Odo Marquard Apologie des Zufälligen Reclam
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Odo Marquard Apologie des Zufälligen Reclam
I Universal-Bibliothek Skeptiker Entlastungen. Theodizeemotive in der neuzeitlichen Philosophie Zur Diätetik der Sinnerwartung Universalgeschichte und Multiversalgeschichte Zeitalter der Weltfremdheit? Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Menschen
Odo Marquard
Apologie des Zufälligen Philosophische Studien
Philipp Reclam jun. Stuttgart
Dem Andenken meiner Eltern
Universal-Bibliothek Nr. 8351 Alle ~echte vorbehalten © 1986 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Srungart Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen. Printe
Inhalt Vorbemerkung
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Skeptiker Dankrede . . .
6
Entlastungen Theodizeemotive in der neuzeitlichen Philosophie.
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Zur Diätetik der Sinnerwartung Philosophische Bemerkungen. . . . . . . . .
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Universalgeschichte und Multiversalgeschichte
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Zeitalter der Weltfremdheit? Beitrag zur Analyse der Gegenwart . . . . . . . . ..
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Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften . . . . . . . . . . . .
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Apologie des Zufälligen Philosophische Überlegungen zum Menschen .
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Textnachweise . . . . . . . . . . . . . Biographische Notiz . . . . . . . . . . Veröffentlichungen von Odo Marquard .
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Vorbemerkung Zu diesem Bändchen sind sieben Beiträge zusammengestellt, die zwischen 1982 und 1986 entstanden. sind. Alle vertretenauf unordentliche Weise - die nämliche Position: die Philosophie eines aus der hermeneutischen Schule kommenden und ihr nie ganz entlaufenen Skeptikers und Usualisten. Alle haben darum - direkt oder indirekt und mit der menschlichen Lebenskürze.als Argument - die These im Sinn: Wir Menschen sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Wahl. Im übrigen haben fast alle Beiträge ein besonderes Verhältnis zum Berliner Wissenschaftskolleg, an dem ich Fellow seines zweiten Jahrgangs war: fast alle sind dort entweder abgeschlossen oder begonnen worden. Hier - wie auch sonst habe ich viel Grund zum Dank (»Wenn ich bedenke, wie man wenig ist, / Und was man ist, das blieb man andern schuldig« : Goethe, Torquato Tasso, V. 10Sf.).
Skeptiker Dankrede Sehr zu verehrende offizielle Respektspersonen! Meine sehr verehrten Damen, werte Herren! Vor allem habe ich aus Neigung die Pflicht, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung für die Zuerkennung des Sigmund-Freud-Preises für wissenschaftliche Prosa 1984 zu danken, den ich wenig - nur ein wenig - verdient habe, so daß er mir als Glück zugefallen ist. Wir Menschen sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Leistungen. Dank ist eine Form dessen, was - dieserhalb - für uns immer unvermeidlich ist: eine Form der Einwilligung in das Zufällige. Ich revanchiere mich - Revanche heißt Rache - hier durch einige Bemerkungen über die Skeptiker, zu denen ich gehöre, also dadurch, daß ich Farbe bekenne: Tarnfarbe. Ich bin als Profi das, was ich auch als Amateur wäre: ich bin Philosoph. Es trifft zu, daß nicht nur der Philosoph der Welt, sondern auch die Welt dem Philosophen manche Nuß zu knacken gibt: daraus folgt nicht, daß der Philosoph ein Nußknacker ist; denn - in nuce - er hat es nicht mit Nüssen zu tun, sondern mit dem Geist, dem Nous: Philosophen sind NousKnacker. Das jedenfalls gilt für jene Sorte von Philosophen, bei denen es am wenigsten feststeht, ob sie wirklich zu den Philosophen gehören. Ich meine justament die Skeptiker. Sextus Empiricus hat die Philosophen eingeteilt in die, die gefunden zu haben glauben (Dogmatiker), die, die nicht finden zu können behaupten (akademische Skeptiker), und die, die noch suchen (pyrrhonische Skeptiker). Bei den Skeptikern gibt es also zwei Fraktionen, und man kann an die falsche Fraktion geraten: an die Vertreter der - spieltriebhaft unentwegt alles bezweifelnden - akademischen Skepsis. Wenn man dieser Fraktion argumentativ den Garaus macht,
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bleibt immer noch die andere übrig, die bei weitem zähere, die es - z. B. - als erfrischende Konditionsspritze empfindet, von Zeit zu Zeit widerlegt zu werden; denn sie versteht die Skepsis als tugendhafte Mitte zwischen zwei Lastern: dem absoluten Wissen und dem absoluten Nichtwissen. Von ihr spreche ich hier: von den Skeptikern der pyrrhonischen Skepsis, mithin - versteht sich - auch von den Moralisten und von weiten Teilen der verspäteten Moralistik der verspäteten Nation: vom Historismus also und von den Skeptikern der hermeneutischen Schule. Ihre Skepsis - meine ich - hat mindestens drei besondere Kennzeichen. Erstens: Skepsis ist dp.r Sinn für Gewaltenteilung. Der skeptische Zweifel ist - wie das Wort Zweifel verrät, das mit der »zwei« auch die Vielheit enthält- jenes (schulmäßig »isosthenes diaphonia« genannte) Verfahren, zwei gegensätzliche Überzeugungen aufeinanderprallen und dadurch beide so sehr an Kraft einbüßen zu lassen, daß der Einzelne - divide et fuge! - als lachender oder weinender Dritter von ihnen freikommt in die Distanz, die je eigene Individualität. Es müssen nicht nur zwei, es können auch mehrere Überzeugungen einander in Schach halten, und nicht nur Überzeugungen, sondern auch ganz andere - einander balancierende, kompensierende - Realitätsgrößen, um diese Freiheitswirkung zu erreichen. Denn der Zweifel ist ein spezieller Fall der Gewaltenteilung, auf die es dem Skeptiker generell ankommt: auf die Teilung jeder Alleingewalt in Gewalten, die Teilung der Geschichte in Geschichten, die Teilung der sozialen und ökonomischen Macht in Mächte, die Teilung der Philosophie in Philosophien, und so fort. Montesquieus politische Gewaltenteilungslehre - die in skeptisch-moralistischer Tradition steht - hat nur eine besondere Region dieses Phänomens beleuchtet, das der Skeptiker allgemein schätzt: die Freiheitswirkung der generellen - gewaltenteiligen - Buntheit der Lebenswirklichkeit. Zweitens: Skepsis ist Usualismus, der Sinn fürs Usuelle, für die Unvermeidlichkeit der Üblichkeiten. Denn - das macht
