Odo Marquard Individuum und Gewaltenteilung Philosophische Studien Reclam
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Odo Marquard Individuum und Gewaltenteilung Philosophische Studien Reclam
Universal-Bibliothek Die hier versammelten Texte entstanden in den Jahren 1984-2003 und dokumentieren wiederum Marquards »endlichkeitsphilosophische Skepsis«. Aus dieser erwächst der Sinn für Gewaltenteilung, Vorbedingung für menschliche Freiheit und somit die Entwicklung des Individuums. Damit hängt eng zusammen eine Philosophie der Bürgerlichkeit (zu J oachim Ritters 100. Geburtstag), ein weiterer Schwerpunkt der glänzend formulierten Studien dieses Bandes.
ISBN 3-LS-0183Db-S
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4,80
€
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Marquard Individuum und Gewaltenteilung
Odo Marquard
Individuum und Gewaltenteilung Philosophische Studi~n
Philipp Reclam jun. Stuttgart
In memoriam Joachim Ritter (1903-1974)
Universal-Bibliothek Nr. 18306 Alle Rechte vorbehalten © 2004 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart Gesarntherstellung: Reclam, Ditzingen. Printed in Germany 2004 RECLAM und UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclarn jun. GmbH & Co., Stuttgan ISBN 3-15-018306-5 www.reclarn.de
Inhalt
Vorbemerkung . . . . . . . . .
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Kleine Anthropologie der Zeit
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Skepsis als Philosophie der Endlichkeit
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Verweigerung der Bürgerlichkeitsverweigerung 1945: Bemerkungen eines Philosophen
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Das Über-Wir Bemerkungen zur Diskursethik
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Sola divisione individuum Betrachtungen über Individuum und Gewaltenteilung
68
Mut zur Bürgerlichkeit Vernünftig ist, wer den Ausnahmezustand vermeidet
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Drei Betrachtungen zum Thema »Philosophie und Weisheit« . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
Die Denkformen und die Gewaltenteilung Zur Aktualität der Philosophie von Hans Leisegang
114
Einheitswissenschaft oder Wissenschaftspluralismus?
124
Musik in der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . .
138
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Inhalt
Theodizeemotive in Fichtes früher Wissenschaftslehre .
145
Eine Philosophie der Bürgerlichkeit ]oachim Ritters Hermeneutik der positivierten Entzweiung
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Textnachweise . . .
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Biographische Notiz
169
Veröffentlichungen von Odo Marquard
171
Vorbemerkung
Die Texte dieses kleinen Buchs sind zwischen 1984 und 2003 entstanden. Sie vertreten - weiterhin - eine endlichkeitsphilosophische Skepsis. Skepsis ist nicht die Apotheose der Ratlosigkeit, sondern der Sinn für Gewaltenteilung. Die Menschen sind- als endliche Wesen - nicht durch ursprüngliche Souveränität frei, sondern durch Gewaltenteilung: weil mehrere Wrrklichkeiten - mehrere Überzeugungen, Traditionen, Geschichten, Sakralgewalten, politische Formationen, Wirtschaftskräfte, Kulturen und andere Determinanten - existieren und sie definieren, die einander durch Determinationsgedrängel beim Determinieren einschränken. Dadurch gewinnen die Menschen ihre individuelle Freiheit gegenüber dem Alleinzugriff einer jeden: sola divisione individuum. Die Skeptiker haben Sinn für diese Entstehung des Individuums. Sie zweifeln, also kultivieren sie - wie das Wort Zweifel sagt- mindestens zwei, also eine Mehrzahl von Überzeugungen in ihrem Kopf und von Wirklichkeitstendenzen in ihrer Wrrklichkeit. Das befähigt uns, durch Gewaltenteilung ein Individuum zu werden: mehr Wirklichkeit zu sehen und in mehr Wrrklichkeit- in mehreren Wirklichkeiten - zu leben, indem wir - durch Lebenspluralisierung- mehr merken: durch den Verzicht auf die Anstrengung, dumm zu bleiben. Merken ist wichtiger als Ableiten. Mit dieser Formulierung habe ich beschrieben, was ich vor allem bei meinem philosophischen Lehrer Joachim Ritter gelernt habe. Für mich war das keine einfache Sache, hieß es doch, gleichzeitig die uneingeschränkte theoretische Offenheit, also das Merken dessen, was ist, und - als ermöglichen-
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Vorbemerkung
des Gegenlager - den Sinn für Institutionen zu entwikkeln. Joachim Ritter, gestorben 1974, wäre am 3. April 2003 hundert Jahre alt geworden. Dem Andenken an ihn - dem ich mehr als nur viel verdanke - widme ich dieses Buch.
Kleine Anthropologie der Zeit
Herr Ministerpräsident! Hochansehnliche Festversammlung! Das Menschenleben ist kurz. Unsere gewisseste Zukunft ist unser Tod. Unsere unvermeidlichste Vergangenheit ist unsere Geburt. Das gilt für jeden Menschen: denn- um es nüchtern und diesseits aller existenzialistischen Emphase zu formulieren - die Mortalität und die Natalität der Menschen beträgt nach wie vor durchschnittlich 100 Prozent. Unsere Lebenszeit - die Zeitstrecke zwischen der einzigen Geburt, durch die wir selber zur Welt kommen, und dem einzigen Tod, den wir selber sterben - ist endlich. Sie ist gerade keine aus dem Unbestimmten ins Unbestimmte weiterfließende gleichförmige und unbegrenzte Folge von Gegenwarten: sie ist vielmehr befristet. Hätten wir beliebig viel Zeit, könnten wir beliebig viel Zeit vergeuden, ohne Zeit zu verlieren: es gäbe ja immer wieder neue. Die aber gibt es gerade nicht. Unsere Zeit ist endlich, sie ist Frist, sie ist knapp. Die knappste unserer knappen Ressourcen ist unsere Lebenszeit. Zu einem kurzen Leben gehört eine kurze Philosophie. Darum muß auch ein Vortrag, der sie zur Sprache bringt, kurz sein. Ich fasse mich ultrakurz, indem ich hier nur auf folgende drei Tatbestände hinweise: 1. Schnelligkeit und Langsamkeit; 2. Innovationsüberlastung und Kontinuitätskultur; 3. Lebenspluralisierung. 1. Schnelligkeit und Langsamkeit. Das Menschenleben ist kurz. Darum lautet in jener skeptischen Endlichkeitsphilosophie, die ich vertrete, ihr temporal-anthropologischer Hauptsatz: Der Mensch ist das Zeitmangel-Wesen. Daraus folgt - meine ich - mindestens dreierlei:
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Kleine Anthropologie der Zeit
a) Unser Leben ist kurz; darum können wir nicht beliebig lange warten, sonst verpassen wir. unser Leben. So müssen wir also ungeduldig sein und eilen. Was wir - verändernd, verbessernd- an Neuern erreichen wollen, müssen wir schnell erreichen: jedenfalls schneller, als der schnelle Tod uns erreicht; sonst nämlich erreichen wir es gar nicht. Darum gilt: Unsere Lebenskürze zwingt uns Menschen zur Schnelligkeit. b) Unser Leben ist kurz; darum können wir nicht beliebig viel N eues erreichen, uns fehlt einfach die Zeit dazu. Das limitiert unsere Veränderungsfähigkeit und bindet uns an das, was wir schon sind, an unsere Herkunft. So bleiben wir, trotz aller Schnelligkeit, langsam. Darum gilt: Unsere Lebenskürze zwingt uns Menschen zur Langsamkeit. c) Unser Leben ist kurz; darum haben wir nicht die Wahl, ob wir schnell oder langsam leben wollen, sondern wir müssen - unvermeidlicherweise - stets beides: schnell und langsam leben, Eiler und Zögerer sein. Unsere Lebenskürze zwingt uns dazu; und das ist - meine ich - gut so. Denn dieses temporale Doppelleben schützt uns - als eine Art Gewaltenteilung der Zeit - vor temporalen Gleichschaltungen: davor, nur- zukunftshungrig- schnell oder nur - herkunftsdominiert - langsam zu leben. Wir müssen stets beides sein: schnell und langsam. 2. Innovationsüberlastung und Kontinuitätskultur. Das gilt für jeden Menschen. Es gilt in verstärktem Maße für die modernen Menschen. Die moderne Welt steigert zugleich das menschliche Innovationstempo und den menschlichen Langsamkeitsbedarf. Denn je mehr die Innovationsbeschleunigung zur Innovationsüberlastung führt, desto stärker wächst der Bedarf, ihre Kontinuitätsbrüche zu kompensieren: durch Langsamkeitspflege, durch Kontinuitätskultur. Die moderne Welt beschleunigt das menschliche lnno-
Kleine Anthropologie der Zeit
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vationstempo vor alle.m, indem sie Traditionen neutralisiert: denn nur traditionsneutral kann die Wissenschaft, kann die Technik, kann die Wirtschaft, kann die soziale Welt, kann der Fortschritt immer schneller, immer universeller werden. So -durch die Neutralisierung von Traditionen - forciert die moderne Welt unsere Schnelligkeit so sehr, daß die Langsamkeit besiegt zu werden und abzusterben scheint: ausschließlich das schnelle Leben scheint übrigzubleiben. Aber das - diese Innovationsüberlastung halten wir Menschen nicht aus. Darum brauchen wir gerade in der modernen Welt. mit ihren Kontinuitätsbrüchen die Kompensation durch Kontinuitätspflege. Wie sie gelingt, zeigen uns die ganz kleinen Kinder, die die für sie unermeßlich neue und fremde Welt bestehen, indem sie eine eiserne Ration an Vertrautem kontinuierlich mit sich führen: ihren Teddybären. Wo sich die Wirklichkeit immer schneller ändert und so dauernd fremd wird, brauchen auch die Erwachsenen derlei »transitional objects«, also Teddybär-Äquivalente: z.B. Klassiker. Dann kommen sie mit Goethe durchs Jahr, mit Habermas durchs Studium, mit Reich-Ranickidurch die Gegenwartsliteratur, und so fort. Je schneller die Zukunft modern für uns das Neue - das Fremde - wird, desto mehr Kontinuität und Vergangenheit müssen wir - teddybärgleich - in die Zukunft mitnehmen und dafür immer mehr Altes auskundschaften und pflegen. Darum wird heute zwar mehr vergessen und weggewoden als je zuvor; aber es wird heute auch mehr erinnert und respektvoll aufbewahrt als je zuvor: Das Zeitalter der Entsorgungsdeponien ist zugleich das Zeitalter der Verehrungsdeponien: der Museen, der Naturschutzgebiete, .~er Kulturschutzmaßnahmen, der Denkmalpflege, der Okologie, des ästhetischen und historischen Sinns, der Hermeneutik als Altbausanierung im Reiche des Geistes, der Geisteswissenschaften. Die moderne Welt - je schneller sie wird - braucht Ausgleich durch Langsamkeitspflege. Ihre
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Kleine Anthropologie der Zeit
Überlastung durch Innovationen muß kompensiert werden: durch Kontinuitätskultur. Zukunft braucht Herkunft. 3. Lebenspluralisierung. Das Menschenleben ist kurz. Dieses kurze Leben leben wir obendrein nur ein einziges Mal. Auch deswegen benötigen wir mehr Lebenszeit, als wir haben, um mit unserem Leben fertig zu werden. Darum brauchen wir unsere Mitmenschen, die ja viele sind mit vielen - bunten - Lebenszeiten, an denen wir teilnehmen können und so - in gewisser Hinsicht - auch ihre Leben und Lebenszeiten haben. Mit so vielen Mitmenschen man kommuniziert, so viel mal ist man ein Mensch. Der Zeitmangel der endlichen Menschen wird also kompensiert durch die Kommunikation mit ihren Mitmenschen. Das nenne ich Lebenspluralisierung: die Ergänzung unseres einen kurzen Lebens durch Kommunikationskultur. Für die Partizipation an einem Teil dieser lebenskompensierenden und lebenspluralisierenden Kommunikationskultur - der Wissenschaft - einen Preis zu bekommen, ist schön, besonders, wenn es ein hessischer Preis ist für jemanden, der - wie ich - selber kein gebürtiger Hesse ist, sondern ein gebürtiger Hinterpommer, geübter Ostfriese, studierter Westfale, und der- obwohl er sein gültiges Abitur in Hessen abgelegt hat: in Treysa; und obwohl er jetzt schon 32 Jahre in Gießen lebt- nach Bestätigungen lechzt dafür, daß er nun inzwischen vielleicht doch ein wirklicher Hesse geworden ist. Und was könnte eine eindrucksvollere Bestätigung dafür sein als ein echter hessischer Preis, überreicht durch einen echten hessischen Ministerpräsidenten? Ob ich diesen Preis verdient habe oder nicht: jedenfalls freue ich mich über ihn- den Hessischen Kulturpreis für Wissenschaft 1997 - und sage für ihn artig meinen herzlichen Dank.
Skepsis als Philosophie der Endlichkeit
Ich möchte hier den Versuch machen zu schildern, wie sich meine Philosophie - die sich vielleicht immer noch ganz gut als endlichkeitsphilosophische Skepsis bezeichnen läßt - in die gegenwärtige Situation einordnet: auch, aber nicht nur in Richtung auf Europa. Bevor ich das tue, möchte ich zwei kurze Vorbemerkungen machen. , Zu der ersten Vorbemerkung haben mir meine Ärzte geraten: dies ist der erste Vortrag, den ich nach meinem Schlaganfall im Juni halte. Warnen Sie - war der ärztliche Rat - ihr Publikum; ich habe nämlich seither einige Sprachschwierigkeiten, und vielleicht funktioniert mein Vorlesen nicht so recht. Im Falle eines Falles - der aber vielleicht nicht eintritt - würde ich Peter Probst bitten, meinen Beitrag weiter vorzulesen. In der zweiten Vorbemerkung gestehe ich, daß dieser Vortrag von mir- mit leichten Variationen vor allem zum Schluß - im großen und ganzen dem Text entspricht, der inzwischen - betreut durch Tamas Mikl6s - als Einleitung zu meinem im Mai bei Aclantisz in Budapest in Übersetzung erschienenen Buch Az egyetemes törtenelem es mas mesek publiziert ist: auf ungarisch ist er also in etwa schon lesbar, polnisch oder deutsch noch nicht: wenn ein des Ungarischen Mächtiger ihn schon gelesen haben sollte, bitte ich ihn um Entschuldigung. Die anthropologische These meiner skeptischen Philosophie der menschlichen Endlichkeit ist diese: der Mensch ist kein absolutes Wesen, sondern er ist - als endliches Wesen, das sein Umkommen hinausschieben, sich vom Absoluten entlasten und dafür sein Leben pluralisieren muß - gerade aus Mangel an Absolutheit ein primärer Taugenichts, der sekundär zum homo compensator wird. Er ist nicht so gut gestellt, daß er es sich leisten könnte,
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Skepsis als Philosophie der Endlichkeit
das Unvollkommene zu verschmähen; er ist angewiesen auf Vizelösungen, auf die zweitbesten Möglichkeiten, auf das, was nicht das Absolute ist. Der Weg in diese skeptische Philosophie der menschlichen Endlichkeit begann für mich unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Als einer, der damals- 1945 wurde ich 17- »kein Kind mehr und noch nicht erwachsen« war, gehörte ich zu jener demographischen »Kohorte«, die im Blick auf Deutschland Helmut Schelsky die >>skeptische Generation« genannt hat. Darum wurde meine Philosophie zur Skepsis: ich machte damals das Erschrecken und die Ernüchterung zur philosophischen Position; und dabei ist es - durch mancherlei Einstellungsvarianten hindurch - geblieben. Zugleich wurde für mich damals das Theodizeeproblem wichtig: die Frage nach der Güte Gottes angesichts der Übel in der Welt, die - seit Leibniz ihr den Namen »Theodizee« gab - ein spezifisch neuzeitliches Problem ist: man traktiert diese Frage erst dort, wo die menschliche Lebenslast und der direkte Leidens- und Mitleidensdruck nachläßt, also unter Bedingungen der Distanz und darum im Zeitalter der Distanz, der Neuzeit. Zugleich aber bleibt diese Frage-si Deus, unde malum?- philosophisch ungelöst. Darum nteressierten mich alsbald die philosophischen Versuche, mit seiner Ungelöstheit zu leben. So wurde ich schließlich auch und vor allem aufmerksam auf das Theodizeemotiv der Autonomisierung: den Schluß von der Güte Gottes auf seine Nichtexistenz, die durch die idealistische, geschichtsphilosophische und absolutheitsphilosophische Ernennung des autonomen Menschen zum Weltlenker vollstreckt wurde: durch den deutschen Idealismus und jene Geschichtsphilosophien, die die Geschichte - die singularisierte Totalgeschichte der Weltverbesserung und Welterlösung - priorisieren und den Menschen zu ihrem absoluten Täter ausrufen. Vorübergehend wurde auch für mich diese Geschichtsphilosophie als Po-
Skepsis als Philosophie der Endlichkeit
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sition interessant und attraktiv, und zwar nun in ihrer sozialistischen Form: das -der Marxismus wurde ja in beiden Teilen des Deutschland vor 1989 zur herrschenden philosophischen Lehre - lag für meine Generation nahe, weil man sich vor der Versuchung zur rechten Revolution, zur nationalsozialistischen Verweigerung der Bürgerlichkeit, aus der man kam, schützen wollte durch die Konversion in die linke Revolution, die sozialistische Verweigerung der Bürgerlichkeit, und indem man diesen Schritt dadurch bekräftigte, daß man seinen Mitmenschen vorwarf, ihn nicht radikal genug vollzogen ZU haben und ZU vollziehen; man entkam dem Tribunal, indem man es wurde: durch die »Kritik<< genannte Flucht aus dem GewissenHaben in das Gewissen-Sein. Erst im Laufe der Zeit und später - deutlich nach 1968 -wurde mir die Konsequenz aus der Einsicht in diesen Mechanismus plausibler, die mein philosophischer Lehrer Joachim Ritter schon früh gezogen hatte und die er in einer Nichtidentitätsphilosophie - einer Philosophie der positivierten Entzweiung gerade der bürgerlichen Welt - vor allem im Anschluß an Aristoteles und Hege! vertrat: daß es nicht ausreicht, nur mit dem Fortschritt und der rationellen gesellschaftlichen Zukunft - heute nennt man das Globalisierung- sich zu identifizieren oder nur mit den Herkunftstraditionen und ihrer Bewahrung, sondern daß es gilt, die moderne >>Entzweiung<< von >>Zukunft<< und »Herkunft<< auszuhalten und- als eine Form der Gewaltenteilung - zu positivieren durch eine Philosophie der Zusammengehörigkeit von Fortschritt und Bewahrung. Das impliziert u. a. auch dieses: das Geg·enteil zum rechten Totalitarismus ist nicht der linke Totalitarismus, sondern die liberale Demokratie. Die Kontraposition zur einen Verweigerung der Bürgerlichkeit ist nicht die andere Verweigerung der Bürgerlichkeit, sondern die Verweigerung dieser Bürgerlichkeitsverweigerung: der Mut zur Bürgerlichkeit. Denn problematisch ist unsere Gegen-
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Skepsis als Philosophie der Endlichkeit
wartswelt nicht deswegen, weil es zu viel, sondern deswegen, weil es zu wenig Bürgerlichkeit in. ihr gibt. Darum bekam ich »Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie«, die den Menschen zum absoluten Chef der totalen Geschichte ernennt. Es ist die Erfahrung vor allem der letzten zweihundert Jahre, daß der Mensch diese absolute Rolle nicht aushält. Die Philosophie der Absolutheit des Menschen scheitert - insbesondere durch Verfeindungszwänge, durch Sündenbockbedarf - und disponiert dadurch zum »Abschied vom Prinzipiellen«, zu einer Philosophie der Endlichkeit und endlicher Formen der Antwort auf die Defizienzen der Wirklichkeit, die trotz dieser Defizienzen - die ich nicht wegretuschieren möchte - auf bescheidene Weise zustimmungsfähig bleibt. Wir müssen diese vorhandene Wirklichkeit- als moderne, als bürgerliche Welt: gerade auch unterwegs nach Europa - vor der Sehnsucht schützen, sie hinter uns zu haben, also schließlich auch vor der postmodernistischen Sehnsucht und ihren Aufklärungswiderrufseffekten; denn die moderne, die bürgerliche Welt ist - als Rationalisierung plus Pluralisierung - mehr Nichtkrise als Krise: sie ist nicht der Himmel auf Erden, aber auch nicht die Hölle auf Erden, sondern die Erde auf Erden. Ich versuche hier - auf unordentliche Weise - diese skeptische Philosophie der menschlichen Endlichkeit zu konkretisieren: es werden dabei vor allem fünf Dinge philosophisch wichtig (a. Lebenskürze; b. Pluralismus; c. Kompensationen; d. Kultur der Grenzreaktionen; e. Stilbedarf). Da ist: a) die menschliche Lebenskürze. Der absoluten Geschichtsphilosophie der definitiven Vollendungsgeschichte der Menschheit kommt der Tod der einzelnen Menschen dazwischen. Unsere aufdringlichste Zukunft ist nicht das Endziel der Menschheit, sondern unser je eigener Tod. Darum wird unsere Finalität limitiert durch unsere Mortalität. Unsere Zukunft ist nicht primär das Feld der Voll-
Skepsis als Philosophie der Endlichkeit
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endungen, sondern das Feld der Endlichkeit. Der Mensch ist- wie Heidegger es formulierte - »zum Tode«: vita brevis; »Sein zum Tode« interpretiert als Motiv der Lebenskürze. Diese Kürze unserer Iebens- und sterbensweltlichen Zukunft bindet uns zugleich an das, was wir schon sind. Wir haben keine Zeit, unserer Herkunft in beliebigem Umfang zu entkommen; darum bleiben wir stets auch und überwiegend unsere Vergangenheit, die uns durch kontingente Traditionen - durch Üblichkeiten- bestimmt: sie könnten auch anders sein, als sie sind, obwohl wir sie Überwiegend nicht ändern können. Sie sind Sch1cksalszufälle: wir Melischen sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Wahl. Da ist: b) der Pluralismus. Menschen brauchen Pluralisierungen. Wir mildern sogar jene Zeitknappheit, die dadurch entsteht, daß wir nur ein einziges Leben haben, durch Lebenspluralisierung: indem wir Mitmenschen haben und durch Kom1p-unikation mit ihnen ein wenig auch ihr Leben leben. Uberhaupt sind die Menschen - als endliche Wesen - nicht durch ihre ursprüngliche Souveränität frei, sondern weil mehrere Wirklichkeiten- mehrere Überzeugungen, Geschichten, Mythen, Sakralgewalten, politische Formationen, Wrrtschaftskräfte, Üblichkeiten, Kulturen und mehrere andere Determinanten - existieren und sie definieren, die einander durch Determinationsgedrängel beim Determinieren einschränken; dadurch gewinnen die Menschen ihre individuelle Freiheit gegenüber dem Alleinzugriff einer jeden: sola divisione individuum. Die Skeptiker haben dafür Sinn, denn sie zweifeln: sie kultivieren - wie das Wort Zweifel sagt - mindestens zwei, also eine Mehrzahl von Überzeugungen in ihrem Kopf und von Wirklichkeitstendenzen in ihrer Wirklichkeit. Das erlaubt und befähigt uns, nicht nur mehr Wirklichkeit zu sehen, sondern auch in mehr Wirklichkeit - in mehreren Wirklichkeiten - zu leben. Diese Lebenspluralisierung verteilt die Lebenslast auf mehrere Schultern: gerade der
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Skepsis als Philosophie der Endlichkeit
Skeptiker - und manchmal hat man den Eindruck: nur der Skeptiker - rechnet nicht nur mit sich selbst, sondern vor allem auch mit den anderen Menschen und den anderen auch den nicht-skeptischen - Philosophen. Skepsis ist nicht die Pflege der Ratlosigkeit, sondern der Sinn für Gewaltenteilung: für die Milderung der Endlichkeit durch Pluralität. Darum werden wichtig: c) die Kompensationen, die Mängel und Verluste durch ersetzende oder wiederersetzende Leistungen ausgleichen. Auch der Kompensationsbegriff - nota bene - kommt philosophisch zunächst aus der Theodizee (Gott- schrieb Leibniz - hat die Übel durch Annehmlichkeiten »kompensiert<<); erst dann wurde er zur psychoanalytischen Vokabel und - bei Helmuth Plessner und Arnold Gehlen zum Leitbegriff der Anthropologie. Das Mängelwesen Mensch kompensiert seine physischen Mängel durch die Kultur. Und - das betonte die Kompensationsphilosophie von Joachim Ritter, die Hermann Lübbe und ich heute fortsetzen - zur modernen Kultur - deren Rationalität die Ausklammerung der lebensweltlichen Geschichten verlangt - gehört, daß die ausgeklammerten Geschichten zugleich kompensatorisch festgehalten werden: etwa durch die spezifisch moderne Ausbildung des historischen Sinns. Zur Veränderungsbeschleunigung gehören kompensatorische Langsamkeiten. Der moderne Aufstieg der exakten Naturwissenschaften und der Technik- aber auch die moderne Utopisierungsneigung- wird kompensiert durch die spezifisch moderne Entwicklung etwa der Geisteswissenschaften. Die neuzeitliche »Entzauberung<< (Max Weber) wird - spezifisch modern - kompensiert durch die große Ersatzverzauberung des Ästhetischen. Globalisierungen und Universalisierungen werden kompensiert durch Regionalisierungen, Lokalisierungen und Individualisierungen. Zur modernen Innovationskultur, die zum Wegwerfen zwingt, gehört - kompensatorisch - die moderne Blüte der Bewahrungskultur. Und so fort. Kritiker dieser Korn-
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pensationsphilosophie.- die dort zur Nichtkrisentheorie der Moderne werden kann, wo die emphatische Fortschrittstheoriewackelt- erklären just das zum Mangel und Fehler der Kompensationen, was doch ihr Vorzug ist: daß Kompensationen nicht erlösen, sondern eben nur kompensieren; sie sind keine absoluten, sondern sie sind endliche Vorgänge und Maßnahmen, die darum für den Menschen angernessen und menschlich sind, der kein absolutes, sondern ein endliches Wesen ist. Wer mehr will als Kompensationen schürt im Endlichkeitsfelde des Menschen. die Absolutheitsillusion, also den Größenwahn. Da ist: d) die Kultur der Grenzreaktionen. Wer in der - modernen - Wrrklichkeit nicht nur die Ausgrenzungen bemerkt, sondern auch ihre Kompensationen, sieht mehr Wirklichkeit, als offiziell vorgesehen. Er pflegt die Einbeziehung des Ausgeschlossenen, insbesondere auch die Übertretung von Merkverboten. Helrnuth Plessner sprach hier von »Grenzreaktionen« und meinte unter anderem das Lachen: es gibt ja nicht nur das Auslachen, das Grenzen schließt und Wirklichkeiten weglacht, sondern vor allern auch- das hat Joachirn Ritter betont- das humoristische Lachen und Lachen über sich selbst, das Grenzen öffnet, so daß man sich dadurch neue Wirklichkeiten anlacht. Zu diesen Grenzreaktionen, die gebaut sind wie das Lachen, gehört die Vernunft und die Philosophie, die ihr altes Pensum, das Ganze zu denken, so auf bescheidene Weise auch in ihrer skeptischen Gegenwartsform festhält, indem es ihr darauf ankommt, möglichst nichts zu übersehen. Sie verweigert Merkverweigerungen und erspart uns Selbstbornierungen: durch den Verzicht auf die Anstrengung, dumm zu bleiben. Merken -das habe ich bei meinem philosophischen Lehrer Joachirn Ritter gelernt Merken ist wichtiger als Ableiten. Da ist schließlich: e) der Stilbedarf als literarische Form dieser endlichkeitsphilosophischen Skepsis. Zwei Tendenzen bestimmen die literarische Situation der gegenwärtigen Philosophie:
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Skepsis als Philosophie der Endlichkeit
zum einen das Ende der durch Tradition selbstsicheren Schulphilosophien, zum anderen der Aufschwung der durch exakte Wissenschaftlichkeit selbstsicheren modernen Wissenschaften. Wo diese Selbstsicherheit der Philosophie - noch oder schon- regiert, hat für die Philosophie der Stil ihrer mündlichen oder schriftlichen Präsenz wenig Bedeutung: »Wer seiner Sache todsicher ist« - schreibt Wolf Lepenies im Blick auf wissenschaftsgeschichtliche Vorgänge und Sprachverhältnisse seit dem 18. Jahrhundert - >>braucht sich den Kopf kaum darüber zu zerbrechen, wie er lebendig von ihr redet.« Erst wo diese Selbstsicherheit nicht mehr oder noch nicht herrscht, also unter Bedingungen nicht der absoluten, sondern der unabsoluten Philosophien, wird für sie der Stil wichtig, so daß gilt: in der Philosophie gibt es gerade so viel Stilbedarf, wie sie unabsolut, also wie Skepsis in ihr ist. Ihr Stilwille kompensiert ihre Schwäche: die Skepsis muß aus der Not philosophischer Selbstunsicherheit die Tugend literarischer Ansehnlichkeit machen. - Dieser Mangel an Selbstsicherheit existiert, weil die Skeptiker nicht - als Inhaber eines Standpunkts (nach David Hilbert ist >>ein Standpunkt ein Gesichtskreis mit dem Radius null«) - standpunktfest stehen, sondern weil die Skeptiker schwimmen. Ihnen geht es ähnlich wie jener Fliege, die in ein Milchfaß fiel und die gleichwohl nicht ertrank, weil sie nicht aufgab, sondern so lange strampelte, bis dadurch die Milch zu Butter wurde, so daß die Fliege wieder die Chance bekam wegzufliegen: dieses Strampeln entspricht der Bemühung um Stil in der Skepsis. Dabei muß natürlich präzise, geduldig und gut gestrampelt werden, zugunsten literarischer Bonität: also daß die Skeptiker-Texte zugleich ernste und vergnügliche Texte sind, durchsichtige und komponierte, spannende und entspannende Texte, rhythmisch anspruchsvolle und jedenfalls unverwechselbare Texte, lesbare- stilistisch e~r geizige - Texte also, die lesbarkeitshalber immer noch einmal umgeschrieben werden müssen, bis sie so lesbar sind,
Skepsis als Philosophie der Endlichkeit
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daß sogar ihr Autor sil! versteht und dann - mit, wie Roland Barthes sagte, >>plaisir du texte<< - schließlich auch seine Mitmenschen sie goutieren. Das gilt für die schriftliche wie für die mündliche Form. Nötiger als overhead ist dabei head. Fundamentales Wolkentreten genügt dafür nicht. Es reicht nicht aus, philosophische Sätze zu formulieren, die nur durch ihre Langweiligkeit wahr sind: weil bei ihnen sogar der Irrtum gähnt und sich nicht für sie interessiert. Also muß gerade die skeptische Philosophie sie vor allem - interessant zu sein versuchen: sie muß .aus Gedanken bestehen, die man auch in schweren Lebenslagen noch bemerkt und mit denen man es notfalls ein Leben lang aushalten kann. Darum braucht sie Erfahrung: sie muß - wenn auch noch so indirekt - existentielle und zeitdiagnostische Gehalte haben und - vor allem - Lebenserfahrung verarbeiten, auch wenn das die empiriophoben reinen Aprioristen schreckt: also jene reinen Philosophen, die ihre reine Philosophie streng nach dem Königsberger Reinheitsgebot von 1781 brauen. So werden in der skeptischen Philosophie auch literarisch Fachflüchter wichtiger als Fachhocker. Philosophen, die nur für professionelle Philosophen schreiben, agieren fast so absurd, wie Sockenhersteller es täten, die Socken nur für Sockenhersteller herstellen. Sie - diese nur für Fachphilosophen schreibenden Philosophen - werden in der Regel nicht einmal von Fachphilosophen gelesen, so daß sie tatsächlich völlig angewiesen sind auf jene negativen Literaturpreise, die die Druckkostenzuschüsse sind: die Auszeichnungen fürs voraussichtliche Nichtgelesenwerden. - Wo diese Texte - gerade bei philosophischen Texten, die keine Pflichtlektüren sind: nicht mehr als Überlieferungsbestände von Schulen und noch nicht als Forschungsstände des Wissenschaftsfortschritts - sich nämlich aus dem Status der Pflichtlektüren für ihr Fach emanzipieren, müssen sie zur Neigungslektüre für alle Menschen werden. Das muß -anders als vom Funktionär der Schule und vom Funk-
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Skepsis als Philosophie der Endlichkeit
tionär des Wissenschaftsfortschritts - vom Einzelnen geschrieben werden: durch den einzelnen Philosophen, der als >>philosophe-ecrivain« zugleich Schriftsteller ist und seine kontingente Position durch Pointen existent und spürbar und wirklichkeitsfest macht: durch die stilwillige Schreibart der philosophischen Skepsis. Diesseits der Fachgemeinschaften trifft der philosophische Schriftsteller dabei nicht nur auf die gesamte Schriftstellerei der Menschen, sondern damit direkt geradeswegs auch auf ihre modern expandierende Quantität, die gegenwärtig zunehmende Uferlosigkeit des Geschriebenen. Auch darum scheitert schließlich die naive Zuversicht von Autoren, dadurch, daß sie Texte schreiben, Anspruch zu haben, gelesen zu werden. Denn Texte sind - angesichts der Lebenskürze der sterblichen Menschen: sozusagen als Angriff auf ihre begrenzten Aufmerksamkeitsvermögen und knappen Lebenszeitbudgets - immer Belastungen und Belästigungen ihrer Mitmenschen. Das bedeutet: jeder Text muß dafür Buße tun, daß es ihn gibt. Das aber gelingt der Tendenz nach durch Stil. Es schließt die Suche nach der leichten und pointierten Formulierung nicht nur nicht aus, sondern gerade ein. Das stilistische und ästhetische Formulierungsspiel ist nicht das Gegenteil, sondern ein Aggregatzustand des Ernstes: jener, der den Ernst so ernst nimmt, daß er es für notwendig hält, ihn erträglicher zu machen. Der skeptische Philosoph braucht die Leichtigkeit als Form, um sich auszuhalten: um sich selbst an den Denk- und Schreibtisch zu locken und um Buße zu tun dafür, daß er seine Mitmenschen mit Denken und Schreiben belästigt. So - oder so ähnlich - entsteht der Stil der endlichkeitsphilosophischen Skepsis aus dem Bedürfnis nach Buße und Entlastung. Sie macht aus der Not der Selbstunsicherheit - der fehlenden Absolutheit - der Philosophie die Tugend des Stilwillens. Philosophie ist, wenn man trotzdem denkt. Stil ist, wenn man trotzdem schreibt.
Verweigerung der Bürgerlichkeitsverweigerung 1945: Bemerkungen eines Philosophen 1
Von mir - dem philosophischen Emeritus, dem nun schon gebrechlichen Altphilosophen unseres Fachbereichs werden Sie nicht erwarten, daß ich Detaillierteres vorbringen kann zum engeren Thema dieser Ringvorlesung »1945- Germanistik an der Wende?<<, denn ich bin kein Germanist, sondern Philosoph. Ich beschränke mich darum auf einige quasi philosophische Überlegungen über das, was 1945 und drumherum geschah, und schicke folgenden Hinweis voraus. Am 8. Mai des laufenden Jahres- des Jahres 1995 -hatte ich auf Einladung des Dipartimento di Filosofia der Terza Universita di Roma und des Centro Culturale Tedesco Roma, also des Goethe-Instituts Rom, dort einen Vortrag zu halten über die Anthropologie der Zeit. In Italien liegen die Daten der Erinnerung an das Kriegsende früher. Aber ich habe mir Gedanken darüber gemacht, ob es - bei der einzigen Nicht-Routine-Veranstaltung des Goethe-Instituts an diesem Tage- nicht angebracht wäre, an das Kriegsende 50 Jahre früher zu erinnern. Ich habe da in der Via Savoia 15- und zitiere mich selbst- Folgendes gesagt: »Heute ist der 8. Mai: auch mein Land denkt heute zurück an das Ende des Zweiten Weltkriegs, durch den es Schrecken und Leid über die Welt gebracht hat. Zwar ist das Kriegsende vor 50 Jahren nicht mein Thema (sondern die Anthropologie der Zeit). Aber ich hielte es nicht für richtig, den 8. Mai 1945 in meinem Vortrag nicht wenigstens zu erwähnen. Er war für Deutschland ein Tag des Zusammenbruchs, der eine Befreiung vom Totalitarismus war, die im westlichen Teil Deutschlands alsbald und im östlichen Teil Deutschlands 45 Jahre später wirksam wurde. Ich persönlich hatte - damals gerade 17 geworden -
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Verweigerung der Bürgerlichkeitsverweigerung
am 8. Mai 1945 das Glück, der sowjetischen Kriegsgefangenschaft knapp zu entgehen und in amerikanische Kriegsgefangenschaft zu kommen. In dieser Form war dieser Tag vor 50 Jahren ein entsch~_idendes Datum meiner eigenen bewußten Lebenszeit.« Uber dieses Stichwort »Lebenszeit« bin ich dann zum Thema meines Vortrags >>Anthropologia del Tempo« weitergegangen. Die Erwähnung der »eigenen bewußten Lebenszeit« in bezug auf den 8. Mai 1945 aber signalisierte und signalisiert, daß in bezug auf 1945 der Philosoph, der hier spricht, nicht nur eigene Überlegungen von sich gibt, sondern auch eigene Erinnerungen hat. Darum gliedere ich meine Vorlesung_ heute in folgende zwei Abschnitte.: 1. Erinnerungen; 2. Uberlegungen. Ich beginne - den Ublichkeiten entsprechend - mit Abschnitt: 1. Erinnerungen. Sie können im Kürschner gegenkontrollieren, daß ich am 8. Mai 1945 genau 17 Jahre und 71 Tage alt war. Ich war damals - nach meiner Luftwaffenhelferzeit und einer sechswöchigen Zwischenphase, in der ich in Sonthofen im Allgäu am 6. März ein ungültiges Abitur (»Diplom«) erwarb - Volkssturmmann in einem Volkssturmeinsatzbataillon, das in typischen Berliner Doppelstockbussen aus der Gegend südlich Berlins in die Gegend von Gotha transportiert wurde. Von dort bin ich dann mit dieser Einheit - ab Ende April bewohnt von Läusen - bis ins Vogtland und ins damalige Sudetenland vor den Amerikanern halbwegs geordnet weggelaufen. Am 8. Mai sind wir unter dem Eindruck eines dort damals verbreiteten Gerüchts von der nun schon sehr weit östlich liegenden Westfront eilig in Richtung Ostfront marschiert: es hieß, ein Waffenstillstand mit den Westmächten würde das Weiterkämpfen gegen die Sowjets - die aufzuhalten es dadurch Chancen gebe - ermöglichen. Am Abend des 8. Mai 1945 stellte sich heraus, daß dieses Gerücht falsch war. Daraus entstand sofort die Frage: Wie gelingt es, nicht in
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sowjetische, sondern ip. amerikanische Kriegsgefangenschaft zu kommen? Nachts sind wir- beim Gehen immer wieder einschlafend- zurückmarschiert. Als es am 9. Mai 1945 hell wurde, waren wir wieder im Vogtland, fielen erschöpft um und schliefen, und im Laufe des Tages wurden wir amerikanische Kriegsgefangene südlich von Plauen (bei Schöneck). Ende Juni wurden die, die in die westlichen Besatzungszonen entlassen wurden, dazu gehörte auch ich, in Viehwagen nach Diez an der Lahn verlegt, weil die Sowjets Plauen übernahmen. Wenn ich heute jemanden erschrecken will, rede ich von meiner Zeit im Zuchthaus Diez, das der logistische Mittelpunkt des damaligen französischen Kriegsgefangenenlagers war. Am 9. August 1945 - ehe die erwachseneren Gefangenen aus Diez in die schlimmen Lager Remagen und Kreuznach kamen- wurden die Nochnichterwachsenen, wie ich einer war, entlassen. Ich bekam meine ersten Nachkriegs-Lebensmittelkarten in Limburg, die ich am 10. August in Gießen leerkaufte: erst seit diesem Tag wußte ich wirklich, daß es Gießen gibt und wo es liegt. Mitte August erfuhr ich in N orderney, wo eine Tante uns aufnahm, daß meine Eltern noch lebten. Wenig später ist die Familie meiner Frau -die schon im April nach einem Treck mit Pferd und Wagen aus Westpreußen in Thüringen angekommen warnoch einmal - mit Pferd und Wagen - weitergezogen: nach Ostwestfalen. Ich kannte meine Frau damals noch nicht; meinen Schwiegervater, der im März 1945 gefallen ist, und den Bruder meiner Frau, der im April1945 durch einen Panzerfaustunfall zu Tode gekommen ist, habe ich nie kennengelernt. ·Auch Kolberg in Ostpommern, wo meine Eltern von 1931 bis 1945 wohnten, habe ich seither nicht wiede~esehen.2 Das sind '!lso meine Erinnerungen an 1945. Aber all das - dieser Privatkram-wird Sie doch wohl nur ganz beiläufig interessieren. Als Dekan Leibfried mich für diese Ringvorlesung anwarb, habe ich ihn einschlägig gewarnt. Aber
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- sagte er- Sie kennen doch durch Selbsterfahrung die unmittelbare Nachkriegsuniversität. Stimmt, sagte ich, aber zum Vergleich reicht das nicht: die Universität während der Nazizeit habe ich nicht durch Selbsterfahrung kennengelernt, denn da war ich noch auf der Schule. Dann meinte Dekan Leibfried - erzählen Sie uns doch etwas über die Schule in der Nazizeit. Das- mußte ich ihm erwidern - ist noch komplizierter; denn ich war - jedenfalls von meinem 12. Lebensjahr an ab April 1940 - nicht auf einer normalen Schule der N azizeit, sondern auf einem extrem politischen Naziinternat. Einige Kundige werden jetzt sagen: aha, Napola. Das steht zwar einstweilen so über mich im Munzinger-Archiv, stimmt aber nicht; es war nämlich noch viel schlimmer: ich war - von April 1940 bis Anfang März 1945 - auf einer Adolf-HitlerSchule zunächst in Sonthofen im Allgäu und dann in der Falkenburg am Krössinsee in Hinterpommern. Das waren sogenannte Ordensburgen, deren eigentliche Bewohner, sogenannte Ordensjunker (Studentenalter: twens), im Fronteinsatz waren, so daß die Adolf-Hitler-Schüler (Sekundarstufenalter: teenager) dort untergebracht werden konnten. Der Unterschied zwischen Nationalpolitischen Erziehungsanstalten (NPEA, Napola) und Adolf-HitlerSchulen (AHS) war folgender: die Napolas begannen 1933, nahmen teilweise in Varianten die Tradition der nach dem Ersten Weltkrieg verbotenen Kadettenanstalten auf; es waren schließlich 35 mit zum Schluß 9000 »Jungmannen«. Sie waren nazi-staatliche Einrichtungen, bei denen sich - nicht übermäßig erfolgreich - zunächst die SA und dann die SS um Einfluß bemüht haben: ihr Patron blieb der nazi-staatliche Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Bernhard Rust. Die Adolf-HitlerSchulen hingegen begannen erst 1937; es waren zunächst 10, dann 12 mit zum Schluß zwischen 2500 und 3000 Schülern. Ihr Träger war die altersentsprechende Parteiorganisation, die Hitlerjugend: ihre Patrone waren der
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Reichsorganisationsleiter Robert Ley, der sie aus dem Budget der Reichsarbeitsfront finanzierte, und der Reichsjugendführer Baldur von Schirach. Wer darüber mehr erfahren will, sei verwiesen auf das Buch von Harald Scholtz, NS-Ausleseschulen. Internatsschulen als Herrschaftsmittel des Führerstaats, Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 1973. Die Adolf-Hitler-Schltle sollte eine Rekrutierungsbasis für den nationalsozialistischen Führernachwuchs bilden, war aber darauf nicht festgelegt: man wollte halt in allen Berufen Nazis haben, die nicht schlechthin dumm waren. Ich selber z. B. wollte damals Architekt werden. Wenn ich die AHS mit einigen Stichwörtern charakterisieren sollte (mehr ist hier ohnehin nicht möglich), würde ich sagen: der Tendenz und Absicht (nicht unbedingt der Wrrklichkeit) nach: Politisierung von allem und jedem, insbesondere auch des Unterrichts; Wichtigkeit des Sports, auch als Wehrertüchtigung; Jugendbewegung, Elitenbildung, Führerprinzip, »Revolution der Erziehung« (Schirach), Ablösung der bürgerlichen Bildungsschule durch Erziehung zum völkischen Aufbruch, »Sozialismus der Tat«, Volksgemeinschaft, aber zugleich Isolierung von ihr durch das Internat. Im übrigen »Bewährung«, »du bist nichts, dein Volk ist alles<<, also Erziehung nicht zum Bürger, sondern revolutionäre Erziehung zum Nazi-Idealisten. Noch wenn ich heute das Wort >>Idealist<< höre, sträuben sich mir immer noch die Haare: der - totalitäre - Idealist ist der, der für die angeblich höhere Sache mit »Härte« gegen sich selber alles zu opfern bereit ist: sein Leben, seine Individualität, seine bürgerlichen Empfindlichkeiten, seine Menschlichkeit und Moral. Das war das bürgerlichkeitsverweigernde NS-Erziehungsziel: fiat utopia, pereat mundus. Sie können sicher sein, daß ich immer wieder darüber nachdenke, in welche Situationen ich - mit diesem Erziehungshintergrund hätte kommen können, wenn der Krieg auch nur ein halbes Jahr länger gedauert hätte.
