neuen Handlungsmustern umgehen, diese ohne größere Reflexion unhinterfragt praktizieren und auch innerhalb neuer sozialer Beziehungen von Person zu Person weitertragen. Hält man sich abschließend die Ausführungen des Abschnitts 2.2.3 in ihrer Gesamtheit vor Augen, so mag sich eine zentrale Frage stellen: Lässt sich nun im Ergebnis die Frage beantworten, warum manche neuen Praktiken zu Institutionen werden, andere hingegen nicht? Man mag damit beginnen, sich – in Anlehnung an die einleitenden Anmerkungen – folgende Aussage zu vergegenwärtigen: Institutioneller Wandel ist das sozial konstruierte (indes nichtaggregierte) Ergebnis aus den Interaktionen einer Vielzahl unverbundener (das heißt zeitlich und räumlich getrennt voneinander agierender) Akteure, die unter einem historischen Bündel an Bedingungen stattfinden, die kein einzelner Akteur in ihrer Gesamtheit zu überblicken vermag und die sich im Verlauf der Interaktionen sowohl aufgrund äußerer Einflüsse als auch im Ergebnis der Interaktionen selbst verändern können. Dies spricht grundsätzlich gegen die Möglichkeit, generalisierte Aussagen darüber zu formulieren, unter welchen Bedingungen institutionalisierte Praktiken reproduziert werden, neuen Praktiken gefolgt oder gänzlich neuartig gehandelt wird. Begründen lässt sich dies in zweierlei Weise. Auf der einen Seite lassen sich die in der Erarbeitung dieses Abschnitts herangezogenen Ergebnisse empirischer Studien insofern nicht verallgemeinern, als die Studien jeweils nur einzelne Bedingungsfaktoren betrachten, die im Kontext ihrer Untersuchung als historisch am relevantesten eingestuft wurden. In der Realität wirken zahlreiche weitere, teilweise interdependente Bedingungen darauf ein, welchen Verlauf Prozesse des institutionellen Wandels nehmen können: „The historical evidence speaks against simplistic monocausality. It points to the role of multiple causes, direct and indirect, immediate and distant in complex permutations. Historical events and changes turn out most often to be combined effects of unique sets of causes, none of which can be taken as exclusive or even universally prior.“310
310
Sztompka [1993] S. 111.
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2 Institutioneller Wandel aus dem Blickwinkel der organisationswissenschaftlichen Forschung
So lassen sich zwar zu den einzelnen Bedingungen jeweils Kausalhypothesen aufstellen und empirisch überprüfen (zum Beispiel je höher die Anzahl von Akteuren, die eine neue Praktik implementiert haben, umso eher werden sich weitere Akteure für deren Umsetzung aussprechen). Der reale Wandelprozess wird indes durch ein ganzes Bündel an historisch spezifischen Bedingungen beeinflusst, die sich gegenseitig zudem beeinflussen können. Nicht nur ist der Aussagegehalt der einzelnen Hypothesen vor diesem Hintergrund als begrenzt zu beurteilen; auch spricht dies gegen eine Verallgemeinerung über den historischen Kontext der jeweiligen Untersuchung hinaus.311 Gegen eine allgemeingültige Beantwortung der oben genannten Frage spricht des Weiteren, dass die Bedingungen nicht konstant bleiben, sondern sich im Verlauf eines institutionellen Wandelprozesses kontinuierlich verändern. So finden Interaktionen im Rahmen von Kontexten statt, dessen spezifische Bedingungen auch auf vorangegangene Interaktionen zurückgehen; das Ergebnis der Interaktionen wirkt auf die Bedingungen der nachfolgenden Kontexte, womit die weiteren Handlungsmöglichkeiten konstitutiert werden – und das nicht nur bezogen auf eine einzelne Gruppe von Akteuren, sondern in einer Vielzahl gleichzeitig und unverbunden ablaufender lokaler Interaktionsprozesse.312 Institutioneller Wandel wird im Zuge sozialer Handlungsprozesse erwirkt – wie Akteure letztlich handeln, darüber lassen sich keine allgemeingültigen Aussagen formulieren. Sztompka führt diesbezüglich aus: „It is now widely recognized that speaking of economic, technological or cultural causes of change is a misleading shorthand, because behind all these categories the real causally efficient forces are human actions, and exclusively human actions.“313
Angesichts der Handlungsmächtigkeit der Akteure und des historisch einmaligen Verlaufs institutioneller Wandelprozesse lässt sich im Ergebnis also nicht eindeutig festhalten, dass die in dieser Arbeit diskutierten Bedingungen in jedem Falle einen Wandel hervorzurufen imstande sind. Dennoch sind die Ausführungen nicht ohne Bedeutung: So lassen sich die angeführten Bedingungen als einen Katalog potentiell denkbarer Bedingungen begreifen, den es im konkreten Fall einer empirischen Untersuchung institutioneller Wandelprozesse zu überprüfen gilt.
311 312 313
Vgl. zur Unmöglichkeit allgemeiner Gesetzesaussagen auch Schimank [2002] S. 19. Vgl. erneut Abbott [1992] S. 756. Sztompka [1993] S. 22.
2.3 Vorbemerkungen zu einer theoretischen Konzeption institutionellen Wandels
119
2.3 Vorbemerkungen zu einer theoretischen Konzeption institutionellen Wandels 2.3.1 Anforderungen an eine theoretische Konzeption institutionellen Wandels Angesichts des derzeitigen Forschungsstands zum institutionellen Wandel hat Walgenbach einmal geäußert, dass mittlerweile eine Vielzahl empirischer Studien existiere, die sich jeweils ein oder mehreren Bedingungsfaktoren des institutionellen Wandels widmen, ohne dass in der Auswahl der Faktoren eine Systematik – eine erkennbar einheitliche theoretische Fundierung – zu erkennen sei.314 Aufgrund der Vielfalt der anzutreffenden theoretischen Konzepte überrascht es nicht, dass der Erkenntnisbeitrag der bisherigen Studien variiert. Vor diesem Hintergrund mag man sich die Frage stellen, was denn nun eine gute von einer weniger guten Studie unterscheidet. Welches sind die Charakteristika einer aussagekräftigen Untersuchung? Hier sollen im Folgenden zwei Aspekte angesprochen werden, die einerseits mit den erfassten Bedingungen, andererseits mit den unter Abschnitt 2.1.4 genannten theoretischen Herausforderungen in Zusammenhang stehen. Mit Blick auf den erstgenannten Aspekt lässt sich an die Argumentation des vergangenen Abschnitts anknüpfen. Dort wurde dargelegt, dass ein Prozess des institutionellen Wandels unter einem sich verändernden, historisch einmaligen Bündel an Bedingungen verläuft, die sich zudem untereinander beeinflussen können. Damit lässt sich feststellen, dass insbesondere jene Studien institutionellen Wandels als aussagekräftig gelten können, die in ihrer Untersuchung nicht nur eine Vielzahl unterschiedlicher Bedingungsfaktoren, sondern zugleich die Veränderung der Handlungsbedingungen im Zeitverlauf sowie deren Verknüpfungen berücksichtigen. Studien liefern dann ein reichhaltiges Abbild eines realen Wandelprozesses, sofern sie (1) zahlreiche verschiedenartige Bedingungen darlegen, (2) Interdependenzen zwischen den Bedingungen berücksichtigen, (3) Veränderungen der Bedingungen im Verlauf der untersuchten Interaktionsprozesse beachten sowie (4) Zusammenhänge zwischen den sich verändernden Bedingungen und den Interaktionsprozessen erfassen. Als weitere Indikatoren einer aussagekräftigen Studie zu institutionellem Wandel lassen sich die in Abschnitt 2.1.4 auf der Grundlage der aktuellen Entwicklungstendenzen diskutierten theoretischen Herausforderungen heranziehen. Dort wurde argumentiert, dass die Untersuchung eine Prozessperspektive voraussetzt, die die wechselseitigen Beziehungen zwischen den lokalen (mikrosozialen) Handlungsprozessen und den (makrosozialen) Veränderungen der 314
Vgl. Walgenbach [2002] S. 175.
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2 Institutioneller Wandel aus dem Blickwinkel der organisationswissenschaftlichen Forschung
Institutionen zu erfassen erlaubt, und dabei die Handlungsmächtigkeit der Akteure gegenüber den Institutionen ebensowenig negiert wie überzeichnet. Die Aussagekraft einer Studie lässt sich demzufolge in Abhängigkeit davon ermessen, inwieweit sie den zentralen Kriterien einer Prozessorientierung, einer MikroMakro- und einer ausgeglichenen Akteurkonzeption Rechnung trägt. Einer Beurteilung werden mithin folgende zentrale Fragen zugrunde gelegt: Welche Bedeutung wird Akteuren in institutionellen Wandelprozessen zugesprochen? Wie wird ein Zusammenhang zwischen dem mikrosozialen Wandel innerhalb lokaler Handlungsprozesse und dem makrosozialen, institutionellen Wandelprozess konzipiert? Findet Berücksichtigung, wie der lokale Wandel mit dem Wandel der Institution zusammenhängt? Inwieweit eine Studie den dargelegten Aspekten gerecht werden kann, wird maßgeblich von ihrem theoretischen Unterbau bestimmt. Dieser legt weitestgehend fest, welche Vielfalt an Bedingungen und sich wandelnden Bedingungskonstellationen erfasst, ob eine prozessuale Sichtweise verfolgt und der wechselseitige Zusammenhang mikro- und makrosozialer Vorgänge sowie die diesbezügliche Rolle der sozialen Akteure betrachtet werden kann. In Anbetracht der Vielfalt der in institutionalistischen Studien herangezogenen Theorien – sei es die Evolutionstheorie in ihren Varianten Population Ecology und Punctuated Equilibrium-Modell, seien es soziopolitische Ansätze, wie die populären Ansätze der sozialen Bewegungsforschung,315 oder sei es die Rational Choice-Theorie – kann an dieser Stelle keine ausführliche Bewertung ihres jeweiligen Aussagegehalts erfolgen; dies würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. Ein grundsätzlicher Aspekt sei allerdings festgehalten. Die üblicherweise verwendeten Theorien lassen sich sozialphilosophisch entweder dem Holismus oder dem Individualismus zurechnen.316 Mit dieser grundlegenden Verankerung in einem bestimmten sozialwissenschaftlichen Paradigma werden bereits die Grenzen dessen gelegt, was sich an Erkenntnissen zutage fördern lässt.317 Bereits in der Einleitung zu dieser Arbeit wurde angesprochen, dass sich gerade vor diesem Hintergrund die Bedeutung der Strukturationstheorie offenbart: Sie zählt zu den Praxistheorien, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, eine alternativen Weg zu entwickeln, der die Grenzen von Holismus und Individualismus zu überwinden 315
316 317
Wenngleich im englischsprachigen Raum von der „Social Movement Theory“ die Rede ist, erscheint dies angesichts der verschiedenen Forschungsstränge der sozialen Bewegungsforschung, die ihrerseits auf unterschiedlichen Theorien beruhen, als problematisch. Vgl. Meyer [2004] S. 138 ff. zu den Ansätzen der sozialen Bewegungsforschung im Überblick sowie die englischsprachigen Sammelbände von McAdam/McCarthy/Zald [1996] und Davis et al. [2005]. Vgl. hierzu erneut das grundlegende Werk von Hollis [1995]. Darauf ist im vierten Kapitel ausführlich einzugehen.
2.3 Vorbemerkungen zu einer theoretischen Konzeption institutionellen Wandels
121
erlaubt. Dieser alternative strukturationstheoretische Weg bildet den Kern des dritten und vierten Kapitels. Während im dritten Kapitel die Strukturationstheorie im Allgemeinen vorzustellen sein wird, werden im vierten Kapitel verschiedene konzeptionelle Elemente der Strukturationstheorie weiterentwickelt, die eine aussichtsreiche theoretische Grundlage zur Untersuchung institutionellen Wandels darstellen. Die in diesem Kapitel vorgelegten Anforderungen werden hierzu als Beurteilungskriterien herangezogen. Einleitend sei nun zunächst ein Blick darauf geworfen, in welcher Weise im organisationssoziologischen Institutionalismus bereits ein Bezug zur Strukturationstheorie hergestellt wurde.318 2.3.2 Strukturationstheorie im organisationssoziologischen Institutionalismus Die organisationssoziologischen Institutionalisten wurden bereits vor Erscheinen des eigentlichen Giddens’schen Hauptwerks zur Theorie – „The Constitution of Society“ (1984) – auf die Strukturationstheorie aufmerksam. Im Jahre 1983 beziehen sich DiMaggio und Powell in ihrem konzeptionellen Beitrag zu den Mechanismen der Isomorphie auszugsweise auf die Strukturationstheorie: „Bureaucratization and other forms of homogenization emerge, we argue, out of the structuration of organizational fields.“319
DiMaggio/Powell verwenden den Begriff der Strukturation, um den Prozess der Institutionalisierung („institutional definition“) zu charakterisieren, der im Ergebnis zu einer zunehmenden Strukturiertheit eines organisatorischen Felds führt.320 Strukturation stellt für sie ein Synonym für Institutionalisierung und Institutionalität dar. Damit verwenden sie Strukturation jedoch in abweichender, in engerer Weise als Giddens.
318
319 320
Auch in andere Bereiche der Organisationswissenschaft hat die Strukturationstheorie Einzug erhalten, worauf bereits in der Einleitung zu dieser Arbeit hingewiesen wurde. An dieser Stelle sei daher lediglich auf die Überblicksartikel von Walgenbach [2006b] und von Ortmann/Sydow/Türk [1997] zur Rezeption der Strukturationstheorie in der Organisationswissenschaft verwiesen. DiMaggio/Powell [1983] S. 147. Um das Ausmaß an Strukturiertheit abzuschätzen, wählen sie Indikatoren wie das Ausmaß an Interaktion zwischen den Organisationen innerhalb des Felds, die Existenz von interorganisatorischen Herrschaftsstrukturen und Koalitionen sowie das Bewusstsein der Organisationen, einer einheitlichen Sinnstruktur anzugehören. Vgl. erneut DiMaggio/Powell [1983] S. 148. Siehe hierzu auch Scott [1994a] S. 216 sowie die Studie von DiMaggio [1991] zur Entstehung eines organisatorischen Felds.
122
2 Institutioneller Wandel aus dem Blickwinkel der organisationswissenschaftlichen Forschung
Strukturation kennzeichnet laut Giddens sowohl den Prozess der kontinuierlichen Reproduktion sozialer Strukturen als auch dessen Ergebnis. Im Kern soll ausgesagt werden, dass Akteure stets eingebettet in soziale Strukturen handeln, die aufgrund sozialen Handelns fortbestehen. Soziales Handeln ohne Strukturen ist ebensowenig denkbar wie die Existenz von Strukturen ohne kontinuierliches soziales Handeln. Im Giddens’schen Sinne bezeichnet Strukturation ergebnisoffene soziale Handlungsprozesse, in denen sich die Akteure – eingebettet in soziale Strukturen – auf diese beziehen und sie damit reproduzieren und auch verändern. Ergebnisoffen bedeutet, dass Strukturationsprozesse im Ergebnis sowohl zu einer höheren als auch zu einer geringeren Strukturiertheit des betrachteten sozialen Raumes beitragen können. Vor diesem Hintergrund eignet sich der Begriff dazu, nicht nur Prozesse der Institutionalisierung, sondern zugleich Prozesse der Deinstitutionalisierung anzuzeigen. In beiden Fällen handelt es sich um Strukturationsprozesse – etwas anderes wäre ja auch nicht denkbar, ist ein Handeln außerhalb sozialer Strukturen doch eine irreale, bestenfalls eine rein theoretische Annahme. Strukturation kennzeichnet aus Sicht von Giddens jede Form sozialen Handelns; jeder soziale Handlungsprozess ist damit ein Strukturationsprozess. Prozesse der Institutionalisierung und der Deinstitutionalisierung unterscheiden sich lediglich in ihrem Ausgang, einem zu- oder einem abnehmenden Institutionalitätsgrad. Damit erübrigen sich Bezeichnungen wie De- oder Restrukturation, wie sie beispielsweise bei Scott und seinen Mitarbeitern zur Bezeichnung von De- und Reinstitutionalisierungsprozessen zu finden sind:321 „Hence there is no need, nor any room, for a conception of de-structuration.“322
Es mutet entsprechend einseitig an, Strukturation und Institutionalisierung/Institutionalität als Synonyma zu verstehen, erklären Strukturationsprozesse doch die Entstehung und die Veränderung sozialer Tatbestände.323 321 322 323
Vgl. Scott et al. [2000] S. 26 f. und 358 ff. Giddens [1979] S. 70. Siehe dort auch S. 217. Trotz dieser Einschränkungen scheint sich die enge Verwendung des Strukturationsbegriffs unter den Institutionalisten durchgesetzt zu haben. So ziehen später auch andere den Begriff der Strukturation zur Charakterisierung sozialer Handlungsprozesse heran, die im Ergebnis zu einem höheren Maß an Strukturiertheit führen: „[S]tructuration is portrayed as increasing the specificity of, and consensus over, resilient logics of action.“ Greenwood/Suddaby/Hinings [2002] S. 59. Siehe analog Scott [2001] S. 142 f.; Scott [1994a] S. 216 f.; Barley/Tolbert [1997] S. 100. Allerdings finden sich ebenfalls Forscher, die den Begriff im Sinne von Giddens nicht in dieser begrenzten Weise auslegen. So vertritt beispielsweise Gray die Ansicht, dass sich die Strukturationstheorie heranziehen lässt, um den in beide Richtungen veränderlichen Institutionalitätsgrad abzuschätzen. Vgl. Gray [2004] S. 10; siehe zudem Hirsch/Lounsbury [1997] S. 406; Munir et al. [2004].
2.3 Vorbemerkungen zu einer theoretischen Konzeption institutionellen Wandels
123
Nun mögen die vorangehenden Ausführungen den Eindruck erwecken, die Bedeutung der Strukturationstheorie für die Institutionalismusforschung erschöpfe sich in der Verwendung eines ausgewählten Begriffs.324 Dem kann insofern widersprochen werden, als die Strukturationstheorie auch aus anderen Gründen Resonanz erfährt. Begründet wird das Interesse an der Theorie ganz wesentlich damit, dass sie Antworten auf zentrale theoretische Auseinandersetzungen im Fachgebiet zu geben vermag: die Prozessorientierung und die Bedeutung sozialer Akteure. Diese Einschätzung findet sich nicht nur bei Walgenbach, wenn er eine Verknüpfung der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie mit der Strukturationstheorie vor diesem Hintergrund als naheliegend wertet.325 Auch Scott verweist darauf, dass die Strukturationstheorie sowohl eine Prozessorientierung aufweist, die die Beziehungen lokaler (mikrosozialer) und globaler (makrosozialer) Prozesse berücksichtigt, als auch ein ausgeglichenes, ebensowenig deterministisches wie voluntaristisches Akteurkonzept enthält, das dem Anliegen des jüngeren organisationssoziologischen Institutionalismus entspricht, Akteure gleichermaßen als in soziale Strukturen eingebettet zu begreifen und ihnen eine gewisse Handlungsmacht zuzuschreiben, losgelöst von diesen zu agieren oder sie gar zu beeinflussen: „Structuration theory joins with numerous other theoretical arguments to support a more proactive role for individual and organizational actors, as well as a more interactive and reciprocal view of institutional processes.“326
Mit Blick auf das strukturationstheoretische Akteurkonzept regen beispielsweise Seo und Creed an, das vieldiskutierte „theoretical paradox of embedded agency“ anhand der Giddens’schen Überlegungen anzugehen.327 Was die Autoren als theoretisches Paradoxon bezeichnen, ist die Annahme der Handlungsmächtigkeit von Akteuren angesichts ihrer Einbettung in soziale Strukturen. Verständnis für diese Auffassung lässt sich gewinnen, sofern man sich zunächst die klassische – holistische – Verwendung des Begriffs der Einbettung vergegenwärtigt.328 Einbettung kennzeichnet klassischerweise die institutionelle Konstitution von Ak324
325 326 327 328
Man mag sich vergegenwärtigen, dass der Begriff die Kernthese der Strukturationstheorie reflektiert, was bedeutet, dass im Grunde ein ganzer theoretischer Hinterbau mit den dazugehörigen Annahmen übernommen wird beziehungsweise übernommen werden sollte. Vgl. Walgenbach [2002] S. 183 f. Scott [2001] S. 76. Vgl. Seo/Creed [2002] S. 223. Vgl. zum „paradox of embedded agency“ ebenfalls Greenwood/Suddaby [2006]. Dieser wurde weitgehend durch Granovetter [1985] geprägt. Siehe ausführlich zum Begriff der Einbettung Dacin/Ventresca/Beal [1999], Zukin/DiMaggio [1990], Powell [1996].
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2 Institutioneller Wandel aus dem Blickwinkel der organisationswissenschaftlichen Forschung
teurinteressen: Ihre Interessen und ihre Handlungsmotivation beziehen die Akteure aus den gegebenen Institutionen. Gegenüber der ausgeprägt holistischen Sichtweise sozialer Akteure, wonach die gegebenen Strukturen letztlich das Handeln determinieren, findet sich die Auffassung, dass Akteure einen gestalterischen Einfluss auf die Institutionen auszuüben vermögen.329 Wodurch wird nun aber beides gleichermaßen theoretisch fassbar? Anhand welcher theoretischen Grundlage lässt sich fassen, dass Akteure ein Interesse an der Veränderung von Institutionen entwickeln können, ohne zu negieren, dass ihre Interessen zugleich von diesen konstitutiert werden? Holm bringt diese Frage auf den Punkt: „How can actors change institutions if their actions, intentions, and rationality are all conditioned by the very institution they wish to change?“330
Nun wird argumentiert, dass die Strukturationstheorie eine widerspruchsfreie theoretische Grundlage zur Lösung dieser „ancient freedom/control debate“331 enthält, da gleichermaßen von den subjektiven Interessen individueller Akteure abstrahiert („defocalization of actors“ oder Dezentrierung des Subjekts) sowie die generelle Handlungsmächtigkeit der Akteure betont wird.332 Das „paradox of embedded agency“ lässt sich also gewissermaßen strukturationstheoretisch auflösen.333 Desgleichen wird immer wieder hervorgehoben, dass die Strukturationstheorie – neben einem ausgeglichenen Akteurmodell – eine prozessorientierte Analyseperspektive zu liefern vermag. Die Strukturationstheorie ist eine Prozesstheorie, anhand derer sich fassen lässt, dass Institutionen – und entsprechend ihr Wandel – in sozialen Handlungsprozessen permanent hervorgebracht werden. Dies haben innerhalb des Institutionalismus am deutlichsten Barley und Tolbert herausgearbeitet, deren strukturationstheoretisch basierte Auseinandersetzung mit der Institutionalisierung mittlerweile eine vielzitierte Arbeit darstellt.334 Mit ihrer konzeptionellen Arbeit vermitteln sie, dass sich anhand der Struktura329
330 331 332 333 334
Eine Annahme, die in extremer Weise von den Individualisten vertreten wird, die dabei gänzlich von einer sozialen oder institutionellen Prägung von Akteurinteressen abstrahieren. Vgl. diesbezüglich erneut die Einleitung zur vorliegenden Arbeit. Holm [1995] S. 398. Vgl. analog Beckert [1999] S. 789. Scott [2001] S. 211. Vgl. erneut Willmott [1987] S. 258; Whittington [1992] S. 703; Beckert [1999] S. 790; Walgenbach [2002] S. 183. Wie im Zuge des dritten Kapitels zu zeigen sein wird, setzt dies eine Unterscheidung von Bewusstseinsebenen voraus. Vgl. Barley/Tolbert [1997]. Verschiedene ihrer Überlegungen finden sich bereits in der Studie von Barley [1986], in der er die Entwicklung lokalspezifischer sozialer Strukturen unter Rückgriff auf die Strukturationstheorie untersucht hat.
2.3 Vorbemerkungen zu einer theoretischen Konzeption institutionellen Wandels
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tionstheorie ein prozessuales oder dynamisches Verständnis von Institutionen erreichen lässt: „Structuration theory (...) explicitly focuses on the dynamics by which institutions are reproduced and altered, an issue that has been largely neglected by institutional theorists.“335
Dazu übertragen sie die Kernthese der Strukturationstheorie auf den organisationssoziologischen Institutionalismus, wonach Institutionen sowohl Medium als auch Ergebnis sozialer Handlungsprozesse darstellen. Institutionalisierung gilt damit als ein andauernder Prozess. In epistemologischer Hinsicht bedeutet das, dass sich Erkenntnisse über die Institutionalisierung nur über einen Zeitraum erheben lassen. Dies nehmen sie zum Anlass, ein strukturationstheoretisches Prozessmodell der Institutionalisierung vorzulegen, das eine Erhebung des Zusammenwirkens von Institutionen und sozialen Handlungen im Zeitablauf erlaubt.336 Während sich Barley und Tolbert auf den Prozess der Institutionalisierung konzentriert haben, arbeiten Munir und seine Kollegen mit einem allgemeinen Prozessmodell des institutionellen Wandels auf der Grundlage der Strukturationstheorie.337 Ihr Ausgangspunkt bildet eine Kritik an den vorherrschenden Konzeptionen institutionellen Wandel. Kritisiert wird, dass Wandel in den meisten Arbeiten auf exogene Auslöser („external shocks“) zurückgeführt wird. Darüber hinaus halten sie es für kritisch, den Aspekt der Handlungsmächtigkeit von Akteuren gegenüber Institutionen anhand des Konzepts institutioneller Unternehmer einzubringen. Sie begründen ihre ablehnende Haltung damit, dass in beiden Fällen der Wandel von Institutionen als ein Ausnahmephänomen behandelt wird, wobei das Eintreten institutionellen Wandels entweder von unerwartet eintretenden externen Ereignissen oder von der strategischen Handlungsmacht einzelner ausgewählter Akteure abhängig gemacht wird.338 Dass Wandel sich auch im Zuge von Interaktionen vollzieht, in denen prinzipiell jedem Akteur die Fähigkeit zugesprochen werden kann, entgegen der institutionellen Bestimmungen zu handeln, werde von den meisten Arbeiten nicht erfasst. Munir et al. plädieren daher dafür, institutionellen Wandel als ein endogenes und dauerhaftes Phänomen aufzufassen, das sich auf lokaler Ebene an 335 336 337 338
Barley/Tolbert [1997] S. 112. Hierzu greifen sie neben der Strukturationstheorie auf das Berger/Luckmann’sche Modell des Institutionalisierungsprozesses zurück. Vgl. zum Folgenden Munir et al. [2004]. Sie halten diesbezüglich selbst das Modell von Barley/Tolbert für unzureichend, stehe doch auch dort Wandel mit externen Ereignissen in Verbindung. Vgl. Barley/Tolbert [1997] S. 102.
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2 Institutioneller Wandel aus dem Blickwinkel der organisationswissenschaftlichen Forschung
verschiedenen Orten gleichzeitig ereignen kann, ohne dass erschütternde exogene Ereignisse aufgetreten sein oder vereinzelte Akteure ihre strategische Handlungsfähigkeit ins Spiel gebracht haben müssen: „[I]nstitutional change is better seen as an ongoing process initiated and enacted by social actors through their everyday practices, rather than as an occasional, exogenously-initiated, specific “event“.“339
Ihr Ziel ist es, ein Prozessmodell zu entwickeln, anhand dessen sich institutioneller Wandel als kontinuierlich und endogen begreifen lässt.340 Die Strukturationstheorie erscheint ihnen hier als geeignete theoretische Grundlage, einerseits aufgrund ihrer prozessualen Ausrichtung, andererseits aufgrund der Akteurkonzeption: „Rather than being treated as simply given to the actors acting within them, social institutions are seen as phenomena that emerge from, and are reproduced (and perhaps transformed) by, people drawing on them in action. Rather than having to rely on some external event as a cause for change, structuration theory opens the possibility of endogenous institutional change and acts of entrepreneurship that take place on an ongoing basis.“341
Die Strukturationstheorie als Grundlage für eine endogene Sichtweise institutionellen Wandels heranzuziehen, dafür treten auch Clemens und Cook ein.342 Zwar liefern sie kein Prozessmodell des Wandels; sie diskutieren jedoch verschiedene Bedingungen, die einen im Zuge sozialer Handlungsprozesse realisierten – endogenen – Wandel von Institutionen wahrscheinlicher werden lassen. Um den diesbezüglichen Ursachen institutionellen Wandels nachzugehen, machen sie sich die strukturationstheoretische Unterscheidung von Regeln und Ressourcen als Momente sozialer Strukturen zunutze. Dazu nehmen sie an, dass Institutionen einerseits mit Regeln – sie sprechen synonym von Schemata –, andererseits mit Ressourcen verbunden sind. Der Ursprung institutionellen Wandels kann auf der Ebene der Schemata liegen oder aber auf Veränderungen in den Ressourcen und im Ressourceneinsatz zurückzuführen sein. Die Art und Weise, wie Clemens/Cook die Bedingungen institutionellen Wandels diskutieren, zeigt im Übrigen, dass sich unter dem Dach der Strukturationstheorie nicht nur eine Vielfalt an Bedingungen, sondern zugleich wechselseitige Beziehungen zwischen den 339 340 341 342
Munir et al. [2004] S. 5. Wobei „endogen“ für „als in alltäglichen sozialen Handlungsprozessen erwirkt“ steht. Munir et al. [2004] S. 6. Vgl. Clemens/Cook [1999] S. 447.
2.3 Vorbemerkungen zu einer theoretischen Konzeption institutionellen Wandels
127
Bedingungen analysieren lassen. Anhand der Strukturationstheorie werden verschiedenste historische Bedingungskonstellationen und deren Veränderung im Zeitverlauf erfassbar.343 Es zeichnet sich bereits ab, dass in der Strukturationstheorie eine Lösung verschiedener theoretischer Anforderungen gesehen wird, wie sie gerade für eine Analyse von Phänomenen des institutionellen Wandels von Bedeutung sind. Die zentralen Herausforderungen eines ausgeglichenen Akteurkonzepts sowie einer Prozessorientierung lassen sich anhand der Theorie offensichtlich angehen.344 Angesichts der einhelligen Fürsprache zugunsten der Strukturationstheorie mag es jedoch eine gewisse Verwunderung auslösen, dass sich bisher keine gesamthafte Auseinandersetzung finden lässt. So konstatiert Walgenbach: „Die Versuche, über die Giddenssche Strukturationstheorie den Akteur und dessen strategisches Handeln in die neoinstitutionalistische Theorie zurückzubringen, stecken beispielsweise noch in den Kinderschuhen. Mehr als ein paar Zeilen, in denen zumeist die Giddenssche Definition der Rekursivität von Struktur präsentiert wird, findet man selten in den Arbeiten der Hauptvertreter der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie.“ 345
Dass sich bisher nur einige wenige institutionalistische Arbeiten finden lassen, die sich in umfassender Weise auf die Strukturationstheorie beziehen, mag in Anbetracht des Abstraktionsniveaus der Theorie vielleicht nicht verwundern.346 Hält man sich indessen die Erwartungen vor Augen, die in die Strukturationstheorie gesetzt wurden, scheint es dennoch gerechtfertigt, sich an die Strukturationstheorie heranzuwagen und deren Potential zur Erörterung institutionellen Wandels näher zu analysieren. Dazu sei im folgenden Kapitel zunächst die Strukturationstheorie in ihren Grundzügen dargelegt, um im vierten Kapitel
343 344
345 346
Vgl. hierzu ausführlich die Ausführungen in Abschnitt 4.2.2. In diesem Abschnitt wurde noch nicht näher ausgeführt, dass auch die Herausforderung einer Mikro-Makro-Konzeption durch die Strukturationstheorie abgedeckt werden kann. Dies wird ausführlich im vierten Kapitel dieser Arbeit erfolgen. Walgenbach [2002] S. 192. Eine weitere Erklärung mag mit der Historie der Rezeption der Strukturationstheorie in der US-amerikanischen Organisationswissenschaft zusammenhängen. Diese nahm ihren Anfang mit der Arbeit von Ranson/Hinings/Greenwood [1980], deren Interpretation der Theorie sich jedoch als einseitig charakterisieren lässt (vgl. diesbezüglich Willmott [1981] sowie Whittington [1992], insbesondere S. 698 ff.). Dennoch durchzieht diese reduzierte Sichtweise Teile der US-amerikanischen Organisationsforschung und mag die mitunter eher skeptische Haltung gegenüber der Theorie begründen.
128
2 Institutioneller Wandel aus dem Blickwinkel der organisationswissenschaftlichen Forschung
Elemente einer strukturationstheoretischen Konzeption des institutionellen Wandels zu entwickeln.347
347
Lesern, die mit der Strukturationstheorie vertraut sind, wird empfohlen, sich auf den Abschnitt 3.4.3 zu beschränken und anschließend unmittelbar auf das vierte Kapitel überzugehen.
3 Grundlagen der Strukturationstheorie
Die Strukturationstheorie geht auf den britischen Sozialwissenschaftler Anthony Giddens zurück, dessen breites Tätigkeitsspektrum von der kritischen Auseinandersetzung mit den Klassikern der Soziologie (insbesondere Durkheim, Marx und Weber, aber auch Parsons) über die Entwicklung einer allgemeinen Sozialtheorie bis hin zu Studien über Stand und Entwicklung der modernen Gesellschaft reicht.1 In der vorliegenden Arbeit sind ausschließlich Giddens’ Schaffensperiode als Sozialtheoretiker und seine in diesem Zeitraum entstandenen sozialtheoretischen Werke von Belang, in denen er die Strukturationstheorie ausgearbeitet hat. Zu seinen sozialtheoretisch relevanten Werken zählen insbesondere die zwischen 1976 und 1984 herausgegebenen Monographien „New Rules of Sociological Method“ (1976), „Central Problems in Social Theory“ (1979), Band 1 der „Contemporary Critique of Historical Materialism“ (1981) und „The Constitution of Society“ (1984).2 Das letztgenannte Werk wird üblicherweise als das Hauptwerk zur Strukturationstheorie angesehen, führt Giddens dort doch seine diesbezüglichen Überlegungen zusammen und entwickelt sie gegenüber seinen vorangegangenen Schriften in Teilen weiter. Giddens konzipiert die Strukturationstheorie als eine allgemeine Sozialtheorie zur Analyse sozialwissenschaftlicher Tatbestände. Unter einer allgemeinen Sozialtheorie versteht er ein „ontological framework“,3 das als Grundlage jeglicher sozialwissenschaftlicher Forschung diejenigen Problemfelder anspricht, die alle Sozialwissenschaften gleichermaßen betreffen: 1
2 3
Rösener unterteilt Giddens’ Werk in drei Schaffensperioden: die Phase des empirischen Theoretikers, in der Giddens sich mit empirisch relevanten Gesellschaftsfragen auseinandersetzt und die diesbezügliche Anwendbarkeit klassischer soziologischer Erklärungsansätze überprüft; die Phase des Sozialtheoretikers, in der er die Strukturationstheorie entwickelt und damit einen Beitrag zur wissenschaftlich-methodischen Grundlegung der Sozialwissenschaften schaffen will; und schließlich die Phase des soziologischen Theoretikers, in der er die Strukturationstheorie zur Analyse moderner Gesellschaften heranzieht. Vgl. Rösener [1998] S. 36 f. Ähnlich Kießling [1988] S. 18. Sein breites Tätigkeitsspektrum begründet wohl unter anderem, warum er zu den bekanntesten Soziologen der Gegenwart zählt, auf dessen Werke häufig Bezug genommen wird. Einen Eindruck davon vermittelt das vierbändige Herausgeberwerk von Bryant/Jary [1997]. Vgl. Giddens [1991] S. 204 f. Giddens [1991] S. 201.
130
3 Grundlagen der Strukturationstheorie
„[Structuration theory] is an attempt to work out an overall ontology of social life, offering concepts that will grasp both the rich texture of human action and the diverse properties of social institutions.“4
Zu den sozialwissenschaftlichen Problemfeldern zählt er Fragen des Wesens menschlichen Handelns und der Akteure, Fragen der Konzeption sozialen Handelns und Fragen des Zusammenhangs zwischen Handlungen und Strukturen.5 Er sieht es als ein generelles Ziel einer allgemeinen Sozialtheorie, Prozesse der Stabilität und des Wandels sozialer Phänomene zu erklären, ohne dabei die Bedeutung sozialer Akteure entweder zu vernachlässigen oder aber als zu hoch zu veranschlagen. Hierin liegt laut Giddens das wesentliche Problem bisheriger Forschungsrichtungen der Sozialwissenschaften. Während in holistisch geprägten Forschungsansätzen in der Tradition Durkheims – Giddens nennt hier funktionalistische und strukturalistische Ansätze – generalisierte Aussagen zur Struktur sozialer Prozesse unabhängig vom Handeln menschlicher Subjekte entwickelt werden, befassen sich individualistische Forschungsrichtungen der Sozialtheorie ausschließlich mit den Handlungsgründen individueller Akteure. Giddens geht davon aus, dass ein solcher Dualismus zwischen holistischen und individualistischen Forschungsrichtungen der Erklärung sozialer Tatbestände nicht gerecht werden kann. Das Problem holistischer Forschungsansätze sieht er im Wesentlichen in der subjektfreien Konzeption des Strukturbegriffs: Strukturen existieren unabhängig vom Handeln und wirken als externe kausale Einflussgrößen ausschließlich einschränkend auf das Handeln. Dass sich Strukturen jedoch einerseits erst durch menschliches Handeln konstituieren und andererseits nicht nur einschränkend auf das Handeln wirken, sondern dieses gerade auch ermöglichen, bleibt bei einer solchen Konzeption unberücksichtigt. An individualistischen Forschungsrichtungen kritisiert Giddens, dass sie von der Allwissenheit der Akteure ausgehen und damit den Einfluss sozialer Akteure auf die Konstitution sozialer Tatbestände als zu hoch veranschlagen. Zwar hält er es für richtig, ein gewisses Ausmaß an Handlungswissen der Akteure im Hinblick auf existierende Handlungsbedingungen anzunehmen. Er betont jedoch die Grenzen individuellen Handlungswissens und widerspricht jenen Forschungskonzeptionen, die die Existenz sozialer Strukturen unmittelbar auf das rationale Handeln von Individuen zurückführen wollen.6 4 5 6
Giddens [1990] S. 310. Vgl. Giddens [1984] S. xvi f.; Giddens [1991] S. 201. Giddens spricht in seiner Argumentation nicht von Individualismus versus Holismus sondern von Subjektivismus versus Objektivismus. Er selbst begreift die Gegenüberstellung von Individualismus und Holismus jedoch als das methodologische Gegenstück des Dualismus von
3 Grundlagen der Strukturationstheorie
131
Giddens’ Kritik an der sozialtheoretischen Forschung richtet sich im Wesentlichen auf den vorherrschenden Dualismus dieser beiden grundsätzlichen Forschungsparadigmen, also die einseitige Behandlung von Fragen der Handlung einerseits oder der Struktur andererseits. Wie bereits angedeutet, sieht er einen wechselseitigen Zusammenhang zwischen Handeln und Struktur. Aus diesem Grunde plädiert er für eine Rekonzeptualisierung des Dualismus als Dualität, die er als „Dualität von Struktur“ bezeichnet. Die Dualität von Struktur spiegelt sich inhaltlich in zwei grundlegenden Aussagen wider:7
Strukturen und Handeln setzen sich gegenseitig voraus; Strukturen bilden das Medium und das Ergebnis sozialen Handelns. Sie existieren nicht unabhängig von menschlichem Handeln, sondern werden erst durch soziale Praktiken produziert und reproduziert. Strukturen schränken das Handeln nicht nur ein, sondern ermöglichen es zugleich.
Das Konzept der Dualität von Struktur stellt die zentrale Erklärungsfigur der Strukturationstheorie dar. Die mit diesem Konzept angestrebte Rekonzeptualisierung sucht Giddens auf zweierlei Weise zu erreichen: einerseits durch eine grundlegende Aufarbeitung des Vokabulars zur Charakterisierung sozialer Tatbestände, andererseits durch eine neue methodologische Herangehensweise ihrer Analyse.8 In begrifflicher Hinsicht hält Giddens eine grundsätzliche Aufarbeitung des gängigen sozialwissenschaftlichen Vokabulars für notwendig, um ein ausgeglichenes – ebensowenig holistisches wie individualistisches – Verständnis sozialer Phänomene zu erlangen. Einem wechselseitigen konstitutiven Zusammenhang zwischen Handeln und Struktur, wie ihn die „Dualität von Struktur“ vermittelt,
7 8
Subjektivismus und Objektivismus, wobei letzterer in seinen Augen die ontologischen Annahmen der beiden Forschungspositionen berührt, also die grundlegenden Annahmen über das Wesen menschlicher Akteure und sozialer Phänomene (vgl. Giddens [1984] S. 213). Hier soll nun – im Gegensatz zur engen Sichtweise von Giddens, der allein auf die methodologischen Unterschiede abstellt – in Anlehnung an Hollis [1995] (aber auch Schatzki [1996] und Sztompka [1991]) von Holismus und Individualismus in einem weiten Sinne gesprochen werden, was bedeutet, dass damit nicht allein forschungsmethodologische Aspekte verbunden sind, sondern zugleich ontologische Differenzen berührt werden (Hollis spricht daher auch von ontologischem und methodologischem Individualismus resp. Holismus, vgl. Hollis [1995] S. 144 ff.). Wie in der Einleitung zu dieser Arbeit bereits angerissen wurde, stellen Holismus und Individualismus letztlich zwei inkommensurable Forschungspositionen der Sozialwissenschaften dar. Vgl. Giddens [1979] S. 3, 69 f.; Giddens [1984] S. 25, 374. Vgl. Rösener [1998] S. 96.
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3 Grundlagen der Strukturationstheorie
lässt sich in seinen Augen nicht mit den einseitig belegten, antithetischen Begriffsdefinitionen individualistischer und holistischer Forschungsperspektiven näherkommen. Hierzu bedarf es vielmehr einer Redefinition der wesentlichen sozialwissenschaftlichen Begriffe, zu denen er neben Handeln und Struktur unter anderem die Begriffe der Institution und des sozialen Systems zählt: „[T]he notions of action and structure presuppose one another; but that recognition of this dependence, which is a dialectical relation, necessitates a reworking both of a series of concepts linked to each of these terms, and of the terms themselves.“9
Die wechselseitige Konstitution von Handeln und Struktur soll also auch und gerade mit einer generellen Reformulierung zentraler sozialwissenschaftlicher Begriffe Ausdruck gewinnen. In methodologischer Hinsicht regt Giddens ein Vorgehen an, das die diesbezüglichen Herangehensweisen holistischer und individualistischer Forschung integrieren soll. Während im Holismus eine Makroposition verfolgt wird, mit der den mikrosozialen Aspekten lokalen Handelns keine Bedeutung für die zu erklärenden makrosozialen Phänomene beigemessen wird, zeichnet sich der Individualismus durch eine Mikroposition aus.10 Eine demgegenüber ausgeglichene, mikro- und makrosoziale Aspekte gleichermaßen berücksichtigende Perspektive sucht Giddens anhand einer neuen Methode zu etablieren, die er in Anlehnung an die Phänomenologie Edmund Husserls und Alfred Schütz’ als methodologische Epoché oder methodologisches Einklammern bezeichnet. Obgleich hier nicht näher auf diese phänomenologische Verfahrensweise eingegangen werden kann,11 sei angemerkt, dass Giddens sie im Sinne des Einklammerns einer Analyseperspektive in Abgrenzung zu einer anderen begreift (ohne dabei den dialektischen Zusammenhang der Perspektiven zu negieren). Dabei unterscheidet er eine sogenannte Analyse des strategischen Verhaltens von einer strukturellen oder institutionellen Analyse. Er geht davon aus, dass sich eine inhaltliche Annäherung an die Dualität von Struktur nur insoweit erreichen lässt, dass handlungsbezogene Aspekte einerseits und strukturbezogene Aspekte andererseits zunächst getrennt voneinander analysiert werden. Allerdings betont er stets, dass es sich hierbei lediglich um eine rein analytische Trennung handelt, dessen Erklärungsgegenstand inhaltlich identisch ist: die Reproduktion und der Wandel sozialer Phänomene.12 9 10 11 12
Giddens [1979] S. 53. Vgl. zur Unterscheidung von Mikro- und Makroposition Abschnitt 2.1.4 der vorliegenden Arbeit. Hierzu sei beispielsweise auf Schütz [1971] 119 f. verwiesen. Vgl. Kießling [1988] S. 151 f.
3 Grundlagen der Strukturationstheorie
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Im Rahmen der Analyse des strategischen Verhaltens sollen die handlungsrelevanten, alltagsweltlichen Wissensbestände der Akteure, ihr Wissen über die sozialen Strukturen, untersucht werden. Dieser Analyseperspektive liegt die Annahme zugrunde, dass die sozialen Strukturen in den Wissensbeständen der Akteure zumindest stillschweigend („tacitly“) repräsentiert sind, dass die Akteure diese Wissensbestände nutzen und auf diesem Wege die Strukturen fortlaufend reproduzieren. Indem Giddens von kompetenten („knowlegdeable“) Akteuren ausgeht, deren Handlungen auf intentionalen Bewusstseinsleistungen fußen, nimmt er einen hermeneutischen Forschungsstandpunkt ein.13 Zugleich betont er – was insbesondere in der Perspektive der strukturellen Analyse Ausdruck gewinnt –, dass dieses Wissen zumeist lediglich handlungspraktisch bewusst in das Handeln einfließt. Seiner Ansicht nach setzt daher das Erfassen von sozialen Phänomenen und den Prozessen ihrer Entstehung und Veränderung voraus, sich den Wissensbeständen sozialer Akteure in einer sinnverstehenden Weise zu nähern und mittels kritischer Hinterfragung ihres Alltagswissens die strukturellen Bestimmungsgründe menschlichen Handelns aufzudecken.14 Während im Mittelpunkt der Analyse strategischen Verhaltens das Aufdecken der handlungspraktisch bewusst wahrgenommenen oder stillschweigenden Wissensbestände kompetenter Akteure steht,15 geht es im Rahmen der strukturellen Analyse um das Aufdecken sozialer Strukturen als den strukturellen Bedingungen des Handelns. In dieser Analyseperspektive wird die Begrenztheit des Handlungswissens („bounded knowledgeability“) und der menschlichen Handlungsfähigkeit betont. Aufgrund der Komplexität und Vielfalt der im Handlungsmoment gegebenen sozialen Strukturen ist es einzelnen Akteuren letztlich unmöglich, die vorherrschenden Strukturen uneingeschränkt zu überblicken (ganz abgesehen davon, dass das Wissen über soziale Strukturen zumeist stillschweigend verankert ist und sich im Wesentlichen im Handeln selbst abzeichnet). Darüber hinaus ist ihr Handeln stets mit Konsequenzen für die sozialen Strukturen verbunden, die sie ebenfalls nicht zu erfassen vermögen, geschweige denn beabsichtigt hätten. Diese nicht intendierten Handlungskonsequenzen wirken in der Regel als unerkannte strukturelle Bedingungen beeinflussend auf das weitere Handeln. Zentrales Ziel der strukturellen Analyse ist es nun, diese Gesetzmäßigkeiten aufzudecken und Aussagen zu entwickeln, die zur Erklärung sozialer Routine- und Wandelprozesse herangezogen werden können.16 Es gilt, 13 14 15 16
Giddens selbst spricht von einem „hermeneutic starting-point“. Giddens [1984] S. 3. Vgl. Rösener [1998] S. 122 f.; Kießling [1988] S. 146 f. Was damit einhergeht, dass sich die betrachteten Akteure ihr stillschweigend verfügbares Alltagswissen in ihr diskursives Bewusstsein rufen. Vgl. Kießling [1988] S. 99 ff.