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die Skepsis geltend - für absolute Orientierungen (für die absolut richtige Einrichtung des absolut richtigen Lebens, die auf absoluter Wahrheitsfindung beruht) leben wir nicht lange genug: unser Tod ist stets schneller als diese absolute Orientierung. Darum bleiben wir unvermeidlich überwiegend - ich betone: nicht nur, aber überwiegend - das, .~as wir schon waren: also unsere Vergangenheit, zu der das Ubliche gehört, das, was gilt, weil es schon galt. Unser Leben ist zu kurz, um uns aus dem Üblichen - den vorhandenen Sitten, Gewohnheiten, Traditionen - ins Absolute oder sonstwohin beliebig weit davonzumachen. Die Skepsis wir.~ zur Moralistik, indem sie diese Unvermeidlichkeit der Ublichkeiten - der mores - in Rechnung stellt: große oder gar absolute Sprünge sind nicht menschlich. Drittens: Skepsis ist - ebendarum - die Bereitschaft zur eigenen Kontingenz. Das hat nichts mit Beliebigkeitslust zu tun. Der aus der christlichen Schöpfungstheologie kommende Endlichkeitsbegriff des Kontingenten (Zufälligen) meint zwar »das, was auch anders sein könnte«. Doch es ist - wenn man es nicht von Gott, sondern (menschlicher) vom Menschen her sieht - doppelter Art. Entweder ist das Zufällige »das, was auch anders sein könnte« und durch uns änderbar ist (z. B. diese Rede: ich konnte sie so oder anders halten): also das Beliebigkeitszufällige. Oder das Zufällige ist »das, was auch anders sein könnte« und gerade nicht oder nur wenig durch uns änderbar ist (als negationsresistenter Schicksalsschlag: z. B. geboren zu sein): also das Schicksalszufällige. Der Skeptiker nun meint: in unserem Leben sind die Schicksalszufälle untilgbar prägend; zu ihnen gehören auch unsere Üblichkeiten, auf die wir angewiesen sind: denn wir regeln unser Leben überwiegend nicht selber, schon gar nicht absolut. Daraus eben folgt: wir Menschen sind stets mehr unsere Zufälle - unsere Schicksalszufälle - als unsere Leistungen. Ich sage nicht: wir sind nur unsere Zufälle. Ich sage einzig: wir sind nicht nur unsere Leistungen, sondern auch unsere Zufälle, unsere Schicksalszufälle. Und ich füge nur
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noch außerdem hinzu: wir sind stets mehr unsere Zufälleunsere Schicksalszufälle - als unsere Leistungen. Darum müssen wir das Zufällige leiden können; denn Leben mit dem Zufälligen: das ist keine mißlungene Absolutheit, sondern unsere geschichtliche Normalität. Zu den Schicksals zufällen gehört - in meinem eigenen Leben- nicht nur dieses: daß es mich gibt und gerade jetzt gibt, wo eine freundliche Akademie Sigmund-Freud-Preise für wissenschaftliche Prosa zuerkennt. Und zu meinen Schicksalszufällen gehört auch nicht nur dieses: daß ich direkt nach dem Krieg zur Philosophie kam und wohl darum durch Perennierung meines Erschreckens und indem ich die Irritierung zur Position machte - gerade zur Skepsis. Sondern es gehört dazu auch dieses: daß ich - irgendwann früh im Studium - im Bücherschrank meiner Tante zufällig auf Freuds Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse stieß, zufällig in jenem Semester, in dem - durch seine Ästhetikvorlesung - mein philosophischer Lehrer Joachim Ritter mich für seine Art zu denken einnahm (wie sich herausstellen sollte: einigermaßen lebenslänglich). Ich war damals erstaunt über die Ähnlichkeit einiger Grundmuster des psychoanalytischen Konzepts und seiner Philosophie, die doch, im weitesten Sinn, aus dem deutschen Idealismus herkam, und ich fragte mich: woran liegt das? Zur Beantwortung dieser Frage habe ich - damals war Freud hierzulande in der Philosophie noch kaum ein Thema - meine Habilitationsschrift über die Psychoanalyse als Aggregatzustand des deutschen Idealismus geschrieben, die dann ein freundlicher Zufall davor bewahrte, gedruckt zu werden. So bin ich denn (und nur darum erwähne ich das hier) dem Namenspatron des mir zuerkannten Preises, Sigmund Freud, überdurchschnittlich verpflichtet: nicht zwar als Patient seiner Schüler (mir schien das Leben auch ohne dies schon schwer genug), wohl aber als Theoretiker und Transzendentalbelletrist. Das war ein lebenslenkender Lebenszufall, den ich weder ändern kann noch will, sondern in den ich einwillige.
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Es gibt manche Formen der Einwilligung in das Zufällige. Die »Grenzreaktionen« Lachen und Weinen gehören ebenso dazu wie jene Grenzreaktion, die die Vernunft ist: der Verzicht auf die Anstrengung, dumm zu bleiben. Auch der Dank - sagte ich zu Anfang - ist eine Einwilligung in das Zufällige, und zwar - das wollte ich unterstreichen, indem ich der Üblichkeit entsprach, hier die Dankrede zu halten - auch die Einwilligung in jenes glückhaft Zufällige, das für mich dieser Preis ist. Ich danke Ihnen.
Entlastungen Theodizeemotive in der neuzeitlichen Philosophie Gegenwärtig herrscht weithin die Tendenz, alles und jedermann zur Legitimation zu verpflichten. Jegliches soll in einen »context of justification« eintreten - sein Luxusmodell ist der sogenannte »herrschaftsfreie Diskurs« - und sich rechtfertigen, insbesondere dann, wenn es in Legitimationskrisen geraten ist; und das scheint heute - im gern »postkonventionell« genannten Zeitalter- überall der Fall. Und sollte es irgendwo noch keine Legitimationskrise geben, wird sie notfalls erfunden: im Interesse der Ubiquisierung des Rechtfertigungsverlangens. Denn heute bedarf offenbar alles der Rechtfertigung: die Familie, der Staat, die Kausalität, das Individuum, die Chemie, das Gemüse, der Haarwuchs, die Laune, das Leben, die Bildung, die Badehose; nur eines bedarf - warum eigentlich? - keiner Rechtfertigung: die Notwendigkeit der Rechtfertigung vor allem und jedem. Wenn ich mich - höflich zu sein versuchend - vorstelle: »Gestatten Sie: Marquard«, so scheint heute die Normalantwort sein zu müssen: »Hier wird ohne Justifikation gar nichts gestattet! Rechtfertigen Sie sich! : Mit welchem Recht sind Sie Marquard, so, wie Sie sind, und nicht vielmehr ganz anders? Und mit welchem Recht sind Sie überhaupt und nicht vielmehr nicht?« Diese Konjunktur des Legitimationsverlangens ist ein Phänomen, das man sehen und darum benennen muß; und weil es alles gewissertnaßen zum Tribunal macht, nenne ich es: die Tribunalisierung der modemen Lebenswirklichkeit. Sie - diese Hochkonjunkt~r des Legitimationsverlangens entstand nicht erst heute. Wo alles und jedertnann die totale Beweislast hat für sein eigenes Seindürfen und Soseindürfen, ' ist man versucht zu sagen: die Zumutung, diese Beweislast zu tragen (die über jedes einstmalige Soll an guten Werken weit hinausgeht), ist - wie schon (frei nach Max Weber) der