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Es gibt nun sicher den einen oder anderen, der schließen möchte: es sei typisch Bundesrepublik, daß Absolventen dieser Schule in ihr Karriere haben machen können: z.B. Professor werden wie z.B. ich; oder in den Gewerkschaften, z. B. in der ÖTV: dort war bei der Regelung der Nachfolge Kluncker der ihr nur knapp unterlegene Gegenkandidat von Monika Wulf-Mathies das engagierte SPD-Mitglied Siegfried Merten, ein Klassenkamerad von mir aus dieser AHS-Schulzeit: ich habe ihn, der vor kurzem an Lungenkrebs gestorben ist, gemocht, vor 1945 und, als ich ihn viele Jahre nach 1945 wiedertraf, auch. In der antifaschistischen ehemaligen DDR - meinen vielleicht einige - wären solche Karrieren nicht möglich gewesen. Wirklich nicht? In der DDR ist z.B. Werner Lamberz, Politbüromitglied des ZK der SED und Rivale von Egon Krenz, nur deswegen nicht im Gespräch für eine spätere Nachfolge Erich Boneckers geblieben, weil er 1978 bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben gekommen ist: auch er- ein Jahr jünger als ich- war ein Absolvent der Adolf-Hitler-Schule; 1941-42 hatten wir in Sonthofen die gleiche Postadresse. In meinem Bändchen Abschied vom Prinzipiellen (Stuttgart 1981) habe ich (S. 6) zusammenfassend geschrieben: ich sei auf dieser »politischen lnternatsschule<< »solide ausgebildet<< worden »einzig in Weltfremdheit«. 3 Der Hinweis auf die Adolf-HitlerSchule gehört sicher in den Kontext dieser Ringvorlesung. Die Erwähnung, daß ich dort Schüler war, könnte Hautgout haben. Darum füge ich hinzu, was ich 1982 im Wissenschaftskolleg zu Berlin bei der kurzen Selbstvorstellung der Fellows - ich war da nach György Konrad, Wladyslaw Bartoszewski und Josef Tal dran- meiner Bemerkung »1940-1945 war ich auf einer Adolf-HitlerSchule<< hinzugefügt habe: »Ich erwähne das, um es nicht nicht zu erwähnen.« Wie - das ist die einschlägige 1945-Frage - wie wird man aus dem Schüler einer solchen Schule zum Studenten
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der Nachkriegsuniversität und zum Demokraten? Eine Vorlesungsstunde ist zu kurz, um das zu beantworten. Ich kann hier - aus Zeitnot - nur einige Hinweise versuchen. Dabei binde ich ein paar Bemerkungen über die Universität nach 1945 ein in einige allgemeinere Überlegungen zur deutschen Nachkriegszeit bis 1968, und zwar nun im Abschnitt: 2. Überlegungen. Sie kennen, denke ich, jene Theorie, die seit 1968 herrschende Lehre geworden und offenbar g~ blieben ist: daß das unmittelbare Nachkriegsdeutschlanddann insbesondere die Bundesrepublik -, unfähig zu trauern, bis 1968 die nation'alsozialistische Vergangenheit verdrängt habe und dadurch der Auseinandersetzung mit ihr ausgewichen sei. Die Folge sei gewesen: Versäumnis eines wirklichen Neuanfangs. Die Bundesrepublik sei- weil sie eine bürgerliche Republik wurde - eine mißlungene Revolution: die Verweigerung der Weltverbesserung durch Wende zum Bürgerlichen. Das klingt besonders schlimm, wenn man die marxistische Faschismustheorie affirmativ im Ohr hat: Faschismus- Nationalsozialismus, den man so nicht nennt, weil man die Vorstellung des »Sozialismus<< von ihm fernhalten will - Faschismus ist die gewaltsame, die terroristische Selbstverteidigung der bürgerlichen Gesellschaft gegen den Siegeszug der proletarischen Revolution. Darin steckt: das Bürgerliche ist schlimm; nötig ist: die Verweigerung der Bürgerlichkeit. Ich habe- z.B. unterm Eindruck u. a. von Georg Lukies' Zerstörung der Vernunft von 1954 - diese These zunächst für plausibel gehalten, war entsprechend (wie fast alle, die vor 1945 rechts waren) links, habe mir aber zunehmend- vor allem unter dem Eindruck der 68er Studentenbewegung: deren Teach-ins seit 1967 hatten mir zu viel Ähnlichkeit mit NS-Schulungsabenden - die Frage gestellt: Stimmt das eigentlich? Meine Antwort war zunehmend: nein. Meine Arbeitshypothese ist geworden: der
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Nationalsozialismus gehört- als eine besonders scheußliche, widerliche und unüberbietbar schreckliche Form - zu den Verweigerungen der Bürgerlichkeit. Das Gegenmittel war und ist darum nicht eine neue - eine neue sozialistische - Verweigerung der Bürgerlichkeit, sondern im Gegenteil: der Mut zur Bürgerlichkeit. Ich operiere dabei mit einem recht weiten Begriff des Bürgerlichen: zur Bürgerwelt gehört z.B. neben der Emanzipation des »dritten Standes« auch, daß der »vierte Stand« in den »dritten Stand« sich auflöst: also - im Gegensatz zu jener Ausbürgerung des Proletariats, die die Verelendungstheorie prognostizierte - jene »Einbürgerung des Proletairs«, die schon 1835 Franz von Baader voraussah und die die reformistische Arbeiterbewegung entscheidend mitbewirkt hat, die darum eine prägende Kraft der bürgerlichen Bundesrepublik geworden ist. Die Wende zur demokratischen Bürgerlichkeit (zur bürgerlichen Mitte), also die Verweigerung der Bürgerlichkeitsverweigerung, war nach 1945 die plausible und rationale Antwort auf den Nationalsozialismus. Daraus folgt nun allerdings eine kritische Infragestellung liebgewordener herkömmlicher Deutungsmuster der Nachkriegszeit, die, daß der 8. Mai 1945 eine Befreiung war, wirklich ernst nimmt. Ich kann hier - aus Zeitnot - nur auf einige einschlägige Tatbestände hinweisen, die charakteristisch sind für die Nachkriegszeit (a--d). Da ist: . a) der Friede mit dem Alltag. Manes Sperber hat in seiner Friedenspreisrede von 1983, »Leben im Zeitalter der Weltkriege«, die Frage aufgeworfen: Wie kommt es, daß im 20. Jahrhundert die Menschen psychisch bereit waren zu zwei Weltkriegen? Seine Antwort: Diese schrecklichen Kriege waren nicht nur schrecklich, sie waren zugleich auch auf schreckliche Weise gewünscht als Entlastung vom Alltag. Die Unzufriedenheit mit dem Alltag erzeugt die Faszination durch das »Moratorium des Alltags«, das der Krieg ist. Diese These hat Sperber schon 1938 in sei-
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nem Essay »Analyse der Tyrannis« vorbereitet, der damals von den Nazis und den' Stalinisten gleichermaßen totgeschwiegen und eingestampft wurde; These: gerade die Tyrannis - die rechte wie die linke - kommt zum Erfolg, weil sie ebenfalls Entlastung vom bürgerlichen Alltag verspricht: den antibürgerlichen Ausbruch in den großen Ausnahmezustand. Sperber hat hier zutreffend Ähnlichkeiten der Motive zu rechter und linker »Tyrannis<< angesprochen wie ab 1951 Hannah Arendt in ihrer Totalitarismustheorie. Die Habermas-Fraktion des Historikerstreits war - neben etlichem, worin sie recht hatte - der Versuch, die Wiederkehr der Totalitarismuskategorie zu verhindern: darin hatte sie unrecht, Fran'
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zu Ort sehr verschieden gewesen. Für die Germanistik sie war bei mir Nebenfach- mag das auch für Münster teilweise stimmen. Aber Jost Trier-bei dem ich auch Etymologie und mittelhochdeutsche Literatur sozusagen genippt habe - war schon vor 1933 Ordinarius für Sprache und Mediävistik in Münster: er war eine faszinierende Mischung zwischen extremer Denklangsamkeit und Genialität. Wo es in der Germanistik zu Anpassungen gekommen ist, sollte man daran denken, daß es nicht nur schichtenspezifische Widerstandssklerosen und individuellen Karriereopportunismus gegeben hat, sondern auch die Bestechlichkeit von Fächern durch die Aussicht auf Wichtigkeitsgewinne: man denke an die Volkskunde. Benno v. Wiese - mein Hauptlehrer in der neueren deutschen Literaturwissenschaft - hatte deutlich braune Flecken in seiner Vergangenheit. Seine Vorlesungen (zuerst das Tragödienbuch) habe ich nach der Ammenschlafmethode gehört (nur aufwachen, wenn das eigene Problembaby schreit: das war für mich die Theodizee, was ja wohl nicht gerade ein abwegiges Problem ist angesichts des Holocaust). Aber v. Wieses Oberseminare waren exzellent. Er war Ende der 20er bzw. Anfang der 30er Jahre sehr eng befreundet gewesen mit Hannah Arendt, die ihm nach 1945 privat, aber nicht öffentlich, die Leviten gelesen hat; öffentlich sagte sie in einem Interview in bezug auf 1933 ohne Namensnennung: »Überrascht waren wir von einigen Freunden: denen ist zu Hitler zu viel eingefallen.« Meine Beißhemmung gegenüber Benno v. Wiese hängt auch mit der Frage zusammen: Wer bin ich, daß ich beißen sollte, wenn Bannah Arendt, die doch unendlich viel mehr Grund dazu gehabt hätte, nicht gebissen hat? Die Legende von der großen Kontinuität über 1945 hinweg stimmt jedenfalls mitnichten durchgehend. Mein Hauptfach war Philosophie: meine philosophischen Lehrer in Münster- Joachim Ritter, Otto Most- haben ihre ersten Professuren erst nach 1945 angetreten;~ das gilt auch für
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meinen Freiburger Do~torvater Max Müller, dem 1937 aus »politisch-weltanschaulichen Gründen« die Dozentur verweigert wurde und der im Kontext der »Weißen Rose<< festgenommen und verhört wurde, und für meinen Korreferenten Wilhelm Szilasi, der Emigrant gewesen war. Heidegger durfte damals noch nicht wieder lesen. Generell ging es um die Wiederherstellung einer - institutionell, auch baulich - arbeitsfähigen Universität. Der Rückgriff auf die Ordinarienuniversität nach dem Vorbild der Ordinarienuniversität der Weimarer Republik war in weiten Teilen die Antwort auf die NS-Dozentenbunds-Universität, die den Versuch gemacht hatte einer Politisierung der Universität und einer Steuerung durch das »Braune Haus<<. Ich habe bei dieser Ordinarienuniversität nach 1945 die Erinnerung an große Lebendigkeit und Liberalität. Die Lesewelle in der zweiten Hälfte der 40er Jahre ist stärker gewesen als die damalige Freßwelle. Auch hier sollte man die These vom Kriegsende als Befreiung ernst nehmen. Natürlich hat es auch Repression durch Ordinarien gegeben: Habermas hat als Post-Doc unter seinen Ordinarien - Horkheimer und Adorno - wirklich gelitten und mußte von Frankfurt nach Marburg quasi emigrieren, um sich dort zu habilitieren. Natürlich ist sein Bild der Ordinarienuniversität düsterer als das der Ritter- und Müller-Schüler, was - verständlicherweise - in seine universitätskritische Theorie eingegangen ist. Mich wundert im übrigen, daß man - bei so viel Kontinuitätssuche über 1945 hinweg - an einer Stelle m. W. noch überhaupt nicht gesucht hat: ich hielte es für interessant, bei denen, die 1968 als Jungordinarien mit der 68er Studentenbewegung sympathisiert haben - zunächst gehörte auch ich dazu -, ihre Hitlerjugendränge zu eruieren; man würde hier sicher auf signifikante Korrelationen zwischen Ranghöhe und Konformitätsbeflissenheit gegenüber der Studentenbewegung stoßen: sie sind erneut auf die Stimmung des großen antibürgerlichen Aufbruchs hereingefallen, vorher rechts,
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jetzt links und häufig neomarxistisch. Zu den unmittelbaren Nachkriegsphänomenen gehört: c) »Die skeptische Generation<<. Helmut Schelsky hat 1957 in seinem so betitelten Buch drei Jugendgenerationen unterschieden: 1. die Generation der Jugendbewegung (Wandervogel, Meißner-Formel, Klampfe, Blockflöte); 2. die Generation der politischen Jugend (Weltverbesserungsengagement zwischen den Weltkriegen); 3. die deutsche Jugend im Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg, die skeptische Generation: desillusioniert, ernüchtert, antiideologisch und gerade dadurch besonders lebenstüchtig. Ich gehöre zu dieser skeptischen Generation: zwar nicht lebenstüchtig (wer ist schon lebenstüchtig und zugleich Philosoph?), aber skeptisch. Und die Skepsis der skeptischen Generation - das widerspricht der These von der unterbliebenen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus vor 1968 - war die direkte, ausdrückliche und völlig rationale Antwort auf den nationalsozialistischen Totalitarismus mit seinen grausamen Folgen. Und dazu gehörte, daß man sich auch keinen neuen Totalitarismus einreden lassen wollte. Das fiat utopia, pereat mundus in jeder Form wurde suspekt. Meine eigene philosophische Skepsis - die ja mein philosophisches Markenzeichen ist ist das zur Position gemachte Erschrecken, die zur Position gemachte Desillusionierung. Die Grunderfahrung formuliert der Satz: Ich kann mich irren (ich brauchte bei mir ja nicht weit zu suchen, um ein gravierendes Beispiel zu finden). Ab 1968 habe ich - angesichts der Studentenbewegung - diesen Satz ergänzt: Ich kann mich irren; die anderen auch. Darum bin ich hier seit Anfang der 70er Jahre angriffslustig geworden: die 68er-Bewegung - ich leugne keine guten Absichten; indes: das Gegenteil von gut ist gut gemeint - war nicht die initiale Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit. Die gab es schon unmittelbar nach 1945. Das bedeutet - wohlgemerkt - nicht, daß wir sie inzwischen hinter uns haben: das ist mitnichten der
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Fall. Diese Auseinander~etzung mit der Nazi-Vergangenheit muß weitergeführt werden. Aber es ist - ich hatte das schon gesagt - längst überfällig, ihre Deutungsklischees für die bundesrepublikanische Nachkriegszeit zu überprüfen. Das verlangt auch, daß man die herrschende Normaldeutung der 68er-Bewegung- Demokratisierung durch Kritik- überprüft. 5 Dazu der abschließende Unterabschnitt: d) die Flucht aus dem Gewissenhaben in das Gewissensein. Ich hatte schon betont: daß die Deutschen der unmittelbaren Nachkriegszeit die nationalsozialistische Vergangenheit verdrängt und die Auseinandersetzung mit ihr vermieden haben, halte ich als generelle Aussage für falsch. Richtig ist vielmehr dieses: daß das Entsetzen - die »Kollektivscham« (Theodor Heuss)- über die Verbrechen des Nationalsozialismus in der Hunger- und Trümmerumwelt des Nachkriegsanfangs seinen Bußbedarf adäquater (nicht adäquat, aber adäquater) decken konnte als in der paradoxen Lage, die etwa zehn Jahre später - durch das sogenannte Wirtschaftswunder - eingetreten war: daß es den Deutschen in der Bundesrepublik alsbald besser ging auch als den Überlebenden unter denen, an denen sie schuldig geworden waren. Dadurch erst wurde das schlechte Gewissen - die Schuld und Scham - unerträglich, so daß nun- ab Mitte der SOer Jahre und dann in der Reprise durch die 68er- Entlastungsmechanismen einigermaßen unwiderstehlich wurden. Der erfolgreichste Entlastungsmechanismus wurde dabei die Flucht in die Kritik mit der Grundfigur: man entkommt dem Tribunal, indem man es wird. Man floh aus dem Gewissenhaben in das Gewissensein: das schlechte Gewissen, das man selber >hatte<, ersparte man sich oder linderte es, indem man das schlechte Gewissen für die anderen >wurde<. Für meine Generation war das eine große Versuchung, für die der Protest der Jüngeren zum willkommenen begleitenden Trommelwirbel wurde. Zur Entlastung radikalisierte und
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verdünnte man das >nie wieder Nationalsozialismus< zum >nie wieder Identifizierung< und verlangte von jedermann das Nein zum Bestehenden: das Nein zur bürgerlichen Welt der Bundesrepublik. Ich habe das 1981 in meinem Bändchen Abschied vom Prinzipiellen - mit einem Gegenbegriff zu Freuds gewissenstheoretischem Begriff des »nachträglichen Gehorsams« 6 - den nachträglichen Ungehorsam genannt: das vor 1945 unterbliebene Nein sollte durch ein Nein zum nunmehr Vorhandenen (zur Bundesrepublik) nachgeholt werden. Der Nichtwiderstand gegen die Tyrannei sollte durch den Widerstand gegen die Nichttyrannei ausgeglichen werden. Und die versäumte Verweigerung der Diktatur sollte durch Verweigerung der vorhandenen Demokratie wettgemacht werden. Diese neue Verweigerung der Bürgerlichkeit konnte nicht wirklich die Demokratisierung fördern, sondern vor allem neue romantische Sympathien für Revolutionsdiktaturen. Darum war und ist diese Bürgerlichkeitsverweigerung m. E. der falsche Weg, sich gegenüber Totalitarismen (gerade auch nationalsozialistischer Provenienz) widerstandsfähig zu machen. Denn die Verweigerung der Bürgerlichkeit ist das Übel, das man bekämpfen muß, wenn man den Totalitarismus bekämpfen will, und das kann man nicht durch Verweigerung der Bürgerlichkeit, sondern nur durch ihr Gegenteil: indem man für die Bürgerlichkeit, für die liberale parlamentarische Demokratie der Bundesrepublik eintritt. Die Bundesrepublik ist keine mißlungene Revolution, sondern eine gelungene Demokratie: gerade weil sie eine bürgerliche Republik ist. Die Schwärmerei für antibürgerliche Diktaturen - rechte und linke - ist verderblich: man.muß sie politisch überflüssig machen durch politische Stärkung der politischen Mitte, bei der man dann darum streiten kann, ob sie besser eine reformistische oder eine konservative Mitte ist: die parlamentarische Demokratie verfügt ja über die Verfahren, dies -jeweils auf Zeitmal so, mal so zu lösen. Nicht die Verweigerung der Bür-
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gerlichkeit ist geboten,. sondern die Verweigerung der Bürgerlichkeitsverweigerung: der Mut zur Bürgerlichkeit. Das ist es, was ich durch 1945 und nach 1945 gelernt habe. Darum war es mir wichtig, innerhalb dieser Ringvorlesung Ihre Aufmerksamkeit gerade darauf zu lenken. Anmerkungen
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Am 18. Juli 1995 gehaltener Beitrag zur Ringvorlesung »1945 Germanistik an der Wende?« des Fachbereichs Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen. Die Anmerkungen sind (sc. 2002) ergänzt. Erst im Sommer 1996 war ich - bisher zum einzigen Mal - kurz im jetzigen Kolobrzeg. Das war überspitzt formuliert. Es gab »Erzieher<<, die uns Solides beibringen wollten und bei denen ich Etliches gelernt habe; ich denke u. a. an Walter Thom und Ekkehart PfannenstieL Und ich habe gute Erinnerungen an meine damaligen Klassenkameraden. Joachim Ritter hatte 1943 eine Professur für Philosophie in Kiel wehrdiensthalber nicht antreten können. Vgl. inzwischen Hermann Lübbes Beitrag »1968. Zur deutschen Wirkungsgeschichte eines politromantischen Rückfalls«, in: H. L., Politik nach der Aufklärung, München 2001, S. 129-149, dem ich in allen wesentlichen Punkten zustimme. Auch daraus wird ersichtlich, daß ich zur Festschrift für Heinrich Brinkmann nicht wegen Übereinstimmung in philosophischer und politischer Position beitrage, sondern weil ich ihn mag. Ich verweise im übrigen hier auch deswegen auf Hermann Lübbe, weil Heinrich Brinkmann in seiner Studienzeit in Münster (bevor er- nach dem auch von mir begrüßten Studienweg über Frankfurt: ich hielt es für gut, daß er Habermas hörte- als Hilfskraft mit mir nach Gießen kam) sowohl bei mir wie auch bei Lübbe gearbeitet hat: meiner Erinnerung nach hat Lübbe ihm damals stilistisch »das Marquardisieren« auszutreiben versucht, durchaus erfolgreich, wenn auch mit unbeabsichtigtem Effekt; denn dadurch wurde Brinkmann frei für die Sprache und das Denken der »Frankfurter«. Sigmund Freud, Totem und Tabu (1912); Gesammelte Werke in Einzelbänden, hrsg. von Anna Freud [u. a.], Bd. 9, Frankfurt a. M. 41968, S. 175; vgl. S. 173ff.
Das Über-Wir Bemerkungen zur Diskursethik
Der Mensch ist das »Zoon logon echon«, das Diskurswesen, wenn >>Diskurs« meint, »daß die Leute sprechen«:1 sie sprechen beim Tun, sie tun durch Sprechen, und stets gibt es Situationen, in denen sie vermeintlich nur sprechen, und zwar mit Mitmenschen: im Gespräch. Insofern war Sokrates repräsentativ für das Menschliche, indem er Gespräche führte. Zugleich begann Sokrates eine ausgezeichnete Form des Gesprächs: mit seinen Dialogen fing (avant la lettre) die philosophische Ethik an, die er - das betonen die Gesprächsethiker - essentiell an das Gespräch band, so daß es für ihn die Ethik nur als Gespräch gab: Sokrates (der durch Platon überlieferte Sokrates) war der erste Diskursethiker. Zum Beginn der philosophischen Diskursethik gehörte dabei zugleich, was am Anfang des ersten Buchs der Politeia beschrieben wird: daß Kephalos geht (331 B f.). Der in und aus der Sitte lebende Alte braucht sie nicht und hat ihr nichts zu sagen. Zur Voraussetzung der Diskursethik gehört, daß die Traditionskonvention abtritt, daß die »Sozialregulationen<<2 »postkonventionell« 3 werden: die philosophische Diskursethik »kompensiert« die Verbindlichkeitsdefizite des postkonventionellen Zeitalters,4 und das gelingt ihr - konventionskritisch, reflexionsselig - nur durch ethische Normenrechtfertigung im philosophischen Gespräch, im herrschaftsfreien Diskurs. Das jedenfalls meinen die Diskursethiker. Ich erlaube mir Zweifel daran, daß wir im strengen Sinn im postkonventionellen Zeitalter leben und daß wir ganz und gar - mit Kopf und Kragen, mit Haut und Haaren darauf angewiesen sind, unsere Lebensorientierungen durch das Gespräch der philosophischen Ethik zu erzeu-
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gen: durch den philosophisch-ethischen Diskurs. Wo damit wirklich ernstgemacht würde, träfe am Ende jene skeptische Bemerkung wirklich zu, die Jacob Burckhardt in einer Vorlesung auf Sokrates münzte: »er wollte die Menschen ße/..tlou~::; ltOLELV besser machen. Aber er machte sie nur konfus und ließ sie stehen« 5 • Es existiert eine Geschichte, in der ein Insasse eines Bootes in sturmgepeitschter See den Stoßseufzer ausstößt: wir befinden uns jetzt alle ganz und gar nur noch in Gottes Hand!; drauf ein anderer: ich glaube nicht, daß es schon so schlimm um uns steht. 6 Die Diskursethiker- im Blick auf die verwirrende Komplexität und die scheinbar entwirrende Reflexivität der modernen Welt - seufzen nicht, sondern jubeln: wir befinden uns jetzt alle ganz und gar nur noch in der Hand der philosophischen Diskursethik Hier möchte ich - und formuliere damit die im folgenden vertretene These - meinerseits analog sagen: ich glaube nicht, daß es schon so schlimm um uns steht. Diese These - die zwei Teile hat: daß die totale Angewiesenheit auf die philosophische Diskursethik schlimm wäre und daß wir erfreulicherweise nicht total auf die philosophische Diskursethik angewiesen sind, die also die totale Auslieferung der Menschen an das Gespräch skeptisch relativiert - kann ich im folgenden nur selektiv traktieren; doch auch schon so ergeben sich sechs Abschnitte, nämlich diese: 1. Ethik und Lebenserfahrung; 2. Die Cartesianisierung der Ethik durch den absoluten Diskurs; 3. Parlamentarische Debatte und unendliches Gespräch; 4. Die Unvermeidlichkeit von Üblichkeiten; 5. Der böse Blick aufs Vorhandene und der nachträgliche Ungehorsam; 6. Small talk. 1. Ethik und Lebenserfahrung. Auch wenn Sokrates ihr Protagonist ist, ist die Diskursethik eine Angelegenheit nicht der antiken, sondern der modernen und gegenwärtigen Welt. In dieser Gegenwart ist jüngsthin - durch
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die Einführung oder Projektierung des Unterrichtsfachs Ethik als Ersatzfach der Sekundarstufe 1 der Schulen für das aus Religionsmündigkeitsgründen mit vierzehn Jahren abwählbare Fach Religion - in sehr konkreter Gestalt die Frage aktuell geworden, ob philosophische Ethik eine Sache für sehr junge Menschen sein kann. Aristoteles hatte das verneint. Vielleicht kann man die moderne Ethik, soweit Kant ihr das Programm gemacht hat (was auch für den resokratisierten Kantianismus der Diskursethik zutrifft), als den Versuch verstehen, von jener Bedingung loszukommen, die für Aristoteles diese Verneinung notwendig machte. Aristoteles - in der Nikomachischen Ethik - betrachtet die Ethik als »Teil der Wissenschaft« (1094 a 27) und schreibt: für sie >>ist ein junger Mensch nicht ein geeigneter Hörer [...]. Denn er ist unedahren in der Praxis des Lebens; die Untersuchung« auch der Ethik >>geht aber gerade von dieser aus und behandelt diese<< (1095 a 2ff.): Aristoteles bindet seine Ethik an die Lebensedahrung. Darum kann seine Ethik Glücksethik sein, während für Kant >>Glück<< zu unbestimmt und vieldeutig ist, um zum ethischen Grundsatz zu taugen: Kant mißtraut der Bestimmung des Glücks durch Lebenserfahrung, auf die Aristoteles ständig rekurriert, dessen Ethik aus Sätzen der Lebensedahrung besteht. Die Lebenserfahrung zeigt: es gibt das genießende, das handelnde, das beschauliche Leben; in der Regel werden Menschen durch gelungene Mischung dieser Lebensweisen glücklich; doch gibt es verschiedene Wege zum Glück. Die Lebensedahrung zeigt: Glück liegt in der Selbsthingabe an erfüllende Wirklichkeit als die vernünftige Lebenskunst (arete), möglichst wenig Wichtiges zu verpassen (Buch 1), und Glück liegt in der Selbstbewahrung vor bedrohlicher Wrrklichkeit als die vernünftige Lebenskunst (arete), möglichst wenig Wichtiges zu verlieren. Die Lebensedahrung zeigt: der Zufall (Besitz, physische Vorzüge, der zuträgliche Lebensort) ge-
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hört zum Glück wie di~ Kunst, sich von ihm nur begrenzt abhängig zu machen. Die Lebenserfahrung zeigt: obwohl das Glück in Handlungen liegt, die Selbstzweck sind, ist kein Mensch unmittelbar zum Glück; wer das Glück unmittelbar intendiert - wer, statt einen bestimmten Beruf oder eine bestimmte Sache zu tun, dies verweigernd ausschließlich und direkt nur glücklich sein will (das Programm unserer Selbsterfahrungsgruppen) -, wird niemals glücklich. Die Lebenserfahrung zeigt die Tunlichkeit der Regel »nichts im Übermaß«: die Lehre von der Tugend.als Mitte ist die lebenserfahrene Spezifizierung dieser Lebenserfahrung. Die Unterscheidung von ethischen und dianoetischen Tugenden ist die Antwort der Lebenserfahrung auf den sokratisch-platonischen Satz »Tugend ist !ehrbar<<: teils (als dianoetische) ist sie es, teils (als ethische) nicht. All das - und vieles andere - zeigt die Lebenserfahrung; und sie dies zeigen zu lassen: das ist - für Aristoteles Ethik, dadurch ist sie Pflege der Lebenskunst. Die Lebenserfahrung, an die Aristoteles die Ethik bindet, besteht aus der Bestätigung oder Korrektur von Lebensgewohnheiten: um sie bestätigen oder korrigieren zu können, muß man sie zunächst einmal haben; auch das braucht ein gewisses Alter. Lebenserfahrung ohne Konventionen ist leer; Konventionen ohne Lebenserfahrung sind blind: indem Aristoteles die Ethik an die Lebenserfahrung bindet, bindet er sie an schon erprobte Lebensgewohnheiten, an überlieferte Konventionen: sie ist die Anknüpfung (Hypolepsis) an Üblichkeiten, an Traditionen. Diese - traditionelle Konventionen, Lebensgewohnheiten, Lebenserfahrung - sind etwas, was man in ein Gespräch einbringen, aber niemals ausschließlich durch ein Gespräch - schon gar nicht durch ein absolutes Gespräch, zu dem sie nicht zudürfen - erwerben kann: insofern - und wenn man den platonischen Sokrates exklusiv als Diskursethiker versteht- entsokratisiert Aristoteles die Ethik. Wenn man allerdings Sokrates vor allem als die Urfigur jenes Iebens-
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klugen »Laien« mit docta ignorantia begreift, der Reflexionsspiele auf den Boden der Lebenswelttatsachen zurückholt und - durch common sense in der Reflexion - Reflexionsschlösser mit diesem Boden konfrontiert: dann im Gegenteil sokratisiert Aristoteles die Ethik, indem er sie entplatonisiert; denn er bindet sie - als Abwehr jeder Ethik, die spinnt- an die Lebenserfahrung. Kant hat diese aristotelische Form der Ethik eudämonismuskritisch negiert: er etabliert die Ethik des unbedingten und autonomen Sittengesetzes, das »a priori«, d.h. >unabhängig von aller Erfahrung< gültig und verpflichtend ist, und zwar als »kategorischer Imperativ<<: lebe universalistisch, d. h., handle nur nach universalisierbaren Maximen. Ich meine: man kann - die aufs Können des Lebens bedachte Glücksethik des Aristoteles und die aufs Sollen des Allgemeinen bedachte Gesetzesethik von Kant kontrastierend- sagen, daß der Apriorismus der Ethik Kants die Antwort ist auf die Frage: Wie ist Ethik ohne Lebenserfahrung möglich? Der ethische Apriorismus ist die Negativierung der Lebenserfahrung als Instanz der Ethik; darum orientiert sie sich primär an ethischen Konflikten, aus denen Üblichkeit und Lebenserfahrung keinen Ausweg wissen, bis der apriorische Imperativ (wenn auch formalistisch-sibyllinisch) als Retter erscheint, während Aristoteles seine Ethik primär am durchschnittlichen Gelingen orientierte und die Konflikte den Tragödiendichtern überließ, von denen nicht die Ethik handelt, sondern die Poetik. Kants ethischer Apriorismus hat- HegeF zum Trotz der modernen Ethik das Programm gemacht; besonders darum muß man - wenn es stimmt, daß der ethische Apriorismus (in Kants Grundlegungsschriften) der Versuch einer Ethik ohne Lebenserfahrung ist - fragen: Wie kommt es, daß die moderne Ethik in ihrer repräsentativen Form sich nicht mehr auf die Lebenserfahrung verlassen mag? Die Notwendigkeit dieser Frage wird meistens verdrängt durch die Konstruktion eines selbstverständlichen
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Fortschritts der Ethik,, der (mit der antizipierenden Diskursethik des platonischen Sokrates als Schrittmacher) vom konventionalistischen Empirismus des Aristoteles zum autonomen Apriorismus Kants läuft und nur noch den Schritt zur vollen Diskursethik machen muß, um perfekt zu werden. Aber dem ethischen Apriorismus entgleitet die Lebenserfahrung: das ist ein wirklicher Verlust; denn Lebenserfahrung ist das Remedium gegen Weltfremdheit. Warum wird dieses Remedium gerade modern preisgegeben? Diese Frage ist nicht überflüssig, sondern im Gegenteil dringlich: Warum löst die moderne und gerade die moderne Ethik repräsentativ die Bindung an die Lebenserfahrung? Der Versuch einer Antwort muß auf ein Phänomen führen, das gerade für die moderne Welt charakteristisch ist. Das aber ist ihr »Erfahrungsverlust<<8: es scheint, daß in der modernen Welt die Haltbarkeit der Lebenserfahrung nachläßt und ihre Verderblichkeit zunimmt, weil in dieser Welt jene Situationen immer schneller vergehen, in denen und für die sie erworben wurde. Die Veraltungsgeschwindigkeit der Lebenserfahrung wächst, weil die Wandlungsgeschwindigkeit der modernen Welt zunimmt. Darauf hat - durch Generalisierung der Krisentheorie Burckhardts9 - Reinhart Kosellek10 hingewiesen: die neuzeitliche Beschleunigung des Weltveränderungstempos treibt »Erfahrung« und »Erwartung« auseinander, die in der vorneuzeitlichen Welt (mit naturaler Abstützung) durch Üblichkeiten zusammengebunden waren. Aus den Traditionen, Konventionen, Üblichkeiten - die Erwartungshorizonte bilden, welche durch Lebenserfahrung tangierbar (zu bestätigen oder zu korrigieren) sind- wandert die Erwartung aus und wird futurisch, utopisch, illusionär; die Lebenserfahrung hingegen - die immer weniger zu orientieren vermag - kommt aufs Altenteil und stirbt ab: so verliert sie die Tauglichkeit, Instanz zu sein für die Ethik. Es ist nur scheinbar paradox, daß gerade im
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seihen Augenblick die Erfahrungswissenschaften aufblühen: wo die lebensweltliche Kraft der Erfahrung schwindet, soll sie durch Delegation an Erfahrungsspezialisten gerettet werden. Je fleißiger, erfolgreicher, spezialsprachlicher und apparateintensiver aber diese Erfahrungsexperten arbeiten, desto weniger können wir ihnen noch wirklich folgen, desto mehr also müssen wir ihre Ergebnisse vertrauensvoll hinnehmen: in dem Maße, in dem die Welt - wie Kant sagt - zum >>Gegenstand möglicher Erfahrung<< für wissenschaftliche Experimentierexperten wird, hört sie zugleich für uns alle überwiegend auf, Gegenstand möglicher eigener Erfahrung zu sein. So wird gerade auch durch die Erfahrungswissenschaften der lebensweltliche Erfahrungsverlust radikalisiert und dadurch selbst noch der erfahrenste Alte beständig zurückgeworfen in die Lage des unerfahrensten Jungen: Alter und Jugend werden in Dingen Erfahrung indifferent und gerade dadurch provoziert, ihre Differenz nunmehr kompensatorisch durch demonstrativ-theatralische Differenzspiele zu suchen; das gehört zur modernen Infantilisierung der Menschen. Dabei leben nicht nur Erfahrung und Erwartung sich auseinander, sondern - als wichtiger Spezialfall - auch Erfahrung und Verpflichtung: wo die Lebenserwartung veraltet und verdirbt, muß die moralische Verpflichtung von ihr unabhängig gemacht und zum apriorischen Sollen werden. Der ethische Apriorismus - als Wille, die Verpflichtung von der Lebenserfahrung unabhängig zu machen durch ihre Rettung in die Autonomie- ist so (scheint es) das Epiphänomen dieses Erfahrungsverlusts der modernen Welt. Stimmt das wirklich? Im fünften Abschnitt werde ich auf diesen Punkt zurückkommen durch die Frage: Wird der ethische Apriorismus durch den modernen Erfahrungsverlust nötig, oder wird umgekehrt der moderne Erfahrungsverlust überdramatisiert, um den ethischen Apriorismus nötig erscheinen zu lassen?
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2. Die Cartesianisierul'fg der Ethik durch den absoluten Diskurs. Die Diskursethik - die ein Gegenwartsphänomen ist, obwohl sie sich durch den antiken Gesprächsethiker Sokrates inspirieren läßt - ist die Resokratisierung des ethischen Kantianismus, die Überführung des ethischen Apriorismus ins ethische Gespräch. Zu dieser >> Transformation der Philosophie«u kommt es, weil beim ethischen Apriorismus ein Ausgleich für den Verlust der Lebenserfahrung nötig wird: der philosophisch-ethische Diskurs sozusagen das absolute Gespräch - ist die Kompensation für den Ausfall der Lebenserfahrung im ethischen Aptiorismus. Er ist - weil dort endliche Menschen an einem absoluten Gespräch, empirische Subjekte an einer transzendentalen Aufgabe mitwirken - zwar »apriorischer<< als die Konventionen und Lebenserfahrungen, zugleich aber »empirischer<< als das apriorische Sittengesetz kantischer Provenienz. Diese Zwischenlage des ethischen Diskurses daß er das Apriori empirisiert - hat Hans Michael Baumgartner12 zur These bewogen: der ethische Diskurs >>ist<< nicht das Sittengesetz, sondern »schematisiert<< (versinnlicht) es. Das unterstützt die Intention von Krings, der eine prädiskursive Instanz des ethischen Diskurses verlangt, weil jeder faktische Diskurs sein eigener genius malignus zu werden vermag: darum braucht er ein prädiskursives Korrektiv, das ihn davor zurückhält, und er braucht ein prädiskursives Prinzip, weil in jeden Diskurs von jedem Teilnehmer die Anerkennung jedes Teilnehmers schon mitgebracht werden muß als der prädiskursive >>unbedingte Entschluß von Freiheit für Freiheit<< als >>Bejahung anderer Freiheit<<:13 der Diskurs selber realisiert diesen Urentschluß. Als »Schema<< dieses initialen >>Aktus der Freiheit<<- kantianischer wohl: als seine >>Hypotypose«14 macht der Diskurs die transzendentale Freiheit zur konsensualen, also >>den transzendentalen Gesichtspunkt zu dem gemeinen<<: das war Fichtes - moralpädagogisch orientierte - Definition der >>schönen Kunst<<; 15 vielleicht ist
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der ethische Diskurs nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt. Das würde erklären, warum diese moralische Anstalt gern zur Schaubühne wird, auf der man nicht nur konsensual, sondern auch konsensationell operiert, und warum in ihr die Fiktion eine so große Rolle spielt;16 denn der ethische Diskurs ist dann eben das, was Schiller der Schönheit zu sein nahelegte: »Freiheit in der Erscheinung<<.17 Versucht also die Diskursethik eine Ästhetisierung der Moral? Die Diskursethiker bestreiten das natürlich: sie wollen vielmehr die Demokratisierung der Moraz.t 8 Sie machen die Autonomie konkret, indem sie- sozusagen- beim kategorischen Imperativ die Mitbestimmung einführen. An die Stelle des apriorischen Sittengesetzes tritt die diskursiv-dialogische (kommunikative) Sittengesetzgebung, an der alle Betroffenen- alle Menschen- chancengleich teilhaben sollen, indem nur durch den Konsens aller im »kontrafaktisch« als >>unverzerrt«, >>herrschaftsfrei« »unterstellten« - ethischen Fundamentalgespräch die sittlichen Normen legitimiert, d.h. als verbindlich erwiesen werden: der kategorische Imperativ wird zum Resultat eines absoluten Gesprächs, das in sich selber >>unhintergehbare« >>pragmatische Universalien<< als sein Ursprungsminimum entdeckt und konsensual rechtfertigt, die es ermöglichen und tragen. Damit wird - gewissermaßen - das Daimonion im Sinne des Sokrates, das Gewissen im Sinne Kants, das Über-Ich im Sinne Freuds, das bei den Genannten stets auch (gewissensphänomenologisch plausibel) Einsamkeit bedeutet, aus dieser Einsamkeit herausgeholt und in das Gespräch aufgelöst, das als Polylog jener »Metainstitution«,19 die das freie Gewissensbildungskollektiv darstellt, der absolute Diskurs ist, der kommunikativ, rational, konsensual über Gut und Böse entscheidet. Durch diese - als Demokratisierung der Moral gedeutete -Verwandlung des apriorischen Sittengesetzes in die diskursive Sittengesetzgebung wird aus dem Über-Ich das Über-Wir.