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3 Grundlagen der Strukturationstheorie
Aussagen darüber zu entwickeln, inwieweit das Zusammenwirken unerkannter Handlungsbedingungen und nicht intendierter Handlungskonsequenzen für die Reproduktion und Veränderung sozialer Strukturen verantwortlich zeichnen. Es bleibt festzuhalten, dass Giddens den Anspruch verfolgt, mit Hilfe einer grundlegenden Neubestimmung des sozialwissenschaftlichen Vokabulars und einem methodologischen Vorgehen, das jeweils eine Analyseperspektive „einklammert“, eine allgemeine Sozialtheorie im Sinne eines Grundlegungsprogramms aller Sozialwissenschaften zu formulieren. Im Folgenden steht die Herausarbeitung derjenigen Bestandteile der Strukturationstheorie im Vordergrund, die in einer Analyse institutionellen Wandels von Bedeutung sind. Dazu sei die Theorie zunächst in ihren Grundzügen dargestellt. 3.1 Begriffliche Grundlagen 3.1.1 Soziales Handeln Strukturen sind sowohl Medium als auch Ergebnis sozialen Handelns.17 Sie existieren nicht unabhängig von menschlichem Handeln, sondern werden erst durch soziale Praktiken produziert und reproduziert. Soziale Praktiken nehmen als vermittelndes Element im Konzept der Dualität von Struktur eine zentrale Rolle in der Strukturationstheorie ein. Bevor auf diese näher eingegangen wird, sei an dieser Stelle zunächst die strukturationstheoretische Bedeutung des Handlungsbegriffs geklärt. Giddens bezeichnet Handeln als einen „continuous flow of conduct“.18 Mit dieser Definition grenzt er sich gegenüber einer traditionell in der Handlungstheorie („philosophy of action“) vertretenen Auffassung ab, wonach Handeln als Aggregation einzelner individueller Handlungsakte interpretiert wird, denen jeweils eine eindeutige, bewusste Intention oder Handlungsabsicht zugeordnet werden kann. Intention gilt dort als Abgrenzungsmerkmal von Handeln gegenüber Verhalten.19 Dieses Handlungsverständnis wertet Giddens jedoch in zweierlei Hinsicht als problematisch. Einerseits steht eine solche Definition in engem Zusammenhang mit einer individualistischen Überbetonung des Einflusses sozia17 18 19
Vgl. Giddens [1979] S. 69; Giddens [1976] S. 128 f. Giddens [1979] S. 55. Dies entspricht dem intentional-kausalistischen Handlungsverständnis, wonach eine Handlung dasjenige Verhalten einer Person darstellt, das durch eine Handlungsabsicht und einen anschließenden handlungsgenerierenden Mechanismus innerhalb der Person verursacht wurde. Siehe hierzu beispielsweise Lumer [1999] S. 534 f. Da Giddens selbst keine entsprechende Unterscheidung trifft, verwendet er die Begriffe Handeln und Verhalten synonym.
3.1 Begriffliche Grundlagen
135
ler Akteure auf soziale Tatbestände, von der er sich ja gerade zu distanzieren sucht. Andererseits bereitet die Abgrenzung von Handeln und bloßem Verhalten Schwierigkeiten, da die Aktivitäten sozialer Akteure stets beide Aspekte beinhalten: „Human beings do not characteristically either think or move, act or behave, but engage in complex patterns of conduct in which these features combine in various ways…Individuals typically „do“ several things at once and it is a complex empirical issue to decide precisely which ingredients can be labelled behaviour, which constitute „pure“ action, and which represent mixed forms.“20
Berücksichtigt man darüber hinaus, dass Akteure vielfältigen Handlungsroutinen folgen, die zwar intendiert vollzogen werden, denen jedoch nicht notwendigerweise jeweils isolierte und identifizierbare Handlungsabsichten vorausgehen, zeigen sich abermals die Schwächen einer solchen handlungstheoretischen Definition. Giddens benötigt also eine Begriffsdefinition, die darauf hinweist, dass der einzelne Akteur zwar keinen unmittelbaren Einfluss auf das sich weitgehend unabhängig vom Einzelnen vollziehende soziale Geschehen ausübt, dass sich Akteure allerdings ebensowenig als jene Garfinkel’schen „cultural dopes“21 einstufen lassen, die alltäglichen Handlungsroutinen immer nur in unreflektierter, gleichsam mechanischer Weise zu folgen vermögen. Aus diesem Grunde definiert er Handeln als einen kontinuierlichen Strom kompetenten Handelns sozialer Akteure. In dieser Definition findet also Berücksichtigung, dass nicht jeder einzelnen Handlung eine diskrete, diskursiv bewusste Handlungsabsicht vorausgeht. Damit dies wiederum nicht mit einer Verkürzung der Rolle sozialer Akteure einhergeht, betont Giddens zugleich deren generelle Fähigkeit, absichtsvoll zu handeln: „One’s life-activity does not consist of a strung-out series of discrete purposes and projects, but of a continuing stream of purposive activity in interaction with others…“22
20 21 22
Campbell [1992] S. 16. Giddens [1979] S. 71 in Anlehnung an Garfinkel [1967] S. 68. Giddens [1976] S. 89.
136
3 Grundlagen der Strukturationstheorie
3.1.2 Soziale Praktiken und Institutionen Die Vermittlung von Handeln und Struktur vollzieht sich in der sozialen Praxis, im Zuge der Anwendung oder Umsetzung sozialer Praktiken. Soziale Praktiken definiert Giddens als „regularized types of act“.23 Damit will er den habitualisierten oder Regelcharakter sozialen Handelns betonen, womit bereits eine Anspielung auf seinen Strukturbegriff mitschwingt.24 Darüber hinaus liefert er allerdings keine präzise Begriffsdefinition, so dass in dieser Hinsicht auf Cohen verwiesen sei, der eine umfassende Auslegung der Strukturationstheorie vorgelegt hat: „Social practices can be understood as skillful procedures, methods, or techniques, appropriately performed by social agents.“25
Soziale Praktiken lassen sich insoweit als allgemeine Verfahrensweisen, als Handlungsmethoden und -techniken begreifen. Sie werden von den Akteuren in ihren alltäglichen Handlungsabläufen routinemäßig herangezogen und auf diese Weise reproduziert. Soziale Praktiken spiegeln sich in den Handlungsmustern von Akteuren wider, wobei die Praktiken entweder nur mit bestimmten Typen von Handlungsakten, oder bereits mit Typen von Akteuren in Verbindung stehen können.26 Wesentlich für die Existenz sozialer Praktiken ist deren Stabilität über Raum und Zeit hinweg – stabil gehalten im Vollzug sozialer Handlungsprozesse. Diejenigen sozialen Praktiken mit der weitesten zeitlichen und räumlichen Ausdehnung innerhalb einer Gesellschaft oder eines sozialen Systems bezeichnet Giddens als Institutionen: „Institutions are those social practices which have the greatest time-space extension within societal totalities.“27
Giddens verwendet den Begriff der Institution weitestgehend analog zu dem in der Wissenssoziologie von Berger und Luckmann verankerten Bedeutungsgehalt. Wie bereits gezeigt wurde, stellen Institutionen dort zwischen Typen sozia23 24 25 26
27
Giddens [1976] S. 81. Wie im folgenden Abschnitt aufzuzeigen sein wird, stellen Strukturen unter anderem reproduzierte Regeln dar. Cohen [1989] S. 26. Womit sie im Institutionalisierungsprozess gewissermaßen eine weitere Stufe von der Habitualisierung (Typisierung von Akten) in Richtung Institutionalisierung (zusätzlich: Typisierung von Akteuren) nehmen würden. Vgl. die diesbezüglichen Ausführungen zum Berger/Luckmann’schen Konzept in Abschnitt 2.1.2.2. Giddens [1984] S. 17. Vgl. auch Giddens [1979] S. 80; Giddens [1981] S. 43 f.
3.1 Begriffliche Grundlagen
137
ler Akteure über einen langen Zeitraum wechselseitig reproduzierte Handlungsmuster dar, die von den Individuen als nicht unmittelbar beeinflussbare, objektive Fakten wahrgenommen werden. Es handelt sich um Praktiken, die über einen langen Zeitraum als in hohem Maße selbstverständlich und unhinterfragt praktiziert werden. Bezogen auf Unternehmungen sei hier beispielsweise auf Prinzipien bürokratischer Zusammenarbeit verwiesen, die in Industriegesellschaften – trotz aller Kritik – weiterhin als selbstverständliche, institutionalisierte Organisationsprinzipien aufgefasst werden,28 was sich letztlich in verschiedenen Praktiken innerhalb der Unternehmungen abzeichnet. So äußert sich beispielsweise das Prinzip der Hierarchie nicht allein in den formalen Organisationsstrukturen der Unternehmungen. Es findet seinen Niederschlag zugleich in den sozialen Handlungsprozessen innerhalb der Unternehmungen, in den Praktiken der Organisationsmitglieder – zum Beispiel in den Begrüßungsritualen zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern, in den Sitzordnungen während Besprechungen oder im Kommunikationsverhalten.29 3.1.3 Soziale Systeme und soziale Struktur Soziale Systeme gelten in der Strukturationstheorie als raumzeitlich reproduzierte Gesamtheiten von strukturierten, interdependenten Handlungen sozialer Akteure.30 Als Systeme sozialer Interaktion gründet sich ihre Existenz auf sozialen Praktiken, die in regelmäßig wiederkehrenden Interdependenzbeziehungen zwischen Akteuren oder Gruppen von Akteuren reproduziert werden: „Social systems are composed of interactions, regularised as social practices, the most persisting of these being institutions.“31
Giddens bezeichnet soziale Syteme daher auch als Muster reproduzierter sozialer Praktiken. Muster sozialer Praktiken bilden sich nur insofern heraus, als sich die Akteure wechselseitig aufeinander beziehen können. Dies setzt ein gemeinsames Wissen um die sozialen Praktiken voraus. Jede soziale Praktik lässt sich anhand 28
29 30 31
Wenngleich die Diskussionen um Postbürokratie und postmoderne Organisationsformen (vgl. Koch [2004] Sp. 1168 f.) den Eindruck erwecken mögen, die bürokratische Organisationsform sei mittlerweile überholt, belegen verschiedene wissenschaftliche Abhandlungen Gegenteiliges. Vgl. beispielsweise Dandeker [1990]; Adler/Borys [1996]; Adler [1999]; Courpasson/Reed [2004]; Casey [2004]; Hodgson [2004]; Robertson/Swan [2004]; Walton [2005]. Vgl. Oberg/Schiller [2004]; Oberg/Schiller/Walgenbach [2005]; Oberg/Walgenbach [2007]. Vgl. Rösener [1998] S. 139. Giddens [1981] S. 43 f. Vgl. auch Giddens [1979] S. 65 f.
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3 Grundlagen der Strukturationstheorie
spezifischer Regeln und Ressourcen beschreiben, die die Akteure mit der Ausübung der Praktik reproduzieren. Bestandteil des gemeinsamen Handlungswissens sind entsprechend die mit den sozialen Praktiken verbundenen Regeln und Ressourcen. Regeln und Ressourcen repräsentieren die Struktur sozialer Systeme.32 Giddens bezeichnet sie daher auch als strukturelle oder strukturierende Merkmale sozialer Systeme.33 Sie gelten als Merkmale, die dafür verantwortlich sind, dass sich Muster sozialer Praktiken herausbilden, fortbestehen und systemische Formen erlangen: „Structure thus refers, in social analysis, to the structuring properties allowing the „binding“ of time-space in social systems, the properties which make it possible for discernibly similar social practices to exist across varying spans of time and space and which lend them „systemic“ form.“34
Wesentliche Bedingung für die Existenz sozialer Systeme ist das Vorhandensein von Strukturen und deren andauernde Reproduktion. Dadurch, dass die Akteure auf einen kollektiven Wissensvorrat an strukturierenden Merkmalen in Form von Regeln und Ressourcen zurückgreifen können, ist soziales Handeln überhaupt erst möglich – insofern ermöglichen Strukturen soziales Handeln, stellen also das Medium sozialen Handelns dar. Durch ihr Handeln – und zwar genau jenes, in dem soziale Praktiken zur Anwendung gelangen – reproduzieren die Akteure die Struktur sozialer Systeme.35 Sie halten damit zugleich den habitualisierten oder institutionalisierten Charakter der angewandten Praktiken aufrecht, was wiederum den Fortbestand des Systems erklärt. Die Bedeutung sozialer Praktiken zeigt sich in ihrer Rolle als zentrale Vermittlungsfigur in der Dualität von Struktur. Als konstituierendes Element sozialer Systeme stellen soziale Praktiken die Vermittlung zwischen den Handlungen sozialer Akteure und den sozialen Strukturen her. Giddens hält soziale Praktiken denn auch für das zentrale Untersuchungsobjekt sozialwissenschaftlicher Forschung: „The basic domain of study of the social sciences, according to the theory of structuration, is neither the experience of the individual actor nor the existence of any form of societal totality, but social practices ordered across space and time.“36 32 33 34 35 36
Vgl. Giddens [1984] S. xxxi, 25. Vgl. Giddens [1979] S. 64; Giddens [1984] S. 23 f. Giddens [1984] S. 17. Vgl. Cohen [1989] S. 123. Giddens [1984] S. 2.
3.1 Begriffliche Grundlagen
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Die vermittelnde Position sozialer Praktiken sei erneut am Beispiel des Hierarchieprinzips verdeutlicht. Das Hierarchieprinzip lässt sich in westlichen Gesellschaften als ein institutionalisiertes Prinzip der Organisation begreifen, das sich auf verschiedene soziale Praktiken gründet. Diese wiederum werden in der alltäglichen Unternehmungspraxis in vielfältiger Weise reproduziert, und zwar indem die mit ihnen verbundenen Regeln und Ressourcen zum Einsatz gelangen. Dies geschieht einerseits dadurch, dass die Akteure in ihren Handlungen routinemäßig im Sinne bestimmter Regeln agieren – wie beispielsweise „Der Mitarbeiter spricht die Begrüßung gegenüber seinem Vorgesetzten zuerst aus.“ oder „Der Vorgesetzte reicht dem Mitarbeiter die Hand.“, was im Ergebnis eine Reproduktion des Hierarchieprinzips bedeutet. Andererseits trägt die regelmäßige Anwendung von Ressourcen dazu bei, dass der institutionalisierte Charakter des Hierarchieprinzips aufrechterhalten wird. Dazu zählt nicht nur der alltägliche Umgang mit Ressourcen wie Fahrzeugen oder hochwertig eingerichteten Büroräumen, die den Charakter von Statussymbolen einnehmen und Hierarchie im Sinne einer Rangordnung materiell zu vermitteln wissen.37 Hierarchie wird zugleich über immaterielle Ressourcen vermittelt, so beispielsweise über Stellenbezeichnungen wie Senior Vice President, Managing Director oder Product Manager, die im Sinne von Machtmitteln auf den Ausgang sozialer Handlungsprozesse derart zu wirken vermögen, dass im Ergebnis eine hierarchische Überund Unterordnung reproduziert wird. Das Beispiel zeigt, dass mit der alltäglichen, routinemäßigen Anwendung von Regeln und Ressourcen diese strukturellen Merkmale sozialer Praktiken aufrechterhalten werden, was letztlich bedeutet, dass nicht nur die Praktiken selbst, sondern zugleich die mit ihnen verbundenen sozialen Strukturen reproduziert werden. 3.1.4 Strukturation Giddens versteht unter Strukturation die kontinuierliche Reproduktion sozialer Praktiken: „[S]tructuration, as the reproduction of practices, refers abstractly to the dynamic process whereby structures come into being.“38
37
38
Hierbei handelt es sich um Artefakte, deren Bedeutung in Prozessen der sozialen Reproduktion später noch anzusprechen sein wird. Vgl. beispielsweise Abschnitt 4.3.2.3, Gliederungspunkt b). Giddens [1976] S. 128.
140
3 Grundlagen der Strukturationstheorie
Vor diesem Hintergrund mag man Strukturationprozesse als Strukturbildungsprozesse oder als Prozesse der Strukturierung verstehen. Statt allerdings mit dem Begriff der Strukturierung zu arbeiten, bevorzugt Giddens den aus dem französischen Strukturalismus entlehnten Begriff der Strukturation. Warum Giddens letztlich mit einem neuartigen Ausdruck arbeitet, anstatt sich vorhandener Begriffe zu bedienen, hat einen wesentlichen Grund: Der Begriff der Strukturation soll die zentrale Erklärungsfigur der Theorie – die Dualität von Struktur – repräsentieren: Soziale Strukturen sind danach sowohl Medium als auch Ergebnis sozialen Handelns. Anhand des Strukturationsbegriffs sucht Giddens den Aspekt der kontinuierlichen Reproduktion sozialer Tatbestände im und durch die sozialen Handlungsprozesse festzuhalten, wobei er deren Ausgang als dem Ergebnis nach offen erachten will. Eine Annäherung an den Strukturationsbegriff kann daher über den Begriff der Reproduktion erfolgen. Der Begriff der „Re-“produktion verweist einerseits darauf, dass soziale Strukturen bereits vorhanden sind und als strukturelle Bedingungen sowohl ermöglichend als auch beschränkend auf das soziale Handeln wirken. Ziel ist es auszudrücken, dass Akteure stets im Kontext gegebener sozialer Strukturen agieren, die Medien ihres Handelns bilden. Re-„produktion“ bezieht sich andererseits auf die Aufrechterhaltung sozialer Tatbestände – mithin auf das Ergebnis sozialen Handelns. Hier vertritt Giddens ein recht weites Verständnis von Reproduktion, das nicht ausschließlich eine inhaltsgleiche, sondern zugleich eine veränderte Aufrechterhaltung sozialer Phänomene umfasst. In diesem Zusammenhang zeigt sich, dass ihm grundsätzlich daran gelegen ist, das Ergebnis sozialer Reproduktion als offen auszuweisen. Soziale Handlungsprozesse gelten insoweit als ergebnisoffen, als ex ante nicht auszumachen ist, wie sich Akteure auf die jeweils gegebenen strukturellen Bedingungen ihres Handelns beziehen – sei es in bestätigender, sei es in verändernder oder gar in ablehnender Weise. Dennoch können sich Akteure nicht von ihrer sozialen Einbettung befreien, sondern beziehen sich in praxi stets in irgendeiner Weise auf soziale Strukturen, womit sie im Ergebnis zu deren Reproduktion beitragen.39 Da Giddens also davon ausgeht, dass sich soziales Handeln stets eingebettet in eine soziale Welt aus Praktiken, Systemen und Strukturen vollzieht, stellt sich im Sinne der Strukturationstheorie jeder soziale Handlungsprozess als ein Strukturationsprozess dar. Zusammenfassend lässt sich daher festhalten, dass Giddens unter einem Strukturationsprozess
39
Sogar im Falle einer ablehnenden Haltung gegenüber den in einem Kontext gegebenen Bedingungen handeln Akteure nicht völlig „strukturfrei“. Als soziale Wesen können sie sich nicht völlig von ihren durch Sozialisation erworbenen sozialen Handlungsgrundlagen lösen; in ihrem Handeln werden sie stets soziale Regeln reproduzieren, selbst wenn dies nicht diejenigen sein mögen, die im jeweiligen Handlungskontext gegeben sind.
141
3.2 Strukturelle Analyse
den Reproduktionsprozess sozialer Phänomene im Zuge der sozialen Praxis versteht (vgl. Abb. 4): „The term „structuration“(...) grasps the simultaneous reproduction of structure and systemic relations which occurs as patterns of interaction [i.e. social practices, Anm. d. Verf.] are reproduced in and through the duality of structure.“40
REPRODUKTION SOZIALER STRUKTUREN (Regeln und Ressourcen)
“[S]tructural properties of social systems are both the medium and the outcome of the practices that constitute those systems.“ (Giddens [1979] S. 69)
REPRODUKTION SOZIALER SYSTEME (Muster reproduzierter sozialer Praktiken)
Abbildung 4:
Strukturation als Reproduktion sozialer Phänomene im Zuge der sozialen Praxis
3.2 Strukturelle Analyse Strukturelle Analyse – Giddens spricht auch von institutioneller Analyse – ist die Analyse der strukturellen Merkmale sozialer Systeme, die über einen langfristigen Zeitraum („longue durée“), unabhängig von situationsbezogenen Abweichungen in der alltäglichen Reproduktion, existieren. Cohen bezeichnet die 40
Cohen [1989] S. 88.
142
3 Grundlagen der Strukturationstheorie
strukturelle Analyse als eine „technique to be employed in order to understand properties of social systems which are reproduced in the longue durée through complex series and cycles of institutionalised activities and relations which „stretch“ across time and space.“41 Im Sinne des methodologischen Einklammerns wird in dieser Analyseperspektive ausgeblendet, dass die strukturellen Merkmale allein deswegen fortdauern, weil soziale Akteure sie mit ihren sozialen Praktiken aufrechterhalten. Vielmehr gelten die strukturellen Merkmale hier als regelmäßig reproduzierte soziale Tatbestände: „In institutional analysis structural properties are treated as chronically reproduced features of social systems.“42
Ausgangspunkt der strukturellen Analyse ist die Annahme, dass die Akteure die strukturellen Grundlagen ihres Handelns nicht im Einzelnen zu benennen vermögen. Der Sozialwissenschaftler hingegen „may wish to identify and study aspects of the constitution of social life which cannot be grasped through concepts and tacit forms of mutual knowledge to which agents have access in their day-to-day lives.“43 Mit der strukturellen Analyse bietet Giddens eine Zerlegung des Strukturbegriffs in verschiedene analytische Bestandteile – namentlich Dimensionen der Struktur – an, die der Wissenschaftler heranziehen kann, um die langfristigen Aspekte sozialen Lebens zu spezifizieren. 3.2.1 Regelbegriff in der Strukturationstheorie Bevor auf die verschiedenen Dimensionen von Struktur näher eingegangen wird, sei zunächst die strukturationstheoretische Verwendung des Regelbegriffs verdeutlicht. Regeln verkörpern verallgemeinerbare Verfahrensweisen, die in der Reproduktion sozialer Praktiken angewendet werden.44 Verfahrensweisen gelten dann als verallgemeinerbar, wenn sie nicht nur in einer einzelnen Handlungssituation Bestand haben, sondern längerfristig und situationsunabhängig eingesetzt werden. Laut Cohen zeichnen sich die Regeln dadurch aus, dass sie „(i) reproduced and recognised many times over during the routine activities undertaken by members of a collectivity, and (ii) reproduced and recognised for a considerable period in the history of that group“ werden.45 41 42 43 44 45
Cohen [1989] S. 247. Giddens [1984] S. 288. Cohen [1989] S. 204. Vgl. Giddens [1984] S. 21. Cohen [1989] S. 43.
3.2 Strukturelle Analyse
143
Regeln haben eine rein virtuelle Existenz: Sie existieren ausschließlich im kollektiven Handlungswissen der Akteure und im Moment ihrer Anwendung. Eine verbale Artikulation von Regeln setzt bereits deren Interpretation durch den jeweiligen Akteur voraus: „The discursive formulation of a rule is already an interpretation of it, and (...) may in and of itself alter the form of its application.“46
Formale, schriftlich niedergelegte Regeln (beispielsweise in Form offizieller Handlungsanweisungen) werden daher als kodifizierte Interpretationen von Regeln verstanden.47 Auf diese Weise greift Giddens auf das hermeneutische Konzept der Regel (oder des Regelbefolgens) des späten Wittgenstein und dessen sozialwissenschaftlicher Weiterentwicklung bei Winch zurück.48 Aus hermeneutischer Sicht beruht jedes Handeln auf der Anwendung von Regeln – soziales Handeln gilt also generell als regelgeleitet –, wobei dies im konkreten Handlungsmoment jeweils die Interpretation der Regeln durch die Akteure voraussetzt. 3.2.2 Dimensionen der Struktur Giddens unterscheidet drei verschiedene Merkmale, die jede soziale Struktur aufweist: Signifikation, Legitimation und Herrschaft. Mit Signifikation und Legitimation unterscheidet Giddens zwei Aspekte von Regeln: „Rules relate on the one hand to the constitution of meaning, and on the other to the sanctioning of modes of social conduct.“49
Damit stellt er nicht auf zwei verschiedene Arten von Regeln ab – sinnkonstituierende versus normative –, sondern betont, dass „[a]ll social rules have both constitutive and regulative (sanctioning) aspects to them.“50 Jede einzelne Interaktionshandlung, in der soziale Praktiken vollzogen werden, impliziert stets 46 47 48 49 50
Giddens [1984] S. 23. Siehe hierzu auch Ortmann [2003] S. 34 f. Vgl. Giddens [1984] S. 21. Vgl. Giddens [1979] S. 67 f. und 82 f.; Kießling [1988] S. 118 ff.; siehe hierzu auch Ortmann [2003] S. 46 f. Giddens [1984] S. 18. Giddens [1979] S. 66. Cohen weist darauf hin, dass Giddens in „New Rules of Sociological Method“ (1976) zunächst noch von zwei verschiedenen Arten von Regeln ausging, dieses Verständnis allerdings im Laufe der Zeit revidiert hat. Vgl. Cohen [1989] S. 236.
144
3 Grundlagen der Strukturationstheorie
beide Aspekte der sozialen Strukturen.51 Nichtsdestotrotz erlaubt die Unterscheidung von Signifikation und Legitimation, zumindest in analytischer Hinsicht zwischen einer symbolisch-kognitiven Struktur, also der Gesamtheit aller sinnkonstituierenden (Aspekte von) Regeln, und einer normativ-regulierenden Struktur als der Gesamtheit aller normativen (Aspekte von) Regeln zu differenzieren. Daher wird im Folgenden auch verkürzt von sinnkonstituierenden Regeln oder Regeln der Sinnkonstitution und von normativen Regeln gesprochen, ohne damit zu negieren, dass es sich lediglich um zwei verschiedene Aspekte einer jeden sozialen Regel handelt. Mit Signifikation stellt Giddens auf den sinnkonstituierenden Charakter von Regeln ab. Dieser äußert sich vorrangig in Interpretations- oder Deutungsmustern („interpretative schemes“), die die Akteure heranziehen, um den Ereignissen in ihrer sozialen Umgebung Bedeutung zuzuschreiben. Die Interpretationsschemata sind Bestandteil des gesellschaftlichen Wissensvorrats („mutual knowledge“). Erst dadurch, dass die Akteure über gemeinsame Interpretationsschemata hinsichtlich der Sinnhaftigkeit sozialer Praktiken verfügen, können sie sich wechselseitig aufeinander beziehen, das heißt in ihren Interaktionen miteinander verständigen. Indem sie in ihren Interaktionsprozessen darauf zurückgreifen, reproduzieren sie die sinnkonstituierenden Regeln, wobei dies nicht deterministisch oder programmiert geschieht, sondern einen bewussten Umgang mit dem sozialen Umfeld bedeutet:52 „[M]eaningfulness is actively and continually negotiated, not merely the programmed communication of already established meanings.“53
Die Legitimation oder Legitimationsstruktur wird durch die Regeln der Sanktionierung sozialen Handelns – kurz: die normativen Regeln – begründet. Normative Regeln lassen sich als moralische Orientierungsrahmen und Wertemuster verstehen, die den Akteuren Rechte einräumen und Verpflichtungen auferlegen. Die normativen Regeln äußern sich im sanktionierenden Handeln der Akteure und werden durch entsprechendes Handeln reproduziert. Dass der normative Charakter von Regeln nicht unabhängig vom sinnkonstituierenden Aspekt gedacht werden kann, zeigt sich darin, dass die anzuwendenden Normen durch die Akteure im Lichte der gesellschaftlichen Deutungsmuster interpretiert werden. Um mit Kießling zu sprechen, verweisen die Signifikationsstrukturen integral 51 52 53
Vgl. Kießling [1988] S. 129. Wie die Ausführungen zur reflexiven Handlungssteuerung zeigen, erfolgt dies entweder handlungspraktisch oder diskursiv bewusst. Vgl. Abschnitt 3.3.2.3. Giddens [1976] S. 111.
3.2 Strukturelle Analyse
145
auf die übrigen Dimensionen des Strukturbegriffs, da Sinn stets auf bestimmte Inhalte bezogen ist.54 Während sich die Dimensionen Signifikation und Legitimation auf die allgemeinen (Aspekte der) Regeln sozialer Praktiken beziehen, stellt die Herrschaftsdimension auf Ressourcen ab, die in der Umsetzung sozialer Praktiken zur Anwendung gelangen und insoweit Herrschaftsstrukturen begründen. „According to the theory of structuration, the components of social interaction are exhausted neither by its „meaningful“ nor its „normative“ content. Power is an integral element of all social life as are meaning and norms; this is the significance of the claim that structure can be analysed as rules and resources, resources being drawn upon in the constitution of power relations.“55
Ressourcen stellen aus Sicht des einzelnen Akteurs Machtmittel dar. Sie sind entweder autoritativer oder allokativer Art.56 Autoritative Ressourcen betreffen Machtmittel, die einen Akteur befähigen, Einfluss auf andere Akteure auszuüben. Allokative Ressourcen hingegen stellen Machtmittel dar, die die Fähigkeit eines Akteurs begründen, Einfluss auf materielle Objekte oder Güter zu nehmen. Dabei können autoritative und allokative Ressourcen sowohl materieller als auch immaterieller Natur sein.57 Entscheidend ist, dass es eine Vielzahl potentieller materieller oder immaterieller Ressourcen gibt, die aus Sicht der Strukturationstheorie allerdings erst dann als Ressourcen anzusehen sind, wenn sie als Machtmittel in der Durchführung sozialer Praktiken eingesetzt werden. Die in einer Interaktionssituation gegeben materiellen und immateriellen Gegebenheiten erhalten also dann Ressourceneigenschaften, wenn sie eine praktische Bedeutung und Funktion als tatsächliches Handlungsmittel – als Machtmittel – in sozialen Interaktionsprozessen annehmen.58 Auch hier zeigt sich der enge Zusammenhang zwischen den einzelnen Strukturdimensionen. Normen, die den Einsatz von Ressourcen in Interaktionsprozessen „regeln“, können ihrerseits autoritative Ressourcen darstellen, sofern die Akteure sie zur Einflussnahme auf andere Personen geltend machen. Umgekehrt hängt die Fähigkeit, vorherrschende Interpretationsmuster und Werte54 55 56 57
58
Vgl. Kießling [1988] S. 130. Giddens [1981] S. 28. Vgl. Giddens [1984] S. 33; Giddens [1979] S. 100 f. Das strukturationstheoretische Unterscheidungskriterium von Ressourcenarten stellt also auf deren jeweilige Bedeutung im sozialen Handlungsprozess ab: Sollen mit der Ressource Akteure beeinflusst werden oder ist das Ziel die Gestaltung physischer Objekte? Vgl. Walgenbach ([2006b] S. 410) am Beispiel von Geld. Vgl. Ortmann [2001] S. 2.
146
3 Grundlagen der Strukturationstheorie
systeme (Signifikation und Legitimation) in prägender, gestalterischer Weise zu beeinflussen, davon ab, in welchem Ausmaß die Akteure autoritative und allokative Ressourcen mobilisieren können.59 Auch Ortmann konstatiert einen Zusammenhang zwischen Regeln und Ressourcen: „Ressourcen implizieren Regeln ihres Gebrauchs, und wie alle Regeln konstituieren diese sich in praxi, hier also: im Gebrauch der Ressource.“60
Bezogen auf den sinnkonstituierenden Charakter von Regeln bedeutet das beispielsweise: Ressourcen werden in einem bestimmten Sinnzusammenhang (Signifikation) gebraucht, der sich in vorangegangenen Interaktionsprozessen konstituiert hat. Dieser wird im weiteren Verlauf durch die Anwendung der Ressourcen reproduziert und unterliegt insoweit zugleich der Möglichkeit der Veränderung. Insgesamt zeigt sich also, dass Signifikation, Legitimation und Herrschaft analytische Dimensionen darstellen: Sie sind allenfalls analytisch, im Rahmen der strukturellen Analyse, trennbar.61 In der sozialen Praxis findet eine solche Trennung hingegen nicht statt. Vielmehr werden mit der Ausübung sozialer Praktiken stets sinngebende und normative Regeln bemüht sowie Ressourcen eingesetzt. 3.2.3 Struktur als virtuelle Ordnung sozialer Systeme Giddens verwendet den Begriff der Struktur im Sinne einer virtuellen Ordnung aus Regeln und Ressourcen. „To say that structure is a „virtual order“ of transformative relations means that social systems, as reproduced social practices, do not have „structures“ but rather exhibit „structural properties“ and that structure exists, as time-space presence, only in its instantiantions in such practices and as memory traces orienting the conduct of knowledgeable human agents.“62
Die virtuelle Existenz sozialer Strukturen soll ausdrücken, dass Regeln und Ressourcen ausschließlich im – überwiegend handlungspraktisch bewussten – kollektiven Wissensvorrat der Akteure repräsentiert sind und lediglich in den konkreten Momenten des Handelns – in der Umsetzung sozialer Praktiken – Wirk59 60 61 62
Vgl. Giddens [1976] S. 119. Ortmann [2001] S. 4 f. Vgl. Giddens [1976] S. 130; Giddens [1979] S. 106 f.; Giddens [1984] S. 28 ff. Giddens [1984] S. 17.
3.3 Analyse des strategischen Verhaltens
147
lichkeit erlangen.63 Struktur selbst ist unabhängig von Zeit und Raum. Sie gilt als ein Medium der Zeit-Raum-Überwindung: Struktur – genauer: das kollektive Handlungswissen der Akteure um die strukturellen Merkmale sozialer Praktiken – ermöglicht die Integration dieser Praktiken über Zeit und Raum hinweg. Darauf ist im Zusammenhang mit der Strukturation später wieder einzugehen. 3.3 Analyse des strategischen Verhaltens Ziel der Analyse strategischen Verhaltens ist es, die Grundlagen menschlicher Handlungsmächtigkeit aufzudecken, um auf diese Weise ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie individuelle Akteure in Prozessen sozialer Interaktion agieren. Dabei geht es um die Bedeutung des Handelns für das handelnde Subjekt selbst.64 Es gilt zu erfassen, wie sich die gesellschaftliche Wirklichkeit – die sozialen Strukturen – aus der Perspektive des handelnden Subjekts darstellt. Anhand der methodischen Annahme, dass die sozialen Strukturen gegeben sind, soll die Art und Weise hinterfragt werden, wie ein Akteur auf die gegebenen Regeln und Ressourcen im konkreten Interaktionsmoment zurückgreift.65 Giddens formuliert wie folgt: „To examine the constitution of social systems as strategic conduct is to study the mode in which actors draw upon structural elements – rules and resources – in their social relations. „Structure“ here appears as actors’ mobilisation of discursive and practical consciousness in social encounters.“66
Die folgenden Ausführungen dienen zunächst dazu, die Grundlagen menschlicher Handlungsmächtigkeit und die diesbezügliche Rolle sozialer Regeln und Ressourcen aufzuzeigen. Die Art und Weise, wie die Akteure in sozialen Interaktionsprozessen auf die gegebenen Regeln und Ressourcen Bezug nehmen, wird im Zusammenhang mit dem Modell der Dualität von Struktur Betrachtung erfahren.
63
64 65 66
Dies mag im Falle materieller Ressourcen auf den ersten Blick fragwürdig erscheinen. Vergegenwärtigt man sich jedoch die Ausführungen des vorangegangenen Abschnitts, so lässt sich festhalten, dass nicht die materiellen Gegebenheiten selbst als virtuell anzusehen sind, sondern vielmehr das Wissen um ihren kontextadäquaten Einsatz – kurzum, das Wissen um die Regeln ihres Gebrauchs. Vgl. Kießling [1988] S. 149. Vgl. Giddens [1984] S. 373. Giddens [1979] S. 80.
148
3 Grundlagen der Strukturationstheorie
3.3.1
„Agency“ als grundlegende Handlungsmächtigkeit von Akteuren
In Abgrenzung zu holistischen Forschungskonzepten geht Giddens von einer grundlegenden Handlungsmächtigkeit sozialer Akteure („agency“) aus. Diese äußert sich in der Fähigkeit, einen Unterschied herzustellen, also durch eigenes Handeln (oder Nichthandeln) den Verlauf sozialer Handlungsprozesse zu beeinflussen: „I shall define action or agency as the stream of actual or contemplated causal interventions of corporeal beings in the ongoing process of events-in-the-world.“67
Da jegliches Handeln von Akteuren das soziale Geschehen beeinflusst, bezeichnet Giddens die Handlungsmächtigkeit auch als Transformationsfähigkeit („transformative capacity“). Akteure können also durch ihr soziales Handeln Konsequenzen für die soziale Struktur bewirken, die ohne ihr Handeln nicht eintreten würden. Dabei ist es unerheblich, ob sie diese Handlungskonsequenzen tatsächlich erzielen wollen – und in diesem Sinne intendiert handeln – oder nicht: „Agency refers not to the intentions people have in doing things but to their capability of doing those things in the first place.“68
So beeinflussen die Akteure die soziale Struktur auch dann – und stellen insofern einen Unterschied zu vorangegangenen Handlungssituationen her –, wenn die Reproduktion der sozialen Struktur gar nicht ihrer Handlungsabsicht entspricht. Wenn Akteure beispielsweise miteinander kommunizieren, tun sie das zumeist in der Absicht, bestimmte Inhalte zu übermitteln. In der Regel verfolgen sie dabei nicht das Ziel, die existierende soziale Struktur oder Ordnung aufrecht zu erhalten oder zu verändern. Da sie allerdings in ihrer Kommunikation gewohnheitsmäßig von Regeln Gebrauch machen, die die soziale Struktur repräsentieren, steht ihr Handeln sehr wohl im Zusammenhang mit dem Fortbestand der Struktur. Die Reproduktion der Struktur ist sozusagen das nicht intendierte Ergebnis ihres Handelns.69 Giddens führt die grundlegende Handlungsmächtigkeit auf die 67 68 69
Giddens [1976] S. 81; siehe auch Giddens [1979] S. 56. Giddens [1984] S. 9. Giddens geht sogar generell davon aus, dass die Reproduktion sozialer Phänomene im Regelfall ein nicht intendiertes Ergebnis sozialen Handelns darstellt. Akteure ziehen soziale Praktiken in der Verfolgung anderweitiger Handlungsziele heran; ihre primäre Handlungsintention gilt nicht einer Reproduktion sozialer Systeme, wenngleich sie mit ihrem Rekurs auf soziale Praktiken dazu beitragen. Die soziale Reproduktion wird damit eher als ein sozusagen beiläufiges Nebenprodukt routinierten Handels betrachtet.
149
3.3 Analyse des strategischen Verhaltens
beiden Bestandteile „knowledgeability“ als das Handlungswissen der Akteure und „capability“ als ihr Handlungsvermögen zurück (vgl. Abb. 5), die nachfolgend näher zu betrachten sind.
“AGENCY“ GRUNDLEGENDE HANDLUNGSMÄCHTIGKEIT
kognitiv begründet
machtbedingt
HANDLUNGSWISSEN “knowledgeability“
HANDLUNGSVERMÖGEN “capability“
realisiert in der diskursiv oder handlungspraktisch bewussten
REFLEXIVEN HANDLUNGSSTEUERUNG & RATIONALISIERUNG DES HANDELNS
Abbildung 5:
„Agency“ – Aspekte menschlicher Handlungsmächtigkeit
3.3.2 Handlungswissen – „knowledgeability“ 3.3.2.1 „Mutual Knowledge“ als geteilter Wissensvorrat der Akteure Individuelle Akteure verfügen grundsätzlich über ein Wissen, das es ihnen ermöglicht, in ihrem Handeln über ihr eigenes Handeln und das Handeln anderer zu reflektieren sowie die Besonderheiten des jeweiligen Handlungskontextes, ob räumlicher oder zeitlicher Art, zu berücksichtigen.70 Giddens spricht im Zusammenhang mit der auf Wissen basierenden Handlungsmächtigkeit von „knowledgeability“ als „[e]verything which actors know (believe) about the circumstances
70
Vgl. Giddens [1984] S. 21 f.
150
3 Grundlagen der Strukturationstheorie
of their action and that of others“.71 Damit will er bewusst nicht nur den Wissensbestand eines Akteurs („knowledge“) ansprechen, sondern ebenso betonen, dass die Handlungsmächtigkeit des Akteurs zugleich die Fähigkeit („ability“) voraussetzt, dieses Wissen im Handlungsprozess sinnvoll einzusetzen.72 Der handlungsrelevante Wissensbestand besteht im Wesentlichen aus „mutual knowledge“, also dem geteilten Wissen sozialer Akteure über die strukturellen Bedingungen ihres alltäglichen sozialen Handelns.73 Die Akteure teilen Wissen über die ihrem Handeln zugrundeliegenden sozialen Regeln, über die verfügbaren Ressourcen und die Bedingungen ihres Einsatzes. Während diese Annahme im Rahmen der strukturellen Analyse nicht näher hinterfragt wurde, wird im Rahmen der Analyse des strategischen Verhaltens der Blickwinkel des individuellen Akteurs eingenommen. Aus dieser Sicht ist zu betonen, dass der einzelne Akteur davon ausgeht, dass die übrigen Akteure ebenfalls über ein solches Wissen verfügen. Gerade dieses wechselseitige Voraussetzen von Wissensbeständen (und dessen fortlaufende Bestätigung im sozialen Handeln) erklärt die Integration oder Anschlussfähigkeit des Handelns in Interaktionen: „I use the term „mutual knowledge“ to refer generically to taken-for-granted „knowledge“ which actors assume others possess, if they are „competent“ members of society, and which is drawn upon to sustain communication in interaction.“74
Im Zusammenhang mit einem solchermaßen definierten Handlungswissen sei angemerkt, dass sich das Handlungswissen eines einzelnen Akteurs selbstverständlich nicht im Wissen um soziale Praktiken und deren strukturellen Merkmalen erschöpft. Aus strukturationstheoretischer Sicht geht es jedoch um die Erklärung der Grundlagen gesellschaftlicher oder sozialer Reproduktion, die sich in der zentralen These der Dualität von Struktur widerspiegelt. Insofern spielt ausschließlich das Alltagswissen um die strukturellen Bedingungen sozialen Handelns eine Rolle. Im Übrigen kann sich der jeweilige Bestand an „mutual knowledge“ eines Akteurs von demjenigen anderer Akteure unterscheiden. Mit der Betonung von „mutual knowledge“ negiert Giddens nicht die Individualität oder Einzigartigkeit des Wissensbestands einzelner Akteure. Die Akteure einer modernen Gesellschaft partizipieren grundsätzlich an mehreren sozialen Systemen – teilweise in verschiedenen Kulturräumen – und machen jeweils ihre eigenen 71 72 73
74
Giddens [1984] S. 375. Vgl. Becker [1996] S. 147. Da Giddens in der Definition des Wissensbegriffs ebenso wie Berger und Luckmann auf Alfred Schütz verweist, entspricht seine Auffassung von „mutual knowledge“ weitestgehend dem Verständnis des Berger/Luckmann’schen Routine-, Alltags- oder Allerweltswissen. Giddens [1976] S. 113.
3.3 Analyse des strategischen Verhaltens
151
Erfahrungen, so dass der handlungsrelevante Wissensvorrat des Einzelnen bezogen auf die Gesellschaft in der Praxis stets ein subjektspezifischer ist.75 3.3.2.2 Ebenen des Bewusstseins Zu den zentralen Annahmen der Strukturationstheorie gehört es, das geteilte Handlungswissen der Akteure als überwiegend handlungspraktisch, stillschweigend verankert anzusehen.76 Giddens unterscheidet zwischen „practical consciousness“ und „discursive consciousness“ als Formen des Bewusstseins, die jeweils einen unterschiedlichen Zugang zum Handlungswissen anzeigen.77 Handlungswissen ist dann handlungspraktisch bewusst verankert, wenn die Akteure es stillschweigend in ihren sozialen Praktiken anwenden, ohne in verbaler Form Auskunft darüber zu geben. In Anlehnung an Wittgenstein geht Giddens davon aus, dass die Grenze des sprachlich Ausdrucksfähigen nicht die Grenze des Wissens sozialer Akteure markiert. Jeder Akteur hat ein allgemeines Wissen über die Bedingungen der Reproduktion der sozialen Strukturen, in denen er sich bewegt, ohne dass er dieses Wissen auszudrücken vermag.78 Es äußert sich überwiegend im Handeln beziehungsweise in der gewohnheitsmäßigen Anwendung der im Handlungswissen verankerten Regeln und Ressourcen in Prozessen sozialer Interaktion: „Eine Regel zu kennen, bedeutet, regelgerecht agieren zu können und nicht, sie abstrakt zu formulieren.“79
Im Gegensatz dazu spricht Giddens von diskursiv bewusstem Handlungswissen, wenn es die Akteure verbal auszudrücken vermögen. Es entspricht dem alltagssprachlich als „bewusst“ bezeichneten Wissen. Diskursive Bewusstheit bezieht sich auf das explizite beziehungsweise explizierbare Wissen des Akteurs über die seinem Handeln zugrundeliegenden Regeln und Ressourcen und die Bedingungen ihres Einsatzes. Zwischen praktischem und diskursivem Bewusstsein besteht keine eindeutige Grenze.80 Da soziale Akteure als kompetent und reflexionsmächtig gelten, 75 76 77 78 79
Vgl. Becker [1996] S. 148 sowie Abschnitt 4.3.1.1 der vorliegenden Arbeit. „This includes „tacit knowledge“, in Polanyi’s sense…“ Giddens [1976] S. 113; vgl. auch Giddens [1979] S. 5 und 58. Vgl. Giddens [1979] S. 73. Siehe zu Formen des Bewusstseins grundsätzlich Bieri [2005] S. 61 ff. Vgl. Giddens [1979] S. 5. Becker [1996] S. 149. Siehe auch Giddens [1976] S. 30.