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Kapitalismus oder (frei nach mir) die moderne Apotheose der ästhetisch guten Werke, der Kunstwerke - die Rache der reformatorisch geächteten Werkgerechtigkeit an ihrer Ächtung: hier jetzt als gnadenlos gewordener totaler Rechtfertigungsdruck. Er ist zunächst einmal - wenn ich es richtig sehe- ein Aggregatzustand der Tribunalsucht der Französischen Revolution und ihrer Praxis seit 1793, jedermann" als »suspect« zu behandeln, bis er das Gegenteil bewiesen hat. Zur Französischen Revolution aber war - nach der Deutung Hegels und seiner Schule- der deutsche Idealismus die Parallelaktion: »unsere deutsche Philosophie« - schrieb 1835 Heine - war der »Traum der französischen Revolution«; »wie in Frankreich jedes Recht, so muß [... ] in Deutschland jeder Gedanke sich justifizieren«; »um die Kritik der reinen Vernunft sammelten sich unsere philosophischen Jakobiner [... J Kant war unser Robespierre«.l Kants erste Kritik war das Initialbuch des transzendentalrevolutionären Idealismus, den Fichtes Wissenschaftslehre radikal machte: in einem »RechtshandeI« vorm »Gerichtshof der Vernunft« sollen die suspekten - die gnoseologisch und historisch malitätsverdächtigen - Aprioris sich und dadurch das menschliche Ich rechtfertigen2 und allererst so ihr »certificat de civisme« erhalten als Bürger im Reiche der Wissenschaft und Geschichte. Ist die Wissenschafts- und Geschichtsbonität des Menschen zu rechtfertigen? Si scientia, unde metaphysica? Si progressus, unde repressio? Wie der realrevolutionäre J akobinismus die politische Wirklichkeit, tribunalisiert - durch diese Fragen - der transzendentalrevolutionäre Idealismus die Philosophie zu ein~m Prozeß Mensch gegen Mensch in Dingen Wissenschafts- und Geschichtsübel: so gehört erwie seine Steigerung durch Marx und Nietzsche und seine ultimativen und pragmatischen Varianten bei Apel und Habermas - in die Geschichte der Tribunalisierung der modernen Lebenswirklichkeit. Ich meine nun: dieser Prozeß mit seinem Anklage- und Rechtfertigungspensum ist präfiguriert in der Theodizee von
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Leibniz. Diese ist neuzeitlich das philosophische - und ich betone: das philosophische - InitiaItribunal. Sie zuerst hatein Dreivierteljahrhundert vor Kants Kritik und Fichtes Wi~ senschaftslehre - die Philosophie an ihrer HauptsteIle zum Tribunal gemacht: zum Prozeß Mensch gegen Gott in Dingen Übel in der Weit. Leibniztheodizee und transzendentalrevolutionärer Idealismus stimmen in ihrer fundamentalen Verfahrensverfassung überein: beide sind ein Prozeß - ein Tribunal- mit Übeln als Anklagepunkt und einem einschlägigen Rechtfertigungspensum, bei dem der Mensch Ankläger und Verteidiger ist. Daraus folgere ich: beide - Leibniztheodizee und transzendentalrevolutionärer Idealismus Kants und Fichtes - gehören zum Phänomen der Tribunalisierung der modernen Lebenswirklichkeit, und in der Theodizee von Leibniz fängt diese Tribunalisierung, die auch noch und gerade die Gegenwart fundamental durchherrscht, philosophisch an. Anders und als These gesagt: Diese Tribunalisierung ist ein Theodizeemotiv in der neuzeitlichen Philosophie. Es gibt - neuzeitphilosophisch - mehrere solcher Theodizeemotive. Ich möchte hier - zusätzlich zum schon genannten Theodizeemotiv: der Tribunalisierung - auf drei weitere hinweisen. Dabei handelt es sich nun freilich um Motive, die jene Belastung, die die Tribunalisierung ist, gerade zu parieren suchen: also um Entlastungen. »Entlastung« ist nicht nur eine anthropologische Erfolgsvokabel Gehlens, sondern auch ein Rechtsbegriff des Vereinsrechts und Strafrechts: »entlastet« werden Vorstände, Tatverdächtige, Menschen, Götter: sie werden entl"astet, oder auch nicht. Freilich: über derartige Theodizeemotive kann man nicht sprechen, ohne zu reden von der Theodizee. So gliedert sich meine weitere Überlegung statt in drei in vier Abschnitte, die folgenden: 1. Theodizee und Neuzeit; 2. Das Theodizeemotiv Autonomisierung; 3. Das Theodizeemotiv Malitätsbonisierung; 4. Das Theodizeemotiv Kompensation. Ich beginne - ganz sittsam und bieder - mit Abschnitt
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1. Theodizee und Neuzeit. »Unter einer Theodizee versteht man die Verteidigung der höchsten Weisheit des Welturhebers gegen die Anklage, welche die Vernunft aus dem Zweckwidrigen in der Welt gegen jene erhebt«: so bestimmt 1791 Kane - rückblickend auf das Mißlingen der optimistischen Theodizee - jenes Pensum, das zuerst Leibniz - der das Wort »Theodizee« erfand - 1710 durch seine Essais de Theodicee sur La bonte de Dieu, La Liberte de l'homme et l'origine du mal als philosophische Disziplin lancierte: die Theodizee als eine spezifisch neuzeitliche Philosophie. Zwar sche~':lt die Frage nach der gerechten Güte Gottes angesichts der Ubel der von ihm geschaffenen Welt uralt: sie war - scheint es - aufgeworfen bereits im biblischen Buch Hiob; und die Formel »si Deus, unde malum?« steht immerhin schon - dort wiederum als Epikurreferat - in De ira Dei von Laktanz. 4 Dennoch behaupte ich - auch in der Meinung, daß ihre Frage überall früher, d. h. vorneuzeitlich, durch intakte Religion entschärft war - die spezifische Neuzeitlichkeit der Theodizee: wo Theodizee ist, ist Neuzeit; wo Neuzeit ist, ist Theodizee. Erlauben Sie mir zwei Hinweise, die das näherungsweise plausibel machen könnten. Mein erster Hinweis ist dieser: In der Neuzeit - erst in ihr wurde die Theodizee möglich, denn erst die Neuzeit hatteangesichts der Übel: des malum metaphysicum, der Endlichkeit; des malum morale, des Bösen; des malum physicum, des Leidens, und vielleicht noch manch anderer mala - dazu die Distanz. Die Lebenserfahrung scheint mir zu zeigen: vor Ort des Leidens, unter seinem unmittelbaren Druck, ist das Problem niemals die Theodizee; denn wichtig ist dort allein das Stehvermögen bei passio und Sympathie, die Kondition beim Aushalten, Helfen und Trösten. Wie erreiche ich das nächste Jahr, den nächsten Tag, die nächste Stunde?: Angesichts dieser Frage ist die Theodizee kein Thema; denn ein Bissen Brot, eine Atempause, ein Minimum an Linderung, ein Augenblick Schlaf sind dort stets wichtiger als Anklage und Verteidigung Gottes. Erst wo der direkte Leidens- urid Mitleidensdruck