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Ich bezweifle die T~iftigkeit der Deutung des absoluten Diskurses als Demokratisierung der Moral: diese Deutung hat eher den Charakter einer Selbstbehauptungsparole der Diskursethik, die zu ihrer eigenen Ermutigung dient und zur Entmutigung derer, die Einwände gegen sie erheben. Sie hat dann ähnliche Funktion wie die diskursethische Distinktionsfreudigkeit; denn die Diskursethik siedelt auf dem Gipfel von Distinktionen aus ähnlichem Grund wie Burgen auf dem Gipfel von Bergen: um Angreifer schon vor dem Angriff zu ermüden. Ich meine indessen: die Piskursethik ist - und zwar diesseits von >>demokratisch« und »undemokratisch<< - vielmehr die Cartesianisierung der Moral durch den absoluten Diskurs des Über-Wir. Der Ausdruck »Cartesianisierung<< bezieht sich dabei nicht auf das, was Descartes - in der >provisorischen Moral< des Discours de La methode, von der noch die Rede sein wird - zur Ethik gesagt hat/0 sondern auf den >methodischen Zweifel< im Sinne der ersten der Meditatione?- 1 und die Technik seiner Besiegung im Sinne der zweiten. »Cartesianisierung der Moral« besagt dann: die Diskursethik etabliert den absoluten Diskurs als den methodischen Zweifel an Normen.22 Die Zweifelsregel von Descartes bestimmt: »in dubio contra traditionem«, anders gesagt: alles, was nicht (durch die »certa methodus«) erwiesenermaßen wahr ist und also falsch sein könnte (das sind alle vorhandenen Urteile), ist so zu behandeln, als ob es falsch ist, und zwar so lange, bis es - durch »scientia more certa methodo« - »clare et distincte<< als wahr erwiesen ist; solange dies nicht der Fall ist, muß alles Urteilen ausgesetzt werden: denn alle Urteile sind nicht etwa so lange erlaubt, bis sie durch Falsifikation verboten, sondern so lange verboten, bis sie durch exakte Verifikation erlaubt werden. Entsprechend verfährt diskursethisch der absolute Diskurs; seine - stillschweigend praktizierte - Verdächtigungsregel bestimmt: »in dubio contra traditionem<< (»sive conventiones<<), anders gesagt: alles, was nicht
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(durch Konsens des herrschaftsfreien Diskurses) erwiesenermaßen gut ist und also böse sein könnte (das sind alle vorhandenen Lebensorientierungen), ist so zu behandeln, als ob es böse ist, und zwar so lange, bis es - durch den absoluten Diskurs - konsensual als gut gerechtfertigt ist;23 solange dies nicht der Fall ist, muß alles konventionsgeleitete Handeln ausgesetzt, hilfsweise suspektiert werden: denn alle praktischen Lebensorientierungen sind rticht etwa so lange erlaubt, bis sie durch Malitätserweis verboten, sondern so lange verboten, bis sie durch diskursive Legitimierung erlaubt werden. In beiden Fällen werden also die geschichtlichen Vorgaben vorsorglich negiert: wie Descartes die Wissenschaft nicht mehr dem naturwüchsigen Wildwuchs der Geschichte überlassen wollte und darum die >>certa methodus<< als Geschichtsersparungsverfahren erfand, will die Diskursethik die Moral nicht mehr dem naturwüchsigen Wildwuchs der Geschichte überlassen und erfindet darum das Geschichtsersparungsverfahren des absoluten Diskurses. In beiden Fällen wird also die Vernunft etabliert, indem das geschichtlich Vorhandene negiert wird; und in beiden Fällen steht - im Namen der Freiheit zum Wahren bzw. der Freiheit zum Gutenam Anfang die Befreiung von dem, was man schon ist (die Befreiung von der Freiheit, sich nicht total zur Disposition stellen zu müssen). Denn das sittlich Vorhandene ist verboten, bis es diskursiv erlaubt ist: durch seine vorsorgliche Negation hat es die Begründungslast für seine Bonität gegenüber dem absoluten Diskurs, und zwar zu dessen Begründungsbedingungen. Dadurch wird - denn es ist bei dieser diskursiven Fortschreibung des ethischen Kantianismus die Fortschreibung der Karrtischen »Gerichtshofvorstellung<< vom Gewissen24 durchaus naheliegend - der absolute Diskurs des Über-Wir zum absoluten Tribunal, vor dem alles Vorhandene - mit dem Status des »suspect<< auf der Suche nach dem »certificat de civisme«- seine Unschuld zu den Beweisbedingungen dieses diskursiven Tri-
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bunals zu beweisen ver~uchen muß und so lange als schuldig gilt, wie ihm das nicht zur absoluten Zufriedenheit des absoluten Diskurses gelingt: die Beweislast hat das Vorhandene. 3. Parlamentarische Debatte und unendliches Gespräch. Durch diesen Suspektierungszwang als Prämisse - der dem Cartesischen Dubitationszwang entspricht - unterscheidet sich der absolute Diskurs toto coelo von zwei anderen multilateralen Gesprächsformen, die modern repräsentativ geworden sind: von der parlamentarischen Debatte und dem unendlichen Gespräch; denn beide nehmen- im Unterschied zum absoluten Diskurs- Rücksicht auf das geschichtlich Vorhandene, indem beide dieses geschichtlich Vorhandene nicht - methodisch vorsorglich in praktischer Absicht total negieren: die parlamentarische Debatte, die an die Bedingung der gewaltenteiligen Demokratie gebunden ist, negiert es nicht einmal vorsorglich und niemals total; das unendliche Gespräch, das an die Bedingung der ästhetischen Situation gebunden ist, negiert es jedenfalls nicht in praktischer Absicht. Meine kurze Erläuterung dazu bildet einen Kontrastexkurs, der der Verwechslung von absolutem Diskurs, parlamentarischer Debatte und unendlichem Gespräch vorbeugen soll. Die parlamentarische Debatte steht durch Handlungszwang unter Zeitdruck. Sie ist prinzipiell befristet und trägt dem Rechnung, indem sie nicht bis zum Konsens diskutiert, sondern die Debatte durch Abstimmung beendet, in der durch Mehrheit entschieden wird. In der gewaltenteiligen Demokratie hat sie die N ormenänderungskompetenz der Legislation. Deswegen ist ihre Entscheidung in der Regel ein Beschluß zur Abänderung der vorhandenen Normenlage. Sie setzt also diese vorhandene Normenlage - auch und gerade als geschichtlich vorgegebene Sittenlage - in dem Sinne voraus, daß sie so lange erlaubt bleibt, wie sie nicht ausdrücklich durch - stets nur
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partielle - Abänderungsbeschlüsse (Gesetze) verboten wird, wobei jedes Verbot limitiert ist durch das Gebot des Minderheitenschutzes. Insofern kann man - formal beschreibend und pointierend - sagen: in der parlamentarischen Debatte hat jede Teilnehmerformation das Gesprächsziel, den politischen Gegner in den Genuß des Minderheitenschutzes zu bringen (den der absolute Diskurs nicht kennt, weil es beim absoluten Konsens keine Minderheiten gibt). Der Antrag auf Abänderung bedarf der Begründung: die Beweislast hat der Veränderer; 25 dieser Beweislast kann - aber stets nur für nichttotale, d. h. partielle Änderungen - häufig erfolgreich genügt werden, was an der Gesetzesproduktion von Parlamenten ablesbar ist. Aus all diesem - und manch anderem mehr - folgt: wer den absoluten Diskurs (oder seine raison d'etre) mit der parlamentarischen Debatte (oder deren raison d'etre) verwechselt, tut dies zu Unrecht. Das unendliche Gespräch steht nicht unter Handlungszwang und daher nicht unter Zeitdruck. Es ist prinzipiell unbefristet auch im Sinn einer unlimitierten Lizenz zu Gesprächspausen, denn ein unendliches Gespräch braucht und kann nicht zu Ende geführt werden, verliert also durch Unterbrechungen keine Zeit. Darum können unendliche Gespräche - nur scheinbar paradox - kurz sein, im Unterschied zum absoluten Diskurs, der lang sein muß und darum durch »Diktatur des Sitzfleischs« (Weinrich) bedroht ist. Unendliche Gespräche haben keine praktischen Ziele (oder haben sie nur als Vorwand): insofern ist das geschichtlich Vorhandene - diesseits von Verbot und Erlaubnis - unendlich interessantes Sujet für Interpretationen, deren Ergebnisse - das definiert die ästhetische Situation - hochgradig folgenlos sind, hilfsweise - bei potentiell praktischen Gesprächsfolgen - gut entsorgt sein müssen (z.B. durch jene sicheren Deponien, die die Bücher sind). Gesprächsziel ist das Gespräch selber: Anregung dadurch, daß im Gespräch jeder sich bewegt, aber
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nicht zum Konsens, de:r;- allenfalls ein transitorischer Zufall ist (während der absolute Diskurs konsenszielig auf einen Zustand aus ist, in dem der Plural seiner Teilnehmer überflüssig wird, ist für das unendliche Gespräch der Plural seiner Teilnehmer niemals überflüssig: weil es um so interessanter wird, je mehr jeder Gesprächsteilnehmer etwas anderes meint als jeder andere). Die Frage: »was kommt heraus?«, ist beim unendlichen Gespräch zu ersetzen durch die Frage: »wer kommt heraus?«, mit der Antwort: »alle, und zwar möglichst verschieden«. Weil so das unendliche Gespräch nicht unter Konsensdruck oder Entscheidungszwang steht, braucht es keine Beweislastregel: statt Begründungspflichten gibt es nur Begründungsneigungen, die - in wechselnden Formen der Lastenverteilung - exzessiv ausgelebt werden können, aber nicht müssen. Aus all diesem - und manch anderem mehr - folgt: wer den absoluten Diskurs (oder seine raison d'etre) mit dem unendlichen Gespräch (oder dessen raison d'etre) verwechselt, tut dies zu Unrecht. Parlamentarische Debatte und unendliches Gespräch unterscheiden sich daher - als >uncartesianisierte< Gespräche - vom absoluten Diskurs. Zugleich unterscheiden sie sich auch voneinander: ich folge hier also nicht der Ansicht von Carl Schrnitt, der - rekurrierend auf die von Donoso Cortes ausgehende Charakteristik des Bürgertums als >diskutierender Klassel6 - den »heutigen Parlamentarismus« mit dem »unendlichen Gespräch« zusammenbringt:27 beide sind vielmehr durchaus verschiedene Gesprächsformen und nicht durcheinander substituierbar. Wohl aber mag es sein, daß beide nur in Symbiose miteinander leben können, denn immerhin- scheint mir - replizieren beide (mit erklärbarer Verzögerung) auf das Trauma des konfessionellen Bürgerkriegs, der ein politisch gewordener hermeneutischer Bürgerkrieg war. Darum mußte er sowohl politisch als auch hermeneutisch beantwortet werden. Die politische Antwort ist die staatliche
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Autorität (»auctoritas, non veritas, facit legem«), deren nachabsolutistische Form die parlamentarische Debatte ist als >>gehegter Bürgerkrieg<<28 • Die hermeneutische Antwort ist die »Literarisierung« der Hermeneutik (»originalitas, non veritas, facit interpretationem«), deren nachaufklärerische Form das unendliche Gespräch ist, das die Pflicht zu einer einzigen heilsabsoluten Interpretation verwandelt in die Lizenz zu einer offenen Vielzahl von heilsfragenentlasteten Interpretationen. 29 Es mag also sein, daß das unendliche Gespräch nur im Schutz der parlamentarischen Debatte, die parlamentarische Debatte nur flankiert durch die Entlastung der Hermeneutik von Heilsfragen im unendlichen Gespräch gedeiht. Jedenfalls aber ist es wichtig, beide Gesprächsformen nicht mit dem absoluten Diskurs zu verwechseln und diesen nicht mit ihnen. 4. Die Unvermeidlichkeit von Üblichkeiten. Denn - das war bisher meine These - der absolute Diskurs ist die Cartesianisierung der Moral; aber - das ist nun im folgenden meine weitere These - die Cartesianisierung der Moral kann nicht gelingen: sie scheitert an der menschlichen Endlichkeit, d. h. Sterblichkeit. Die Menschen müssen sterben, sie sind >>zum Tode« 30 • Diese Aussage ist diesseits aller existentialistischen Emphase philosophisch zentral und läßt sich auch ganz unemphatisch ausdrücken: in der menschlichen Gesamtpopulation beträgt die Mortalität hundert Prozent. Der Tod aber - wie lange er auch zögert - kommt immer allzubald: vita brevis. Jedenfalls ist das Menschenleben zu kurz für den absoluten Diskurs. Es ist nicht nur dieser oder jener Handlungszwang, sondern es ist - alle Handlungszwänge erzwingend und verdringlichend - der Tod, der uns nicht die Zeit läßt, auf das absolute Ergebnis des absoluten Diskurses - die konsensuale Legitimation aller lebensnötigen Moralnormen - zu warten, der im übrigen nicht beschleunigt wird durch orthosprachliche Zurüstungen: eher im
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Gegenteil. Wenn aber d11rch den absoluten Diskurs und seinen methodischen Zweifel an Normen die geschichtlich-faktisch vorhandenen Lebensorientierungen (die nicht diskursiv legitimiert, sondern nur konventionell, nur Üblichkeiten sind) so lange verboten bleiben, bis sie diskursiv-konsensual erlaubt werden (bis der absolute Diskurs zum umfassenden Moralkonsens gekommen ist), dann läuft das im Effekt hinaus auf das Verbot, mit dem Leben anzufangen, bevor es zu Ende ist: denn der Tod ist schneller als der diskursethisch absolute Diskurs über alle lebensnötigen Moralnormen. Darum kann man sagen: die Diskursmoral ist für die Menschen die Moral für ihr Leben nach dem Tode, die die Frage nach der Moral für ihr Leben vor dem Tode offenläßt. Doch gerade für ihr Leben vor dem Tode brauchen die Menschen die Moral: wenn es also die legitimierte Diskursmoral - wegen der absoluten Dauer ihrer Konsensarbeit - noch nicht gibt und wenn es also die faktische Moral- durch den methodischen Normenzweifel des absoluten Diskurses - nicht mehr gibt, muß offenbar ein interimistischer Moralersatz herbei, der in diese Zeitlücke die unser Leben ist - einrückt. Das wurde bei Descartes zum Argument für das, was er - im dritten Kapitel seines Discours de Ia metbade-die >provisorische Moral<31 nannte. (Sein Bild: wenn man ein Haus abreißt, um sich ein neues zu bauen, muß man für eine Zwischenunterkunft sorgen.) Die provisorische Moral muß auch und gerade für die Diskursethik aktuell werden, wo die Diskursethik -als Cartesianisierung der Moral- konsequent wird; denn sonst diskutiert der absolute Diskurs sozusagen nach dem Motto: >>vor mir die Sintflut« (ein wenig scheint mir KarlOtto Apels >>Teil B der Ethik«, die als Ethik der >>strategischen« Durchsetzung des >>Kommunikativen« die >>teleologische Suspension des Ethischen« in der Form der Ethik ist, dieses Motto zum Grundsatz zu machen32 ). Freilich: die provisorische Moral ist für die Diskurs-
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ethik ebenso nötig wie rumos. Denn entweder ist die provisorische Moral selber kein Produkt des absoluten Diskurses; dann verfällt auch sie dessen methodischem Zweifel an Normen. Oder die provisorische Moral ist doch selber ein Produkt ·des absoluten Diskurses: dann läßt sie ihrerseits einigermaßen absolut auf sich warten und braucht ihrerseits - als interimistischen Moralersatz wiederum eine weitere provisorische Moral, und so fort. Diese Aporie entsteht - abgeschwächt - auch dann, wenn die provisorische Moral eine andersartige umfassende Neuerfindung auch nur eines provisorischen Minimums aller lebensnötigen Normen sein soll: auch dann reproduziert sie das Problem, zu dessen Lösung sie dienen sollte. Das ist nur dann nicht der Fall, wenn sie identisch ist mit der geschichtlich vorhandenen Moral. Daraus folgere ich: die provisorische Moral ist unvermeidlich identisch mit der faktischen - der geschichtlich vorhandenen - Moral und ihren Üblichkeiten. Descartes hat das nicht ausdrücklich gesagt und vielleicht auch nicht in voller Schärfe gesehen; immerhin bestätigen die von ihm im dritten Kapitel des Discours formulierten >Maximen der provisorischen Moral< diese Identität: Anpassungsmaxime, Entschiedenheitsmaxime (die Konsequenz in der Fortsetzung des längst Entschiedenen verlangt) und Selbstbesiegungsmaxime laufen - im Sinn skeptischer Tradition - darauf hinaus, den vorhandenen Sitten zu folgen: die provisorische Moral ist auch bei Descartes identisch mit der faktischen der geschichtlich vorhandenen Moral - und ihren Üblichkeiten. Das unterstreicht, wie es ist: für die Menschen sind Üblichkeiten unvermeidlich/3 und zwar auch und gerade dann, wenn sie - zugunsten diskursiv legitimierter Normen - im Diskurs vorsorglich negiert werden. Dadurch kommt es zu jener Dialektik des absoluten Diskurses, die ihm selber verborgen bleibt, solange er - wegen Betriebsblindheit des Kommunikationsaprioris - in der Naivität seiner internen Reflexionen verharrt: die Üblichkeiten, die
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er negiert, muß er zugleich verlangen; auch und gerade >>postkonventionell« müssen wir >>konventionell« bleiben; und je absoluter der absolute Diskurs wird, um so unausweichlicher schickt er die Menschen zurück in moralische Konventionen, in die unvermeidlichen Üblichkeiten. Der diskursethisch absolute Diskurs ist also zugleich die direkte Entmächtigung und die indirekte Ermächtigung der schon vorhandenen Üblichkeiten: gezwungenermaßen. Was dabei den absoluten Diskurs zwiD:gt, die Menschen in die faktisch vorhandene Moral der Ublichkeiten zurückzuschicken, das ist der Tod: weil die Menschen sterben, können sie den Üblichkeiten (den Konventionen, der geschichtlich vorhandenen Moral) nicht beliebig entrinnen; sie haben - denn der Tod kommt immer allzubald: vita brevis - schlichtweg keine Zeit dazu. Dabei stimmt, was die Diskursethiker diagnostizieren: die vorhandene Moral der Üblichkeiten ist Zufall, aber - das wird selten berücksichtigt- keiner, bei dem es den Menschen freisteht, diesen oder einen ganz anderen Zufall zu wählen, sondern einer, in dem sie drinstecken und dem sie fast gar nicht - nämlich stets nur wenig - entkommen können. Die geschichtlich vorgegebenen Üblichkeiten sind keine beliebig wählbaren und abwählbaren Beliebigkeiten, sondern negationsresistente Schicksale: gerade als Sitten kommen sie jeder >Wahl, die wir sind<34 zuvor als die >Nichtwahl, die wir sind<. Ihre grundsätzliche Zufälligkeit und enorme Komplexität verwehrt es den Menschen, sie - die gegebene Morallage - dauernd komplett zu überprüfen: mit diesem Diskurs eben werden die Menschen nicht fertig. Was besprochen, überprüft, begründet werden kann, sind vielmehr überschaubare Änderungen, Kleinkorrekturen der Normenlage: darum liegt, wenn hier überhaupt begründet werden soll, die Begründungspflicht vernünftigerweise beim Veränderer, denn er allein - wenn er überschaubare Veränderungen vorhat- kann ihr genügen. Seine Abänderungsbegründung aber braucht die vor-
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handene Sitten- und Normenlage als »Handlungsgrundlage«.35 Normenänderungsethik ist nur inkrementalistisch möglich; Ethik ohne Hypoleptik ist ruinös. Denn wir können uns aus den geschichtlich vorgegebenen Üblichkeiten - dem, was gilt, weil es schon galt - nicht in beliebigem Umfang hinausdiskutieren: das limitiert den absoluten Diskurs. Ohne schon vorhandene Moralüblichkeiten kommen wir Menschen nicht aus. Wir sind - durch unsere Sterblichkeit - zur Konventionalität gezwungen: gerade in Dingen Moral sind wir - diesseits von Diskurskonsens und Gewalt - Kostgänger der Selbstverständlichkeiten. Wer alle Konventionen in Frage stellt oder auch nur zu viele, läßt uns nicht leben. 5. Der böse Blick aufs Vorhandene und der nachträgliche Ungehorsam. Aber - meinen die Diskursethiker - es ist gar nicht die Diskursethik allein, die die vorhandenen Moralkonventionen negiert. Ihr methodischer Zweifel an Normen ratifiziert nur, was die Realität selber tut. Denn die moderne Wirklichkeit selber negiert die Moralkonventionen, und zwar durch jene Verfassung, von der schon die Rede war: es ist das wachsende Veränderungstempo der modernen Welt, das die Konventionen verschleißt. Gerade weil die Üblichkeiten - durch die hohe Innovationsgeschwindigkeit - immer schneller veralten und absterben, müssen sie ersetzt werden: durch den ethischen Diskurs. Selbst wenn er unmöglich wäre, wäre er nötig.3 6 Aber dieser Einwand verkennt die moderne Welt, denn in Wirklichkeit bleibt auch sie konventionsfreundlich. Dies mache ich geltend, indem ich jene Frage, die ich zum Schluß des ersten Abschnitts aufgeworfen hatte, folgendermaßen beantworte: nicht das moderne Wandlungstempo (mit den Folgen Erfahrungsverlust und Üblichkeitenverschleiß) macht die Sollens- und Diskursethik nötig, sondern umgekehrt: damit die Sollens- und Diskursethik nötig erscheine, wird das moderne Wandlungstempo
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(mit den Folgen Erfahrungsverlust und Üblichkeitenverschleiß) überdramatisiert. Diese These ist - in der Grundfigur - die modernisierte Wiederholung von Hegels Argument gegen die Sollensethik:37 die Sollensethik trennt- wegen befürchteter Geltungserosion des nur faktisch Geltenden (durch Befolgungs- und Anerkennungsdefizite) - das Sollen vom Sein: aus Vorsicht. Damit hat sie recht für den schlimmsten Fall und erklärt darauf den schlimmsten Fall zum durchgängigen Fall, um durchgängig recht zu haben: das aber - meint Hege! - gelingt ihr nur durch einen wirklichkeitsunterbietenden Wirklichkeitsbegriff: durch Negativierung des Intakten, Verbösung des Guten, Blindmachung fürs Vernünftige; sie entwickelt Verleugnungszwänge. Die Rettung der Normen in das Kontrafaktische lebt von Faktizitätsvermiesungen: vom bösen Blick aufs Vorhandene. Dieser böse Blick ist auch dort am Werk, wo in der modernen Welt nur noch die Veränderungsbeschleunigung gesehen wird und nicht auch ihre Kompensationen, die die Konventionen nach wie vor abstützen. Ich kann hier nur einige wenige Hinweise dafür geben, daß das moderne Wandlungstempo ein wohlkompensierter Vorgang ist: nur weil er das ist, ist er aushaltbar. Die wachsende Veraltungsgeschwindigkeit wird modern kompensiert durch Zunahme der Reaktivierungschancen fürs Alte: durch den Konservierungsenthusiasmus des historischen und ökologischen Sinns, durch das Dauerphänomen nostalgischer Reprisen, durch Rettung der Lebenserfahrung in die autonom und ästhetisch werdende Kunst, durch die Technik der Anpassung alter Optiken an neue Situationen, also die >>Hermeneutik« genannte Altbausanierung im Reiche des Geistes. Zugleich wird- basal- die wachsende Innovationsgeschwindigkeit modern kompensiert durch Stabilitätszugewinne ihrer funktional differenzierten Teilsysteme: das hat vor allem Niklas Luhmann betont. Man kann eine Menge Wandlungstempo vertragen, wenn Gehalt und
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Zeitung regelmäßig kommen, die Technik Not-ÜberflußSchwankungen neutralisiert, der Markt seine Schuldigkeit tut, Administration und Jurisdiktion kalkulierbar bleiben und die an all diesem hängenden Gewohnheiten nicht in Frage gestellt sind. Daß alles fließt, wird aushaltbare~; wenn stets auch - sobald man es braucht - das Leitungswasser fließt. Nie fuhr in Deutschland die Eisenbahn pünktlicher als seit 1835: die moderne Zunahme der Mobilität wird kompensiert durch das Zuverlässigkeitswachstum etwa des Verkehrs. Die Beschleunigung des Wirklichkeitswandels wird neutralisiert durch basale Stabilitäten: der moderne Zuwachs an Geschichte - an ewiger Wiederkehr des Ungleichen- wird kompensatorisch unterlagert durch den Eintritt ins »posthistoire<<. So wird - ethisch relevant - der Konventionenverschleiß modern kompensiert durch neue (globalere) Konventionalitäten erheblichen Ausmaßes: das moderne Zeitalter des zunehmenden Wandlungstempos ist zugleich das Zeitalter seiner Kompensationen. Das alles muß die Diskursethik übersehen, um sich nötig vorzukommen: durch das falsche Stichwort »postkonventionell« macht sie sich kompensationsblind. Und weil sie die zahllosen anderen Kompensationen übersieht, hält sie sich selber für die einzige und will darum kompensationsblindheitskompensatorisch - mehr werden als >>nur<< eine Kompensation: nämlich zum Protagonisten des Jenseits zur vorhandenen Welt. Denn sie übersieht >>die Rose im Kreuz der Gegenwart<< (Hegel) durch bösen Blick aufs Vorhandene. Von diesem Negationszwang schon beim Beschreiben lebt die Diskursethik, die (trotz Peirce) zuerst in Deutschland in einigem Zeitabstand zum Ende des Zweiten Weltkriegs wirklich erfolgreich wurde. Ihr Negationszwang wurde gerade dort begünstigt und zusätzlich aktualisiert durch jenes spezifisch deutsche Nachkriegsphänomen, das man - mit einem Gegenbegriff zu Freuds »nachträglichem Gehorsam< 8 durch den Freud das »Über-Ich«, die Gene-
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se des Gewissens erklärte- beschreiben kann als nachträglichen Ungehorsam. 39 Er ist ein - spezifisch deutscher fehllaufender Vergangenheitsbewältigungsversuch. Als man sich in der Bundesrepublik - angesichts der Schrecken der jüngsten deutschen Vergangenheit- vom schlechten Gewissen darüber, daß Ungehorsam und Aufstand gegenüber dem Nationalsozialismus in der Regel unterblieben waren, nicht mehr durch die Mühe des Wiederaufbaus ablenken konnte, holte man diesen Ungehorsam und Aufstand nach: weil der Nationalsozialismus kein vorhandener Gegner mehr war nun (mit mancherlei Aufwand, das Heute mit dem Damals durch zusammengreifende Faschismustheorien gleichzusetzen) gegen die vorhandenen Verhältnisse der Bundesrepublik und (durch globalere Entfremdungstheorien) gegen jedes faktisch Vorhandene überhaupt. Es war dies die Zeit des umgekehrten Totemismus: darum wurden nun die »Tabus« gerade gebrochen und die »Totems« gerade geschlachtet und aufgegessen; nach der materiellen Freßwelle kam so die intellektuelle Freßwelle. Dieser nachträgliche Ungehorsam war ein Entlastungsarrangement: man braucht - wo Schuldvorwürfe es überlasten - das Gewissen, schien es, nicht mehr zu haben, wenn man das Gewissen wird, das alles faktisch Vorhandene verurteilt, zum Vergangenen zu werden. Die Angeklagten entkommen dem Tribunal, indem sie es werden: so etwa durch Beitritt zum absoluten Diskurs, der gerade nun rechtzeitig durch die Diskursethik aufgerufen wurde. Diese - nachträglich ungehorsame - Flucht aus dem Gewissenhaben in das Gewissensein wurde zum Prinzip der Avantgarde, die nur noch die anderen die Vergangenheit sein läßt, indem sie selber nur noch die Zukunft ist. Durch diesen Entlastungsmechanismus wurde die Negation des faktisch Vorhandenen nachgerade unwiderstehlich und ebendadurch die Diskursethik aktuell. Denn durch den nachträglichen Gehorsam entsteht das Über-Ich: das Gewissen, das man hat; durch den nachträglichen Ungehor-
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sam hingegen entsteht das Über-Wir: das Gewissen, das man - statt es zu haben - nur noch ist: der absolute Diskurs. . 6. Small talk. Wenn aber die moderne Wirklichkeit nicht nur die wandlungstempobedingte Dauernegation des Vorhandenen ist, sondern auch deren Kompensation, so daß das »postkonventionelle« Zeitalter zugleich das »konventionelle« Zeitalter bleibt: dann muß die moderne Situation der Ethik neu überdacht werden. Denn dann können - im Gegensatz zur herrschenden Lehre der modernen philosophischen Ethik - die Üblichkeiten und die Lebensedahrung entscheidende Bedeutung behalten für die Ethik: gerade darum- scheint mir- kann gegenwärtig die Nachfrage nach dem ethischen Apriorismus ebenso nachlassen wie die nach seiner Transformation in den absoluten Diskurs. So sind für die Ethik Konsequenzen fällig bei ihrer Einschätzung der Lebensedahrung und des Konventionellen (a) und bei ihrer Einschätzung der Rolle des Gesprächs (b ): auf beide Konsequenzen weise ich - wenn auch nur ganz kurz - abschließend hin. a) Die moderne philosophische Ethik kann und muß und zwar durch Abbau ihrer Faktizitätsphobie (also durch Depotenzierung ihrer Abwehrmechanismen gegen das Konventionelle)- zu einer Korrektur ihrer modernen Geringschätzung der Lebensedahrung und der Üblichkeiten kommen. Das hat - bereits unmittelbar nach Kant Hegel geltend gemacht: er hat in seiner Rechtsphilosophie gegenüber einer Ethik nur der >>Moralität<< (§§ lOSff.) auf einer Ethik auch und gerade der >>Sittlichkeit<< (§§ 142ff.) bestanden: die Sittlichkeit der Üblichkeiten und der Lebenserfahrung kann auch modern als Instanz der Ethik im Spiel bleiben. Auch die moderne Ethik kann es sich also leisten, auf Weltfremdheit zu verzichten, indem sie jenes Remedium gegen Weltfremdheit rehabilitiert, das die Lebenserfahrung ist, und indem sie- statt alle Lebensorien-
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tierungen perma.~ent dis~ursiv zur Disposition zu stellen an vorhandene Ublichkeiten anknüpft. Dies - nota bene erklärt, warum die Lebenserfahrungssätze der Ethik des Aristoteles, die gerade das paradigmatisch getan hat, für die Pflege der Lebenskunst auch heute tatsächlich plausibel sind und lehrreich bleiben. Es ist eine Rearistotelisierung der modernen Ethik fällig. Die Warnung des Aristoteles, daß >>ein junger Mensch nicht ein geeigneter Hörer« der Ethik sei, ist dann freilich ernst zu nehmen: doch nicht zum Zwecke einer Wiedervertreibung des Unterrichtsfachs Ethik aus der Sekundarstufe I der Schulen, sondern als Hinweis auf die wirklichen Schwierigkeiten, die gerade dort bestehen, die Ethik an die Lebensedahrung auch sehr junger Menschen anzuschließen. Justament das ist - als »ethische Urteilsbildung in Handlungssituationen<<40 - nötig: nicht der Trip ins total diskursive Negationsspiel, sondern der Anschluß an Lebensedahrungen und an geltende Üblichkeiten, die in unserer Republik in eminenter Weise der Grundrechteteil des Grundgesetzes formuliert. Diese Form der Anknüpfung - auch das ist ein Resultat meiner Überlegungen - dad die >>ethische Urteilsbildung<< nicht nur an exemplarischen (und natürlich schon gar nicht an nur modischen) Konflikten orientieren, sondern auch an exemplarischen Gelungenheiten: die Erziehung durch Vorbilder- durch gute >>Beispiele<< (Günther Buck)- ist gerade im Falle der Ethik nicht obsolet. Obsolet ist inzwischen eher der Weg in die diskursive Dauerproblematisierung dieser faktisch geltenden Verbindlichkeiten: wenn schon der absolute Diskurs in fundamentale Aporien gerät, dann erst recht der absolute Diskurs für Vierzehnjährige. Denn insgesamt gilt: wäre die menschliche Moral nur noch durch den philosophisch absoluten Diskurs - durch die philosophische Ethik als umfassendes Moralerzeugungsunternehmen - zu retten, so wäre sie überhaupt nicht zu retten; doch, um es zu wiederholen: ich glaube nicht, daß es schon so schlimm um uns steht.
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b) Wenn aber die moderne philosophische Ethik auf den absoluten Diskurs verzichten kann, so bedeutet dies als Entlastung der Menschen vom absoluten Diskurs - die Entlastung der Menschen zum Gespräch. Denn der absolute Diskurs ist - als das Über-Wir - ein Gesprächsverhinderungsgespräch: er muß die, die an ihm teilhaben, ganz haben; so beansprucht er den menschlichen Vorrat an Kommunikationsrede total und verlangt dadurch von den Menschen das sacrificium sermonum: auch hier befreit er von einer Freiheit, nämlich von der Freiheit zu den vielen besonderen Gesprächen. 41 Wo aber die Menschen davon ablassen dürfen, durch das universale Gespräch des absoluten Diskurses sich selber in die Allsamkeit zu entziehen, bleibt als Alternative keineswegs nur die Einsamkeit übrig, obwohl auch diese - die Unvermeidlichkeit, ein Einzelner zu sein - fundamental zum Menschen gehört: als Einsamkeit des Todes und als Einsamkeit jenes Gewissens, mit dem man gerade allein ist, wo man »nur noch seinem Gewissen folgen« kann. Zwischen Allsamkeit und Einsamkeit liegt für die Menschen das bunte Terrain der Mehrsamkeit: das Feld der multilateralen Gespräche, zu denen die parlamentarische Debatte gehört und das unendliche Gespräch: jenes Gespräch, in dem Normen in kleinen - prozedual geregelten - Schritten korrigiert werden, und jenes Gespräch, in dem man hermeneutisch philosophiert, auch in Sachen Ethik; doch gerade diese multilateralen Gespräche dementieren durchweg die falsche Alternative, daß es nur gebe: diskursiven Konsens oder Gewalt (Habermas), indem sie auf einem Tertium, auf gemeinsamen Selbstverständlichkeiten aufruhen und dadurch, daß sie geführt werden, bezeugen, daß es diese gemeinsamen Selbstverständlichkeiten gibt. Schließlich ist da die Zweisamkeit mit ihren bilateralen Gesprächen, mit Zwiegesprächen, mit Dialogen: »vielleicht« - heißt es in einem der frühesten dialogistischen Texte unseres Jahrhunderts - >>gibt es auch in der Tat eine Wahrheit, die
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wahr ist nur zwischen ZV{ei Menschen«;42 aber selbst deren Ort wäre nicht nur das Gespräch, wenn doch zu ihr etwa - ebenfalls gehören kann: Mitsein als Mitleiden; einander auch ohne ein Wort verstehen; miteinander lachen, miteinander weinen; miteinander schweigen; miteinander schlafen; miteinander auf den Tod warten; miteinander Pferde stehlen können; und so fort. Wir leben nicht nur ein Gesprächsleben, sondern einzig ein Leben, zu dem auch ein Gesprächsleben gehört. Das- meine ich- vergißt der absolute Diskurs; er ist - neben allem anderen - auch· noch die Hypertrophierung des Gesprächs: auf Kosten sowohl der Nichtgespräche als auch der Gespräche, aus denen unser Leben besteht. Dieser diskursiven Verabsolutierung des Gesprächs gegenüber gilt, was Hobbes von der Wissenschaft sagte (>>science is but a small power«), sinngemäß vom Gespräch, gerade auch vom philosophischen: >philosophical talk is only a small talk<; denn >>seit ein Gespräch wir sind«, sind wir nicht nur ein Gespräch, vor allem kein absolutes. Anmerkungen
1 Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses (1970), Frankfurt a. M. 1977, S. 7. 2 Arnold Gehlen, Moral und HypermoraL Eine pluralistische Ethik (1969), Frankfurt a. M. 21970, S. 38. 3 VgL Karl-Otto Apel, 2. Kollegstunde, in: K.-0. A. I D. Böhler, Funkkolleg Praktische Philosophie I Ethik (1980181). 4 VgL Karl-Otto Apel, ebd., 1. und 2. Kollegstunde; vgL K.-0. A., Transformation der Philosophie (1973), Bd. 2, Frankfurt a. M. 1976, S.360; K.-0. A., •Sprechakttheorie und transzendentale Sprachpragmatik. Zur Frage ethischer Normen«, in: Sprachpragmatik und Philosophie, hrsg. von K.-0. A., Frankfurt a. M. 1976, s. 143. 5 Zit. nach Rudolf Marx, »Nachwort«, in: Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, Stuttgart 1978 (Kröner Taschenausg., Bd. 55), S. 327.
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6 Ich nahm an, diese Geschichte stamme von Brecht; das scheint nicht zu stimmen. Es handelt sich wohl um eine >Umerinnerung< eines bei Wolfgang Preisendanz, Über den Witz, Konstanz 1970, S. 13/14 zitierten Witzes. 7 Hege!, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821); vgl. dort seine Kritik des Standpunktes der »Moralität« (§§ 105-141) durch den der »Sittlichkeit« (§§ 142-360). 8 Vgl. Hermann Lübbe, »Erfahrungsverluste und Kompensationen. Zum philosophischen Problem der Erfahrung in der gegenwärtigen Welt«, zuerst in: Gießener Universitätsblätter 12 (1979) S. 42-53. 9 Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen (1868) IV: »Die geschichtlichen Krisen•, interpretiert als »beschleunigte Prozesse•; Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 116. 10 Vgl. Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979. 11 Karl-Otto Apel, Transformation der Philosophie (1973), etwa im Sinne von Bd. 2, Frankfurt a. M. 1976, S. 430: Transformation des »methodischen Solipsismus« auch der klassischen- kantianischen - Transzendentalphilosophie in eine Philosophie und philosophische Ethik, die »das einsame Denken als defizienten Modus der Kommunikation begriffen hat•. 12 Diskussionsbemerkung von Hans Michael Baumgartner in: Normenbegründung, Normendurchsetzung, hrsg. von Willi Oelmüller, Paderborn 1978, S. 238 ff.; vgl. S. 278. 13 Hermann Krings, »Reale Freiheit- Praktische Freiheit- Transzendentale Freiheit«, in: Freiheit. Theoretische und praktische Aspekte des Problems, hrsg. von Josef Simon, Freiburg i. Br. 1977, S. 107; H. K., »Freiheit. Ein Versuch, Gott zu denken«, in: Philosophisches fahrbuch 77 (1970), S. 233. 14 Kant, Kritik der Urteilskraft (1790) §59. 15 Fichte, System der Sittenlehre (1796) § 31. 16 Jürgen Habermas, »Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz«, in: J. H. I Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie- Was leistet die Systemforschung?, Frankfurt a. M. 1971, S. 140. Vgl. Odo Marquard, »Kunst als Antifikation•, in: Poetik und Hermeneutik, Bd. 10, München 1983, S. 35-54, bes. S. 36/37 und S. 49/50; wiederabgedr. in: 0. M., Aesthetica und Anaesthetica, München 1989, s. 82-99.
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17 Friedeich Schiller, Kallias oder über die Schönheit; Sämtliche Werke, hrsg. von Gerhard Pricke und Herbert G. Göpfert, Bd. 5, München 1967, S. 400 (Brief an Gotrfried Körner vom 25. 1. ·1793). 18 Vgl. Jürgen Habermas, »Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz•, S. 140; Karl-Otto Apel, »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik•, in: K. 0. A., Transformation der Philosophie, Bd. 2, S. 358-435; vgl. auch Bd. 1, S. 217: •Zweifellos ist nun die Philosophie- seit den Tagen, da sie zum ersten Mal im Dialog einzelner Menschen die Grundlagen der Staatsverfassung und der menschlichen Gesittung diskutierte, also seit Sokrates die eigentliche >idee directrice< einer vom Mythos und den ihm zugehörigen archaischen Institutionen entbundenen Meta-Institution der Sprache, die als >Logos< ihrerseits alle anderen Institutionen allererst begründen soll. So gesehen, ist die parlamentarische Demokratie eine institutionelle Inkorporation des Geistes der Philosophie [... ]. Wer daher das Unterfangen der griechischen Philosophen, das Dasein des Menschen auf den Logos zu gründen, für restlos gescheitert ansieht, sollte wissen, daß er damit auch die Möglichkeit der Demokratie im Grunde verneint.«
19 Ebd. 20 CEuvres de Descartes, hrsg. von Charles Adam und Paul Tannery, Bd. 6, Paris 2 1966, S. 22 ff. 21 CEvres de Descartes, Bd. 7, S. 17ff. 22 Vgl. Karl-Otto Apel, •Die Kommunikationsgemeinschaft als transzendentale Voraussetzung der Sozialwissenschaften«, in: K.O.A, Transformation der Philosophie, Bd. 2, S. 221: »cartesische Radikalisierung der transzendentalen Fragestellung•; vgl. K. 0. A, »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik•, in: ebd., bes. S. 392-394: es •ist der methodische Ansatz des augustinisch-cartesischen Zweifels[ ... ] auch für die Ethik[ ... ] verbindlich«, freilich unter Vermeidung •des >methodischen Solipsismus< des cartesischen Denkstils• (S. 393); vgl. S. 411; denn es »muß die Geltung moralischer Normen (also die Geltung von Sollensansprüchen praktischer Sätze) prinzipiell ebenso eingeklammert und in Frage gestellt werden wie die Wahrheitsgeltung theoretischer Sätze über Tatsachen• (S. 392).
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23 Ebd., S. 424: »Im Apriori der Argumentation liegt der Anspruch, nicht nur alle >Behauptungen< der Wissenschaft, sondern darüber hinaus alle menschlichen Ansprüche (auch die impliziten Ansprüche von Menschen an Menschen, die in Handlungen und Institutionen enthalten sind) zu rechtfertigen.<< 24 Manin Heidegger, Sein und Zeit, Halle 1927, S. 293. 25 Vgl. Martin Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, Berlin 1967; ferner Odo Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981 [u. Ö.], bes. S. 16. 26 »una clasa discutidora<<, zit. bei Carl Schmitt, Politische Theologie, Berlin/Leipzig 2 1934, S. 75. 27 Ebd., S. 69ff.; vgl. außerdem Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923), Berlin 5 1959, S. 46, und: C. Sch., Politische Romantik, Berlin 2 1925. 28 Formulierung von Günter Maschke. 29 Vgl. Odo Marquard, »Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist«, in: 0. M., Abschied vom Prinzipiellen, bes. S. 127ff. 30 Martin Heidegger,"Sein und Zeit, S. 235 ff. 31 CEuvres de Descartes, hrsg. von Charles Adam und Paul Tannery, Bd. 6, S. 22: »normale par provision«. 32 Vgl. Karl-Otto Apel, »Diskussionseinleitung«, in: Transzendentalphilosophische Normenbegründungen, hrsg. von Willi Oelmüller, Paderborn 1978, S. 169 ff., und meine Diskussionsbemerkung dazu ebd., S. 193-195. 33 Vgl. Odo Marquard, »Über die Unvermeidlichkeit von Üblichkeiten«, in: Normen und Geschichte, hrsg. von Willi Oelmüller, Paderborn 1979, S. 332-342. Wiederabgedr. in: 0. M., Glück im Unglück, München 1995, S. 62-74. 34 Vgl. Jean-Paul Sartre, L'etre et le neant, Paris 1943, S. 638. 35 Niklas Luhmann, »Status quo als Argument«, in: Studenten in Opposition, hrsg. von Horst Baier, Bielefeld 1968, S. 81. 36 Vgl. Karl-Otto Apel, Transformation der Philosophie, Bd. 2, S. 363, dort allerdings als Scheinparadoxie formuliert: »Eine universale, d. h. intersubjektiv gültige Ethik solidarischer Verantwor~ng scheint demnach zugleich notwendig und unmöglich zu se1n.«
37 Vgl. Odo Marquard, »Hege! und das Sollen« (1963), in: O.M., Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a. M. 2 1982, s. 37-51.