152
3 Grundlagen der Strukturationstheorie
wird unterstellt, dass sie in den meisten Fällen in der Lage sind, auch über praktisch bewusstes Handlungswissen zu reflektieren und dieses – zumindest fragmentarisch – verbal zu formulieren: „[A]ctors will usually be able to explain most of what they do, if asked.“81
Dies lässt sich darauf zurückführen, dass das praktisch bewusste Wissen in der Vergangenheit – durch Sozialisation – Erlerntes abbildet, das sich prinzipiell in das diskursive Bewusstsein zurückholen lässt, so beispielsweise in kritischen, atypischen Handlungssituationen oder auf das Befragen anderer hin. Im Regelfall – in der Verfolgung von Handlungsroutinen – wenden die Akteure allerdings bekannte, bereits erlernte Praktiken an, ohne dies entsprechend zu artikulieren.82 3.3.2.3 Strukturationstheoretisches Handlungsmodell Die Unterscheidung von verschiedenen Bewusstseinsebenen bildet die Grundlage für das „stratification model“ – das Handlungsmodell der Strukturationstheorie. Es soll als Instrument der Analyse strategischen Verhaltens Aufschluss über die Bestimmungsgründe menschlichen Handelns geben. Anhand des Modells lässt sich konkretisieren, wie sich die „knowledgeability“ der Akteure in den Prozessen der sozialen Reproduktion äußert. Das Modell unterscheidet drei Prozesse der individuellen Handlungssteuerung, die gleichzeitig auf unterschiedlichen Bewusstseinsebenen ablaufen: die reflexive Handlungssteuerung, die Rationalisierung des Handelns und die Handlungsmotivation (vgl. erneut Abb. 5).83 Giddens geht davon aus, dass Akteure stets reflexiv handeln. Das bedeutet, dass sie sich stets mehr oder weniger bewusst mit ihrem Handlungskontext, also den räumlichen, zeitlichen und sozialen Merkmalen der jeweiligen Handlungssituation, mit den jeweiligen Interaktionspartnern und mit dem eigenen vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Handeln auseinandersetzen und auf die80 81 82 83
Vgl. Giddens [1984] S. 7. Giddens [1984] S. 6. Giddens ([1984] S. 45 ff.) führt darüber hinaus die Ebene des Unbewussten an, die verbal nicht zugänglich ist. Im Weiteren wird die Handlungsmotivation nicht näher betrachtet, da es sich um eine für psychologische Studien relevante Kategorie handelt, hier jedoch die Sozialität des Menschen im Vordergrund steht. Giddens erachtet die Handlungsmotivation als dem Bewusstsein nicht zugänglich. Als grundlegendes Motiv des Menschen, an sozialen Handlungsprozessen teilzunehmen, sieht Giddens die Befriedigung des Sicherheitsempfindens: die Teilnahme an Handlungsroutinen vermittelt eine gewisse Vorhersehbarkeit und Planbarkeit, die dem Menschen Vertrauen und Halt geben (vgl. Giddens [1984] S. 60 ff.).
3.3 Analyse des strategischen Verhaltens
153
ser Grundlage ihr eigenes Handeln steuern. Giddens bezeichnet diese Tätigkeit als reflexive Handlungssteuerung. Obgleich die Bezeichnung „reflexiv“ üblicherweise auf eine diskursiv bewusste Tätigkeit verweist, geht Giddens davon aus, dass die reflexive Handlungssteuerung überwiegend handlungspraktisch bewusst erfolgt. Die regelmäßige Kontrolle der wechselnden Handlungssituationen und die diesbezügliche Steuerung des Handelns erfolgen zumeist als ein eher beiläufiges Wahrnehmen der kontextuellen Gegebenheiten im Zuge der alltäglichen Handlungsroutinen: „[P]erception is not an aggregate of discrete „perceptions“ but a flow of activity integrated with the movement of the body in time-space.“84
Die reflexive Handlungssteuerung stellt die Grundlage für eine Rationalisierung des Handelns dar. Hierunter versteht Giddens die Fähigkeit der Akteure, ihr eigenes Handeln zu interpretieren und sich und anderen Gründe für das Handeln anzugeben. Theoretisch lehnt er die Rationalisierung des Handelns an den ethnomethodologischen Begriff der „accountability“ an:85 „To be „accountable“ for one’s activities is both to explicate the reasons for them and to supply the normative grounds whereby they may be „justified“.“86
Die Akteure gelten insofern als „accountable“, als sie prinzipiell in der Lage sind, die ihrem Handeln zugrundeliegenden Handlungsgründe anzugeben und dabei Bezug zu nehmen auf die vorherrschenden sinnkonstituierenden und normativen Regeln. Allerdings beschränkt sich die Rationalisierung des Handelns nicht auf die diskursive Äußerung der eigenen Handlungsgründe gegenüber anderen Akteuren. Ein offener Austausch über die Handlungsgründe unter den Akteuren erfolgt sogar eher selten. Vielmehr sieht es Giddens als ein dauerhaftes Merkmal der alltäglichen Handlungsabläufe („a chronic feature of daily conduct“)87 an, dass die Akteure ein handlungspraktisches Verständnis über ihre Handlungsgründe mitführen, ohne sich offen darüber auszutauschen.88
84 85 86 87 88
Giddens [1984] S. 46. Vgl. Garfinkel [1967] S. 1 ff. Giddens [1984] S. 30. Giddens [1979] S. 57. Siehe auch Giddens [1981] S. 35 f. Vgl. Giddens [1984] S. 5.
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3 Grundlagen der Strukturationstheorie
3.3.3 Handlungsvermögen – „capability“ Die Handlungsmächtigkeit von Akteuren erschöpft sich nicht allein in ihrem Anteil am gesellschaftlichen Wissensvorrat. Vielmehr setzt die Fähigkeit, soziale Tatbestände zu beeinflussen („agency“), die Verfügbarkeit von Ressourcen voraus. Giddens deutet die Bedeutung der Ressourcen im Zusammenhang mit der „knowledgeability“ zwar bereits an, führt diesen Aspekt allerdings erst unter dem Begriff der „capability“ weiter aus. Die Fähigkeit, die zur Verfügung stehenden Ressourcen in Handlungsprozessen derart einzusetzen, dass intendierte Handlungsergebnisse realisierbar werden, bezeichnet Giddens als das Handlungsvermögen eines Akteurs („capability“). Das Handlungsvermögen des Einzelnen wird durch die bestehende Herrschaftsstruktur bestimmt: Die Ressourcen stehen nicht allen Handelnden gleichermaßen zur Verfügung, sie sind asymmetrisch verteilt, und beeinflussen damit das spezifische Handlungsvermögen eines Individuums. Derjenige Akteur, der über ein – gegenüber anderen Akteuren – höheres Maß an Ressourcen verfügt, vermag die Handlungsprozesse eher zu seinen Gunsten zu beeinflussen. In diesem Sinne verfügt er über relationale Macht: Er vermag Handlungsergebnisse zu erzielen, die ein bestimmtes Verhalten anderer Akteure voraussetzen.89 Die Verfügung über eine überproportionale Menge an Ressourcen ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einer ausgeprägteren grundsätzlichen Handlungsmächtigkeit („agency“). Das Steuerungs- und Kontrollvermögen privilegierter Akteure besteht nicht unbegrenzt. Selbst ein Akteur, dem kaum Ressourcen zur Verfügung stehen, vermag Einfluss auf die Entwicklung von Handlungsprozessen zu nehmen, und sei es nur über die Verweigerung des Handelns. Laut Giddens ist jede noch so asymmetrische Beziehung von Autonomie und Abhängigkeit in beide Richtungen gekennzeichnet: „Power relations are always two-way; that is to say, however subordinate an actor may be in a social relationship, the very fact of involvement in that relationship gives him or her a certain amount of power over the other. Those in subordinate positions in social systems are frequently adept at converting whatever resources they
89
Giddens [1976] S. 118. Hier zeigt sich die Nähe zum relationalen Machtverständnis, wie es im Institutionalismus vorherrscht (vgl. Abschnitt 2.2.3.3., Gliederungspunkt b)). Ähnlichkeit besteht ebenfalls zu den mikropolitischen Machtdefinitionen, wie sie in anderen Zweigen der Organisationsforschung verbreitet sind: „[P]ower is the ability of persons or groups to extract for themselves valued outputs from a system in which other persons or groups either seek the same outputs for themselves or would prefer to expend their effort towards other outputs.“ Perrow [1986] S. 259.
3.3 Analyse des strategischen Verhaltens
155
possess into some degree of control over the conditions of reproduction of those social systems.“90
Prinzipiell hat also jeder Akteur die Möglichkeit, anders zu handeln, als es ihm seine Interaktionspartner nahelegen. Insofern behält er zumindest ein geringes Maß an Handlungsspielraum gegenüber „machtvolleren“ Akteuren. Giddens bezeichnet dieses Zusammenspiel von Autonomie und Abhängigkeit im sozialen Handeln als „Dialektik der Kontrolle“.91 Sie beeinflusst, inwieweit ein Akteur seinen durch die Herrschaftsstruktur begründeten Machtvorsprung tatsächlich umzusetzen weiß. 3.3.4 Grenzen menschlicher Handlungsmächtigkeit Akteure gelten zwar als handlungsmächtig, ihre Handlungsmächtigkeit ist allerdings nicht allumfassend. Giddens formuliert Grenzen der Handlungsmächtigkeit, die einerseits natürlicher, andererseits struktureller Art sind. Die natürlichen Handlungsgrenzen sind Grenzen der Handlungsmächtigkeit, die sich auf den einzelnen Akteur, auf dessen Existenz als menschliches Subjekt, zurückführen lassen. Giddens greift hier im Wesentlichen auf Erkenntnisse des Zeitgeographen Hägerstrand zurück.92 Hägerstrands Ansatz zielt darauf ab, die räumlichen und zeitlichen Beschränkungen menschlichen Handelns aufzudecken. Diese Beschränkungen liegen beispielsweise in der „indivisibility of the body“,93 in der „indivisibility of material features of locales“94 und in den „sensory and communicative capabilities of the human body“.95 Die Nichtteilbarkeit von Menschen und Räumen, in denen Interaktionen stattfinden, stellt eine unveränderbare und insoweit natürliche Grenze der Handlungsmächtigkeit dar, die dem Handeln in Raum und Zeit Grenzen auferlegt.96 Die sensorischen und kommunikativen Fähigkeiten hingegen begrenzen die menschlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten. Sie lassen sich als Grenzen auffassen, die in der begrenzten Wahrnehmungs- und
90 91 92 93 94 95 96
Giddens [1979] S. 6; vgl. analog S. 149. Vgl. analog Crozier/Friedberg [1979] S. 56. Vgl. Giddens [1984] S. 111 ff. Giddens [1984] S. 174. Cohen [1989] S. 99. Giddens [1984] S. 174. In der Strukturationstheorie findet sich dieser Gedanke insbesondere in der Annahme der situativen Gebundenheit oder Kontextabhängigkeit des Handelns wieder („the „situated“ character of actors’ activities“, Giddens [1979] S. 73).
156
3 Grundlagen der Strukturationstheorie
Informationsverarbeitungskapazität von Akteuren begründet liegen.97 Zwar variiert diese von Mensch zu Mensch und ist von zahlreichen Faktoren abhängig, die bedeutend von dem individuellen Werdegang und dem sozialen Umfeld geprägt werden. Hier geht es jedoch um die natürlich begründeten Handlungsgrenzen, über die kein menschliches Wesen hinauszugehen vermag. So ist kein Akteur in der Lage, alle Bedingungen seines Handelns vollumfassend zu erkennen und jegliche Einflussfaktoren auf die Ergebnisse seines Handelns zu berücksichtigen. Neben der natürlichen Begrenztheit menschlicher Handlungsmächtigkeit stellt sich soziales Handeln als strukturell begrenzt dar. Die strukturell begründeten Handlungsgrenzen resultieren aus der im Handlungsmoment gegebenen Unabänderlichkeit sozialer Strukturen.98 Wie bereits verschiedentlich hervorgehoben wurde, vollzieht sich soziales Handeln aus Sicht der Strukturationstheorie stets eingebettet in soziale Strukturen, die die einzelnen Akteure nicht unmittelbar zu verändern vermögen: „[Structural] constraint stems from the „objective“ existence of structural properties that the individual agent is unable to change.“99
Bezogen auf die einzelnen Akteure stellen die im Interaktionsmoment vorhandenen sozialen Strukturen unveränderliche Handlungsbedingungen dar, die die Menge ihrer möglichen Handlungsalternativen begrenzen. Die strukturell bedingten Handlungsgrenzen äußern sich in zweierlei Weise: in der Begrenztheit des Handlungswissens („bounded knowledgeability“ – kognitive Handlungsgrenzen) und in der Begrenztheit des Handlungsvermögens („capability constraints“ – machtbezogene Handlungsgrenzen). Das kollektive Handlungswissen gilt im Moment der Interaktion insofern als strukturell begrenzt, als sich im jeweiligen Handlungskontext nur bestimmte Regeln und Ressourcen als angemessen – als kontextadäquat – erweisen. Giddens will jedoch vorrangig auf einen anderweitigen Punkt hinaus. Er begründet die Begrenztheit unter Rückgriff auf die Ebenen des Bewusstseins. Die strukturellen Handlungsbedingungen sind den eingebetteten Akteuren nicht vollständig diskursiv, sondern überwiegend handlungspraktisch bewusst. Sie tragen dieses Wissen in sich, explizieren es in der Regel jedoch nur dann, wenn sie sich in nicht alltäglichen Situationen befinden, in denen sie sich über die ihrem Handeln zugrundeliegenden Regeln und Ressourcen – im alltagssprachlichen Sinne – bewusst werden müssen. In ihren gewohnheitsmäßigen sozialen Handlungspro97 98 99
Vgl. Giddens [1979] S. 73. Vgl. Giddens [1989] S. 258. Giddens [1984] S. 176.
3.3 Analyse des strategischen Verhaltens
157
zessen erweisen sich die sozialen Strukturen indes weitgehend als unerkannte Handlungsbedingungen (Giddens spricht von „unacknowledged conditions“). Sie begrenzen die Handlungsmächtigkeit dadurch, dass sie den Ausgang des Handelns in einer Weise zu beeinflussen vermögen, die von den Akteuren nicht unmittelbar beabsichtigt war (Giddens spricht von „unintended consequences“). Die Handlungsmächtigkeit von Akteuren wird weiterhin aufgrund des ungleich verteilten Handlungsvermögens eingeschränkt. Strukturelle Handlungsgrenzen der machtbezogenen Art zeigen sich in der Fähigkeit zur negativen Sanktionierung von Verhaltensweisen. Die Sanktionierung von Verhaltensweisen anderer setzt voraus, dass die Akteure im Interaktionsmoment über autoritative Ressourcen verfügen, die ihnen Macht über andere verleihen. Die üblicherweise asymmetrische Verteilung von Machtmitteln ermöglicht es den privilegierten Akteuren, Macht über andere auszuüben und deren generellen Handlungsmächtigkeit insoweit Grenzen zu setzen. Insgesamt erweist sich die menschliche Handlungsmächtigkeit sowohl in natürlicher als auch in struktureller Hinsicht als begrenzt. Während die natürlichen Handlungsgrenzen sich jedoch grundsätzlich als unabänderlich darstellen, stehen die strukturellen Handlungsgrenzen im Zuge sozialer Handlungsprozesse prinzipiell einer Veränderung offen: Das permanente soziale Handeln vermag soziale Strukturen (und entsprechend das kollektive Handlungswissen und das Handlungsvermögen) im Ergebnis allmählich zu verändern. Das bedeutet, dass die strukturellen Handlungsgrenzen lediglich bezogen auf die konkreten Handlungsmomente wirken, ihre Geltung also bezogen auf die jeweiligen Handlungssituationen beanspruchen, und sich im Zuge sozialer Interaktionsprozesse kontinuierlich fortzuentwickeln vermögen. So unterliegen beispielsweise die kognitiven Handlungsgrenzen – die Grenzen des Handlungswissens – einer andauernden Veränderung im Zuge der anhaltenden Lernprozesse der Akteure.100 Cohen hält dies folgendermaßen fest: „[W]hat may be for agents unintended consequences and unacknowledged conditions of action over a given historical period, may thereafter become discursively acknowledged by agents as ongoing outcomes of and conditions for their own social conduct.“101
Bei aller Betonung der Grenzen individueller Handlungsmächtigkeit sollte dennoch deutlich geworden sein, dass Giddens weiterhin an seiner grundsätzlichen 100
101
Dass auch machtbezogene Handlungsgrenzen immer wieder eine Veränderung erfahren, liegt in der stetigen Verschiebung von Machtverhältnissen im Zuge der sozialen Handlungsprozesse. Cohen [1989] S. 55.
158
3 Grundlagen der Strukturationstheorie
These der grundlegenden Handlungsmächtigkeit („agency“ oder „transformative capacity“) festhält. Akteure verfügen stets über die Möglichkeit, einen Unterschied herzustellen, also Situationen durch eigenes Handeln oder Unterlassen von Handlungsakten zu beeinflussen: „[N]o matter how severe constraints may be they always establish opportunities for some more or less extensive range of activities which enables actors to intervene in social life.“102
Und auch ein weiterer Gesichtspunkt wird von Giddens immer wieder betont: Die soziale Struktur begrenzt zwar das Handeln der Akteure, ermöglicht es zugleich aber auch. Ohne das Vorhandensein sozialer Regeln wäre koordiniertes, geordnetes Handeln untereinander nicht möglich. Die Akteure hätten keinerlei Anknüpfungspunkte für ein gemeinsames Handeln. Im Übrigen begreifen die Akteure die Struktur nicht nur als handlungsbegrenzend, sondern nutzen die sozialen Regeln gerade auch dazu, ihre Handlungsmächtigkeit anderen gegenüber anzuzeigen. In dieser Hinsicht bezieht sich Giddens auf Goffman: „Goffman points out that to be a human agent is not just to be in command of what one is doing (...), but is also routinely to display to others that one has such command.“103
Dieses „displaying of agency“ zeigt sich darin, dass der Einzelne sich in seinem Handeln an den gesellschaftlichen Konventionen, oder allgemein: den sozialen Regeln, orientiert und die Ressourcen angemessen einzusetzen weiß. 3.4 Strukturation oder soziale Reproduktion Die Dualität von Struktur gilt als die zentrale Erklärungsfigur der Strukturationstheorie. Wie einführend dargelegt, regt Giddens in methodischer Hinsicht eine getrennte Analyse von handlungsbezogenen und strukturbezogenen Aspekten an, um sich dieser Erklärungsfigur inhaltlich zu nähern. Während die Trennung in eine Analyse des strategischen Verhaltens einerseits und eine strukturelle Analyse andererseits in den vorangegangenen Abschnitten weitgehend aufrechterhalten wurde, sollen nun beide Perspektiven zusammengeführt werden. Erst in der Zusammenführung der beiden Analyseperspektiven offenbart sich der volle Erklärungsgehalt der Dualität von Struktur: die Detaillierung von Struktu102 103
Cohen [1989] S. 214 f. Giddens [1989] S. 255.
3.4 Strukturation oder soziale Reproduktion
159
rationsprozessen. Anhand des Modells lässt sich aufzeigen, wie Handeln und Struktur in den Reproduktionsprozessen sozialer Phänomene zusammenwirken und welche Elemente dabei eine Rolle spielen. Dass Giddens damit auf das grundlegende Problem sozialer Ordnung zielt, sei im Folgenden in aller Kürze dargestellt. 3.4.1 Problem sozialer Ordnung Betrachtet man konkrete Momente des Handelns, in denen zwar grundsätzlich handlungsmächtige, aber doch unterschiedlich kompetente Akteure über ihr jeweiliges Handeln „entscheiden“, so stellt sich die Frage, wie sich angesichts der Vielfalt an Aktivitäten und lokalen Handlungsbedingungen Regelmäßigkeiten abzeichnen und über einen längeren Zeitraum Bestand haben können. Die Dauerhaftigkeit sozialer Tatbestände ist nicht nur ein zentraler Untersuchungsgegenstand der Sozialwissenschaften im Allgemeinen, sondern – wie es die Ausführungen des zweiten Kapitels gezeigt haben – gerade auch des organisationssoziologischen Institutionalismus. Im Kern geht es dabei um die Frage sozialer Ordnung. Wie entsteht soziale Ordnung? Wodurch wird sie aufrechterhalten? Giddens behandelt diese Fragen im Zusammenhang mit der Dualität von Struktur. Das Modell der Dualität von Struktur verweist auf die Elemente des Strukturationsprozesses, innerhalb dessen sich Regelmäßigkeiten im sozialen Handeln – die Ordnung des sozialen Lebens – entwickeln und aufrechterhalten werden:104 „The true locus of the „problem of order“ is the problem of how the duality of structure operates in social life: of how continuity of form is achieved in the day-to-day conduct of social activity.“105
Laut Giddens stellt sich soziale Ordnung als eine Überbrückung von Raum und Zeit in sozialen Beziehungen dar. Hier kommt sozialen Praktiken eine bedeutsame Rolle zu, ermöglichen sie doch – verankert im gesellschaftlichen Wissensvorrat der Akteure – die Routinisierung von Handlungsabläufen über Zeit und Raum hinweg.106 Das Problem sozialer Ordnung lässt sich nach Giddens dadurch 104 105 106
Vgl. Giddens [1979] S. 216. Dass sie sich im Zuge des Strukturationsprozesses auch verändern können, wird in Abschnitt 4.1.1 näher zu betrachten sein. Giddens [1979] S. 216. Auch begründet er die Stabilität sozialer Phänomene mit Routinegewissheit, womit er die grundlegende Bedeutung von Routinisierung für das Sicherheitsempfinden der Akteure anspricht. Routinisierung – die fortlaufende Bestätigung vorhandener sozialer Konventionen (sinnkonstituierender und normativer Regeln) sowie die Aufrechterhaltung gegebener Ressourcenverteilungen in sozialen Interaktionen – fungiert danach als ein angstreduzierender
160
3 Grundlagen der Strukturationstheorie
analysieren, dass die Bedingungen der Kontinuität sozialer Praktiken hinterfragt werden. Wie noch zu zeigen sein wird, gilt es, die Integration sozialer Praktiken zu erklären. Mit seiner Konzeption des Ordnungsproblems ist Giddens daran gelegen, sich von der Parsons’schen Begründung sozialer Ordnung zu distanzieren.107 Nach Parsons herrscht soziale Ordnung dann vor, wenn die individuellen Akteure in Übereinstimmung mit den Regeln des normativen Systems der Gesellschaft handeln.108 Soziale Ordnung wird mit Konformität oder normativem Konsens gleichgesetzt, wobei die normativen Regeln systemseitig gegeben sind. Ordnung wird auf die handlungsdeterminierende Wirkung der übergeordneten Normen zurückgeführt, womit Parsons ausschließlich eine „von oben nach unten“ gerichtete Perspektive verfolgt. An Parsons’ holistischer Konzeption kritisiert Giddens nicht nur die Beschränkung auf eine rein normative Dimension, mit der sinnkonstituierende und machtbezogene Aspekte unberücksichtigt bleiben.109 Insbesondere ist es die Tatsache, dass der kontinuierliche Einfluss des Handelns auf die Entstehung, Fortexistenz und Veränderung von Regelmäßigkeiten unbeachtet bleibt, soweit man die Regeln als systemseitig gegebene, unveränderliche Entitäten erachtet: „[T]here is a major source of difficulty in explaining the origins of transformations of institutionalized value-standards themselves…“110
Giddens reformuliert daher das Ordnungsproblem gegenüber Parsons in zweierlei Weise. So betrachtet er einerseits eine auf Normen beruhende Integrationsleistung lediglich als einen Sonderfall der sozialen Ordnung.111 Daneben nehmen auch die sinnkonstituierenden Regeln sowie die gegebene Ressourcenverteilung Einfluss auf die sozialen Interaktionsprozesse, in denen Ordnung geschaffen wird, und sind insoweit in einer Begründung sozialer Ordnung zu berücksichtigen.
107 108 109 110 111
Mechanismus gegenüber der Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit der Wirklichkeit. Durch den Rückgriff auf soziale Praktiken werden Handlungsroutinen möglich, die den Akteuren Vertrauen in die relative Dauerhaftigkeit und Stabilität sozialer Tatbestände schenken. Soziale Ordnung im Sinne einer relativen Strukturiertheit, Verstehbarkeit und Geordnetheit der Sozialwelt wird durch ein solchermaßen motiviertes Routinehandeln der Akteure aufrechterhalten. Vgl. Reckwitz [2003] S. 294. Vgl. Giddens [1976] S. 102 ff.; Giddens [1979] S. 217; Giddens [1981] S. 29 f. In seinem ersten großen Werk widmet sich Parsons dem Hobbes’schen Problem sozialer Ordnung. Vgl. Parsons [1949] S. 89 ff. Vgl. Kießling [1988] S. 128. Giddens [1976] S. 103. Vgl. bspw. Giddens [1976] S. 114.
3.4 Strukturation oder soziale Reproduktion
161
Andererseits rückt Giddens die Frage nach der Kontinuität sozialen Handelns in den Vordergrund. Es geht ihm darum zu untersuchen, warum und wodurch soziale Ordnung unabhängig von Zeit und Raum entsteht und aufrechterhalten werden kann. Dazu bedarf es in seinen Augen nicht allein einer „von oben nach unten“ gerichteten Perspektive, wie es das Parsons’sche Modell suggeriert. Zugleich gilt es, die handlungsmächtige Bezugnahme der Akteure auf die sozialen Gegebenheiten gemäß einer „von unten nach oben“ gerichteten Perspektive zu berücksichtigen, will man deren Dauerhaftigkeit näherkommen. Das nachfolgend zu diskutierende Modell der Dualität von Struktur soll hierauf eine Antwort liefern, indem „von oben nach unten“ und „von unten nach oben“ gerichtete Perspektiven vereint betrachtet werden. 3.4.2 Modell der Dualität von Struktur Das Modell der Dualität von Struktur zielt auf die Erklärung von Strukturationsprozessen ab, im Zuge derer soziale Ordnung entsteht und aufrechterhalten wird, aber auch aufgehoben werden kann. Bevor auf den Strukturationsprozess als zentralen Erklärungsgegenstand der Dualität von Struktur näher einzugehen ist, sollen hier zunächst die Bestandteile des Modells vorgestellt werden. Das graphische Modell der Dualität von Struktur zeigt ein „portrayal of dimensions that are combined in differing ways in social practices“:112 Die analytische Trennung in eine Strukturebene und in eine Handlungsebene lässt sich auch in graphischer Hinsicht nachvollziehen. Auf der Ebene der Struktur stellt Giddens die drei Merkmale sozialer Strukturen dar: Regeln, die Sinn konstituieren (Signifikation) und Verhaltensweisen legitimieren (Legitimation) sowie eine bestimmte Verteilung von Ressourcen (Herrschaft). Den Merkmalen auf der Strukturebene stehen drei korrespondierende Aspekte auf der Handlungsebene gegenüber, die jeder sozialen Handlung inhärent sind: die Kommunikation von Sinn, die Sanktionierung von Verhaltensweisen und die Konstitution von Macht: „The production of interaction has three fundamental elements: its constitution as „meaningful“; its constitution as a moral order; and its constitution as the operation of relations of power.“113
112 113
Giddens [1979] S. 81. Giddens [1976] S. 110.
162
3 Grundlagen der Strukturationstheorie
SOZIALE STRUKTUR
Ressourcen
Regeln Signifikation
Legitimation
Herrschaft
GENERELLE HANDLUNGSMÄCHTIGKEIT: Interpretationsschemata
Normen
Machtmittel
HANDLUNGSWISSEN & HANDLUNGSVERMÖGEN Kommunikation von Sinn
Sanktionierung von Verhalten
Konstitution von Macht
SOZIALES HANDELN
Abbildung 6:
Modell der Dualität von Struktur: Struktur als Medium und Ergebnis sozialen Handelns
Der strukturationstheoretische Kommunikationsbegriff wird relativ weit ausgelegt: Unter Kommunikation wird die Generierung von Sinn im Zuge des sozialen Handelns verstanden.114 Dabei erfolgt Kommunikation sowohl in verbaler als auch in nonverbaler Form. Indem die Akteure in ihren Interaktionen soziale Praktiken anwenden, stellen sie die Interaktion in einen sinnhaften Zusammenhang – und kommunizieren damit den Sinn der jeweiligen Praktik.115 Zugleich sind mit der jeweiligen sozialen Praktik bestimmte Rechte und Pflichten verbunden. Diese zeigen sich auf der Handlungsebene in einer positiven Sanktionierung der legitimierten und einer negativen Sanktionierung der nichtlegitimierten 114 115
Vgl. Cohen [1989] S. 242. Es sei angemerkt, dass sich der von dem jeweiligen Akteur intendierte Sinn von demjenigen unterscheiden kann, der sich aus seinen nonverbalen Handlungen entnehmen lässt: „Giddens allows for a distinction between what agents intend as the meaning of their utterances, and the communicative intent of their non-verbal activities.“ Cohen [1989] S. 242.
3.4 Strukturation oder soziale Reproduktion
163
Handlungen oder Verhaltensweisen. Schließlich stützen sich die Akteure in strategischer Weise auf die je verfügbaren Machtmittel, um im Zuge der Interaktionen ihre Macht auszubauen oder aber zumindest aufrechtzuerhalten. Analog zur Strukturebene gilt auch für die Handlungsebene, dass die verschiedenen Aspekte sozialen Handelns in der sozialen Praxis fest miteinander verwoben sind. Die (graphisch horizontale) Differenzierung von Kommunikation, Sanktion und Macht ist lediglich als eine analytische zu verstehen. Das gilt ebenfalls für die (graphisch vertikale) Differenzierung von Handlungs- und Strukturebene. Diese sind zwar – im Sinne der methodologischen Einklammerung – analytisch trennbar, in praxi allerdings nicht unabhängig voneinander. Giddens geht ja davon aus, dass Strukturen erst durch soziales Handeln Wirklichkeit erfahren. Insofern müssen sich die Merkmale der sozialen Strukturen auch auf der Handlungsebene wiederfinden – sie müssen im kollektiven Wissensvorrat der Handelnden verankert sein und entsprechend in ihr Handeln einfließen. Giddens geht insoweit davon aus, dass Akteure die sinnkonstituierenden Aspekte von Regeln als interpretative Schemata oder Deutungsmuster wahrnehmen, die normativen Aspekte von Regeln als Normen und die Ressourcen als Machtmittel.116 Den Zusammenhang zwischen Handlungs- und Strukturebene hält Giddens selbst folgendermaßen fest: „All human interaction involves the communication of meaning, the operation of power, and modes of normative sanctioning. These are constitutive of interaction. In the production of interaction actors draw upon and reproduce corresponding structural properties of social systems: signification, domination and legitimation.“117
Damit bleibt noch weitgehend offen, wodurch Handlungs- und Strukturebene letztlich miteinander verbunden werden, auf welche Weise also die Akteure die strukturellen Merkmale in ihren Interaktionen berücksichtigen und sie dadurch reproduzieren. Dies erfolgt durch die Positionierung der Akteure in sozialen Kontexten, worauf im Folgenden einzugehen sein wird. 3.4.3 Positionierung in Zeit und Raum: zur Integration sozialer Praktiken Nun geht es Giddens mit der Strukturationstheorie im Wesentlichen darum, die Existenz sozialer Systeme – ihr Fortdauern und ihre Veränderung – zu erklären. Ruft man sich das strukturationstheoretische Verständnis sozialer Systeme als 116 117
Vgl. Giddens [1979] S. 81. Giddens [1981] S. 46 f.
164
3 Grundlagen der Strukturationstheorie
„patterning of social relations across time-space, understood as reproduced practices“118 in Erinnerung, stellt sich die Frage, warum es in sozialen Beziehungen zu einer Bildung wiederkehrender Muster sozialer Praktiken („patterning“) kommt. Giddens behandelt diese Frage unter dem Stichwort der Integration, worunter er die wechselseitige Anknüpfung verschiedener Praktiken untereinander versteht: „Integration“ can be defined (...) as regularised ties, interchanges or reciprocity of practices between either actors or collectivities.”119
Wodurch nun die Akteure zu einer Integration sozialer Praktiken beitragen, dieser Frage lässt sich mit dem strukturationstheoretischen Konzept der Positionierung sozialer Akteure näherkommen. Positionierung stellt einerseits eine Zustandsbeschreibung dar, indem es sich auf eine soziale Position bezieht, die einem Akteur in einer Interaktion zugeschrieben werden kann. In diesem Sinne sind Akteure in Beziehung zueinander positioniert. Andererseits gilt Positionierung als Aktivitätsbeschreibung, indem auf eine Aktivität von Akteuren im konkreten Moment einer Interaktion verwiesen wird: Sie positionieren sich. Hinsichtlich des erstgenannten Aspekts ist die strukturationstheoretische Definition der sozialen Position von Bedeutung. Giddens versteht unter einer sozialen Position eine soziale Identität, der bestimmte Rechte und Pflichten zugeschrieben werden. Diese Definition lässt sich dahingehend erweitern, dass man nicht nur normative Regeln als charakterisierendes Element einer sozialen Position ansieht, sondern annimmt, eine soziale Position sei generell mit einem spezifischen Bündel an Regeln und Ressourcen verbunden. Damit lässt sich erfassen, dass eine soziale Position das wesentliche Bindeglied zwischen den strukturellen, über die konkrete Handlungssituation hinaus existierenden Aspekten einerseits und den lokalen, situationsspezifischen Aspekten andererseits darstellt. Das Konzept der Positionierung soll im Kern auf die Kontextualität sozialen Handelns verweisen. Soziales Handeln findet unter kontextuellen Bedingungen statt, die teilweise außerhalb dessen liegen, was einzelne Akteure zu beeinflussen vermögen. Zu den kontextuellen Bedingungen sozialen Handelns zählen grundsätzlich sowohl situative beziehungsweise situationsspezifische als auch strukturelle Bedingungen. Die situationsspezifischen Bedingungen haben nur in einer konkreten Handlungssituation Bestand, wobei sie sich häufig durch die Akteure unmittelbar beeinflussen lassen. Dies gilt hingegen nicht für die strukturellen 118 119
Giddens [1984] S. 377. Giddens [1979] S. 76.
3.4 Strukturation oder soziale Reproduktion
165
Bedingungen, die nicht eine bestimmte Situation, sondern Typen sozialer Handlungssituationen oder -kontexte auszeichnen. Die Bedingungen struktureller Art sind durch die sozialen Praktiken gegeben – in Gestalt der mit ihnen verbundenen Regeln und Ressourcen –, wobei die gegebenen sozialen Positionen den Akteuren Hinweise darauf liefern, welcher Kontexttyp vorliegt und welche Praktiken dementsprechend gesellschaftlich angemessenes Verhalten repräsentieren. Damit verhelfen die sozialen Positionen dazu, Kontexte nicht allein als bloße Plätze der Begegnung zu begreifen, sondern zugleich als Bezugsrahmen für Interaktionen. Kontexte als soziale Bezugsrahmen zu verstehen, bedeutet, ihnen Merkmale zuzuschreiben, die den jeweiligen lokalen Ort einer Begegnung überdauern. Es sind dies die strukturellen Merkmale in Form der gesellschaftlich verankerten Regeln: „Frames are clusters of rules which help to constitute and regulate activities, defining them as activities of a certain sort and as subject to a given range of sanctions.“120
Die Verwendung der Bezeichnung „Bezugsrahmen“ verweist darauf, dass sich keine Interaktionssequenz aus sich selbst heraus verstehen lässt. Vielmehr verleiht erst der Bezugsrahmen den situativen Aktivitäten Bedeutung, indem er sie in einen Rahmen gesellschaftlich als sinnhaft angesehener Praktiken einordnet. Darüber hinaus übernimmt seine konkrete Ausgestaltung im Interaktionsmoment eine handlungsleitende Rolle. Anhand der Ausgestaltung des Bezugsrahmens vermögen die Akteure die spezifischen Regeln abzuleiten, denen ihre Interaktionen unterliegen. Handelt es sich bei dem, was gerade vorgeht, um Humor, um ein Spiel oder um Theater? Die gegebenen sozialen Positionen vermitteln den Akteuren Anhaltspunkte, die ihnen eine Einordnung des situativen Handlungsrahmens erlauben. Sie verhelfen den Akteuren dazu, eine Situation als einem bestimmten Kontexttyp zugehörig zu identifizieren – oder anderweitig formuliert: ihre soziale Handlungssituation in einen bestimmten Bezugsrahmen einzuordnen –, und daraufhin abzuleiten, welche allgemeingültigen Regeln sozialen Verhaltens wohl erwartet werden.121
120 121
Giddens [1984] S. 87. Es sind indes nicht nur die sozialen Positionen allein, die es den Akteuren erlauben, ganz unterschiedliche Umstände und Situationen als Bezugsrahmen zu kategorisieren. Auch Räumlichkeiten und Artefakte – kurz, die materiellen Gegebenheiten einer Handlungssituation – spiegeln wider, welche allgemeinen sozialen Regeln im gegebenen Moment als sinnhaft gelten. So vermitteln die Geschäftsräume einer Unternehmung oder die Klassenräume einer Schule gesellschaftliche Verhaltenserwartungen, die sich von denjenigen unterscheiden, die
166
3 Grundlagen der Strukturationstheorie
Die strukturellen Merkmale von Interaktionssituationen wirken darauf, wie sich die Akteure im Moment ihrer Interaktionen positionieren, womit nun der zweite Aspekt von Positionierung angesprochen wird. Mit ihrer aktiven Positionierung nehmen sie Bezug auf die mit den Praktiken gegebenen Regeln und Ressourcen – das heißt auf die strukturellen Bedingungen – und ermöglichen insofern die Integration der sozialen Praktiken.122 Dabei vollzieht sich die Integration der Praktiken auf zweierlei Weise, die Giddens als Sozial- und als Systemintegration bezeichnet. Unter Sozialintegration versteht er die Koordination von Praktiken im Zuge kopräsenter Interaktionen, also zwischen räumlich anwesenden, von Angesicht zu Angesicht miteinander interagierenden Personen. Als Systemintegration bezeichnet er die Integration von Praktiken über räumliche und zeitliche Distanzen hinweg. Soziale Systeme fußen grundsätzlich auf der Integration sozialer Praktiken durch kopräsente Interaktionen. Es sind räumlich anwesende Akteure, die sich in ihren Interaktionen auf verschiedene Praktiken beziehen und damit deren Anschlussfähigkeit realisieren. Wesentlicher Träger der Sozialintegration ist mithin der Mensch: „Where articulations occur exlusively via social integration (in circumstances of copresence), the articulating „links“ are human actors (...). Articulation occurs as actors travel across time-space between systemic locales, thereby transmitting and transporting results of activities from one setting to one or several others.“123
Es ist der einzelne Akteur, der durch die Anwendung sozialer Praktiken in anderen Kontexten und mit anderen Akteuren zu deren Existenz in Zeit und Raum beiträgt.
122
123
private Wohnräume charakterisieren (vgl. Giddens [1984] S. 135 ff. am Beispiel einer Schule). Dieser Aspekt wird im vierten Kapitel wieder aufzugreifen sein. Regeln und Ressourcen sowie soziale Praktiken verweisen wechselseitig aufeinander. Einerseits ist eine bestimmte Praktik mit bestimmten Regeln und Ressourcen verbunden. Sind sich die Akteure der vorherrschenden Praktiken bewusst, partizipieren sie entsprechend am kollektiven Handlungswissen der mit ihnen verbundenen strukturellen Merkmale. Andererseits verweisen auch die Regeln und Ressourcen auf soziale Praktiken. Werden sich die Akteure aufgrund spezifischer Ausprägungen ihrer Handlungssituation zunächst des Bezugsrahmens und der diesbezüglichen Regeln und Ressourcen gewahr, können sie die entsprechenden Praktiken ableiten. Dabei ist indes zu berücksichtigen, dass dieselbe Regel auf verschiedene Praktiken verweisen kann (dies gilt analog für Ressourcen). So können mehrere Praktiken durch eine bestimmte Regel oder ausgewählte Ressourcen miteinander verbunden sein, was durch die Positionierung aufrechterhalten oder modifiziert wird. Dies trifft insbesondere auf tiefliegende soziale Regeln zu, die in verschiedenen Praktiken zur Anwendung gelangen. Cohen [1990] S. 39.
3.4 Strukturation oder soziale Reproduktion
167
„The human body, in effect, serves as the vehicle that connects one set of face-toface encounter with others during the course of system reproduction.“124
Die natürlichen Fähigkeiten des Menschen begrenzen allerdings die Möglichkeiten der Systembildung durch Sozialintegration in Raum und Zeit.125 So kann der einzelne Akteur in einem bestimmten Zeitraum lediglich an einem Ort und mit einer begrenzten Anzahl an Akteuren interagieren, wobei seine sensorischen und kommunikativen Fähigkeiten den Ausschnitt des in der Interaktion Wahrnehmbaren begrenzen: „Thus, coupling and capability constraints to some extent serve to limit the timespace paths agents follow and reproduce in their daily routines.“126
Aufgrund der natürlichen Handlungsgrenzen sind solche sozialen Systeme, deren Reproduktion vorwiegend durch Sozialintegration erfolgt, in der Regel relativ kleine, räumlich begrenzte Systeme, beispielsweise in Form organisatorischer Arbeitsgruppen in der Produktion. Dies wurde bereits im zweiten Kapitel gezeigt: Institutioneller Wandel, der vorwiegend auf einer personengebundenen Übertragung neuer Praktiken – auf Sozialintegration – aufbaut, kann sich einerseits weniger zügig und andererseits weniger weitläufig vollziehen. Institutioneller Wandel im Zuge der Sozialintegration wird insoweit eher jene Institutionen betreffen, die lediglich einzelne, räumlich weniger weitgreifende gesellschaftliche Systeme konstituieren, kaum jedoch die gesellschaftsweiten Institutionen mit der weitesten Raum-Zeit-Ausdehnung. Ein Wandel dieser Institutionen setzt zugleich Systemintegration voraus. Systemintegration bezieht sich auf die Herausbildung von Mustern sozialer Praktiken zwischen zeitlich und räumlich abwesenden Akteuren. Diese wird wesentlich durch die modernen Kommunikations- und Transportmedien ermöglicht: „Links“ between distant locales which involve modes of system integration between absent agents depend upon the availability of technologies of transportation and communication.“127
124 125 126 127
Cohen [1989] S. 100. Vgl. die Ausführungen zu den Grenzen menschlicher Handlungsmächtigkeit in Abschnitt 3.3.4. Cohen [1989] S. 100. Cohen [1990] S. 39.
168
3 Grundlagen der Strukturationstheorie
Während im Falle der Sozialintegration der einzelne Akteur als wesentlicher Überbringer sozialer Praktiken die Systemreproduktion in Raum und Zeit begrenzt, kann die Integration sozialer Praktiken im Falle der Systemintegration mit Hilfe moderner Kommunikationsmedien über größere Distanzen hinweg sogar zeitgleich erfolgen. Die Grenzen eines Systems werden also nicht mehr durch die natürlichen Handlungsgrenzen menschlicher Subjekte bestimmt. Soziale Systeme, deren Reproduktion überwiegend durch Systemintegration erfolgt, sind dadurch zumeist räumlich wesentlich ausgedehnter.128 Die Grenzen der Systemreproduktion liegen hier insbesondere in den machtbezogenen Handlungsgrenzen. Diejenigen sozialen Akteure, die über ein höheres Maß an Machtmitteln verfügen,129 vermögen die Kommunikations- und Transportmedien eher in ihrem Sinne zu verwenden und auf diese Weise die Reproduktion der sozialen Praktiken zu steuern. Die Integration sozialer Praktiken wird insofern wesentlich über das Wirken machtvoller sozialer Akteure „gelenkt“. Es bleibt festzuhalten, dass sich die Sozial- und Systemintegration sozialer Praktiken im Zuge einer an den kontextuellen Bedingungen orientierten Positionierung von Akteuren in konkreten Interaktionssituationen vollzieht. Mit ihrer Positionierung nehmen die Akteure nicht nur Bezug auf rein lokale Aspekte ihrer Interaktionssituation, also auf räumlich und zeitlich begrenzte Merkmale des Handlungskontextes. Auch und gerade beziehen sie sich auf die strukturellen Merkmale und reproduzieren damit Aspekte, die weiter in Zeit und Raum ausgreifen. Mit ihrer Positionierung innerhalb der durch den Bezugsrahmen reflektierten sozialen Strukturen verantworten sie deren dauerhafte und raumüberwindende Existenz (verändert oder unverändert). Anhand des Konzepts der Positionierung lässt sich mithin eine Mikro-Makro-Verbindung herstellen zwischen dem, was außerhalb des unmittelbaren Wirkungsgrads der jeweiligen Individuen entstanden ist, und ihrem konkreten Wirken im Interaktionsmoment. Insgesamt zielt das Konzept damit auf den Kern der Strukturationstheorie, indem die wechselseitige Beziehung von Handeln und Struktur konkretisiert wird. 3.4.4 Soziale Reproduktion am Beispiel einer Unternehmung Vergegenwärtigt man sich, dass soziale Strukturen eine virtuelle Existenz aufweisen, also allein im kollektiven Wissensvorrat von Akteuren verankert sind 128
129
Dies wurde im zweiten Kapitel im Zusammenhang mit der theoriegestützten Übertragung neuer Praktiken diskutiert, die nicht nur auf Sozialintegration, sondern insbesondere auf der Systemintegration aufbaut. Vgl. zu den machtverleihenden Faktoren erneut die Ausführungen unter 2.2.3.3, Gliederungspunkt b).