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nachläßt - unter Bedingungen der Distanz - kommt es zur Theodizee: darum repräsentativ in der Neuzeit. Denn die Neuzeit ist das Zeitalter der Distanz: die erste Epoche, in der für die Menschen Ohnmacht und Leiden nicht mehr das Selbstverständliche und Normale sind. Jetzt - erstmalig scheint die Not grundsätzlich beherrschbar, der Schmerz grundsätzlich ersparbar, die Krankheit grundsätzlich besiegbar, das Böse grundsätzlich abschaffbar, die endlichkeitsbedingte Ohnmacht des Menschen grundsätzlich überspielbar. Weil die Übel unselbstverständlich werden, braucht man (scheint es) Gott immer weniger als Erlöser und kann ihn darum nunmehr - in der Neuzeit: dem Zeitalter der Distanzformvollendet als Schöpfer zur Rechenschaft ziehen: durch die Theodizee. Das schließt Diskussionsheftigkeit nicht aus, denn es re'giert das Gesetz der zunehmenden Penetranz der Reste: je mehr Negatives getilgt wird, um so ärgerlicher wird - gerade, wenn es sich vem1indert - das Negative, das übrigbleibt. Grundsätzlich aber gilt: das Theodizeepensum wird möglich (und dann auch wirklich und zentral) unter Bedingungen der Distanz: darum repräsentativ im Zeitalter der Distanz, der Neuzeit. Mein zweiter Hinweis ist dieser: Für die Neuzeit - erst für sie- wurde die Theodizee nötig, und zwar aus folgendem Grund. Die Theodizee dementiert die Rede vom bösen Schöpfergott und antwortet damit - wie die Bezugnahmen von Leibniz belegen - auf eine Position, die vom bösen Schöpfergott wirklich gesprochen hat: das war - im Kontext Gnosis und Manichäismus - vor allem Marcion, der (unterm Eindruck der verzögerten Parousie) glaubte: die Menschen können von der üblen Welt nur erlöst werden durch einen weltfremd ganz anderen Erlösergott, der - im Kampf gegen deren bösen Schöpfer - die Welt heilseschatologisch vernichtet. Dagegen opponiert - als weltkonservatives Zeitalter - die Neuzeit: sie ist - wie Hans Blumenberg5 sagt - die» Überwindung der Gnosis«, und zwar die »zweite«, weil die erste - das Mittelalter- mißlang. Denn die mittelalterlich erste Widerle-
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gung Marcions - die Erfindung der menschlichen Freiheit durch Origines und Augustinus, durch die (als Alibi Gottes) alle Weltübel den Menschen moralisch als Sünde zugerechnet werden, so daß gottes bezüglich weitergelten kann »omne ens est bonum« - wird schließlich durch die nominalistische Steigerung der Omnipotenztheologie und Luthers Lehre vom servum arbitrium widerrufen: dadurch wird der Schöpfergott erneut durch die Weltübel belastet. Dieser Belastung weicht er aus in der Rolle des fremden und verborgenen Erlösergottes, der zugleich in der Welt nichts mehr verständlich ordnet, so daß die Menschen sich über Heilsfragen streiten müssen, schließlich blutig: die Konfessionsbürgerkriege machen den Schreckensaspekt des heilszieligen Weltendes sinnenfällig; die Erlösung von den Übeln p1;äsentiert sich selber als Übel, das - z. B. als Dauerbürgerkriegsgrund - ausgeschaltet werden muß: die Erlösungseschatologie muß neutralisiert werden. Diese Neutralisierung der Erlösungseschatologie ist die Neuzeit. Sie ist nicht möglich ohne Entdringlichung der Erlösung durch Versuch des Nachweises, daß diese Welt auch bei ausbleibendem Heilsende aushaltbar ist durch manch »Rose im Kreuz der Gegenwart«: daß also kein böser Gott ihr Schöpfer ist und die Welt keine üble Welt. Dieser Nachweisversuch - die zweite Widerlegung Marcions - ist die Theodizee: sie wurde und blieb nötig zur Gründung der Neuzeit. Darum gilt, was ich behauptet hatte: die Theodizee gehört spezifisch zur Neuzeit. Diese beiden Hinweise sollten die Befremdlichkeit meiner These mildem: wo Theodizee ist, ist Neuzeit; wo Neuzeit ist, ist Theodizee. Da nun die Neuzeit - als Modernitätstraditionalist meine ich: erfreulicherweise - auch heute noch nicht zu Ende ist, bedeutet das zugleich: die Theodizee überdauert die - um 1750 einsetzende - Krise ihrer Leibnizform: das »System« des Optimismus wird modem überlebt zumindest durch >Motive< der Theodizee. Dabei gibt es mehrere Überlebensstrategien; etwa: die alte Lösung oder Teile von ihr hängen das Theodizeeproblem - das sie nicht befriedigend lösen
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können - ab und adoptieren neue Probleme, deren befriedigende Lösung sie werden; oder: die Theodizeefrage überlebt ihre alte Antwort und sucht eine neue Antwort schließlich auf Kosten der alten Intention. Zunächst diesen zweiten Fall bespreche ich im Abschnitt 2. Das Theodizeemotiv Autonomisierung. Leibniz - in seiner Theodizee - verteidigt Gott als bestmöglichen Schöpfer der bestmöglichen Welt, für den sein System des Optimismus nüchtern um Verständnis wirbt: Gott ist nicht böse, aber auch kein bloßer Gesinnungsschöpfer, der es weltfremd ohne Rücksicht auf schädliche Nebenfolgen - gut nur meint, sondern ein weltkluger Verantwortungsschöpfer, der - auf Kompossibilitäten achtend - bestrebt ist, »to make the best of it«. Aufgrund einer grenznutzenbewußten Optimierungskalkulation (an die zu denken zur Zeit des Merkantilismus nahelag) läßt Gott in der Welt jene Übel zu, die - als conditiones sine quibus non - die Gesamtbonität seiner Schöpfung steigern nicht zwar zur guten, aber immerhin zur »bestmöglichen Welt«: Schöpfung ist die Kunst des Bestmöglichen. Diese Leibnizlösung für die Entlastung Gottes läßt mindestens eine Frage unbeantwortet: Wenn die bestmögliche Schöpfung nur die bestmögliche ist und unvermeidlich Übel einschließt, warum hat Gott das Schaffen dann nicht bleibenlassen? Diese Frage wurde - zumal ein traditionelles Alibi Gottes, der Teufel, wenig früher von Descartes als genius malignus zum Argumentationskniff im Kontext des »methodischen Zweifels« entwirklicht worden war und dadurch als reale Entlastungsgröße ausfiel- Mitte des 18. Jahrhunderts unabweislich unter dem Eindruck neuer Malitätserfahrungen: etwa der frühgrünen Negauverfahrung der Naturferne der Kultur seit 1750 durch Rousseau; etwa der Entdeckung der Antinomien seit 1769 durch Kant mit dem Schreck, daß der Garant der Aufklärung, die Vernunft, durch selbstzerrüttende Eigenillusionen selber als genius malignus wirken kann. Dieses neue Unbehagen an der Welt- das das Erdbeben
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von Lissabon sinnenfällig machte und zu dem der fast gleichzeitige Beginn der literarischen und historiographischen Angstgenera gehört: der des Horror-Romans 1764 und der der Geschichtsphilosophie 1765 - ruiniert den Optimismus und verlangt nun nach Radikalbeantwortung der genannten Frage: Wenn die bestmögliche Schöpfung unvermeidlich Übel einschließt, warum hat Gott das Schaffen nicht bleibenlassen ? Als radikale Antwort auf diese Frage entsteht die philosophische Autonomieposition seit Kant und Fichte, und diese Antwort lautet: Gott hat das Schaffen bleibenlassen, denn nicht Gott ist der Schöpfer der Welt, sondern - autonomistisch - der Mensch, und zwar - so Kant - als Schöpfer der artifiziellen Experimentalweh der exakten Wissenschaften und ihrer technischen Anwendungswelt sowie der autonom selbstgegebenen sittlichen Normenwelt und Normenvollzugswelt und - so Fichte - als Schöpfer der Geschichte. Ich unterstreiche: diese ungemein wirkungsreiche These - die Autonomiethese seit dem transzeildentalrevolutionären Idealismus - wurde aus Theodizeegründen nötig: zur Entlastung Gottes durch seine Entpflichtung als Schöpfergott, dessen Nachfolger - zur Entlastung Gottes - der autonome Schöpfermensch wird. Meine These 6 ist also: diese Autonomisierung - eine Art Atheismus ad maiorem Dei gloriam, zu der so das Theorem und spätere Mythologem vom Ende Gottes gehört- diese Autonomisierung ist ein Theodizeemotiv in der neuzeitlichen Philosophie. So tritt nun in die Stelle des Angeklagten der Theodizee, aus der Gott aus Theodizeegründen ausscheidet, der Mensch ein. Ich darf an das eingangs zur Tribunalisierung Gesagte erinnern: jetzt ist der Mensch der Angeklagte dieses Tribunals. Diesem Tribunal entkommt er nur dadurch, daß er es wird: er klagt in Dingen Übel in der Welt - sich selbst zum Erlösermenschen ernennend, der mit Akkusationsmonopol avantgardistisch nur noch die Zukunft ist - die anderen Menschen als emanzipationswidersetzliche, als böse Schöpfermenschen an und verurteilt sie dazu, unverzüglich zur Vergangenheit zu