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38 Sigmund Freud, Totem und Tabu (1912); Gesammelte Werke, Bd. 9, S. 173ff. . 39 Vgl. Odo Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, S. 9ff. 40 Reiner Baumann I Fritz Zimbrich, in: Einführung des Faches Ethik an beruflichen und allgemeinbildenden Schulen, hrsg. vom Hessischen Institut für Lehrerfortbildung, Fuldatal/Kassel 1982, s. 45 ff. 41 In diskursethischen Überlegungen kommt üblicherweise der »Skeptiker« als Figur des Gesprächsverweigerers vor. Demgegenüber ist daran zu erinnern, daß gerade der Diskursabsolutist - wo er mit dem Alternativanspruch •entweder absolut~s Gespräch oder gar keines< auftritt - der Verweigerer all jener Gespräche ist, die keine absoluten Diskurse sind, und daß das Verweigern des Skeptikers gerade die Verteidigung dieser Gespräche zumindest sein kann. 42 Victor E. von Gebsattel, Moral in Gegensätzen. Dialektische Legenden, München 1911, S. 14.
Sola divisione individuum Betrachtungen über Individuum und Gewaltenteilung
Die Formel vom »Ende des Individuums<< hat MichaeL Landmann zum Buchtitel gemacht (1971); als Formulie~ rung stammt sie- soweit ich sehe- von Adorno (Minima moralia: 1951), dessen Forderung, »ohne Angst anders sein können<<, ebenfalls für das Individuum plädiert gegen seinen Untergang in der »verwalteten Welt<<, Es gibt andere Formeln, die Ahnliches meinen wie das Ende des Individuums: z.B. die Rede von der »Auflösung der Person« (Schelsky) oder der »Abschaffung des Menschen<< (Tenbruck). Und schon Heidegger, der, die Kategorie des >>Einzelnen<< von Kierkegaard übernehmend, den Einzelnen nur noch in der »Eigentlichkeit<< fand (heute würde man von »Authentizität<< sprechen), befürchtete den Untergang des Einzelnen- des Individuums- im >>Man«: in der Massenkultur der >>verwüsteten Welt«. Das Ende des Individuums ist philosophisch-soziologisch - scheint es eine durchaus fraktionsübergreifende Sorge. Sie wird aber nicht überall geteilt; denn es gibt auch antiindividualistische Trends der modernen Philosophie und Soziologie, in denen das Ende des Individuums eher herbeigewünscht wird. Foucault, der, wenn er vom Zeitalter des Menschen spricht, die Ära des modernen Individuums meint, hat den »Tod des Menschen<<- als fälliges Ereignisohne Trauer vorausgesagt. Schon für Comte war der Individualismus - als Erbe der Reformation - eine Art Egoismus: also ein Laster; entsprechend hatte bereits de Bonald argumentiert, also der Traditionalismus. Nicht unähnlich denkt die Philosophie der Revolution: für den Marxismus scheint das Individuum zum bürgerlichen - insbesondere bildungsbürgerlichen - Überbau zu gehören: wer sich der großen Weltverbesserung ins nur Eigene entzieht, ist kon-
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terrevolutionär. Ich unterstreiche: in diesen - und ähnlichen - philosophisch-so~iologischen Trends, die das Ende des Individuums als positiven Prozeß begrüßen, regiert häufig die Tendenz zum Zentralismus: also zur Ermächtigung einer Alleinmacht, sei es die Monarchie von Gottes Gnaden, das positivistische Großkonzil oder die Diktatur des Proletariats. Diese Tendenz als Indiz ermuntert - im Gegenzug - zu folgender These: wer dem Individuum wohlwill, muß Alleingewalten verhindern; er muß also ihre Teilung pflegen: die Gewaltenteih.!ng. Diese These möchte ich in den folgenden Betrachtungen vertreten. Mit dieser These trete ich den um das Individuum besorgten Trends der Philosophie und Soziologie bei, allerdings, wie es sich für einen Skeptiker gehört, mit einigem Optimismus. Nur die auf halbem Wege gestoppte Verzweiflung kann sich den Pessimismus erlauben: den Luxus, am Vorhandenen und Geschehenden nur das Schlimme zu sehen. Die konsequent gemachte Verzweiflung ist die Schule des Optimismus: sie kann es sich einfach nicht mehr leisten, irgendeine Positivität der vorhandenen Welt - Hegels >>Rose im Kreuz der Gegenwart«- zu übersehen; sie muß - notfalls - nach Strohhalmen greifen: »Statt mich zu beklagen, daß die Rose Dornen hat, freue ich mich darüber, daß die Dornen Rosen tragen<< Qoubert). In diesem Sinne für die »Wiederkehr des Einzelnen« werbend/ erläutere ich hier den Zusammenhang von Individuum und Gewaltenteilung - also die These: sola divisione individuum - in folgenden drei Abschnitten: 1. Kritik einer Skepsiskritik; 2. Skepsis, Moralistik, Gewaltenteilung; 3. Zur Freiheitswirkung der Überdetermination. 1. Kritik einer Skepsiskritik. Zu den schönsten Abhandlungen des frühen Horkheimer gehört sein Aufsatz über Montaigne und die Funktion der Skepsis. 2 In diesem Aufsatz behauptet Horkheimer einen Funktionswechsel der Skepsis und ihrer Verteidigung des Einzelnen. Erst - in
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der Antike und zu Beginn der modernen Welt: bei Montaigne- war die Skepsis und die Etablierung des Individuums progressiv; in der heutigen Welt hingegen - im Spätkapitalismus - ist die Skepsis und ihre Verteidigung des Individuums reaktionär. Jemand, der - wie ich - gerade gegenwärtig als Skeptiker für das Individuum spricht (und, wie sich zeigen wird, ebendeswegen Individuum und Gewaltenteilung zusammenbringt), muß sich mit dieser Kritik an der heutigen Skepsis - die, denke ich, der späte Horkheimer so nicht aufrechterhalten hätte - auseinandersetzen und versuchen, ihre Einwände zu entkräften. Ich tue das hier in kurzer Form in zwei Durchgängen: dem Versuch einer immanenten Kritik (a) und dem Versuch einer transeunten Kritik (b ). a) Die Skepsis - das ist auch Horkheimers Meinung: und ich teile sie - verteidigt den Einzelnen, das Individuum. Wer aber- meint Horkheimer- den Einzelnen (das Individuum) verteidigt, verteidigt - zumindest implizit und indirekt- auch jene Verhältnisse, die den Einzelnen (das Individuum) möglich machen. Diese Verhältnisse aber haben sich seit der antiken und insbesondere seit der frühbürgerlichen Skepsis - die Montaigne repräsentiert - geändert: heute handelt es sich um spätkapitalistische Verhältnisse, so daß Horkheimer der heutigen Skepsis folgenden Vorwurf macht: indem die Skepsis auch noch heute den Einzelnen, das Individuum will, akzeptiert sie - meint er- die reaktionäre Spätform der bürgerlichen Gesellschaft und hält sie fest. Indes, so möchte ich - immanent - dagegenhalten: der gegenwärtige Skeptiker akzeptiert diese Spätform der bürgerlichen Gesellschaft nicht notwendigerweise mehr, als jeder, der in ihr denkt, sie als Bedingung dafür, daß er denkt, dadurch akzeptiert, daß er sie voraussetzt: auch wer mit Empörung von ihr lebt, lebt von ihr; gerade seine Empörung ist dann - bereichert um eine Geste - das Einverständnis. Eine Philosophie also, die die Skepsis mit einem derartigen Argument angreift, legt der Skepsis im
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wesentlichen das zur La.st, was sie, die angreifende, ebenso selber ist; worin sie sich von der Skepsis unterscheidet, ist also vor allem, daß sie es nicht sich selber zum Einwand macht, sondern nur anderen und jedenfalls der Skepsis. Diese - die nicht so vermessen ist, sich die totale Vernichtung der Übel zuzutrauen- ist also das, was auch die kritische Theorie der Skepsis ist, nur mit weniger Illusionen. Aber gerade das - ist Horkheimers weiterer Einwand trifft nicht zu: gerade die gegenwärtige Skepsis - meint er ist eine besonders intensive indirekte Illusionspflege. Ich gebe zu: tatsächlich kann die Illusionsabstinenz der Skepsis in Illusionspromiskuität übergehen; zudem disponiert die Skepsis - das lehrt ihre Geschichte - nicht selten zu extrem dogmatischen Glaubenspositionen: sie erhöht, indem sie durch ihre Zweifel sozusagen ein Illusionsdefizit erzeugt, gerade dadurch die Anfälligkeit für Illusionen. Der traditionelle Konservatismus der Skepsis ist der Versuch eines Remediums dagegen: er empfiehlt bei jedem Anfall begeisterter Zustimmung zu zögern und darauf zu bestehen, daß die Begeisterung die Beweislast trägt. Indes so argumentiert Horkheimer - nicht, daß der Skepsis die Epoche nicht gelingt, sondern die Epoche selber ist die Illusion der Skepsis; ihre Lebenslüge ist - meint er - das, worauf die Skepsis setzt: der skeptische Einzelne, das skeptische Individuum. Indem er die bestehende Wirklichkeit - also die gegenwärtige, die bürgerliche Welt nicht zugrunde richtet, sondern den Blick von diesem Grunde weg statt dessen aufs je Eigene lenkt (indem er gewissermaßen die >>teleologische Suspension« des Privaten durch die private Suspension des Teleologischen, der großen Weltverbesserung, ersetzt), macht er sein einzelnes, individuelles Ich zum Fetisch. Aber - meine ich dagegen der Skeptiker verhält sich (und das kann nur der übersehen, dem über der Frage nach dem schlechthin Guten die Frage nach dem geringsten Übel abhanden kam) zu sich nicht als zur sicheren Wahrheit; vielmehr: für ihn ist -
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denn Menschen sind menschlich, indem sie etwas statt dessen tun - der Einzelne die Vermeidung dessen, was noch schlimmer ist als der Einzelne: das skeptische Individuum ist zwar Übel, aber das womöglich geringste; es ist nicht Ich in Wahrheit, sondern Ich in Quarantäne; es ist nicht Fetisch, sondern Antifetisch. Doch eben dadurch - meint Horkheimer - widersetzt sich die gegenwärtige Skepsis und ihre Verteidigung des Individuums der Wahrheit; ebendadurch ist sie - sozusagen - historische Insubordination gegenüber der heilen Zukunft und allen schnellen Schritten in diese heile Zukunft: »Die Skepsis, einst die Negation der geltenden Illusionen, steht heute gegen gar nichts mehr als gegen das Interesse an einer besseren Zukunft<< (S. 238). Aber das meine ich - ist einfach falsch; denn die Skepsis - auch und gerade die gegenwärtige - steht nicht gegen dieses Interesse, sondern gegen die Illusionen dieses Interesses. b) Eine Teilmenge dieser Illusionen ist die Geschichtsphilosophie: die Philosophie der einen einzigen Alleingeschichte der Menschheit, die - durch »Singularisierung« der vielen Geschichten zur einen Geschichte (Koselleck) diese eine Geschichte zum exklusiven Alleinweg der Menschheit zu ihrer Diesseitserlösung ernennt und ihre heile Zukunft und Vollendung in der Regel durch einen schnellen Schritt ins Nachmoderne erreichen will: durch Revolution. Ich möchte hier- wo der Stand meiner Naivitäten sich durchaus bewegt hat - nicht mißverstanden werden: die Illusion besteht nicht darin, daß es - in der Neuzeit und im gegenwärtigen Zeitalter der Globalisierungen - immer mehr gemeinsame Geschichte für alle Menschen gibt, die auf Universalisierungen drängen muß: das zu leugnen wäre töricht. Die Illusion besteht vielmehr darin, daß diese eine gemeinsame Geschichte die einzige Geschichte ist, die Menschen haben und haben dürfen, und daß sie ihre wichtigste Geschichte ist und daß alles Menschliche universalisiert werden muß.
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Wo allerdings- und zu ihr neigt die Geschichtsphilosophie, die durch diese Neigung geradezu definiert ist- diese Totalitätsillusion der Universalgeschichte herrscht, verbietet sie den Menschen ihre Wirklichkeit. Zu dieser Wirklichkeit - wo es die moderne ist - gehört das Individuum. Die Geschichtsphilosophie - die durch ihren futurisierten Antimodernismus zugunsten eines postmodernen Reichs der Freiheit die moderne, die bürgerliche Welt möglichst schnell hinter sich lassen will- wird so zum sacrificium individualitatis. Sie opfert das Individuum auf fünffache Weise: (1) indem siees-zum »subjektiven Faktor<< des Fortschritts- instrumentalisiert; (2) indem sie esdurch das Verbot, eigene Wege zur Humanität, eigene Wege zum Sozialismus, überhaupt eigene Wege zu gehen uniformisiert; (3) indem sie - durch die Verpflichtung, nicht privatistisch auf die »Hütte<< der eigenen Lebenswelt zu blicken, in der es wirklich wohnt, sondern auf das Reflexions-»Schloß<< jener Geschichtskonstruktion, in der es sich wohnen wähnen soll - die individuelle Lebenswelt des Individuums durch eine abstrakte Reflexionswelt »kolonialisiert« (um den einschlägigen Begriff von Habermas angemessen zweckzuentfremden); (4) indem sie das Individuum - mit der Versicherung, es müsse das Seine in der Gegenwartssituation hintanstellen, um es im Reich der Freiheit zukünftig vielfältig wiederzubekommen - auf ein Datum jenseits seiner Lebensfrist vertagt und so das Individuum um das Individuum prellt; (5) indem sie schließlich- weil bei diesem Geschichtsweg in die finale Universalität individuelle Buntheit nur als Anfangskonstellation gestattet, Bewegung nur als Abbau individueller Buntheiten erlaubt und zum Schluß der Plural der Individuen überflüssig ist - das Individuum absterben läßt: der universalistische Endzustand der Geschichte ist der Nebel, in dem alle Menschen grau sind. Befördert diese Geschichtsphilosophie wirklich >>das Interesse an einer besseren Zukunft«? Natürlich hat sie Gutes vor: der Absicht nach will
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sie die modernen - bürgerlichen - Freiheiten von den modernen - bürgerlichen - Repressionen befreien. Aber und genau das führt zu den normalen Enttäuschungen der emanzipatorischen Naherwartung bei den geschichtsphilosophischen Revolutionen und zu den normalen Blamagen der >>real existierenden<< heilen Zukünfte- in Wirklichkeit werden durch die revolutionäre Geschichtsphilosophie ganz im Gegenteil die modernen - bürgerlichen - Repressionen fortgesetzt und gesteigert unter Opferung der modernen - bürgerlichen - Freiheiten. Veränderungen meint diese Geschichtsphilosophie - sind eo ipso Verbesserungen: aber gerade das stimmt nicht. Der Angriff auf die Moderne - wie die Geschichtsphilosophie ihn auch und gerade dort betreibt, wo sie nicht im Namen einer heilen Vergangenheit, sondern im Namen einer heilen Zukunft agiert: als futurisierter Antimodernismus - bringt nicht das Bessere, sondern das Schlimmere; er befördert gerade nicht >>das Interesse an einer besseren Zukunft«. Er ist - wie gesagt - gut gemeint; aber das gut nur Gemeinte ist - auf zuweilen bedrohliche Weise - illusionär; denn (frei nach Benn): das Gegenteil von gut ist gut gemeint. Die von der Geschichtsphilosophie betriebenen Veränderungen sind in der Regel gut gemeint. Dagegen - wie gegen jede andere Illusion - verhält sich der Skeptiker skeptisch. Darum steht die Skepsis - »im Interesse einer besseren Zukunft<< - gegen die Geschichtsphilosophie; denn die Geschichtsphilosophen haben die Welt nur verschieden verändert; es kommt darauf an, sie zu verschonen. So wird - angesichts der problematischen Implikationen der Skepsiskritik des frühen Horkheimer umgekehrt ein Schuh daraus: es muß - >>im Interesse einer besseren Zukunft<< - die moderne - die bürgerliche - Welt gerade festgehalten und entwickelt werden. Das Bündnis zwischen Skepsis und moderner, bürgerlicher Welt, das Horkheimer diagnostizierte: es besteht schon, aber es spricht nicht gegen, sondern für die Skepsis. Denn die
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moderne- die bürgerliyhe- Welt ist keine Unheilsgröße, sondern eine Größe der maßvoll erfolgreichen Minderung der Übel: die bewahrenswerteste der uns historisch erreichbaren Welten. Der heutige Weltzustand ist nicht deswegen ungut, weil es zuviel, sondern deswegen, weil es zuwenig bürgerliche Gesellschaft in ihm gibt. Darum sollte man - konterkonformistisch - den Mut aufbringen, die moderne Welt - und das Individuum als entscheidendes Element in ihr - zu bejahen. Entsprechende philosophische Affirmation der Moderne aber leisten nicht die Philosophien des Angriffs auf die moderne Welt - die Geschichtsphilosophien: die des futurisierten Antimodernismus -, sondern ihr philosophisches Gegenteil: die Philosophien der Bejahung der Moderne und darum des Individuums. Das aber sind justament nicht die Geschichtsphilosophien, sondern die Nicht-Geschichtsphilosophien. Es ist nicht die >>elend« gewordene - die zum antimodernistischen Mythos verfälschte - Aufklärung, sondern die entmythologisierte Aufklärung: der philosophische Liberalismus. Es sind die moralistischen und anthropologischen Philosophien. Es ist- mit einem Wort- die Tradition der Skepsis. 2. Skepsis, Moralistik, Gewaltenteilung. Aber was ist Skepsis? Die Skeptiker- scheintes-sind Nous-Knacker: darum herrscht traditionell Zweifel daran, ob sie überhaupt zu den Philosophen gehören: insofern gelten sie als Outsider. Indes: man kann sie auch ganz anders sehen: als eine - mehr oder weniger kontinuierlich durch die Geschichte laufende - besonders breite philosophische Tradition, die nur wegen ihres jedem Ubermaß abgeneigten Sensationsdefizits überdurchschnittlich unauffällig bleibt. Bei den Skeptikern gibt es zwei Fraktionen, und man kann - wie z. B. Augustinus in den Confessiones und in »Contra Academicos« oder wie derzeit die angelsächsischen Transzendentalphilosophen im Blick auf den aus
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Kants »Widerlegung des Idealismus<< extrapolierten Skeptikerbegriff- an die falsche Fraktion geraten: die Vertreter der akademischen Skepsis. Wenn man diese widerlegt, bleibt immer noch die andere Fraktion der Skeptiker übrig, die zähere, die es als erfrischende Konditionsspritze empfindet, von Zeit zu Zeit widerlegt zu werden, und sie meine ich hier: die Skeptiker der pyrrhonischen Skepsis. Sextus Empiricus - in seinem Grundriß der pyrrhonischen SkepsiSJ - hat die Philosophen eingeteilt in die, die gefunden zu haben behaupten (Dogmatiker), die, die nicht finden zu können behaupten (Akademiker), und die, die noch suchen (Pyrrhonäer): die also so sehr zweifeln, daß sie - im Sinne von Hans Magnus Enzensbergers »Ende der Konsequenz« 4 lobenswert inkonsequent - zweifelnsbezweifelnd zweifeln. Im Folgenden interessieren hier diese Pyrrhonäer; von ihnen spreche ich hier, mithin versteht sich - auch von den Moralisten und von weiten Teilen der verspäteten Moralistik der verspäteten Nation: vom Historismus also und von den Skeptikern der hermeneutischen Schule. Ich charakterisiere sie hier durch drei besondere Kennzeichen - ihren Zweifel als Sinn für Gewaltenteilung (a), ihren Usualismus (b) und ihren Sinn für Buntheiten (c) -, deren jedes zugleich eine Tendenz zum Individuum repräsentiert. a) Skepsis ist der Sinn für Gewaltenteilung. Die Skeptiker - das ist ihr auffälligstes Merkmal - zweifeln; aber der skeptische Zweifel ist- wie das Wort »Zweifel« verrät, das mit der »zwei« auch die Vielheit enthält- jenes (schulmäßig »isosthenes diaphoma<< genannte) Verfahren, zwei - oder mehrere - gegensätzliche Überzeugungen aufeinanderprallen und dadurch beide - alle - so sehr an Kraft einbüßen zu lassen, daß der von ihnen betroffene Mensch - divide et fuge! - dadurch als lachender oder weinender Dritter von ihnen freikommt in die Distanz: in die je eigene Individualität; so wird er- durch den Zweifel- zum Einzelnen, zum Individuum. Die Skeptiker zweifeln; sie rech-
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nen damit, daß die Mepschen auch im Sinne des Allzumenschlichen menschlich sind und daß Irren menschlich ist: der eigene Irrtum, aber - niemals zu vergessen - auch der Irrtum der Anderen; und der Skeptiker würde »die Tugend der Skepsis«, die >>Bescheidenheit« (Hermann Cohen), vergessen, würde er seinen Mitmenschen nicht mehr Irrtum zutrauen als sich selber. Seit Hans Blumenber~ und Malte Hossenfelder6 steht meine ich - die primär ethische Motivation des skeptischen Zweifels halbwegs außer Zweifel: er dient der Ataraxie, weil er Urlaub von strapaziösen Aufregungen und Störungen (>>tarachai«) gewährt, die durch absolutes Wissen und absolutes Nichtwissen entstehen; so ist dieser Zweifel - ganz im Sinne der aristotelischen Nichts-imÜbermaß-Lehre von der >>arete« (der Lebenskunst) als »mes6tes«- die >>Mitte« zwischen zwei Lastern, nämlich dem absoluten Wissen und dem absoluten Nichtwissen: der pyrrhonische Skeptiker weiß also beileibe nicht nichts, er weiß nur nichts Absolutes. Der Skeptiker zersetzt nicht, er mäßigt. Drum auch ist sein skeptischer Zweifel niemals absolute Intervention, sondern nur Intervention gegen Absolutes. Die tausend Zweifel des Skeptikers gleichen den Füßen jenes weisen Tausendfüßlers, der - Teilung der Gewalten, die die Füße sind - wohlweislich tausend Füße hatte: nicht, um blitzschnell laufen und ganz hoch springen, sondern, um über möglichst viele Füße stolpern zu können; denn das begünstigt, woran dem Skeptiker- der ja nicht nichts, sondern nur nichts Schlimmes will und darum mit Vorsicht und Rücksicht (also nicht primär ändernd, sondern primär schonend) agiertvor allem liegt: die Langsamkeit, also jenes gemäßigte Tempo, bei dem man schonend, d.h. vorsichtig und rücksichtsvollleben kann. Small (that means: slow) is beautiful: insbesondere bei Änderungen, z.B. bei Wachstumsbegrenzungen. Skeptiker sind Liebhaber der Langsamkeit und darum disponiert zur Beschaulichkeit: denn der Skep-
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tiker sucht zwar, aber - weil doch die Frage offen ist, ob Wissen besser ist als Nichtwissen - so, daß er nicht finden muß und darum beim Suchen - auch beim Diskurs bummeln und abschweifen darf. Deshalb ist er ziemlich geeignet für das Schaugeschäft »theoria«, das Zuschaugeschäft namens Philosophie, das freilich für den Skeptiker bedeutet: Entlastung vom Absoluten- auch von absoluten Gattungsanstrengungen des totum genus humanum - als Lizenz, ein Individuum zu sein. b) Skepsis ist Usualismus: das ist jener Zug der Skepsis, der- wie der zuvor gekennzeichnete Zweifel zur antiken Skepsis führte - dazu disponierte, daß die Skepsis neuzeitlich zur Moralistik wird und zu ihren Varianten; und das Individuum hat dort - außer durch den gewaltenteiligen Zweifel- seine Chance, weil es zugleich durch Üblichkeiten - Usancen, »mores«, »mceurs« - entlastet ist: weil die meisten Dinge durch Üblichkeiten geregelt sind, die man akzeptiert, indem man sich »den Sitten des Landes<< anpaßt, kann der Einzelne Eigenheiten entwickeln und pflegen: Individualität; denn so, wie man Fatalismus braucht, um ein Nichtfatalist sein zu können, benötigt man Üblichkeiten, um ein Einzelner sein zu können: gerade auch das Originelle braucht - um sich von ihm tragen zu lassen und um sich von ihm abzusetzen- das, »wie man es immer schon gemacht hat<<, das Usuelle. Die Skepsis macht - moralistikfördernd - usualistisch geltend: für absolute Orientierungen (für die absolut richtige Einrichtung des absolut richtigen Lebens, die auf absoluter Wahrheitsfindung beruht) leben wir nicht lange genug. Vita brevis: unser Tod ist stets schneller als diese absolute Orientierung. Darum bleiben wir unvermeidlich überwiegend - ich betone: nicht nur, aber überwiegend das, was wir schon waren: also unsere Vergangenheit, zu der die Üblichkeiten gehören, das, was gilt, weil es schon galt und weil für jeden Menschen gesagt werden muß: »daß er, gleichviel wann er zur Welt gekommen ist, zu
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spät gekommen ist.[ ... ] Er wird vom Erbe angetreten, ehe er auch nur überlegen kann, ob er es antreten möchte« (Manes Sperber). Unser Leben ist zu kurz, um uns aus unserer Herkunftsvergangenheit - dem Üblichen: den vorhandenen Sitten, Gewohnheiten, Traditionen - ins Absolute oder sonstwohin beliebig weit davonzumachen: unsere Üblichkeiten bleiben für uns unvermeidlich. Die Skepsis wird zur Moralistik, indem sie diese Unvermeidlichkeit der Üblichkeiten- der >>mores« -in Rechnung stellt: große oder gar absolute Sprünge sind nicht menschlich. Dabei ist das, was - als Ensemble der »ma:urs«, die unsere Herkunft bilden - jenes Erbe ist, das uns jeweils schon angetreten hat, zufällig: es könnte - und das ist ärgerlich für eine absolute Philosophie, aber nicht ärgerlich für die Skepsis- auch anders sein. Die Skepsis ist- ebendarum - die Bereitschaft zur eigenen Kontingenz. Das hat nichts mit Beliebigkeitslust zu tun. Der aus der christlichen Schöpfungstheologie kommende Endlichkeitsbegriff des Kontingenten (Zufälligen) meint zwar justament »das, was auch anders sein könnte<<. Doch es ist - wenn man es nicht von Gott, sondern (menschlicher) vom Menschen her sieht - doppelter Art. Entweder ist das Zufällige »das, was auch anders sein könnte<< und durch uns änderbar ist (zum Beispiel diese Vorlage: ich konnte sie so oder auch anders schreiben): also das Beliebigkeitszufällige. Oder das Zufällige ist »das, was auch anders sein könnte<< und gerade nicht oder nur wenig durch uns änderbar ist (als negationsresistenter Schicksalsschlag: z. B. geboren zu sein): also das Schicksalszufällige. Die Skepsis meint nun: in unserem Leben sind die Schicksalszufälle untilgbar prägend; zu ihnen gehören auch unsere Üblichkeiten - die »mores« - auf die wir angewiesen sind: denn wir regeln unser Leben überwiegend nicht selber, schon gar nicht absolut, und erst recht nicht diskursiv absolut. Daraus folgt temperiert - das Gegenteil von dem, was Sartre meinte, als er sagte: »wir sind unsere Wahl«; und es folgt zugleich -
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temperiert - das Gegenteil von dem, was die universalund transzendentalpragmatische Diskurstheorie annimmt, wenn sie meint: wir sind unsere- diskursiv-konsensualeWahl. Der Skeptiker hingegen meint und sagt: wir Menschen sind stets mehr unsere Zufälle - unsere Schicksalszufälle - als unsere Wahl. Das bedeutet nicht: wir sind nur unsere Zufälle. Es bedeutet einzig: wir sind nicht nur unsere Wahl, sondern auch unsere Zufälle, unsere Schicksalszufälle. Und es bedeutet darüber hinaus außerdem: wir sind stets mehr unsere Zufälle - unsere Schicksalszufälle als unsere Wahl. Darum müssen die Menschen das Zufällige leiden können; denn Leben mit dem Zufälligen: das ist keine mißlungene Absolutheit, sondern unsere geschichtliche Normalität. Menschen leben in Legierungen von Wahl und Zufall: in Handlungs-Widerfahrnis-Gernischen, d. h. in Geschichten; weil keiner die gleichen Schicksalszufälle hat, handelt auch keiner die gleichen Handlungen: jeder ist anders als alle anderen und ebendadurch ein Individuum. Man sieht nun freilich leicht, daß für die Skepsis durch 4.iesen Ansatz - den zu überspringen aber der Sprung ins Ubermenschliche wäre - eine Resignationsgefahr zu entstehen scheint: den Menschen nur noch als Gefangenen seines Schicksals, nur noch als Treibgut seiner Zufälle zu sehen. Dagegen wehrt sich die - usualistische, moralistische - Skepsis, indem sie dafür sorgt, daß gilt: c) Skepsis ist der Sinn für die Buntheiten unserer Lebenswirklichkeit. Das intensiviert das primo loco genannte besondere Kennzeichen der Skepsis: den Sinn für Gewaltenteilung, wie er sich im skeptischen Zweifel meldet. Aber der Zweifel - bei dem Überzeugungen, Dogmata, durch >>gleichwertigen Widerstreit« einander in Schach halten, so daß der Einzelne von ihnen zu sich selber und seinem Eigenen freikommt - begründet nur (sozusagen) die intellektuelle Individualität. Dabei jedoch bleibt- und schon der Hinweis auf die Üblichkeiten, die Schicksalszu-
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fälle, die Geschichten ging darüber hinaus - die Skepsis nicht stehen. So ist es plausibel, daß gerade in der skeptischen Tradition die klassische Form der politischen Gewaltenteilungslehre entwickelt worden ist: sie beleuchtet die Möglichkeit politischer Individualität. Denn - wie dies schon für Montaigne galt - die Moralistik gehört in die Tradition der Skepsis; Montesquieu aber gehört in die Tradition der -französischen- Moralistik. In De l'esprit des lois (1748) lautet in den berühmten Ausführungen über die englische Verfassung die zentrale Passage in den Kapiteln 4-6 des Buches XI folgendermaßen: >>Politische Freiheit findet sich nur in gemäßigten Regierungsformen. [... ] Sie findet sich dort nur dann, wenn man die Macht nicht mißbraucht; aber es ist eine ewige Erfahrung, daß jeder, der Macht hat, ihrem Mißbrauch geneigt ist: er geht so weit, bis er auf Schranken stößt. So unwahrscheinlich es klingt: selbst die Tugend bedarf der Begrenzung. Um den Mißbrauch der Macht zu verhindern, muß vermöge einer Ordnung der Dinge die Macht der Macht Schranken setzen [le pouvoir arrete le pouvoir]. [... ] In jedem Staat gibt es drei Arten von Gewalt: die gesetzgebende Gewalt, die vollziehende Gewalt in Ansehung der Angelegenheiten, die vom Völkerrecht abhängen, und die vollziehende Gewalt hinsichtlich der Angelegenheiten, die vom bürgerlichen Recht abhängen (richterliche Gewalt).[ ... ] Alles wäre verloren, wenn derselbe Mensch oder die gleiche Körperschaft der Großen, des Adels oder des Volkes diese drei Gewalten ausüben würde: die Macht, Gesetze zu geben, die öffentlich-rechtlichen Beschlüsse zu vollstrecken, und die Verbrechen oder die Streitsachen der einzelnen zu richten«: alles, nämlich die Freiheit des Bürgers, der durch die politische Gewaltenteilung politisch das sein kann, was er durch den Zweifel - sozusagen die intellektuelle Gewaltenteilung - intellektuell sein konnte und kann: ein Individuum. Man kann die Kritik der >>centralisation<< bei
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Tocqueville (vor allem: L'ancien regime et la revolution) und seine Warnung vor der Versuchung zur Diktatur beim Demokratisierungsprozeß (De Ia democratie en Amerique) als indirekte politische Gewaltenteilungslehre lesen und muß - ohne die Frage dabei auf das Problem des »pouvoir neutre« (Benjamin Constant u.a.) zu beschränken - auch darauf aufmerksam sein, daß die klassische »politische« Gewaltenteilungslehre nur einen Ausschnitt aus der Buntheit- Geteiltheit- der Fülle jener Gewalten der Wirklichkeit behandelt, die bunt - geteilt - sein müssen, wenn die Freiheit des Individuums Chance und Bestand haben soll: Montesquieu selber war aufmerksam auf die Buntheit der menschlichen Sittenwirklichkeit bis hin zur Buntheit der einflußnehmenden Naturgewalten: z.B. des Klimas. Diesen - skeptischen - Sinn für Buntheiten hat Montesquieu - etwa über Herder8 - an die historische Schule weitergegeben, für die m. E. wichtiger als die These >die Buntheit der Wirklichkeit entsteht durch Individualitäten< die These ist: >die Individualitäten entstehen durch die Buntheit der Wirklichkeit<. Soweit der Historismus (der sich gegen den U niformisierungsdruck der progressionswütigen Geschichtsphilosophie mit der philosophischen Anthropologie verbündet) diese Zuspitzung dieser buntheitswilligen Gewaltenteilungsthese ist, gilt: der Historismus ist die verspätete Moralistik der verspäteten Nation. Und also verhält es sich - denke ich - insgesamt so: die skeptische Schätzung des Zweifels -des individuogenetischen Effekts der intellektuellen Gewaltenteilung - und die skeptische Schätzung der institutionellen Teilung der staatlichen Gewalten - des individuogenetischen Effekts der politischen Gewaltenteilung - setzt sich fort in der skeptischen Schätzung der durchgängigen Buntheit der Lebenswirklichkeit: des individuogenetischen Effekts der Teilung des Zufalls, der wir Menschen überwiegend sind, in viele Zufälle; also: der Sprache in Sprachen, der Ge-
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schichte in Geschichten, der Sitte in Sitten, und so auch (wie die hermeneutische~ Rezeptionsgeschichtler uns das gezeigt haben) des Werks in Rezeptionsversionen. Die politische Gewaltenteilung ist nur ein spezieller Fall jener durchgängigen Gewaltenteilung der Wirklichkeit, von der der skeptische Zweifel ein anderer spezieller Fall war und ist: beide gehören zur individuogenetischen Wirksamkeit der umfassenden Buntheit der menschlichen Lebenswirklichkeit. 3. Zur Freiheitswirkung der Überdetermination. Es liegt in der Konsequenz solcher Betrachtungen, sie auch auf die religiöse Sphäre auszudehnen (a), auch auf das Problem der Einheit oder Vielheit der Philosophie (b), und zugleich zu testen, ob und wieweit sie einen Beitrag zur philosophischen Diskussion des philosophischen Freiheitsproblems leisten können (c). a) Gott - wie man zuweilen weiß - ist die Crux der philosophischen Freiheitslehre: Wie - wenn doch Gott allmächtig ist - kann (theologisch, bezogen auf die Sündenproblematik und späterhin auf die Theodizeeproblematik, ist dabei vor allem die menschliche Freiheit zum Bösen interessant) Raum für menschliche Freiheit bleiben? Die entsprechende Freiheitsfrage angesichts durchgängiger Naturdetermination ist davon nur ein Derivat: wenn- frühneuzeitlich-vorübergehend pantheistisch galt »Deus sive natura«, konnte schließlich die »natura« zum Ersatzmann des »Deus« als Bedrohung der menschlichen Freiheit avancieren (vgl. Nicolai Hartmann). Man muß freilich hinzusehen: nur weil die Natur >eine< Natur ist, kann sie - in der modernen DeterminismusIndeterminismus-Debatte - als Bedrohung der menschlichen Freiheit erscheinen, wie einstmals Gott deswegen als diese Bedrohung der menschlichen Freiheit erschien, weil er der >eine< Gott war: denn das Freiheitsproblem beginnt - wird als Problem brisant - mit dem Monotheis-
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mus. Im Polytheismus gab es das Problem noch nicht: durch die »Pluralität der Absoluta« 9 war es grundsätzlich gelöst; denn jeder der vielen Götter hat- durch seinen eigenen Anspruch an ihn - jeden Menschen stets schon aus der Alleinunterwerfung unter einen Mit-Gott befreit und ihm dadurch - daß jeder Mensch der Diener mehrerer Herren ist und sich gegenüber jedem dieser Herren durch den Dienst für den jeweils anderen sozusagen entschuldigen kann- einen quasiindividuellen Freiheitsspielraum gewährt. Es ist - polytheistisch - diese Gewaltenteilung im Absoluten, die dem Menschen Freiheit, d.h. die Möglichkeit gewährt, ein Individuum zu sein. So bestand im Polytheismus noch kein Lösungsdruck für das Freiheitsproblem und das Problem des Individuums, weil es - das im Monotheismus schier unlösbare - dort grundsätzlich schon gelöst war. Darum bestehen in der Ära des Monotheismus - insbesondere des christlichen - die Lösungen des Freiheitsproblems in der Wiederholung des polytheistischen Musters unter Bedingungen des Monotheismus: etwa indem dem einen Gott - z. B. auf dem Wege der philosophischen Variation des Trinitätsgedankens bis hin zu Schellings Freiheitsschrift - ein gewaltenteiliges Innenleben zugesprochen wird, durch das der Mensch seine eigene individuelle Freiheit gewinnt (und wo das gewaltenteilige Innenleben Gottes dafür nicht ausreicht, muß er ein gewaltenteiliges Außenleben entwickeln, um die individuelle Freiheit des Menschen zu ermöglichen; vielleicht darf man sagen: die neuzeitliche Mehrkonfessionalität des Christentums ist eine Fortsetzung des Polytheismus unter streng monotheistischen Bedingungen und als solche individualitäts- und liberalitätsproduktiv). So - denke ich - gilt: erst der Monotheismus hat jenes Problem der individuellen Freiheit ausdrücklich stellen müssen, das im Polytheismus latent schon gelöst war; aber diese polytheistische Lösung des Problems - durch Gewaltenteilung im Absoluten - hat darum erst der Mono-
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theismus zur Ausdrücklichkeit gezwungen und ihr insofern Realität verschafft. bas Individuum und die menschliche Freiheit- die polytheistisch latent blieben - mußten gegen den Monotheismus erfunden, etabliert, zum Erfolg gebracht werden (indem der eine Gott selber gewaltenteilig wurde): der Monotheismus hat mit der Freiheit auch das Individuum gezwungen, aus Notwehr gegen den Monotheismus manifeste Wirklichkeit zu werden. b) Durch den Zusammenhang von individueller Freiheit des Menschen und Gewaltenteilung selbst noch im Absoluten wird auch fraglich, ob die Philosophie - die als philosophische Theologie des einen Gottes Metaphysik warwirklich die eine Philosophie bleiben muß oder darf, wenn sie menschlich sein und das Individuum gelten lassen will. Es ist- von Lukians >>Hermotimos<< bis zu Diltheys >>Traum« - ein klassischer Topos für die Philosophie, daß sie zwar die >eine< Philosophie sein will, in Wirklichkeit aber in »Sekten«, »Typen«, historisch verschiedene Gestalten zerfällt: als >>Kampfplatz endloser Streitigkeiten<<, wie Kant es ausdrückte, der in seiner Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats über den ewigen Frieden in der Philosophie (1796) den zeitgenössischen Mathematiker Kästner einschlägig zitiert: >>Auf ewig ist der Krieg vermieden, befolgt man, was der Weise spricht: dann halten alle Menschen Frieden, allein die Philosophen nicht.<< Auch hier ist es der Skeptiker, der in diesem scheinbaren Ärgernis - dem chronischen Konsensdefizit der Philosophie - das Positive und Gute erblickt: nämlich erneut die Chance zur Individualität auch beim Denken. Endliche Freiheit ist nur durch Gewaltenteilung möglich: nicht allein durch die Teilung politischer Macht in mehrere Gewalten, sondern überhaupt durch Vermeidung von Singularisierungsschäden, und zwar durch Pluralisierungen: etwa - mit Hilfe buntheitsbewahrender Entschleunigung von geschichtsphilosophischen U niformisierungs be-
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schleunigungen - historistisch durch Teilung der Geschichte in Geschichten, liberalistisch-kapitalistisch durch marktwirtschaftliche Teilung der ökonomischen Macht in konkurrierende Mächte, hermeneutisch durch Teilung des Verständnisses in Verständnisse, schließlich skeptisch durch Teilung der Philosophie in Philosophien. Die Vielfalt kontroverser Positionen der Philosophie ist also eher ein Vorteil, nicht zuletzt deswegen, weil dieses vermeintliche fachliche Laster als interdisziplinäre Tugend wirkt; denn die internen Fachkonfusionen der Philosophie haben einen hohen Toleranz- und Pragmatisierungseffekt: sie erzeugen jene aktuelle Fähigkeit, extreme Gesprächskonfusionszustände unbeschädigt zu überleben, die heute gerade in interdisziplinären Disputen, z.B. denen der »Poetik und Hermeneutik«, unabdingbar ist. Das - diesen Verzicht auf den Verständigungsperfektionismus (welcher den herrschaftsfreien Diskurs dann, wenn er alles, oder auch nur das meiste, konsensual regeln will, dazu treibt, den Plural der Menschen, d. h. das Individuum, überflüssig zu machen) - hat die Philosophie 2500 Jahre hindurch trainiert, indem sie das chronische Einigkeitsdefizit der Metaphysik auszuhalten gelernt hat, das der Skeptiker begrüßt: für Skeptiker kann es niemals zuviel Metaphysik geben, weil sie Fragen bewahrt, die man verliert, wenn man sie ultrakonsensual beantworten will. So bedarf es der bewahrenden Zwietracht. Denn: wer auf Probleme gar keine Antwort gibt, vergißt schließlich das Problem; das ist nicht gut. Wer auf ein Problem nur eine Antwort gibt, glaubt das Problem gelöst zu haben und wird leicht dogmatisch; auch das ist nicht gut. Am besten ist es, zu viele Antworten zu geben: das bewahrt das Problem, ohne es wirklich zu lösen. So hält es - darum mag sie der Skeptiker - die Metaphysik, die einen Überschuß kontroverser Antworten produziert, die einander neutralisieren und so - teile und denke! - die Probleme offenläßt, d.h. sie ans Individuum überweist, das dadurch Bedeutung erlangt in
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der Philosophie. Die Ge:valtenteilung der Philosophie in Philosophien ermöglicht den philosophischen Eigenspielraum des Individuums. c) Das Freiheitsproblem erhält seine besondere Direktion durch den Freiheitsbegriff, der jeweils zugrunde liegt. Freiheit kann sein: die Fähigkeit zum Allgemeinen, indem man sich der Besonderheit zu entziehen vermag; oder: das Vermögen zum Guten und Bösen; usf. Hier - in meinen Betrachtungen - wird Freiheit themaeinschlägig verstanden als die Möglichkeit, anders zu sein als alle anderen, d.h. als die Möglichkeit, ein Individuum zu sein. Diese Freiheit des Menschen, ein Individuum zu sein, lebt - das war hier durchweg die These - von der Gewaltenteilung. Es gibt - das wurde versuchsweise gezeigt - nicht nur die politische Gewaltenteilung und nicht nur die intellektuelle, den skeptischen Zweifel; sondern die Gewaltenteilung prägt die Wirklichkeit in vielerlei Gestalt. Ebendarum sind (um auf das oben angedeutete Problem zurückzukommen) die Menschen - die stets mehr ihre Zufälle (Schicksalszufälle) sind als ihre Wahl - gleichwohl nicht Gefangene ihres Schicksals und nicht Treibgut des Zufalls. Zwar gilt: die menschliche Wirklichkeit ist überwiegend das Zufällige, das, was auch anders sein kann. Aber wenn es anders sein >kann<, dann- wenn auch zufälligerweise- >ist< es häufig auch anders: die zufällige Wirklichkeit - zufällig - ist vielfach so und auch noch anders; sie umfaßt Verschiedenes: sie ist vielgestaltig, bunt. Diese Buntheit der Wirklichkeit- gerade sie -ist die menschliche Freiheitschance. Es ist diejenige Freiheitsmöglichkeit, die die Lehre von der Gewaltenteilung zur Geltung bringt: der politischen Gewaltenteilung, der Gewaltenteilung im Absoluten und des skeptischen Zweifels als der Teilung der Gewalten, die die Uberzeugungen sind: daß jede dieser Gewalten den Einzelnen - ihn dadurch zum Individuum machend - von den jeweils anderen distanziert. Und was von geteilten politischen Institutionen, ge-
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teilten Gottesgewalten, geteilten Überzeugungen gilt, gilt ebenso von anderen Gewalten, Tendenzen, Größen der Realität: es ist- für die skeptisch geltend gemachte, d.h. endliche Freiheit - wesentlich, daß stets nicht nur eine, sondern - pluralistisch konkurrierend, einander durchkreuzend und dadurch wechselseitig einander balancierend - eine Mehrzahl solcher Potenzen wirkt. Jede - sozusagen - sichert dem Menschen - indem sie ihn mitdeterminiert - einen Spielraum (Distanz) gegenüber den jeweils anderen und rettet ihn vor dem determinatorischen Alleinzugriff einer einzigen Potenz, gegenüber der er aus Eigenem machtlos wäre: nur durch ihre Teilung ist einer frei und ein Individuum. Es ist also - als Freiheitswirkung- zuträglich für den Menschen, viele (mehrere) Überzeugungen zu haben: nicht gar keine und nicht nur eine, sondern viele; und zuträglich für ihn, viele (mehrere) Traditionen und Geschichten zu haben und auch viele (mehrere) Seelen-ach! -in der eigenen Brust: nicht gar keine und nicht nur eine, sondern viele; und vielleicht ist es auch zuträglich für ihn, viele (mehrere) Götter und Orientierungspunkte zu haben: nicht gar keinen und nicht nur einen, sondern mehrere oder sogar viele. Es ist überhaupt zuträglich für den Menschen, viele Determinanten zu haben: nicht gar keine und nicht nur eine, sondern viele. Denn die Menschen sind nicht dadurch frei, daß sie Gott kopieren: als quasi-allmächtige Chefs der Weltregie oder durch unbedingte Vermögen; sondern die Menschen sind frei und Individuum, indem die Zufälle, die ihnen zufallen und als Determinanten determinierend auf sie einstürmen, durch Determinantengedrängel einander wechselseitig beim Determinieren behindern: einzig dadurch, daß jede weitere Determinante den Determinationsdruck jeder anderen einschränkt, anhält, mildert, sind und haben Menschen ihre - bescheidene, durchaus endliche, begrenzte - je eigene individuelle Freiheit gegenüber dem Alleinzugriff einer jeden. Nicht die Nulldetermination - das
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Fehlen aller Determinanten- und nicht die Übermacht einer einzigen (ggf. besonders erhabenen) Determinante macht den Menschen frei, sondern die Überfülle an Determinanten tut es (also nicht seine Divination, sondern die Division). Ich behaupte hier also - als" philosophische Freiheitsthese: als skeptisch-moralistisch generalisierte Gewaltenteilungsthese - die Freiheitswirkung der Überdetermination, mithin den Freiheits- und Individualitätseffekt der allgemeinen Buntheit der natürlichen und geschichtlichen Menschenwirklichkeit. Der Umstand, daß das Zufälc lige, das den Menschen zustößt, nicht ein einziger - ungeteilter - Zufall ist, sondern aus Zufällen im Plural besteht: dieser - selber schicksalszufällige - Umstand macht es, daß - indem sie dadurch Individuen werden - den Menschen ihr Zufall Freiheit zufällt. So muß der Mensch nicht die Determination fürchten, sondern die Ungeteiltheit ihrer Gewalt. Dabei darf seine Freiheit- seine Individualität- auf dasjenige an der Wirklichkeit bauen, das - durch Buntheit - Einheitszwänge kompensiert: so auch - neben den absoluten Universalisierungen und den modernen Uniformisierungen und Gleichschaltungen- jenen harten Einzigkeitszwang, dem wir alle unterliegen, weil wir - die Sterblichen - nur ein einziges Leben haben; denn wir können ihm in die Kommunikation mit unseren Mitmenschen - die wir ebendeswegen brauchen - entkommen durch die Möglichkeit, ihre Leben - die ja viele sind - mitzuleben und dadurch unser eigenes Leben zu pluralisieren. Im übrigen ist es auf daß ihr Arretierungspotential von Determinationsgewalten mit ins Spiel kommt - überhaupt wichtig, daß möglichst viele Determinanten in unser Leben einbezogen werden: also auch jene - schicksalszufälligen - Realitätsgrößen, die durch Bemerktwerden determinieren. So ist es zuträglich für die Menschen, daß- wie z.B. beim Lachen und Weinen und bei der Vernunft- Grenzen ihres Merkens kollabieren. Wenn sich Individualität steigern läßt,
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dann durch merkende Vernunft: den Verzicht auf die Anstrengung, dumm zu bleiben. Je mehr Gewalten sich die Determination teilen, desto mehr Freiheit, desto mehr Individuum; oder eben, kurz gesagt: sola divisione individuum.