3.4 Strukturation oder soziale Reproduktion
169
und lediglich im Handlungsmoment „greifbar“ erscheinen, so ist eine Reproduktion des kollektiven Handlungswissens wesentliche Voraussetzung für die Integration und damit die Aufrechterhaltung von Mustern sozialer Praktiken. Wie gezeigt wurde, wird die Integration sozialer Praktiken durch die Positionierung der Akteure im Verlauf sozialer Interaktionsprozesse ermöglicht, in denen sie auf das geteilte Wissen über die mit den Praktiken verbundenen Regeln und Ressourcen zurückgreifen und dieses dadurch reproduzieren. Wesentliche Bedingung für die Existenz und den Fortbestand sozialer Systeme ist also die kontinuierliche Reproduktion von Strukturen durch die Positionierung sozialer Akteure in Zeit und Raum. Unter Rückgriff auf das Modell der Dualität von Struktur gilt es nun zu konkretisieren, was im Moment der Positionierung geschieht, mit der die Akteure die sozialen Phänomene letztlich reproduzieren. Das Modell bildet das zentrale Instrument zur Untersuchung der Fragestellung, wie die Integration der sozialen Praktiken im Zuge von Strukturationsprozessen letztlich vonstatten geht, warum soziale Phänomene also dauerhaft Bestand haben können. Betrachtet werden soll der Strukturationsprozess am Beispiel einer Unternehmung. Aus Sicht der Strukturationstheorie stellt sich eine einzelne Unternehmung als ein spezifisches Muster sozialer Praktiken dar. Dieses setzt sich zusammen aus Praktiken, die generell typisch für die Systemart „Unternehmung“ sind, aus organisationsspezifischen Praktiken, die lediglich für diese Unternehmung charakteristisch sind, und schließlich aus jenen gesellschaftsweiten Praktiken, die im Grunde auch in anderen gesellschaftlichen Systemtypen – beispielsweise in Familien oder in Behörden – praktiziert werden. Das spezifische Muster an Praktiken der Unternehmung spiegelt die unternehmungsspezifische soziale Struktur wider.130 Die spezifische soziale Struktur einer ausgewählten Unternehmung wird nun dadurch reproduziert, dass die beteiligten Akteure das unternehmungsspezifische Bündel sozialer Praktiken reproduzieren. Dass sie dieses überhaupt reproduzieren, geht darauf zurück, dass sie als sozialisierte Mitglieder der Unternehmung mit einem handlungspraktischen Wissen darüber aufwarten, welches die 130
Giddens geht davon aus, dass Muster sozialer Praktiken umso eher als ein scheinbar abgegrenztes System erscheinen, je spezifischer das Bündel an Praktiken ist. Die Systemhaftigkeit bestimmt sich also durch die Systemspezifität der Praktiken. Giddens’ Systembegriff vermag insoweit die Einbettung von Organisationen in die Gesellschaft zu vermitteln: Selbst organisationsspezifische Praktiken sind als Variationen allgemeinerer – tiefliegender – gesellschaftlicher Praktiken zu verstehen (beziehungsweise sind die mit ihnen verbundenen Regeln als Verfeinerungen tiefliegender Regeln anzusehen). Das Geschehen innerhalb von Organisationen wird damit gewissermaßen durchwebt von Praktiken, die nicht an der Grenze der Organisation halt machen, sondern auch in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen zur Anwendung gelangen.
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3 Grundlagen der Strukturationstheorie
innerhalb von Unternehmungen im Allgemeinen und die in ihrer Unternehmung im Speziellen sinnhafterweise anzuwendenden Praktiken darstellen und welche strukturellen Merkmale mit diesem Bündel an Praktiken letztlich verbunden sind. Dabei legen ihnen die kontextuellen Bedingungen, unter denen sich ihr beruflicher Alltag vollzieht, diese Praktiken nahe. Aufgrund der Bedingungen vermögen sie Bezugsrahmen auszumachen, die mit ausgewählten Deutungsschemata und Wertvorstellungen und dem Einsatz bestimmter Machtmittel in Verbindung stehen, wie sie charakteristisch sind für ihre Unternehmung. Soweit sich die Akteure daran orientieren, halten sie das kollektive Handlungswissen über die soziale Struktur der Unternehmung aufrecht und sichern ihr Handlungsvermögen für weitere Interaktionen. Wie gestaltet sich nun der Reproduktionsprozess der Unternehmung und seiner Struktur, legt man das Modell der Dualität von Struktur zugrunde? Die durch die Bezugsrahmen reflektierten gemeinschaftlichen Deutungsmuster steuern die Wahrnehmung der Akteure. Sie spiegeln in ihrer Gesamtheit die sinnkonstituierenden Regeln der Unternehmung, ihre Signifikationsstruktur, wider. Auf dieser Grundlage wählen die Akteure, in der Regel eher stillschweigend denn diskursiv bewusst, ihre sozialen Praktiken, womit sie wiederum soziale Deutungsmuster kommunizieren – die existierende Signifikationsstruktur bildet insofern das Medium ihres Handelns. Damit halten sie die mit den Praktiken verbundenen sinnkonstituierenden Regeln aufrecht und reproduzieren im Ergebnis die charakteristische Signifikationsstruktur der Unternehmung. Darüber hinaus orientieren sich die Unternehmungsmitglieder in ihrem Handeln an den allgemeinen Wertvorstellungen, wie sie von den Bezugsrahmen übermittelt werden und die als Normen in ihrem gemeinsamen Handlungswissen verankert sind. Die Gesamtheit der mit den Bezugsrahmen verbundenen Wertvorstellungen stellt nichts anderes als die Gesamtheit an normativen Regeln dar – mit anderen Worten: die Legitimationsstruktur der Unternehmung. Sie bildet den Rahmen des legitimierten sozialen Handelns, innerhalb dessen die Akteure in Interaktion treten. Mit der Anwendung der aufgrund der Bezugsrahmen ausgewählten sozialen Praktiken übermitteln sich die Akteure wiederum Informationen über legitimierte und nichtlegitimierte Handlungen. Sie bestätigen insoweit die mit den sozialen Praktiken verbundenen normativen Regeln und reproduzieren entsprechend die spezifische Legitimationsstruktur der Unternehmung. Schließlich legen die Bezugsrahmen den Einsatz ausgewählter Machtmittel in Form von autoritativen und allokativen Ressourcen nahe, auf die die Akteure zwecks Aufrechterhaltung oder Ausweitung ihres Handlungsvermögens zugreifen. Mit dem Einsatz der Machtmittel setzen die Akteure soziale Praktiken um, womit sie zugleich dazu beitragen, die Herrschaftsstruktur der Unternehmung zu reproduzieren. Dabei leitet sich die Ausgangslage des einzelnen Akteurs – das
3.4 Strukturation oder soziale Reproduktion
171
heißt die Menge der für ihn verfügbaren Machtmittel – aus seiner sozialen Position in der Herrschaftsstruktur ab, wie sie sich in den verschiedenen Bezugsrahmen der Unternehmung jeweils äußert. In Abhängigkeit von seiner Ausgangslage partizipiert der Akteur dann in unterschiedlicher Weise an der Ausübung der sozialen Praktiken. Er setzt dabei die ihm zur Verfügung stehenden Machtmittel ein und übt insofern Macht über andere Akteure aus. Die bestehende Ressourcenverteilung wird dadurch entweder aufrechterhalten oder verändert. Findet dies in allen Bezugsrahmen der Unternehmung statt, wird insgesamt deren Herrschaftsstruktur reproduziert. Abschließend sei in aller Kürze der Frage nachgegangen, warum Giddens die Reproduktion einer spezifischen Unternehmung und ihrer Struktur letztlich als einen Beitrag zur Reproduktion gesellschaftlicher Strukturen wertet. Wie eingangs erwähnt wurde, stellt sich eine Unternehmung als ein Muster sozialer Praktiken dar, das sich nicht allein aus solchen Praktiken zusammensetzt, die spezifisch für die jeweilige Unternehmung sind. Vielmehr baut jede Unternehmung einerseits auf Praktiken auf, die typischerweise im Kontext von Unternehmungen angewendet werden. Andererseits finden sich jene grundlegenden Praktiken sozialen Miteinanders, die nicht für einen bestimmten gesellschaftlichen Systemtyp, sondern für eine Gesellschaft insgesamt typisch sind.131 Eine Unternehmung ist vor diesem Hintergrund nicht als ein abgeschlossenes System anzusehen, sondern als ein Teil der Gesellschaft, als ein über vielfältige soziale Praktiken in die Gesellschaft einbettetes System. Insoweit nun die Akteure einer spezifischen Unternehmung in ihren Interaktionen die systemtypischen und gesellschaftlichen Praktiken reproduzieren, tragen sie nicht nur zum Erhalt ihrer eigenen Unternehmung und dessen organisationsspezifischer Struktur bei, sondern reproduzieren zugleich die mit den Praktiken verbundenen makrosozialen oder gesellschaftsweiten Strukturen.
131
Diese spiegeln jene grundlegenden sozialen Strukturen wider, die in Anlehnung an Sewell [1992] bereits als tiefliegend charakterisiert wurden.
4 Grundzüge einer strukturationstheoretischen Konzeption institutionellen Wandels
Während im Zuge des zweiten Kapitels die theoretischen Anforderungen an eine Konzeption des institutionellen Wandels herausgearbeitet und mit dem vorangegangenen Kapitel die Grundlagen der Strukturationstheorie behandelt wurden, gilt es im Weiteren die handlungsleitende These dieser Arbeit zu begründen: Die Strukturationstheorie liefert eine aussichtsreiche Grundlage zur Untersuchung von Phänomenen des institutionellen Wandels. Freilich soll es nicht allein bei einer bloßen Begründung dieser These bleiben. Vielmehr werden die wesentlichen Bestandteile einer strukturationstheoretischen Konzeption des institutionellen Wandels darzulegen sein. Da diese vor dem Hintergrund der im zweiten Kapitel genannten Anforderungen zu begründen sein werden, liegt der Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen zunächst in einer Rückbesinnung darauf, welchen Anforderungen eine sozialtheoretische Forschungskonzeption grundsätzlich unterliegt, soweit sie eine umfassende Betrachtungsweise des Phänomens institutionellen Wandels zu ermöglichen beansprucht. Die diesbezüglichen Anforderungen wurden im Rahmen des zweiten Kapitels unter den Schlagwörtern „Bedingungen“ sowie „theoretische Herausforderungen“ eingeführt.1 So befassen sich zunächst weite Teile des zweiten Kapitels mit den potentiellen Bedingungen, die den Wandel von Institutionen zu beeinflussen vermögen. Dazu zählen Machtfaktoren wie die Zentralität von Akteuren ebenso wie soziostrukturelle Bedingungen, so beispielsweise die Art, wie sich das Institutionengefüge in den Handlungsmomenten darstellt, ob konfliktär oder widersprüchlich. Im Kern wurde gezeigt, dass Prozesse des institutionellen Wandels in praxi unter einem historisch einmaligen Bündel an Bedingungen verlaufen, das sich ex ante nicht allgemeingültig festhalten lässt. Als Anforderung wurde insoweit abgeleitet, dass die gewählte sozialtheoretische Grundlage hinreichend allgemein gehalten sein sollte, um möglichst viele der potentiell denkbaren Bedingungen integriert behandeln zu können. Als weitere Anforderungen an eine Konzeption des institutionellen Wandels wurden die theoretischen Herausforderungen einer Mikro-Makro-Verbindung, 1
Vgl. die Abschnitte 2.1.4 sowie 2.3.1.
174
4 Strukturationstheoretische Konzeption institutionellen Wandels
einer Akteurkonzeption und einer Prozessorientierung aufgezeigt. Sich diesen Problemfeldern zu stellen, setzt grundlegend voraus, die Veränderlichkeit von Institutionen aus den Prozessen sozialer Interaktion heraus zu begreifen, handelt es sich doch um soziale Phänomene, deren eigentliche Existenz (wenngleich nicht unmittelbar, so doch dem Grunde nach) auf das Wirken sozialer Akteure zurückgeht. Das soziale Handeln menschlicher Akteure in Interaktionsprozessen, ihre veränderliche Handlungsmächtigkeit gegenüber veränderlichen Institutionen, stellt insoweit einen grundsätzlichen Erklärungsparameter in einer theoretischen Konzeption des institutionellen Wandels dar. Dazu bedarf es – neben eines entsprechend ausgeglichenen Akteurmodells – einer Mikro-Makro-Konzeption, anhand derer der Wandel von Institutionen nicht kausal auf das Handeln einzelner Akteure zurückgeführt (individualistische Überzeichnung), jedoch ebensowenig lediglich durch akteurunabhängige makrostrukturelle oder exogene Veränderungen begründet wird (holistische Überzeichnung). Des Weiteren gilt es, eine prozessorientierte Perspektive einzunehmen, anhand derer sich der makrosoziale Wandel von Institutionen im Zuge der Mikroprozesse sozialer Interaktion nachzeichnen lässt. Die bisherigen organisationssoziologischen Arbeiten zum Thema institutioneller Wandel zeigen, dass es schwierig ist, diesen Anforderungen gesamthaft Rechnung zu tragen. So finden sich einerseits evolutionstheoretische und strukturalistische Ansätze, die eine „von oben nach unten“ gerichtete Perspektive bevorzugen und die Bedeutung und Handlungsfähigkeit von Akteuren weitgehend „herunterspielen“, andererseits Ansätze, die sich vorrangig mit der „von unten nach oben“ gerichteten Sichtweise befassen und unter dem Schlagwort institutionellen Unternehmertums den Akteuren eine weitgehende Einflussnahme auf Institutionen zubilligen.2 Damit bewegt sich der Institutionalismus, wie Beckert mit Blick auf das Akteurverständnis kritisch festhält, „uneasily back and forth between…a notion of culturally dominated actors and…a notion of rational actors“,3 ohne jedoch die beiden für eine Erklärung institutionellen Wandels relevanten Aspekte – die Einbettung in einen gegebenen institutionellen Rahmen einerseits und die Transformationsfähigkeit von Akteuren gegenüber den Institutionen andererseits – gleichermaßen zu berücksichtigen. Es lässt sich nun argumentieren, dass eine wesentliche Ursache für diese einseitige Behandlung in den beiden Forschungsparadigmen zu suchen ist, die derzeit die soziologische Forschung dominieren: Holismus und Individualismus. Beide sind mit spezifischen grundlegenden Annahmen verbunden, die letztlich nur eine einseitige Erörterung 2
3
Vgl. beispielhaft die evolutionstheoretischen Studien von Baum/Oliver [1992] und [1996], Haveman [1993], Dacin [1997], Ruef [2000], Lee/Pennings [2002] sowie zum institutionellen Unternehmertum die nachfolgende Diskussion. Beckert [1999] S. 789.
4 Strukturationstheoretische Konzeption institutionellen Wandels
175
des Phänomens institutioneller Wandel ermöglichen. Aus Sicht des Individualismus gelten soziale Phänomene als ein Aggregat individuellen Handelns oder von Eigenschaften individueller Akteure. Mit dieser Betonung der „von unten nach oben“ gerichteten Perspektive (Mikroposition) wird angenommen, dass sich Aussagen über soziale Phänomene ohne Bedeutungsverlust durch eine Beschreibung des Handelns und der Eigenschaften von Individuen (beispielsweise ihre Interessen und Präferenzstrukturen) gewinnen lassen.4 Demgegenüber postuliert eine holistische Position, das Soziale wie Dinge zu behandeln, die ihren eigenen Mechanismen folgen, welche unabhängig vom Handeln menschlicher Individuen zu sehen sind („von oben nach unten“ gerichtete Perspektive oder Makroposition). Die sozialen Tatbestände werden hier als Beschränkungen sozialen Handelns angesehen, wobei ihre Existenz nicht unter Rückgriff auf bewusst handelnde Akteure zurückgeführt wird, sondern auf ihre Funktion, einen übergeordneten sozialen Zweck zu erfüllen.5 Wie bereits im zweiten Kapitel dargelegt wurde, waren insbesondere die Anfänge des sogenannten Neoinstitutionalismus durch eine holistische Orientierung gekennzeichnet. Doch auch die heutige institutionalistische Forschung ist vorrangig holistisch angelegt. Dass dies einer Auseinandersetzung mit dem Phänomen des institutionellen Wandels bestimmte Grenzen setzt, kann beispielhaft anhand der Forschungsarbeiten von John Meyer und seinen Mitarbeitern diskutiert werden. Das Handeln von Akteuren gilt dort primär als kulturell dominiert: „[I]nstitutionalized cultural rules define the meaning and identity of the individual and the patterns of appropriate economic, political, and cultural activity engaged in by those individuals.“6
Das Meyer’sche Akteurmodell ist rein makrosoziologisch ausgerichtet.7 Interaktionsbeziehungen zwischen individuellen Akteuren werden nicht in den Blick genommen. Es wird vielmehr angenommen, dass sich Akteure im Sinne eines gesellschaftlichen Wissensvorrats verhalten, dem sie scheinbar unreflektiert folgen. Sie verhalten sich als „scripted“, will heißen konform mit einem gesellschaftlich vorgegebenen Drehbuch.8 Betrachtet man dieses strukturdeterministische Akteurverständnis, das mitunter auch kritisch als Modell übersozialisierter Akteure tituliert wird, steht außer Frage, dass Überlegungen hinsichtlich eines wechselseitigen Zusammenhangs mikro- und makrosozialer 4 5 6 7 8
Vgl. Giddens [1984] S. 214. Vgl. Hollis [1995] S. 136 ff. Meyer/Boli/Thomas [1994] S. 9. Vgl. hierzu grundlegend Meyer/Jepperson [2000]. Vgl. Krücken [2005] S. 312.
176
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Prozesse nicht von Interesse sind. Konstitutiert durch die gegebenen gesellschaftlichen Institutionen erfahren die Handlungsmotive und Interessen individueller Akteure ebensowenig Betrachtung wie machtbestimmte Auseinandersetzungen zwischen Akteuren. Meyer und seine Mitarbeiter plädieren zweifelsohne für eine reine „von oben nach unten“ gerichtete Perspektive. Institutionen wirken handlungsbegrenzend; ein „kreativer“ Umgang mit den vorherrschenden Institutionen ist nicht vorgesehen.9 Dies mag angesichts des diese Forschungsgruppe vorrangig interessierenden Erkenntnisobjekts – Isomorphieprozesse oder Prozesse der Harmonisierung kultureller Werte auf globaler Ebene – nicht als problematisch erscheinen. Will man sich jedoch mit den Quellen und Bedingungen institutionellen Wandels befassen, kommt man nicht umhin, auch die Bedeutung der Akteure und sozialen Handlungsprozesse hinsichtlich der institutionellen Gegebenheiten zu berücksichtigen.10 Aus Sicht der holistischen Perspektive würden die Veränderungen von Institutionen allein auf exogene Faktoren, die außerhalb der sozialen Handlungsprozesse liegen, zurückgeführt werden. Dass sich die Auslöser institutionellen Wandels allerdings im Zuge sozialer Handlungsprozesse entwickeln können, deren Verlauf von Interessenkonflikten und Machtdifferenzen gekennzeichnet ist, lässt sich auf diese Weise nicht betrachten. Und so lässt sich schließlich ebensowenig eine prozessorientierte Betrachtungsweise verwirklichen, wonach sich institutioneller Wandel allmählich, in endogener Weise, im Zuge der sozialen Handlungsprozesse vollzieht. Wie bereits im zweiten Kapitel ausführlich dargelegt, erfolgte im Zuge des wachsenden Interesses an der Erforschung institutionellen Wandels eine Rückbesinnung auf die Bedeutung von Akteuren für die Existenz von Institutionen. Zu den prominentesten Konzepten zählt dabei das Konzept des institutionellen Unternehmers „as an organized actor with sufficient resources [who is interested in creating and changing institutions].“11 Mit diesem Konzept hat sich die Forschung vom holistischen Paradigma entfernt, zeigt nun allerdings eine individualistische Tendenz, deren Analysepotential und Aussagegehalt hinsichtlich des Phänomens institutioneller Wandel ebenfalls als begrenzt zu werten sind. So 9 10
11
Vgl. Clemens/Cook [1999] S. 446. Ein weiterer Vorwurf lautet daher, dass mit einem strukturdeterministischen, holistisch ausgerichteten Akteurmodell lediglich die unsichtbare Hand des Marktes durch die unsichtbare Hand der Kultur ersetzt wird. Damit wird die „black box“ der Institution nicht wirklich angegangen. Vgl. Christensen et al. [1997] S. 392. Weitere Kritik findet sich bei Hirsch/Lounsbury [1997] S. 409 f. DiMaggio [1988] S. 14. Siehe zum Konzept weiterhin Fligstein [1997]; Beckert [1999]; Munir/Phillips [2005]; Lawrence/Suddaby [2006]; Leca/Naccache [2006] sowie die Sonderausgabe in Organization Studies, hrsg. von Garud/Hardy/Maguire [2007].
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177
wird ein Akteurverständnis verfolgt, das ein Bild ausgeprägt rational handelnder Akteure vermittelt. Die Einbettung in Kontexte gegebener Institutionen findet zwar Berücksichtigung. Jedoch gelten die institutionellen Bedingungen als den Individuen vollumfänglich bewusst und fließen entsprechend in die rationale Handlungsgestaltung ein. Mit einer solchen Modellierung erschließt sich jedoch nicht, welche Bedeutung die weniger bewussten Handlungsgrundlagen für die Ergebnisse des Handelns annehmen.12 Handeln fußt nicht in jedem Fall auf einer ausführlichen Überprüfung der gegebenen Handlungsbedingungen. Dies trifft im besonderen Maße auf Institutionen zu, die ja als selbstverständliche Momente des Handelns weitgehend unhinterfragt praktiziert werden.13 Darüber hinaus lässt sich einwenden, dass die strukturellen Bedingungen in Gestalt der vorherrschenden Institutionen derart komplex erscheinen, dass die Akteure sie im Moment des Handelns nicht zu durchschauen vermögen. Dennoch zeichnen auch sie für den Ausgang sozialer Handlungsprozesse verantwortlich, und zwar ohne dass sich die Akteure dessen gewahr werden müssen. Das mit dem Konzept vertretene Akteurverständnis zeigt insgesamt also eine Überbetonung der Rationalität, wie sie auch in verschiedenen individualistischen Theorien anzutreffen ist.14 Auch mit Blick auf die theoretische Herausforderung der Mikro-MakroKonzeption erweist sich das Konzept des institutionellen Unternehmers als zu einseitig. Institutionen gelten hier als Objekte der strategischen Gestaltung.15 Institutioneller Wandel wird entsprechend als strategisches Ziel angesehen, das erreichbar erscheint, sofern bestimmte Taktiken zur Beeinflussung von Akteurgruppen ausgeführt werden.16 Vorrangig wird damit eine „von unten nach oben“ gerichtete Perspektive verfolgt, wonach die makrosozialen Phänomene zwar nicht explizit als Aggregate individuellen Handelns angesehen werden (wie es charakteristisch für den Individualismus wäre), jedoch als strategisch beeinflussbare Ergebnisse sozialen Handelns. Hingegen bleibt ohne nähere Betrachtung, dass die im Handlungsmoment gegebenen sozialen oder soziostrukturellen Bedingungen zugleich eine beschränkende Wirkung ausüben können, indem sie die einem Kontext angemessenen Handlungserwartungen widerspiegeln (und damit 12 13
14 15 16
Vgl. Barnes [2000] S. 28; Beckert [2003] S. 774 f. Daher sieht Beckert denn auch die Gefahr, dass die wissenssoziologischen Wurzeln des jüngeren Institutionalismus verlorengehen könnten: „[This] position is in danger of losing sight of the sociological insight of the new institutionalism, that taken-for-granted rules are based on common understandings that are seldom explicitly articulated.“Beckert [1999] S. 789. Vgl. zur Kritik am voluntaristischen Akteurmodell individualistischer Ansätze auch Holm [1995] S. 399 f.; Emirbayer/Mische [1998] S. 966 f.; Barnes [2000] S. 47 ff. Vgl. Beckert [1999]. Vgl. Fligstein [1997]; Garud/Hardy/Maguire [2007].
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weniger angemessene Handlungsweisen in den Hintergrund treten lassen).17 Insgesamt wird der Wandel von Institutionen vorrangig auf die rationalen Handlungswahlen einflussreicher Individuen zurückgeführt, womit dem Aspekt der Einbettung zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet wird. Dass die Handlungen einiger weniger, wenngleich machtvoller Akteure jedoch nicht notwendigerweise zum Wandel führen, darauf verweisen ja bereits Berger und Luckmann (1966): Institutionen werden in sozialen Handlungsprozessen hervorgebracht, wozu eine Vielzahl sozialer Akteure in unterschiedlich ausgeprägten Handlungskontexten beitragen.18 Dies setzt grundsätzlich eine Mikro-Makro-Konzeption voraus, anhand derer sich die im Zeitverlauf wechselseitigen Beziehungen zwischen dem mikrosozialen Handeln und den makrosozialen Institutionen erfassen lassen. Schließlich baut das Konzept des institutionellen Unternehmers nicht auf einer sozialtheoretischen Grundlage auf, die es ermöglichen würde, die Entwicklung sozialer Handlungsprozesse im Zeitverlauf zu betrachten. So wird in der Regel nicht erörtert, dass die Akteure im Verlauf ihres Handelns in unterschiedliche Handlungskontexte eingebettet sind und mit einem neuen Handlungskontext andere Institutionen verbunden sein können, die wiederum andere Aktivitäten als sinnhaft gelten lassen und zu unterschiedlichen Handlungen anzuregen vermögen, was wiederum bedeutsam für die weitere Entwicklung eines institutionellen Wandelprozesses wäre. Will man zudem das Phänomen endogenen institutionellen Wandels erheben, der sich allmählich in den alltäglichen sozialen Handlungsprozessen entwickelt (beispielsweise in der Übersetzung von Institutionen angesichts lokalspezifischer Gegebenheiten), so kommt man nicht umhin, eine sozialtheoretische Grundlegung zu wählen, die die Erfassung sozialer Reproduktionsprozesse ermöglicht. Insgesamt erweist sich somit auch die Realisierung einer Prozessperspektive als schwierig.
17 18
Vgl. Clemens/Cook [1999] S. 446. Vgl. ebenfalls Sahlin-Andersson/Engwall [2002]; Lawrence/Suddaby [2006] S. 217.
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INSTITUTIONEN
INDIVIDUALISMUS
HOLISMUS
„Von unten nach oben“ gerichtete Perspektive
„Von oben nach unten“ gerichtete Perspektive
Akteure als selbstbestimmte, eigenmotivierte Wesen
Akteure als strukturell determinierte Wesen (“cultural dopes“)
AKTEURE
Abbildung 7:
Grenzen individualistischer und holistischer Forschungspositionen
Im Folgenden wird es darum gehen, das Potential der Strukturationstheorie als praxistheoretische Grundlegung einer Konzeption des institutionellen Wandels in ausführlicher Weise zu diskutieren. Dazu gilt es zunächst zu begründen, dass sich die Strukturationstheorie, die bisher vornehmlich mit dem Problemfeld der sozialen Ordnung in Verbindung gebracht wurde, ebensogut auf das Problemfeld des sozialen Wandels anwenden lässt. Hier wird ein Blick auf die wenig beachteten Giddens’schen Ausführungen zum Thema sozialer Wandel fruchtbare Hinweise liefern. Wie unter anderem darzulegen sein wird, hat sich Giddens mit verschiedenen potentiellen Bedingungen des sozialen Wandels auseinandergesetzt. Diese werden in eine anschließende Systematisierung von Bedingungen des institutionellen Wandels einfließen, als dessen Ergebnis ein Modell potentieller Bedingungsfaktoren vorzulegen sein wird. Im Anschluss daran wird das Erklärungspotential der Strukturationstheorie detailliert für die einzelnen theoretischen Herausforderungen der Akteurmodellierung, Prozessperspektive und Mikro-Makro-Konzeption herauszuarbeiten sein. Der Beitrag der Struktura-
180
4 Strukturationstheoretische Konzeption institutionellen Wandels
tionstheorie wird dabei jeweils anhand von ersten konzeptionellen Lösungen zu erörtern sein – namentlich anhand eines Akteurmodells, eines Institutionenmodells und eines Positionierungskonzepts. 4.1 Einführende Anmerkungen zur strukturationstheoretischen Grundlegung 4.1.1 Soziale Ordnung oder sozialer Wandel als Untersuchungsgegenstand der Strukturationstheorie? Die Bedeutung der Strukturationstheorie für eine theoretische Konzeption des institutionellen Wandels mag sich nicht unmittelbar erschließen, hat sich Giddens in seinen Schriften zur Strukturationstheorie doch vorwiegend mit dem Problem der Entstehung und Aufrechterhaltung sozialer Ordnung auseinandergesetzt.19 Das zentrale Modell der Dualität von Struktur nutzt er überwiegend dazu, den routinisierten Charakter sozialen Handelns und die Aufrechterhaltung sozialer Routinen zu durchleuchten. Allerdings mag es nur vordergründig so erscheinen, als widme sich die Strukturationstheorie einzig der Frage sozialer Ordnung. Ganz abgesehen davon, dass sich Giddens in späteren Schriften ausführlich dem Problem sozialen Wandels gewidmet hat,20 finden sich zahlreiche Hinweise darauf, dass es in der Strukturationstheorie nicht um die Stabilität sozialer Phänomene, sondern um deren Kontinuität geht, was nicht mit Stabilität im Sinne einer unveränderlichen, statischen Konstanz gleichzusetzen ist. Die Kontinuität sozialer Phänomene schließt nicht aus, dass diese zugleich Gegenstand von Veränderungen sind.21 Die Reproduktion sozialer Praktiken bedeutet nicht deren inhaltsgleiche, identische Aufrechterhaltung.22 Vielmehr umfasst Reproduktion stets die Möglichkeit der Veränderung: „All reproduction is necessarily production (...) the seed of change is there in every act which contributes towards the reproduction of any „ordered“ form of social life.“23
Damit mag man sogar behaupten, dass nicht nur die Möglichkeit der Veränderung gegeben ist, sondern dass die Reproduktion sozialer Praktiken generell 19 20 21 22 23
Vgl. hierzu Abschnitt 3.4.1. Vgl. hierzu nachfolgend Abschnitt 4.1.3. Vgl. Giddens [1979] S. 216 f. Vgl. Giddens [1984] S. 24. Giddens [1976] S. 108. Vgl. auch Giddens [1981] S. 27; Giddens [1979] S. 114.
4.1 Einführende Anmerkungen zur strukturationstheoretischen Grundlegung
181
Veränderung miteinschließt. Einsicht in diese Annahme erschließt sich, sofern man die Kontextualität des Handelns in den Augenschein nimmt, die Giddens ja stets betont: Soziales Handeln erfolgt unter kontextspezifischen strukturellen Bedingungen. Die Bedingungen sozialen Handelns verändern sich nun aber sowohl mit den zeitlichen und räumlichen Gegebenheiten als auch aufgrund vorangegangenen sozialen Handelns, sei es durch dieselben Akteure, sei es durch Akteure in ganz anderen Zeit-Raum-Kontexten, was insgesamt den Ausgang lokaler Interaktionsprozesse beeinflusst. Hier offenbart sich letztlich eine der zentralen Behauptungen der Strukturationstheorie: die Ergebnisoffenheit sozialer Prozesse angesichts der Kontextualität sozialen Handelns. Soziales Handeln vollzieht sich unter sich wandelnden, historisch einmaligen Bedingungen konkreter Handlungskontexte, die den tatsächlichen Handlungsprozess prägen, indem sie von den Akteuren entweder bewusst wahrgenommen werden und in ihrer strategischen Positionierung Berücksichtigung finden, oder indem sie – weniger durch den Einzelnen wahrgenommen – mit beeinflussen, welche unerwarteten, nicht intendierten Ergebnisse aus dem Prozess resultieren. Als prinzipiell ergebnisoffen gelten die Handlungsprozesse auch deshalb, weil sich nicht vorhersagen lässt, ob sich Akteure im konkreten Handlungsmoment für oder gegen eine Aufrechterhaltung der gegebenen strukturellen Bedingungen entscheiden. Selbst im Falle stark institutionalisierter struktureller Bedingungen wäre denkbar, dass Akteure – trotz zu erwartender Sanktionen – entgegen der institutionalisierten Verhaltenserwartungen agieren. Giddens weist immer wieder darauf hin, dass Akteure stets die Möglichkeit besitzen, sich anders zu verhalten, als dies die strukturellen Bedingungen im konkreten Handlungsmoment nahelegen. Es bleibt insoweit festzuhalten, dass die Reproduktion von sozialen Praktiken stets das Potential zu einer Deroutinisierung der Handlungsverläufe in sich birgt. Nicht nur sind es die Überraschungen des Kontextes in Form unerwarteter Ereignisse oder des Aufkommens neuer Artefakte, die ein Abweichen von den routinisierten Verhaltensmustern möglich werden lassen.24 Auch und gerade ist es die übliche Übersetzung der sozialen Praktiken an die konkreten Gegebenheiten der jeweiligen Handlungssituation, was eine eher zufällige und doch schleichende Verschiebung im Bedeutungsgehalt der Praktiken bedeuten kann:25
24 25
Vgl. Reckwitz [2003] S. 294 f. Vgl. zur Übersetzung („translation“) von Institutionen im Interaktionsmoment die Ausführungen in Abschnitt 2.2.1.
182
4 Strukturationstheoretische Konzeption institutionellen Wandels
„Change intrinsic to social reproduction is usually incremental in character: a slow „drift“ away from a given practice or set of practices (...). [It is] by definition unintended and unplanned.“26
Kurzum, jeder Handlungsmoment, jeder reproduktive Akt birgt das – vom Einzelnen nicht notwendigerweise intendierte – Potential zur Veränderung.27 Es ist daher von besonderem Interesse, inwieweit die im Handlungsmoment gegebenen strukturellen Bedingungen zu einem Wandel von Institutionen beizutragen vermögen. Welches sind die Bedingungskonstellationen, die in einem gegebenen Interaktionskontext ein Abweichen von institutionalisierten sozialen Praktiken wahrscheinlich werden lassen? Unter welchen Bedingungen neigen Akteure dazu, die institutionalisierten sozialen Praktiken weitgehend unverändert reproduzieren, und unter welchen Bedingungen verändern sie ihre Handlungsweisen derart, dass die Institutionen damit entweder verändert oder gar nicht mehr reproduziert werden? In seiner Auseinandersetzung mit sozialem Wandel beschäftigt sich Giddens mit den entsprechenden Bedingungskonstellationen. Allerdings sind diese Giddens’schen Überlegungen zum Thema sozialer Wandel im Institutionalismus bisher weitgehend unberücksichtigt geblieben.28 Sofern man jedoch nicht betrachtet, welche Bedingungen Giddens als bedeutsam für ein Abweichen von bestehenden Institutionen erachtet, erscheint letztlich auch das Potential der Strukturationstheorie, einen Erkenntnisbeitrag zu den Ursachen des institutionellen Wandels zu leisten, weniger offensichtlich. Doch bevor jene Bedingungen sozialen Wandels näher zu betrachten sind, steht zunächst ein Blick auf Giddens’ erkenntnistheoretische Überlegungen an, mit denen er festzuhalten sucht, in welcher Weise sich soziale Wandelphänomene überhaupt analysieren lassen. 4.1.2 Erkenntnistheoretische Anmerkungen zu einer strukturationstheoretischen Analyse des sozialen Wandels Im strukturationstheoretischen Sinne zeigt sich sozialer Wandel in Gestalt einer Deroutinisierung sozialer Handlungsverläufe. Deroutinisierung ereignet sich im Zuge von Strukturationsprozessen, wobei die Regeln und Ressourcen sozialer Praktiken nicht mehr aufrechterhalten werden, sondern „the routinised character 26 27 28
Giddens [1990] S. 304. Vgl. Reckwitz [2003] S. 297; ebenso Giddens [1979] S. 70. Es findet sich sogar die – mit dieser Arbeit zurückzuweisende – Auffassung, dass sich die Strukturationstheorie nicht dazu eigne, Wandelphänomene zu analysieren, da die Instrumente („tools“) für eine entsprechende empirische Untersuchung fehlten (vgl. Emirbayer/Mische [1998] S. 983).
4.1 Einführende Anmerkungen zur strukturationstheoretischen Grundlegung
183
of social interaction is sustained or dislocated.“29 In Prozessen der Deroutinisierung verlieren institutionalisierte Praktiken ihren habitualisierten und objektivierten Charakter – sie gelten dann nicht mehr als „taken for granted“. Unter welchen Bedingungen eine Deroutinisierung der strukturellen Handlungsgrundlagen zu erwarten ist, ist die zentrale Fragestellung in der strukturationstheoretischen Auseinandersetzung mit dem Thema sozialer Wandel. Die Strukturationstheorie stellt indessen keine allgemeingültige Theorie sozialen Wandels zur Verfügung, „if a „theory“ means specifying universal conditions of social transformation.“30 Was Giddens hiermit auszudrücken gedenkt, bezieht sich auf die Verallgemeinerbarkeit von Aussagen über die Bedingungen sozialen Wandels: „No generalized account of social change (...) is possible in the social sciences, because of the erratic element introduced into history by human knowledge of history – or, more accurately, by the reflexive appropriation of conditions of social action.“31
Generalisierte Aussagen darüber, welche in oder auf Strukturationsprozesse wirkenden Bedingungsfaktoren eine Veränderung der sozialen Phänomene kausal verursachen, hält Giddens für ausgeschlossen. Aufgrund der Kontingenz oder situativen Gebundenheit sozialer Strukturen – Institutionen und ihre strukturierenden Merkmale erfahren ihre spezifischen Ausprägungen erst im Zuge des kontextbezogenen sozialen Handelns – lassen sich allgemeingültige Kausalaussagen über die Bedingungen sozialen Wandels nicht ableiten. Die generelle Handlungsmächtigkeit der Subjekte vermag die strukturellen Bedingungen des Handelns kontinuierlich zu verändern.32 Die grundlegende Annahme der Kontingenz sozialen Handelns und einer entsprechenden Ergebnisoffenheit sozialer Prozesse lässt Giddens zu den folgenden erkenntnistheoretischen Überlegungen gelangen. So geht er erstens davon aus, dass sich Veränderungen allein a posteriori, im historischen Rückblick auf einen festzulegenden Zeitraum der Veränderung, erkennen lassen. Aussagen über die Ursachen sozialen Wandels sind unter Bezug auf spezifische Perioden der Veränderung zu generieren. Giddens regt daher an, sozialen Wandel anhand von Episoden zu untersuchen. Episoden repräsentieren identifizierbare Sequenzen der Veränderung entweder von institutionalisierten sozialen Praktiken eines ausge29 30 31 32
Giddens [1979] S. 219. Giddens [1990] S. 305. Giddens [1990] S. 303. Siehe zur Unmöglichkeit allgemeingültiger Gesetzesaussagen in den Sozialwissenschaften auch Giddens [1984] S. xxviii ff. Vgl. Giddens [1984] S. 251.
184
4 Strukturationstheoretische Konzeption institutionellen Wandels
wählten Systemtyps oder von institutionalisierten Praktiken, die mehrere Typen sozialer Systeme betreffen.33 Betrachtet man also die Veränderung von Institutionen, so setzt dies voraus, zunächst die Episode oder den Betrachtungszeitraum festzulegen, nachfolgend die Bedingungen ihrer Existenz zu hinterfragen und schließlich zu analysieren, wie und warum sich diese im Betrachtungszeitraum verändert haben. Zweitens stellt sich sozialer Wandel aus Sicht von Giddens als ein multikausales Phänomen dar. Veränderungen gehen stets auf verschiedene Auslöser, auf ein historisch einzigartiges Bündel an Bedingungsfaktoren zurück, das Giddens als ein „conjuncture of circumstances“ bezeichnet: „By conjunctures I mean the interaction of influences which, in a particular time and place, have relevance to a given episode.“34
Im Zuge einer Untersuchung sozialen Wandels gilt es daher zu überprüfen, welche verschiedenen Bedingungsfaktoren in der betrachteten Episode zu einem Wandel beigetragen haben. Eine Reihe potentieller Bedingungsfaktoren, die sich zur Analyse spezifischer Wandelprozesse heranziehen lassen, werden im nachfolgenden Abschnitt zu diskutieren sein. Und schließlich ist drittens die generelle Handlungsmächtigkeit der Akteure entscheidend, will man den Ursachen eines betrachteten sozialen Wandelprozesses näherkommen. Giddens formuliert dies am Beispiel der Bildung eines Staates: „[T]he operation of generalized „social forces“ presumes specifiable motivation on the part of those influenced by them. To speak of, for example, „population expansion“ as a contributing cause of state formation implies certain motivational patterns prompting definite sorts of response to that expansion (and involved in bringing it about).“35
Sozialer Wandel mag verschiedene Auslöser haben, letztlich geht er auf das kollektive Handeln handlungsmächtiger Akteure zurück, die den Wandel im Zuge der Strukturationsprozesse realisieren. Es sind die konkreten Akteure, die mit jedem sozialen Handlungsakt das spezifische Bündel an Bedingungen sozia-
33
34 35
Vgl. Giddens [1984] S. 244. Beispiele für Episoden finden sich in Giddens [1979] S. 228. Als identifizierbar gelten Sequenzen beispielsweise aufgrund des Auftretens bedeutsamer Ereignisse, die augenscheinlich zu veränderten Verhaltensweisen geführt haben. Giddens [1984] S. 251. Giddens [1984] S. 253.
4.1 Einführende Anmerkungen zur strukturationstheoretischen Grundlegung
185
ler Veränderungen reproduzieren.36 Wesentlicher Bestandteil einer Untersuchung sozialen Wandels kann daher nicht allein eine strukturelle Analyse sein, also die Betrachtung von Veränderungen der sozialen Struktur in einer bestimmten Episode. Vielmehr ist zugleich die komplementäre Analyse des strategischen Verhaltens der involvierten Akteure durchzuführen: Zu analysieren ist die Art und Weise, wie die Akteure in den sozialen Handlungsprozessen auf die Bedingungen Bezug nehmen oder genommen haben, was sich letztlich in ihren Positionierungsaktivitäten widerspiegelt. 4.1.3 Potentielle Bedingungsfaktoren des sozialen Wandels aus Sicht der Strukturationstheorie Potentielle Bedingungsfaktoren des sozialen Wandels diskutiert Giddens am Beispiel des Wandels von und in Industriegesellschaften im Zeitalter der Moderne. Im Grundsatz lassen sich seine diesbezüglichen Überlegungen auf die Annahme zurückführen, wonach sich moderne Gesellschaften im Zuge der Globalisierung durch eine sogenannte Entbettung lokaler Handlungskontexte („disembedding“) auszeichnen. In diesem Zusammenhang führt er aus: „Mit dem Beginn der Moderne wird der Raum immer stärker vom Ort losgelöst, indem Beziehungen zwischen „abwesenden“ anderen begünstigt werden, die von jeder gegebenen Interaktionssituation mit persönlichem Kontakt örtlich weit entfernt sind (...) Schauplätze werden von entfernten sozialen Einflüssen gründlich geprägt und gestaltet. Der lokale Schauplatz wird nicht bloß durch Anwesendes strukturiert, denn die „sichtbare Form“ des Schauplatzes verbirgt die weit abgerückten Beziehungen, die sein Wesen bestimmen.“37
Mit dem Begriff der Entbettung sucht Giddens eine gesellschaftliche Entwicklung zu charakterisieren, mit der die sozialen oder soziostrukturellen Bedingungen lokalen Handelns zunehmend in räumlich und zeitlich weitgreifende Kontexte eingebunden werden. Lokale Orte der Interaktion zeichnen sich damit immer weniger durch rein ortsspezifische Merkmale aus, sondern werden von Bedingungen beeinflusst, die außerhalb der lokalen Handlungskontexte entstanden sind. Was bedeutet dies nun mit Blick auf die möglichen Ursachen sozialen und damit auch institutionellen Wandels? Folgende seiner Überlegungen spielen in dieser Hinsicht eine wesentliche Rolle: 36 37
Dass dies nicht immer intendiert und diskursiv bewusst erfolgt, wurde andernorts bereits hinreichend dargelegt. Giddens [1995a] S. 30.
186
4 Strukturationstheoretische Konzeption institutionellen Wandels
Selbst alltägliche soziale Handlungsprozesse werden angesichts kontinuierlich neuer Informationen zunehmend diskursiv bewusst gesteuert; die Frage einer strategisch veränderten Positionierung steht dabei stets im Raum. Diese Entwicklung diskutiert Giddens unter dem Stichwort „reflexive appropriation“.38 In Anbetracht einer zunehmenden Heterogenität der im lokalen Handlungskontext gegebenen sozialen Praktiken steigt die Wahrscheinlichkeit konfliktärer struktureller Bedingungen; auch dies trägt zu einer vermehrt diskursiv bewussten Handlungssteuerung bei und darüber hinaus Interessenkonflikte zwischen Akteuren hervorrufen. Behandelt wird dies unter dem Stichwort „structural contradiction“.
Beide – im Weiteren noch zu diskutierenden – Entwicklungen moderner Gesellschaften kennzeichnen also eine Tendenz hin zu einem diskursiv bewussten Umgang mit den im Interaktionsmoment gegebenen Handlungsbedingungen, demgegenüber der eher handlungspraktische Vollzug routinehafter Handlungsabläufe in den Hintergrund tritt. Dies bedeutet grundsätzlich, dass sich sozialer Wandel häufiger auf diskursiv bewusste Handlungsabsichten sozialer Akteure zurückverfolgen und insofern als „intendiert“ charakterisieren lässt.39 Mit Blick auf den erstgenannten Aspekt der „reflexive appropriation“ lässt sich die Tendenz zu intendierten Veränderungsbemühungen insofern nachvollziehen, als es die modernen Medien der Kommunikations- und Informationstechnologie ermöglichen, Informationen zwischen verschiedensten Orten zu transferieren und sogar zeitgleich an ihnen verfügbar zu machen. Akteure sind insoweit viel häufiger neuartigen Informationen ausgesetzt, die sie dazu veranlassen können, ihre sozialen Praktiken zu überprüfen: „In conditions of modernity, social practices are constantly examined and reformed in terms of novel information about their nature – in a process which has no intrinsic end-point.“40
38
39 40
Soweit Giddens hier von Reflexivität spricht, erfolgt dies in einer Weise, die dem üblichen Wortgebrauch entspricht. Damit weicht er von seinem Verständnis reflexiver Handlungssteuerung ab, wie er es der Strukturationstheorie ursprünglich zugrunde gelegt hatte – reflexive Handlungssteuerung bezieht sich dort auf die überwiegend handlungspraktisch bewusste Steuerung des Handelns im Sinne eines routinemäßigen Registrierens der kontextuellen Bedingungen im Ausführen der Handlungen. Vgl. zu altem und neuen Verständnis von Reflexivität Giddens [1995a] S. 52 f. Giddens spricht daher auch von der reflexiv mobilisierten Form sozialen Wandels, vgl. Giddens [1990] S. 304. Giddens [1990] S. 307.