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werden: durch Revolution. Die Erfahrung dieser autonomistisch-geschichtsphilosophischen Revolution - zuerst· der französischen - ist, daß dort, wo nicht mehr die bösen Schöpfermenschen regieren, sondern die guten Erlösermenschen, die Übel - statt zu verschwinden - vielmehr bleiben und expandieren. Wenn die Menschheit durch diese Enttäuschung der revolutionären Naherwartung nicht entmutigt werden soll, muß man schließlich - um Ohnmachtserfahrungen zu artikulieren und auf der Suche nach einem Sündenbock - Gott als Schöpfer der widrigen Umstände reaktivieren. Diese philosophische Rückrufung Gottes - repräsentativ geschieht sie seit 1800 - erneuert natürlich das Pensum der Theodizee im Wortsinn, nun freilich auf dem Boden der Geschichtsphilosophie: diese ist - wie Hegel sagt - »insofern eine Theodizee«, und zwar »die wahrhafte Theodizee, die Rechtfertigung Gottes in der Geschichte«, von der auch noch Droysen meint: »die höchste Aufgabe unserer Wissenschaft ist ja die Theodizee«.7 Diese Geschichtstheodizee aber gerät in eine Antinomie: ohne Fortschritt - das meinte Hegel und meinte traurig noch Tocqueville - wäre Gott nicht gerecht, weil er den Menschen den Weg zur gleichen Freiheit aller verwehrteS; aber durch Fortschritt - das meinte Ranke und meinte der Historismus - wäre Gott ebenfalls nicht gerecht, weil er den früher Geborenen vorenthält, was er den später Geborenen gewährt: darum muß - aus Theodizeegründen gegen das Fortschrittskonzept gelten: »jede Epoche ist unmittelbar zu Gott«'. So hat Gott - für die Geschichte - nur die schlimme Wahl zwischen zwei (vollständig disjunktiven) Ungerechtigkeiten: dem Nichtfortschritt und dem Fortschritt. Angesichts dieses Gottesdilemmas setzt sich im 19.Jahrhundert die Autonomisierung alsbald wieder durch und mit ihr das Mythologem vom Ende Gottes: »die einzige Entschuldigung für Gott ist, daß es ihn nicht gibt«, sagt Stendhal. Schelling - der spätere - hatte zuvor noch eine andere Entschuldigung gesucht: Gottes Ich hat es mit Gottes Es so schwer, daß
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Gott dadurch - in seiner Allmacht gebremst - das Böse nicht verhindern kann und zugleich den Menschen indirekt zur Autonomie ermächtigt, wobei der Mensch in die Rolle des Gotteserlösers gerät. Seit ich Peter Wapnewski über Wagners »traurigen Gott« gelesen habe, merke ich, daß Wagner durch >auch eine Arbeit am Mythos< diese Grundfigur Schellings nur in die Sprache der germanischen Mythologie übersetzt hat: im Ring mit einem W otan, der es durch Schuld so schwer mit sich hat, daß er sich durch Menschen erlösen lassen muß und darüber - mit ästhetischem Glanz - todessüchtig wird. 10 Diese »Götterdämmerung« ging Nietzsche nicht weit genug: für Nietzsche »ist« Gott schon »tot«. Auch das - Hans Robert Jauß und Hans Blumenberg haben das jüngsthin bestätigt - ist eine Theodizee. Denn: Nietzsche meinte: »an seinem Mitleiden mit den Menschen ist Gott gestorben«l1. Wo es Mitleid, also Leid gibt - die Übel in der Weit -, ist Gott auch vor sich selber nur durch sein Nichtsein gerechtfertigt und just dadurch der Mensch zur Autonomie des Übermenschen ermächtigt. Durch diesen Hinweis bekräftige ich meine These: die Autonomisierung - zu der das moderne Mythologern vom Ende und Tode Gottes gehört - ist ein Theodizeemotiv in der neuzeitlichen Philosophie. Dabei kann - scheint es - der jeweilige Nachfolger des entpflichteten oder gestorbenen Schöpfers sich - angesichts der bleibenden Übel - nur halten, indem er in die Erlöserschaft ausweicht: er tritt in Opposition nicht nur zum alten, sondern schließlich auch zum neuen Schöpfer der vorhandenen Weit und betreibt - eschatologisch-revolutionär - deren Ende. Diese Dauerflucht aus der Schöpferrolle in die Erlöserrolle - die alsbald Dialektik hieß - repetiert (in theologischer oder profaner Variante) das Doppelgottmodell Marcions: den Erlöser, der gegen den Schöpfer antritt. Die Theodizeedie zweite Widerlegung Marcions - ermächtigt, autonomistisch geworden, also justament das, was sie widerlegen wollte, nämlich Marcion; und das bedeutet: statt die Neuzeit zu schützen, wird sie zur Gegenneuzeit: die Theodizee -
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autonomistisch radikalisiert - kippt um in ihr Gegenteil, die Eschatologie. Daraus folgt: will die Theodizee die Neuzeit nicht preisgeben, sondern weiterhin verteidigen, muß sie Alternativen zur Autonomisierung pflegen. 3. Das Theodizeemotiv Malitätsbonisierung. Auf eine dieser Alternativen mache ich aufmerksam, indem ich zunächst an eine autonomistische Philosophie anknüpfe: an Kants Kritik. Sie gilt als Apriorismus. Aber das bleibt unspezifisch. Kants Kritik ist - spezifischer - jener Apriorismus, der Aprioris als »Bedingungen der Möglichkeit«. (insbesondere der Erfahrung) legitimiert: also durch ihre Funktionalisierung. Ihr entscheidender Rechtfertigungsbegriff ist so »Bedingung der Möglichkeit«. 12 Er ist nicht - wie ich selber lange annahmkantoriginell, sondern kommt von Leibniz, der in seiner Theodizee sagt: Gott läßt- im Blick auf die Optimalwelt- das Übel zu als »conditio sine qua non«13, was auf deutsch und transzendentaldeutsch heißt: »Bedingung der Möglichkeit«. Daß so Kants zentraler Rechtfertigungsbegriff aus der Theodizee kommt, bedeutet fo~genreich: früher als Aprioris und andere Bonitäten wurden Ubel als Möglichkeitsbedingungen gerechtfertigt, und so können Übel weiterhin als Möglichkeitsbedingungen gerechtfertigt, d. h. gut sein: seit Leibniz für die bestmögliche Welt, seit Kant für die bestmögliche Wissenschaft, seit Fichte für die bestmögliche Geschichte. D~rin steckt generell: Übel können gut für etwas und also gut sem. Ihre Funktionalisierung ist nur eine Möglichkeit der Gutmachung der Übel, der Malitätsbonisierung; denn diese gehört - als ihr Moment - zu einer Generaltendenz der modernen Welt und Philosophie: zum großen Vorgang der Entübelung der Übel. 14 Er beginnt nach der »Zulassung« der Übel im Optimismus durch dessen Krise: da bot - wo der Optimismus nicht mehr und die Autonomisierung gar nicht befriedigte - einen Ausweg der Gedanke, daß die Übel so übel nicht sind. Darum - aus Theodizeegründen - machte die