Anmerkungen
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Wolfgang Kraus, Die Wiederkehr des Einzelnen, München/Zürich 1980. - Zusatz 2003: Werner Becker, Das Dilemma der menschlichen Existenz. Die Evolution der Individualität und das Wissen um den Tod, Stuttgart 2000, liefert inzwischen erhellende Studien zur Geburt der Individualität aus der •Auflehnung gegen das Sterbenmüssen<< und insbesondere Überlegungen zur neuzeitlichen » Verdiesseitigung der Individualität«: m. E. ist meine These von der Genese der Individualität durch Gewaltenteilung dazu komplementär und keineswegs im Gegensatz. Max Horkheimer, •Montaigne und die Funktion der Skepsis« (1938), in: M. H., Kritische Theorie, hrsg. von Alfred Schmidt, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1968, S. 201-259. Sextus Empiricus, Grundriß der pyrrhonischen Skepsis, Frankfurt a. M. 1968, vgl. S. 93. Hans Magnus Enzensberger, Politische Brosamen, Frankfurt a.M. 1982,S.7-34. Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1966, s. 244ff. Malte Hossenfelder, »Ungewißheit und Seelenruhe. Die Funktion der Skepsis im Pyrrhonismus«, Einleitung zu Sextus Empiricus, Grundriß der pyrrhonischen Skepsis, S. 9-88; vgl. bes. 30ff. Vgl. Fritz Schalk (Hrsg.), Die französischen Moralisten, Bd. 1, München 1973, S. 203-257; vgl. S. 32-37. Vgl. Annedore Kübel-Schubert, Montesquieu und Herder, Mag.Arbeit, Gießen 1984. Michael Landmann, Pluralität und Antinomie, München/Basel 1963.
Mut zur Bürgerlichkeit Vernünftig ist, wer den Ausnahmezustand vermeidet
In seinem Essay >>Philosophie und Engagement. Plädoyer für die Repolitisierung einer Disziplin aus dem Geist des Existentialismus<< (Frankfurter Rundschau vom 16. 5.1995) hat Paolo Flores d'Arcais eine politisch engagierte Philosophie gefordert, die für das Individuum und die Endlichkeit Partei ergreift. Ich selber habe- skeptisch- zum »Abschied vom Prinzipiellen« geraten: schon daraus ist erkennbar, daß ich viel übrig habe für eine Philosophie, die sich politisch für das endliche Individuum engagiert. Seit dem Konkurs jener finalisierungstrunkenen Revolutionsphilosophien, die - fiat utopia, pereat mundes - die Individuen hinwegfinalisieren wollten, ist eine Endlichkeitsphilosophie fällig; und wo die finalisierenden Revolutionsphilosophien sich ihrem Konkurs widersetzen, ist sie es erst recht. Darum ist es gut, wenn eine Philosophie dagegen angeht, daß das Individuum als endliches >>Du<< übersprungen wird, weil die Menschen ins Prinzipielle und in ein prinzipielles Kollektiv - in ein »Wrr<<, das repressiv als Über-Wir agiert - auskneifen durch - wie ich zu sagen pflege - Flucht aus dem Gewissenhaben in das Gewissensein. Freilich: Paolo Flores d' Areais sucht diese Philosophie des endlichen Individuums durch Erneuerung des Existentialismus; und da habe ich Vorbehalte. Bei seinen Ausführungen denkt man - denke wenigstens ich - zunächst an Heidegger und Sartre. Heideggers existentiale Temporalphänomenologie der >>Jemeinigkeit« des >>Seins zum Tode« ist sicher wichtig; aber schon wenige Jahre nach Sein und Zeit tendierte Heidegger politisch zum Totalitarismus: zum Nationalsozialismus; die Kritik dieser Liebe zur Weisheit, die so zur Torheit wurde, füllt inzwischen
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Bibliotheken. Ebenso ist Sattres Existenzphilosophie des Wesens-Mängelwesens Mensch - der erst existiert und sich dann erfindet - bedeutsam und anregend; aber schon wenige Jahre nach L'etre et le neant tendierte Sartre politisch zum Totalitarismus: zum Kommunismus; was dagegen zu sagen war, hat sehr früh und sehr überzeugend Maurice Merleau-Ponty in Les aventures de la dialectique formuliert. Beide Existentialismen - der von Heidegger und der von Sartre - fordern vom Menschen, nicht bürgerlich, sondern >>eigentlich« zu leben; beide sind - im Namen des Ausnahmezustands der Eigentlichkeit -Verweigerungen der Bürgerlichkeit, die enden, wie eben Bürgerlichkeitsverweigerungen politisch enden: totalitär. Unter den Philosophien, die vom Existentialismus herkommen, hat das vor allem die Philosophie von Hannah Arendt kritisiert. Darum scheint es mir- aber auch da bin ich kau.m anderer Meinung als gerade Paolo Flores d' Arcais, der sich durch sein Buch Libertärer Existentialismus. Zur Aktualität der Theorie Hannah Arendts (dt. 1993) um die Rezeption und Interpretation von Hannah Arendt besonders verdient gemacht hat- unverzichtbar, die Einsichten von Hannah Arendt in die philosophische Verteidigung des endlichen Individuums mit hineinzunehmen, wobei man streiten kann, ob und wie sehr man Hannah Arendt noch dem Existentialismus zurechnen darf, oder ob und wie weit sie - die gegen die »Verlassenheit« der Ausgebürgerten die Bürger als die Menschen mit >>dem Recht, Rechte zu haben« besonders präzis zu beschreiben vermochte - weitergegangen ist zum Rückgriff auf die große europäische Tradition der politischen Philosophie seit der Antike. Ich ziehe daraus die Konsequenz, das politische Engagement der Philosophie für das Individuum von der Option für den Existentialismus abzukoppeln. Und man muß -meine ich- auch nicht alle Anknüpfungsverbote akzeptieren, die d'Arcais uns im Namen des Antidogmatismus
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ziemlich dogmatisch auferlegen will. Entscheidend ist, daß - und dies hat (soweit ich in der Unordnung meines Arbeitszimmers die in der Frankfurter Rundschau abgedruckten Repliken auf den Essay von d' Areais habe wiederfinden können) vor allem Günter Figal (Frankfurter Rundschau vom 30. 5.1995) geltend gemacht - das Individuum philosophisch und politisch als Bürger begriffen wird: denn das Individuum ist in mancherlei Form möglich, aber nur als Bürger wirklich. Für mich liegt es nahe, hier an Überlegungen Joachim Ritters aus den 50er Jahren anzuknüpfen, die 1969 in seinem Buch Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hege! gesammelt sind, und zwei Thesen zu vertreten, deren erste direkt an Ritter an seinen Aufsatz >>Das bürgerliche Leben<< (1956) im genannten Buch - anknüpft, während ich die zweite überwiegend auf meine eigene Kappe zu nehmen habe, nämlich: 1. zur philosophischen Verteidigung des Individuums gehört die Positivierung der Bürgerlichkeit; 2. zur philosophischen Verteidigung des Individuums gehört die Fundamentalisierung der Gewaltenteilung. 1. Zur Philosophie, die sich für das Individuum engagiert, gehört die Positivierung der Bürgerlichkeit. Wer das Individuum verteidigen will, muß die bürgerliche Welt verteidigen. Die politische Konsequenz ist: mehr Mut zur Bürgerlichkeit. Dabei verwende ich einen weiten Begriff des Bürgerlichen. Erstens: der Bürger - als freies und gleiches Mitglied der Bürgerwelt der »polis<< - ist der individuelle Mensch, der selbstbestimmt für sich und seine Mitbürger einsteht. Zweitens: ich vernachlässige absichtlich die Unterscheidung zwischen »Citoyen« und »bourgeois«; denn der »bourgeois<< erwirt.schaftet jene Subsistenzmittel, ohne die der mündige »citoyen« nicht selbstbestimmt leben kann. Drittens: zur bürgerlichen Welt gehört nicht nur die Emanzipation des »dritten Standes<<, sondern auch der Vorgang, daß der »vierte Stand«- das Proletariat- sich in
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den »dritten Stand« auflöst; das ist- im Gegensatz zu jener Ausbürgerung des Proletariats, die die Verelendungstheorie prognostizierte - die »Einbürgerung des Proletairs«, die Franz von Baader 1835 voraussah und die die reformistische Arbeiterbewegung entscheidend mitbewirkt hat, die darum eine prägende Kraft der bürgerlichen Welt ist: vor allem auch der Bundesrepublik. Die Bundesrepublik ist keine mißlungene Revolution, sondern eine gelungene Demokratie, und zwar weil sie eine bürgerliche Republik ist. Man muß ihre Bürgerlichkeit verteidigen: gerade wegen des Individuums. Denn es steht nicht deswegen schlimm in der Welt, weil es zu viel, sondern deswegen, weil es zu wenig bürgerliche Gesellschaft in ihr gibt. Die Apologie der Bürgerlichkeit verteidigt die Mitte, auch und gerade die politische Mitte. Denn die liberale Bürgerwelt bevorzugt- gut aristotelisch - das Mittlere gegenüber den Extremen, die kleinen Verbesserungen gegenüber der großen lnfragestellung, das Alltägliche gegenüber dem >>Moratorium des Alltags« (Manes Sperber), das Geregelte gegenüber dem Erhabenen, die Ironie gegenüber dem Radikalismus, die Geschäftsordnung gegenüber dem Charisma, das Normale gegenüber dem Enormen, das Individuum gegenüber der finalen säkularen Heilsgemeinschaft, kurzum: die Bürgerlichkeit gegenüber ihrer Verweigerung. So ist die bürgerliche Welt - auch weil die Lebensvorteile, die sie bringt, als selbstverständlich gelten- nicht sehr aufregend, ein wenig langweilig und reichlich allzumenschlich. Darum gibt es die, denen die ganze bürgerliche Richtung nicht paßt, weil sie den Außerordentlichkeitsbedarf der radikalen Weltverbesserer nicht deckt. Aber deren Appetit auf Außerordentlichkeitslagen, auf den Ausnahmezustand ist unvernünftig: vernünftig ist, wer den Ausnahmezustand vermeidet. Die Schwärmerei für antibürgerliche Revolutionen und Diktaturen - rechte und linke - ist verderblich. Vor allem ist sie kein Engage-
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ment für das Individuum. Man muß diese Radikalitätsschwärmerei politisch Überflüssig machen durch politische Stärkung der politischen Mitte, bei der man dann streiten kann, ob sie besser eine reformistische oder eine konservative Mitte ist: die parlamentarische Demokratie verfügt ja über gute Verfahren, dies - jeweils auf Zeit - mal so, mal so zu lösen. Von dieser politischen Verteidigung dieser bürgerlichen Mitte lebt das Individuum, also nicht von der Verweigerung der Bürgerlichkeit, sondern vom Mut zur Bürgerlichkeit. 2. Das Engagement für das Individuum braucht die Philosophie der Gewaltenteilung. Das Individuum ist in der bürgerlichen Welt geschützter als in nichtbürgerlichen Verhältnissen, weil zur bürgerlichen Welt - durch ihre Rechtsverhältnisse - die Gewaltenteilung gehört. Montesquieu hat im berühmten Abschnitt über die englische Verfassung in De l'esprit des lois die politische Freiheitswirkung der politischen Gewaltenteilung - der Gewaltenteilung von Legislative, Exekutive und Jurisdiktion - betont. Aber die Freiheitswirkung der Gewaltenteilung reicht weit über diesen wichtigen politischen Spezialfall hinaus durch die allgemeine Buntheit und Pluralität der Wirklichkeit. Individuelle Freiheit gibt es für Menschen nur dort, wo sie nicht dem Alleinzugriff einer einzigen Alleinmacht unterworfen sind, sondern wo mehrere- voneinander unabhängige - Wirklichkeitsmächte existieren, die beim Zugriff auf den Einzelnen - durch Zugriffsgedrängel einander wechselseitig beim Zugreifen behindern und einschränken. Einzig dadurch, daß jede dieser Vielzahl von Wirklichkeitspotenzen - politische Formationen, Wirtschaftskräfte, Sakralgewalten, Geschichten, Überzeugungen, Üblichkeiten und Traditionen, Kulturen - den Zugriff jeder anderen einschränkt und mildert, gewinnen die Menschen ihre Distanz und individuelle Freiheit gegenüber dem Alleinzugriff einer jeden. So lebt das Individuum von der Gewaltenteilung: sola divisione individuum.
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Mir scheint: diese pluralistische Philosophie ist - nota bene: diesseits von »Kommutarismus« und »Liberalismus« - nötig und zuträglich, wenn man sich philosophisch und politisch für das Individuum engagieren will. Diese Philosophie des Individuums durch Gewaltenteilung muß Skepsis sein oder enthalten: denn Skepsis ist der Sinn für Gewaltenteilung bis hin zur Teilung auch noch jener Gewalten, die die Überzeugungen sind. Wer eine Philosophie sucht, die politisches Engagement für das Individuum intendiert, sollte darum - meine ich - weniger an den Existentialismus denken als vielmehr an die Skepsis, die auf Gewaltenteilung setzt und der Verweigerung der Bürgerlichkeit entgegentritt: durch Mut zur Bürgerlichkeit.
Drei Betrachtungen .zum Thema »Philosophie und Weisheit«
Als ich Willi Oelmüller zusagte, zu diesem Kolloquium eine Diskussionseinleitung vorzubereiten, war ich sehr leichtsinnig. Ich dachte nämlich: irgend etwas wird mir schon einfallen, im Zweifelsfalle in Anknüpfung an Bemerkungen, die ich vor knapp fünfzehn Jahren in meinem Beitrag >>Inkompetenzkompensationskompetenz<< beim Kolloquium zum 60. Geburtstag von Hermann Krings formuliert hatte. Damals hatte ich in meiner Ultrakurzgeschichte des Kompetenzverlustes der Philosophie auch ihre Alleinkompetenz für die Weisheit verloren gegeben. Es gibt- meinte ich damals - einen >>Sektor [... ], in bezug auf den die Philosophie das Kompetenzmonopol ohnehin niemals hatte: die Lebensweisheit. Wo es um ihre Äußerung geht, waren schon immer mindestens die Dichter ihre Konkurrenten. So scheint auch eine Spezialität gefährdet, die die Philosophie hat, wo man definieren kann: Philosophie, das ist die Altersweisheit der noch nicht Alten: Simulation von Lebenserfahrung für die und durch die, die noch keine haben.<< Philosophie also ist- als Liebe zur Weisheit- die Liebe zum Älterwerden; aber genau das ist nicht nur die Philosophie; denn - das fügte ich damals hinzu- »Lebenserfahrung zu sein für die, die noch keine haben, Altersweisheit der noch nicht Alten zu sein: das ist schließlich nicht nur eine mögliche Teildefinition der Philosophie, sondern die wirkliche Teildefinition der Geisteswissenschaften dort, wo diese das Pensum haben, zu erinnern<<. Im übrigen - sagte ich damals - >>wird der biologische Prozeß zum Angriff auf diese Kompetenz: immerhin werden sogar Philosophen älter, wenn man es auch manchmal nicht merkt, und dann können sie« meinte ich damals- >>Philosophie durch wirkliche Alters-
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weisheit ersetzen und brauchen die Philosophie nicht mehr.<< 1 Das also war vor fünfzehn Jahren. Inzwischen bin ich selber seniorenpaßberechtigt, jedoch noch kein bißchen altersweise. Auch insofern - mein damaliger Aufsatz war wirklich eine bemerkenswerte Häufung schöner Irrtümerbrauche ich die Philosophie immer noch und jetzt erst recht. Aber ist sie wirklich noch Liebe zur Weisheit? Diese Frage möchte ich jetzt und hier in einem ersten Abschnitt ausdrücklich wiederholen, den ich - en suite durch zwei weitere Abschnitte ergänze, so daß sich für meine drei Betrachtungen zum Thema »Philosophie und Weisheit« folgende Gliederung ergibt: 1. Ist die Philosophie noch Liebe zur Weisheit? 2. Über Verlust und Wiederkehr des philosophischen Themas >>Glück«. 3. Philosophie und Wirklichkeit. Damit sogleich zum Abschnitt: 1. Ist die Philosophie noch Liebe zur Weisheit? Es liegt angesichts dieser Frage - nahe, die große Veränderungsthese zu vertreten, die als Fortschrittsthese oder als Verfallsthese lesbar ist, nämlich: einst - in der Antike und im Mittelalter - war die Philosophie noch Liebe zur Weisheit: Liebe zu jenem Wissen, das- als Unterscheidung des Wichtigen vom Nichtigen - zum richtigen Leben befähigt und zur Vermeidung des falschen Lebens; nun aber- neuzeitlich - ist die Philosophie strenge Wissenschaft mit der Wissenschaftlichkeit der strengen Wissenschaften, die den Menschen zum >>maitre et possesseur de la nature<< machen. Der Weg der Philosophie - so lautet die große Veränderungsthese - führt von der Weisheitsliebe zur Wissenschaftstheorie, die die Weisheitslehre denen überläßt, die unwissenschaftlich sind: den Nichtphilosophen. Wer den Lauf der Weisheitsdinge so sieht und nach jenen Augenblicken der Philosophiegeschichte Ausschau hält, in denen - neuzeitlich - das Thema Weisheit zugunsten des Themas Wissenschaft abgehängt wurde in der Philoso-
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phie, wird vielleicht al).f Descartes und sicher auf Kant kommen. Hier aber nun - bei Kant - beginnt diese große Veränderungsthese - ob sie nun fortschritts- oder verfallstheoretisch gelesen wird - in Schwierigkeiten zu geraten. Bei Kant nämlich - bei dem die zur Wissenschaft tendierende Philosophie die Liebe zur Weisheit scheinbar hinter sich läßt und als deren Statthalter allenfalls die Gesinnungsethik des kategorischen Imperativs als kostbaren Restposten pflegt - bei Kant gibt es einen dieser großen Veränderungsthese gegenüber widerspenstigen Befund, der zu denken gibt. Kants Philosophiedefinitionen - die ich, zusammen mit späteren, für die Erarbeitung des Artikels »Philosophie 14; 1781-1900<< des Historischen Wörterbuchs der Philosophie pflichtgemäß zu durchmustern hatte - bieten ein erstaunliches Bild. Beim frühen kritischen Kant sind diese Philosophiedefinitionen extrem konventionell. Wo sie - beim späteren kritischen Kant - unkonventionell werden, wird für sie das Wort >Weisheit< immer wichtiger. Ich biete einige Kostproben, vor allem aus Spätschriften Kants von 1796 und dem ersten - also dem spätesten - Konvolut des Opus postumum: es ist - schreibt dort Kant - >>Philosophie [... ] ein Erkenntnisakt, dessen Produkt [... ] nicht bloß auf Wissenschaft [... ], sondern auch [... ] auf Weisheit abzielt«: als »Weg zur Weisheit<<, so daß Philosophie - als Kritik - »Wissenslehre<< und »Weisheitsforschung<< ist. So bestimmt der späte Kant die Philosophie zunehmend von der Weisheit her: »Statt Sophus Weiser die Wissenschaft Philosophie«, aber so: >>Philosophie [ist] nach dem Buchstaben Liebe zur Weisheit<<, mithin >>Liebe des vernünftigen Wesens zu den höchsten Zwecken der menschlichen Vernunft<<, so daß gilt: »Alle Philosophie ist 1. Autognosie, 2. Autonomie: Wissenschaft und Weisheit<<, denn: >>Philosophie (doctrina sapientiae) ist [... ] eine Kunst von dem, was [... der Mensch] aus sich selbst machen soll (sapere aude)<<. Und so fort. Allemal ist
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die Philosophie für Kant vor allem durch den Bezug zur Weisheit definiert; und die letztzitierte Stelle läßt etwas für die Beantwortung unserer Leidrage außerordentlich Wichtiges erkennen: die Formel »sapere aude«, die Kant in seiner Aufklärungsschrift von 1784 zum Wahlspruch der Aufklärung erhoben hat, ist eine Definitionsformel der Philosophie mit Hilfe der sapientia, bei der freilich der amor sapientiae zur audacia sapientiae wird. In der Aufklärungsdefinition Kants perenniert die Definition der Philosophie als Bezug zur Weisheit, freilich jetzt nicht mehr als Liebe zur Weisheit, sondern als Mut zur Weisheit. Darum ist - scheint mir - die Antwort auf die Frage »Ist die Philosophie noch Liebe zur Weisheit?« komplizierter, als die große Veränderungsthese es zum Ausdruck bringt. Ich schlage deswegen - die Philosophenlizenz zu sehr pauschalen historischen Aussagen extrem nutzend eine andere These vor, die man vielleicht die kleine Veränderungsthese nennen kann, nämlich diese: die Philosophie war von Anfang an Liebe zur Weisheit, und sie ist es auch neuzeitlich, auch modern, und heute - immer noch. Nur eines hat sich - in Grenzen - geändert: das Verständnis der Weisheit. Weisheit - ich wiederhole es - ist jenes Wissen, das- durch Unterscheidung des Wichtigen vom Nichtigen - zum richtigen Leben bzw. zur Vermeidung des falschen Lebens befähigt. Geändert hat sich dies: am Anfang der Philosophie war das philosophisch gesuchte Wissen das unveränderlich absolute Wissen des unveränderlich Absoluten, das Wissen Gottes und das Wissen von Gott. Heutzutage ist dies philosophisch gesuchte Wissen das menschliche Wissen um die Grenzen des menschlichen Wissens, das Wissen um das Menschliche, zu dem das Veränderliche und Zufällige, das Allzumenschliche gehört. Am Anfang der Philosophie bis ins Mittelalter hinein war es so: die eigentliche Weisheit gehört Gott; die Philosophie erfüllt die Liebe zur Weisheit, indem sie den
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Menschen möglichst yreitgehend an Gott angleicht; so wird z. B. der stoische Weise - theologischer Hintergrund hin, theologischer Hintergrund her - der, der sich von dem störend Allzumenschlichen, den Affekten befreit. Dagegen sieht es heute so aus: die eigentliche Weisheit gehört demjenigen Menschen, der um das menschliche Nichtwissen weiß; die Philosophie erfüllt die Liebe zur Weisheit, indem sie den Menschen möglichst menschlich sein läßt, einschließlich des Allzumenschlichen, und zwar durch die Skepsis auch noch gegenüber der Philosophie. Dabei wird diese heutige, diese moderne Tradition des Weisheitsverständnisses - die natürlich von Sokrates herkommt- durch das Christentum zur Dominanz gezwungen, weil das Christentum- für das zwar Gott das Höchste ist, aber mehr als die Philosophie der Glaube leitend wird - den Abstand zwischen Gott und Mensch betont und die Weisheit der Welt zur Torheit erklärt (vgl. 1 Kor. 1,20); darum kann fortan- bis in die moderne Welt hinein und bis heute - grob gesagt nur noch derjenige der Weise sein und philosophisch zur Weisheit streben, der die Torheit seiner Weisheit mit erkennt: also z. B. der Laie, der idiota mit docta ignorantia, der skeptische Moralist und der, der ihm gegenwärtig entspricht, etwa auch der Transzendentalbelletrist. Darum erfüllt sich heute - im Unterschied zum Anfang der Philosophie - die Liebe zur Weisheit nicht mehr in der Vergöttlichung, sondern in der Vermenschlichung des Wissens. Das schließt - wie es ja auch möglich war, daß das moderne Weisheitsverständnis in der Antike, bei Sokrates, anfängt - nicht aus, daß in der modernen Welt das alte philosophische Weisheitsverständnis transformiert aufrechterhalten wird. So ist der exakt wissenschaftliche Experte dem stoischen Weisen darin verwandt, daß er die emotiven Subjektivitäten verbannt, um mit emotionsloser Rationalität störungsfrei messen und rechnen zu können. So ist der universalmoralische Gesinnungsmensch dem
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stoischen Weisen darin verwandt, daß er sich und allen anderen rigoristisch die Neigungen verbietet. Und so ist schließlich der exaltiert aufklärerische Weltverbesserungsavantgardist dem stoischen Weisen darin verwandt, daß er -um im Namen der guten Sache stets ganz vorn zu seindie Sentimentalitäten hinter sich läßt. Doch sind keineswegs die philosophischen Sichtweisen dieser drei Mitexponenten der Modernität - die Wissenschaftstheorie des exakten Expertenwissens, die universalistische Gesinnungsethik, die Geschichtsphilosophie der Weltverbesserungsavantgarde - die repräsentativen modernen Versionen der Liebe und des Muts zur Weisheit. Daß die Philosophie heute immer noch Liebe zur Weisheit ist: das liegt vielmehr an jenen Philosophien, die noch heute und gerade heute die Weisheit der Menschlichkeit lieben, und das sind - niemanden wird überraschen, daß gerade ich das sage - die Skeptiker, die in den Spuren der Sokrates-Rezeption durch das Lob des Laien und in den Spuren der skeptischen Moralisten von Montaigne und Charron über Montesquieu und Tocqueville und Burckhardt gehen bis hin zur verspäteten Moralistik der verspäteten Nation: den Geisteswissenschaften. Die akmellen Weisheitsliebhaber sind also gerade nicht die, die absolut wissen, wie man richtig leben muß, und nicht die, die verbindliche Anweisungen zum seligen Leben geben möchten, sondern ganz im Gegenteil die, die mit den Grenzen des menschlichen Lebenswissens rechnen, die also die Torheit der menschlichen Weisheit mitmerken und ebendarum das Menschliche gerade im Menschlichen mit Einschluß des Allzumenschlichen suchen und gelten lassen. Ist die Philosophie noch Liebe zur Weisheit? Auf diese Frage antwortet -im Gegensatz zur großen Veränderungsthese- die kleine Veränderungsthese mit »ja«, und zwar deswegen, weil es auch modern und gerade heute philosophisch die Skepsis gibt.
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2. Über Verlust und W~ederkehr des philosophischen Themas »Glück«. Die Menschen wollen glücklich sein: sie wollen - zumindest - das Unglück vermeiden. Jedenfalls ist, dies zu wollen und es zu können, weise. So hat offenbar die Weisheit mit dem Glück zu tun, und die Philosophie - als Liebe zur Weisheit - hat dem Rechnung getragen, indem sie seit ihren Anfängen das Glück zum Zentralthema der Ethik machte. Erst Kant - der mit seiner Fundarnentalisierung der Universalistischen Grundnorm der modernen Ethik das Programm gernacht hat- hat diese Lage verändert: durch seine Eudärnonisrnuskritik. Seither- scheint es- ist das Thema »Glück« weitgehend aus der Philosophie verschwunden und mußte sich - philosophisch vertrieben - außerphilosophisch etablieren: in der Literatur, der Psychoanalyse, den Ratgeberspalten von Gazetten, und so fort. Die Ausnahme bildet wiederum die skeptisch-rnoralistische Tradition, die dadurch ihrerseits riskierte, zur unphilosophischen Tradition erklärt zu werden. Wer - angesichts dieses Befundes - im Blick auf die Frage >>Ist die Philosophie noch Liebe zur Weisheit?« an der kleinen Veränderungsthese festhalten möchte, muß das »Glück« als philosophisches Thema rehabilitieren. Dafür ist es nützlich zu begreifen, warum der Hauptlinie der modernen Philosophie das Thema »Glück« - zumindest als Zentralthema - verlorengegangen ist. Meine These ist hier diese: Die moderne Philosophie hat das Thema >>Glück« preisgegeben, um das Thema »Unglück« loszuwerden. Das muß ich kurz erläutern. Die Philosophie hat -meine ich- von Beginn an versucht, das »Unglück« zu relativieren, und zwar - extrem simplifiziert - in folgenden drei Schritten: a) Die antike Philosophie relativiert das Unglück durch »ontologische Veruneigentlichung«: jene Welt mit Unglück, in der wir leben müssen, ist nicht die eigentliche, sondern die uneigentliche Wirklichkeit. So wird das Unglück nicht in, es wird mit unserer Lebenswelt relativiert.
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b) Die christliche Philosophie relativiert das Unglück durch »eschatologische Negation«: jene Welt mit Unglück, in der wir leben müssen, ist nicht die endgültige, sondern die vorläufige Welt, die durch den erlösenden Gott alsbald zugunsten einer neuen und heilen Welt aufgehoben wird. Wiederum wird das Unglück nicht in, es wird mit unserer Lebenswelt relativiert. c) Die moderne Philosophie, die die Diesseitswelt ontologisch stark macht, hat nicht mehr die Möglichkeit, das Unglück mit unserer Lebenswelt zu relativieren: sie- für die die Welt mit Unglück, in der wir leben müssen, die eigentliche Welt ist- muß das Unglück in unserer Lebenswelt relativieren. Das versucht Leibniz in seiner Theodizee mit dem System des Optimismus: durch Funktionalisierung des Unglücks. Ähnlich wie später bei Kant die Aprioris Möglichkeitsbedingungen der bestmöglichen Wissenschaft sind, ist bei Leibniz das Unglück Möglichkeitsbedingung der bestmöglichen Welt: jener, in der es Glück gibt. Dieser philosophische Versuch, das Unglück in der Welt zu relativieren, scheiterte: das Problem des Unglücks wurde unlösbar. Was macht eine Philosophie mit einem unlösbaren Problem? Sie kann die Möglichkeit ergreifen, das Problem, das sie nicht lösen kann, zu neutralisieren, aus dem Verkehr zu ziehen, zu vergessen. Mit dem Problem des Unglücks verhielt es sich freilich so: es war - durch die These des Optimismus: Unglück ermöglicht Glück - mit dem Problem des Glücks so eng zusammengebunden worden, daß es nur die Möglichkeit gab: entweder das Problem des Glücks philosophisch zu behalten, dann aber auch das Problem des Unglücks; oder: das Problem des Unglücks philosophisch zu vergessen, dann aber auch das Problem des Glücks. Diese zweite Möglichkeit kommt bei Kant zum Zuge: in seiner Ethik wird das philosophische Problem des Glücks ersetzt durch das philosophische Problem der Pflicht. Ich rege also an, Kants Eudämonis-
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muskritik, seinen Form,alismus und seine Favorisierung der glücks-unglücks-neutralen Moralitätsverfassung der Pflicht als den Preis zu interpretieren, den Kant innerhalb seiner Ethik zahlen mußte, um dem Problemdruck des Unglücksproblems zu entgehen; und ich schlage demnach vor, unter all den »metaphysischen Motiven bei der Ausbildung des kritischen Idealismus<< zumindest als ein Mitmotiv des kantischen Verzichts auf das Glück als Leitproblem"der Philosophie das in Anschlag zu bringen, was ich zu Beginn dieser Betrachtung als These so formuliert hatte: die moderne Philosophie - protagonistisch die kantische- hat das Thema >>Glück« preisgegeben, um das Thema »Unglück<< loszuwerden. Darum operiert seit Kant der dominierende Strang der modernen philosophischen Ethik - in fast jeder nur möglichen Bedeutung dieses Wortes - glücklos. Sollte etwas dran sein an dieser (von mir hier nur angedeuteten) Überlegung, so könnte man folgendes aus ihr lernen: man muß wohl- wenn die Philosophie und insbesondere ihre Ethik auch heute noch Liebe zur Weisheit sein soll- das Thema >>Glück<< in die Philosophie zurückholen; doch man kann das nur, wenn man zugleich auch das Thema >>Unglück<< in die Philosophie zurückholt, und zwar nicht nur als Frage nach praktischen Verfahren zur Vermeidung des Unglücks, sondern auch als die Frage: Wie leben mit dem Unglück, wenn man es nicht vermeiden kann? Hier werden für die Philosophie Bündnisse nötig sein: z. B. mit der Religion. Insgesamt handelt es sich - und dabei kann man an längst vorhandene philosophische Traditionen anknüpfen: eben an die der skeptischen Moralistik - um eine Ergänzung der Ethik durch die Lehre von der Lebenskunst, der ars vivendi. Das >>savoir vivre<< gehört wieder in die Philosophie hinein, wobei ja »savoir<< von >>sapere<< herkommt, zu dem die >>sapientia« gehört: die Weisheit.