4.1 Einführende Anmerkungen zur strukturationstheoretischen Grundlegung
187
Im Lichte neuer Informationen muss sich die Legitimität institutionalisierter sozialer Praktiken – ihre Sinnhaftigkeit und Angemessenheit – immer wieder neu bewähren. Damit scheinen die Regeln sozialen Handelns einer beständigen kritischen Überprüfung zu unterliegen. Die Tendenz zu einer zunehmend diskursiv bewussten Steuerung der strukturellen Handlungsbedingungen steht nicht allein mit den neuen informationstechnischen Möglichkeiten in Verbindung, mit denen die Akteure mittelbar mit andersartigen oder neuen Sinnwelten in Kontakt treten. Sie geht ebenfalls auf die heutzutage scheinbar unbegrenzten Transportmöglichkeiten zurück, wodurch die Akteure auch unmittelbar mit anderen sozialen Kontexten in Berührung kommen, die sich durch soziokulturelle Eigenheiten auszeichnen. In ihrer alltäglichen Routine bewegen sie sich nicht nur in verschiedenen sozialen Systemen (beispielsweise Wirtschafts-, politisches und familiäres System), sondern auch in verschiedenen Gesellschaften, die sich hinsichtlich der vorherrschenden Institutionen voneinander unterscheiden können. Das bedeutet insgesamt, dass das für den Einzelnen verfügbare Repertoire an sozialen Praktiken entsprechend reichhaltiger geworden ist: „Choices are greater than ever before because of the diversity of social milieux in which we are involved, both through direct participation and through media exposure.“41
Der Kontakt mit einer Vielfalt an sozialen Praktiken mag nun dazu verleiten, eigenen Handlungsroutinen nicht mehr bloß handlungspraktisch, gleichsam ungeprüft, zu folgen: „[A]ctors who are located in more complex relational settings must correspondingly learn to take a wider variety of factors into account, to reflect upon alternative paths of action, and to communicate, to negotiate, and to compromise with people of diverse positions and perspectives.“42
Es lässt sich vielmehr davon ausgehen, dass mit den routinemäßigen Handlungsabläufen häufiger reflexiv-abwägend umgegangen wird. Unter den Bedingungen der Moderne ist es wahrscheinlich, dass die vermeintlich verbindliche Kraft der institutionalisierten Praktiken – die scheinbare „institutional pressure“ – weit weniger ausgeprägt, ihr Institutionalitätsgrad entsprechend geringer ist. Der all41
42
Whittington [1992] S. 696. Giddens selbst konstatiert diesbezüglich: „[I]n contemporary societies individuals are positioned within a widening range of zones, in home, workplace, neighbourhood, city, nation-state and a worldwide system...“ Giddens [1984] S. 85. Emirbayer/Mische [1998] S. 1007.
188
4 Strukturationstheoretische Konzeption institutionellen Wandels
gemeingültige, unhinterfragte Charakter institutionalisierter Praktiken kann damit ins Wanken geraten.43 An dieser Stelle lässt sich zunächst festhalten, dass Giddens die Reichhaltigkeit des verfügbaren Handlungsrepertoires – hier verstanden als das Bündel an sozialen Praktiken, über das ein Akteur bezogen auf einen Handlungskontext Kenntnis besitzt – als einen wichtigen Impuls einer zunehmend reflexiven (beziehungsweise diskursiv bewussten) Steuerung und Kontrolle des sozialen Handelns ansieht.44 Mit der Reichhaltigkeit des Repertoires an Praktiken, das in einem beliebigen Interaktionsmoment angesichts des gegebenen Kontextes als angemessen und sinnhaft empfunden wird, steigt darüber hinaus die Wahrscheinlichkeit konfliktärer struktureller Bedingungen. Auch dies kann einen Auslöser intendierter Veränderungsbemühungen darstellen. Giddens behandelt diese weitere potentielle Bedingung sozialen Wandels unter dem Stichwort strukturelle Widersprüche („structural contradictions“). Strukturelle Widersprüche beziehen sich auf widersprüchliche Bedingungen sozialen Handelns. Sie spiegeln sich in konfliktären Beziehungen zwischen den Regeln und Ressourcen der in einem Interaktionsmoment gegebenen sozialen Praktiken wider. So mögen die gegebenen Wahrnehmungsschemata und Normen Handlungen als sinnhaft und angemessen erscheinen lassen, die sich untereinander ausschließen. Anhand der gegebenen Praktiken lassen sich entsprechend keine kohärenten Handlungserwartungen ableiten. Akteure haben indessen zu entscheiden, welche Handlungen sie letztlich umsetzen wollen, wie sie sich also positionieren. Sofern sie sich nicht für eine völlig neuartige, institutionsfremde Handlungsweise entscheiden, werden sie im Zuge ihrer Positionierung nur einen Teil der Praktiken reproduzieren, wobei es wahrscheinlich ist, dass sie dabei Veränderungen bewirken (beispielsweise dadurch, dass sie die Handlungen verschiedener Praktiken miteinander kombinieren – gleichsam als „bricolage“-Prozess).45 Giddens begründet die Bedeutung struktureller Widersprüche als einen Bedingungsfaktor sozialen Wandels außerdem mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit mikropolitischer Konflikte. Dabei geht er davon aus, dass strukturelle Widersprüche zwischen den Bedingungen sozialen Handelns zu nicht intendierten, 43
44 45
Zudem ermöglichen die modernen Kommunikationsmedien eine Ausbreitung sozialer Wandelprozesse, wie sie in vormodernen Zeiten nicht denkbar gewesen wäre. Entsprechend werden nicht nur über face-to-face-Interaktionen erreichbare, sondern auch räumlich weit entfernt Kontexte erfasst. Das bedeutet einerseits, dass institutioneller Wandel heutzutage häufiger über Mechanismen der System- denn der Sozialintegration, eher theoriegestützt denn personenbezogen, erfolgt (vgl. Abschnitt 3.4.3); andererseits, dass eine Herausbildung globaler institutionalisierter Praktiken erleichtert wird (vgl. hierzu Meyer [2005] sowie Giddens [1995a]). Siehe hierzu ebenfalls Swidler [1986] und Clemens [1993]. Vgl. zu „bricolage“ erneut Abschnitt 2.2.1 der vorliegenden Arbeit.
4.1 Einführende Anmerkungen zur strukturationstheoretischen Grundlegung
189
sich untereinander zuwiderlaufenden Handlungskonsequenzen („perverse consequences“) bei einer Vielzahl von Handlungen führen, wodurch die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass die Akteure ihre ursprünglichen Handlungsintentionen befriedigen. Die zu erwartende Unzufriedenheit der Akteure kann diese dazu veranlassen, aktiven Auseinandersetzungen beizuwohnen, um Einfluss auf die widersprüchlichen Handlungsbedingungen zu nehmen.46 Inwieweit solche Auseinandersetzungen letztlich einen sozialen Wandel bewirken, ist im Weiteren davon abhängig, welche Handlungsmacht die opponierenden Akteure zu mobilisieren vermögen („Dialektik der Kontrolle“) und welche übrigen Bedingungsfaktoren auf die und innerhalb der Reproduktionsprozesse wirken. Die letzten Ausführungen deuten es bereits an: Giddens erachtet die gegebene Herrschaftsstruktur, die Machtverteilung unter den sozialen Akteuren, schließlich als einen weiteren Bedingungsfaktor sozialen Wandels. Der Verlauf sozialer Wandelprozesse wird insoweit auch davon geprägt sein, über welche Ressourcen die verschiedenen Parteien verfügen, um den Prozessverlauf zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Der Zugang zu Ressourcen ist jedoch nicht allein für den Verlauf einmal begonnener Wandelprozesse entscheidend; er kann außerdem bereits als Auslöser sozialen Wandels auftreten.47 So kann eine Ressourcenknappheit zur Entwicklung technischer Innovationen anregen, im Zuge derer sich zugleich neuartige soziale Praktiken entwickeln. Darüber hinaus ist es denkbar, dass Spannungen zwischen Akteuren entstehen, die in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen. Hier kann die Unzufriedenheit des hinsichtlich der Handlungsmacht unterlegenen Akteurs ebenso ein auslösendes Moment sozialen Wandels darstellen, wie ein sich allmählich umkehrendes Ungleichgewicht in der Herrschaftsstruktur: Im Zuge der Strukturationsprozesse kann sich das Abhängigkeitsverhältnis – beispielsweise aufgrund eines Zugewinns verwertbaren Wissens bei einem der Akteure – derart wandeln, dass sich dieser zu einer weitergehenden Veränderung der bestehenden Verhältnisse verleitet sieht. Die bisherigen Ausführungen erwecken zunächst den Eindruck, Giddens habe sich mit dem Phänomen sozialen Wandels ausschließlich aus dem Blickwinkel intendierter Veränderungsbemühungen auseinandergesetzt. Dieser Eindruck ist in der Tat nicht unbegründet. Giddens’ grundsätzliche Überlegung war denn auch, einem intendierten Veränderungswillen angesichts des Phänomens der Entbettung – also der sozialen Entwurzelung des Lokalen und seiner Einbettung in weitgreifende soziale Räume – ein größeres Gewicht einzuräumen. Dennoch erachtet er den nicht intendierten Wandel, der sich im Zuge der alltäglichen 46 47
Vgl. Giddens [1984] S. 317. Vgl. Giddens [1990] S. 304 f.
190
4 Strukturationstheoretische Konzeption institutionellen Wandels
sozialen Reproduktion ereignet, als die eigentliche und grundlegendste Form des sozialen Wandels, „since it is intrinsic to every circumstance of social life.“48 Dies entspricht der zentralen Annahme der Strukturationstheorie, wonach sich Handeln stets in strukturell vorgeprägten Kontexten vollzieht, wobei die vorherrschenden Praktiken zwar angesichts der konkreten Gegebenheiten des jeweiligen Interaktionskontextes in lokalspezifischer Weise ausgelegt oder übersetzt werden, dies jedoch üblicherweise handlungspraktisch im Zuge der alltäglichen Handlungsroutinen erfolgt, in denen ein Verändern der Praktiken nicht das primäre Handlungsziel darstellt. Sozialer Wandel ist insoweit stets das kontingente Ergebnis der sozialen Reproduktion, ohne dass die Akteure einen solchen intendieren müssen. Vor diesem Hintergrund scheint es gerechtfertigt, dass sich Giddens dem Thema sozialer Wandel vorwiegend aus der Perspektive intendierter Veränderungsbemühungen widmet und entsprechend die Bedingungen herausarbeitet, die ein Innehalten der Akteure, eine reflexive, diskursiv bewusste Auseinandersetzung mit den gegebenen strukturellen Handlungsbedingungen bewirken können. Liegen diese Bedingungen nämlich nicht vor, ist von einem allmählichen, nicht intendierten Wandel im Zuge des rein übersetzenden, handlungspraktischen Reproduzierens auszugehen. 4.2 Bedingungen des institutionellen Wandels 4.2.1 Strukturationstheorie als integratives Rahmenkonzept Überträgt man nun die Giddens’schen Überlegungen zu den potentiellen Bedingungsfaktoren sozialen Wandels auf die hier interessierende Problemstellung, offenbart sich zunächst eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit den im zweiten Kapitel genannten Bedingungen des institutionellen Wandels. So wurde im zweiten Kapitel unter anderem ausgeführt, dass die Heterogenität vorherrschender Institutionen, die sich zudem in widersprüchlichen Handlungsbedingungen äußern kann, eine zentrale Bedeutung nicht nur als Auslöser institutionellen Wandels, sondern auch in der Übertragung neuer sozialer Praktiken einnimmt. Des Weiteren wurden ein strategisch-reflexiver Umgang mit den strukturellen Handlungsbedingungen, Interessen- und Machtdivergenzen sowie Konflikte als bedeutsame Bedingungen institutioneller Wandelprozesse angesehen. So gesehen spiegeln die Bedingungen, die Giddens als die zentralen Bedingungen sozialen Wandels dargelegt hat, genau jene wider, die im zweiten Kapitel als Bedingungen des institutionellen Wandels herausgearbeitet wurden. Hat nun die Struk48
Giddens [1990] S. 304.
4.2 Bedingungen des institutionellen Wandels
191
turationstheorie – zumindest in dieser Hinsicht – nichts Neues zu bieten? Die Antwort ist zu verneinen, vergegenwärtigt man sich das ebenfalls im zweiten Kapitel dargelegte Merkmal einer erklärungskräftigen Studie. Dort wurde argumentiert, dass der Erklärungsgehalt einer Studie zu institutionellem Wandel mit der erfassten Vielfalt und Interdependenz der untersuchten Bedingungsfaktoren zusammenhängt.49 Als „reichhaltiger“ in ihrer Erklärungskraft wurden danach solche Studien erachtet, die möglichst mehrere Bedingungsfaktoren zu untersuchen und dabei zudem mögliche Interdependenzen und Veränderungen der Bedingungsfaktoren zu berücksichtigen erlauben. Es wurde angenommen, dass sich diesem Kriterium insbesondere mit einer sozialtheoretischen Grundlegung entsprechen lässt, die ein hinreichend differenziertes konzeptionelles Gerüst bietet, um mehrere Bedingungsfaktoren sowie deren Beziehungen untereinander zu erörtern. Betrachtet man die derzeitige Forschungslandschaft zum institutionellen Wandel, so finden sich nur wenige Studien, die dieser Anforderung Rechnung tragen. Die im zweiten Kapitel dargelegten Erkenntnisse zu den Bedingungsfaktoren institutionellen Wandels wurden aus einer Vielzahl an Studien zusammengetragen. Die Vielfalt an Bedingungsfaktoren wird durch die einzelnen Studien häufig ausgeblendet. Empirische Arbeiten betrachten zumeist nur einen Ausschnitt potentiell denkbarer Bedingungen, wobei dieser nicht nur – berechtigterweise – mit der historischen Relevanz der Bedingungen variiert (manche Bedingungen erscheinen im Kontext der empirischen Untersuchung als die tragenden Faktoren und wurden entsprechend ausgewählt), sondern gerade auch mit der jeweiligen sozialtheoretischen Ausrichtung der Untersuchung. Dabei neigen holistisch ausgelegte Forschungsarbeiten dazu, Bedingungsfaktoren zu untersuchen, die außerhalb des Wirkens der betrachteten Akteure anzusiedeln sind, wie beispielsweise Gesetzesänderungen oder Veränderungen im politischen System eines Landes. Damit erfassen sie jedoch nur einen Teil der Bedingungen institutioneller Wandelprozesse. Hält man sich erneut vor Augen, dass externe Ereignisse nicht unmittelbar einen institutionellen Wandel hervorzurufen imstande sind, sondern dies von der Art und Weise abhängt, wie die betroffenen Akteure in ihren Handlungsprozessen auf diese reagieren, sind weiterhin Bedingungsfaktoren zu untersuchen, die mit den Prozessen der sozialen Reproduktion im Zuge der Positionierung in Zusammenhang stehen.50 Zu diesen zählen die mikround makrosozialen strukturellen Bedingungen – beispielsweise die Frage, wie vielfältig und heterogen (und damit weniger institutionalisiert) sich die bestehenden Institutionen in den Handlungskontexten im Moment der Positionierung 49 50
Vgl. Abschnitt 2.3.1. Vgl. Munir [2005] S. 96 f.
192
4 Strukturationstheoretische Konzeption institutionellen Wandels
präsentieren – ebenso wie solche, die Aspekte der Machtverteilung zwischen den am institutionellen Wandelprozess beteiligten Akteuren betreffen. Mit einer strukturationstheoretischen Konzeption lässt sich dem Aspekt der Reichhaltigkeit des Bündels potentieller Bedingungen Genüge leisten. Sie liefert einen kohärenten sozialtheoretischen Rahmen, um die bisher durch verschiedene Studien separat erhobenen Bedingungsfaktoren gesamthaft zu untersuchen. Eine erste Ausarbeitung in diese Richtung geht auf die bereits im zweiten Kapitel zitierte Arbeit von Clemens und Cook zurück. Sie belegen eindrucksvoll, wie sich das strukturationstheoretische Strukturverständnis zur Systematisierung von verschiedenen Bedingungsfaktoren des institutionellen Wandels heranziehen lässt. Ihre Arbeit bildet daher den Ausgangspunkt der nachfolgenden Überlegungen zu einem strukturationstheoretisch begründeten Modell an Bedingungsfaktoren des institutionellen Wandels. 4.2.2 Strukturationstheoretisches Modell an Bedingungsfaktoren des institutionellen Wandels Eine wesentliche Überlegung durchzieht die Mehrheit der organisationssoziologischen Arbeiten zum institutionellen Wandel: Wandel lässt sich nicht kausal auf das Handeln von Individuen zurückführen. Es gilt daher, die Bedeutsamkeit der Akteure nicht zu überzeichnen, ihnen aber dennoch eine gewisse Beeinflussung der Institutionen zuzusprechen. Dieser Anforderung lässt sich konzeptionell dahingehend begegnen, dass Akteure nicht als subjektiv motivierte, sondern als in soziale Strukturen eingebettete Wesen begriffen werden. Ihre Handlungsmächtigkeit beziehen sie damit aus ihrer Einbettung – aus ihrer Teilnahme an den sozialen Handlungsprozessen und ihrem Anteil am kollektiven Handlungswissen. Diese Aussage mag trivial klingen, enthält allerdings eine wichtige Konsequenz: Die Ursachen institutionellen Wandels lassen sich nicht unter Rückgriff auf ein individuell motiviertes Handeln begründen, sondern liegen in den strukturellen Handlungsbedingungen und dem Umgang mit ihnen durch die Akteure begründet. Wie im dritten Kapitel bereits dargelegt, gehört dieser Kerngedanke einer strukturell bedingten Handlungsmächtigkeit zu den grundlegenden Annahmen der Strukturationstheorie. Giddens überträgt ihn denn auch auf seine Überlegungen zu den Bedingungen des sozialen Wandels. Bei den in Abschnitt 4.1.3 dargelegten Bedingungsfaktoren sozialen Wandels handelt es sich durchweg um solche struktureller Natur: Heterogene strukturelle Handlungsbedingungen, strukturelle Widersprüche und Machtdivergenzen stellen aus Sicht der Strukturationstheorie Ausprägungen sozialer Strukturen dar, wie sie sich in lokalen Handlungskontexten präsentieren können. Gerade vor diesem Hintergrund
4.2 Bedingungen des institutionellen Wandels
193
lässt sich das Vorgehen von Clemens und Cook nachvollziehen, die in der Strukturationstheorie eine geeignete Sozialtheorie erkennen, um potentielle Bedingungsfaktoren institutionellen Wandels gesamthaft zu berücksichtigen. So erlaubt es die Strukturationstheorie, Akteure als handlungsmächtig zu konzipieren, die über eine – noch weitergehend zu definierende – Fähigkeit, Institutionen zu beeinflussen verfügen, und dennoch die grundlegende Annahme des organisationssoziologischen Institutionalismus aufrechtzuerhalten, wonach sich das soziale Handeln stets im Kontext gegebener Institutionen ereignet. Die Handlungsmächtigkeit der Akteure gilt insofern nicht als beliebig oder gar unbegrenzt, beziehen sie diese doch aus ihrer Einbettung in Kontexte, in denen soziale Strukturen und Institutionen bereits vorherrschen. Im Folgenden ist nun ein strukturationstheoretisches Modell an Bedingungsfaktoren des institutionellen Wandels zu entwickeln. Dazu wird eingangs das Modell von Clemens und Cook vorzustellen sein, um anschließend ein Gesamtmodell vorzustellen. Weiterhin ist darauf einzugehen, inwiefern die Strukturationstheorie auf diese Weise ein „reichhaltiges“ Rahmenkonzept zu liefern verspricht. Hier wird letztlich zu diskutieren sein, inwieweit die im zweiten Kapitel dargelegten Bedingungsfaktoren des institutionellen Wandels durch das strukturationstheoretische Konzept abgedeckt werden. Doch nun sei zunächst ein Blick auf die Clemens/Cook’schen Überlegungen geworfen.51 Ausgehend von der strukturationstheoretischen Strukturdefinition, mit der zwischen Regeln – Clemens und Cook sprechen synonym von Schemata – und Ressourcen unterschieden wird, suchen Clemens und Cook zu erörtern, unter welchen Bedingungen institutioneller Wandel als wahrscheinlich anzusehen ist: „This distinction between schemas and resources provides a framework for thinking about sources of institutional change: within or among schemas; within or among resources; or between schemas and resources (...). Schemas may be more or less mutable; they may embody internal contradictions; or multiple schemas or institutional rules may be potentially relevant to a context for action. Within an existing system of institutional rules, resources (…) may contain variations or facilitate diffusion; they may support learning or innovation, thereby incrementally altering schemas; or they may mediate the impact of exogenous shocks and environmental changes on institutions.“52
Die strukturationstheoretischen Strukturelemente dienen Clemens und Cook einer Systematisierung der strukturellen Bedingungsfaktoren institutionellen Wandels, wobei diese entsprechend auf der Ebene von Regeln oder auf der Ebe51 52
Vgl. zum Folgenden Clemens/Cook [1999] S. 447 ff. Clemens/Cook [1999] S. 447 f.
194
4 Strukturationstheoretische Konzeption institutionellen Wandels
ne von Ressourcen verankert liegen. Grundsätzlich unterscheiden sie dabei zwischen Bedingungen, die institutionellen Wandel auszulösen imstande sind („Auslöser“), und jenen, die die Ausbreitung neuartiger oder veränderter Praktiken betreffen. Als primär regelbezogene Auslöser behandeln Clemens und Cook Widersprüche innerhalb von Schemata („internal contradictions“), deren generelle Wandlungsfähigkeit („mutability“) sowie die Vielfalt der im Handlungskontext gegebenen Schemata („multiplicity“). Hier verläuft ihre Argumentation vergleichbar zu den von Giddens selbst angestellten Überlegungen. In Bezug auf (institutionen-)interne Widersprüche wird argumentiert, dass sich aus einer gegebenen Institution nicht immer eindeutige Interpretationsschemata und normative Erwartungen hinsichtlich eines dem Kontext angemessenen Verhaltens ableiten lassen; die entsprechend im Handlungsmoment gegebenen Regeln einer Institution können vielmehr widersprüchlich erscheinen. Ein rein handlungspraktisch bewusstes Agieren erscheint unter diesen Bedingungen als schwierig. Dies gilt entsprechend, sofern eine Vielzahl alternativer Regeln gegeben ist, mit denen jeweils unterschiedliche Institutionen reproduziert werden. Der verbindliche Charakter der einzelnen Institution – ihr Institutionalitätsgrad – ist in einer solchen Situation gering. Alternative Handlungen gelten dann als sinnhaft und normativ angemessen, so dass eine Auswahl zu treffen ist und manche Institutionen letztlich nicht reproduziert werden. Die Vielfalt der im Handlungsmoment gegebenen Regeln kann des Weiteren mit Widersprüchen zwischen den Regeln verschiedener Institutionen einhergehen. Übertragen Akteure Institutionen aus anderen Handlungskontexten, kann dies konfliktäre Interpretationsschemata und Handlungsnormen begründen, aus denen sich die strukturellen Handlungsbedingungen ebenfalls nicht eindeutig ableiten lassen. Schließlich ist von einer generellen Wandlungsfähigkeit der sozialen Regeln auszugehen. Diese gründet sich auf der kontextbezogenen Übersetzung der gegebenen Regeln im Interaktionsmoment, wobei die Akteure die mit den Institutionen verbundenen Regeln sinnhaften und angemessenen Verhaltens im Lichte der situativen Gegebenheiten interpretieren. Im Modell von Clemens und Cook nehmen die regelbezogenen strukturellen Handlungsbedingungen zunächst die Stellung von Auslösern des institutionellen Wandels ein. Wandlungsfähigkeit, Widersprüchlichkeit und Vielfalt der im Handlungsmoment gegebenen Regeln führen laut Clemens und Cook jedoch nicht unmittelbar zu einem Wandel von Institutionen. Sie können lediglich zu einer Erklärung dessen beitragen, weswegen sich Akteure in einer gegebenen Interaktionssituation derart positionieren, dass dies gegenüber den Ausgangsbedingungen ihres Handelns als ein Wandel gewertet werden kann. Zieht man die Berger/Luckmann’sche Begriffswelt heran, so geht es hier mithin um die Bedingungen, anhand derer sich begründen lässt, warum die objektive Faktizität von
4.2 Bedingungen des institutionellen Wandels
195
Institutionen in Frage gestellt wird und sie von einer Gruppe an Akteuren nicht mehr als subjektiv sinnhaft empfunden werden. Damit ist allerdings noch nicht geklärt, wodurch dieser lokale Wandel eine entsprechende Verbreitung und Objektivierung erfährt, was die Bezeichnung institutioneller Wandel rechtfertigen würde. Welche Bedingungen unterstützen, dass ein veränderter subjektiv gemeinter Sinn nun objektive Faktizität erlangt?53 Hier würden Clemens und Cook erneut auf die regelbezogenen, weiterhin auf die ressourcenbezogenen strukturellen Handlungsbedingungen verweisen, deren Zusammenspiel sie als das Bündel an Bedingungen werten, das den weiteren Verlauf institutioneller Wandelprozesse zu beeinflussen vermag.54 Ressourcenbezogene strukturelle Handlungsbedingungen prägen den weiteren Verlauf institutionellen Wandels, indem sie die Verbreitung veränderter oder neuartiger sozialer Praktiken erschweren oder begünstigen. Ressourcenbezogene Bedingungen zeigen sich in der im Handlungsmoment gegebenen Herrschaftsstruktur, das heißt in der Form des Ausmaßes an Ressourcen, über das die Akteure verfügen können. Gemäß Clemens und Cook wird die Herrschaftsstruktur durch die Struktur der vorhandenen sozialen Netzwerke begründet. Sie gehen nun davon aus, dass das Wandlungspotential von Institutionen von der Dichte des Netzwerks an sozialen Beziehungen abhängt. Dabei erachten sie sowohl eine negative als auch eine positive Beeinflussung als denkbar. Sie verweisen beispielsweise auf die bisherige Forschung von Zucker, wonach ein dichtes soziales Netzwerk zur Aufrechterhaltung von Institutionen beiträgt, deren Wandlungspotential mithin negativ beeinflusst.55 Demgegenüber finden sich Forschungsergebnisse, die auf eine schnellere Verbreitung neuartiger sozialer Praktiken im Falle enger sozialer Beziehungen hinweisen,56 was – unter der Annahme, dass die Übernahme neuer Praktiken mit einer Veränderung der bestehenden einhergeht – für eine positive Beeinflussung des Wandlungspotentials von Institutionen durch ein dichtes Netzwerk spricht. Unter welchen Bedingungen kann letztlich davon ausgegangen werden, dass ein enges soziales Beziehungsnetzwerk den Wandel von Institutionen unterstützt? Hier ziehen Clemens und Cook erneut die regelbezogenen Bedingungen heran: Je widersprüchlicher und vielfältiger die mit den gegebenen Institutionen verbundenen Regeln, umso eher ist mit einem Wandel der Institutionen zu rechnen. Die vermeintlich verbindliche Kraft der einzelnen Institutionen ist in diesem Falle weniger ausgeprägt, was das Aufkommen 53 54 55 56
Es geht also um jene Bedingungen, die im zweiten Kapitel unter dem Titel „Prozess des institutionellen Wandels“ (Abschnitt 2.2.3) diskutiert wurden. Vgl. zum Folgenden Clemens/Cook [1999] S. 450 ff. Vgl. Zucker [1988b] S. 28 ff. Vgl. hierzu die Diskussion in Abschnitt 2.2.3.3.
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4 Strukturationstheoretische Konzeption institutionellen Wandels
institutioneller Unternehmer begünstigen kann, die sich die uneindeutigen strukturellen Handlungsbedingungen zwecks Veränderung der Institutionen zunutze machen. Neben den strukturellen Bedingungen gehen Clemens und Cook auch auf die Bedeutung exogener Schocks und unvorhergesehener Ereignisse als mögliche Quellen eines institutionellen Wandels ein. Dabei betonen sie, dass diese nicht unmittelbar einen institutionellen Wandel begründen können, sondern dass deren Wirkung vom Verhalten der Akteure in den sozialen Handlungsprozessen abhängt. Ihre Wirkung auf die Handlungsprozesse lässt sich ermessen, soweit man die Bedeutung der strukturellen Bedingungen in Betracht zieht. Diese äußert sich auf zweierlei Art. Auf der einen Seite hängt die Wirkung exogener Schocks auf die sozialen Handlungsprozesse davon ab, welche spezifischen Ausprägungen die strukturellen Handlungsbedingungen (Widerspruch und Vielfalt der gegebenen Handlungsregeln sowie Netzwerkdichte) des jeweiligen Handlungskontextes aufweisen. Kontexte, in denen vielfältige, möglicherweise sogar widersprüchliche Regeln vorherrschen, gelten an sich bereits als fragiler, so dass exogene Schocks dort eher einen institutionellen Wandel hervorzurufen imstande sind. Generell wird die Wirkung exogener Schocks durch den Zustand der strukturellen Handlungsbedingungen entweder abgefedert oder verstärkt. Auf der anderen Seite vermögen exogene Ereignisse einen unmittelbaren Einfluss auf die strukturellen Handlungsbedingungen auszuüben. So können sich beispielsweise die Abhängigkeitsverhältnisse innerhalb des sozialen Netzwerks aufgrund eines unerwarteten Ereignisses verändern oder das Netz an sozialen Beziehungen sogar insgesamt auseinanderfallen. Beides würde unmittelbare Veränderungen in den ressourcenbezogenen strukturellen Bedingungen – in der Herrschaftsstruktur – bedeuten. Ebenfalls denkbar ist, dass vormals vorhandene Widersprüche zwischen Institutionen sich insofern aufheben, als bestimmte Probleme, die die Existenz der Institutionen bisher begründeten, aufgrund des Ereignisses einfach weggebrochen sind. Es zeigt sich also, dass Clemens und Cook die grundsätzliche Einsicht der Strukturationstheorie teilen, wonach sich institutioneller Wandel nur allmählich, im Zuge der sozialen Handlungsprozesse, entwickeln kann. Wenngleich sich exogenen Schocks ohne Zweifel eine beträchtliche Veränderungswirkung zusprechen lässt, stellt sich institutioneller Wandel dennoch nicht unmittelbar aufgrund solcher Ereignisse ein. Vielmehr wirken die Ereignisse über die strukturellen Handlungsbedingungen (die wiederum entweder abfedernd oder verstärkend wirken oder selbst verändert werden), auf die die Akteure in ihren sozialen Handlungsprozessen unterschiedlich – ex ante nicht definierbar – reagieren können. Insgesamt ist es Clemens und Cook mit ihrem Modell gelungen, potentielle Bedingungsfaktoren des institutionellen Wandels unter dem einheitlichen sozial-
4.2 Bedingungen des institutionellen Wandels
197
theoretischen Dach der Strukturationstheorie zu diskutieren. Sie vermögen es, die „complex topography of institutional change“57 – repräsentiert durch die Vielfalt möglicher struktureller Bedingungen sowie die wechselseitige Abhängigkeit der regelbezogenen und der ressourcenbezogenen Bedingungen – darzulegen. Was sie in ihrer Abhandlung allerdings weniger deutlich herausgearbeitet haben, ist die Bedeutung ressourcenbezogener Bedingungen bereits als potentieller Auslöser institutioneller Wandelprozesse. Diese gilt es daher im Weiteren noch auszuführen, bevor ein Gesamtmodell an Bedingungsfaktoren vorgelegt werden kann. Dass Ressourcen bereits als Auslöser institutionellen Wandels denkbar sind, wird von Clemens und Cook zumindest implizit angesprochen. So betrachten sie insofern einen ressourcenbedingten Auslöser, als sie diejenigen Akteure, die am Rande sozialer Netzwerke positioniert sind und sich zudem in verschiedenen Netzwerken bewegen, als die wahrscheinlichen Initiatoren von Wandelbemühungen – als institutionelle Unternehmer – ansehen. Man kann nun daran anknüpfend argumentieren, dass das Handlungswissen dieser Akteure – das aufgrund ihrer Verankerung in unterschiedlichen Netzwerken ein relativ reichhaltiges Repertoire an institutionalisierten Praktiken und diesbezüglichen Regeln umfasst – eine Ressource darstellt, die sie zwecks Veränderung der in einem Netzwerk bestehenden Institutionen einzusetzen vermögen. In diesem Falle lässt sich von einem ressourcenbedingten Auslöser institutionellen Wandels ausgehen, wobei das Wissen um soziale Praktiken entsprechend als Ressource begriffen wird.58 Dass Veränderungen in der Herrschaftsstruktur institutionelle Wandelprozesse nicht nur in ihrem weiteren Verlauf zu beeinflussen vermögen, sondern bereits auszulösen imstande sind, lässt sich strukturationstheoretisch in folgender Weise erörtern. Wie Giddens dargelegt hat, können verschiedenartige Positionen in der Herrschaftsstruktur – kurz: Machtdivergenzen – sowie deren kontinuierliche Veränderlichkeit im Zuge sozialer Handlungsprozesse den Akteuren Anlass dazu bieten, sich anders zu verhalten, als die gegebenen Institutionen es erwarten ließen. Eine den gegebenen Institutionen entgegenstehende Positionierung der Akteure kann so gesehen primär ressourcenbedingt motiviert sein, mithin durch Veränderungen in der Ressourcenverteilung hervorgerufen werden. Dies lässt sich am Beispiel von Wissensvorsprüngen verdeutlichen. Dazu sei angenommen, dass Akteure, die innerhalb der Herrschaftsstruktur bisher als weniger machtvoll positioniert galten, einen Wissenszuwachs erlangt haben, der ihnen gegenüber 57 58
Clemens/Cook [1999] S. 450. Vgl. Abschnitt 3.2.2 der vorliegenden Arbeit zum Zusammenhang zwischen Regeln und Ressourcen.
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4 Strukturationstheoretische Konzeption institutionellen Wandels
der machtvollen Elite eine vorteilhaftere Position einbringt. Damit verfügen sie über zusätzliche Machtmittel, um ihrer Handlungsmächtigkeit Ausdruck zu verleihen.59 Vor diesem Hintergrund können sie sich dazu verleitet sehen, ihr neues Wissen durch die Entwicklung neuartiger Handlungsweisen einzubringen, die von den institutionalisierten Praktiken abweichen. Geht man nun davon aus, dass das Handlungsvermögen der bisher als machtvoll geltenden Akteure gerade auf diesen Institutionen beruht, und ihnen daher an deren Aufrechterhaltung gelegen ist, können konfliktäre Auseinandersetzungen über legitime (das heißt sinnhafte und angemessene) Handlungsweisen die Folge sein, im Zuge derer sich einige der Akteure geneigt sehen, sich entgegen der bisherigen Institutionen zu positionieren. Im geschilderten Fall lässt sich also ein ressourcenbedingter Auslöser institutionellen Wandels feststellen. Insgesamt lässt sich nun ein strukturationstheoretisch fundiertes Modell ableiten, das die Bedingungsfaktoren des institutionellen Wandels gesamthaft abzubilden vermag:
STRUKTURELLE BEDINGUNGEN DES INSTITUTIONELLEN WANDELS
ressourcenbezogen
regelbezogen
HETEROGENITÄT UND WIDERSPRUCH
Signifikation Interpretationsschemata hinsichtlich sinnhaften Verhaltens sind heterogen und/oder widersprüchlich
Abbildung 8: 59
Legitimation Erwartungen hinsichtlich normativ angemessenen Verhaltens sind heterogen und/oder widersprüchlich
MACHTDIVERGENZEN
Herrschaft
Ungleiche Verteilung von Machtmitteln
Strukturationstheoretisches Modell institutioneller Wandelbedingungen
Vgl. hierzu die bereits zitierte Studie von Lounsbury [2001], in der er den Machtzuwachs bestimmter Akteurgruppierungen aufgrund neuen Wissens beschreibt, die diese dazu nutzen, einen institutionellen Wandel anzustoßen. Siehe auch Oliver [1992] S. 569.
4.2 Bedingungen des institutionellen Wandels
199
4.2.3 Anmerkungen zum Erklärungsbeitrag des Modells Abschließend sei der handlungsleitenden Frage nachgegangen, ob das hier vorgestellte strukturationstheoretische Modell seiner Rolle als integrierendes Rahmenkonzept gerecht zu werden vermag. Dies soll unter Rückgriff auf die im zweiten Kapitel dargelegten Bedingungsfaktoren institutionellen Wandels ermessen werden. Dort wurden auslösende Bedingungsfaktoren als mögliche Quellen institutionellen Wandels von solchen unterschieden, die im weiteren Verlauf eines Wandelprozesses von Bedeutung sind. In Anlehnung an Oliver wurden zunächst drei Kategorien auslösender Bedingungen voneinander abgegrenzt: funktionale, politische und soziale Bedingungsfaktoren.60 Wie nachfolgend zu zeigen ist, lassen sich die von Oliver unterschiedenen Bedingungsfaktoren in das strukturationstheoretische Modell überführen, indem angenommen wird, dass sie über Veränderungen in den strukturellen Handlungsbedingungen wirksam werden: Während die funktionalen Bedingungsfaktoren über ein Anzweifeln der Sinnhaftigkeit und Angemessenheit einer Institution und damit primär über Regelveränderungen wirken, wirken die politischen Bedingungsfaktoren über Veränderungen in der Ressourcenverteilung; die sozialen Bedingungsfaktoren wirken über Veränderungen sowohl in den Regeln als auch in den Ressourcen. Dies gilt es in aller Kürze zu betrachten. Die funktionalen Auslöser wirken laut Oliver darüber, dass die Funktion einer institutionalisierten Praktik in Zweifel gezogen wird. So kann technischer Fortschritt dazu führen, dass Sinnhaftigkeit und Angemessenheit der gegebenen institutionalisierten Praktiken angezweifelt werden. Dies bedeutet letztlich, dass die mit ihnen verbundenen sinnkonstituierenden und normativen Regeln hinterfragt werden. Hier liegt der Auslöser einer veränderten Positionierung in den regelbezogenen strukturellen Handlungsbedingungen beziehungsweise in einem Hinterfragen der bestehenden Signifikations- und Legitimationsstrukturen. Dagegen vermögen die von Oliver als politisch bezeichneten Bedingungsfaktoren institutionellen Wandel darüber auszulösen, dass Akteure aufgrund von Machtverschiebungen im bestehenden Netzwerk auf kritische Distanz zu den vorherrschenden Institutionen gehen. So begründen neuartige Abhängigkeitsverhältnisse eine Veränderung der Herrschaftsstruktur, was zu einer den gegebenen Institutionen entgegenstehenden Positionierung verleiten kann. Der Auslöser des Wandels liegt in diesem Fall in den ressourcenbezogenen strukturellen Handlungsbedingungen. Schließlich betrifft die von Oliver als sozial bezeichnete Kategorie sowohl ressourcenbezogene als auch regelbezogene Bedingungen. Als einen möglichen sozialen Auslöser behandelt Oliver beispielsweise die Zunahme 60
Vgl. Abschnitt 2.2.2.
200
4 Strukturationstheoretische Konzeption institutionellen Wandels
sozialer Fragmentierung. Dies bedeutet nichts anderes als ein Aufbrechen sozialer Netzwerkstrukturen, im Zuge derer sich nicht nur die Machtverhältnisse unter den Akteuren verändern, sondern zugleich der Konsens hinsichtlich der Sinnhaftigkeit und Legitimität der gegebenen Institutionen wegbricht. Ressourcenund Regelveränderungen wirken in diesem Fall gleichermaßen als mögliche auslösende Bedingungen eines institutionellen Wandels. Während sich die Oliver’schen Auslöser institutioneller Wandelprozesse offensichtlich unter das strukturationstheoretische Modell subsumieren lassen, steht noch offen, inwieweit dies für die weiteren Bedingungen des institutionellen Wandels ebenfalls Geltung beanspruchen kann. Institutioneller Wandel ist ein Prozess, der daran gebunden ist, dass neue oder veränderte soziale Praktiken in zahlreichen, räumlich und zeitlich voneinander entfernten sozialen Handlungsprozessen umgesetzt werden, diese Praktiken mithin eine gewisse Verbreitung erfahren. Die Bedingungen, die eine Verbreitung neuartiger oder veränderter Praktiken unterstützen können, wurden im zweiten Kapitel unter den Gesichtspunkten Theoretisierung, organisationsspezifische soziale Bedingungen, Macht und makrosoziale Bedingungen erörtert. Es lässt sich zeigen, dass sich diese ebenfalls anhand des strukturationstheoretischen Modells regel- und ressourcenbezogener struktureller Bedingungen betrachten lassen. Dies gilt ganz zweifellos für die im Zusammenhang mit Macht diskutierten Ausführungen: Die Macht von Akteuren zeigt sich gemäß des organisationssoziologischen Institutionalismus im Ausmaß der ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen. Macht wird damit vergleichbar zum relationalen Machtverständnis der Strukturationstheorie definiert. Eine gegebene Herrschaftsstruktur spiegelt danach die ressourcenbezogenen strukturellen Bedingungen wider, die die Machtposition der Akteure begründen und ihre Fähigkeit beeinflussen, sich für eine weitere Verbreitung neuer Praktiken einzusetzen beziehungsweise deren weitere Verbreitung zu behindern. Auch Theoretisierung verweist unmittelbar auf Aspekte, die sich anhand des strukturationstheoretischen Modells erfassen lassen, bezieht sich Theoretisierung doch auf eine Veränderung der regelbezogenen strukturellen Handlungsbedingungen. Insoweit Theoretisierung auf den Prozess der Legitimierung abstellt, wird damit der Aufbau eines gemeinschaftlichen Handlungswissens über die Vorteilhaftigkeit neuer Praktiken angezeigt. Es gilt, Veränderungen dessen zu bewirken, was Akteure als sinnhaftes und angemessenes Handeln ansehen. Damit zielt Theoretisierung auf eine Veränderung der vorherrschenden Signifikations- und Legitimationsstrukturen im kollektiven Wissensvorrat der Akteure ab: Es gilt, das gemeinschaftliche Handlungswissen über die (sinnkonstituierenden und normativen Aspekte von) Regeln sozialen Handelns mit den neuen Praktiken zu verändern.
4.2 Bedingungen des institutionellen Wandels
201
Schließlich lassen sich auch die unter organisationsspezifischen und makrosozialen Bedingungen behandelten Aspekte als strukturelle Bedingungen des institutionellen Wandels im Sinne des hier vorgelegten strukturationstheoretischen Modells begreifen, wobei die einen die Mesoebene einer Organisation, die anderen die Makroebene der Gesellschaft betreffen.61 So lässt sich zunächst für die organisationsspezifischen sozialen Bedingungen festhalten, dass Organisationen üblicherweise spezifische Regeln sozialen Handelns herausbilden (das heißt organisationsspezifische Signifikations- und Legitimationsstrukturen), die entweder bloße Verfeinerungen gesellschaftlicher Regeln darstellen oder aber von diesen abweichen und sogar im Widerspruch zu diesen stehen können. Abgesehen davon, dass hierin zugleich ein Auslöser institutionellen Wandels liegen kann, stellen diese regelbezogenen organisationsspezifischen Bedingungen einen Erklärungsparameter hinsichtlich des weiteren Verlaufs institutioneller Wandelprozesse dar: Sie prägen die Sicht der Dinge der Organisationsmitglieder – welche Aspekte ihrer Umwelt sie in welcher Weise wahrnehmen, interpretieren und sich zu eigen machen. Neben den mit den organisationsspezifischen Signifikations- und Legitimationsstrukturen gegebenen regelbezogenen strukturellen Handlungsbedingungen finden sich zugleich ressourcenbezogene Bedingungen in Gestalt der organisationsspezifischen Herrschaftsstrukturen. Welche neuartigen Praktiken sich durchzusetzen und insoweit einen Wandel der bestehenden Institutionen zu begründen vermögen, wird auch davon abhängen, welche Einstellung die machtvollen Akteure der Organisation den neuen Praktiken entgegenbringen. Insgesamt äußern sich die organisationsspezifischen sozialen Bedingungen letztlich als spezifische regel- und ressourcenbezogene strukturelle Handlungs-bedingungen, die beeinflussen, inwieweit die Organisationsmitglieder neuartige Praktiken zu übernehmen fähig und bereit sind, die die bestehenden Institutionen verändern oder hinfällig werden lassen. Die im zweiten Kapitel betrachteten makrosozialen Bedingungen – die Einbettung in einen größeren strukturellen Kontext, die Netzwerkstruktur und das Verhältnis der im Handlungsmoment gegebenen Institutionen –, stellen letztlich strukturelle Bedingungen des Handelns dar, die auf einer gesellschaftlichen Ebene begründet werden. Aus Sicht des hier dargelegten strukturationstheoretischen Modells werden damit regel- und ressourcenbezogene Bedingungen gleichermaßen angesprochen. So wird mit der Einbettung in einen größeren strukturellen Kontext darauf verwiesen, was Giddens unter dem Gesichtspunkt der Entbettung diskutiert hat: Lokales Handeln unterliegt einer Vielzahl von (möglicherweise 61
Gesellschaft wird hier nicht im Sinne eines national begrenzten sozialen Raums verstanden, sondern generell als Bezeichnung eines makrosozialen Raums, der größer als ein organisationsspezifischer ist. Vgl. zu den verschiedenen Betrachtungsebenen die einleitenden Ausführungen in Abschnitt 4.3.3.