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Philosophie sich auf, die Übel vor übler Nachrede zu retten: sie aus ihrer traditionellen Negativrolle zu befreien und die Bonität der Übel geltend zu machen. Meine These ist also: diese Malitätsbonisierung - die moderne Entübelung der Übel - ist ein Theodizeemotiv in der neuzeitlichen Philosophie. Sie findet statt bei allen Sorten von Übeln. Ich kann das hier nur andeuten durch fünf knappe Hinweise (a-e). a) Entübelt wird das gnoseologische Übel: die Neugier wird aus einem Laster zur zentralen Wissenschaftstugend; und entübelt wird vor allem der Irrtum. Er macht modern eine steile Positivkarriere und rückt schließlich - als produktive Fiktion - ein in die Position der wichtigsten Erkenntnis- und Handlungsbedingungen; als »Lüge im außermoralischen Sinn« und »zweckmäßiger Irrtum« im - durch Kant vorbereiteten - Fiktionalismus Nietzsches und Vaihingers. Falsificanda machen - bei Popper - die Wissenschaftsgeschichte: wir irren uns empor. Und Fiktionen - scheint es - durchherrschen die Weltgeschichte: Ideologien - notwendig »falsches Bewußtsein« - gelten seit Marx als geschichtsmächtig, und kontrafaktische Humanitätsunterstellungen als Zielvorwegnahmefiktionen garantieren - bei Habermas - den herrschaftsfreien Diskurs. Ich meine: diese Positivierung des Fiktiven - eine Malitätsbonisierung:- kommt her aus der Theodizee. b) Entübelt wird das ästhetische Übel: modern wird das Nichtschöne rasant zum ästhetischen Positivwert, indem neben die Ästhetik des Schönen - sie überflügelnd - die Ästhetik des Nichtschönen tritt: des Erhabenen, Sentimentalischen, Interessanten, Romantischen, Häßlichen, Dionysischen, Abstrakten, Negativen und so fort. Diese Positivie'::lng des ästhetischen Übels setzte voraus die Entübelung des Asthetischen: das traditionell übel gestellte (»inferiore«) Vermögen der Aisthesis - Sinnlichkeit - avanciert durch Entstehung der Ästhetik seit 1750 zur vermeintlich höchsten Menschlichkeitspotenz: der künstlerischen Genialität. Das korrespondiert mit der gleichzeitig breit einsetzenden Eman-
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zipation des traditionell Inferioren überhaupt: der Emotion, der Metapher, des Mythos, des Exotischen, des Wilden, des Kindes, der Frau, des dritten und vierten Standes, der Randgruppen. Ich meine: all diese Positivierungen - Malitätsbonisierungen - kommen her aus der Theodizee. c) Entübelt wird das moralische Übel. Es kommt zur großen »Entbösung des Bösen« (E. L. Marquard), wiederum repräsentativ seit 1750 im Anschluß an Rousseau: die natürliche Gutheit des Menschen wird - heißt es - als böse verkannt durch die Kultur und muß also gegen diese und ihre traditionellen Normen rehabilitiert werden. Das Böse - so dann auch noch Nietzsche - ist in Wirklichkeit das Gute: das Asoziale das Kreative, das Alternative und Deviante das Authentische, das Antiautoritäre das Vitale, das Antiinstitutionelle das Humane, das Antizivile das Reflexionsstarke oder sonstwie Starke, die große Weigerung die große Befreiung, die Revolution die gute Tat schlechthin; und - von Kant bis Bloch - die philosophische Uminterpretation von Genesis 3 unterstützt das: Sündenfall ist Freiheitspflicht. Ich meine: diese Entbösung des Bösen durch Umwertung aller Werte - als Malitätsbonisierung - kommt her aus der Theodizee. d) Entübelt wird das physische Übel. Denn im gleichen Zeitraum werden Mühe und Arbeit positiviert; die Not wirdetwa durch Malthus - umgewertet zur Chance, sie zu besiegen. Die Angst wird zur Eigentlichkeitsstimmung. Hinzu kommt - früh schon - die Ernüchterung der Pathologie: die Krankheit wird losgekoppelt vom Bösen und gilt nicht mehr als Sündenstrafe oder negatives Wunder; sie wird entmythologisiert und objektivierbar: synchron zur »Geburt der Klinik«. Wenig später gilt krank zu sein als interessant: als Bedingung der Genialität. Das Leiden wird entweder positiviert oder verdrängt: das Gebrechliche wird als Daseinssymbol verehrt oder kommt in Heime; der Schmerz wird als Sensibilitätsgewinn gefeiert oder betäubt, der Tod - wie Philippe Aries gezeigt hat - zunächst emphatisiert und dann »verbannt«: die Leiden - die mala physica - promovieren
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zur Chance oder werden euphemisiert und versteckt. Ich meine: auch diese mühsame Positivierung- eine Malitätsbonisierung - kommt her aus der Theodizee. e) Entübelt wird schließlich auch und gerade das metaphysische Übel: die Endlichkeit macht modern unaufhaltsam Karriere und wird - spätestens seit Kants Proklamation der Unabhängigkeit der menschlich-endlichen Erkenntnis gegenüber der göttlichen - zum ontologischen Positivwert, insbesondere auf Kosten der bisherigen ontologischen Nobelverfassung, der Invarianz. So kommt es zur Positivierung der Veränderlichkeit: es entsteht - wiederum seit 1750: Koselleck hat das gezeigt - als Begriff einer metaphysisch entübelten Wandelbarkeit der Begriff der »Geschichte«, die nun - von der Menschheitsgeschichte bis zur Evolution der N atur- ihren modernen Erfolgslauf beginnt. Ich meine: diese Positivierung des metaphysischen Übels »Endlichkeit« und »Wandelbarkeit« - eine Malitätsbonisierung- kommt her aus der Theodizee. Freilich: diese große Entübelung der Übel muß gegen den Widerstand traditioneller Normen durchgesetzt werden, und dieser Widerstand gilt nun als böse, und das bisher offiziell qute, das ihn leistet, gilt nun als Übel: die Positivierung des Ubels zum Guten negativiert zugleich das traditionell Gute zum Übel. So führt die moderne Malitätsbonisierung, die ein Theodizeemotiv ist in der neuzeitlichen Philos
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siert«.15 Das ist der Gedanke der Kompensation: er rechnet statt mit der Gutmachung der Übel mit der Wiedergutmachung der Übel; und meine These lautet also: dieser Kompensationsgedanke ist ein Theodizeemotiv in der neuzeitlichen Philosophie. Er konnte zum Theodizeemotiv werden, weil in der Leibniztheodizee der >alte< Nemesis-Nexus - Untaten werden kompensiert, d. h. bestraft durch Übel- umgedreht wurde zum >modernen< Linderungs-Nexus: Mängel werden kompensiert, d. h. entschädigt durch Bonitäten. 16 In dieser >modernen< Form inspiriert der Kompensationsgedanke im 18. J ahrhundert bis ins 19. hinein jene fleißigen kompensationsphilosophischen Bilanzen,die nachzuweisen versuche~: in der Welt überwiegen nicht (wie Bayle meinte) die Ubel die Güter, sondern (so zuerst Leibniz) die Güter die Übel, hilfsweise ergibt sich eine ausgeglichene Bilanz, eine Balance von »maux« und »biens« durch das allgemeine Kompensationsgesetz: Übel plus kompensierende Güter = Null, von dem Robinet und der junge Kant sprachen und vor allem - angeregt durch La Salle - Azais, der 1808 stark ins Detail ging: in jedem Menschenschicksal- meinte er zeigen zu können ist Unglück durch Glück so kompensiert, daß die Glücksbilanz stets Null ist, dadurch sind alle Menschen gleich. Ich habe im letzten Jahrzehnt mehrfach auf den Theodizeesinn gerade auch dieser Kompensationsphilosophien aufmerksam gemachtY Inzwischen - Oktober 1981 - ist von Jean Svagelski ein hervorragend gründliches Buch L'idee de Compensation en France 1750-1850 18 erschienen, das diese These stützt und die einschlägigen französischen Kompensationskonzepte bis Balzac verfolgt. Im angelsächsischen Raum scheint mir - wird diese theodizeemäßige Kompensationsbilanz durch den Utilitarismus temporalisiert zur Zukunfts aufgabe: in Richtung auf »the greatest happiness of the greatest number« soll durch kluge Kompensationspolitik die GüterÜbel-Bilanz aufgebessert werden; dieses pragmatische Kompensationsprogramm zur Gesellschaftsreform wirkt - später