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3. Philosophie und Wirklichkeit. Ist die Philosophie noch Liebe zur Weisheit? Auf diese Frage hatte ich- durch Abwehr der großen Veränderungsthese und durch Plädoyer für die kleine Veränderungsthese - mit »ja« geantwortet. Gegen diese Antwort können sich Zweifel erheben durch die Tatsache, daß es - in der modernen Welt gerade im Umkreis der Gegenwart- Philosophen gegeben hat, die sich höchst unweise verhalten haben. Eine einschlägige Diskussion wird zur Zeit erneut über Heidegger geführt. Ich halte nach wie vor die Formel von Wrnfried Pranzen für richtig, daß sich Heideggers nationalsozialistisches Engagement aus seiner Philosophie »nicht zwingend, wohl aber zwanglos ergeben« habe. Das macht das Problem nicht weniger schwierig und brisant, vor allem, wenn das zutrifft, was - zuweilen einigermaßen temperamentvoll Jürgen Busche immer wieder und wohl nicht ohne Berechtigung behauptet hat: daß fast alle großen und aufgeregten Kulturrevolutionen der westlichen Welt nach dem Zweiten Weltkrieg von direkten oder indirekten Heideggerschülern mitinspiriert worden sind; also etwa: die sogenannte Studentenbewegung durch Herbert Marcuse und Jean-Paul Sartre; die ökologische Welle durch Günther Anders und Hans Jonas; die Friedensbewegung zumindest auch durch Ernst Tugendhat; die Bewegung der Postmoderne jedenfalls nicht ohne den Beitrag von Jacques Derrida; und so fort. Auch Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas haben - in ihrer Bonner Zeit - geistig bei Heidegger angefangen; aber auch die heute in der Bundesrepublik am häufigsten »neokonservativ« genannten Philosophen Hermann Lübbe und Robert Spaemann- sind durch Joachim Ritter weniger Cassirer-Enkel als vielmehr Heidegger-Enkel, wobei ich selber- durch meinen Doktorvater, den Heidegger-Schüler Max Müller- potenziert ein Heidegger-Enkel bin. Wenn der philosophische Vater bzw. Großvater Martin Heidegger politisch geirrt hat: wie können die philosophischen Söhne und Enkel sicher sein, sich
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politisch nicht mehr zu irren? Vielleicht wird man nicht mehr ein zweites Mal in denselben Brunnen fallen; aber wird man deswegen überhaupt nicht mehr in einen Brunnen fallen? Mir scheint die Heidegger-Debatte- die zweifellos ihre völlig berechtigten Seiten hat und darum ebenso zweifellos geführt werden muß - zuweilen auch etwas von einer Beschwörung an sich zu haben: man erhofft den Nachweis, daß ein einziger bedeutender Philosoph die politischen Irrtumsressourcen der Philosophie für ein ganzes Jahrhundert erschöpft hat, so daß für die späteren Philosophen - wegen einschlägig verbrauchter Ressourcen - an Irrtumsmöglichkeiten nichts mehr übrig bleibt. Aber ist das realistisch gedacht? Doch wohl kaum. So muß, denke ich, die Frage gestellt werden: Wie kommt es, daß die Philosophie - wenn sie doch Liebe zur Weisheit nicht nur war, sondern immer noch ist - den Philosophen an Torheiten nicht hindert, zu denen der politische Irrtum und die politische Dummheit ebenso gehören wie andere lebensmäßige Dummheiten? Hier versuche ich eine Antwort durch folgende These: Die Philosophie - die Liebe zur Weisheit - führt dann zur Torheit, wenn sie sich einbildet, dem Philosophen und den Menschen die Urteilskraft- die phronesis, die prudentia, die Betätigung seiner Klugheit- einschließlich der politischen Urteilskraft ersparen zu können und die Philosophie so sozusagen zum Amulett werden soll, das von selber gegen Irrwege schützt: aber gerade ein solches Amulett ist die Philosophie nicht. Diese These bedeutet - allgemeiner formuliert -, daß es nicht möglich ist, Leben durch Philosophieren zu ersetzen, und daß der Philosoph genau dann weise ist, wenn er das realisiert, und genau dann töricht und irrtumsgefährdet, wenn er das nicht realisiert. Man kann das auch noch anders formulieren: die Menschen zu denen ja auch die Philosophen gehören - haben stets viele Wirklichkeitsverhältnisse, von denen eines - unter den anderen- die Philosophie sein kann oder ist. Unheil
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entsteht, wenn sie diese Pluralität ihrer Wrrklichkeitsverhältnisse auf ein einziges Wirklichkeitsverhältnis reduzieren: auf die Philosophie; denn das führt zum Wirklichkeitsverlust. Die Menschen haben - sage ich - viele Wirklichkeitsverhältnisse: sie sind Naturwesen, getrieben »durch Hunger und durch Liebe«; sie sind praktische lntelligenzen und verfügen über technische Möglichkeiten; sie leben in Rechtsverhältnissen und haben Gewissen und die Fähigkeit zur Reflexion; sie haben - als Gemeinschaftswesen - Familie; sie haben Berufe und existieren als gesellschaftliche Wesen - im System der Bedürfnisse; sie sind politische Lebewesen, sie sind Staatsbürger; sie sind in viele verschiedene Geschichten verstrickt, deren eine auch die Weltgeschichte ist; sie lieben die Kunst, sie haben die Religion oder etwas statt dessen, sie haben Wissenschaften und haben - unbewußt oder bewußt und dann als Amateure oder Profis - auch die Philosophie. All das kann man noch differenzierter beschreiben, aber stets wird herauskommen: jeder Mensch ist nicht nur Bürger zweier Welten, sondern Bürger vieler Welten. Denn jeder hat viele Wirklichkeitsverhältnisse, deren jedes - gewaltenteilig - die Gewalt eines jeden anderen einschränkt und dadurch jeden Menschen vor dem Alleinzugriff eines einzigen Wirklichkeitsverhältnisses schützt; und jeder Mensch ist um so freier, je mehr das so ist. Darum - ich wiederholees-entsteht Unheil, wenn man- durch einen Akt der Monopolisierung - eines dieser Wirklichkeitsverhältnisse zum einzigen macht: zur Alleingewalt. Und gerade die Philosophie wird zur Torheit, wenn es gerade die Philosophie ist, die - durch eine Art Fundamentalismus der Philosophie - dieses alleingewaltige Wirklichkeitsverhältnis sein will, das die anderen Wirklichkeitsverhältnisse beseitigt und ersetzt. Oder anders und kurz gesagt: die Philosophie - die Liebe zur Weisheit - wird unweise durch das »sola philosophia<<. Helmut Plessner hat durch sein Buch über Die verspä-
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tete Nation plausibel gemacht, daß diese Monopolisierung des Wirklichkeitsverhältrusses durch die Philosophie gerade in Deutschland zur naheliegenden Gefahr werden konnte und mußte. Ich möchte das hier unterstreichen: in lockerem Anschluß an Plessner, dessen Thesen mich angeregt haben, aber dem ich nicht alles, was ich hier sage, anlasten darf. So muß ich schon auf meine eigene Kappe nehmen, was ich in den folgenden fünf Überlegungsschritten (a-e) entwickle. a) In Deutschland - das ist, stark simplifiziert, Plessners These - erfolgte, historisch erklärbar, die Ausbildung der ökonomischen, sozialen, politischen Liberalwirklichkeiten verzögert, verspätet. Aufgrund dieser Liberalisierungsretardation wurde in Deutschland die Freiheitsverwirklichung statt in allen Bereichen der Wirklichkeit ausschließlich in der Geisteskultur gesucht, und es richteten sich - nachdem die Religion durch ihre Relativierung zu Konfessionen als absolute Schlüsselgröße zunehmend ausfiel alle Erwartungen alsbald exklusiv auf die absolute Geisteskultur, die Philosophie. Seither - seit dem deutschen Idealismus - hat in Deutschland die Philosophie die Rolle des ausgezeichneten und ausschließlichen Wrrklichkeitsverhältnisses, dessen Infragestellung als Angriff der Macht auf den Geist erfahren wird. Fortan also besteht die Disposition zum »sola philosophia«. b) Dabei wird die Philosophie durch diese philosophische Monopolisierung des Wirklichkeitsverhältnisses zugleich überfordert. Darum kippt die absolute Hoffnung auf die Philosophie alsbald um in die absolute Enttäuschung durch die Philosophie, die dabei - gerade in Deutschland - die Kunst der Selbstenttäuschung erfindet und selber zur Philosophie macht: als Ideologiekritik. Dieses entlarvt die Philosophie als tatsächlich zu unwirklich und stachelt gerade dadurch- im fortdauernden Klima des »sola philosophia« - die Philosophie an, ihre einzigartige Realitätskraft nun erst recht zu beweisen: als
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Macht der Weltverbesserung, die die retardierte Wirklichkeit umstürzt und sie so - durch einen Akt der beschleunigten Veränderung- verwandelt in die nicht mehr retardierte, d. h. heile Wirklichkeit: durch Revolution. Dabei denn sie bleibt ja das einzige Wirklichkeitsverhältnis- soll es genügen, die Philosophie dieser Weltverbesserung zu haben, die alles eo ipso richtig macht und darum- sozusagen dummheitsimmun - die Klugheit nicht mehr braucht: die Weltverbesserungsphilosophie wird zum sacrificium prudentiae. c) Wo die weltverbesserungsphilosophische Revolution mißlingt, wird ihr Programm ästhetisch gerettet: die zurückgebliebene Wirklichkeit soll dann - in Fortsetzung der Wirksamkeit einzig der Philosophie- durch ein einziges Kunstwerk ersetzt werden, das selber die ganze nicht mehr zurückgebliebene Wirklichkeit ist: das Gesamtkunstwerk, das - um diese ganze Wirklichkeit zu werden - entweder - a la Wagner - alle einzelnen Künste verbindet oder - wie im Futurismus, Surrealismus, Dadaismus alle einzelnen Künste bestreikt. Das Gesamtkunstwerk macht dann - durch Transformation des >>sola philosophia« in ein >>sola arte«- die Kunst zur einzigen Wirklichkeit um den Preis, daß dadurch die Wirklichkeit selber weltfremd wird. d) Realitätsmonopolisierungen durch die Philosophie werden also - um es generell zu formulieren - begünstigt durch die Verspätung von Nationen, oder, besser gesagt, durch Retardation von soziokulturellen Wirklichkeiten. Darum hat Georg Lukacs in seinem Buch Die Zerstörung der Vernunft mit vollem Recht eine Frage aufgeworfen, die sich aus der Tatsache ergibt, daß Deutschland nicht die einzige verspätete Nation gewesen ist und daß Rußlanddas Land der Oktoberrevolution - ebenfalls zu den verspäteten Nationen gehört hat. Es gibt- das war seine Antwort - schlechte und gute Verspätungen. Aus schlechten Verspätungen entsteht die - schlechte - Alleinherrschaft
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reaktionärer Philosophien, nämlich faschistischer Ideologien; aus guten Verspätungen entsteht die - gute - Alleinherrschaft des Marxismus. Ich meine demgegenüber: es gibt keine gute Alleinherrschaft einer Philosophie; und der Marxismus ist seinerseits ein besonders instruktives Beispiel dafür. Der beste Schutz gegen die Monopolisierung der Philosophie als Wirklichkeitsverhältnis ist der reformerische -Abbau von Verspätungen: also die Liberalisierung des gesamten pluralistischen Ensembles der Wirklichkeiten und Wirklichkeitsverhältnisse, die es bisher nur in der bürgerlichen Welt gegeben hat, so daß gilt: es steht nicht schlimm in der Welt, weil es zu viel, sondern weil es zu wenig bürgerliche Gesellschaft in ihr gibt, so daß wir für den Schutz gegen die Monopolisierung der Philosophie als Wirklichkeitsverhältnis vor allem dieses brauchen: mehr Mut zur eigenen Bürgerlichkeit. e) Aus dieser These- der beste Schutz gegen die Monopolisierung der Philosophie als Wirklichkeitsverhältnis ist der wirklichkeitsumfassende Abbau von Liberalisierungsverspätungen - folgt als Urnkehrschluß: wer das >>sola philosophia«, also die Monopolisierung des Wrrklichkeitsverhältnisses durch die Philosophie - durch eine einzige Philosophie - aufrechterhalten will, muß den Abbau von Verspätungen, d.h. den Abbau von Liberalisierungen in der Wirklichkeit ignorieren. Das tun z. B. die, die die Demokratisierung der Verhältnisse in der Bundesrepublik ignorieren, um ihr- durch Philosophie- das Pensum einer Revolution zu verordnen; indes: die Bundesrepublik: das ist keine mißlungene Revolution, sondern eine gelungene Demokratie. Doch ebendas - wie überhaupt vorhandene Liberalitäten - darf derjenige nicht anerkennen, der die Philosophie - als die einzige Weltverbesserungsphilosophie- zum ausschließlichen w· .idichkeitsverhältnis machen will. Er kennt dann keine Liberalwirklichkeiten mehr, er kennt nur noch Verspätungen: alles Vorhandene in der Welt ist noch nicht das, was es sein soll. Wenn er
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dabei mit der Diagnose relativer Verspätungen - jener Staat und diese Institution ist noch nicht so liberal wie jene - nicht auskommt, dann muß er absolute Verspätungen diagnostizieren: nichts in der Welt ist schon das, was es sein soll, nämlich Himmel auf Erden, und folglich ist alles in der Welt noch Hölle auf Erden, so daß das einzige, auf das man noch hoffen kann, die Philosophie ist. So durch die Kunst des totalen Argwohns gegenüber dem Vorhandenen - rettet man die Chance, die Philosophie als die eine einzige Weltverbesserungsphilosophie - zum einzigen exklusiven Wirklichkeitsverhältnis zu erheben. Freilich: gerade das ist der Weg, die Liebe zur Weisheit töricht zu machen; denn (ich wiederhole es) die Philosophie - die Liebe zur Weisheit - wird unweise durch das »sola philosophia«. Es ist also - das ist hier das Fazit - gut, nicht nur die Philosophie zu haben, sondern auch die Distanz gegenüber der Philosophie. Ein guter Philosoph ist nur der, der nicht nur Philosoph ist. Das - diese Philosophie mit Distanz zur Philosophie - ist das, was ich unter Skepsis verstehe, zu der also auch ein wenig Vertrauen in die vorhandene Wirklichkeit gehört und ein wenig Widerstand gegen den Negationskonformismus. Völlig falsch wäre es aber, daraus folgende Konsequenz zu ziehen: nun die Skepsis zum einzigen Wirklichkeitsverhältnis zu machen. Denn das würde - dies scheint mir auf der Hand zu liegen - die Gefährdungslage nicht wesentlich ändern. Die Meinung »Das kann mir nicht passieren, ich bin ja so reflektiert und skeptisch!« ist wenig wert. Es scheint in der Wirklichkeit so etwas zu geben wie ein Gesetz der Erhaltung der Naivität. Die menschliche Kapazität zur Reflexion und zur Skepsis ist begrenzt, und je mehr man sie an einer der Denkfronten konzentriert, desto leichter kommt die Naivität zum Sieg an den anderen. Ich möchte hierbei die Rede vom Gesetz cum grano salis verstanden wissen; denn ich bin - womöglich zur Überraschung von Herbett
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Schnädelbach - nicht nur überhaupt, sondern vor allem auch hier kein Gegner 'von Fortschritten, insbesondere nicht von jenen Fortschrittten, die die Kompensationen sind (denn- notabene-die Kompensationstheorie ist die fällige Pluralisierung der Fortschrittstheorie: aber daß ich das so formuliere, ist zweifellos ein pädagogischer Erfolg von Herbert Schnädelbach). Keine Philosophie - auch die Skepsis nicht - darf zum einzigen Wirklichkeitsverhältnis werden: denn gerade dadurch würde sie die Torheit ermächtigen. Nur wenn die Philosophie ein Wirklichkeits.verhältnis unter den vielen anderen Wrrklichkeitsverhältnissen bleibt und jene Grenze der Philosophie respektiert, die die eigenauthentisch bunte Fülle der Wrrklichkeit ist, bleibt die Philosophie auch gegenwärtig das, was sie immer schon war: Liebe zur Weisheit.
Anmerkung Odo Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981 [u. ö.], 5. 26.
Die Denkformen und die Gewaltenteilung Zur Aktualität der Philosophie von Hans Leisegang
Man spricht von >>der« Philosophie. Aber die Philosophie ist nur im Plural wirklich: durch Philosophien, die mehrere Philosophien oder gar viele Philosophien sind. Wer der Philo_sophie diesen Plural verbietet, verbietet ihr, wirklich zu setn. Wie kommt es zu diesem Plural? Warum gibt es mehrere Philosophien? Das war - bezogen auf Denkformen und Weltanschauungen - die Zentralfrage von Hans Leisegang, der hier in Jena zweimal ordentlicher Professor für Philosophie war und zweimal - 1934 und 1948 - gezwungen wurde, dieses Amt zu verlassen, weil es nicht mehr viele Philosophien geben sollte, sondern nur noch eine. In meinem kurzen Vortrag möchte ich - im Blick vor allem auf sein zuerst 1928 erschienenes Hauptwerk Denkformen - die genannte Frage von Hans Leisegang, seine Antwort und ihre Aktualität in knapp 30 Minuten in folgenden drei Abschnitten erörtern: 1. Weltanschauungstypologien; 2. Denkformenforschung; 3. Gewaltenteilung. Ich beginne mit Abschnitt: 1. Weltanschauungstypologien. Warum gibt es mehrere Philosophien? Gibt es sie nur durch die Macht des Irrtums: so, daß nur eine Philosophie wahr ist und alle anderen Philosophien falsch sind? Oder warum sonst? Wie viele Philosophien gibt es eigentlich? Ich bitte Sie zunächst, an jene Antwort zurückzudenken, die hier in Jena 1797 Johann Gottlieb Fichte in seiner Ersten Einleitung in die Wissenschaftslehre versucht hat. Es gibt- meinte er- grundsätzlich drei Philosophiesorten: den freiheitsdurstigen »Idealismus«, den schicksals- und
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dinggehorsamen »Dogmatismus<< und den »Skeptizismus«, eine Art positivistische' Philosophieverweigerung. »Was für eine Philosophie man wähle, hängt[ ... ] davon ab, was man für ein Mensch ist«: dieser berühmte Fichte-Satz, den übrigens zwei Jahre früher SeheHing fast wörtlich vorformuliert hatte, steht in diesem Zusammenhang. Doch »was man für ein Mensch ist«, meinte Fichte, das ist nicht gleichwertig: der »Idealist« ist der wahre Mensch, der »Dogmatiker« ist der falsche Mensch und der »Skeptiker« ist fast gar kein Mensch. Darum ist - meinte Fichte - der »Idealismus« die wahre Philosophie; wer dem »Dogmatismus« oder >>Skeptizismus« anhängt, ist- beim Fortschritt zur wahren Philosophie - zurückgeblieben und sozusagen reaktionär. Das - diese Antwort Fichtes ist eine der Tendenz nach entwicklungsgeschichtliche Antwort auf die Frage, warum es mehrere Philosophien gibt. Hegel - mit dem Hans Leisegang sich intensiv auseinandersetzte-hat (im Ansatz ebenfalls hier in Jena) diese entwicklungsgeschichtliche Antwort subtil und reich ausgebaut, die die Hegelianer - also etwa Marx - dann wieder vergröbert haben: die vielen Philosophien sind die Stufen, die die Philosophie auf ihrem Fortschrittsweg zur einen einzigen endgültig wahren Philosophie durchlaufen muß, die - zusammen mit jener finalen Wirklichkeit, die Illusionen angeblich nicht mehr braucht - schließlich jene endgültige Alleinphilosophie wird, die die anderen Philosophien als veraltete Vorstufen überholt hat und nunmehr entbehren kann und im Extremfall mit allen Mitteln verstoßen muß. Hans Leisegang war mit dieser Antwort nicht zufrieden, und zwar zunächst aufgrund eines Befundes, der in der Tat zu denken gibt: daß nämlich die philosophischen Grundsätze in Wirklichkeit nicht als überholte Vorstufen einer fortgeschrittensten und finalen Definitivphilosophie veralten und absterben, sondern - sozusagen veraltungsresistent - wiederkehren. Es gilt bei ihnen nicht - gemäß
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dem Gesetz der Veraltung durch Fortschritt - »they never come back<<, sondern es gilt- kompensatorisch zum Fortschritt - »they ever come back«. Gerade für jene drei Grundansätze gilt das, die schon Fichte benannt hatte. Das haben seit Mitte des 19. Jahrhunderts jene Philosophien betont, die Weltanschauungstypologien entwickelt haben und dabei - in der Regel - auf die nämlichen drei Philosophiesorten stießen, die schon - als folgsamer Kantianer - Fichte im Blick hatte: den »Idealismus« bzw. »Kritizismus«, den >>Dogmatismus<< und den >>Skeptizismus«, unter diesen oder anderen Namen. Eines ändert sich freilich in den Weltanschauungstypologien. Es gibt jetzt nicht mehr einen wahren philosophischen Grundansatz und zwei falsche philosophische Grundansätze, sondern - und das erklärt, warum sie nicht veralten, sondern wiederkehren - alle drei philosophischen Grundtypen werden gleichwertig. Das deutet sich an bei Adolf Tren~~lenburg, der in seiner 1847 publizierten Abhandlung Uber den letzten Unterschied der philosophischen Systeme auf den idealistischen »Platonismus«, den dogmatistischen »Spinozismus« und den skeptizistisch-positivistischen »Demokritismus« stieß; klar durchgeführt aber wird die These von den drei gleichwertigen Philosophietypen ab 1897 beim Trendelenburg-Schüler Wilhelm Dilthey, der 1911 zusammenfassend über Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen schrieb und wiederum die gleichen - nunmehr gleichwertigen - drei Typen entdeckt: den »Idealismus der Freiheit«; den >>objektiven Idealismus« und den »Naturalismus«. Hans Leisegangs »Denkformenforschung«- darum hab ich hier auf die Weltanschauungstypologien hingewiesengehört (mit zwei wesentlichen Abweichungen, auf die ich alsbald kommen werde) in die Tradition dieser Weltanschauungstypologien hinein; und er kommt - vom Buch Denkformen von 1928 bis zu seinem 1951 postum er-
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schieneneo Buch Meine Weltanschauung- seinerseits auf jene drei Grundformen 'der Philosophie, die weltanschauungstypologisch schon vor ihm zur Debatte standen. Leisegang nennt sie: »Idealismus«, >>Mystik und Panvitalismus« und »Materialismus«. Leisegangs »Denkformenforschung« teilt - bei ihrem Blick auf diese Typen - mit der Tradition der Weltanschauungstypologien deren entscheidendes Motiv. Das ist die Positivierung der Pluralität der Philosophien; es ist - anders gesagt - der philosophische Pluralismus. Hans Leisegang- der wohl nicht zufällig sein schönstes Buch, das über Lessings Weltanschauung, das 1931 erschien, jenem Dichterdenker gewidmet hat, der die Pluralität der Religionen positivierte, indem er die Ringparabel erfand- Hans Leisegang vertritt einen philosophischen Pluralismus: das - meine ich - macht seine Philosophie gerade heute aktuell. Er vertritt ihn, indem er das pluralistische Motiv der Weltanschauungstypologie aufgreift und zugleich a~wandelt und dadurch zu einer Sonderstellung kommt. Uber diese Sonderstellung von Hans Leisegang handelt mein Abschnitt: 2. Denkformenforschung. Die Weltanschauungstypologie nimmt die Pluralität der Philosophen ganz und gar ernst und positiviert diese Pluralität: sie ist kein Defekt, sondern Normalität; sie ist keine negative Vorläufigkeit, sondern positive Unvermeidbarkeit; sie ist keine mißlungene Progressivität und Absolutheit der Philosophie, sondern gelungene Menschlichkeit der Philosophie. In diesem Sinn meint auch Hans Leisegang, »daß es nicht nur eine Denkform[ ... ] gibt<< (Denkformen, 21951, S. 20), sondern »verschiedene Denkformen geben muß<< (S. 15), »eine Mannigfaltigkeit der Denkformen<< (S. 20). Das ärgert zwar jene, die einen einzigen alleinseligmachenden Einheitsfortschritt wollen und schon bei der definitiven Einheitsphilosophie angekommen zu sein glauben. So hat etwa Georg Lukacs - in seinem Buch Die Zerstörung der Vernunft,
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das selber die »indirekte Apologetik<< einer Vernunftzerstörung war - die Weltanschauungstypologie als Portschrittsverweigerung kritisiert. Doch das war Pluralitätsverweigerung. Sie muß ihrerseits kritisiert werden, weil sich die Utopie des totalen Einheitsfortschritts kompromittiert, indem sie die Pluralität selbst noch der Fortschritte mißachtet und im Namen der totalen Einheitsbefreiung die Menschen gerade von ihren Freiheiten befreit und zugunsten der Einheitsphilosophie die anderen Philosophien verbietet. Wir leben heute im Zeitalter der Portschrittsernüchterung und der Dezentralisierungen: gerade dort wird der Sinn für die Pluralität auch der Philosophien unabweisbar. Die Enttäuschung der emanzipatorischen Naherwartung- gerade sie- macht so die »Denkformenforschung« aktuell. Dabei war Hans Leisegang nicht bereit, für die Verteidigung der Denkformenpluralität jenen Preis zu zahlen, den die Weltanschauungstypologien in der Regel zu zahlen bereit waren: den Verzicht auf die Wahrheitsfrage. Die Weltanschauungstypologien neigten zur Überzeugung, daß der Unterschied der Philosophien im Unterschied der psychischen Konstitution und des Lebensgefühls ihrer Anhänger wurzelt: man denkt so, wie man denkt, weil man psychisch anders gebaut ist als die, die anders denken. Das meint Leisegang - zerstört die wechselseitige Verstehbarkeit der unterschiedlichen Ansätze, auf der Hans Leisegang gerade bestand, dessen Philosophie - ausgehend von der Frage seiner Frühschriften über den späteren Platonismus, über den Problemkreis »Heiliger Geist<< bzw. »Pneuma Hagion«, über die hellenistische Philosophie und die Gnosis, warum antike Philosophie und orientalische Religionen einander nicht verstanden haben- >>ganz« (wie er in den Denkformen schreibt) »dem Verstehen und der Möglichkeit des Verstehens fremden Geistes überhaupt gewidmet« ist (III). Wer verstehen will, muß fremde Positionen argumentativ nachvollziehen können: er darf die
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Wahrheitsfrage nicht preisgeben. Ich halte es für eine zentrale Leistung von Hans Leisegang, daß seine Denkformenforschung einerseits - wie die Weltanschauungstypologien- den Pluralitätssinn gestärkt hat, zugleich aber anders als die Weltanschauungstypologien - die Wahrheitsfrage festgehalten hat: auch und gerade das macht seine Philosophie aktuell. Wie ist eine Typologie der philosophischen Denkformen ohne Preisgabe der Wahrheitsfrage möglich? Sie istdas war Leisegangs Antwort - möglich, wenn man die Pluralität der philosophischen Denkformen nicht psychologisiert, sondern aus der Vielfalt der zu erkennenden Wirklichkeitsgebiete herleitet. Jede Denkform entsteht aus dem Blick auf ein bestimmtes Wirklichkeitsgebiet, eine bestimmte Wrrklichkeitsschicht; und die Philosophien und ihre - wie Leisegang sagt - »Logiken« sind mehrere und verschieden, weil sie sich an verschiedenen Wirklichkeitsgebieten orientieren: was für eine Philosophie man wähle, hängt sonach davon ab, an was für einem Wirklichkeitsgebiet man sich orientiert. Solche Wirklichkeitsgebiete schreibt Leisegang - sind: »das handwerkliche und künstlerische Schaffen« der Menschen mit ihren »Plänen« und »Ideen«, an denen der »Idealismus« sich orientiert; der »Lebensprozeß des Organismus«, an dem der» Panvitalismusund die Mystik« sich orientieren; die >>toten Materieteilchen<< als quantifizierbare >>Größen«, an denen der »Materialismus« sich orientiert. Der »Idealismus« denkt in >>Begriffspyramiden«, der »Vitalismus« denkt in »Gedankenkreisen«, der >>Materialismus« denkt in »Linien« und zählbaren Größen. Zum >>Idealismus« gehört die aristotelische Logik, zum >>Vitalismus« die dialektische Logik, zum »Materialismus« die mathematische Logik. Jede der verschiedenen philosophischen Denkformen erschließt eine andere - aber jeweils wirkliche - Wirklichkeit. Sie - in dieser Form bewahrt Leisegang die Wahrheitsfrage - bleibt »wahr«, solange sie die von ihr erschlossene
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und für sie leitende Wrrklichkeit mit der an ihr gewonnenen Denkform interpretiert; sie wird »falsch«, sobald sie ihre Denkform - reduktionistisch - auf Wirklichkeiten überträgt, wo sie nicht hingehört, also wenn sie sich absolut setzt und sich - durch eine Gleichschaltung der gesamten Wirklichkeit - sozusagen totalisiert; sie wird zur Wahrheit zurückgerufen, indem jede Denkform in ihre Schranken gewiesen wird: dadurch, daß es die anderen Denkformen gibt. Es ist also nicht die verschiedene psychische Ausstattung des Philosophen, die ihn die Philosophie haben läßt, die er hat; es ist vielmehr das bestimmte Wirklichkeitsgebiet - Artefakte, Organismen, quantifi.zierbare Materie - an dem und für das sich seine Denkform - wahrheitsfähig - entwickelt: die Pluralität der Philosophien- der Pluralismus der Denkformen-ist fundiert in der Pluralität der Wirklichkeitsgebiete, im Pluralismus der Wirklichkeit. Es liegt in der Konsequenz dieses Ansatzes von Hans Leisegang, die Pluralität der »Denkformen« nicht streng an die Dreizahl von Typen zu binden, die die Tradition der Weltanschauungstypologien vorgegeben hatte. Leisegang - und das ist eine andere große Leistung von ihm favorisiert die Öffnung der Typologie. So entdeckt er selber Zwischenformen: etwa Hegels Denkform des »Kreises von Kreisen« oder die mancherlei Legierungen von zyklischem und linearem Geschichtsdenken. Es muß - meint er- der »Denkformenforschung« überlassen bleiben, welche Vielfalt von Wirklichkeiten und Denkformen sie über die überlieferte Dreifalt hinaus weiterhin zu entdecken vermag. Diese Forschungsmaxime verstärkt den Pluralitätensinn der Philosophie. Doch stets gilt: die Pluralität der Philosophien- der Pluralismus der Denkformen-ist fundiert in der Pluralität der Wirklichkeitsgebiete, im Pluralismus der Wirklichkeit. Dazu Weiteres im abschließenden Abschnitt:
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3. Gewaltenteilung. Die >>Denkformenforschung« von Hans Leisegang begründet also den Pluralismus der Philosophien im Pluralismus der Wirklichkeit: sie verstärkt dadurch den Pluralismus überhaupt, und das ist gut. Aber warum ist es gut? Warum ist Pluralismus gut? Warum ist die Mehrzahl von Philosophien gut? Warum ist Pluralismus der Wirklichkeit gut? Warum ist der Pluralismus der Denkformen gut und aktuell? Man kann auf mancherlei hinweisen. So gibt es - beispielsweise - den Pragmatisierungseffekt des Pluralismus der Philosophien. Eine unfehlbarkeitspflichtige Alleinphilosophie wittert überall Häresien: sie leidet an Verfolgungswahn, der in Verfolgerwahn umschlägt. Ein pluralistisches Philosophenensemble hingegen kann libeal sein: es weiß, daß die Philosophie, die sich seit 2500 Jahren in Grundsatzfragen nicht geeinigt hat, dies in den nächsten drei Monaten wahrscheinlicherweise auch nicht tun wird; darum fällt es ihr leichter, ihre kurz- und mittelfristigen Probleme nicht grundsätzlich, sondern pragmatisch zu regeln. Auch ist der Pluralismus der philosophischen Denkformen- beispielsweise - interdisziplinaritätsdienlich. Das ist der Grund, aus dem an fachübergreifenden Gesprächen Philosophen überproportional beteiligt sind. Offenbar bringen sie - und auch das liegt am Pluralismus der Philosophie - aus ihrer Fachtradition, einer zweieinhalbtausendjährigen Tradition der Nichteinigung über Grundsatzpositionen - etwas mit, was interdisziplinär nützlich ist: nämlich leben zu können mit offenen Aporien und Dissensüberschüssen. Das uralte fachliche Laster der Philosophen - ihr chronisches Konsensdefizit - erweist sich als hochmoderne interdisziplinäre Tugend: vor allem als Fertigkeit, Gesprächskonfusionen unentmutigt zu überstehen und damit auf die Vertreter anderer Fächer anstekkend zu wirken. All das findet sich bei Hans Leisegang zwar nicht ausdrücklich formuliert; doch ich glaube, er würde nicht widersprechen, weil es in der Konsequenz
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seiner »Denkformenforschung<< liegt, die auch aus diesem Grunde aktuell ist. Warum ist Pluralismus der Philosophien und der Wrrklichkeit gut? Die wichtigste Antwort- die, die die Aktualität der Philosophie von Hans Leisegang am meisten unterstreicht - scheint mir diese zu sein: der Pluralismus der Denkformen ist eine Form der Gewaltenteilung. Gewaltenteilung aber- vor allem sie - ermöglicht und sichert individuelle Freiheitsspielräume. Montesquieu hat im beriihmten Abschnitt über die englische Verfassung in De l'esprit des lois diese Freiheitswirkung der politischen Gewaltenteilung - der Teilung von Legislative, Exekutive und Jurisdiktion- betont. Diese Freiheitswirkung hat die Gewaltenteilung - über diesen wichtigen politischen Spezialfall hinaus - allgemein. Individuelle Freiheit gibt es nur dort, wo das Individuum nicht dem Alleinzugriff einer einzigen Alleingewalt unterworfen ist, sondern wo mehrere -voneinander unabhängige - Gewalten existieren, die beim Zugriff auf den Einzelnen durch Zugriffsgedrängel einander wechselseitig beim Zugreifen hemmen und begrenzen: einzig dadurch, daß jede dieser Gewalten den Zugriff jeder anderen einschränkt und mildert, gewinnen die Menschen ihre individuelle Freiheit gegenüber dem Alleinzugriff einer jeden. Das ist die allgemeine Freiheitswirkung der Gewaltenteilung. Es muß eine Pluralität von Wirklichkeitsmächten geben, damit individuelle Freiheit sein kann. Darum - beispielsweise - dürfen die Menschen -jeder Mensch für sich und alle Menschen zusammennicht nur eine Geschichte haben, sondern sie brauchen viele Geschichten; und entsprechend dürfen die Philosophen - jeder Philosoph für sich und alle Philosophen zusammen - nicht nur eine Denkform haben, sondern sie brauchen viele Denkformen. Jede befreit den Einzelnen von der Macht der jeweils anderen und sichert ihm dadurch den Freiheitsspielraum fürs Selberleben und Seiherdenken. Die Pluralität von Denkformen, die Hans Lei-
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segang geltend gemacht hat, ist Gewaltenteilung im Reiche des Geistes: ihre Freiheitswirkung ist unüberbietbar aktuell. Es gibt derzeit das Unbehagen an der Philosophie, dasweil die zur Einheitsideologie verkehrte Philosophie Ungutes angerichtet hat - am liebsten gar keine Philosophie mehr haben will. Doch das wäre ein schwerer Fehler; denn: gegen Philosophie hilft nur Philosophie; und gegen die pseudophilosophische Einheitsideologie hilft nur jene Philosophie im Plural, die - durch Gewaltenteilung i.m Reiche des Geistes - gerade die Vielfalt ihrer Denkformen respektiert und fördert: ihre synchrone Pluralität durch eine Mehrzahl systematischer Ansätze und ihre diachrone Pluralität - das ist nicht hoch genug zu veranschlagen durch die Geschichte der Philosophie. Darum beende ich meinen Vortrag, indem ich an jene Formulierung anknüpfe, mit der ich begonnen hatte. Man spricht von »der« Philosophie. Aber die Philosophie ist nur im Plural wirklich: durch Philosophien, die mehrere Philosophien oder gar viele Philosophien sind. Wer der Philosophie diesen Plural verbietet, macht sie zur Nichtphilosophie. Dagegen - gegen diese pluralitätsverweigernde Verkehrung der Philosophie in Nichtphilosophie - hat sich Hans Leisegang durch seine Lehre von den Denkformen gewehrt, die den Sinn für die Gewaltenteilung in der Philosophie weckt und pflegt. Darin vor allem - meine ich - liegt Hans Leisegangs philosophische Bedeutung, darin liegt seine philosop~sche Aktualität, und dafür haben wir ihm dankbar zu sein.
Einheitswissenschaft oder Wissenschaftspluralismus?
»Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte«: dieser Satz steht - einige werden das wissen - bei Karl Marx im Feuerbachteil der Deutschen Ideologie. Er proklamiert die Geschichte als Einheitswissenschaft. Das steht in der Tradition des deutschen Idealismus, derzufolge - wie Hegel es formulierte die >>Wissenschaft<< nur >>als System wirklich« und das System die Einheitswissenschaft ist als die große Einheitsgeschichte mit der Einheitsmethode der >>Dialektik<<. Ich schicke dies voran, um Sie daran zu erinnern, daß es die Proklamation der Einheitswissenschaft nicht nur im >>Monismus<< um 1900 und im >>Physikalismus<< des Wiener Kreises in den zwanziger und beginnenden dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts und - im wesentlichen unausgesprochen - im gegenwärtigen Neoevolutionismus gegeben hat, sondern auch zu anderen Zeiten in anderen Denkrichtungen. Und ich ergänze diesen Hinweis durch die Vermutung: Die Tendenz zur Einheitswissenschaft ist keine reine Wissenschaftstugend, sondern eher ein Wissenschaftslaster, weil sie Scheuklappen produziert und Merkverbote verhängt. Darüber möchte ich hier - ohne jede Vollständigkeitsprätention - einige Überlegungen anstellen, und zwar in folgenden vier Abschnitten: 1. Monotheismus und Monismus; 2. Wissenschaftstheorie und Einheitswissenschaft; 3. Pluralismus der Wissenschaftskulturen; 4. Einheitswissenschaft vom Menschen? Ich beginne - den Üblichkeiten entsprechend - mit Abschnitt: 1. Monotheismus und Monismus. Die Einheit der Wissenschaften - heißt es - gründet in der Einheit der Wirklichkeit. Es muß die Wissenschaftseinheit geben, weil es die
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Einheit der Wirklichkeit gibt. Aber gibt es die Einheit der Wirklichkeit? Ist sie selbstverständlich? Seit wann ist sie selbstverständlich? Man liegt sicher nicht völlig falsch, wenn man die ausdrückliche These von der Einheit der Wrrklichkeit mit dem Monotheismus zusammenbringt: weil Gott der eine einzige Gott ist, ist auch die Wirklichkeit - seine Schöpfung - die eine einzige Wirklichkeit. Die Wirklichkeitseinheitsthese ist eine religiöse These. Dieses religiöse Motiv meine ich - steckt auch noch in der modernen Tendenz zur Einheitswissenschaft, zum Monismus: sie vollstreckt den Monotheismus oder kompensiert seinen Zerfall oder tut irgendwie beides. Dabei gilt der Weg von der Religion zur Wissenschaft und der Weg vom Monotheismus zum Monismus als Fortschritt. Besonders eindrucksvoll hat diese Portschrittsthese Auguste Comte formuliert in seinem >>loi de 1'evolution intellectuelle de l'humanite Oll loi des trois etats«, also in seinem Dreistadiengesetz, das er zuerst 1822 aufgestellt hat in dem von ihm so genannten >>opuscul fondamental«, seinem Prospectus des travaux scientifiques necessaires pour reorganiser Ia societe. Dort lautet - in Übersetzung - die Formulierung dieses Gesetzes folgendermaßen: »In der Natur des menschlichen Geistes ist es begründet, daß jeder Zweig unseres Wissens notwendig drei aufeinanderfolgende theoretische Stadien zu durchlaufen hat: das theologische oder fiktive, das metaphysische oder abstrakte und das wissenschaftliche oder positive Stadium.« Dieses Dreistadiengesetz behauptet den unaufhaltsamen Fortschritt zu immer mehr und immer besserer Wissenschaft. Am finstern Anfang war statt Wissenschaft nur Religion; in der dämmrigen Mitte war statt Wissenschaft nur Metaphysik; am hellen Ende ist schließlich das, was sein soll: Wissenschaft und nur mehr Wissenschaft. Erst regierte die Illusion: Gott, die Schöpfung, die Theologie; dann regierte die Spekulation: der Begriff, das
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System, die Metaphysik; schließlich regiert das Experiment: die Tatsachen, die positiven Wissenschaften und das »voir pour prevoir pour prevenir<<. Erst herrschen - illusionär- die Mythen; dann herrschen- revolutionär- die Abstraktionen; schließlich herrscht - positiv - nur noch die Wirklichkeit, und zwar deswegen, weil jetzt die Wirklichkeitswissenschaften triumphieren. Das sind - Auguste Comte hat das durch sein >>enzyklopädisches Gesetz<< dekretiert - Mathematik, Astronomie, Physik, Chemie, Biologie und die »physique sociale<<, die Soziologie, deren edelster Teil die Wirtschaftswissenschaften sind. Die Exekutoren der Wissenschaft sind die Technologen, ihre Feldherren sind die Manager. So kann man auch sagen: einst im theologischen Stadium - waren die Menschen Kinder, die alles - vor allem das Illusionäre - glaubten; dann - im metaphysischen Stadium - wurden die Menschen revoltierende Pubertäre, die nichts mehr glaubten; schließlich im positiven Stadium - wurden die Menschen Erwachsene, die durch die positiven Wissenschaften und ihren »esprit positif« wirklichkeitsfähig geworden sind. Die Menschen: erst waren sie babies; dann wurden sie teenager; jetzt sind sie man-ager: Manager. Dieses Dreistadiengesetz, dieses Fortschrittsgesetz der Wissenschaften, das nicht meine Meinung wiedergibt, sondern die Meinung von Auguste Comte, der sie 1830-42 in seinem Cours de philosophiepositive ausführlich dargelegt und 1844 in seinem Discours sur l'esprit positif knapp zusammengefaßt hat, ist - meist in Varianten - heute die fast selbstverständlich herrschende Hintergrundlehre dort, wo der Standpunkt des Fortschritts zur Wissenschaft und durch Wissenschaft als entscheidender Wirklichkeitsmacht insbesondere der modernen Welt vertreten wird mit dem Imperativ: wo Nichtwissenschaft war, soll Wissenschaft sein. Diese Fortschrittsthese, wie etwa das Dreistadiengesetz sie formuliert, destruiert die von mir vermutete Ausgangslage: die Begründung der Wirklichkeitseinheit durch den
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Monotheismus, durch den einen Gott. So muß sie - soll die Wirklichkeitseinheitsthese im positiven, im wissenschaftlichen Zeitalter aufrechterhalten werden - durch eine neue Form der Einheitsthese ersetzt werden. Darum tritt- modern- an die Stelle der Religion der einen Wirklichkeit des einen Gottes das Programm der einen Wissenschaft: die - wie Kant das nannte - >>regulative Idee« der Wirklichkeitseinheit durch die >>eine Erfahrung<< der Wissenschaft, die seit Ende des 19. Jahrhunderts zugespitzt wird durch den Monismus und im 20.Jahrhundert radikalisiert wird durch die physikalistische These der Einheitswissenschaft. Das religiös monotheistische Motiv der Wirklichkeitseinheit wird modern säkularisiert - sein Impuls wird vollstreckt, oder sein Zerfall wird kompensiertdurch das Postulat des Monismus, das Programm der Einheitswissenschaft. Dazu einiges Weitere im Abschnitt: 2. Wissenschaftstheorie und Einheitswissenschaft. Der Fortschritt zur Wissenschaft und durch Wissenschaft verlangt das Ausrangieren: es muß dasjenige vergessen, neutralisiert oder abgeschafft und weggeworfen werden, was den Fortschritt hemmt: also etwa - im Sinne von Comtes Gesetz - die Religion oder die Metaphysik. Dafür allerdings muß man einen Preis zahlen: daß - in den positiven Wissenschaften - nicht mehr alles zur Debatte stehen kann, was zuvor religiös und metaphysisch und in den Kulturtraditionen im Blick war. Ich nenne einige Beispiele: Wo bleibt in der empirischen Wissenschaft Psychologie die Seele und in den Kognitionswissenschaften der künstlichen Intelligenz der Geist? Philosophy of mind: never mind. Wo bleibt in der astrophysikalischen Kosmologie die menschliche Lebenswelt, in der wir Menschen tagtäglich unser Leben durchleben und durchsterben müssen? Wo bleibt in den harten Wissenschaften das Thema Gott, Freiheit, Sinn? Wo bleiben in der Evolutionsbiologie das Individuum, die Traditionen, die Geschichten? Offenbar
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bringen die modernen empirischen Wissenschaften nicht nur - was hier keineswegs geleugnet werden soll - Erkenntnisgewinne, sondern sie bringen auch Problemverluste. Dabei kommt es gleichzeitig zum Versuch, diese Prahlernverluste zu verdecken. Je mehr die Wissenschaften zu harten, exakten, empirischen Wissenschaften werden, neigen sie und die ihnen nahestehenden Philosophien dazu, eine Theoriedebatte zu führen, in welcher Wissenschaftstheorie produziert wird. Von Kants Theorie der Erfahrung über den Neukantianismus bis zum Positivismus und zur analytischen Philosophie und zum Konstruktivismus kommt es zur wachsenden Konjunktur der Wissenschaftstheorie. Die empirischen Wissenschaften entwikkeln -während sie Probleme nicht nur gewinnen, sondern auch verlieren - das Interesse, zu sagen, was Wissenschaft sei und was nicht. Das bedeutet mindestens zweierlei. Es bedeutet erstens: der Wissenschaftsbegriff wird allgemein so festgelegt, daß überhaupt keine Wissenschaft mehr bei Androhung der Strafe, andernfalls ihre Wissenschaftlichkeit abgesprochen zu bekommen - die verlorengegangenen Probleme behandeln darf. Der Ertrag dieses Unternehmens ist, daß fortan diese Problemverluste nicht mehr auffallen. Die Wissenschaftstheorie fungiert als der Versuch, die modern wissenschaftlichen Problemverluste unauffällig zu machen, indem sie - etwa durch Anhebung der Exaktheitsstandards - ausschließt, daß die verlorengegangenen Probleme Probleme sind und ihr Verlust ein Verlust ist. Zweitens übernimmt die Wissenschaftstheorie Ontologiefunktion, indem sie dekretiert: Das Feld möglicher Probleme ist das Feld der im Sinne der Wissenschaftstheorie möglichen wissenschaftlichen Probleme. Von allem, was ist, ist genau nur dasjenige bemerkenswert, erörterungsfähig und erörterungswürdig, was wissenschaftsfähig ist. »Natur« - schrieb Hermann Cohen»ist nur als Naturwissenschaft gegeben«; Geschichte -
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meinten Positionen de,r sogenannten Theoriedebatte der Geschichtswissenschaften in den sechziger Jahren- ist nur als Geschichtswissenschaft gegeben. Aber das stimmt nicht: Natur ist etwa als Umwelt, etwa als Landschaft oder als Leiblichkeit gegeben; Geschichte ist primär als lebendige Tradition gegeben, als das Ensemble der Üblichkeiten, in denen wir leben. Aber die Wissenschaftstheorie dekretiert: Alles, was nicht wissenschaftsfähig ist, ist unwichtig und unwirklich. So wird z. B. der Tatbestand, daß man Probleme in letzter Instanz immer durchs je eigene Leben lösen muß, uninteressant und unauffällig. Nichtwissenschaftliche Probleme sind Scheinprobleme. So muß nach dem >>Abgrenzungskriterium« zwischen Wissenschaft und Unwissenschaft gesucht werden: das führt schließlich zum Postulat einheitlicher Kriterien der Wissenschaft und damit zum Programm der Einheitswissenschaft. Das beginnt - teilweise diffus und skurril - im »Monismus« Ende des 19. Jahrhunderts im Anschluß an die Zeitschrift The Monist seit 1890. Ernst Haeckels >>Monismus« - evolutionär gestimmt - erklärte die Wissenschaft zur Weltanschauung; das führte zum >>Monistenbund« und zu Wilhelm Ostwalds Monistischen Sonntagspredigten; man könnte sagen, daß ~nachdem die Weltkriege den Fortschrittsoptimismus unterbrachen - nach 1968 eine Wiederholung des Monismus zum Ausweg für die ermattende Revolutionsstimmung wurde; zugleich mit dem >>langen Marsch durch die Institutionen« interessierte der lange Marsch durch die Arten; man kann unsere gegenwärtige Wissenschaftsstimmung als die eines Neo-Monismus charakterisieren. Nach dem Ersten Weltkrieg folgte dem Monismus - im früheren Wiener Kreis durch Carnap und Neurath - das Programm der Einheitswissenschaft durch »Physikalismus«. Kant hatte- in seinen Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft- »behauptet«, »daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als
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darin Mathematik anzutreffen ist<< (Akademie-Ausgabe, Bd. 4, S. 327); jetzt soll die mathematische Physik zur Universalwissenschaft werden, was ihr auch erleichtert, ultrateure Apparate - man denke an CERN - zu erlangen und rund um den Urknall als empirisierte Quasimetaphysik zu agieren. Physik ist gut; Metaphysik ist billiger: aber diese Kosten-Nutzen-Analyse wird heute vom Zeitgeist nicht geschätzt und abgelehnt. So bleibt - wie in den Annalen der Philosophie und ihrer Nachfolgezeitschrift Erkenntnis - die Physik die eigentliche Wissenschaft in der Wissenschaft; und im Anschluß an die »physikalistische« Einheitswissenschaftsthese des Wiener Kreises kommt es zur Extremthese: Es gibt nur Physik oder Unsinn. Diese Aussage- ich nenne das die >>monistische« Paradoxie- selber ist nicht Physik. Was ist sie: Unsinn? Hier ergaben sich Probleme, die die Mitglieder dieses Kreises, insbesondere nach deren Emigration, zu differenzierteren Positionen der >>analytischen Philosophie« weitertrieben, zur >>Ordinary Language-Philosophy« und wieder zur Metaphysik. Entscheidend aber war zunächst - als Implikation der >>physikalistischen« Einheitswissenschaftsthese - die Abwehr physiküberschreitender Probleme als Unsinn; daraus ergibt sich ihre Ohnmacht. Denn der wirksamste Effekt dieser Ächtung der physiküberschreitenden Probleme als Unsinn ist die Vergleichgültigung der Unterschiede innerhalb dieses- eminent lebensbedeutsamen- >>Unsinns«: es wird gleichgültig, ob dieser vermeintliche »Unsinn« vernünftig oder unvernünftig gelebt wird. Das - meine ich meldet, daß die Einheitswissenschaftsthese- wie ich meine: jede Einheitswissenschaftsthese - dem Rationalitätserfordernis des menschlichen Lebens nicht gewachsen ist. Daraus ziehe ich einige Folgerungen in Abschnitt: 3. Pluralismus der Wissenschaftskulturen. Zu diesen Folgerungen gehört diese: Es muß - wenn es nicht zur »monistischen Paradoxie« kommen soll - mehr Wissenschaften
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geben als nur eine; dafür reichen halbe Maßnahmen wie die Typentheorie und ctie Erfindung von »Meta«-Diskursen nicht aus: nötig ist Wissenschaftspluralismus. Es braucht mehrere, also mindestens zwei Wissenschaftskulturen, schon um jene Problemverluste zu kompensieren, die - diesseits aller Erkenntnisgewinne - zum Fortschritt zu den harten Wissenschaften und in den harten Wissenschaften gehören. Dafür brauchtes-zum Beispiel (aber keineswegs ausschließlich nur) - die Geisteswissenschaften: ich halte mich hier aus Zeitnot an dieses Beispiel. Je moderner die harten Wissenschaften werden, desto unvermeidlicher werden die Geisteswissenschaften. Darum entstanden diese spezifisch modern, und zwar entgegen der herrschenden Meinung - erst nach den modernen- den harten- Naturwissenschaften: als Antwort auf deren Problemverluste. Vico kommt nach Descartes; Dilthey kommt nach Kant; die Genesis der Naturwissenschaften - man denke an Galilei, Torricelli, Boyle, Newton, Lavoisier- kommt vor der Genesis der Geisteswissenschaften: Winckelmann, Heyne, Herder, Grimm, Bopp, Niebuhr, Ranke, Droysen, Burckhardt usf. Modern begannen zuerst die harten Naturwissenschaften ihren Erfolgslauf; erst dann kamen die Geisteswissenschaften. Gegen die Reduktionskultur der exakten Wissenschaften retten sie die Kontinuitätskultur: was in der Laborwelt ausgeklammert werden muß, um zu messen und zu experimentieren, nämlich die Traditionen und Geschichten, halten die Geisteswissenschaften fest: durch Kontinuitätskultur, indem sie jene Geschichten - Sensibilisierungsgeschichten, Bewahrungsgeschichten, Orientierungsgeschichten - erzählen, ohne die die Menschen austauschbare Erfahrungsobjekte statt ganze Menschen sind: Kittelträger in der Laborwelt statt Geschichtenbetroffene in der Lebenswelt. Je moderner die moderne Welt wird, desto unvermeidlicher werden die Geisteswissenschaften: als Kompensation jener Problemverluste, die die moder-
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nisierenden harten Wissenschaften - zugunsten ihres Erkenntnisfortschritts - ebenso unvermeidlich erleiden, indem zu den messend-experimentierenden Wissenschaften die erzählenden Wissenschaften treten: die Geisteswissenschaften. Aber dürfen denn Wissenschaften erzählen? Die Wissenschaftstheorie ist gegen das Erzählen. Aber das spricht nicht gegen das Erzählen, sondern gegen die Wissenschaftstheorie. Auch wenn diese moniert, daß, wer mit Geschichten argumentiert, das wissenschaftliche Soll an Eindeutigkeit unterbietet, so daß es in den Geisteswissenschaften zur Mehrdeutigkeit oder Vieldeutigkeit kommt, macht sie den Geisteswissenschaften einen falschen Einwand und übersieht: Eindeutigkeit - sieht man von den (freilich ganz wesentlichen) Hilfsoperationen ab: Datierung, Quellenkritik und dergleichen - ist in den interpretierenden Geisteswissenschaften kein Ideal, das nicht erreicht wird, sondern eine Gefahr, der es zu entkommen gilt. Man muß merken, wogegen die Vieldeutigkeit nötig wurde und daß es Blut, Schweiß und Tränen gekostet hat, die Eindeutigkeit gerade loszuwerden. Denn die Geisteswissenschaften sind auch eine - späte - Antwort auf die Tödlichkeitserfahrung der konfessionellen Bürgerkriege, die hermeneutische Bürgerkriege waren; denn man schlug einander tot im Kampf um das eine absolut richtige Verständnis des einen absoluten Buchs, der Bibel, und späterhin der einen absoluten Geschichte. Stabilen hermeneutischen Frieden fand man erst, als man entdeckte: es gibt nicht nur ein Buch und nicht nur eine Geschichte, sondern es gibt viele Bücher (die Literatur) und viele Geschichten (die pluralistischen Kulturen) und den Kulturpluralismus, und es gibt bei jedem Buch und jeder Geschichte nicht nur eine Möglichkeit des Verständnisses, sondern viele Möglichkeiten, die man pflegen muß durch Hermeneutik der Verstehensvielfalt: durch die Geisteswissenschaften. Sie antworten auf das Trauma des hermeneu-
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tischen Bürgerkriegs - der aus der rasend gewordenen Rechthaberei der Eindeutigkeit entsteht - durch den Ausbau jener wohltätigen Errungenschaft, die die Vieldeutigkeit ist. So braucht es nicht nur die messenden und experimentierenden Laborwisssenschaften, für die die Eindeutigkeit lebensnotwendig ist, sondern auch die Lebensweltwissenschaften, für die Vieldeutigkeit ein Gewinn ist. Die Menschen brauchen also eine Pluralität der Wissenschaften, die ihre Defizite wechselseitig kompensieren. Eine Wissel).schaftstheorie, die nur eine Wissenschaftssorte zuläßt und damit eine Einheitswissenschaft proklamiert, produziert Scheuklappen und verhängt Merkverbote. Die Einheitswissenschaft reduziert die menschliche Fragefähigkeit; darum ist Wissenschaftspluralismus nötig. Dadurch entsteht das Problem der Kooperationsfähigkeit einer Mehrzahl oder Vielzahl von Wissenschaften, verschärft durch die heutige Situation der vielen Spezialisierungen, die zur modernen Wissenschaft gehören. Aber die Antwort auf dieses Problem ist nicht die Einheitswissenschaft, sondern die Interdisziplinarität. Dazu nun einige Bemerkungen im Blick auf ein einschlägiges Großbeispiel im abschließenden Abschnitt: 4. Einheitswissenschaft vom Menschen? Das gemeinte Großbeispiel ist der Mensch, um den sich viele Wissenschaften bemühen. Alle Geisteswissenschaften sind Wissenschaften vom Menschen. Aber nicht alle Wissenschaften vom Menschen sind Geisteswissenschaften. Denn es gibt auch - darunter experimentelle - Naturwissenschaften vom Menschen: das große Beispiel sind die Kernfächer der Humanmedizin; und eine der bedeutsamen Wissenschaften vom Menschen ist die Biologie. Es ist erforderlich, sich Gedanken darüber zu machen, wie man die Humanwissenschaften - einschließlich der pragmatischen Handlungswissenschaften: der Jurisprudenz, der Ökono-
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mie sowie der Psychologie, Pädagogik, Soziologie, gegebenenfalls auch der Theologie - aus ihren pragmatischen, naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Isolierungen heraus- und zur Zusammenarbeit zusammenführen kann. Diese Intention hat immer wieder einmal zur Idee einer Gesamtwissenschaft - einer Einheitswissenschaft- vom »ganzen Menschen<< geführt; und als diese Gesamtwissenschaft - diese Einheitswissenschaft - vom »ganzen Menschen<< galt - neuzeittraditionell - die »Anthropologie<<. Wolf Lepenies - unter anderem in seinem Buch Das Ende der Naturgeschichte von 1978- hat einschlägig auf einen wichtigen Tatbestand hingewiesen: daß nämlich die Institutionalisierung dieser Gesamthumanwissenschaft >>Anthropologie« - von der die Disziplinengeschichtler wissen, daß (nach einem Vorlauf um 1772) die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts die Blütezeit ihrer Blütenträume war - in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (trotz aller >>anthropologischen Gesellschaften<<) mißlang: paradoxerweise wurde sie - durch den langsamen Sieg des evolutionären über das klassifizierende Denken - dort schließlich möglich wie nie zuvor und zugleich dem Anschein nach überflüssig. Etwa Darwin dekretierte »man is no exception«, der Mensch ist - gegenüber den anderen Lebewesen- »keine Ausnahme<<; so wurde im 19.Jahrhundert statt der Anthropologie die Biologie edolgreich institutionalisiert. Aus ihr wurde das Thema der Besonderheiten - des ausnahmehaften Individuellen - und der Sonderbarkeiten des Menschen ausgeschlossen; seiner nehmen die Geisteswissenschaften sich an: so - und man sollte dabei folgende Publikationsdatensequenz vor Augen haben: 1859 Darwins Origin of Species; 1871 Darwins Descent of Man; 1885 Diltheys Einleitung in die Geisteswissenschaften - so kam es gewissermaßen als Konsequenz der mißlungenen Institutionalisierung der Anthropologie gegen Ende des 19. Jahrhunderts zur endgülti-
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gen theoretischen und institutionellen Durchsetzung der Geisteswissenschaften. · Dieser Verlauf - die Nichtinstitutionalisierung der Anthropologie als Gesamtfach und Einheitshumanwissenschaft- ist kein Unglück: im Gegenteil. Nicht nur konnten sich die Geisteswissenschaften fortan weiterhin frei und bunt entwickeln. Ebenso konnten die Sozialwissenschaften ihre Pubertät wenigstens halbwegs in disziplinärer Quarantäne absolvieren. Zugleich konnte auch die evolutionäre Biologie eigenständig lernen, daß sie - dUJ:ch den Erfolg des Entwicklungsgedankens: weil man zwar mögliche Entwicklungen auswürfeln kann, wirkliche Entwicklungen aber erzählen muß - ihrerseits (ähnlich wie die evolutionäre Urknall-Kosmologie) zur erzählenden Wissenschaft wird. Ein Hemmnis dabei bleibt, daß bisher die Evolution nur als Alleingeschichte hin auf den Menschen erzählt wird. Für die Evolutionstheorie ist dieses »anthropische Prinzip« jene Schwierigkeit, die für die geschichtsphilosophische Fortschrittstheorie der Eurozentrismus war. Vielleicht gibt es schon irgendwo den evolutionsbiologischen Ranke mit dem Satz: »jede Art ist unmittelbar zu Gott«; jedenfalls: die Evolutionstheorie hat ihren Historismus noch vor sich, der auch die Buntheit der Humanwissenschaften steigern kann und auch für die Anthropologie den Wissenschaftspluralismus stärkt. Zugleich pluralisiert sie auch jene Rest-Teleologie, ohne die die Evolutionstheorie -bis hin zur evolutionären Anthropologie - offenbar nicht auskommt. Es ist - meine ich wenigstens- eine teleologische Vorentscheidung des Evolutionismus, wenn er als Ziel das Überleben dekretiert; denn es gibt ja Alternativen: die Evolution könnte ja auch das schnelle Aussterben »beabsichtigen« oder schnell eine Form finden, bei der es längstmöglich bleiben kann (= die entwickeltsten Wesen sind die, die am längsten unverändert überleben). Dann - und diese Pluralität anthropologischer Optiken scheint mir fruchtbar - wäre das an-
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thropische Prinzip depotenziert, und der Mensch wäre in evolutionärer Hinsicht nicht die Krone der evolutionären Schöpfung, sondern- wie Jercy Lee sagte- die »Dornenkrone der Schöpfung«: denn evolutionär gelang es ihm weder, rechtzeitig auszusterben, noch frühzeitig jene Verfassung zu finden, bei der es hätte bleiben können. So muß der Mensch - wo alle anderen Arten längst entlassen sind in die letale oder finale Endgültigkeit - evolutionär nachsitzen; er wäre dann nicht - sozusagen als Träger des gelben Trikots bei der tour de l'evolution- der Spitzenreiter, sondern der Sitzenbleiher der Entwicklung: das retardierte Lebewesen, das es immer noch nicht geschafft hat und vielleicht nie schaffen wird, sondern das es mit seiner Vorläufigkeit aushalten muß: seiner gewußten Sterblichkeit, seiner Hinfälligkeit, seinen Leiden als »homo patiens<< und der ewigen Wiederkehr des Ungleichen, der Geschichte. Der Mensch wäre dann nicht der Sieger der Evolution, sondern der Hinterherrenner. Ich halte, daß eine solche Konzeption und Wissenschaft konkurrierend neben die evolutionäre Biologie des evolutionär siegenden Menschen tritt, für einen Gewinn an hermeneutischem Potential für die Anthropologie: es ist - meine ich - wissenschaftlich fruchtbarer, nicht nur eine evolutionäre Anthropologie zu haben, sondern mehrere, und nicht nur evolutionäre Anthropologien, sondern auch noch andere. Auch aus diesem Grund scheint mir: Die aktuell angemessene Pflege des Motivs zur Anthropologie - zur Gesamtwissenschaft vom Menschen - ist am Ende unseres Jahrhunderts gerade nicht ihre lnstitutionalisierung als Einheitsfach, sondern ihre Realisierung durch das fachübergreifende - das interdisziplinäre - Gespräch. Dieses humanwissenschaftlich interdisziplinäre Gespräch muß nicht erst erfunden und dann mühsam verwirklicht werden; denn es ist - zumindest in Gestalt einer gegenwärtig wachsenden Zahl einschlägig interdisziplinärer Projekte, Kolloquien und Arbeitsstätten, zu denen die
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Stiftung Weimarer Klassik gehört - längst wirklich da und gelingt, wie die Erfahrurig zeigt, in der Regel ohne spezialisierungsbedingte Verständigungsschwierigkeiten, wenn man diese nicht künstlich erzeugt durch jenen Verständigungsperfektionismus, der der eigentliche Feind des interdisziplinären Gesprächs ist: Konsens nämlich ist keineswegs immer nötig; viel wichtiger ist das produktive Mißverständnis und die Vielfalt der Sichtperspektiven; am wichtigsten ist schlichtweg Vernunft: der Verzicht auf die . Anstrengung, dumm zu bleiben. Dabei hat die Philosophie -um auf sie abschließend hinzuweisen - eine wichtige Fermentrolle. Auch für mich den Philosophenprofi - war der statistische Befund zunächst überraschend, daß am humanwissenschaftlich fachübergreifenden Gespräch überproportional Philosophen beteiligt sind. Offenbar bringen sie aus ihrer Fachtradition - einer zweieinhalbtausendjährigen Tradition der Nichteinigung über Grundsatzpositionen - etwas mit, was interdisziplinär nützlich ist: nämlich leben zu können mit offenen Aporien und Dissensüberschüssen. Das uralte fachliche Laster der Philosophen - ihr chronisches Konsensdefizit erweist sich als hochmoderne interdisziplinäre Tugend: vor allem als Fertigkeit, Gesprächskonfusionen unentrnutigt zu überstehen. Auch sonst sind Philosophen einschlägig nützlich; denn - was ihre Sachzuständigkeit betrifft - sie haben kein festes Jagdrevier, sondern eine allgemeine Wildererlizenz. Der Philosoph ist nicht der Experte, sondern der Stuntman des Experten: sein Double fürs Gefährliche. Seine interdisziplinäre Nützlichkeit als Gesprächskatalysator hängt mit dieser philosophischen Tauglichkeit zusammen, Experten- die ja kostbarer sind als Philosophen- zu doubeln in Situationen, die jenen Riskanzgrad erreichen, den humanwissenschaftlich interdisziplinäre Gespräche und Forschungen nun einmal haben, für die - ich wiederhole es - wichtiger als die Einheit der Wissenschaften oder gar die Einheitswissenschaft der Wissenschaftspluralismus ist.
Musik in der Philosophie
Philosophie ist - frei nach Clausewitz - die Fortsetzung der Musik unter Verwendung anderer Mittel. Das Verhältnis von Philosophie und Musik ist also brisant, im übrigen ein weites Feld. Natürlich gibt es die extremen Fälle: der, von dem häufig, und der, von dem niemals gesprochen wird; jener ist die Philosophie der Musik, dieser ist die Musik einer Philosophie. Dazwischen existiert einschlägig Etliches, und über all dieses ist viel nachgedacht und geschrieben und dabei zuweilen wenig gesagt worden. Daran wird die kurze Betrachtung, die ich hier vorhabe, wenig ändern; denn sie kann Weitedührendes kaum bieten. Aber zu einigen Überlegungen, die Weitedührendes anstoßen könnten, mag es schon reichen. Ich frage also: Wie kommt die Musik in der Philosophie vor? Und ich antworte durch vier Hinweise. Da ist: 1. Die Philosophie der Musik. Sie gibt es natürlich, hochoffiziell und durch Büchertitel belegbar: Adernos Philosophie der neuen Musik ist ein prominentes Beispiel; wer weitere Beispiele sucht, schaue in den Artikel »Musik« des Historischen Wörterbuchs der Philosophie. In der philosophischen Ästhetik- die es in der Philosophie erst neuzeitlich gibt: seit der Aesthetica Baumgartens von 1750- hat, wo sie Kunstformen diskutiert (etwa bei Schelling und Hege!), die philosophisch-ästhetische Diskussion auch der Musik ihren Platz: Für Hege!- zum Beispiel- ist die Musik die nächst der Poesie bedeutsamste der romantischen Kunstformen. Diese romantischen Kunstformen sind für Hege! Kunstformen unter de· .3edingung des Endes der Kunst; denn die romantische - die nachklassische - Kunst ist die, in der nicht mehr antik - kunstbegünstigend - die Schönheit, sondern christlich - kunstrelativierend - das
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Heil der maßgebliche Gesichtspunkt ist: das Heil ist das Ende der Kunst, und eine der wichtigsten Künste im Zeichen des Endes der Kunst ist die - romantische, moderne Musik. Gegen Hegels Ästhetik und Musikästhetik des Endes der Kunst hat sich Widerspruch erhoben. Wir verdanken Gunter Scholtz - ich beziehe mich auf sein Buch Schleiermachers Philosophie der Musik- eine Einsicht, die noch nicht rezipiert zu haben die hermeneutische Schule sich nicht rühmen sollte: denn das wäre schlechte Hermeneutik. Schleiermacher - hat Scholtz gezeigt - entwickelt die große Gegenposition gegen Hegels Ästhetik: das Christentum - der Standpunkt des Heils - führt nicht zum Ende, sondern im Gegenteil zum Aufgang der Kunst. Gerade und erst durch das Christentum kommt es zur Vollendung der Kunst; und die im Zeichen der christentumsbedingten Kunstvollendung vollendetste Kunst ist die ~usik. Schleiermacher präludiert mit dieser These seiner. Asthetik, die (im Namen des Heils) die Musik fundamentalisiert, einer weiteren philosophiebedeutsamen Bewegung. - Denn da ist: 2. Die metaphysische Zentralisierung der Musik in der modernen Philosophiegeschichte. Ein später indirekter Beleg ist eine Bemerkung von Rudolf Carnap im letzten Abschnitt seines Aufsatzes Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache von 1932: dort - in diesem metaphysikkritischen Traktat - stellt Carnap, und das ehrt ihn, abschließend die Frage, warum trotz allem die Metaphysik Interesse auf sich ziehe, und seine Antwort ist: weil die Metaphysik Musik ist, nämlich >>Musik für Unmusikalische«. Diese Bemerkung ist meines Wissens kaum jemals ernstgenommen worden: weder von den Anhängern noch von den Kritikern des Wiener Kreises. Sie ist - insbesondere in einem Aufsatz, dessen metaphysikkritischer Ansatz alsbald obsolet wurde - gleichwohl die wichtigste Bemerkung von Carnap: nämlich als Aus-
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sage über die tatsächliche Metaphysik des 19. Jahrhunderts. Die Metaphysik ist eine Art Musik, und die Musik ist eine Art der Metaphysik: das war - nach Kants Abwehr der Musik als eines bloßen und meist ärgerlichen Geräuschs - im Einzugsbereich der Musikaufwertung durch Schleiermacher vor allem die These von Schopenhauer und Nietzsche. Für Schopenhauer ist - in Die Welt als Wille und Vorstellung - >>die Musik [... ] unmittelbar Abbild des Willens selbst [... ] und also zu allem Physischen der Welt das Metaphysische«, so daß »Erklärung der Musik [... ] die wahre Philosophie« ist (§ 52). Für Nietzsche ist »die Kunst[ ... ] die eigentlich metaphysische Tätigkeit des Menschen« und die Musik die eigentlichste Kunst: seine frühe >>Artisten-Metaphysik<< deutet nicht nur die Tragödie, sondern die ganze Welt >>aus dem Geiste der Musik«: Metaphysik ist essentiell Musik. Der dominierende Strang der Metaphysik im 19. Jahrhundert, der dies so sieht, gibt also sozusagen die metaphysische Frage, die Seinsfrage, in die Hände der Musik. Die Seinsfrage aber - das hat Heidegger in Sein und Zeit dargelegt - erwartet als Antwort stets Zeitbestimmungen. Metaphysik ist immer zeitbezogen, weil Seinsbestimmungen grundsätzlich Zeitbestimmungen sind. Zwar muß die bisherige abendländische Metaphysik - meint Heidegger - >>fundamentalontologisch<< >>destruiert« und >>überwunden<< werden, weil sie diesen Zeitbezug der Seinsfrage präsentisch verengt: ihr Zeitbezug war immer nur Gegenwartsbezug; die Seinsfrage aber braucht für ihre Beantwortung den Bezug nicht auf die Vedügbarkeitsdimension der Zeit, die Gegenwart, sondern auch auf die Unverfügbarkeitsdimensionen der Zeit: Zukunft und Gewesenheit. Dennoch bleibt jede ontologische- an der Seinsfrage interessiertePhilosophie, sei es als Metaphysik, sei es als Fundamentalontologie, zeitbezogen: ihr Horizont ist die Zeit. Darum ist da:
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3. Die Musik als Beispiel in philosophischen Zeitanalysen. Wenn in der Philosophie die Metaphysik es einerseits mit der Musik zu tun hat und andererseits mit der Zeit, müssen philosophisch auch Musik und Zeit miteinander zu tun haben. Das ist auch der Fall: die Musik spielt eine bedeutende Rolle als Exempel in philosophischen Zeitanalysen. Die Geschichte der philosophischen Leitbeispiele (z. B. Descartes' 3 + 2 = 5, Kants 7 + 5 = 12, Freges Abendstern und Morgenstern, Russells kahler König von Frankreich und der Hund Fido usw.) ist noch ungeschrieben: so auch die Geschichte der Leitbeispiele der philosophischen Zeitanalyse. Mit das wichtigste dieser Beispiele ist die Tonfolge, die Melodie, die Musik. In der berühmten Zeitanalyse von Augustinus im 11. Buch seiner Confessiones taucht sie im Kapitel 38 durch die Zeitanalyse des >>carmen<< eher bescheiden auf: denn auch bei ihm ist - weil das Zeitliche noch platonisch geächtet bleibt - auch die Zeit (als Außenphänomen) noch inferior. Das ändert sich erst neuzeitlich, wo das Zeitliche positiviert wird und aus der mathematischen Sphärenmusik der Gestirne die Musik - indem sie gleichzeitig zur >absoluten Musik< wird - philosophisch zum Phänomen der Innerlichkeit mutiert. So kann die Musik modern zum zentralen Leitbeispiel für die Zeiterfahrung werden. Etwa- um nur einige Hinweise zu geben - bei Bergson: die wirkliche - die nicht verräumlichte - Zeit ist als >>dun~e reelle<< die >>unteilbare und unzerstörbare Kontinuität einer Melodie, in der die Vergangenheit die Gegenwart durchdringt« als >>eine Art musikalische Phrase<<. >>Wenn wir eine Melodie hören, so haben wir den reinsten Eindruck von Aufeinanderfolge, den wir haben können<<, denn es ist >>gerade die Kontinuität der Melodie und die Unmöglichkeit, sie zusammenzusetzen, die auf uns diesen Eindruck macht<< (Henri Bergson, Sur les donnies immediates de Ia conscience, 1889; La Pensee et le Mouvant, 1934): ein Zentralexempel der Zeit als >>duree reelle<< ist die Musik. Ähnlich rekurriert Edmund
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Husserl in seiner Vorlesung Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins auf »das Beispiel einer Melodie oder eines zusammenhängenden Stückes einer Melodie«: Busserls Zeitphänomenologie der »Urimpression«, »Retention« und »Protention« des »inneren Zeitbewußtseins« analysiert die Zeit im Blick auf die Tonfolge, die Melodie, die Musik (Edmund Husserl, Husserliana X, wobei der zentrale Text Heideggers Edition der Vorlesung von 1928 ist). Musik ist - exemplarisch - Zeit. Diese Überzeugung der Zeitphilosophie der philosophischen Tradition enthält die Umkehrüberzeugung: Zeit ist- exemplarisch- Musik. Nimmt man dies ernst, kommt man philosophisch schließlich auf: 4. Die Musik als Maßstab der Zeiterfüllung. Heidegger hat in Sein und Zeit die »eigentliche<< Zeit gerade nicht im Blick auf die Musik analysiert, sondern im Blick auf der Menschen »Sein zum Tode<<: Menschen existieren zeitlich, indem sie sterblichkeitsbedingt zeitknapp sind; ihr Leben ist kurz, denn ihre Zeit verrinnt: Zeit ist Frist. Es liegt nahe, diese These - Zeit ist sterblichkeitsbedingt endlich, d. h. Frist - mit der anderen These in Verbindung zu bringen: Zeit ist exemplarisch Musik. Diese Verbindung gelingt durch die Frage: Was bedeutet die Endlichkeit der Zeit für die exemplarische Musikalität der Zeit? Was bedeutet die exemplarische Musikalität der Zeit für die Endlichkeit der Zeit, d. h. für sterblichkeitsbedingt zeitknappe Lebewesen? Die Antwort muß- denke ich- in folgender Richtung gesucht werden: Je knapper ein Gut ist, desto kostbarer wird es. Das Menschenleben ist kurz: seine Zeit ist kostbar. Wenn für Menschen die Zeit - sterblichkeitsbedingt- knapp und darum jede Zeit kostbar ist, ist nur die beste aller möglichen Zeiterfüllungen legitimierbar. Für Seneca - in De brevitate vitae - war diese beste aller möglichen Zeiterfüllungen die auf Zeitloses bedachte Philosophie; modern (im Zeichen der Positivierung der Zeit)
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wird - darum avanciert. die Musik gerade modern zum zentralen Exempel der philosophischen Zeitanalysen diese beste aller möglichen Zeiterfüllungen: die Musik. Weil- für den sterblichen Menschen - die Zeit endlich ist, wird sie unendlich kostbar: wenn ihre kostbarste Nutzung die Musik ist, steht - jenseits der Pensen unmittelbarer Lebensfristung - jedes Pensum im menschlichen Leben, das nicht Musik ist, unter Legitimationsdruck: Warum lautet die Frage- darf es erledigt werden, obwohl es nicht Musik ist? Das gilt nun modern - umgekehrt wie bei Seneca, bei dem allenfalls die Musik sich rechtfertigen mußte, weil sie keine Philosophie ist - auch für die Philosophie: Warum beschäftigen sich die Menschen mit Philosophie, wenn doch die Philosophie keine Musik ist? Dieser Legitimationsdruck - mit dem Lebenserfüllungsmaßstab Musik - lastet vor allem auf den philosophischen Texten. Es gibt die naive Zuversicht von Autoren, dadurch, daß sie Texte erzeugt haben, einen Anspruch erworben zu haben, gelesen zu werden. Indes: Texte sind - angesichts der Lebenskürze und Zeitknappheit der sterblichen Menschen - von vornherein Belastungen und Belästigungen. Sie müssen - wenn sie zeitknappe Menschen als Leser zumutbar erreichen wollen -Buße dafür tun, daß es sie gibt. Das gilt vor allem auch für philosophische Texte. Die erfolgreiche Buße von Texten für ihre Existenz ist die Lesbarkeit. Die Lesbarkeit von zeitbeanspruchenden Texten ist - unter der menschlichen Bedingung der Lebenszeitknappheit der Leser - ihre Annäherung an die optimale Zeitnutzung und Zeiterfüllung: an die Musik. Das gelingt dadurch, daß Texte - insbesondere auch philosophische Texte - komponierte Texte, in ihren Teilen aufeinander bezogene Texte, durchsichtige Texte, spannende Texte, rhythmische Texte, mehrstimmige Texte, polyphone Texte - und so fort - werden; denn es gilt: in den Texten der Philosophie ist soviel Lesbarkeit, als Musik in ihnen ist. Je musikalischer ein philosophischer Text ist, desto mensch-
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Musik in der Philosophie
licher - endlichkeitsfreundlicher - ist er. Je menschlicher ein philosophischer Text ist, desto mehr wird er dem Gesichtspunkt der unendlichen Kostbarkeit der endlichen Zeit gerecht; und er ist um so menschlicher, je mehr erals Nichtmusik-Musik ist. Oder kurz gesagt: Je endlicher für die Menschen ihre Zeit ist, desto musikpflichtiger wird ihre Philosophie.
Theodizeemotive in Fichtes früher Wissenschaftslehre
Auch Ruheständler kann man in den Stand der Unruhe versetzen. Als ich Anfang vergangenen Jahres- unmittelbar vor meiner Emeritierung - arglos zusagte, in dieser Ringvorlesung über Fichte den heutigen Vortrag zu halten, konnte ich nicht ahnen, daß die Philosophische Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena es mir mit diesem Vortrag besonders schwer machen würde. Durch ihren Beschluß, mir die Würde eines Ehrendoktors zu verleihen, bekam dieser Vortrag plötzlich ein neues Gewicht. Denn ein anderes ist es, einige -bei mir zwangsläufigerweise nicht sehr expertenhafte - Bemerkungen über Fichtes Jenenser Wissenschaftslehre zu machen; ein anderes ist es, gewissermaßen - wenn denn, was ich bisher insgesamt publiziert habe, das Schriftliche war - durch diesen Vortrag den mündlichen Teil der Ehrendoktorprüfung abzulegen und mich dabei ständig fragen zu müssen, ob das, was ich sage, auch reicht, um nicht durchzufallen. Ehe ich dieses Mündliche beginne, ziemt es sich zu danken. Ich danke der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena für die mir erwiesene Ehre, mich zu ihrem Doctor philosophiae honoris causa zu machen. Ich würde flunkern, würde ich abstreiten, daß diese Ehrung durch die Philosophie der Universität einer Stadt, die zu den Welthauptstädten der Philosophiegeschichte gehört, mich tief bewegt und stolz macht und beglückt. Ich danke Ihnen, Magnifizenz Machnik, vor allem auch dafür, daß Sie mir das Vertrauen entgegengebracht haben, mir die Ehrenpromotionsurkunde schon vor diesem meinem Mündlichen auszuhändigen. Ich danke Ihnen, Spectabilis Hogrebe, für Ihre Begrüßung: in der Tat, es ist so bei mir: Distanzierungskultur ja, aber mitnichten
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Theodizeemotive in Fichtes Wissenschaftslehre
Distanzierung von der Universität Jena. Ich danke den Mitgliedern der Akademischen Orchestervereinigung, daß sie - Fichtes Definition der »schönen Kunst<< von 1798 entsprechend - hier in der Aula musikalisch »den transzendentalen Gesichtspunkt zu dem gemeinen<< - dem allgemeinen - machen. Ich danke allen Anwesenden für ihre Anwesenheit und dafür, daß sie es billigend in Kauf nehmen, dabei auch mir zuzuhören. Und ich danke Hans Robert Jauß: Dir, lieber, Hans, dem ich für vieles dankbar bin, danke ich nun auch ganz herzlich für Deine laudationale Kunst, meine guten Seiten zu übertreiben und zugleich meine schlechten Seiten nicht mit Stillschweigen zu übergehen. Damit zu Fichte und seiner Wissenschaftslehre von 1794, die so vor 200 Jahren hier von Jena aus philosophiegeschichtlich Epoche machte, und zu meiner (waghalsigen) These: Diese frühe Wissenschaftslehre von Johann Gottlieb Fichte hat - zumindest auch - Theodizeemotive. Ich versuche, diese These plausibel zu machen in folgenden vier Abschnitten: 1. Schwierigkeiten mit Fichte; 2. Theodizee durch Autonomie; 3. Einige weitere Theodizeemotive beim frühen Fichte; 4. Entlastungen des Ich. Ich beginne - den Üblichkeiten entsprechend - mit Abschnitt: 1. Schwierigkeiten mit Fichte. Ich habe es nämlich nicht leicht mit Fichte. Ich habe es sogar sehr schwer mit ihm. Besonders in der letzten Zeit sucht mich häufiger die Frage heim, ob und gegebenenfalls wie ich es als Philosophiestudent mit den Großen meines Fachs als Lehrern ausgehalten hätte. Zum Beispiel Heidegger - der für mich selber einer der wichtigsten Philosophen geworden ist habe ich im Juli 1950 in jener einen Seminarsitzung auf dem Ratschert in der Nähe von Todmauberg persönlich mitbekommen, in der er seine akademische Wiederkehr übte und dabei ganz als jener interpretatorisch pedanti-
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sehe Denkwebel agierte, der er sein konnte: erschrocken floh ich damals aus Freiburg nach Münster zurück. Wie erschrocken hätte ich erst reagiert, wenn z.B. Husserl mir als Lehrer seine natürliche Einstellung versagt, mein Dasein phänomenologisch eingeklammert und mich zugleich zum >>Residuum der Weltvernichtung« umgeschult hätte? Wäre Hegel als Lehrer nicht zu trocken gewesen, zu weltbewegend und zugleich- trotz seiner »Logik«, die leider nicht unecht ist - als großartiger Empiriker nicht zu überwältigend? Wäre SeheHing als Lehrer nicht zu blauäugig, zu stupsnasig, zu genialisch gewesen? Ich gehe nicht weiter zurück. Schon diese wenigen Hinweise zeigen: mit vielen bedeutenden Philosophen hätte ich nicht gekonnt, mit manchen- obwohl ich sie als Philosophen unter gar keinen Umständen missen möchte- hätte ich es einfach nicht ausgehalten. Sie ahnen, warum diese meine Vorüberlegung so langatmig gerät: ich zögere ein Geständnis hinaus, das hier in Jena zu machen unpopulär sein muß: das Geständnis, daß ich auch und gerade mit Johann Gottlieb Fichte als Lehrer schwerlich ausgekommen wäre. Ich wäre nicht der einzige gewesen. Er ist auch anderen Romantikern auf die Nerven gefallen; einer von ihnen hat - wenn auch erst nach seinem Sonnenklaren Bericht von 1801- in Anlehnung an Shakespeare Fichte folgenden Vierzeiler in den Mund gelegt: »Zweifle an der Sonne Klarheit, zweifle an der Sterne Licht, zweifle nur an meiner Wahrheit und an deiner Dummheit nicht.« Das stammt nicht von mir, sondern von Schelling. Aber auch Marquard als Schüler und philosophischer Komplize Fichtes in J eria: das wäre, glaube ich, nicht gutgegangen, wobei natürlich eine Steigerung möglich gewesen wäre: entweder hätte mich Fichte aus der Philosophie und Jena hinausgegrault, oder - was sicher noch viel schlimmer gewesen wäre - Fichte hätte mich wirklich und sofort und aufs allerheftigste fasziniert. Mein Verhältnis zu Fichte ist also heikel und mindestens ambi-
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valent. Denn J ohann Gottlieb Fichte - einerseits - war ein philosophischer Prediger, ein unerbittlicher Evidenzmissionar, ein Weltverbesserungseiferer; und ich - als Skeptiker durch Abschied vom Prinzipiellen ohne wirkungsgeschichtlichen Willen zur Macht - ich mag keine philosophischen Missionare. Aber zugleich - das sieht man gerade an seiner frühen Wissenschaftslehre - hat Fichte schon allein handwerklich großartige Philosophie gemacht: meisterhafte systematische Radikalphilosophie. Seine Fähigkeit, die Dinge - mit Sinn für äußerste Konsequenz- auf die Spitze zu treiben, ist unüberboten. Und so bewundere ich sie, die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794, die hier nun fortan ins Zentrum meiner Überlegungen rückt, als ein Werk, das - manifest abschreckend, latent faszinierend- jene Philosophie radikal auf die Spitze treibt, die nicht mehr Gott, sondern das menschliche Ich zum Prinzip und Weltschöpfer macht. Dieser Radikalposition muß gerade ein skeptischer Radikalitätsabstinenzler - konsequent inkonsequent - mit einer Radikalfrage zu Leibe rücken, nämlich dieser: Wieso wurde - in der Philosophie - diese extreme Ich-Position nötig? Dieser Frage gehe ich nach im Abschnitt: 2. Theodizee durch Autonomie. Nicht mehr Gott, sondern das menschliche Ich ist Prinzip und Schöpfer: das - meine ich- ist die Quintessenz der von Fichte ab 1794 >>Wissenschaftslehre<< genannten Philosophie, die dort - ich rufe hier nur Stichworte ins Gedächtnis, weil in Jena ein Jenenser nicht ausführlich referiert werden muß, um präsent zu sein- folgende These1 vertritt: Die freie menschliche >>Tathandlung<< Ich - die Fichte auch das >>Subjekt-Objekt<< nennt und vom menschlichen Individuum stillschweigend unterscheidet - ist Prinzip der Philosophie. Das Ich - das ist der thetische Grundsatz der Identität als Kategorie der Realität- das Ich setzt sich selbst, indem- das ist der antithetische Grundsatz des Gegensetzens als Kategorie der
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Negation - indem das I.ch sich das Nicht-Ich entgegensetzt: nicht so, daß dadurch das Nicht-Ich das Ich oder das Ich das Nicht-Ich komplett auslöscht, sondern so, daß das Ich durch das Nicht-Ich das Ich zu einem Teil-Ich und durch das Ich das Nicht-Ich zu einem Teil-Nicht-Ich einschränkt, so daß - das folgt aus dem synthetischen Grundsatz des Grundes als Kategorie der Limitation sich ein teilbares und geteiltes Ich mit einem teilbaren und geteilten Nicht-Ich auf nicht restlose Weise verbindet, und dies schrittweise so lange, bis - peu a peu und in Raten ~ schließlich restlos das ganze Ich das ganze Nicht-Ich gesetzt hat, wobei das Ich teils - theoretisch - durch das Nicht-Ich bestimmt wird, teils- praktisch- das Nicht-Ich bestimmt. So ist- für diese extreme Ich-Position des frühen Fichte - die Ichwerdung des Ich die Weltwerdung der Welt; und die Wissenschaftslehre »deduziert<< diesen Portschrittsvorgang als - wie Fichte sagt - die >>pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes<<. Durch diese Deduktionen hat - auch Fichte-Enthusiasten werden das kaum anders sehen - Fichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre einen hohen spekulativen Schwierigkeitsgrad, der besondere Anstrengungen verlangt, sie verständlich zu machen. Dafür gibt es - meiner Meinung nach - zwei Wege: entweder die spekulative Überbietung, die Fichtes Deduktionen noch subtiler formuliert als der ohnehin schon subtile Fichte; oder die gezielte Trivialisierung, die Fichtes Deduktionen sehr viel simpler formuliert als der ganz und gar nicht simple Fichte. Es ist- meine ich- wenig aussichtsreich, das Verständnis des schwierigen Fichte zu erleichtern durch eine Überlegung, die noch viel schwieriger ist als der schwierige Fichte. Darum bin ich für die gezielte Trivialisierung; und gezielt trivialisiert - also souverän simplifiziert - macht Fichtes frühe Wissenschaftslehre justament jene These geltend, die ich schon nannte: Nicht mehr Gott, sondern das freie menschliche Ich ist Prinzip und Weltschöpfer.