202
4 Strukturationstheoretische Konzeption institutionellen Wandels
widersprüchlichen) Regeln, die außerhalb der für den Einzelnen erreichbaren Kontexte entstanden sind. Mit der zunehmenden Vernetzung räumlich und sozial weit voneinander entfernter Kontexte steigt auch die Verbreitung von Regeln mit einem hohen Allgemeinheitscharakter. Es finden sich zunehmend Regeln, die in verschiedenen Kontexten oder in verschiedenen sozialen Systemen zur Anwendung gelangen. Solchermaßen verbreitete Regeln weisen einen höheren Institutionalitätsgrad auf.62 Dies kann sich wiederum als eine Hürde in der Verbreitung neuartiger Praktiken erweisen, sofern die Übernahme der neuen Praktiken eine Veränderung dieser allgemeingültigen, in hohem Maße institutionalisierten Regeln implizieren würde. Die Einbettung in einen größeren strukturellen Kontext geht also mit regelbezogenen strukturellen Bedingungen – hier in Form des Allgemeinheits- oder Institutionalitätscharakters der gegebenen Regeln – einher, die den weiteren Verlauf institutioneller Wandelprozesse zu beeinflussen vermögen. Weiterhin zählt zu den makrosozialen Bedingungen zugleich die vorherrschende Netzwerkstruktur: Welche Akteure der Gesellschaft Beziehungen untereinander aufweisen und in welchen Abhängigkeitsverhältnissen sie zueinander stehen, hat Auswirkungen darauf, welche neuartigen Praktiken sich durchzusetzen vermögen. Die Abhängigkeitsverhältnisse drücken sich in einer asymmetrischen Ressourcenverteilung aus, was aus Sicht der Strukturationstheorie die Herrschaftsstruktur widerspiegelt. Die Herrschaftsstrukturen der Gesellschaft wirken insoweit als ressourcenbezogene strukturelle Handlungsbedingungen, die den weiteren Verlauf institutioneller Wandelprozesse zu beeinflussen vermögen und damit einen weiteren Erklärungsparameter in einer entsprechenden Analyse darstellen. Im Ergebnis scheint sich auch im Rückblick auf die im zweiten Kapitel erörterten Bedingungsfaktoren zu bestätigen, dass die Strukturationstheorie ein theoretisches Rahmenkonzept zur Verfügung stellt, anhand dessen sich verschiedene Bedingungen des institutionellen Wandels abbilden und erheben lassen. Man mag daher die eingangs gestellte Frage nach dem Beitrag der Theorie zu einer „reichhaltigeren“ Untersuchung durchaus befürwortend beantworten, lassen sich doch die von verschiedenen Studien separat untersuchten Bedingungsfaktoren anhand eines strukturationstheoretisch fundierten Modells zusammenhängend erfassen. Das Modell vermag daher die empirische Untersuchung realer Wandelprozesse systematisch zu unterstützen, indem ein Katalog potentieller Bedingungsfaktoren des institutionellen Wandels bereitgestellt wird.
62
Vgl. Abschnitt 3.1.2.
4.3 Theoretische Herausforderungen und der Beitrag der Strukturationstheorie
203
4.3 Theoretische Herausforderungen und der Beitrag der Strukturationstheorie In der Einleitung zum vierten Kapitel wurde argumentiert, dass der Erkenntnisbeitrag von empirischen Untersuchungen institutioneller Wandelprozesse wesentlich von dem sozialtheoretischen Forschungsparadigma geprägt wird, auf deren Grundlage das theoretische Konzept der Untersuchung fußt: Es beeinflusst, inwieweit sich jene theoretischen Herausforderungen angehen lassen, wie sie im zweiten Kapitel unter den Gesichtspunkten des Akteurverständnisses, der Prozessperspektive und des Mikro-Makro-Zusammenhangs dargelegt wurden. Nachfolgend gilt es nun, den diesbezüglichen Beitrag der Strukturationstheorie herauszuarbeiten. Dazu werden erste konzeptionelle Lösungen zu entwickeln sein: ein strukturationstheoretisches Akteurmodell, das die Handlungsmächtigkeit von Akteuren angesichts gegebener Institutionen konkretisiert, ein strukturationstheoretischer Institutionenbegriff, der prozessorientiert angelegt ist, und schließlich die strukturationstheoretische Idee der Positionierung, anhand derer sich das Zusammenspiel zwischen den lokalen Handlungskontexten und den Institutionen konzipieren lässt. 4.3.1 Akteurkonzeption Welche Bedeutung kommt Akteuren in institutionellen Wandelprozessen zu? Diese Frage ist in der Sozialforschung weiterhin von hohem Interesse, betrachtet man die anhaltenden wissenschaftlichen Diskurse über eine angemessene theoretische Konzeption von Akteuren.63 So hält es Sztompka für eine der zentralen ontologischen Herausforderungen der sozialtheoretischen Forschung, Akteure derart zu konzipieren, dass deren Rolle hinsichtlich der Existenz und des Wandels von Institutionen ebensowenig voluntaristisch überzeichnet wie deterministisch kleingehalten wird.64 Sind Akteure aktive Subjekte, die fähig sind, die institutionellen Wandelprozesse vollständig in ihrem Sinne zu steuern? Oder passt eher das Bild passiver Objekte, die sich den gegebenen Institutionen zu fügen haben, sich ihnen lediglich anpassen können? Hier stehen sich zwei prominente sozialtheoretische Akteurauffassungen weiterhin gegenüber: eine voluntaristische Sichtweise freibestimmter Individuen einerseits, wie sie von Individualisten vertreten wird, und eine Sichtweise strukturdeterminierter Akteure andererseits, die holistische Ansätze auszeichnet. Während die einen Akteure als 63 64
Vgl. beispielhaft die Monografie von Barnes [2000]. Vgl. Sztompka [1991] S. 53 f.
204
4 Strukturationstheoretische Konzeption institutionellen Wandels
autonome, freibestimmte Individuen ansehen, deren Handlungsmotivation auf persönliche Verhaltensmerkmale oder auf eine individuelle Nutzenmaximierung zurückzuführen ist, stellen die anderen auf die Determiniertheit sozialen Handelns ab; die Handlungsmotivation liegt danach im unausweichlichen Konformitätsdruck der Institutionen begründet: „As usual, the question „What is the character of human action?“ (and consequently „What are the traits of an actor?“) has engendered two opposite answers. One typical standpoint claims that action is basically reactive; adapting or responding to stimuli (pressures, requirements, expectations) coming from the outside; human conduct is released by [social context]. This is countered by those who believe that „Much of human behavior does not have the character of things happening to a person. Instead it consists of things that people have made happen for various reasons“ (...). Thus the opposite standpoint claims that human action is constructive, self-initiated, actively coping with the [social context] (defining, interpreting, selecting incoming stimuli) and, in effect, shaping the outside world.“65
Nun kann es nachfolgend nicht darum gehen, sich weitergehend mit diesen widerstreitenden Forschungspositionen auseinanderzusetzen. Die Grenzen der einen wie auch der anderen Position in der Untersuchung institutioneller Wandelphänomene wurden bereits ausführlich an anderer Stelle der vorliegenden Arbeit diskutiert. Vielmehr steht im Weiteren im Vordergrund, die diesbezügliche Relevanz der strukturationstheoretischen Akteurkonzeption herauszuarbeiten, ist Giddens doch mit dem Anspruch angetreten, hier jegliche Form der Einseitigkeit zu vermeiden. Da die Vorzüge der Giddens’schen Konzeption jedoch nachvollziehbarer werden, sofern man sich die Grenzen individualistisch und holistisch geprägter Akteurauffassungen in Erinnerung ruft, seien eingangs wenigstens die Ergebnisse der Diskussion wiederholt. Insoweit Institutionen im Sinne des Individualismus als durch Individuen gestaltbare Entitäten gelten, lassen sich zwei bedeutsame Überlegungen nicht angemessen abbilden. Einerseits wird das definierende Merkmal von Institutionen – ihre „taken-for-grantedness“ – weitgehend ausgeblendet. Die Institutionalität sozialer Praktiken äußert sich jedoch gerade erst im gewohnheitsmäßigen, handlungspraktischen, eben nicht diskursiv bewussten Umgang mit ihnen, was in einem entsprechend differenzierten Akteurverständnis Ausdruck gewinnen muss. Andererseits erfahren die natürlichen und strukturellen Handlungsgrenzen menschlicher Subjekte in der Akteurauffassung individualistischer Ansätze kaum Berücksichtigung – in den Worten der Strukturationstheorie unter anderem ihre
65
Sztompka [1991] S. 63.
4.3 Theoretische Herausforderungen und der Beitrag der Strukturationstheorie
205
„bounded knowlegdeability“ und die „capability constraints“ –,66 was angesichts des raumzeitlich weit ausgreifenden Charakters von Institutionen fraglich erscheinen muss. So kann der Einzelne nur mit einer begrenzten Vielfalt an Institutionen vertraut sein, kann daher nicht völlig autonom und beliebig in der Auswahl alternativer Praktiken agieren. Ebensowenig vermag er jegliche strukturelle Bedingungen seines Handelns zu überblicken, oder gar das Handeln all’ jener zu kontrollieren, die ebenfalls zur Aufrechterhaltung einer Institution beitragen. Während die Grenzen des Individualismus also in einer Überbetonung der Handlungsmächtigkeit von Akteuren liegen, zeigen sie sich in holistischen Ansätzen demgegenüber in einer deterministischen Perspektive, die die Handlungsmächtigkeit nur ungenügend abzubilden vermag. Das Handeln der Akteure gilt hier nicht als selbstbestimmt, sondern vollzieht sich innerhalb des durch Institutionen gegebenen Rahmens struktureller Bedingungen. In strenger Hinsicht handeln Akteure marionettengleich, gleichsam programmiert durch ihre Sozialisation. Der Dauerhaftigkeit von Institutionen lässt sich auf diese Weise vielleicht noch näherkommen – im Sinne eines „die Akteure können gar nicht anders“. Problematisch wird dieses Akteurmodell jedoch dann, wenn der Wandel von Institutionen erklärt werden soll. Hier muss die Möglichkeit eines nicht bloß mechanistischen oder programmierten Umgangs mit den gegebenen Institutionen angedacht werden, gelten Institutionen doch als Ergebnis sozialer Handlungsprozesse. Die Möglichkeit nicht institutionenkonformen Handelns muss generell Berücksichtigung finden können, geht institutioneller Wandel doch auch auf einen veränderten, eben nicht konformistischen oder gewohnheitsmäßigen Umgang mit den Institutionen innerhalb der sozialen Handlungsprozesse zurück. Eine aussichtsreiche theoretische Auseinandersetzung mit dem Phänomen des institutionellen Wandels steht und fällt daher mit einem ausgeglichenen Akteurmodell. Anhand einseitiger voluntaristischer und deterministischer Akteurauffassungen, wie sie von Individualismus und Holismus vertreten werden, lässt sich die zentrale Fragestellung, die im zweiten Kapitel im Zusammenhang mit der „paradox of embedded agency“ diskutiert wurde, nicht beantworten: „How can one view actors as being embedded in institutional frameworks and simultaneously provide space for at least a selective transcendence of these cultural frames?“67
Giddens eigene Antwort liegt darin, Akteure insofern als handlungsmächtig anzusehen, als sie in soziale Kontexte eingebettet sind und dementsprechend am allgemeinen Wissensvorrat um soziale Praktiken partizipieren. Desgleichen sind 66 67
Vgl. zu den Handlungsgrenzen aus Sicht der Strukturationstheorie erneut Abschnitt 3.3.4. Beckert [1999] S. 789.
206
4 Strukturationstheoretische Konzeption institutionellen Wandels
sie transformationsfähig, weil sie generell als fähig gelten, einen Unterschied herzustellen, also den Verlauf sozialer Handlungsprozesse zu beeinflussen und damit auf den Gang der Welt veränderlich einzuwirken. Doch zeigt ihre Handlungmächtigkeit zugleich Grenzen, auch weil der Umgang mit den Praktiken zumeist weniger bewusst und strategisch gesteuert abläuft. So zeichnet sich ihre Handlungsmächtigkeit gerade dadurch aus, dass sie sich im Handeln – und das heißt überwiegend handlungspraktisch – realisiert. In ihren routinehaften Alltagsprozessen handeln Akteure institutionengemäß, wenden mithin institutionalisierte Praktiken unhinterfragt und gewohnheitsmäßig an, ohne darüber bewusst zu reflektieren. Die unbeabsichtigten Konsequenzen ihres Handelns mit Blick auf die Praktiken bleiben ihnen dann üblicherweise verborgen. Und dennoch besitzen sie die Fähigkeit zur „selective transcendence“, also unter bestimmten Bedingungen die Institutionen nicht rein gewohnheitsmäßig zu reproduzieren, sondern über die institutionalisierten Praktiken nachzudenken und schließlich mit einer andersartigen strategischen Positionierung einen Unterschied herzustellen.68 Diese generellen Giddens’schen Überlegungen zur Konzeption von Akteuren werden im Folgenden die Grundlage dafür bilden, die Aspekte menschlicher Handlungmächtigkeit gegenüber Institutionen zu konkretisieren. Zuvor ist in aller Kürze darauf einzugehen, auf welche Weise Giddens die Überwindung individualistischer und holistischer Einseitigkeit erreicht: Es gelingt ihm mit Hilfe einer praxistheoretischen Akteurkonzeption. Veranschaulichen lässt sich diese anhand der sogenannten Dezentrierung des Subjekts, die ein wesentliches Theorem der strukturationstheoretischen Akteurkonzeption darstellt.69 4.3.1.1 Dezentrierung des Subjekts als zentrales Theorem der Akteurkonzeption Als Sozialtheorie ist die Strukturationstheorie nicht an unabhängigen Individuen, am Menschen als einem freibestimmten Subjekt, interessiert. Wenngleich sich das menschliche Wesen aus verschiedensten Blickwinkeln analysieren lässt, stehen im Fokus des Sozialtheoretikers ausschließlich diejenigen Facetten des Menschen, die seine Einbindung in soziale Gesamtheiten betreffen:
68 69
Welche Bedingungen dies sein können, wurde bereits ausführlich unter Darlegung des strukturationstheoretischen Modells an Bedingungsfaktoren diskutiert (vgl. Abschnitt 4.2.2). Vgl. diesbezüglich auch Walgenbach/Meyer [2008] S. 131 ff.
4.3 Theoretische Herausforderungen und der Beitrag der Strukturationstheorie
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„Thus a sociologist will always look at an individual from an external perspective of wider, super-individual or inter-individual totalities.“70
Individuen spielen mithin auch in der Strukturationstheorie allein als in soziale Strukturen eingebettete Wesen („social creatures“)71 eine Rolle. Ihre Handlungsmächtigkeit wird dabei strukturell begrenzt und ermöglicht durch ihr Handlungswissen (Regelaspekt) und durch ihr Handlungsvermögen (Ressourcenaspekt). Sie finden als Träger eines Wissens um soziale Praktiken Berücksichtigung. Dies entspricht einer Dezentrierung des Subjekts, wie sie für Praxistheorien im Allgemeinen typisch ist: „Für die Praxistheorie sind die Subjekte in allen ihren Merkmalen Produkte historisch und kulturell spezifischer Praktiken, und sie existieren nur innerhalb des Vollzugs von Praktiken.“72
Hier zeigt sich die Abgrenzung zur voluntaristischen Sichtweise des Individualismus, mit der die Autonomie, die Fähigkeit der Akteure zur beliebigen Gestaltung der Praktiken oder Institutionen, sowie als primäre Handlungsmotivation die Eigeninteressiertheit hervorgehoben werden. Zwar stellen Kreativität und ein grundsätzlicher Freiheitsgrad im Umgang mit Institutionen auch für einen Praxistheoretiker durchaus zu berücksichtigende Aspekte menschlicher Handlungsmächtigkeit dar: „Practice thinkers usually acknowledge the structuring and coordinating import of agreements, negotiations, and other interactions, as well as the undergirding significance of skills and interpretations.“73
Aus Sicht des Praxistheoretikers sind Akteure sehr wohl fähig, sich im lokalen Kontext nichtinstitutionengemäß zu verhalten. Dennoch geht der Freiheitsgrad der Akteure nicht derart weit, dass sie damit die Praktiken und Institutionen beliebig gestalten könnten. Eine vollständige strategische Steuerung makrosozialer Phänomene entzieht sich dem Wirken einzelner Akteure.74
70 71 72 73 74
Sztompka [1991] S. 62. Barnes [2000] S. 64. Reckwitz [2003] S. 296. Tsoukas ([2003] S. 612) spricht diesbezüglich von einem „ontological shift from the individual to the individual-embedded-in-practice“. Schatzki [2001] S. 5. Dass die Strukturationstheorie nicht individualistisch argumentiert, belegen auch die Ausführungen zu den natürlichen und strukturellen Handlungsgrenzen von Akteuren in Abschnitt 3.3.4.
208
4 Strukturationstheoretische Konzeption institutionellen Wandels
Giddens’ kritische Haltung gegenüber dem Individualismus bedingt im Gegenzug nun allerdings keine strukturdeterministische Perspektive menschlicher Akteure. Mit dem Theorem der Dezentrierung des Subjekts schließt sich Giddens zwar den Holisten in ihrer Kritik an der allzu voluntaristischen Akteurperspektive der Individualisten an. Der Status von Subjekten als Akteuren ist insoweit an ihre soziale Einbettung gebunden.75 Damit werden sie als Träger eines kollektiven Wissensbestands um soziale Praktiken angesehen, wobei es hier nicht um ein „praxisenthobenes“ personenspezifisches Wissen – als Bestandteil oder Eigenschaft von Personen – geht, sondern immer nur um ein praxisbezogenes Wissen, das sich nur in Zuordnung zu sozialen Praktiken verstehen und rekonstruieren lässt.76 Giddens distanziert sich allerdings ebenso von dem holistischen Akteurverständnis, was nicht nur die bereits genannte Annahme einer generellen Transformationsfähigkeit widerspiegelt. Darüber hinaus weist das strukturationstheoretische Akteurverständnis zwei weitere wesentliche Unterschiede zum verbreiteten Akteurmodell im Holismus auf. Einerseits kritisiert Giddens die zumeist konformistische Tendenz holistischer Auffassungen: Akteure agieren danach unter denselben makrosozialen Strukturen und weisen entsprechend ein einheitliches Wissen um institutionengerechtes Handeln auf. Individuelle Unterschiede im Erfahrungshintergrund spielen in dieser Hinsicht keine Rolle. Giddens teilt hingegen die Einsicht der Praxistheoretiker, wonach sich Akteure als Träger einzigartiger Wissensbündel begreifen und dadurch in ihrer Einzigartigkeit konzipieren lassen. Jeder Akteur wird dabei insofern als ein Individuum begriffen, als er ein spezifisches Bündel an handlungspraktischem Wissen trägt, das von seinem einzigartigen Erfahrungshorizont geprägt ist. Der individuelle Lebensweg bestimmt, über welche sozialen Praktiken handlungspraktische Wissensbestände existieren.77 Akteure erscheinen damit gewissermaßen als heterogene Wissensbündel, die unterschiedliche Wissensbestände sozialer Praktiken inkorporiert haben und in ihrem alltäglichen Lebensvollzug anwenden.78 Holistisch geprägte Akteurkonzeptionen wertet Giddens auch in einer zweiten Hinsicht als problematisch: die fehlende Berücksichtigung verschiedener Bewusstseinsebenen.79 Im Sinne einer holistischen Forschungsperspektive erscheint das Handeln von Akteuren gewissermaßen als durch die sozialen Strukturen und Institutionen programmiert. Das Bewusstsein der Akteure ist nicht von 75 76 77 78 79
Vgl. Schatzki [2001] S. 11. Vgl. Reckwitz [2003] S. 292. Vgl. Giddens’ Ausführungen zu „time-space paths“, Giddens [1984] S. 112 f. und 132 ff. Vgl. Reckwitz [2003] S. 296. Vgl. Giddens [1986] S. 537.
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Belang. Dass Akteure jedoch fähig sind, sich ihr vorwiegend handlungspraktisch bewusst verwandtes Wissen um sozial angemessenes (normatives) und sinnhaftes (sinnkonstituierendes) Handeln diskursiv bewusst zu machen, bleibt im deterministischen Akteurmodell unberücksichtigt. Wird allerdings die Fähigkeit der Akteure ausgeblendet, mit ihren strukturellen Handlungsbedingungen in verschiedenartiger Weise umzugehen, fehlt ein wesentlicher Bestandteil der sozialen Handlungssteuerung, der Aufschluss über die Grundlagen der Reproduktion und des Wandels von Institutionen zuzulassen verspricht. Daher legt Giddens seinem Akteurmodell eine Differenzierung von Bewusstseinsebenen – diskursiv und handlungspraktisch bewusst sowie unbewusst – zugrunde. Dies ermöglicht es ihm, sowohl die routinehafte Orientierung an den mit den Kontexten wechselnden strukturellen Bedingungen als auch den „hinterfragenden“ Umgang mit ihnen zu konzipieren. Während sich ersteres handlungspraktisch bewusst im Zuge der routinemäßigen Handlungssteuerung vollzieht, setzt zweiteres die Fähigkeit zur Rationalisierung des Handelns – hier verstanden als eine diskursiv bewusste Reflexion über die strukturell geprägten Handlungsgründe – voraus. Beides sind Bestandteile des „stratification model“, mit dem Giddens die generellen Handlungsgründe der Akteure praxistheoretisch zu begründen sucht.80 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Giddens den Holisten insofern folgt, als er ebenfalls von einer Dezentrierung des Subjekts ausgeht, dieses Theorem dann allerdings in einer abweichenden – einer für Praxistheorien charakteristischen Weise – auslegt. Damit werden Akteure zwar durchaus als in soziale Strukturen eingebettet begriffen. Als Träger eines kollektiven Wissensvorrats an sozialen Praktiken sind sie den Strukturen jedoch nicht hilflos ausgeliefert, sondern vermögen Einfluss zu nehmen, werden diese doch erst mit der Ausübung der Praktiken verwirklicht. Zugleich wird anhand der Unterscheidung verschiedener Bewusstseinsebenen konzipierbar, dass die Handlungsmächtigkeit der Akteure von einer rein routinehaften Reproduktion hin zu einer diskursiv bewussten Mobilisierung von Praktiken reicht. Beides begründet die generelle Transformationsfähigkeit der Akteure gegenüber den strukturellen Verhältnissen: einerseits als nicht intendiertes Ergebnis aus dem handlungspraktisch bewussten routinehaften Vollzug der Praktiken, andererseits als intendiertes Ergebnis einer diskursiv bewusst gewählten veränderten oder neuartigen Positionierung (vgl. Abb. 9).
80
Vgl. Abschnitt 3.3.2.3.
210
4 Strukturationstheoretische Konzeption institutionellen Wandels
INSTITUTIONEN (institutionalisierte soziale Praktiken)
“BOUNDED KNOWLEDGEABILITY“ zumeist handlungspraktisch bewusste Reproduktion & “CAPABILITY CONSTRAINTS“ begrenztes Handlungsvermögen
“KNOWLEDGEABILITY“ Akteure als Träger eines kollektiven Wissensvorrats an sozialen Praktiken und der mit ihnen verbundenen strukturellen Merkmale
AKTEURE (heterogene Wissensbündel)
Abbildung 9:
Praxistheoretische Akteurkonzeption der Strukturationstheorie
4.3.1.2 Aspekte der Handlungsmächtigkeit gegenüber Institutionen „[J]ust as consciousness is always consciousness of something (...), so too is agency always agency toward something, by means of which actors enter into relationship with surrounding persons, places, meanings, and events.“81
Emirbayer und Mische verweisen hiermit auf einen wesentlichen Aspekt, den auch das strukturationstheoretische Akteurverständnis auszeichnet: Soziale Handlungsmächtigkeit erwächst aus einem am Kontext orientierten Einsatz sozialer Praktiken. Akteure nehmen sich gegenseitig erst dann als kompetente Mitglieder ihrer Gesellschaft wahr (und treten damit „into relationship with surrounding persons“), soweit sie mit den gewählten Praktiken einen Bezug zu den materiellen („places“), strukturellen („meanings“) und situativen („events“) Gegebenheiten des jeweiligen Handlungskontextes dokumentieren. Dies impliziert 81
Emirbayer/Mische [1998] S. 973.
4.3 Theoretische Herausforderungen und der Beitrag der Strukturationstheorie
211
eine generelle Kontextbezogenheit des kollektiven Handlungswissens. Der Vorgang, der den Aufbau des kontextbezogenen gesellschaftlichen Wissensvorrats beschreibt, wird in Anlehnung an Berger und Luckmann als Typisierung bezeichnet. Das Wissen um institutionalisierte soziale Praktiken ist typisiert. Es ist nicht nur an Typen von Kontexten, sondern zugleich an Typen von Akteuren (Rollen) und sozialen Beziehungen gekoppelt.82 Die regelmäßige Teilnahme an sozialen Interaktionen ermöglicht es den Akteuren, vereinfachende Handlungsmodelle zu konstruieren, die den Umgang mit den alltäglichen Handlungsroutinen erleichtern. So wissen sie nach einer gewissen Zeit der Sozialisierung, wie sie sich gegenüber bestimmten Typen von Akteuren, in bestimmten Typen von Beziehungen und in bestimmten Handlungskontexten in sozial angemessener und sinnhafter Weise zu verhalten haben. Beispielsweise lernen Hochschulabsolventen als junge Berufseinsteiger erst allmählich, was es bedeutet, sich in ihrem beruflichen Umfeld adäquat zu verhalten. Zwar bringen sie aus Studium und Praktika bereits ein Wissen um verschiedene Handlungsweisen mit. In der Regel ist dieses Handlungswissen jedoch noch nicht derart gefestigt, dass Veränderungen desselben die Ausnahme bilden würden. Vielmehr werden sich einige der im Studium angeeigneten Handlungsweisen in der alltäglichen Berufspraxis als nicht tragfähig erweisen und entsprechend verändert. Zudem werden zahlreiche neue Handlungsweisen erlernt, was das Handlungswissen um weitere Praktiken verfeinert und erweitert. Des Weiteren erweist sich insbesondere das im Literaturstudium angeeignete theoretische Wissen um Institutionen und Praktiken des beruflichen Alltags als weitgehend formbar oder veränderlich: Diese Praktiken nehmen für die Absolventen noch nicht den allgemeingültigen und selbstverständlichen Status an, den institutionalisierte Praktiken generell auszeichnet. Sie blicken lediglich auf eine „theoretische Erfahrung“83 zurück, ihnen fehlt jedoch die eigentliche praktische Erfahrung, der alltägliche Umgang mit diesen Praktiken. Erst im Zuge sozialer Interaktionen eignen sie sich allmählich ein entsprechendes Wissen an. Dabei werden sie feststellen, dass bestimmte Praktiken stets in bestimmten Kontexten, nur gegenüber bestimmten Typen von Akteuren und nur in bestimmten Beziehungstypen vollzogen werden. So werden sie damit beginnen, ihr Wissen zu typisieren, also die erlernten sozialen Praktiken gedanklich mit den Kontexten, Akteur- und Beziehungstypen zu verbinden. Das derart typisierte Handlungswissen ist zunächst noch diskursiv bewusst präsent; die Akteure werden sich anfänglich noch in Erinnerung rufen, welches dem Kontext, den Beziehungs- und den Akteurtypen sinnhafte und angemessene Handlungs82 83
Vgl. Berger/Luckmann [1969] S. 33 ff. sowie Abschnitt 2.1.2.2 der vorliegenden Arbeit. Berger/Luckmann [1969] S. 102.
212
4 Strukturationstheoretische Konzeption institutionellen Wandels
abläufe darstellen. Erst allmählich, das heißt im Zuge regelmäßiger Interaktionen, wird dieses Handlungswissen in tiefere Bewusstseinsschichten „sacken“, welches sie in weiteren Interaktionen dann lediglich handlungspraktisch bewusst hervorrufen. Erst darüber werden die Berufseinsteiger zu Trägern eines kollektiven Handlungswissens um Institutionen, partizipieren also am kollektiven Wissensvorrat derjenigen Institutionen, die die alltägliche Berufspraxis auszeichnen.84 Die Fähigkeit zur Typisierung lässt sich als einen grundlegenden Aspekt der Handlungsmächtigkeit verstehen. Erst mit der Abstraktion von konkreten Situationen und spezifischen Personen anhand von Typisierungen kann sich ein gemeinschaftliches Handlungswissen herausbilden, das dann als Grundlage der sozialen Integration dient. Kaum trennbar ist mit diesem Aspekt der Handlungsmächtigkeit die Fähigkeit verbunden, das typisierte Handlungswissen angemessen einzusetzen, und soziales Handeln mit sich verändernden Kontexten, Rollen und Beziehungen entsprechend zu variieren. Letzteres unterstreichen insbesondere Emirbayer und Mische, die die Handlungsmächtigkeit in der Fähigkeit der Akteure verankert sehen, in einer dem jeweiligen Kontext angemessenen Weise zu agieren: „The agentic orientations of actors (along with their capacity for inventive or deliberative response) may vary in dialogue with the different situational contexts to which (and by means of which) they respond.“85
In ihrem in Anlehnung an die Sozialpsychologie George Herbert Meads entwickelten Akteurmodell unterscheiden Emirbayer und Mische mit routinehaftem, reflexiv-abwägendem und planerischem Handeln drei grundlegende Handlungsalternativen.86 Die Handlungsmächtigkeit zeigt sich nun darin, dass Akteure in Abhängigkeit von den jeweiligen Bedingungen ihres Handlungskontextes entweder in routinehafter, in reflexiv-abwägender oder in planerischer Weise tätig 84
85 86
Soweit im Weiteren ausschließlich von einem Kontextbezug des Handlungswissens die Rede ist, erfolgt dies unter der Annahme, dass ein sozialer Kontext wiederum mit verschiedenen Typen von Akteuren und Beziehungen in Verbindung gebracht wird. Ein Kontext spiegelt also zugleich charakteristische soziale Rollen- und Beziehungserwartungen wider, so dass die Einschränkung auf den Kontext als gerechtfertigt erscheinen mag. Emirbayer/Mische [1998] S. 1004. Sie unterscheiden die Handlungsarten nach ihrem zeitlichen Bezug: routinehaftes Handeln stellt sich als primär vergangenheitsbezogenes, reflexiv-abwägendes als gegenwartsbezogenes und planerisches Handeln als vorrangig zukunftsbezogenes Handeln dar. Dies entspricht ihrer analytischen Unterscheidung dreier konstitutiver Elemente menschlicher Handlungsmächtigkeit: „iterational“, „practical-evaluative“ und „projective“. Vgl. Emirbayer/Mische [1998] S. 970 f.
4.3 Theoretische Herausforderungen und der Beitrag der Strukturationstheorie
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werden. Wenngleich sie es im Weiteren unterlassen, in ausführlicher Weise darzulegen, welche Charakteristika eines Kontextes nun welche Handlungsweise nahelegen,87 verweisen sie mit ihrem Modell auf einen wesentlichen Aspekt der Handlungsmächtigkeit: Akteure stellen ihre Handlungsmächtigkeit mit einer kontextbezogenen Variation ihres sozialen Handelns unter Beweis. Die Unterscheidung von Emirbayer und Mische lässt sich daher auf die Frage des Umgangs mit Institutionen übertragen. So ließe sich beispielsweise empirisch überprüfen, inwieweit Akteure, die sich in stark institutionalisierten Kontexten befinden, eher zu einem routinehaften Handeln im Sinne der gegebenen Institutionen neigen, als solche, deren Interaktionen in Kontexten stattfinden, die für die Einzelnen ungewohnt oder neuartig erscheinen. Neben diesen vorwiegend wissens- oder regelbezogenen Aspekten lässt sich die Handlungsmächtigkeit ebenfalls ressourcenbezogen begründen. Giddens verweist ja darauf, dass die Handlungsmächtigkeit der Akteure nicht nur von ihrem Handlungswissen („knowledgeability“), sondern zugleich von ihrem Handlungsvermögen („capability“) abhängt.88 In dieser Hinsicht gelten grundsätzlich diejenigen Akteure als handlungsmächtiger, die in Interaktionen ein höheres Maß an Ressourcen zu mobilisieren vermögen. Neben den materiellen zählen dazu immaterielle Ressourcen, wobei der einzigartige Wissensbestand an sozialen Praktiken eines Akteurs als Machtmittel in sozialen Handlungsprozessen angesehen wird. Dieser Wissensbestand wird entscheidend von dem individuellen Lebensweg des Akteurs geprägt. Grundsätzlich wird angenommen, dass Akteure, die in vielfältigen Kontexten sozialisiert wurden, über ein reichhaltiges Repertoire an sozialen Praktiken – und ein entsprechend breites Handlungswissen – verfügen. Verschiedene empirische Studien haben bereits gezeigt, dass diese Akteure eher Wandelinitiativen anstoßen – mithin als institutionelle Unternehmer auftreten –, als solche, die sich in weniger und sich untereinander geringfügiger unterscheidenden Kontexte bewegen.89 Begründet wird dieser Befund dahingehend, dass sich ihnen die Institutionen in weniger handlungsdeterminierender, unhinterfragter Weise offenbaren, da sie mit Alternativen zu den jeweils 87
88 89
Zwar konstatieren sie, dass im Falle problematischer Handlungssituationen nicht mit einem routinehaften Handeln zu rechnen sei, wobei sie beispielsweise jene Situationen als problematisch erachten, in denen eine Vielzahl an Handlungsnormen gegeben ist, die untereinander Unstimmigkeiten aufweisen (vgl. Emirbayer/Mische [1998] S. 1012 f.) Im großen und ganzen formulieren sie es jedoch als eine Aufforderung an empirische Forschungsarbeiten, sich der Frage zu widmen, in welchen Handlungskontexten primär routinehaft und in welchen Kontexten eher in reflexiv-abwägender oder in planerischer Weise gehandelt wird, wobei sie hierzu bereits einige forschungsleitende Hypothesen aufstellen (vgl. Emirbayer/Mische [1998] S. 1005 f.). Vgl. Abschnitte 3.3.2 und 3.3.3. Vgl. die diesbezüglichen Ausführungen in Abschnitt 2.2.3.3, Gliederungspunkt b).
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kontextabhängigen Institutionen vertraut sind. Vor diesem Hintergrund lassen sich diese Akteure als gegenüber den Institutionen handlungsmächtiger bezeichnen, gelten sie doch aufgrund ihres reichhaltigen Erfahrungshorizonts und entsprechend breiten Handlungsrepertoires als fähig, die Sinnhaftigkeit institutionengemäßen Handelns zu hinterfragen und ihr Handeln in Interaktionsprozessen eher diskursiv denn handlungspraktisch bewusst zu steuern. Während die Handlungsmächtigkeit bisher weitgehend mit Blick auf eine kontextadäquate Anwendung von Institutionen betrachtet wurde, lässt sich in Anlehnung an Sewell noch einen Schritt weiter gehen: Die Handlungsmächtigkeit zeigt sich nicht allein darin, dass Akteure ihr Handlungswissen in einer dem jeweiligen Kontext angemessenen und sinnhaften Weise einsetzen, sondern in ihrer Fähigkeit, mit dem vermeintlichen Kontextbezug von Institutionen in kreativer Weise umzugehen. Laut Sewell besteht die Handlungsmächtigkeit von Akteuren gerade darin, Institutionen von ihrem vermeintlichen Kontextbezug zu lösen und in anderen Kontexten anzuwenden („transposition of rules“).90 Dies unterstreicht auch Whittington, der am Beispiel von Managern – unter Rückgriff auf Giddens’ Ausdruck „to make a difference“ – davon ausgeht, dass sich ihre generelle Transformationsfähigkeit in einer Übertragung kontextfremder Praktiken äußert: „The agency that makes a difference stems from managers’ capacity to act according to other system rules.“91
Seiner Ansicht nach vermitteln Manager ihre Handlungsmächtigkeit dadurch, dass sie soziale Praktiken einbringen, die nicht zum eigentlichen Kanon der im unternehmerischen Kontext institutionalisierten Praktiken zählen. Dies kann sich beispielsweise in einer Übertragung von Praktiken zeigen, deren Sinngehalt und Legitimation nicht auf dem unternehmerischen Gewinnmaximierungsziel gründen, sondern die beispielsweise ethisch-sozialen Zwecken dienen. Die Handlungsmächtigkeit der Manager liegt dann unter anderem darin, die Prozesse der Legitimierung der neuartigen Praktiken derart zu steuern, dass auch diese von allen Organisationsmitgliedern als sinnhaft und angemessen anerkannt werden.92 Dies setzt eine ausgeprägte Fähigkeit zur Rationalisierung des Handelns („ac-
90
91 92
Vgl. Sewell [1992] S. 17 f. Auf diesen Aspekt der Handlungsmächtigkeit verweisen analog Emirbayer und Mische, bezeichnen ihn jedoch abweichend als „manoeuverability“. Vgl. Emirbayer/Mische [1998] S. 980. Whittington [1992] S. 706. Dies hat bereits Selznick betont, der Managern die Rolle von Sinnstiftern zugewiesen hat. Vgl. hierzu Abschnitt 2.1.3.1 der vorliegenden Arbeit.
4.3 Theoretische Herausforderungen und der Beitrag der Strukturationstheorie
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countability“) voraus, oder – in den gängeren Worten des Institutionalismus gesprochen – zur Steuerung der internen Theoretisierungsprozesse. Die Übertragung kontextfremder Praktiken kann widersprüchliche strukturelle Handlungsbedingungen innerhalb der Unternehmung hervorrufen, im Beispiel einer gleichzeitigen Verfolgung von ethisch-sozialen und gewinnorientierten Zielen wäre dies durchaus denkbar. In diesem Falle äußert sich die Handlungsmächtigkeit der Akteure dann auch darin, trotz der widersprüchlichen Handlungsbedingungen ein stabiles organisationsspezifisches, das heißt von allen Organisationsmitgliedern legitimiertes (und reproduziertes) Bündel an Praktiken herauszubilden.93 Widersprüchliche strukturelle Bedingungen stellen sich indes nicht allein durch eine aus strategischen Gründen intendiert eingebrachte Vielfalt an Handlungspraktiken ein. Die Konfrontation mit heterogenen und auch widersprüchlichen Regeln sozialen Handelns kennzeichnet die alltägliche Berufspraxis im Allgemeinen. So werden Beziehungen zu verschiedenen sozialen Anspruchsgruppen außerhalb der Organisation unterhalten, die sich in ihren charakteristischen Regeln voneinander unterscheiden können; innerhalb der Organisation treten die Akteure in verschiedenen sozialen Beziehungen als Rollenträger auf, was durchaus mit Rollenkonflikten, also mit widersprüchlichen Regeln im Handlungsmoment, einhergehen kann. Dies betrifft nun nicht allein die Manager, sondern äußert sich im alltäglichen Handeln aller Organisationsmitglieder. Sie stellen ihre Handlungsmächtigkeit tagtäglich in ihren Interaktionsprozessen durch eine permanente prozessuale Handlungssteuerung unter Beweis, indem sie trotz vielfältiger und/oder widersprüchlicher struktureller Bedingungen handlungsfähig bleiben. Zusammenfassend findet die Handlungsmächtigkeit der Akteure – also ihre Fähigkeit, den Verlauf der sozialen Reproduktionsprozesse zu beeinflussen und hinsichtlich der gegebenen Institutionen einen Unterschied herzustellen – in verschiedenen Aspekten ihren Ausdruck, die sich in folgender Weise festhalten lassen:
im Aufbau eines kontextbezogenen Handlungswissens (Typisierung), im Ausmaß an verfügbaren Ressourcen (Handlungsvermögen), in der Übertragung von Praktiken zwischen Kontexten („transposition“), in der Fähigkeit zur Rationalisierung des Handelns („accountability“) und in der permanenten routinehaften („reflexiven“) Handlungssteuerung, was einerseits bedeutet, das soziale Handeln in Abhängigkeit vom Kontext zu
93
Vgl. Whittington [1992] S. 704. Vgl. zu organisationsspezifischen Praktiken und Strukturen Abschnitt 3.4.4.
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variieren, und sich andererseits darauf bezieht, trotz heterogener und widersprüchlicher struktureller Bedingungen handlungsfähig zu bleiben. Hier zeigt sich, dass Giddens das Theorem der Dezentrierung des Subjekts in seine Akteurkonzeption integriert hat, wird die Handlungsmächtigkeit doch durchweg strukturell definiert: Sie erwächst aus dem Umgang mit den strukturellen Handlungsbedingungen der jeweils gegebenen und der einem Akteur generell bekannten Handlungskontexte. Eine solchermaßen strukturationstheoretisch fundierte Akteurkonzeption erlaubt es, an der grundlegenden Annahme des Institutionalismus festzuhalten, wonach soziales Handeln institutionell geprägt ist, ohne eine holistisch geprägte Akteurauffassung vertreten zu müssen. Anzunehmen, dass soziales Handeln in Kontexten gegebener Institutionen eingebettet verläuft, schließt nicht aus, dass Akteuren ein kreativer und Einfluss nehmender Handlungsspielraum gegenüber den Institutionen zugesprochen wird. 4.3.2 Prozessperspektive Mit Prozessperspektive werden in dieser Arbeit die Hinwendung der institutionalistischen Forschung zu Fragen des Wandels von Institutionen sowie die damit einhergehende Anforderung einer prozessorientierten Ausrichtung der zur Analyse herangezogenen Sozialtheorie angesprochen. Dabei geht es sowohl um die Frage der Institutionalisierung als einer „processual question of how social arrangements and beliefs come to be taken for granted“,94 als auch darum, auf welche Weise Institutionen ihren institutionalisierten Charakter und entsprechend ihre „taken-for-grantedness“ wieder verlieren können. Eine Untersuchung dieser Fragestellungen setzt die Betrachtung sozialer Handlungsprozesse voraus, äußern sich die Institutionalität sozialer Phänomene und deren Veränderlichkeit doch gerade darin, wie Akteure mit den Institutionen in ihren alltäglichen Handlungsabläufen umgehen. Hierzu bedarf es einer theoretischen Konzeption, anhand derer sich Institutionen sowohl als Medium als auch als Ergebnis sozialer Handlungsprozesse begreifen und erfassen lassen. Die Strukturationstheorie stellt eine solchermaßen prozessorientierte Sozialtheorie dar. Dies äußert sich nicht nur in der zentralen Annahme der Dualität von Struktur, sondern ebenfalls in den theoretischen Konzepten, die sie zur Analyse sozialer Reproduktionsprozesse zur Verfügung stellt.95 Dargelegt haben dies bereits Barley und Tolbert (1997), die ein aus der Strukturationstheorie abgelei94 95
Clemens/Cook [1999] S. 446. So beispielsweise das Konzept der Positionierung (vgl. Abschnitte 3.4.3 und 4.3.3.1).
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tetes Prozessmodell der Institutionalisierung entwickelt haben.96 Dabei erachten sie es als eine wichtige Voraussetzung, dass sich die Prozessorientierung auch in der Definition des Erkenntnisobjekts „Institution“ widerspiegelt: „A viable theory of the relation of action and institution requires, at minimum, a heuristic definition of an institution that will allow researchers to examine the change and reproduction of institutions as general, ongoing, and historically embedded processes.“97
Ohne Zweifel bedarf es auf dem Weg zu einer Prozessperspektive nicht allein der heuristischen Definition eines einzelnen Begriffs. Zentral ist vielmehr die Frage, inwieweit die herangezogene Sozialtheorie eine prozessorientierte Auseinandersetzung mit sozialen Phänomenen überhaupt ermöglicht, indem sie soziale Handlungsprozesse in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung rückt. Dass die Strukturationstheorie diese Möglichkeit eröffnet, darum handelt die vorliegende Arbeit in ihrer Gesamtheit. Im Folgenden soll eine entsprechende Voraussetzung diskutiert werden, die zunächst trivial erscheinen mag, jedoch in der gegebenen Forschungslandschaft zum Thema institutioneller Wandel nicht immer Berücksichtigung erfährt: Eine prozessorientierte Analyse von Institutionen setzt grundlegend voraus, dass diese als Prozessphänomene definiert werden. Was dies bedeutet und warum eine solche Betrachtungsweise notwendig erscheint, sei nachfolgend behandelt, bevor im Anschluss daran die Elemente des strukturationstheoretischen Institutionenbegriffs zu diskutieren sind. 4.3.2.1 Relevanz der Prozessperspektive „Human societies, at all levels of their internal complexity, are incessantly changing. They change at the macro-level of the economy, polity, and culture; at the mezzolevel of communities, groups, and organizations; and at the micro-level of individual actions and interactions. Society is not an entity, but a multi-level, intermeshed set of processes.“98
Ein grundlegendes Problem der sozialtheoretischen Forschung ist es, soziale Phänomene als veränderlich zu konzipieren.99 Dies mag überraschen, ist doch die bloße Erkenntnis, dass die soziale Welt stetig in Bewegung ist, recht offensicht96 97 98 99
Vgl. diesbezüglich die Ausführungen in Abschnitt 2.3.2 der vorliegenden Arbeit. Barley/Tolbert [1997] S. 96. Sztompka [1993] S. 56. Vgl. Sztompka [1991] S. 67; Emirbayer [1997] S. 281.
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lich und wird dem Grunde nach von keinem Sozialforscher abgelehnt. Das eingangs angeführte Zitat von Sztompka würde letztlich überall auf Einverständnis stoßen. Und dennoch beweist ein Blick auf die Forschungslandschaft, dass die derzeitigen theoretischen Konzeptionen den Prozesscharakter sozialer Phänomene nicht immer auszudrücken vermögen.100 Vielmehr werden soziale Phänomene über weite Teile als in sich stabile Entitäten konzipiert, die sich zwar – aufgrund externer Einflüsse – verändern können, deren Veränderlichkeit jedoch nicht als eine ihrer Eigenschaften erachtet wird. Emirbayer bezeichnet diese Sichtweise als „substantialist thinking“, Chia spricht analog von einer „ontology of being“, wobei ihr beide eine unzureichende Konzeption sozialer Phänomene bescheinigen.101 Insoweit soziale Phänomene vorrangig als im Zeitverlauf stabile Entitäten begriffen werden, wird ihre Dinghaftigkeit herausgestellt und ihre dynamische Qualität – resultierend aus der prinzipiellen Offenheit des Verlaufs sozialer Handlungsprozesse – nicht angemessen festgehalten. Hingegen lässt sich anhand einer prozessbezogenen Konzeption die Veränderlichkeit sozialer Phänomene als ihrem Wesen grundlegend zugehörig betrachten: „[A]ctivity and movement are privileged over substance and entities…emphasis is on the primacy of process, interaction and relatedness.“102
Der Wandel sozialer Phänomene wird hier nicht als Ausnahme, sondern als ein stets kontingentes Ergebnis sozialer Handlungsprozesse angesehen. Damit wird das eigentlich Soziale der Phänomene stärker in den Vordergrund gerückt: Sie weisen eben keine von den Menschen unabhängige Existenz auf, sondern werden mit jedem sozialen Handlungsakt hervorgebracht. Die Abhängigkeit der sozialen Phänomene von der Handlungsmächtigkeit der Akteure wird betont. Die Relevanz einer solchen Perspektive für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit institutionellem Wandel ist offensichtlich. Auch Institutionen sind keine dauerhaften Entitäten, sondern von sozialen Handlungsprozessen abhängige und damit mit jedem Handlungsakt grundsätzlich veränderliche Phänomene. Zwar gehört zum Wesen von Institutionen gerade ihre Dauerhaftigkeit oder Kontinuität im Sinne eines raumzeitliche Unterschiede überdauernden Bestehens. Doch ist auch ihre Kontinuität ein Produkt sozialen Handelns. Sie besteht nicht unabhängig von den sozialen Handlungsprozessen, sondern muss 100 101 102
Laut Emirbayer trifft dies gleichermaßen auf individualistische und holistische Ansätze zu. Vgl. Emirbayer [1997] S. 281. Vgl. Emirbayer [1997] S. 282 ff.; Chia [1996] S. 34 ff., Chia [1997] S. 685 ff., Chia [2003] S. 107. Chia [1997] S. 696.