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ernüchtert durch Emersons »law of compensation«, das mit einer »absolute balance of Give and Take« rechnet- bis in die Gegenwart hinein: in das - wie Scheler es nannte - »Zeitalter des Ausgleichs«. Im deutschen Sprachraum - wo Burckhardt aufmerksam machte auf »das geheimnisvolle Gesetz der Kompensation« in der Geschichte, mit dessen »Trost« man aber »sparsam umgehen« müsse - wird der Kompensationsgedanke schon seit Leibniz - energisch dann seit der Krise des Optimismus - zugespitzt zur Bonum-durch-malum-Figur: wie die Sünde den Erlöser herbeirief und dadurch zur »felix culpa« wurde, so rufen Defekte Kompensationen hervor und werden dadurch zu Chancen. Zum Beispiel ist zwar malum - der Mensch ein Stiefkind der Natur, aber gerade dadurch hat er - bonum durch malum - Sprache: als Kompensation (,>Schadloshaltung«), so Herder: »in der Mitte dieser Mängel« liegt »der Keim zum Ersatze«; das klingt wie Hölderlin: »wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch«, und Busch: »wer Sorgen hat, hat auch Likör«19. Dieser zugespitzte Kompensationsgedanke, demzufolge Übel indirekte Güter und Defekte Chancen sind, wird im 20. Jahrhundertnach seinem späten Weg durch die Psychoanalyse bei Adler und Jung - zur anthropologischen Fundamentalkategorie : als unbewußt gewordenes Theodizeemotiv dirigiert er weithin die heutigen Philosophien des Menschen und Theorien des Menschlichen; ich gebe zwei Hinweise: a) Helmuth Plessner schreibt im Vorwort zur zweiten Auflage seines anthropologischen Hauptwerks Die Stufen des Organischen und der Mensch über Gehlen: »Seine Thesen [... ] lassen sich alle um den Gedanken der Kompensation gruppieren, dem Herder das Stichwort Mängelwesen gegeben hat«: der Mensch kompensiert seine naturhaften Mängel durch »Entlastungen«. Auch Sartre denkt einschlägig: seinen Mangel an vorgängiger Wesensbestimmtheit muß der Mensch kompensieren durch Entwurf, durch Wahl. Aber früher und ausdrücklicher hat Plessner selber zentral mit dem Kompensationsbegriff operiert: die menschlich »exzentrische
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Positionalität« erzwingt kompensatorische Rezentrierungsversuche: »der Mensch« - schreibt Plessner- »will heraus aus der unerträglichen Exzentrizität seines Wesens« und »sucht« darum »Kompensation seiner Halbheit, Gleichgewichtslosigkeit, Nacktheit«: durch Kultur, also durch Technik, Expressivität, Transzendenz. 20 Was so durch Plessner, .Gehlen, Sartre belegbar ist - und in subtiler Generalisierung fortwirkt bei Niklas Luhmann: auch und gerade das System Mensch kompensiert Komplexitätsüberlastung durch Komplexitätsreduktion -, gilt weithin: die Gegenwartsanthropologie bestimmt den Menschen zentral als Defektflüchter, der nur durch Kompensationen zu existieren vermag: als homo compensator. Die moderne und gegenwärtige Konjunktur der philosophischen Anthropologie vollzieht sich repräsentativ im Zeichen des Kompensationsgedankens, eines Theodizeemotivs in der neuzeitlichen Philosophie. b) Nur und gerade weil das so ist, können zugleich in den menschlichen Verhältnissen erneut Kompensationen entdeckt und geplant werden. »Kompensation« wird zur Losung aktueller Programme: etwa der »compensatory fiscal policy« von Keynes und Hansen, etwa der »compensatory education« nach dem Sputnik-Schock. Zugleich ist »Kompensation« zum Schlüsselbegriff der Philosophie der Modernisierungsprozesse geworden, etwa durch Joachim Ritter21 und seine Schule: die moderne Entzauberung der Wirklichkeit wird kompensiert durch die spezifisch moderne Ausbildung der Ersatzverzauberung des Ästhetischen; oder: die moderne Verkünstlichung der Welt wird kompensiert durch die spezifisch moderne Entdeckung und Apotheose der unberührten Landschaft und die Entwicklung des Sinns für die Natur einschließlich des ökologischen Bewußtseins; oder: der moderne Traditionsverlust durch Versachlichungen und durch zunehmendes Tempo des Wirklichkeitswandels wird kompensiert durch die spezifisch moderne Genese des historischen Sinns: also etwa durch die Geburt des Museums und der Geisteswissenschaften. All das und vieles andere
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zeigt: die Kompensationsphilosophie des Menschen setzt sich gegenwärtig allenthalben fort in Kompensationstheorien des Menschlichen. Das bestätigt, was ich unterstreichen wollte: die moderne und gegenwärtige Konjunktur der philosophischen Anthropologie vollzieht sich repräsentativ im Zeichen des Kompensationsgedankens, eines Theodizeemotivs in der neuzeitlichen Philosophie. Dabei wurde der ursprüngliche Theodizeesinn des Kompensationsgedankens vergessen. Gleichwohl ist es nur konsequent, daß die Gegenwartsanthropologie gerade ein Theodizeemotiv aufnimmt. Nicht nur ist die Anthropologie ihrerseits - worauf zuerst Werner Sombart22 hingewiesen hateine Philosophie spezifisch der Neuzeit. Zugleich opponiert sie jenen Geschichtsphilosophien, die neo-eschatologisch in die Gegenneuzeit desertieren. Weil das so ist - weil die philosophische Anthropologie die amtierende Negation der Eschatologie ist - nimmt sie plausiblerWeise Motive jener Negation der Eschatologie auf, die die zweite Widerlegung Marcions war: der Theodizee. Erlauben Sie mir noch eine ultrakurze Schlußbemerkung. Daß gerade ein Skeptiker - ich - auf die Theodizee, also ein exemplarisch metaphysisches Pensum, verweist, ist nur scheinbar paradox. Die Metaphysik ist jene kognitive Branche, die Probleme hat, mit denen sie nicht fertig wird; und die Theodizee ist das - wie ich hier partiell mitbelegt zu haben glaube - in exemplarischer Weise. Probleme zu haben, mit denen man nicht fertig wird, ist wissenschaftstheoretisch ärgerlich, aber menschlich normal. Skeptiker sind - meine ich - jene Leute, die wissenschaftstheoretische Ärgernisse verschmerzen zugunsten menschlicher Normalität: für sie ist Metaphysik - das Nichtfertigwerden - gerade kein Gegner, sondern das Menschliche; so kann es für Skeptiker - die für das Menschliche optieren - niemals zuviel Metaphysik geben. Es existieren menschliche Probleme, bei denen es gegenmenschlich, also ein Lebenskunstfehler wäre, sie nicht zu