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Aber - ich wiederhole die Frage - wie kommt ein Philosoph dazu, diese extreme Ich-Position einzunehmen? Ich schlage vor, diese Frage - warum wird beim frühen Fichte Gott durch das menschliche Ich als Schöpfer ersetzt?- durch Hinweis auf ein Motiv zu beantworten, das meine ich - ein nachvollziehbares Motiv ist: nämlich das Theodizeemotiv. Denn es ist eine Theodizee, eine Rechtfertigung Gottes angesichts der Übel in der Welt, wenn nicht mehr Gott ihr Schöpfer - und damit verantwortlich für ihre Übel- ist, sondern der Mensch. Die extreme IchPosition des frühen Fichte- das also ist hier meine These ist eine Theodizee: eine Entlastung Gottes durch den Menschen, eine Theodizee durch Autonomie. Diese Antwort kann man durch Historisierung erläutern und plausibel machen. Dabei kann die Historisierung zwei Richtungen einschlagen. Entweder blickt man von Fichte aus nach vorn in die Zukunft und fragt: Worauf läuft das hinaus? Oder man blickt von Fichte aus zurück in die Vergangenheit und fragt: Wie kam es dazu? Da ist: a) die Historisierung nach vorn. Worauf läuft es hinaus, nicht mehr Gott, sondern das Ich zum Schöpfer zu machen? Doch wohl darauf: Gott als Nichtschöpfer ist nicht mehr so recht Gott, so also ist er nicht mehr: Gott ist tot. Diese These - >>Gott ist tot« - kennen wir durch Nietzsche, der sie nicht nur vertreten, sondern auch - im Zarathustra - die Todesursache Gottes zu benennen versucht hat: diese Todesursache Gottes ist sein »Mitleid«. Mitleid gibt es nur dort, wo es Leid gibt: die Übel in der Welt. Si Deus, unde malum (wenn es Gott gibt, wieso dann das Übel)? An dieser Frage - der Frage seines Mitleids: der Theodizeefrage Gottes an sich selber - ist Gott gestorben; denn: si malum, unde Deus (wenn es das Übel gibt, wieso dann Gott)? Wo es die Übel gibt, ist Gott- auch vor sich selber - nur durch sein Nichtsein zu rechtfertigen: durch seinen Tod. »Die einzige Entschuldigung für Gott ist, daß es ihn nicht gibt«: so formulierte ihn Stendhal, diesen
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Schluß von der Güte Gottes auf seine Nichtexistenz. Zu dieser Konsequenzposition war - darum hatte der Atheismusstreit nach 1798 vorübergehend ein ganz klein wenig recht - Fichte in seiner frühen Wissenschaftslehre unterwegs: zu einer Position der Theodizee durch den Tod Gottes und durch menschliche Autonomie, die man - wegen ihrer keineswegs gottesfeindlichen, sondern durchaus gottesfreundlichen Intention, Gott als Schöpfer durch Ermächtigung des Ich zu entlasten- nennen kann: einen tendenziellen Atheismus ad maiorem Dei gloriam. Da ist: b) die Historisierung nach rückwärts. Wie kommt es zu dieser extremen Ich-Position? Die Tradition der Philosophie machte gerade nicht das menschliche Ich, sondern Gott zum Prinzip und Schöpfer der Welt. Das tat auch noch 1755 durch die Nova dilucidatio bzw. 1759 durch den Versuch über den Optimismus - vor seiner kritischen Wende- der frühe Kant, das tat auch noch 1790- in seinen Aphorismen über Religion und Deismus - der ganz frühe Fichte mit der These: Gott - ich simplifiziere wiederum - Gott ist alles, und darum ist die menschliche Freiheit nichts (außer einem Wunsch des Herzens, den die Religion artikuliert). Angestoßen durch den kritischen Kant konvertiert Fichte philosophisch alsbald - literarisch greifbar spätestens 1792 durch die Aenesidemus-Rezension - zur gegenteiligen These: Das Ich ist alles, und darum muß Gott nichts sein (außer- wie Fichte in seinem Versuch einer Kritik aller Offenbarung von 1792 zuerst formuliert - einem moralischen Gesetzespostulat). Warum diese Umkehr? Ich vermute wiederum die Wirksamkeit des Theodizeemotivs. Das Wort Theodizee: bekanntlich hat Leibniz es geprägt. Seine Rechtfertigung Gottes angesichts der Übel in der Welt - die Theodizee von 1710 war das System des Optimismus: Gott mußte bei seiner Sch~pfung aus Optimierungsgründen Übel zulassen, denn die Ubel sind Bedingungen der Möglichkeit der bestmöglichen Welt. Das seit Mitte des 18.Jahrhunderts gegen die-
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se - optimistische - Antwort aufkommende Mißtrauen läßt sich zuspitzen zur Frage: Warum- wenn er doch keine übelfrei gute Welt schaffen konnte - hat Gott das Schaffen nicht bleibenlassen? Der transzendentale Idealismus - dessen Radikalform Fichtes frühe Wissenschaftslehre war - reüssierte m. E. vor allem auch deswegen, weil er die konsequenteste Antwort auf diese Frage war und damit die konsequenteste Theodizee: Gott >hat< das Schaffen bleibenlassen, denn nicht Gott hat die Welt geschaffen, sondern der Mensch, das Ich, wobei man eben sehen muß, was diese radikale Antwort ist: eine Theodizee, also angesichts der Übel in der Welt eine Entlastung Gottes. Fichtes These von der Weltschöpferschaft des Ich ist eine Gottesentlastungsthese: durch sie wird Gott die Schöpferschaft nicht geraubt, sondern erspart, und das geht nur, indem das Ich mit ihr belastet wird. Das gilt auch und gerade für den frühen Fichte: seine scheinbar maßlose philosophische Zentralisierung des Ich hat einen Theodizeesinn. Sie ist eine Theodizee durch Autonomie, die man wegen ihrer keineswegs gottesfeindlichen, sondern durchaus gottesfreundlichen Intention, Gott als Schöpfer durch Ermächtigung des Ich zu entlasten - nennen kann: einen tendenziellen Atheismus ad maiorem Dei gloriam. Derartige Überlegungen sind es, die mich dazu bringen, als Motiv- als ein Motiv- zur extremen Ich-Position der frühen Wissenschaftslehre Fichtes ein Theodizeemotiv geltend zu machen: das Motiv der Theodizee durch Autonomie, das das menschliche Ich zum Schöpfer ernennt, freilich mit dem Ergebnis: Theodizee gelungen, Gott tot. Diese Überlegungen ergänze ich im Abschnitt: 3. Einige weitere Theodizeemotive beim frühen Fichte. Zwei Konzepte möchte ich gesondert hervorheben, die aus diesem Versuch einer Theodizee durch Autonomie folgen und die Fichte in seiner Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794 einschlägig entwickelt: das ra-
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dikalisierte Konzept des Primats der praktischen Vernunft und das radikalisierte Konzept der transzendentalen Deduktion. Da ist: a) das radikalisierte Konzept des Primats der praktischen Vernunft, durch das Fichte Kants einschlägiges Programm aus seiner Kritik der praktischen Vernunft überbietet. Wenn nicht mehr Gott die Welt schafft, sondern das menschliche Ich, dann ist für den Menschen das entscheidende Wirklichkeitsverhältnis, daß er die Wirklichkeit macht: alles ist Praxis. Wie kommt es dann, daß die Welt dem Menschen gleichwohl als vorhanden und gege~ ben entgegentritt: als eine, die ihm zustößt? Das liegt- so verstehe ich Fichte, insbesondere seine diffizile Theorie der Einbildungskraft - daran, daß die welterzeugende Handlung Ich (wie jede Handlung) zwei Etappen hat: das, was schon getan ist (Vergangenheit), und das, was noch zu tun ist (Zukunft). Die Welt, die bereits da ist, ist das Schongehandelte der Handlung Ich. Daß diese Welt als gegeben erscheint, liegt daran, daß das Ich vergessen hat, daß es sie gemacht hat: seine bisherige Weltproduktion ist bewußtlos bzw. unbewußt. Es ist - nota bene - zuerst Arnold Gehlen gewesen, der (in seinem Aufsatz Die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung) hier Fichte mit Freud zusammengebracht hat: Fichtes Entdeckung des Unbewußten präludiert der Psychoanalyse. Der frühe Fichte radikalisiert also das Konzept des Primats der praktischen Vernunft zur These: alles ist Praxis; aber diese Praxis - mit dem Ausgangspunkt Ich und dem Ziel Ich - diese Handlung, diese Weltschöpfung - die im deutschen Idealismus fortan »die Geschichte« heißt - hat nicht nur eine bewußte Zukunft, sondern auch eine unbewußte Vergangenheit: darum gibt es für Fichte - obwohl für ihn alles Praxis ist nicht nur praktische, sondern auch theoretische Philosophie. Die Menschen machen ihre Geschichte selbst, aber sie machen sie unter gegebenen Umständen (die ihrerseits von den Menschen gemacht worden sind): ungefähr so
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formulierte das später- etwa im 18ten Brumaire des Louis Napoleon -einer, der mehr Fichteaner als Hegelianer gewesen ist, nämlich Marx. Der Weltschöpfer Ich - so sah das Fichte - hat seine Weltschöpfung - seine Geschichte teils vor, teils hinter sich. Die Weltschöpfung, die er hinter sich hat, hat er vergessen: darum muß sie- durch die philosophische Historie namens Wissenschaftslehre - wiedererinnert werden; denn nur dadurch zeigt sich das menschliche Ich komplett als das, was es - um Gott zu entlastenaus Theodizeegründen sein muß: als Schöpfer der Welt. Da ist: b) das radikalisierte Konzept der transzendentalen Deduktion. Kant verlangte in seiner Kritik der reinen Vernunft, die transzendentale Deduktion (die Anwendungslegitimierung nicht edahrungsentnommener Begriffe) juristisch zu verstehen: es geht - durch die quaestio juris an die verdächtig apriorischen Kategorien - um deren Rechtfertigung (Deduktion). Um Rechtfertigung- um diejenige Gottes angesichts der Übel- ging es aber auch und gerade schon in der Theodizee von Leibniz, die, wie Kants »transzendentale Deduktion<<, ein >>Rechtshandel<< war, ein »Prozeß<<. Dabei wird - das Übel ist »conditio sine qua non<<, Bedingung ohne welche nicht: Bedingung der Möglichkeit der Optimalwelt - der transzendentalphilosophische Lieblingsbegriff »Bedingung der Möglichkeit<< zum zentralen Legitimationsbegriff: in dieser Funktion kommt er aus Leibniz' Theodizee. Leibniz rechtfertigt Gott, indem er die Übel rechtfertigt als Bedingungen der Möglichkeit der bestmöglichen Welt. Kant rechtfertigt das theoretische Ich, indem er die Kategorien rechtfertigt als Bedingungen der Möglichkeit der bestmöglichen Wissenschaft. Fichte rechtfertigt das praktische Ich, indem er dessen fundamentale Tathandlungen rechtfertigt als Bedingungen der Möglichkeit der bestmöglichen Geschichte. So steht Fichtes frühe Wissenschaftslehre durch ihre Deduktionswut und ihren Legitimationsbegriff >>Bedingung der Möglich-
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keit« in der Tradition des Philosophiegenres der Theodizee: als Rechtfertigungsphilosophie mit dem Legitimationsargument: der Zweck - Ichwerdung des Ich durch Weltwerdung der Welt - rechtfertigt seine Mittel. Das ist Fichtes Radikalisierung der transzendentalen Deduktion, die ihrerseits ist: eine säkularisierte Theodizee. Meine Abschlußbemerkung ist der Abschnitt: 4. Entlastungen des Ich. Diese abschließende Bemerkung weist über Fichtes frühe Wissenschaftslehre hinaus und soll andeuten, warum es - im deutschen Idealismus und nach dem deutschen Idealismus - nicht bei der extremen Ich-Position des frühen Fichte geblieben ist. Es verhält sich so: Wenn es schon für Gott so unaushaltbar schwer ist, Weltschöpfer zu sein, daß - angesichts der Übel - der Mensch ihn von dieser Rolle und Verantwortung entlasten muß, um wieviel mehr ist es dann für den Menschen - das Ich - unaushaltbar schwer, Weltschöpfer zu sein, und um wieviel mehr muß dann - angesichts der Übel - für das menschliche Ich das Bedürfnis entstehen, von dieser Rolle und Verantwortung des Schöpfers seinerseits entlastet zu werden. Und diese Tendenz zur Entlastung des Ich- das seine Kreationsüberlastung nicht aushält - treibt die Philosophie hinaus aus der extremen Ich-Position von Fichtes früher Wissenschaftslehre. Der Mensch kann Gottes Schöpferrolle nicht erben, ohne seine Rolle als Angeklagter der Theodizee mitzuerben. Darum bleibt schon die frühe Wissenschaftslehre ein Tribunal: nicht nur sein Ankläger ist das menschliche Ich; denn zugleich tritt in die Stelle des Angeklagten, aus der Gott ausgeschieden ist, nun ebenfalls der Mensch ein. Diesem Tribunal entkommt er, indem er es wird: also indem er das bisher vorhandene Schöpfer-Ich im Namen der Zukunft anklagt und dazu verurteilt, sich und die geschichtliche Wirklichkeit zu ändern. Denn die Übel sind jetzt eben nicht mehr durch Gott erzeugt oder zugelassen,
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sondern durch das menschliche Ich. Darum ergänzt dieses Ich seine Absicht, es zu sein, durch die Kunst, es nicht gewesen zu sein: wenn es übel steht um die Geschichte, ist es für die Menschen entlastend, wenn zwar die Menschen sie gemacht haben, aber stets nur die anderen Menschen. So vermeidet das Ich, ein schlechtes Gewissen zu >haben< indem es - als Avantgarde - für die anderen Menschen, die nicht die Avantgarde sind, das schlechte Gewissen >wird<. Durch diese - später »Dialektik<< genannte- Dauerflucht nach vorn aus dem Gewissenhaben in das Gewissensein setzt das Ich sich selbst, indem es sich absetzt vom Ich. Darum entpuppt der Fortschritt zum Ich - im Sinn von Fichtes früher Wissenschaftslehre - sich schließlich als Flucht aus dem Ich. So macht sich denn - in der Zeit nach Fichtes früher Wissenschaftslehre - in der Philosophie das menschliche Ich auf, die Verantwortung, die es - als säkularisierter Schöpfer zur Entlastung Gottes - übernahm, wieder loszuwerden, schließlich erneut an eine Art Nicht-Ich: entweder an das, das gewissermaßen >unter< dem menschlichen Ich ist, die Natur, oder erneut an das, das gewissermaßen >über< dem menschlichen Ich ist, also wieder an Gott. Dieses Bedürfnis dirigiert - über die extreme IchPosition des frühen Fichte hinaustreibend - die weitere Entwicklung des deutschen Idealismus. So jedenfalls interpretiere ich diese weitere Entwicklung, die natürlich auch - in nicht geringem Maße - zu tun hat mit dem Weg der Französischen Revolution in die terreur, die dazu zwingt, die revolutionspositivierende Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution des Fichte von 1793 ihrerseits zu berichtigen. Den Versuch, die Schöpferverantwortung des Ich an die Natur loszuwerden, macht repräsentativ Schelling seit seinen Ideen zu einer Philosophie der Natur von 1797. Den Versuch, die Schöpferverantwortung des Ich wieder an Gott zurückzugeben, macht etwa seit 1800/1801 der spätere Fich-
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te selber, SeheHing mit dem Identitätssystem und der Freiheitsphilosophie und Hege! mit seinem durchgängigen Versuch, »Gott wieder absolut vornehin an die Spitze der Philosophie zu setzen«. Durch diese Rückrufung Gottes stellt sich die traditionelle Form des Theodizeeproblems wieder her, wie es klassisch etwa in Schellings Feiheitsschrift geschieht, erneut mit der alten Frage: Si Deus, unde malum, wenn es Gott gibt, wieso dann das Böse? · Dabei - mit diesem Hinweis schließe ich, weil ich fürchte, daß es mir nur allzusehr gelungen ist, die Anstrengung des Begriffs in die Anstrengung meiner Zuhörer zu verwandeln - dabei beginnt die Philosophie zugleich, Abschied zu nehmen vom Versuch, die Geschichte - geschichtsphilosophisch - ausschließlich als menschliche Handlung zu denken. Geschichten sind vielmehr Handlungs-Widerfahrnis-Gemische. So sind es die Widerfahrnisse, die Geschichten zu Geschichten machen, die ebendarum nicht geplant und konstruiert werden können, sondern erlitten und erzählt werden müssen. Diese Einsicht- und die, daß die Menschen (jeder Mensch für sich und alle Menschen zusammen) nicht nur eine Geschichte, sondern viele Geschichten brauchen - wird im späteren deutschen Idealismus zwar vorbereitet, aber nicht erreicht: der reife deutsche Idealismus ist unreifer Historismus. Erst der reife Historismus sieht ein: die Menschen sind in Geschichten - in viele Geschichten - verstrickt; denn wir Menschen sind mehr als unsere Leistungen unsere Zufälle, mehr als unsere Handlungen unsere Widerfahrnisse. Diese Widerfahrnisse können schlimme Schicksalsschläge sein. Sie können uns aber auch als Glücksfälle zustoßen wie z. B. dem, den es erwischt, ein Jenenser Ehrendoktorat. Zu diesem guten, diesem Freude bringenden Widerfahrnis das mir zugestoßen ist nahezu ohn' all Verdienst primär durch Glück - ist das angemessene Verhältnis nicht Deduktion, sondern Dankbarkeit (mit einem Anflug von Furcht vor dem Neid der Götter). Ich möchte- indem ich
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diesen Vortrag und damit mein, wie ich es zu Anfang nannte, Mündliches jetzt beende - diese meine Dankbarkeit gegenüber der Friedrich-Schiller-Universität Jena, der ich mich in Respekt und Zuneigung verbunden fühle, noch einmal zum Ausdruck bringen. Verehrte Jenenser: ich danke Ihnen. Anmerkung In den folgenden drei Sätzen fasse ich- in Fichteschen Begriffenzusammen, was Fichte in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre von 1794 darlegt. Vgl. Fichtes Werke, hrsg. von Immanuel Hermann Fichte, Nachdr. Berlin 1971, Bd. 1, S. 83-328.
Eine Philosophie der Bürgerlichkeit ]oachim Ritters Hermeneutik der positivierten Entzweiung Der Philosoph Joachim Ritter- geboren am 3. April1903 in Geesthacht bei Hamburg, gestorben am 3. August 1974 in Münster in Westfalen- wäre in dieser Woche 100 Jahre alt geworden. Er war einer der prägenden Philosophen der beginnenden und entwickelten Bundesrepublik Deutschland: durch seine Philosophie der positivierten Entzweiung, mit der er die Verweigerung der Bürgerlichkeit verweigerte. Dadurch trat er in Gegensatz zu den intellektuell und philosophisch herrschenden Trends der Zeit. Denn zu einer Philosophie, die auf sich hielt, gehörte es, gegen das Bürgerliche zu sein. Das galt im Deutschland der Weimarer Republik: was in ihr - einer bürgerlichen Republik, die schließlich das Bürgerliche verlor - politisch die >>negativen Mehrheiten<< waren, war in ihrer Kultur die Mehrheit bürgerlichkeitsverweigernder Philosophien, die - sei es als Untergang des Abendlandes, sei es als Versäumnis der Revolution - das Bürgerliche angriffen. Sie stritten gegen die bürgerliche Welt, und wir wissen, wie schrecklich - als Zerstörung der Bürgerlichkeit - die Weimarer Republik endete. Aber auch im Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg kultivierte die Philosophie - zunächst durch existentialistischen Protest gegen die technische Moderne erneut den Angriff auf die bürgerliche Welt. Vor allem wurde - in beiden Teilen Deutschlands: im real existent gewesenen Sozialismus staatlich verordnet und langweilig; in der beginnenden Bundesrepublik durch die Frankfurter >>Kritische Theorie<< immerhin anregend- der Marxismus zur intellektuell und philosophisch herrschenden Lehre: als Verweigerung der Bürgerlichkeit.
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Joachim Ritter hat während seiner Zeit an der Universität Münster ab 1946- in leiser Form- diese Verweigerung der Bürgerlichkeit kritisiert. Dabei hat er die Schwierigkeiten der bürgerlichen Welt nicht kaschiert: er beschrieb sie - mit Hegels Begriff - als »Entzweiung«. Ritter war für die Metaphysik: aber er trennt nicht die abstrakte Metaphysik ewiger Wahrheiten und Werte von der Philosophie der aktuellen historischen Situation. So begreift er: Die aus Griechenland herkommende Tradition der Metaphysik gehört selber zur modernen bürgerlichen Welt: als ihre geschichtliche Bedingung, obwohl diese bürgerliche Gesellschaft- als Welt der Bedürfnisse, der Arbeit, der Sachen und Waren, des Eigentums, der Personen und insofern als abstrakte Freiheitswelt- zu dieser metaphysischen Herkunftswelt in Gegensatz zu treten scheint; doch diese metaphysische Tradition muß sie als sittliche Welt des bürgerlichen Lebens gegenwärtig halten. Das ist die Entzweiungs-Verfassung der bürgerlichen Welt. So kommt Joachim Ritter- der in Harnburg bei Ernst Cassirer 1925 mit einer Cusanus-Arbeit promovierte und sich dort 1932 mit einem Augustinus-Buch habilitierte - schließlich zur »hermeneutischen« Einsicht, daß systematische Philosophie und Philosophiehistorie nicht getrennt werden dürfen; denn nur dadurch zeigt sich: für die moderne bürgerliche Welt ist das Grundproblem, daß die metaphysische Welt der »Herkunft« es mit der unmetaphysischen Welt der »Zukunft« aushalten muß, ohne in unbürgerlich-radikalistische Identitäten ideologisch zu flüchten. So positiviert Ritter die bürgerliche »Entzweiung«, dies vor allem in seinem Buch Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hege! von 1969, das - in erweiterter Form bei Suhrkamp gerade neu herausgekommen ist. Ritter zeigt: Die metaphysische Philosophie des Aristoteles kommt - anknüpfend an die griechische »polis« - zu einer institutionellen Ethik des »bürgerlichen Lebens«. Die eudämonismuskritische, moderne, nur noch normati-
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ve Ethik im Anschluß an Kant verengt die menschliche Praxis auf die menschli'che Möglichkeit und Innerlichkeit. Demgegenüber verpflichtet sich die institutionelle Ethik des Aristoteles - die, über Kant hinausgehend, Hegel modern wiederherzustellen suchte - der menschlichen Praxis, die in Familie, Haus und ökonomischer Gesellschaft, in Stadt und Staat durch Vernunft und Wissenschaft zur menschlichen Wirklichkeit kommt. Zum »Glück« gehört die Stadt: mit ihr ist eine Sozialform in die Geschichte der griechischen »polis«, des Christentums und der modernen bürgerlichen Gesellschaft - eingetreten, »deren Subjekt der Mensch als Mensch ist«. So gehört zur Ethi.k zugleich das abstrakte Recht und die Ökonomie und die Politik, also die ganze Breite der bürgerlichen Praxis. Darum muß die moderne bürgerliche Welt unter der Bedingung ihrer »Entzweiung« erneut durchdacht werden. Das hat Joachim Ritter insbesondere in seinem Erfolgsbuch Hegel und die französische Revolution (1953, 1957) getan. Die Entzweiung von »Zukunft«- emanzipatorischer Gesellschaft- und »Herkunft«- metaphysischer Tradition - entzweit Zusammengehöriges und braucht zugleich die Entzweiung, um zu gelingen. Hegel- kein reaktionärer Staatsdenker, sondern Philosoph der Revolution, d. h. der Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft -bejaht gleichzeitig die emanzipatorische Zukunftsgesellschaft und die herkunftsgeschichtliche Tradition der Metaphysik. Falsch sind darum die Zusammengehörigkeitsverweigerungen: also ebenso die des Supraprogressistischen Traditionsnegierers, der die Tradition verdammt und nur den Fortschritt haben will, wie die des restaurativen Progressionsnegierers, der den Fortschritt abwehrt und nur die Tradition haben will. Ebenso schlimm wie die herkunftslose Zukunft ist die zukunftslose Herkunft, so daß- als ihre Vernunft- in der modernen Welt gerade das unvermeidlich wird, was- durch die »Entzweiung«- ausgeschlossen scheint: die Zusammengehörigkeit des Aus-
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einandergetretenen, also von Zukunft und Herkunft. Zugleich schützt die Anerkenntnis der >>Entzweiung<< Zukunft und Herkunft davor, gleichgeschaltet zu werden: sie ist eine Art Gewaltenteilung, die die modernen Bürger davor bewahrt, in die totale Emanzipation oder in die totale Substanznostalgie aufgelöst zu werden. Dabei sind Philosophie und Staat Hüter der Entzweiung: sie verhindern, daß die Zukunft die Herkunft und die Herkunft die Zukunft negiert. Wir müssen die »Entzweiung« von Zukunft und Herkunft aushalten. Das ist weniger, als die Weltverbesserer fordern, es ist mehr, als die Kassandren fürchten: die moderne - bürgerliche -Welt ist nicht der Himmel auf Erden und nicht die Hölle auf Erden, sondern die Erde auf Erden. Joachim Ritter hat diese Nichtidentitätsphilosophie in konkretere Analysen umgesetzt. So hat er seine Erfahrungen aus den drei Jahren, die er in lstanbul in der Türkei lehrte (1953-55), im Aufsatz Europäisierung als europäisches Problem (1956) verarbeitet. Durch die »Europäisierung« wird die aus Europa kommende moderne Gesellschaft - die der >>positive Fortschritt zu menschlicheren Verhältnissen ist« - zur Gesellschaft der ganzen Welt, reißt aber- wie vorher innerhalb Europas -nun auch die ganze Welt scheinbar los von ihren Herkunftstraditionen. Fortschrittsrigorismus hilft hier ebensowenig wie die gewaltsame, die terroristische Abwehr des Fremden. Was in Europa in langer Zeit gewachsen ist- das Leben mit dem Problem Zukunft und Herkunft- muß jetzt weltweit gelöst werden und setzt seine Lösung - durch die Positivierung der Entzweiung- auch und gerade in Europa voraus. Zu dieser Lösung gehört, daß die Philosophie - wie Joachim Ritter es zuerst im Aufsatz Über das Lachen analysiert hat - das geltend macht, was die offizielle Ordnung und Verständigkeit (auch als das verdrängte Positive) »ausgrenzt«. Das geschieht nicht nur durch den Humor, sondern durch die Gesamtbewegung, durch die die Men-
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sehen auf die Modernisierungen »antworten«: dazu gehört die Ausbildung des äs'thetischen Sinns und des historischen Sinns der Geisteswissenschaften. Wo die moderne Welt - das zeigt Ritter vor allem in den Aufsätzen, die im Bändchen Subjektivität von 1974 versammelt sind - sich versachlicht, ist es gerade die Natur, die dabei zum Objekt der Naturwissenschaften und der Technik wird, die sich zugleich ebenso universell ästhetisch vergegenwärtigt, als Landschaft und durch die ästhetische Kunst. Und es ist die gleiche moderne bürgerliche Gesellschaft, die - als Replik auf den Siegeszug der exakten Naturwissenschaften - den historischen Sinn und die Geisteswissenschaften ausbildet (die ja erst nach den modernen Naturwissenschaften entstehen, d.h. auf sie »antworten«): sie »kompensieren« die »Geschichtslosigkeit« der modernen Gesellschaft und ihrer harten Wissenschaften, um das geschichtliche Dasein der Menschen festzuhalten, das sonst aus ihr verschwinden müßte, so >>daß die Gesellschaft selbst die Geisteswissenschaften als das Organ hervorbringt, das ihre Abstraktheit und Geschichtslosigkeit ausgleichen kan~«. Das ist Joachim Ritters Kompensationstheorie des Asthetischen und der Geisteswissenschaften. In den institutionellen Belangen der Philosophie war Joachim Ritter einflußreich. Er war Rektor der Universität Münster, Mitglied der Akademien der Wissenschaften in Düsseldorf und Mainz, Mitglied der Gründungsausschüsse der Universitäten Bochum, Dortmund, Konstanz, und er war Mitglied des deutschen Wissenschaftsrates. Ritter hat außerdem das begriffsgeschichtliche Historische Wörterbuch der Philosophie herausgegeben, das - bei Schwabe in Basel - seit 1971 in bisher 11 Bänden erschienen ist und im kommenden Jahr mit dem 12. Band und dem Registerband zum Abschluß kommt: er hat die begriffsgeschichtliche Forschung in der Philosophie entscheidend vorangebracht. Joachim Ritter war ein herausragender Lehrer: durch
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Sachlichkeit, inspirierende Anregungskraft und jene Sorge, die er sich um jeden seiner Schüler machte. Das legendäre »Collegium Philosophicum« - das aus seinem Ober~ seminar entstand- existierte seit 1947. Ernst Tugendhat, inhaltlich zunehmend kritisch, hat, selbst drei Semester in Münster, geurteilt: »Der Kreis um Joachim Ritter war damals wohl der lebendigste in Deutschland.« Aus ihm sind wichtige Schüler herv0rgegangen - bei den älteren Hermann Lübbe, Robert Spaemann, Karlfried Gründer, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Ludger Oeing-Hanhoff, Willi Oelmüller, Günter Rohrmoser, Martin Kriele, auch ich, um nur einige zu nennen - die zu wissenschaftlicher Bedeutung gelangt sind bzw. - teilweise in Opposition zur »Kritischen Theorie«- für die bundesrepublikanische Demokratie richtungweisend geworden sind. Joachim Ritter - das begründete die außerordentliche Liberalität seines Kreises - verpflichtete seine Schüler nicht auf seine eigenen Thesen. Er konnte sich das auch deswegen leisten, weiler-bei dem man lernen konnte, daß Merken wichtiger ist als Ableiten - seine Schüler schließlich doch überzeugt hat, auch wenn das viele Jahre später war: als sie ihrerseits über Lebenserfahrungen verfügten, die ihnen Ritters philosophische Antworten plausibel machten. So existiert unter den Ritter-Schülern eine Schulkonvergenz als langfristige Spätwirkung. Sie entstand auch durch eine von vielen (nicht von allen) Ritter-Schülern sehr ähnlich absolvierte Replik auf die durch das Jahr 1968 symbolisierte Infragestellung der demokratischen Struktur der Bundesrepublik, die die Irrfragesteller als kapitalistischen Repressionsstaat verdammte. Es war ein Marxismus, der damals die Philosophie ergriff, weil sich die Nachkriegsgeneration in Deutschland vor der Versuchung zur rechten Revolution, aus der sie kam und die sie nun verurteilte, durch Konversion in die linke Revolution schützen wollte, und die diesen Schritt durch nachträglichen Ungehorsam bekräftigte, indem sie ihren
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Mitmenschen vorwarf, ihn - als Anpassung an das Bestehende - nicht radikal genug vollzogen zu haben und zu vollziehen. Sie entkam dem Tribunal, indem sie es wurde: durch die >>Kritik« genannte Verweigerung der Bürgerlichkeit. Aber diese Verweigerung der Bürgerlichkeit- das konnte man durch Joachim Ritters Philosophie der Bürgerlichkeit lernen - macht die Philosophie wirklichkeitsblind. Denn die Kontraposition zur einen - der totalitär nationalsozialistischen- Verweigerung der Bürgerlichkeit ist nicht die andere - die totalitär sozialistische - Verweigerung der Bürgerlichkeit, sondern die Verweigerung dieser Bürgerlichkeitsverweigerung: die insofern »konservative<< Option für die bürgerlich liberale Demokratie.
Textnachweise Kleine Anthropologie der Zeit. (Denkrede bei der Verleihung des Hessischen Kulturpreises für Wissenschaft am 14.12.1997 in der Aula der Universität Frankfurt.) -In: Uni-Forum Gießen vom 28. 1. 1998. s. 5. Skepsis als Philosophie der Endlichkeit. (Vortrag beim philosophischen deutsch-polnisch-ungarischen Humboldtstipendiatentreffen »Philosophische Wahrnehmung der europäischen Geg~n wart« am 9.10. 2001 in der Universität Bonn.)- In: Bonner Philosophische Vorträge und Studien. Hrsg. von Wolfram Hogrebe. Bd. 18. Bonn: Bouvier, 2002. Wiederabgedr. in: Odo Marquard: Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays. Stuttgart: Reclam, 2003. S. 281-290. Verweigerung der Bürgerlichkeitsverweigerung. 1945: Bemerkungen eines Philosophen. (Am 18.7.1995 gehaltener Beitrag zur Ringvorlesung » 1945 -Germanistik an der Wende?« des Fachbereichs Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen.)- In: Gerhard Freiling I Günter Schärer-Pohlmann (Hrsg.): Geschichte und Kritik. Heinrich Brinkmann zum 60. Geburtstag. Gießen: Focus,2002.S. 19-30. Das Über-Wir. Bemerkungen zur Diskursethik - In: Karlheinz StierleI Rainer Warning (Hrsg.): Das Gespräch. München: Fink, 1984. (Poetik und Hermeneutik. Bd. 11.) S. 29-44. Sola divisione individuum. Betrachtungen über Individuum und Gewaltenteilung. - In: Manfred Frank I Anselm Haverkamp (Hrsg.): Individualität. München: Fink, 1988. (Poetik und Hermeneutik. Bd. 13.) S. 21-34. Mut zur Bürgerlichkeit. Vernünftig ist, wer den Ausnahmezustand vermeidet.- In: Frankfurter Rundschau. Nr. 194 vom 22. 8. 1995. s. 10. Drei Betrachtungen zum Thema »Philosophie und Weisheit«.- In: Willi Oelmüller (Hrsg.): Philosophie und Weisheit. Paderborn [u.a.]: Schöningh, 1988. S. 275-287. Die Denkformen und die Gewaltenteilung. Zur Aktualität der Philosophie von Hans Leisegang. Rede anläßlich der LeisegangEhrungder Friedrich-Schiller-Universität Jena am 4.12.1991.In: Odo Marquard: Ende der Universalgeschichte? Die Denk-
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Textnachweise
formen und die Gewaltenteilung. Jena: Universitätsverlag, 1992. s. 17-23. Einheitswissenschaft oder Wissenschaftspluralismus? -In: BemdOlaf Küppers (Hrsg.): Die Einheit der Wirklichkeit. Zum Wissenschaftsverständnis der Gegenwart. München: Fink, 2000. 5.59~7.
Musik in der Philosophie.- In: Norbert Dubowy I Sören Meyer-Eller (Hrsg. ): Festschrift Rudolf Bockholdt zum 60. Geburtstag. Pfaffenhofen: Ludwig, 1990. S. 9-12. Theodizeemotive in Fichtes früher Wissenschaftslehre. (Rede anläßlich der Ehrenpromotion des Autors am 10. 2. 1994 in der Aula der Friedrich-Schiller-Universität Jena.)- In: Jenaer Philosophische Vorträge und Studien. Hrsg. von Wolfram Hogrebe. Bd. 9. Erlangen/Jena: Palm und Enke, 1994. S. 25-38. Eine Philosophie der Bürgerlichkeit. Joachim Ritters Hermeneutik der positivierten Entzweiung.- In: Neue Zürcher Zeitung. Nr. 80 vom 5./6. 4. 2003. S. 77. U. d. T.: Eine Philosophie der Bürgerlichkeit. Vor hundert Jahren wurde Joachim Ritter geboren. Dort geringfügig gekürzt.
Biographische N oti~ Odo Marquard, geboren am 26. Februar 1928 in Stolp (Pommern) Schulbesuch in Kolberg (Pommern), Sonthofen (Allgäu), Falkenburg (Pommern) und als Luftwaffenhelfer bei Bremen Volkssturm, Kriegsgefangenschaft, dann in Norderney 1945 Abitur in Treysa (Hessen) 1946 1947-54 Studium der Philosophie, Germanistik, evangelischen Theologie und katholischen Fundamentaltheologie sowie kunstgeschichtliche und historische Studien in Münster (Westf.) und Freiburg i. Br. 1954 Promotion zum Dr. phil. in Freiburg i. Br. (bei Max Müller) 1955-63 Wissenschaftlicher Assistent am Philosophischen Seminar der Universität Münster (bei Joachim Ritter) 1963 Habilitation und Privatdozent für Philosophie in Münster Ab 1965 Ordentlicher Professor für Philosophie an der JustusLiebig-Universität Gießen 1982/83 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin 1985-87 Präsident der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland Emeritierung 1993 Dr. phil. h. c. der UniversitätJena 1994 Seit 1995 Ordentliches Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 1934---45
Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa (1984); ErwinStein-Preis (1992); Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik (1996); Hessischer Kulturpreis für Wissenschaft (1997). - Hessischer Verdienstorden (1990); Bundesverdienstkreuz 1. Klasse (1995).
Veröffentlichungen yon Odo Marquard Bücher Skeptische Methode im Blick auf Kant. Freiburg i. Br. I München: Alber, 1958. '1982. Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1973. 4 1997. (stw 394.)- Pranz. Ausg. 2002. Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien. Stuttgart: Reclam, 1981 [u. ö.]. (Universal-Bibliothek. 7724.) - Eng!. Ausg. 1990. Poln. Ausg. 1994. Span. Ausg. 2000. Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien. Stuttgart: Reclam, 1986 [u. ö.]. (Universal-Bibliothek. 8352.)- Eng!. Ausg. 1991. Ital. Ausg. 1991. Poln. Ausg. 1994. Span. Ausg. 2000. Transzendentaler Idealismus, romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse. Köln: Dimer, 1987. 2 1988. Aesthetica und Anaesthetica. Philosophische Überlegungen. Faderborn: Schöningh, 1989. 21994. München: Fink, 2003.- Ital. Ausg. 1994. Skepsis und Zustimmung. Philosophische Studien. Stuttgart: Reclam, 1994 [u. ö.]. (Universal-Bibliothek. 9334.) Glück im Unglück. Philosophische Überlegungen. München: Fink, 1995. 2 1996.- Poln. Ausg. 2001. Philosophie des Stattdessen. Studien. Stuttgan: Reclam, 2000 [u. ö.]. (Universal-Bibliothek. 18049.)- Span. Ausg. 2001. Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays. Stuttgan: Reclam, 2003. (Reihe Reclam.)
Herausgeber/Mitherausgeber Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer in Verb. mit[ ... ] Odo Marquard [ ... ]. Bd.1ff. Basel!Stuttgan: Schwabe, 1971ff. [Bisher ersch. Bd. 1-11.] Identität. (Zus. mit Karlheinz Stierle.) München: Fink, 1979. (Poetik und Hermeneutik. 8.) Plessner, Helmuth: Gesammelte Schriften. (Zus. mit Günter Dux
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Veröffentlichungen von Odo Marquard
und Elisabeth Ströker.) 10 Bde. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 198085. 2003 (stw 1624-33). Anfang und Ende des menschlichen Lebens. Medizinethische Probleme. (Zus. mit Hansjürgen Staudinger.) München/Paderborn: Fink/Schöningh, 1987. (Ethik der Wissenschaften. 4.) Ethische Probleme des ärztlichen Alltags. (Zus. mit Eduard Seidler und Hansjürgen Staudinger.) München/Paderborn: Fink!Schöningh, 1988. Ethik der Wissenschaften. 7.) Medizinische Ethik und soziale Verantwortung. (Zus. mit Eduard Seidler und Hansjürgen Staudinger.) München/Paderborn: Fink/ Schöningh, 1989. (Ethik der Wissenschaften. 8.) Einheitund Vielheit. XIV. Deutscher Kongreß für Philosophie, Gießen, 21.-26. September 1987. (Unter Mitw. von PeterProbst und Pranz Josef Wetz.) Hamburg: Meiner, 1990. Möglichkeiten und Grenzen medizinischer Forschung und Behandlung. (Zus. mit Stefan M. Manth.) Berlin/Wien: Blackwell, 1996. (Exlibris »Roche«. 4.) Kontingenz. (Zus. mit Gerhart von Graevenitz.) München: Fink, 1998. (Poetik und Hermeneutik. 17.)
Philosophische Einführungen IN RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK
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K Flasch: Augustin. 525 S. UB 9962
V. Gerhardt: lmmanuel Kant. Vernunft und Leben. 381 S. UB 18235 R. M. Hare: Platon. 144 S. UB 8631 O.jahraus: Martin Heidegger. 271 S. UB 18279
H. Poser: Rene Descartes. 185 S. UB 18286
W. Röd: Benedictus de Spinoza. 416 S. UB 18193 ]. Schulte: Wittgenstein. 248 S. UB 8564
T. Wesche: Kierkegaard. 224 S. UB 18260 V. Steenblock: Kleine Philosophiegeschichte. 502 S. UB 18198
Philipp Reclam jun. Stuttgart
Deutsche Philosophen der Gegenwart IN RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK
D. Birnbacher, Tun und Unterlassen. 389 S. UB 9392 R. Brandt, Philosophie. Eine Einführung. 297 S. UB 18137 F. Fellmann, Die Angst des Ethiklehrers vor der Klasse. Ist Morallehrbar? 163 S. UB 18033 G. Figal, Nietzsche. Eine philosophische Einführung. 294 S. UB 9752- Der Sinn des Verstehens. 157 S. UB 9492 K. Flasch, Augustin. Einführung in sein Denken. 523 S. UB 9962 -Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Maccliiavelli. 809 S. UB 18103. Auch geh. M. Frank, Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis. Essays zur analytischen Philosophie der Subjektivität. 485 S. UB 8689 G. Gamm, Der Deutsche Idealismus. 275 S. UB 9655 L. Geldsetzer I Hang Han-ding, Grundlagen der chinesischen Philosophie. 328 S. UB 9689 B. Gesang, Eine Verteidigung des Utilitarismus. 142 S. UB 18276 V. Gerhardt, Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches. 221 S. UB 8504 - Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität. 471 S. UB 9761 J. Habermas, Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte Vernunft. 87 S. UB 18164 - Politik, Kunst, Religion. 151 S. UB 9902 D. Henrich, Bewußtes Leben. 223 S. UB 18010- Selbstverhältnisse. 213 S. UB 7852 0. Höfle, Den Staat braucht selbst ein Volk von Teufeln. Philosophische Versuche zur Rechts- und Staatsethik. 174 S. UB 8507 N. Hoerster, Ethik des Embryonenschutzes. 144 S. UB 18186Ethik und Interesse. 239 S. UB 18278 A. Honneth, Leiden an Unbestimmtheit. 128 S. UB 18144 P. Hoyningen-Huene, Formale Logik. Eine philosophische Einführung. 335 S. UB 9692
B. Kanitscheider, Kosmologie. Geschichte und Systematik in philosophischer Perspektive. 512 S. UB 8025 R. Knodt, Ästhetische Korrespondenzen. Denken im technischen Raum. 166 S. UB 8986 W. Lenzen, Liebe, Leben, Tod. 324 S. UB 9772 N. Luhmann, Aufsätze und Reden. 336 S. UB 18149 0. Marquard, Abschied vom Prinzipiellen. 152 S. UB 7724Apologie des Zufälligen. 144 S. UB 8351 -Individuum und Gewaltenteilung. 172 S. UB 18306 - Philosophie des Stattdessen. 144 S. UB 18049 -Skepsis und Zustimmung. 137 S. UB 9334 - Zukunft braucht Herkunft. 293 S. geb. E. Martens, Philosophieren mit Kindern. 202 S. UB 9778 Sokrates. 178 S. UB 18318- Zwischen Gut und Böse. 222 S. UB 9635 ]. Nida-Rümelin, Strukturelle Rationalität. 176 S. UB 18150 H. Poser, Wissenschaftstheorie. 307 S. UB 18125 R. Raatzsch, Philosophiephilosophie. 109 S. UB 18051 N. Schneider, Erkenntnistheorie im 20. Jahrhundert. 334 S. UB 9702 - Geschichte der Ästhetik von der Aufklärung bis zur Postmoderne. 352 S. UB 9457 W. Schweidler, Der gute Staat. 396 S. UB 18289 R. Simon-Schaefer, Kleine Philosophie für Berenike. 263 S. UB 9466 R. Spaemann, Philosophische Essays. 264 S. UB 7961 H. Tetens, Geist, Gehirn, Maschine. 175 S. UB 8999 E. Tugendhat, Probleme der Ethik. 181 S. UB 8250 E. Tugendhat I U. Wolf, Logisch-semantische Propädeutik. 268 S. UB 8206 E. Tugendhat u. a., Wie sollen wir handeln? Schülergespräche über Moral. 176 S. UB 18089 G. Vollmer, Biophilosophie. 204 S. UB 9396 C. F. von Weizsäcker, Ein Blick auf Platon. 144 S. UB 7731 W. Wel~ch, Ästhetisches Denken. 240 S. UB 8681 - Grenzgänge der Asthetik. 350 S. UB 9612
Philipp Reclam jun. Stuttgart