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angesichts veränderlicher Handlungsbedingungen immer wieder neu hervorgebracht werden. 4.3.2.2 Prozessperspektive und Institutionenbegriff Nimmt man die Arbeiten zum institutionellen Wandel in Augenschein, so zeigt sich, dass sich die Prozessperspektive selten in einem entsprechenden Institutionenverständnis niederschlägt. Zwar werden Institutionen durchaus als Produkte sozialer Handlungsprozesse angesehen. Ein entsprechender Institutionenbegriff, der Institutionen konsequent in direktem Bezug zu sozialen Handlungsprozessen definiert und die damit verbundene Möglichkeit der Veränderung unmittelbar einschließt, findet sich indes nur in wenigen Arbeiten. Ein solchermaßen prozessorientiertes Institutionenverständnis setzt voraus, sowohl den kognitiven als auch den materiellen Gehalt von Institutionen zu berücksichtigen (vgl. Tab. 1): Institutionen und die mit ihnen verbundenen Regeln, Erwartungsstrukturen und Symbolsysteme sind danach einerseits im kollektiven Wissensvorrat einer Gesellschaft verankert, und werden andererseits in den sozialen Aktivitäten materialisiert – sie offenbaren sich „in den Strukturen praktischen Alltagshandelns.“103 Die im Institutionalismus anzutreffenden Definitionen des Institutionenbegriffs zeigen, dass häufig allein die kognitiven Bestandteile von Institutionen als Definiens dienen. Wird jedoch die Materialität von Institutionen – die konkrete Manifestation von Regeln und Erwartungsstrukturen in den sozialen Handlungsprozessen – nicht betont, so vermittelt die Definition ein verdinglichtes, entitätenbezogenes Bild von Institutionen. Gerade holistisch ausgerichtete Arbeiten, deren Erkenntnisinteresse auf die Beeinflussung des Handelns durch übergeordnete Wissenssysteme, Skripte und Normensysteme – kurz: Institutionen – gerichtet ist, tendieren dazu, die Materialität von Institutionen nicht in die Definition mitaufzunehmen. Dass Institutionen jedoch das stets veränderliche Ergebnis sozialer Handlungsprozesse darstellen, lässt sich auf diese Weise nicht vermitteln. Nun könnte man mutmaßen, dass individualistische Ansätze, in denen Institutionen als das Ergebnis aggregierten Handelns angesehen werden, eher eine prozessorientierte Phänomendefinition zu liefern vermögen. Doch sind auch individualistische Ansätze vielfach nicht prozessorientiert angelegt, sondern verfolgen ebenfalls eine statische, entitätenbezogene Sichtweise: Eine Veränderung von Institutionen wird nicht auf das alltägliche, wechselseitige soziale Han103
Edeling [1999] S. 14. Vgl. grundlegend hierzu auch Friedland/Alford [1991], die den mittlerweile häufig herangezogenen Begriff der institutionellen Logik geprägt haben, mit der sie die gleichwertige Bedeutung des materiellen und des kognitiven Gehalts von Institutionen betonen.
220
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deln, sondern auf einzelne, rational getroffene Handlungswahlen zurückgeführt, wobei der Handlungsprozess selbst nicht von Interesse ist.104
Kognitiver Gehalt Verankerung von Institutionen im kollektiven Handlungswissen x x
x
x x x x
„shared rules and typifications” (Barley/Tolbert 1997) „symbolic...systems containing representational, constitutive, and normative rules” (Scott 1994b) „taken-for-granted scripts, rules, and classifications ...shared typifications” (DiMaggio/Powell 1991) „symbolic systems” (Friedland/Alford 1991) „cultural accounts” (Meyer/Boli/Thomas 1994) „übergreifende Erwartungsstrukturen“ (Hasse/Krücken 2005) „Sinnzusammenhänge des Handelns, symbolisiert in Leitideen“ (Edeling 1999)
Materieller Gehalt Materialisierung von Institutionen im sozialen Handeln x x x x x
„a social order or pattern” (Jepperson 1991) „behavioral patterns or systems” (Scott 1994b) „standardized activity sequences” (Jepperson 1991) „supraorganizational patterns of activity” (Friedland/Alford 1991) „materialisiert in den Strukturen praktischen Alltagshandelns“ (Edeling 1999)
Tabelle 1: Institutionenbegriff: Beispielhafte Definitionen des kognitiven und materiellen Gehalts
Es lässt sich insoweit festhalten, dass holistische und individualistische Ansätze üblicherweise nicht prozessorientiert ausgerichtet sind und insofern keine prozessorientierte Institutionendefinition zugrunde legen, mit der der kognitive und 104
Vgl. Emirbayer [1997] S. 284 f.
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der materielle Gehalt gleichermaßen Berücksichtigung finden würden. Es wurde bereits argumentiert, dass die Strukturationstheorie insofern eine Prozessperspektive ermöglicht, als sie einerseits soziale Reproduktionsprozesse in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt und entsprechende Modelle liefert, die deren Analyse erlauben, was andererseits auf einer prozessorientierten Definition ihrer elementaren Begriffe beruht. Ebenfalls betont wurde, dass der Begriff sozialer Praktiken dabei als fundamentale soziale Kategorie fungiert. Inwieweit dieser eine prozessorientierte Definition von Institutionen erlaubt, gilt es nachfolgend zu erörtern. 4.3.2.3 Grundlage der Prozessperspektive: Institutionen als institutionalisierte soziale Praktiken Mit der Strukturationstheorie ist ein Institutionenverständnis verbunden, das dem Anspruch eines prozessorientierten Begriffs Genüge leisten kann. Wie zu zeigen sein wird, ist dies wesentlich darauf zurückzuführen, dass Giddens eine praxistheoretische Definition wählt: Institutionen stellen zeitlich und räumlich weitgreifende soziale Praktiken dar, die nur im sozialen Handeln Realität erlangen. Die Wahl sozialer Praktiken als Grundlage des Institutionenbegriffs ermöglicht es, die dynamische Qualität von Institutionen bereits mit dem Begriff zu erfassen. Möglich wird dies durch zwei wichtige Merkmale sozialer Praktiken, die von Praxistheorien im Allgemeinen hervorgehoben werden: ihrer Materialität einerseits und ihrer Verankerung im kollektiven Wissensvorrat andererseits. Beide Merkmale spiegeln zentrale Annahmen der Strukturationstheorie wider, in denen sich die Prozessperspektive der Theorie insgesamt offenbart. Dazu zählt auf der einen Seite die Annahme der strukturellen Einbettung und entsprechenden Gebundenheit sozialen Handelns, auf der anderen Seite die Annahme der prinzipiellen Ergebnisoffenheit der sozialen Handlungsprozesse. Anhand einer praxistheoretischen Konzeption lässt sich letztlich ein Bild von Institutionen erreichen, das ihrer Kontinuität Rechnung trägt, ohne dabei Wandel zu negieren. Darauf ist nachfolgend näher einzugehen. Bevor jedoch der praxistheoretische Gehalt des strukturationstheoretischen Institutionenbegriffs diskutiert wird, ist zunächst ein Blick auf die institutionenbestimmenden Eigenschaften sozialer Praktiken zu werfen.
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a) Institutionenbestimmende Eigenschaften sozialer Praktiken Giddens versteht Institutionen als soziale Praktiken, die innerhalb gesellschaftlicher Gesamtheiten am weitesten in Zeit und Raum ausgreifen.105 Aus Sicht der Strukturationstheorie stellt sich die soziale Welt als lose gekoppelte Komplexe sozialer Praktiken dar,106 wobei Praktiken eine verschieden lange Existenz aufweisen und in einzelnen oder in mehreren, räumlich unterschiedlich ausgedehnten Handlungskontexten vorkommen können. Je dauerhafter sich eine Praktik als sinnhafte und angemessene Handlungsweise innerhalb unterschiedlichster Handlungskontexte erweist, je häufiger sie also in verschiedenen Kontexten im Zuge alltäglicher Handlungsroutinen reproduziert wird, als umso institutionalisierter gilt sie. Institutionen sind also nichts anderes als institutionalisierte soziale Praktiken, deren Institutionalitätsgrad variieren kann. Nun ließe sich die Frage erörtern, ob die im zweiten Kapitel in Anlehnung an Berger und Luckmann formulierten institutionenbestimmenden Eigenschaften nicht durchweg konkreter als die Eigenschaft der Zeit-Raum-Ausdehnung sind. Gegenüber der Berger/Luckmann’schen Eigenschaften der Historizität, Diffusion, Legitimität und Objektivität erscheint die von Giddens gewählte Eigenschaft auf den ersten Blick als wenig spezifizierend, was bei der Erfassung realer Institutionen Schwierigkeiten bereiten könnte. Doch es lässt sich zeigen, dass letztlich jede der im zweiten Kapitel betrachteten Eigenschaften aus dem Blickwinkel der Zeit-Raum-Ausdehnung heraus erfasst werden kann. So bezieht sich Historizität auf die zeitliche Ausdehnung einer sozialen Praktik.107 Berger und Luckmann betrachten Historizität oder Geschichtlichkeit denn auch unter dem Aspekt der Zeitlichkeit sozialen Lebens.108 Sie gehen davon aus, dass sich die Alltagswelt als zeitlich strukturiert präsentiert. Das bedeutet nicht nur, dass sich soziale Praktiken nach bestimmten Zeitfenstern im Ablauf eines Tages voneinander abgrenzen können – familienbezogene soziale Praktiken betreffen an Werktagen zumeist den frühen Morgen und den Abend. Soziale Praktiken lassen sich zugleich den Lebensphasen eines Menschen zuordnen. So lassen sich beispielsweise wettkampfsportliche Leistungen ab einem gewissen Lebensalter nicht mehr erzielen. Man mag nun unterstellen, dass die Institutionalität einer
105 106 107
108
Vgl. Giddens [1979] S. 80; Giddens [1981] S. 43 f.; Giddens [1984] S. 17. Vgl. Reckwitz [2003] S. 295. Selbstverständlich hat Historizität zugleich eine räumliche Dimension. Ebenso geht die räumliche Ausdehnung einer Praktik üblicherweise mit einer zeitlichen Distanzierung einher (wenngleich diese mit den modernen Kommunikationsmedien teilweise überwunden wird). Die Unterscheidung von Raum und Zeit erweist sich insoweit als rein analytisch begründet. Vgl. Berger/Luckmann [1969] S. 29 ff.
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Praktik daran gebunden ist, wie häufig sie in wievielen alltäglichen Zeitfenstern und in wievielen Lebensphasen zur Anwendung gelangen kann. Diffusion betrifft unmittelbar das, was Giddens als die räumliche Ausdehnung sozialer Praktiken formuliert. Während Berger und Luckmann die Alltagswelt zwar zunächst noch als zeitlich und räumlich strukturiert charakterisieren, die räumliche Strukturiertheit im Weiteren jedoch als nebensächlich einstufen,109 wird der räumlichen Verbreitung als Kriterium der Institutionalität im jüngeren Institutionalismus sehr wohl Gewicht beigemessen: „Diffusion of a set of rules (...) is often taken as an indicator of the extent or strength of an institutional structure.“110
Im Sinne des Kriteriums der räumlichen Ausdehnung kann sich die Institutionalität einer Praktik auf zweierlei Weise äußern. Eine soziale Praktik lässt sich einerseits dann als institutionalisiert bezeichnen, wenn der Typ von Kontext, mit dem die Praktik verbunden ist, räumlich weit ausgedehnt ist und entsprechend die reproduzierten strukturellen Handlungsbedingungen einer Vielzahl von räumlich voneinander entfernt stattfindenden Interaktionen abbildet. Eine Praktik kann andererseits auch dann als institutionalisiert gelten, sofern sie in verschiedenen, räumlich getrennten Handlungskontexten routinemäßig reproduziert wird. In beiden Fällen ist ihre räumliche Ausdehnung, ihre Diffusion, und entsprechend ihr Institutionalitätsgrad als hoch einzustufen. Zwei weitere Eigenschaften werden im Allgemeinen als institutionenbestimmende Eigenschaften sozialer Phänomene angesehen und vermögen daher auch den Institutionalitätscharakter sozialer Praktiken widerzuspiegeln: Legitimität und Objektivität. Beide lassen sich mit der raumzeitlichen Ausdehnung der Praktiken in Verbindung sehen. In strukturationstheoretischer Hinsicht ist die Legitimität einer sozialen Praktik daran zu erkennen, dass Akteure, sofern sie Rechenschaft über ihr Handeln ablegen, sich auf die sozialen Regeln beziehen, die Bestandteil des kollektiven Handlungswissens bilden.111 Dies bedeutet nun nicht allein, dass sie die normativen Grundlagen der sozialen Praktik zu explizieren vermögen. Eine Praktik zu legitimieren, umfasst nicht nur den Verweis auf normative Regeln, sondern berührt sinnkonstituierende Regeln gleichermaßen. Legitimität erfährt eine Praktik nur insoweit, dass sie sowohl als normativ angemessen als auch als allgemein sinnhaft angesehen wird. Was bedeutet dies nun mit Blick auf die Frage der Institutionalität einer Praktik? Da soziale Praktiken 109 110 111
Vgl. Berger/Luckmann [1969] S. 29. Scott [2001] S. 114. Vgl. grundlegend hierzu die Abschnitte 3.2.2 sowie 3.3.2.3.
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inhaltlich durch die mit ihnen verbundenen Regeln beschrieben werden, geht mit der Ausdehnung der Praktiken notwendigerweise die Ausdehnung der Regeln einher. Die Verbreitung einer sozialen Praktik in zeitlicher und räumlicher Hinsicht muss sich in der Verbreitung des gesellschaftlichen Wissensvorrats an diesbezüglichen Regeln niederschlagen. Legimität und raumzeitliche Ausdehnung gehen also miteinander einher. In diesem Zusammenhang ist jedoch zu berücksichtigen, dass es tiefliegende Regeln gibt, die einer Vielzahl an Praktiken zugrunde liegen. In diesem Fall ist die raumzeitliche Ausdehnung des kollektiven Handlungswissens um diese Regeln weitaus größer als die Ausdehnung der verschiedenen Praktiken, die sich inhaltlich unter anderem anhand dieser allgemeingültigen Regeln beschreiben lassen. Man kann die Institutionalität einer Praktik nun davon abhängig machen, in welchem Maße sie sich durch Regeln beschreiben lässt, die eine Vielzahl von Praktiken charakterisieren. Je stärker dies der Fall wäre, umso ausgeprägter wäre in dieser Hinsicht ihr Institutionalitätsgrad. Schließlich lässt sich die Eigenschaft der Objektivität unmittelbar an die raumzeitliche Ausdehnung gekoppelt sehen. Zeitlich und räumlich weit verbreitete Praktiken werden hinsichtlich ihres Wirklichkeitsgehalts eher als objektiv wahrgenommen. Dies bedeutet, dass sie – materiellen Gegenständen gleich – im alltäglichen Leben wie Fakten wahrgenommen werden, denen man unhinterfragt folgen kann. Je verbreiteter eine Praktik, umso ausgeprägter ist für den Einzelnen die Gewissheit, das gesellschaftlich Richtige zu tun. Wenn so viele Akteure einer Praktik folgen, mag sie ja nicht falsch sein; man kann ihr ebenfalls wie selbstverständlich nachgehen. Es ist daher anzunehmen, dass die Zeit-Raum-Ausdehnung einer Praktik und ihre Objektivität ebenfalls miteinander Hand in Hand gehen. Insgesamt lässt sich das strukturationstheoretische Kriterium der Institutionalität mithin als geeignet werten, die üblicherweise im Institutionalismus diskutierten Eigenschaften der Historizität, Diffusion, Legitimität und Objektivität unter dem Gesichtspunkt der Zeit-Raum-Ausdehnung zu subsumieren und damit zusammenhängend sowie auf der Grundlage einer Sozialtheorie zu vermitteln, in der soziale Reproduktionsprozesse das zentrale Erkenntnisobjekt darstellen. b) Praxistheoretisches Institutionenmodell Im Weiteren ist nun zu klären, warum der strukturationstheoretische Institutionenbegriff als prozessorientiert zu werten ist. Bereits eingangs wurde argumentiert, dass dies in der praxistheoretischen Konzeption von Institutionen begründet liegt. Charakteristisch für die praxistheoretische Perspektive ist die Verankerung sozialer Phänomene in sozialen Praktiken:
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„Der „Ort“ des Sozialen (...) sind die „sozialen Praktiken“, verstanden als know-how abhängige und von einem praktischen „Verstehen“ zusammengehaltene Verhaltensroutinen, deren Wissen einerseits in den Körpern der handelnden Subjekte „inkorporiert“ ist, die andererseits regelmäßig die Form von routinisierten Beziehungen zwischen Subjekten und von ihnen „verwendeten“ materialen Artefakten annehmen.“112
Reckwitz deutet hiermit auf eine wichtige praxistheoretische Überlegung hin, die sich auch in der Strukturationstheorie wiederfindet: Soziale Praktiken weisen keine von der sozialen Handlungsmächtigkeit unabhängige Existenz auf, sondern erlangen ihre Existenz allein dadurch, dass sie Bestandteil des Allgemeinwissens oder kollektiven Wissensvorrats bilden und im sozialen Handeln gewohnheitsmäßig reproduziert werden. Soziale Praktiken unterliegen dem sozialen Handeln gewissermaßen in Form eines Leitfadens routinehafter Handlungsabfolgen, an denen sich die Akteure mehr oder weniger – diskursiv oder handlungspraktisch – bewusst orientieren. Damit stellen sie ein Medium der Interaktionen dar, dessen sich die Akteure überwiegend in gewohnheitsmäßiger Weise bedienen. Im Zuge der alltäglichen Interaktionsprozesse werden die sozialen Praktiken reproduziert (was das Potential ihrer Veränderung miteinschließt), wodurch sie nicht nur Medium, sondern zugleich Ergebnis sozialen Handelns bilden. Institutionen als soziale Praktiken zu definieren, bedeutet entsprechend, ihre Existenz unmittelbar an soziale Handlungsprozesse und den kollektiven Wissensvorrat im Bewusstsein der Akteure zu binden. Auf diese Weise werden der materielle und der kognitive Gehalt von Institutionen zusammenhängend und prozesshaft formuliert. Dazu sei zunächst ein Blick auf den materiellen Gehalt geworfen. Die Materialität von Institutionen zeigt sich in der Ausübung der Praktiken. Im Handeln äußert sich das Handlungsvermögen der Akteure – das Handeln im Rahmen sozialer Praktiken setzt generell den Einsatz von Ressourcen voraus. Dabei tragen insbesondere zwei Arten von Ressourcen – andere Praxistheoretiker sprechen auch von materiellen Instanzen – dazu bei, dass Institutionen reproduziert werden: Körper und Artefakte.113 Der menschliche Körper zeigt sich als materielle Instanz sozialer Praktiken, da Praktiken jeweils mit bestimmten routinemäßigen Bewegungen und Aktivitäten des Körpers verbunden sind. Akteure erlernen mit einer Praktik immer auch den gekonnten Einsatz ihres Körpers. Sie sind fähig, sich selbst als Ressource in die Interaktionen einzubringen. Im Vollzug der Praktiken bewegen sie dann ihre Körper in einer Weise, mit der für die anderen verstehbar wird, um welche Praktiken es sich im jeweiligen Interaktionsmoment gerade handelt (so kann beispielsweise das Ausstrecken der Hand auf die Praktik der Begrüßung verweisen). 112 113
Reckwitz [2003] S. 289. Vgl. zum Folgenden Reckwitz [2003] S. 290 f.
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Die Materialität der Institutionen offenbart sich indes nicht nur in aufeinander abgestimmten körperlichen Bewegungsabläufen. Sie findet eine weitere materielle Instanz in den Artefakten.114 Praktiken setzen oftmals den Einsatz physischer Objekte voraus, die sich ihrerseits wiederum eindeutig den Praktiken zuordnen lassen. So erweist sich die Praktik des Fliegens ohne den Einsatz von Flugzeugen (oder anderen Flugobjekten) schlichtweg als unmöglich. Zur Praktik des Fliegens gehört ein sinnhafter und angemessener Gebrauch des Artefakts „Flugzeug“.115 Das Flugzeug wiederum hat zugleich Symbolwirkung, indem es seinerseits auf die Praktik des Fliegens und die damit verbundenen Handlungsregeln verweist.116 Institutionen sind daher sowohl in den körperlichen Bewegungsabläufen als auch im Gebrauch von Artefakten materiell verankert. Der regelmäßige Einsatz der Körper in vergleichbarer Weise und der routinehafte Gebrauch der Artefakte vermitteln den Akteuren, welche sozialen Verhaltensweisen als institutionenkonform gelten. Körperbewegungen und Artefakte weisen damit für sich genommen bereits auf die institutionalisierten Praktiken hin. Angesichts der Überlegung, dass die Institutionen „ihre relative (wenngleich keineswegs vollständige) Reproduktivität in der Zeit und im Raum durch ihre materiale Verankerung in den mit inkorporierten Wissen ausgestatteten Körpern (...) und in den Artefakten“117 gewinnen, stellt sich die Frage, wodurch die Strukturationstheorie nun das prozesshafte Verständnis von Institutionen übermittelt. Bisher wurde vorrangig betont, dass Körper und Artefakte als Medien dienen, die die Institutionen und die mit ihnen verbundenen sozialen Handlungsregeln widerspiegeln. Im Sinne eines prozesshaften Verständnisses von Institutionen spielt indes nicht allein das Medium sozialer Handlungsprozesse, sondern zugleich ihr Ergebnis eine Rolle. Institutionen gelten als potentiell veränderlich – sie werden geprägt, das heißt reproduziert und verändert, durch die Art und Weise, wie die Akteure in ihren Handlungsabläufen auf sie Bezug nehmen. Hinsichtlich ihrer materiellen Verankerung zeigt sich dies darin, dass die Akteure sowohl den Einsatz ihres Körpers als auch den Gebrauch der Artefakte zu verändern vermögen. So lassen sich Artefakte „zweckentfremdet“, das heißt im Vollzug anderer Praktiken, einsetzen – das ausrangierte Flugzeug ließe sich beispielsweise als Wohnobjekt nutzen. Das bedeutet also, dass es keinen deterministischen Handlungszwang impliziert, soweit die materiellen Instanzen Körper und Artefakte auf Institutionen verweisen. Die sinnkonstituierenden und 114 115 116 117
Vgl. zum Zusammenhang zwischen Institutionen, Praktiken und Artefakten auch den praxistheoretischen Ansatz von Kaghan/Lounsbury [2006]. Siehe auch das Beispiel des Artefakts „Auto“ bei Kaghan/Lounsbury [2006] S. 264. Diese Qualität macht den bloßen Gegenstand Flugzeug erst zu einem Artefakt. Reckwitz [2003] S. 291.
4.3 Theoretische Herausforderungen und der Beitrag der Strukturationstheorie
227
normativen Regeln hinsichtlich des Gebrauchs von Körpern und Artefakten werden vielmehr sozial konstruiert. Welche körperlichen Bewegungsabläufe und welche Verwendung der Artefakte als sinnhaft und gesellschaftlich angemessen gelten, kann im Zuge sozialer Handlungsprozesse auch verändert werden. Im letztgenannten Diskussionspunkt deutet sich an, dass in der praxistheoretischen Konzeption der Strukturationstheorie der materielle Gehalt von Institutionen nicht unabhängig von ihrem kognitiven Gehalt zu sehen ist: Mit der Umsetzung sozialer Praktiken in den Handlungsprozessen (also ihrer Materialisierung unter Verwendung von Körpern und Artefakten oder, ganz allgemein, von Ressourcen) wird der kollektive Wissensbestand an Regeln mobilisiert. Die Materialisierung institutionalisierter Praktiken in alltäglichen Handlungsprozessen spiegelt das kollektive Wissen über die die Praktiken beschreibenden Regeln wider und trägt zugleich zu dessen Reproduktion bei. Diese Verquickung des materiellen und des kognitiven Gehalts im sozialen Handeln zeugt unmittelbar von der Prozesshaftigkeit der Institutionen: Das Wissen um institutionalisierte soziale Praktiken ist im kollektiven Wissensvorrat einer sozialen Gesamtheit verankert, der in der Ausübung der Praktiken immer wieder neu begründet und verändert wird. Der kollektive Wissensvorrat an Institutionen ist nicht statisch, sondern als Ergebnis lokal variierender sozialer Handlungen stets potentiell veränderlich. Die bisherigen Überlegungen zu einem strukturationstheoretisch begründeten prozessorientierten Institutionenbegriff lassen sich abschließend in folgender Weise zusammenführen:
Institutionen stellen soziale Praktiken dar, die sich durch das institutionenbestimmende Merkmal einer weiten Zeit-Raum-Ausdehnung auszeichnen, wobei sich die Berger/Luckmann’schen Eigenschaften der Historizität, Diffusion, Legitimität und Objektivität hierunter subsumieren lassen. Sie lassen sich anhand sinnkonstituierender und normativer Regeln, die im kollektiven Wissensbestand der betrachteten sozialen Gesamtheit verankert sind und routinemäßig in sozialen Handlungsprozessen reproduziert werden, inhaltlich beschreiben. Die Ausübung der institutionalisierten Praktiken geht mit einem routinemäßigen Gebrauch von Ressourcen – wie Körpern und Artefakten – einher. Ressourcen können eine symbolische Wirkung auf die sozialen Handlungsprozesse ausüben, sofern sie im Vollzug der Praktiken regelmäßig in einer bestimmten Art und Weise eingesetzt werden. Als Symbole materieller und sprachlicher Art spiegeln sie dann soziale Regeln wider und verweisen damit auf die institutionalisierten Praktiken.
228
4 Strukturationstheoretische Konzeption institutionellen Wandels
Der strukturationstheoretische Institutionenbegriff wird hiermit unmittelbar aus einer Sozialtheorie hergeleitet, deren zentrales Erkenntnisinteresse darin liegt, ein prozessuales Verständnis des Sozialen zu ermöglichen. Mit der praxisbasierten Definition von Institutionen wird ein prozessorientierter Begriff vorgelegt, sind soziale Praktiken doch keine stabilen Entitäten, sondern unterliegen – dadurch dass sie im und durch das soziale Handeln von Akteuren konstituiert werden – fortwährend dem Potential der Veränderung. 4.3.3 Konzeption des Mikro-Makro-Zusammenhangs Neben Akteurmodellierung und Prozessorientierung stellt sich schließlich die Konzeption des Mikro-Makro-Zusammenhangs als Herausforderung einer theoretischen Konzeption des institutionellen Wandels dar. Wie im zweiten Kapitel bereits ausgeführt wurde, werden damit zwei grundlegende Fragestellungen berührt. Erstens stellt sich das ontologische Problem, welche realen Phänomene sich als Mikro- und welche sich als Makrophänomene ansehen lassen. Hier lässt sich auf Grundlage der Strukturationstheorie vergleichsweise einfach konstatieren, dass die mikrosozialen Phänomene jene Phänomene betreffen, die sich auf das soziale Handeln, auf die Interaktionen zwischen kopräsenten Akteuren, beziehen. Damit stellen sich die Phänomene einer Mikroebene entweder als solche dar, die im Moment des sozialen Handelns selbst wirksam werden, jedoch nicht von Dauer sind, oder als solche, die zwischen Individuen, innerhalb einer kleineren sozialen Gruppierung, Bestand haben, indem sie von diesen individuellen Gruppenmitgliedern fortdauernd praktiziert werden.118 Während ersteren kein 118
Hier kann allerdings die Abgrenzung zur sogenannten Mesoebene schwierig werden, die üblicherweise dazu verwendet wird, soziale Phänomene auf einer Ebene zwischen Mikro- und Makroebene, so beispielsweise der Ebene von Organisationen (oder anderen Typen sozialer Systeme), zu verorten. Obwohl sich die Grenze zwischen Mikro- und Mesoebene eher als fließend erweist, lässt sich zwecks Abgrenzung annehmen, dass all’ jene Phänomene als mikrosozial gelten, die zwischen konkreten Individuen entstehen, und auch nur zwischen ihnen Bestand haben können. Hingegen gehen mesosoziale Phänomene über das Erreichbare einzelner Akteure hinaus. Sie finden sich im Handeln der Mitglieder einer Organisation wieder, sind also in ihrer zeitlichen und räumlichen Verbreitung ausgedehnter, so dass sie sich dem Wirken einzelner Akteure entziehen. Während mikrosoziale Phänomene – soweit sie überhaupt Bestand haben – die Stufe einer Habitualisierung nicht überschreiten, können mesosoziale organisationsspezifische Phänomene sogar Institutionalitätscharakter erlangen, sofern sie innerhalb einer Organisation über Generationen hinweg praktiziert werden. Da hier nun allerdings die Grenze zu makrosozialen Phänomenen fließend wird und sich darüber hinaus vertreten lässt, dass organisationsspezifische Phänomene zumeist nicht an den Grenzen der Organisation halt machen, sondern – wenngleich in leicht abgewandelter Form – in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen auftreten können (im Sewell’schen Sinne auf tiefliegenden
4.3 Theoretische Herausforderungen und der Beitrag der Strukturationstheorie
229
struktureller Status zukommt – sie werden nicht reproduziert – lässt sich bei zweiteren von mikrosozialen strukturellen Phänomenen sprechen. Sie spiegeln sich in gruppenspezifischen sozialen Praktiken, in den unter Individuen herausgebildeten spezifischen Regeln und im spezifischen Umgang mit Ressourcen wider. Makrosoziale Phänomene sind hingegen stets struktureller Natur. Phänomene der Makroebene zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich der unmittelbaren Gestaltbarkeit durch einige wenige Subjekte entziehen. Sie sind zeitlich und räumlich ausgedehnt, haben also über einen längeren Zeitraum in räumlich zumeist nicht miteinander verbundenen Kontexten Bestand, was sich durch einzelne Akteure im Moment ihres Handelns angesichts der natürlichen und strukturellen Handlungsgrenzen ebensowenig überblicken wie beeinflussen lässt. Die makrosozialen Phänomene treten als strukturelle Bedingungen auf, derer sich Einzelne in ihren konkreten Interaktionssituationen nicht entledigen können. Verdeutlichen lässt sich die Unterscheidung zwischen mikro- und makrosozialen Phänomenen anhand der Berger/Luckmann’schen Überlegungen zur Institutionalisierung. Sofern mikrosoziale Phänomene überhaupt einzelne Interaktionssituationen überdauern und insoweit strukturellen Charakter erlangen, können sie allenfalls den Status „habitualisiert“ annehmen. In ihrem Fortbestehen sind sie immer noch an eine Gruppe spezifischer Individuen gebunden.119 Makrosoziale Phänomene gelten demgegenüber bereits als typisiert und verbreitet und können zudem Institutionalitätscharakter erlangen. Sie spiegeln sich in den dauerhaft vollzogenen sozialen Praktiken einer Vielzahl von Akteuren wider, die üblicherweise über keine direkten Kontakte untereinander verfügen (die den Akteuren eine unmittelbare Beeinflussung wie im Falle gruppenspezifischer Praktiken ermöglichen könnten). Soweit den Praktiken die genannten institutionenbestimmenden Eigenschaften zukommen, lassen sie sich entsprechend als institutionalisierte soziale Praktiken bezeichnen. Vor diesem Hintergrund stellt sich institutioneller Wandel im Sinne der Strukturationstheorie als ein makrosoziales Phänomen dar, das auf dem Wandel mikrosozialer Phänomene beruht. Zweitens stellt sich mit Blick auf eine Mikro-Makro-Konzeption das epistemologische Problem, auf welche Weise sich Erkenntnisse über ein makrosoziales Phänomen gewinnen lassen, das nicht unabhängig von den Geschehnissen auf der Mikroebene zu sehen ist. Wie bereits verschiedentlich dargelegt wurde, sind die verbreiteten erkenntnistheoretischen Strategien einer „von unten nach oben“ gerichteten Perspektive, die makrosoziale Phänomene unmittelbar aus dem Wir-
119
Regeln beruhend), werden die mesosozialen Phänomene im Weiteren unter der Kategorie „makrosozial“ fortgeführt. Für diese Gruppe selbst nehmen sie damit also den Status sozialer Strukturen an, und zwar im Sinne von Interaktions- oder Mikrostrukturen, die sie routinemäßig hervorbringen.
230
4 Strukturationstheoretische Konzeption institutionellen Wandels
ken der Mikroebene ableitet, sowie einer „von oben nach unten“ gerichteten Perspektive, die mikrosozialen Phänomenen keinerlei Wirkung auf die Makrophänomene zuspricht, wenig geeignet, zu angemessenen Aussagen über den Wandel von Institutionen zu gelangen. Beide tragen der Verwobenheit des mikrosozialen Wandels innerhalb lokaler Interaktionsprozesse und des makrosozialen institutionellen Wandelprozesses allenfalls einseitig Rechnung. Hier wird statt dessen eine strukturationstheoretische Lösung angestrebt, wonach sich Mikro- und Makroebene zwar analytisch gegenüberstellen lassen – wie es die Unterscheidung von Handeln und Struktur im Modell der Dualität von Struktur ja nahelegt –, beide jedoch in der sozialen Praxis als grundlegend miteinander verwoben anzusehen sind.120 4.3.3.1 Positionierung Insoweit davon ausgegangen wird, dass Mikro- und Makroebene miteinander verwoben sind, müssen sie in irgendeiner Weise aufeinandertreffen. Aus Sicht der Strukturationstheorie erfolgt dies im Moment des sozialen Handelns, in denen die Akteure – eingebettet in bestehende Institutionen –, diskursiv oder handlungspraktisch bewusst einen Bezug zu den Institutionen herstellen. Genauer besehen findet es mit der Positionierung der Akteure in konkreten Interaktionssituationen statt, dass mikro- und makrosoziale Sphäre aufeinandertreffen: „Worüber normalerweise unter der Überschrift von Mikro-/Makro-Prozessen gesprochen wird, ist die Positionierung des Körpers in Raum und Zeit, die Natur von Interaktionen in Situationen von Kopräsenz und die Verbindung zwischen diesen und „abwesenden“ Einflüssen, die für die Einschätzung und Erklärung sozialen Verhaltens relevant sind.“121
Anhand der Giddens’schen Überlegungen zur Positionierung lassen sich Mikround Makroebene miteinander verbinden und damit „von oben nach unten“ und „von unten nach oben“ gerichtete Perspektiven gleichermaßen einnehmen. So zielt Positionierung sowohl auf den Zustand einer sozialen Position als auch auf die Aktivität der Positionierung, mit der letztlich die Verbindung zwischen den mikrosozialen kopräsenten Gegebenheiten und den makrosozialen „abwesenden“ 120
121
Aufgrund der Verwobenheit mag man den Ausdruck „Ebene“ überhaupt als überdenkenswert erachten, werden damit doch scheinbar abgegrenzte, in sich geschlossene und hierarchisch unterscheidbare Bereiche signalisiert, was jedoch in praxi nicht der Fall ist. Vgl. kritisch hierzu auch Giddens [1984] S. 141 f. sowie Knorr Cetina [1981] S. 15 ff. Giddens [1988] S. 196.
231
4.3 Theoretische Herausforderungen und der Beitrag der Strukturationstheorie
Einflüssen verwirklicht wird (vgl. Abb. 10). Dies gilt es nun genauer zu durchleuchten.
SPEZIFISCHES BÜNDEL AN INSTITUTIONALISIERTEN PRAKTIKEN
verbunden mit strukturellen Merkmalen (Regeln und Ressourcen)
Aufrechterhaltende oder verändernde Reproduktion der Institutionen
diskursiv oder handlungspraktisch bewusste Orientierung an den kontextuellen Elementen
POSITIONIERUNG ALS AKTIVITÄT (Analyse des strategischen Verhaltens)
POSITIONIERUNG ALS ZUSTAND (strukturelle Analyse) widergespiegelt von den strukturellen kontextuellen Elementen
SOZIALE PRAXIS
Abbildung 10: Verwobenheit von Mikro- und Makroebene in der sozialen Praxis: das strukturationstheoretische Konzept der Positionierung
Eine „von oben nach unten“ gerichtete Sichtweise berührt vornehmlich die Frage, welchen strukturellen Bedingungen – hier makrosozialer Natur in Form von Institutionen und der die Institutionen beschreibenden Strukturen – das Handeln in einer Interaktionssituation unterliegt. Aufschluss darüber lässt sich dahingehend erlangen, dass die gegebenen sozialen Positionen erörtert werden. In einer Interaktionssituation sind die Akteure in Beziehung aufeinander positioniert, was bedeutet, dass sie über ein oder mehrere soziale Beziehungen miteinander verbunden sind. Mit den Beziehungen werden gemeinhin bestimmte Institutionen und entsprechend bestimmte Regeln und Ressourcen verbunden. So werden in Freundschaftsbeziehungen routinemäßig andere Praktiken vollzogen als in beruflichen Beziehungen zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern. Giddens betrachtet soziale Positionen daher auch als spezifische Geflechte sozialer
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4 Strukturationstheoretische Konzeption institutionellen Wandels
Regeln (und Ressourcen), da mit den Beziehungen unterschiedliche Verhaltensweisen als allgemein sinnhaft und normativ legitimiert vermittelt werden (und typischerweise verschiedenartige Machtmittel als Ressourcen zum Einsatz gelangen). Er selbst formuliert dies in folgender Weise: „Soziale Beziehungen betreffen die „Positionierung“ von Individuen innerhalb eines „sozialen Raumes“ symbolischer Kategorien und Verbindungen.“122
Damit verweist Giddens auf den symbolhaften Charakter sozialer Positionen und Beziehungen. Die in einer Interaktionssituation gegebenen Positionen im Netz sozialer Beziehungen geben Aufschluss über die „abwesenden“ Einflüsse auf das soziale Verhalten und zwar insofern, als sie das spezifische Bündel an Institutionen und die damit verbundenen strukturellen Handlungsbedingungen zu reflektieren, zu symbolisieren, vermögen. Während ein Blick auf die Positionierung im Sinne einer Zustandsbeschreibung eine Annäherung an die strukturellen (Ausgangs-)Bedingungen sozialen Handelns erlaubt, zielt Positionierung als Aktivität auf die Ergebnisse sozialen Handelns und die diesbezüglichen Konsequenzen hinsichtlich der strukturellen Gegebenheiten. Hier wird nun eine „von unten nach oben“ gerichtete Perspektive eingenommen, wobei sich das vorrangige Interesse auf die Frage richtet, inwieweit die makrosozialen Institutionen im lokalisierten mikrosozialen Handeln Bestand aufweisen und damit zur Reproduktion und zum Wandel der Institutionen beitragen. Eine Verbindung zwischen den raumzeitlich ausgedehnten, den „abwesenden“ Institutionen und dem Handeln in räumlich und zeitlich begrenzten, kopräsenten Interaktionssituationen wird im Sinne der Strukturationstheorie durch die Aktivität der Positionierung bewirkt, womit sich die Akteure in handlungsmächtiger Weise auf die im Interaktionsmoment gegebenen institutionalisierten sozialen Praktiken beziehen. Sie beziehen in gewisser Weise also Position, indem sie ihr Handeln an den vorherrschenden Regeln und Ressourcen ausrichten, sich in Bezug zu ihnen positionieren. Wie im Zusammenhang mit dem Akteurmodell bereits diskutiert, geschieht dies überwiegend handlungspraktisch bewusst. Die Handlungsmächtigkeit der Akteure gegenüber den Institutionen äußert sich dann darin, dass sie die im gegebenen Handlungskontext als angemessen erscheinenden Institutionen routinemäßig anzuwenden wissen. Anstelle eines handlungspraktisch bewussten Handelns im Sinne der gegebenen Institutionen vermögen sich die Akteure jedoch auch diskursiv bewusst nicht institutio-
122
Giddens [1988] S. 143.
4.3 Theoretische Herausforderungen und der Beitrag der Strukturationstheorie
233
nenkonform zu verhalten, wobei sich dies darin äußern kann, kontextfremde Praktiken zu „importieren“ oder neuartige Verhaltensweisen auszuprobieren.123 Im Falle einer institutionenkonformen Positionierung stützen die Akteure ihr Handeln auf die mit den sozialen Positionen und entsprechend sozialen Beziehungen gegebenen Praktiken, womit sie im Ergebnis die gegebenen strukturellen Bedingungen weitgehend bestätigen. Mit anderen Worten reproduzieren sie die mit den Praktiken verbundenen strukturellen Merkmale in Gestalt von Regeln und Ressourcen. Allerdings reproduzieren sie diese lediglich „weitgehend“, da eine Anwendung der sozialen Praktiken in konkreten Interaktionssituationen im Allgemeinen mit einer Übersetzung an die lokalen Gegebenheiten einhergeht, die sich darin äußert, dass die sozialen Regeln situationsspezifisch ausgelegt werden.124 Demgegenüber zeichnet sich eine nicht institutionenkonforme Positionierung dadurch aus, dass den mit den Positionen gegebenen sozialen Praktiken nicht durchweg gefolgt wird und die Regeln nicht oder zumindest nur verändert reproduziert sowie die Ressourcen nicht oder andersartig eingesetzt werden. Werden beispielsweise Praktiken aus anderen Kontexten übertragen, kann dies bedeuten, dass die gegebenen strukturellen Merkmale wenigstens teilweise reproduziert werden, sofern nämlich sowohl die alten als auch die neuen Praktiken auf vergleichbaren sozialen Regeln fußen (und mit ähnlichen Ressourcen und einem vergleichbaren Umgang mit diesen verbunden sind). Sind mehrere institutionalisierte Praktiken gegeben, deren Regeln jedoch widersprüchliche Verhaltenserwartungen widerspiegeln, ist es möglich, dass die Akteure mit ihrer Positionierung die strukturellen Merkmale im Ergebnis ebenfalls nur teilweise reproduzieren.125 Positionierung als Aktivität zu begreifen, schärft also den Blick für die Abhängigkeit der Institutionen und ihrer Strukturen von den sozialen Handlungsprozessen. Die Art und Weise, wie die Akteure auf die mit den Positionen und Beziehungen gegebenen Institutionen und strukturellen Handlungsbedingungen Bezug nehmen – sich also positionieren –, bedeutet im Ergebnis entweder deren weitgehend unveränderte Reproduktion oder deren Wandel. Doch warum lässt sich damit nicht nur das Ergebnis einer Interaktionssituation anzeigen, sondern zugleich ein solches, das sich auf eine größere Zeit-Raum-Ausdehnung bezieht? Giddens begründet dies damit, dass sich die Akteure nicht nur lokal ausrichten, 123
124 125
Wie im nachfolgenden Abschnitt zu zeigen sein wird, sind es die spezifischen Bedingungen des jeweiligen Handlungskontextes, die beeinflussen, wie sich die Akteure letztlich positionieren. Was im Übrigen den anhaltenden, endogenen, nicht intendierten Wandel von Institutionen zu erklären vermag. Soweit sie sich in ihren Interaktionen überhaupt an den Institutionen orientieren und damit zur Reproduktion der gegebenen strukturellen Handlungsbedingungen beitragen.
234
4 Strukturationstheoretische Konzeption institutionellen Wandels
sondern sich zugleich an den „abwesenden“ Einflüssen – an den Bedingungen, die außerhalb des konkreten Orts des Zusammentreffens entstanden sind und auch andernorts Bestand haben – orientieren. Sie positionieren sich stets in einem sozialen Kontext, der bereits strukturell vorgeprägt ist: Er ist mit spezifischen Institutionen verbunden, die per definitione weiter in Zeit und Raum ausgreifen: „All social interaction is both contextual – „situated“ in time and space – and yet stretches across time-space „distances“.“126
Lokale Interaktionen begründen letztlich die dauerhafte Existenz und den Wandel von Institutionen. Dadurch, dass sich die Akteure in strukturell vorgeprägten sozialen Beziehungen bewegen, müssen sie sich den mit ihnen verbundenen Institutionen stellen. Damit leisten sie einen Beitrag dazu, dass die raumzeitlich ausgedehnten Institutionen und sozialen Beziehungen weiterhin Bestand haben, was – wie gezeigt wurde – ihren Wandel nicht ausschließt.127 Dabei ist ihr Beitrag nicht derart zu begreifen, als ließen sich Institutionen aus lokalen Interaktionssituationen heraus unmittelbar gestalten und verändern. Zwar verfügen die Akteure mit ihren sozialen Beziehungen und den modernen Informations- und Kommunikationstechnologien über Machtmittel, mit Hilfe derer sich die Ergebnisse ihres Handelns über den lokalen Kontext hinaus verbreiten lassen. Gleichwohl verfällt Giddens hiermit nicht in eine individualistische Argumentation, betont er doch stets die Grenzen menschlicher Handlungsmächtigkeit, die eine unmittelbare Ausbreitung der Konsequenzen lokalen Handelns einschränken.128 126 127
128
So Giddens in einem Interview mit Gregory über „Space, Time and Politics in Social Theory“; Gregory [1997] S. 28. Giddens diskutiert diesen Sachverhalt der sozialen Reproduktion anhand der Unterscheidung von Sozial- und Systemintegration, die bereits im dritten Kapitel angesprochen wurde. Sozialintegration stellt sich für ihn als eine Positionierung in Situationen von Kopräsenz – also in Interaktionen zwischen anwesenden Akteuren – dar. Hier positioniert sich der Akteur gegenüber den individuellen Merkmalen seines Gegenübers – wobei er sich unter anderem an dessen Körpereinsatz und Mienenspiel orientiert – und gegenüber den lokalen, situationsspezifischen Gegebenheiten des Handlungskontextes. Im Gegensatz dazu zielt Giddens mit der Systemintegration darauf ab, die Positionierung gegenüber den dauerhaften, über den lokalen Kontext hinausgehenden Merkmalen, den Institutionen, anzuzeigen. Die Systemintegration erfolgt durch die Aktivität der Positionierung innerhalb des Netzwerks an sozialen Beziehungen, wobei deren räumlich weitgreifende Existenz mithilfe moderner Kommunikations- und Transportmedien unterstützt wird. Wie bereits festgehalten wurde (vgl. 3.3.4), zählen zu den Handlungsgrenzen, die das Wirken sozialen Handelns „von unten nach oben“ begrenzen, einerseits die natürlichen Handlungsgrenzen des Menschen, die im Moment der Positionierung wirksam werden, indem sie zumeist handlungspraktisch bewusst mit den gegebenen strukturellen Handlungsbedingungen umgehen und damit gewissermaßen unbeabsichtigt und zumeist unbemerkt zu deren Auf-
4.3 Theoretische Herausforderungen und der Beitrag der Strukturationstheorie
235
Insgesamt bedeutet das, dass sich ein Wandel von Institutionen über die Positionierung in einer Vielzahl lokaler Interaktionsprozesse vollzieht, deren Ergebnisse zwar über soziale Beziehungen und unter Heranziehung verschiedener Machtmittel weiter in Zeit und Raum wirken können, sich jedoch nicht durch einzelne Akteure unmittelbar erzielen lassen.129 4.3.3.2 Kontextualität Mit dem strukturationstheoretischen Konzept der Positionierung wird die Aufmerksamkeit auf die Kontextualität sozialen Handelns gelenkt. Die Verwobenheit des mikrosozialen Handelns mit den makrosozialen Institutionen offenbart sich in der Positionierung der Akteure in spezifisch ausgeprägten Handlungskontexten. Dabei sind es die Ausprägungen der jeweiligen Handlungskontexte, die wesentlich auf die Aktivität der Positionierung Einfluss nehmen. Die Art und Weise, wie in den Interaktionen auf die vorherrschenden Institutionen Bezug genommen wird, sei es diskursiv oder handlungspraktisch bewusst, sei es bestätigend oder verändernd, wird auch von den kontextspezifischen Bedingungen abhängen. Es ist daher von besonderem Interesse, die kontextuellen Elemente zu erörtern, anhand derer sich die Akteure der in ihrem Kontext gegebenen Institutionen gewahr werden. Neben der diesbezüglichen Rolle sozialer Positionen, die bereits vorangehend diskutiert wurde, werden hierzu nachfolgend weitere Merkmale von Handlungskontexten differenziert, die im Interaktionsmoment
129
rechterhaltung beitragen. Andererseits wirken auch die strukturellen Bedingungen handlungsbegrenzend, insbesondere in Form der jeweils zur Verfügung stehenden Ressourcen, mit der sich die weitere Verbreitung anders- oder neuartiger Positionierungen über die lokale Interaktionssituation hinaus beeinflussen lässt (siehe hierzu auch Abschnitt 4.2.2). Es ist generell hervorzuheben, dass die Strukturationstheorie eine andersartige Sichtweise auf institutionellen Wandel erlaubt, als dies von zahlreichen „traditionellen“ Studien vertreten wird (vgl. Greenwood/Suddaby/Hinings [2002], Hinings et al. [2004] sowie kritisch hierzu Blackler/Regan [2006]). Während dort institutioneller Wandel im Sinne eines „stage model of change“ als ein sequentieller Prozess behandelt wird, der mit einer intendierten lokalen Wandelinitiative der betrachteten Institution beginnt und sich von dort innerhalb eines sozialen Raums (beispielsweise innerhalb eines organisatorischen Felds) ausbreitet, zielt Giddens darauf ab, die Kontinuität des Wandels zu betonen. Institutioneller Wandel ist aus seiner Sicht ein dauerhaftes Phänomen, das sich in einer Vielzahl von Interaktionen ereignet, und zwar häufig gerade nicht sequentiell, sondern zeitgleich in miteinander nicht verbundenen lokalen Kontexten. Es sind die anhaltenden Positionierungsaktivitäten in diesen Kontexten, die den Wandel von Institutionen begründen, ohne dass intendierte Wandelbemühungen zentraler Akteure vorangegangen sein müssen. Und selbst wenn sich der Wandel einer Institution auf eine lokale Wandelinitiative zurückverfolgen lässt, beeinflusst jeder neue Handlungskontext mit seinem einzigartigen Bündel an situativen und strukturellen Bedingungen, ob und auf welche Weise die Akteure die veränderte Praktik in ihre eigenen lokalen Handlungsprozesse integrieren.
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4 Strukturationstheoretische Konzeption institutionellen Wandels
Hinweise auf das Bündel an institutionalisierten Praktiken und strukturellen Handlungsbedingungen liefern. Dass Kontextualität einen wichtigen Aspekt der Strukturationstheorie darstellt,130 zeigt sich unter anderem darin, dass Giddens den Bedeutungsgehalt des Kontextbegriffs an verschiedenen Stellen seines Hauptwerks einzufangen versucht. Dabei hält er den Begriff des Kontextes zunächst einmal ganz allgemein für den Ort des Zusammentreffens von Akteuren, weist jedoch unmittelbar darauf hin, dass sich ein solches Verständnis als zu begrenzt erweisen würde: „By the term „context“ (...) I mean those „bands“ or „strips“ of time-space within which gatherings take place...Context includes the physical environment of interaction but is not something merely „in which“ interaction occurs.“131
Bleibt man zunächst einmal bei der Überlegung, dass der Kontext das physische Umfeld einer Interaktionssituation stellt, werden damit die eher vorübergehenden Bedingungen des sozialen Handelns angezeigt, die lediglich in einem räumlich und zeitlich abgegrenzten Umfeld Bestand haben und mit den Interaktionssituationen wechseln. Sie wurden im Rahmen dieser Arbeit bereits als lokale, situative oder situationsspezifische Elemente (auch: Merkmale) von Handlungskontexten bezeichnet. Zu ihnen zählen beispielsweise einmalige Ereignisse („environmental shocks“) sowie räumliche Gegebenheiten und Gegenstände, denen kein symbolischer Wert zukommt, die also nicht den Status eines Artefakts angenommen haben. Giddens erachtet diesen Bedeutungsgehalt allerdings als zu begrenzt und will vielmehr auf die strukturellen Bedingungen in Interaktionssituationen – auf die strukturellen Elemente von Kontexten – hinaus. Vor diesem Hintergrund führt er den Begriff des Schauplatzes („locale“) ein: „Locales refer to the use of space to provide the settings of interaction, the settings of interaction in turn being essential to specifying its contextuality.“132
Kontexte stellen Schauplätze dar, da den vorhandenen Gegenständen und den Räumlichkeiten bereits eine Bedeutung innewohnt, die sie im Laufe des gewohnheitsmäßigen Handelns mit und in ihnen erlangt haben und die durch den regelmäßigen Gebrauch aufrechterhalten wird.133 Kontexte fungieren insoweit 130 131 132 133
So hält er die Kontextualität für einen inhärenten Bestandteil der Verbindung von Sozial- und Systemintegration. Vgl. Giddens [1984] S. 132 und 139 ff. Giddens [1984] S. 71. Giddens [1984] S. 118. Vor diesem Hintergrund hält Cohen ([1987] S. 296) denn auch fest: „The physical aspects of social settings play a prominent part in the reproduction of institutional activities.“
4.3 Theoretische Herausforderungen und der Beitrag der Strukturationstheorie
237
als Bezugsrahmen („settings of interaction“) für die in ihnen stattfindenden Interaktionen.134 Sie bilden damit eben nicht nur das Umfeld aus zufälligen und bedeutungslosen Gegebenheiten, sondern vermögen den in ihnen stattfindenden Interaktionen Sinnhaftigkeit und normative Legitimität zu verleihen. Mit dem Verständnis von Kontexten als Schauplätzen oder Bezugsrahmen für Interaktionen kommt unter anderem jener Aspekt zum Tragen, der bereits in der prozessorientierten Definition von Institutionen festgehalten wurde: die Materialität von Institutionen. Die physischen Gegebenheiten eines Kontextes können materielle Instanzen institutionalisierter Praktiken darstellen, sofern sie gewohnheitsmäßig zur Umsetzung der Praktiken dazugehören. Sie stellen dann nicht bloß Zeichen dar, die vielfältige Bedeutungen – und entsprechend Gebrauchsmöglichkeiten – vermitteln können, sondern signalisieren einen ganz spezifischen, praxisabhängigen – einen institutionalisierten – Gebrauch. In diesem Sinne nehmen sie die Stellung physischer Symbole oder Artefakte ein, die den Akteuren Hinweise über ein dem Handlungskontext angemessenes Verhalten – oder genauer: über die mit dem Kontext verbundenen Institutionen und strukturellen Bedingungen – liefern. Artefakte repräsentieren Institutionen und gelten daher zuweilen auch als Träger von Institutionen.135 Als materielle strukturelle Elemente von Kontexten weisen sie diese als spezifische Bezugsrahmen aus.136 Die strukturellen Elemente von Kontexten machen sich indes nicht allein in materieller Weise bemerkbar. Vielmehr verdeutlichen bereits die Ausführungen zur Positionierung, dass Institutionen und die mit ihnen verbundenen Regeln und Ressourcen auch in immaterieller Form, durch die in der Interaktionssituation gegebenen sozialen Positionen und Beziehungen, vermittelt werden. Diese Überlegung unterstreichen auch Berger und Luckmann, wenn sie die Vermittlungsfunktion von Rollen diskutieren.137 Rollen repräsentieren Institutionen. Der all134
135 136
137
Es ist darauf hinzuweisen, dass ein sozialer Kontext mehrere Bezugsrahmen suggerieren kann. Im Beispiel der Familienunternehmung sind dies der Bezugsrahmen des familiären Systems einerseits und des Wirtschaftssystems andererseits. Gerade dies kann Anlaß zum Wandel sozialer Praktiken geben, beispielsweise dann, wenn die Bezugsrahmen mit widersprüchlichen strukturellen Bedingungen verbunden sind. Vgl. Scott [2001] S. 81 ff. Zu den materiellen strukturellen Elementen zählen ebenfalls die Räumlichkeiten, in denen das soziale Handeln stattfindet (vgl. zur Bedeutung räumlicher Merkmale für das Verhalten in Organisationen beispielsweise Berg/Kreiner [1990], Rosen/Orlikowski/Schmahmann [1990], Hatch [1990], Ciborra/Lanzara [1990], Froschauer [2002], Elsbach [2006], Yanow [2006]). Ebenso gilt der Körper als materieller Träger von Institutionen, vermitteln körperliche Bewegungsabläufe doch ebenfalls einen Hinweis auf Institutionen (vgl. Abschnitt 4.3.2.3, Gliederungspunkt b)). Vgl. Berger/Luckmann [1969] S. 76 ff. Siehe hierzu ebenfalls die Studie von Zucker [1977].
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gemeine Wissensvorrat an institutionalisierten Praktiken ist an Rollen gebunden; aufgrund ihrer regelmäßigen Teilhabe am sozialen Leben wissen handlungsmächtige Akteure, sich in unterschiedlichen Typen sozialer Beziehungen rollengerecht zu verhalten. Überhaupt halten Berger und Luckmann fest, dass sich Institutionen nur in ihrer Repräsentation durch Rollen als wirklich erfahrbar manifestieren. Diese Aussage lässt sich ohne weiteres auf das strukturationstheoretische Vokabular übertragen. Insoweit soziale Beziehungen als Verbindungen zwischen Rollen und soziale Positionen als Bündel aus verschiedenen Rollen definiert werden, repräsentieren auch sie die institutionalisierten Erwartungen darüber, welche sozialen Praktiken einem Kontext angemessen erscheinen. In welchen Typen sozialer Beziehungen ein Akteur im Interaktionsmoment positioniert ist, lässt ihn auf die Institutionen und die strukturellen Handlungsbedingungen des Kontextes schließen. Befindet er sich beispielsweise seinem Vorgesetzten oder aber einem Kunden gegenüber, so weiß er einerseits seine Interaktionssituation in den Bezugsrahmen der Wirtschaftswelt einzuordnen, andererseits, welche Praktiken man innerhalb dieses Bezugsrahmens und im Besonderen in diesen Beziehungen sinnhafter- und normativ angemessenerweise vollziehen sollte.138 Soziale Positionen und Beziehungen vermitteln insoweit die immateriellen strukturellen Elemente eines Kontextes und weisen ihn damit ebenfalls als Bezugsrahmen aus, womit letztlich die Anwendung bestimmter Institutionen suggeriert wird.139 Kontextualität wurde bisher vorwiegend aus dem Blickwinkel der „von oben nach unten“ gerichteten Perspektive analysiert, indem verschiedene Elemente eines Handlungskontextes als Hinweise auf die Handlungsbedingungen von Interaktionssituationen – und damit auch auf die Institutionen – differenziert wurden (vgl. Abb. 11). Hier gilt es nun, die Aufmerksamkeit auf die entgegengesetzte Perspektive zu lenken. In dieser Sichtweise wird der vermeintlich dinghafte und unveränderliche Charakter der kontextuellen Gegebenheiten aufgehoben – im Vordergrund steht die Handlungsmächtigkeit der Akteure gegenüber ihren Handlungskontexten. Verdeutlichen lässt sich dies erneut anhand des Begriffs des Schauplatzes, mit dem Giddens grundsätzlich einen weiteren – letztlich praxistheoretischen – Gesichtspunkt betonen will: „Locales may be designated by the physical circumstances and human artifacts associated with institutionalized activities, but the concept of locale specifically refers to 138 139
Vgl. Walgenbach/Tempel [2002] S. 174. Zu den immateriellen Symbolen oder Trägern von Institutionen zählt darüber hinaus die Sprache, mit der die alltäglichen Erfahrungen eingefangen und sprachlich vergegenständlicht werden. Vgl. Berger/Luckmann [1969] S. 80, Czarniawska-Joerges/Joerges [1990], Glynn/Abzug [2002], Cuncliffe/Shotter [2006].
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4.3 Theoretische Herausforderungen und der Beitrag der Strukturationstheorie
the way in which these material aspects of social settings are used during the course of social routines.“140
ELEMENTE SOZIALER HANDLUNGSKONTEXTE
situative Elemente
strukturelle Elemente
ohne sozialen Bedeutungsgehalt
mit sozialem Bedeutungsgehalt (habitualisiert oder institutionalisiert)
immateriell
materiell
Soziale Beziehungen, Rollen, Sprache
Artefakte, Räumlichkeiten, Körper
Abbildung 11: Verhaltensrelevante Elemente sozialer Handlungskontexte
Dass Kontexte überhaupt als Bezugsrahmen typischer Interaktionssequenzen wahrgenommen werden, in denen üblicherweise ganz bestimmten Institutionen gefolgt wird, geht darauf zurück, dass dies in der sozialen Praxis immer wieder Bestätigung findet. Artefakte, Räumlichkeiten und Rollen als Repräsentatoren sozialer Bezugsrahmen und dazugehöriger Institutionen auszumachen, setzt folglich voraus, dass ihre Symbolhaftigkeit in den sozialen Handlungsprozessen aufrechterhalten wird, wären doch „[a]lle diese Repräsentationen (...) „tot“ (...), wenn nicht akutes menschliches Verhalten sie ständig „zum Leben“ erwecken würde.“141 Betrachtet man beispielsweise Interaktionen, die in den Geschäftsräumen einer Unternehmung stattfinden, so repräsentieren die Räumlichkeiten den Bezugsrahmen der Unternehmung mit den entsprechenden Wirtschaftspraktiken nur deshalb, weil vergleichbare Typen von Akteuren diesen Praktiken in 140 141
Cohen [1987] S. 297. Berger/Luckmann [1969] S. 80.
240
4 Strukturationstheoretische Konzeption institutionellen Wandels
vergleichbar eingerichteten Räumen und vergleichbaren Rollenträgern gegenüber immer wieder gewohnheitsmäßig nachgehen. In und durch ihre soziale Praxis haben sie letztlich ein typisiertes kollektives Handlungswissen herausgebildet, in dem soziale Praktiken mit Bezugsrahmen (gewissermaßen als Typen sozialer Kontexte) sowie mit kontexttypischen Rollen und Beziehungen gekoppelt erscheinen,142 welches sie im Rahmen ihrer sozialen Praxis aufrechterhalten und verändern. Die Partizipation am solchermaßen typisierten kollektiven Handlungswissen erlaubt den Akteuren schließlich auch das, was Giddens als reflexive Selbstregulation bezeichnet hat:143 die strategisch-reflexive Steuerung sozialer Handlungsprozesse. Sie sind fähig, sich ihr Wissen um die Wirkungsweise sozialer Reproduktionsprozesse diskursiv bewusst und zur strategischen Steuerung des Verhaltens anderer Akteure zunutze zu machen. So vermögen sie ihre Handlungskontexte derart zu gestalten, dass andere sich in ihrem Verhalten gleichsam automatischer an bestimmten Praktiken und Regeln orientieren, da sie ihre Interaktionssituationen eher einem bestimmten Bezugsrahmen zuordnen, sofern bestimmte strukturelle Elemente gegeben sind. Mit einer intendierten architektonischen Gestaltung von Räumlichkeiten oder mit der Zuweisung von Titeln – wie beispielsweise Vertriebsleiter und Vertriebsassistent – werden Artefakte strategisch eingesetzt sowie Beziehungen und Rollen vermittelt, womit sich die Handelnden in einem spezifischen Bezugsrahmen verankert sehen und die diesbezüglichen Institutionen und strukturellen Merkmale vermeintlich eher reproduzieren.144 Wie lassen sich nun die bisherigen Überlegungen zu Positionierung und Kontextualität für eine Untersuchung institutionellen Wandels fruchtbar machen? Zunächst einmal wurde gezeigt, dass anhand der beiden Aspekte eine konzeptionelle Verbindung zwischen mikro- und makrosozialen Phänomenen gelingen kann: Institutionen als makrosoziale Phänomene sind erst wirklich in der sozialen Praxis, die sich mit der Positionierung in spezifischen Handlungskontexten ereignet. Da sie gemäß Berger und Luckmann in ihrer Existenz auf den mikrosozialen Handlungsprozessen beruhen, muss sich der Wandel von Institutionen in Veränderungen in diesen Prozessen widerspiegeln. Genauer besehen, gilt es in einer Untersuchung institutionellen Wandels diejenigen Bedingungen zu erörtern, die die Handlungskontexte der betrachteten Akteure auszeichnen. So sind es die kontextuellen Elemente, die letztlich die Bedingungsfaktoren des institutionellen Wandels repräsentieren (vgl. Abb. 12). Hier fügen 142 143 144
Vgl. hierzu erneut Abschnitt 4.3.1.2. Vgl. Giddens [1984] S. 27 f. Dies bestätigt beispielsweise die im zweiten Kapitel diskutierte Studie von Zucker [1977] über die „institutionelle Kraft“ organisatorischer Symbole.
241
4.3 Theoretische Herausforderungen und der Beitrag der Strukturationstheorie
sich nun wesentliche Überlegungen des vierten Kapitels zusammen, richtet sich das Augenmerk einer solchen Untersuchung damit doch auf die potentiell auslösenden und eine Verbreitung unterstützenden Bedingungsfaktoren des institutionellen Wandels, wie sie im zweiten Kapitel herausgearbeitet und später im strukturationstheoretischen Modell integriert dargelegt wurden.
immateriell Soziale Beziehungen, Rollen, Sprache
UNVORHERGESEHENE EREIGNISSE („exogenous shocks“)
materiell Artefakte, Räumlichkeiten, Körper
regelbezogen
ressourcenbezogen
HETEROGENITÄT & WIDERSPRUCH
MACHTDIVERGENZEN
Sozialer Kontext
STRUKTURELLE ELEMENTE
Strukturelle Bedingungen
SITUATIVE ELEMENTE
Abbildung 12: Verhaltensrelevante kontextuelle Elemente und Bedingungen des institutionellen Wandels
Die Bedingungsfaktoren des institutionellen Wandels zeigen sich im Interaktionsmoment in den jeweiligen Ausprägungen und Beziehungen der kontextuellen Elemente. Verfügen die Akteure im betrachteten Kontext beispielsweise über vielfältige soziale Beziehungen, so lässt sich prüfen, inwieweit mit diesen Institutionen und strukturelle Merkmale verbunden sind, die sich untereinander ausschließen. Ebenso lässt sich betrachten, inwieweit die im Kontext gegebenen Artefakte sich verschiedenen Bezugsrahmen zuordnen lassen, die mit nicht
242
4 Strukturationstheoretische Konzeption institutionellen Wandels
gleichzeitig umsetzbaren Institutionen verbunden sind.145 In beiden Fällen würden die Akteure unter konfliktären strukturellen Bedingungen agieren, wodurch sich eine Positionierung in Konformität mit der Gesamtheit an gegebenen Institutionen nicht realisieren ließe. Zu überprüfen wäre, auf welche Weise sich die Akteure nun positionieren. Sofern sie nicht völlig neuartig agieren, könnten sie entweder nur einem Teil der vorherrschenden institutionalisierten Praktiken folgen oder versuchen, die Praktiken untereinander zu kombinieren („bricolage“). Das Ergebnis ihrer Positionierung bedeutete dann einen Wandel gegenüber den strukturellen Handlungsbedingungen ihrer lokalen Ausgangssituation. Inwieweit dieser dann mit in Zeit und Raum ausgreifenden Konsequenzen verbunden ist, lässt sich im Weiteren dadurch analysieren, dass die anhaltenden Positionierungsaktivitäten der Akteure über einen auszuwählenden Zeitraum (eine Episode) betrachtet werden. Zu analysieren sind die Positionierungsaktivitäten derjenigen Akteure, die insgesamt an dem Strukturationsprozess der jeweils betrachteten Institution teilhaben.146 Dazu gehört es, die Zeit-Raum-Ausdehnung ihrer sozialen Beziehungen – die Ausbreitung ihres Handlungskontextes – zu erheben, über die die lokal veränderten Positionierungen letztlich wirken. Über welche Zeit-Raum-Ausdehnung sich der Wandel einer Institution ausbreitet, ist insoweit davon geprägt, wie weit der Handlungskontext der Akteure reicht und über welches Netzwerk an sozialen Beziehungen sie verfügen.147 Insgesamt zeigt sich also, dass sich mit den strukturationstheoretischen Konstrukten der Positionierung und der Kontextualität einer Mikro-MakroKonzeption näherkommen lässt, wie es einer prozessorientierten Untersuchung von Phänomenen des institutionellen Wandels angemessen erscheint. Auf diese Weise lassen sich gewissermaßen die Wurzeln des institutionellen Wandels fassen: Sie liegen in den sozialen Handlungsprozessen, in den anhaltenden Positionierungsaktivitäten, die sich in einer Vielzahl lokaler und doch – hinsichtlich der 145 146
147
Vgl. Oberg/Schiller [2004], Oberg/Schiller/Walgenbach [2005]. Dies kann sich allerdings forschungsstrategisch als kaum umsetzbar erweisen, sofern der Wandel von Institutionen mit hohem Verbreitungsgrad analysiert werden soll, vermag doch kaum ein Forschungsteam die Positionierungsaktivitäten aller beteiligten Akteure zu erheben. Es ist daher zu überlegen, anhand welcher Kriterien eine begründete Auswahl der zu analysierenden Positionierungen erfolgen kann. So ließen sich beispielsweise nur die Positionierungsaktivitäten machtvoller Akteure betrachten. Zur Auswahl bietet sich unter anderem das machtverleihende Kriterium der Zentralität an. Studien, die die Rolle von Berufsverbänden in Prozessen des institutionellen Wandels erheben (vgl. erneut Greenwood/Suddaby/Hinings [2002]), folgen im Grunde diesem Kriterium: Berufsverbände verfügen über zahlreiche direkte und indirekte soziale Beziehungen zu den übrigen Akteuren des betrachteten sozialen Raums, womit sie als zentral und entsprechend machtvoll gelten. Wobei in diesem Zusammenhang wiederum die herrschaftsstrukturellen Bedingungen zu analysieren sind, so beispielsweise die Frage, wie sich die machtvollen Akteure des Netzwerks in ihren lokalen Handlungskontexten positionieren.
4.3 Theoretische Herausforderungen und der Beitrag der Strukturationstheorie
243
Verbreitung ihrer strukturellen Elemente – in zeitlich und räumlich weitgreifenden sozialen Kontexten vollziehen.
5 Perspektiven für die Organisationsforschung
5.1 Beitrag zum organisationssoziologischen Institutionalismus Die vorliegende Arbeit hat sich mit einem Phänomen beschäftigt, dem in der organisationswissenschaftlichen Forschungspraxis derzeit eine hohe Aufmerksamkeit zuteil wird: dem Wandel von Institutionen. Verfolgt wurde dabei die Perspektive des organisationssoziologischen Institutionalismus, womit sich das Augenmerk auf das Zusammenspiel zwischen dem Handeln von und in Organisationen und dem gesellschaftlichen Wandel richtete. Institutionen – verstanden ganz allgemein als zeitlich und räumlich weitgreifende soziale Praktiken, die in der routinehaften Alltagspraxis wie selbstverständlich reproduziert werden – wandeln sich ständig. Hinter dieser scheinbar harmlos anmutenden Feststellung versteckt sich das Kernproblem der derzeitigen Debatte: Wie lässt sich einem sozialen Phänomen wissenschaftlich näherkommen, das nicht nur durch eine einzelne Organisation, sondern gesellschaftlich – durch eine Vielzahl von Akteuren – konstituiert wird, ohne die Komplexität des Phänomens in unverhältnismäßiger Weise zu reduzieren? In der Arbeit wurde gezeigt, dass die im organisationssoziologischen Institutionalismus vorrangig verfolgten wissenschaftlichen Herangehensweisen gleichermaßen reduktionistisch verfahren, indem sie entweder von der Bedeutung der Akteure abstrahieren oder aber ihre Handlungsmächtigkeit als zu hoch und damit die Bedeutung bestehender institutioneller Verhältnisse in der Gesellschaft als zu gering veranschlagen. Es wurde argumentiert, dass die Reduktionismen wissenschafts- oder allgemein sozialtheoretisch begründet sind, wobei im ersten Fall die Grenzen holistischer, im zweiten Fall die Grenzen individualistischer Ansätze berührt werden. Unter der Annahme, dass es sich hierbei um inkommensurable Forschungsparadigmen handelt – womit die Möglichkeit einer multiparadigmatischen Herangehensweise ausgeschlossen wurde –, wurde als Alternative eine praxistheoretische Grundlegung angeregt. Dabei wurde gezeigt, dass Praxistheorien insoweit eine Alternative darstellen, als sie selbst den Anspruch erheben, eine ebensowenig individualistische wie holistische Auseinandersetzung mit sozialen Phänomenen zu liefern. Das konkrete Potential der Praxistheorien wurde anhand der Strukturationstheorie erörtert. Damit wurde eine Theorie gewählt, die im organisationssoziologischen Institutionalismus bereits seit geraumer Zeit
246
5 Perspektiven für die Organisationsforschung
als Kandidatin zur Analyse institutionellen Wandels gehandelt wird, was sich mittlerweile zwar in verschiedenen aufschlussreichen Arbeiten widerspiegelt, jedoch bislang noch nicht zu einer gesamthaften Ausarbeitung des diesbezüglichen Beitrags der Theorie geführt hat. Diesem Forschungsdefizit hat sich die vorliegende Arbeit gewidmet, indem Bestandteile einer strukturationstheoretischen Konzeption entwickelt wurden, anhand derer sich das Phänomen des institutionellen Wandels in einer nichtreduktionistischen Weise analysieren lässt. Dabei wurden als Bestandteile der Konzeption die folgenden diskutiert:
1
Mit dem strukturationstheoretischen Modell an Bedingungsfaktoren des institutionellen Wandels wurde gezeigt, dass die Strukturationstheorie die durch zahlreiche institutionalistische Studien empirisch erhobenen Bedingungsfaktoren integriert zu betrachten erlaubt. Das Modell vermittelt insofern eine nicht reduktionistische Sichtweise, als die potentiellen Ursachen institutionellen Wandels in den strukturellen Gegebenheiten verankert liegen. Ausgehend von der strukturationstheoretischen Idee der Positionierung wurde ein Konzept entwickelt, das die allzu schematische Trennung zwischen einer Mikro- und einer Makroebene zu überwinden und beide in einer Analyse institutioneller Wandelprozesse zu erfassen erlaubt. Soziales Handeln (Mikro) und Institutionen (Makro) gelten danach nicht als zwei getrennte Sphären der sozialen Welt – wie es die analytische Unterscheidung zu suggerieren scheint –, sondern werden als in den alltäglichen sozialen Handlungsprozessen miteinander verwoben angesehen. Anhand des Positionierungskonzepts lässt sich dies konzeptionell berücksichtigen: Soziales Handeln findet in sozialen Kontexten statt, in denen bereits strukturelle oder institutionelle Bedingungen vorherrschen. In dieser Hinsicht sind die Akteure in einer bestimmten Weise positioniert, was ihnen Handlungsmöglichkeiten und -grenzen vermittelt. Im Zuge ihres Handelns positionieren sie sich dann gegenüber den Institutionen ihres Kontextes, womit sie zu deren Reproduktion oder Wandel beitragen. Individualistisch und holistisch begründete Verkürzungen des Phänomens institutioneller Wandel werden dabei vermieden: Einerseits sind es nicht die Individuen allein, die den Wandel (aggregiert) hervorbringen, denn als „individual[s]-embedded-inpractice“1 handeln sie stets im Kontext gegebener Institutionen, was den Ausgang ihres Handelns beeinflusst. Andererseits lässt sich institutioneller Wandel ebensowenig allein auf exogene Veränderungen oder auf neuartige funktionelle Erfordernisse sozialer Systeme zurückführen. Vielmehr ist die Tsoukas [2003] S. 612.
5.1 Beitrag zum organisationssoziologischen Institutionalismus
2
247
Art und Weise, wie die Akteure auf entsprechende Veränderungen reagieren oder sich die Erfordernisse zu eigen machen, ausschlaggebend dafür, ob dies einen Wandel institutionalisierter Praktiken nach sich zu ziehen vermag.2 Insoweit institutioneller Wandel als ein makrosoziales Phänomen angesehen wird, das sich im Wandel auf mikrosozialer Ebene widerspiegelt, hat eine Konzeption institutionellen Wandels ihren Fokus auf die sozialen Kontexte als Orte des Zusammentreffens mikro- und makrosozialer Sphären zu legen. Im Rahmen von Überlegungen zur Kontextualität wurde das bereits angesprochene Konzept der Positionierung nun dahingehend erweitert, dass verschiedene Elemente sozialer Handlungskontexte definiert wurden, anhand derer sich die spezifischen strukturellen oder institutionellen Handlungsbedingungen – als Medium und als Ergebnis der Positionierungen – erheben lassen. In Kombination mit dem eingangs erwähnten Modell an Bedingungsfaktoren wurde daraufhin gezeigt, wie sich die Bedingungen institutionellen Wandels innerhalb der lokalen Kontexte äußern. Anhand des Modells lässt sich nun untersuchen, inwieweit gegebene kontextuelle Merkmale derart ausgeprägt sind, dass sie eher eine weitgehend unveränderte Reproduktion oder eher einen Wandel von Institutionen hervorzurufen imstande sind. Die Strukturationstheorie ist prozessorientiert ausgerichtet. Dies offenbaren nicht nur die zentrale Annahme der Dualität von Struktur, wonach soziale Phänomene gleichermaßen Medium wie Ergebnis sozialer Handlungsprozesse darstellen, sondern zugleich die Modelle, die zur Analyse sozialer Reproduktionsprozesse angeboten werden. Damit erlaubt es die Theorie, Institutionen als Prozessphänomene zu betrachten, die im Laufe sozialer Handlungsprozesse einer stetigen Veränderung unterliegen. Entsprechend wurde ein praxistheoretisches Institutionenmodell abgeleitet. Grundlage für die Institutionendefinition bildete der für die Theorie zentrale Begriff der sozialen Praktiken, die letztlich nur im und durch die anhaltenden Handlungsprozesse und im veränderlichen kollektiven Wissensvorrat der Akteure Existenz erlangen. Institutionen wurden als institutionalisierte soziale Praktiken definiert und Institutionalität als eine Eigenschaft erfasst, die sich
In dieser Arbeit wurde – unter anderem in Anlehnung an Munir [2005] – argumentiert, dass exogene Veränderungen nur dann einen institutionellen Wandel bewirken, wenn sie von den Akteuren in ihren Handlungsprozessen aufgegriffen werden, sich also in Veränderungen lokaler Positionierungsaktivitäten abzeichnen.
248
5 Perspektiven für die Organisationsforschung
in einer weiten Zeit-Raum-Ausdehnung der Praktiken widerspiegelt.3 Nicht nur die Existenz der Praktiken, auch ihre Zeit-Raum-Ausdehnung ist letztlich daran gebunden, dass sie in der sozialen Praxis aufrechterhalten wird, womit sich die Institutionalität als stets veränderliches Ergebnis sozialer Handlungsprozesse erweist. Insgesamt eröffnet die prozessorientierte Ausrichtung der Strukturationstheorie mithin einen Zugang zum endogenen Wandel von Institutionen: Soziale Phänomene werden als Prozessphänomene aufgefasst, zu deren Analyse die vorangehend beschriebenen Modelle zur Verfügung gestellt werden. Die Strukturationstheorie verhilft darüber hinaus zu einer Akteurkonzeption, die es erlaubt, die Handlungsmächtigkeit von Akteuren in einer ausgeglichenen Weise zu erfassen. Akteure gelten als sozial eingebettete Wesen, die nur insofern handlungsmächtig sind, als sie über ein allgemein geteiltes Handlungswissen um soziale Praktiken („Alltagswissen“) verfügen – was einerseits eine rationalistische Überzeichnung ihrer Handlungsmächtigkeit zu verhindern hilft, die Bedeutung der Akteure jedoch andererseits zu berücksichtigen ermöglicht, sie in ihrer Handlungsmächtigkeit also nicht deterministisch verkürzt. Die verschiedenen Aspekte der Handlungsmächtigkeit gegenüber Institutionen wurden im Zusammenhang mit der Akteurkonzeption konkretisiert.
In ihrer Gesamtheit erlauben es die dargelegten Bestandteile schließlich, das vieldiskutierte und doch bisher wenig ausgearbeitete Potential der Strukturationstheorie als aussichtsreiche – weil nichtreduktionistische – Konzeption des institutionellen Wandels darzulegen. Damit lässt sich nun auch argumentieren, dass die Kritik von Stinchcombe aus dem Jahre 1986 als überholt gelten darf: „But what it needs to give it an air of concreteness and reality, to produce the theory of structural change Giddens is aiming for, is a set of variables describing what sorts of milieux can produce what sorts of outputs to structures (...), and another set of variables describing what sorts of structures can give these outputs extension in time and space. Giddens has given us a good sketch of what is needed for a theory of institutional dynamics, but has not provided the concepts at lower levels of abstraction, variables differentiating milieux and differentiating structures, needed for a more concrete theory of institutional change.“4
3
4
Wobei gezeigt wurde, dass sich die institutionenbestimmenden Eigenschaften nach Berger und Luckmann – Historizität, Diffusion, Legitimität und Objektivität – hierunter subsumieren lassen. Stinchcombe [1986] S. 913.
5.1 Beitrag zum organisationssoziologischen Institutionalismus
249
Einerseits hat das strukturationstheoretische Modell an Bedingungsfaktoren gezeigt, dass sich Variablen des institutionellen Wandels im Stinchcombe’schen Sinne sehr wohl anhand der Theorie herleiten lassen. Andererseits wurde mit dem Positionierungskonzept – einem Konzept „at lower levels of abstraction“ – und den Ausführungen zur Kontextualität deutlich, dass sich die strukturellen Bedingungen in verschiedenartigen Ausprägungen von Handlungskontexten offenbaren, womit sich der Stinchcombe’schen Forderung nach „variables differentiating milieux“ nachkommen lässt. Insgesamt muss der wesentliche Beitrag der vorliegenden Arbeit als ein theoretischer gewertet werden: Es wird eine sozialtheoretische Konzeption vorgelegt, die die wissenschaftstheoretisch begründeten Grenzen verbreiteter Ansätze des institutionellen Wandels zu überwinden hilft. Zentrales Ziel der Arbeit war es denn auch, zu einer diesbezüglichen Verbesserung der Forschungspraxis im organisationssoziologischen Institutionalismus beizutragen. Da die Arbeit nicht empirisch angelegt ist, wurden die methodologischen Aspekte einer solchen Konzeption bisher nicht angesprochen. An dieser Stelle seien lediglich einige kurze Überlegungen angestellt. So kann man damit starten, sich ein Bild bisher angewandter Forschungsmethoden zu verschaffen.5 Widmet man sich den bisherigen institutionalistischen Studien jedoch mit dem Ziel, auf diese Weise einen einheitlichen Kanon an Methoden zu erschließen, wird man enttäuscht. Hier zeigt sich vielmehr eine Vielfalt an Methoden sowohl qualitativer als auch quantitativer Natur, ohne dass eine bestimmte Methode bevorzugt Verwendung finden würde.6 Generell lässt sich zumindest konstatieren, dass zur Erforschung institutionellen Wandels ein Methodenmix vorgeschlagen wird, der sich aus qualitativen und quantitativen Methoden zusammensetzt. Auf der einen Seite eröffnet sich der Zugang zu den intersubjektiven Sinngehalten sozialen Handelns – verankert im kollektiven Wissensvorrat der Gesellschaft (im oben genannten Sinne) – nicht ohne die Verwendung qualitativ-interpretativer Methoden. So argumentieren beispielsweise die Diskursanalytiker, dass sich Institutionen im Inhalt, in der Rhetorik und in den Dialogen der Akteure eines Felds abzeichnen,7 was letztlich einen interpretativen Zugang voraussetzt. Darüber hinaus geht es in 5
6
7
Vgl. zu den Methoden zur Untersuchung institutionellen Wandels grundsätzlich Campbell/Pedersen [2001b]; Lounsbury [2003] S. 213 f.; Lounsbury/Ventresca [2003] S. 466 ff.; Campbell [2004] S. 48 ff.; Schneiberg/Clemens [2006] S. 214 ff.; Walgenbach/Meyer [2008] S. 178 ff. Allerdings werden beispielsweise diskursanalytische Verfahren, die gleichermaßen eine quantitative und eine interpretativ-qualitative Auseinandersetzung mit dem Forschungsobjekt ermöglichen, zunehmend diskutiert. Vgl. zur Diskursanalyse im Institutionalismus insbesondere Phillips/Lawrence/Hardy [2004] sowie beispielhaft die Arbeiten von Hoffman [1999]; Ruef [2000]; Phillips [2002]; Phillips/Hardy [2002]; Meyer [2004]; Maguire/Hardy [2006]. Vgl. beispielsweise Hoffman [1999] S. 355; Schneiberg/Clemens [2006] S. 216 f.
250
5 Perspektiven für die Organisationsforschung
einer Analyse institutionellen Wandels darum, die Symbolträchtigkeit sozialer Handlungskontexte zu erfassen (wirken die Institutionen doch, wie gezeigt wurde, über die spezifischen kontextuellen Elemente), was sich in den sozialen Handlungsprozessen abzeichnet, ohne dass sich die Akteure diskursiv damit auseinandersetzen, also gewissermaßen ein Wort darüber verlieren müssten. Dies setzt wiederum einen „quasi-ethnologischen Blick auf die Mikrologik des Sozialen“8 voraus. Wenn es allerdings darum geht, den Verbreitungsgrad einer Institution – oder generell: ihren sich verändernden Institutionalitätsgrad – zu ermessen, womit ein größerer sozialer Raum zu betrachten ist, stoßen qualitative Methoden jedoch an ihre Grenzen. Hier sind nun auf der anderen Seite quantitative, statistische Verfahren heranzuziehen. Das Phänomen des institutionellen Wandels lässt sich also am genauesten erheben, sofern qualitative und quantitative Methoden gemeinsam Verwendung finden.9 5.2 Institutioneller und organisatorischer Wandel Neben der generellen Bedeutung einer institutionalistischen Perspektive auf das Phänomen organisatorischen Wandels, auf die bereits in der Einleitung eingegangen wurde, ist es im Besonderen die Prozessorientierung, die die vorgestellte Konzeption auch für die Organisationswissenschaft im Allgemeinen interessant erscheinen lässt. Dort wird bereits seit geraumer Zeit die Frage diskutiert, wie sich ein prozessorientiertes Verständnis von organisatorischen Phänomenen und Organisationen erzielen lässt.10 Sie steht auch im Zusammenhang damit, das Phänomen des organisatorischen Wandels genauer zu erfassen und verstehen zu lernen. Dabei wird es als eine wesentliche Voraussetzung angesehen, den Wandel von Organisationen nicht als ein Ausnahmephänomen zu betrachten, das allein durch strategische Managemententscheidungen initiiert wird und lediglich 8 9
10
Reckwitz [2003] S. 298. Siehe zu ethnomethodologischen Verfahren beispielsweise Garfinkel [1967]; Heritage [1987]; Giddens [1995b] S. 233 ff.; Lynch [2001]. Hier lässt sich mit Suchman [1995b] S. 53 anführen: „[A] full understanding of any historical instance of institutionalization is likely to require something more than statistical analysis, no matter how rigorous and comprehensive that statistical analysis may be…[C]ognitive constructs…exist only in the minds of individuals and in the patterned symbols of collectivities…[O]ne can often count symbolic displays, such as contractual terms, and regress them against other quantified symbols, such as time and location, but in order to make sense of the results, one must also grapple with the hermeneutics of the symbols themselves.“ Siehe auch Giddens [1984] S. 333 f.; Lounsbury [2001] S. 53. Vgl. diesbezüglich beispielsweise Gray/Bougon/Donnellon [1985]; Pentland/Rueter [1994]; Orlikowski [1996]; Chia [1999]; Feldman [2000]; Schreyögg/Noss [2000]; Tsoukas/Chia [2002]; Feldman/Pentland [2003]; Van de Ven/Poole [2005]; Shotter [2006].
5.2 Institutioneller und organisatorischer Wandel
251
abgrenzbare Perioden im Leben einer Organisation betrifft, sondern vielmehr als einen fortwährenden Prozess: „[C]hange is immanent in organizations: In carrying out their tasks, actors are compelled to interact with the outside world, and, thus, to accommodate new experiences, and actors, having the inherent ability to be reflexive, are prone to drawing new distinctions and making fresh metaphorical connections. Action in an openended world is potentially creative, insofar as individuals need to improvise (i.e., to reweave their webs of beliefs and their habits of action) to act coherently.“11
Vor diesem Hintergrund wird ein neuartiger theoretischer Zugang zum Forschungsobjekt der Organisation gefordert, anhand dessen sich ihr Wandel nicht nur als ein kontinuierliches Phänomen – als „continuous change“ –, sondern als eine konstitutive Bedingung ihrer Existenz begreifen und erfassen lässt. Verschiedene Organisationsforscher diskutieren in jüngster Zeit die diesbezügliche Bedeutung von Praxistheorien,12 eröffnen jene doch die Möglichkeit, das zu erfassen, was Schatzki als „organization as it happens“ bezeichnet: „the performance of its constituent actions and practices and the occurrence of events whereby its material arrangements causally support these activities.“13 Im Rahmen dieser Arbeit wurde gezeigt, dass die Strukturationstheorie eine entsprechende theoretische Grundlage zu liefern verspricht. Organisationen gelten dort als spezifische Muster sozialer Praktiken, die im Zuge der organisatorischen Handlungsprozesse kontinuierlich reproduziert und damit auch verändert werden.14 Anhand der strukturationstheoretischen Konzeption lässt sich grundlegend erörtern, wie in verschiedene gesellschaftliche Kontexte eingebettete Organisationsmitglieder den Wandel ihrer Organisation im alltäglichen Handeln immer wieder gleichsam beiläufig oder handlungspraktisch hervorbringen. Die vorgelegte prozessorientierte Konzeption veranschaulicht insoweit, dass der Institutionalismus gerade den endogenen, nicht intendierten Wandel von Organisationen – das anhaltende Organisieren im Zuge der alltäglichen sozialen Handlungsprozesse und die diesbezügliche Bedeutung gesellschaftlicher „Tatbestände“ – zu erfassen und zu erklären vermag. Daher hat DiMaggio denn auch geäußert:
11 12 13 14
Tsoukas/Chia [2002] S. 577. Vgl. nur Orlikowski [2000], [2002], [2007]; Jarzabkowski [2005]; Lawrence/Suddaby [2006]; Schatzki [2006], [2005]; Whittington [2006]; Lounsbury/Crumley [2007]. Schatzki [2006] S. 1863. Vgl. hierzu insbesondere Abschnitt 3.4.4.
252
5 Perspektiven für die Organisationsforschung
„Institutional theories of organization represent (...) a promising strategy for modeling and explaining instances of organizational change that are not driven by processes of interest mobilization.“ 15
Allerdings eröffnet die Konzeption ebenfalls einen Blick auf intendierte Wandelprozesse, gibt sie doch auch jene kontextuellen Bedingungen an die Hand, unter denen Akteure dazu neigen, ihre bisherigen Handlungsroutinen grundsätzlich zu überdenken und sich bewusst für eine Veränderung bestehender Verhältnisse einzusetzen. Insgesamt lässt sich auf dieser Grundlage letztlich das realisieren, was Scott vor einiger Zeit als ein wichtiges Potential des organisationssoziologischen Institutionalismus erachtet hat: „Institutional theory can accommodate – and we can hope it will enable – the development of a process concept of organization/organizing.“16
Im Ergebnis sei festgehalten, dass der Forschungsbeitrag der vorliegenden Arbeit grundsätzlich in einer Weiterentwicklung der organisationswissenschaftlichen Erforschung von Phänomenen des institutionellen, aber auch des organisatorischen Wandels zu sehen ist. Es bleibt nun abzuwarten, inwieweit sich das erörterte Potential einer strukturationstheoretischen Konzeption institutionellen Wandels als zutreffend erweist. Eine Antwort darauf mag letztlich nur über die empirische Forschungspraxis zu erlangen sein, denn „[i]n the long run, the best theory is only as good as its evidence.“17
15 16 17
DiMaggio [1988] S. 3. Scott [2001] S. 214. Poole et al. [2000] S. 5.
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