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haben, und übermenschlich, also ein Lebenskunstfehler, sie zu lösen. Die skeptische Kunst, diese Kunstfehler nicht zu begehen, ist die Metaphysik; und professionelle Metaphysiker sind Leute, die sorgfältig und erfolgreich gelernt haben, mit Problemen nicht fertigzuwerden: gerade darin liegt ihr Wert. Freilich: wer auf ein Problem gar keine Antwort gibt, verliert schließlich das Problem; das ist nicht gut. Wer auf ein Problem nur eine Antwort gibt, glaubt das Problem gelöst zu haben und wird leicht dogmatisch: auch das ist nicht gut. Am besten ist es, zu viele Antworten zu geben: das - etwa bei der Theodizee - bewahrt das Problem, ohne es wirklich zu lösen: es muß tausend Antworten geben, vielleicht im Orient tausendundeine und in Spanien tausendunddrei. Beantwortungsabstinenz und Beantwortungsmonismus sind schädlich; nützlich ist ein exzessiv ausschweifendes Beantwortungsleben, das es meist schon gibt: als Geschichte der Metaphysik, die darum das Organon der Skepsis ist. Deshalb ist der Skeptiker verliebt in jene Metaphysik, die so viele Antworten produziert, daß sie einander wechselseitig neutralisieren, und gerade dadurch - teile und denke! - die Probleme offenläßt, so daß es ihr im Fazit ergeht wie jenem löwenfreundlichen Löwenjäger, der, gefragt, wieviele Löwen er schon erlegt habe, gestehen durfte: keinen, und drauf die tröstende Antwort bekam: bei Löwen ist das schon viel. Just so - darum mag sie der Skeptiker - ergeht es der Metaphysik und so auch der Theodizee; von ihren Problemen hat sie gelöst: keines. Jedoch: für Menschen ist das schon viel.
Anmerkungen 1 H. Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in: Sämtliche Werke, hrsg. von E. Elster, Leipzig/ Wien 1890, Bd. 4, S. 245; H. H., »Einleitung zu >Kahldorf über den Adel in Briefen an den Grafen M. von Moltke
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2 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, bes. B 116, 697, A XI/XII; vgl. O. Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie (1973), Frankfurt a. M. 1982, S. 60f. 3 I. Kant, .Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee« (1791), in: Gesammelte Schriften, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 8, Berlin 1912, S.255. 4 Laktanz, De ira Dei 13.20-21. 5 H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1966, bes. S. 78 ff.;vgl. A. v. Harnack, Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott. Eine Monographie zur Geschichte der Grundlegung der katholischen Kirche, Leipzig '1924, Nachdr. Darmstadt 1985; ferner: o. Marquard, .Das gnostische Rezidiv als Gegenneuzeit. Ultrakurz theorem . in lockerem Anschluß an Blumenberg«, in: J. Taubes (Hrsg.), Gnosis und Politik, Paderborn 1984 (Religionstheorie und politische Theologie, Bd. 2), S.31-36. 6 Vgl. O. Marquard, .Idealismus und Theodizee« (1965), in: o. M., Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie (1973), Frankfurt a. M. 1982, S. 52-65. 7 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: Werke in 20 Bänden, Theorie-Werkausg., Red. E. MoIdenhauer und K. M. Michel, Frankfurt a. M. 1969 H., Bd. 12, 1970, S. 540;J. G. Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hrsg. von R. Hübner, München 1958, S. 341,371. 8 A. deTocqueville, De lademocratie enAmerique(1835/1839-40); dt.: Über die Demokratie in Amerika, München 1976 (dtv 2135): .. Die Demokratie aufhalten wollen, hieße [ ... ] gegen Gott selbst kämpfen« (S. 9), weil .. nicht das besondere Wohlergehen einiger, sondern der größte Wohlstand aller den Blick dieses Schöpfers und Erhalters der Menschen am meisten befriedigt: was mir als Niedergang erscheint, ist also in seinen Augen ein Fortschritt; was mich verletzt, findet er gut. Die Gleichheit ist vielleicht weniger erhaben; sie ist aber gerechter, und ihre Gerechtigkeit macht ihre Größe und ihre Schönheit aus. Ich bemühe mich, diese Anschauungen Gottes zu begreifen, und von ihr aus suche ich die menschlichen Dinge zu betrachten und zu beurteilen« (S. 828 f.). 9 H. R. Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a. M. 1970, S. 151 (Anm. 17), hataufden TheodizeekontextdieserFormulierung aufmerksam gemacht: .Wollte man aber [ ... ] anneh-
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men, dieser Fortschritt bestehe darin, daß in jeder Epoche das Leben der Menschheit sich höher potenziert, daß also jede Generation die vorhergehende vollkommen übertreffe, mithin die letzte allemal die bevorzugte, die vorhergehenden aber nur die Träger der nachfolgenden wären, so würde das eine Ungerechtigkeit der Gottheit sein«; L. v. Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte (1854), MünchenlWien 1971, S. 59 f. Stendhal, zit. bei: W. Mehring, Die verlorene Bibliothek. Autobiographie einer Kultur (1944), München 1975, S. 15; zu Schelling bes.: F. W. J. Sch., »Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände« (1809), in: Sämmtliche Werke, 2 Abt. in 14 Bdn., Stuttgart 185
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(Theorie der Geschichte, Bd. 2), S. 330-362; sowie: O. M., »Glück im Unglück. Zur Theorie·des indirekten Glücks zwischen Theodizee und Geschichtsphilosophie«, in: G. Bien (Hrsg.), Die Frage nach dem Glück, Stuttgart 1978, S. 93-111. Lyon 1981. Grundthese : Der Kompensationsgedanke wird - im Kontext des durch Waage oder Pendel symbolisierten Gleichgewichtsdenkens - in Frankreich (Formey, Robinet, La SaUe, Azais; metaphysisch: Malebranche, Leibniz; politisch durch die Theorie des europäischen Gleichgewichts; naturphilosophisch : Saint-Pierre, Buffon, Saint-Hilaire; ästhetisch: Balzac u. a.) etabliert und temporalisiert, wird aber dann - was durch Svagelski begrüßt wird - durch den Sieges zug des Fortschrittsgedankens zerstört. Ich möchte - bei Zustimmung zu den inhaltlichen begriffsgeschichtlichen Ergebnissen - Svagelskis Kritik am Kompensationsgedanken (seiner Rede vom begrüßenswerten »Tod« dieses .Monsters«) entgegenhalten: zur Neukonjunktur des Kompensationsgedankens muß es folgerichtig und legitimerweise im Augenblick der Krise des Fortschrittsgedankens kommen, also insbesondere nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg: in der Gegenwartsphilosophie. Darum ist gerade heute eine Neubelebung des Kompensationsgedankens fällig. J. G. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772), Stuttgart 1966 Eu. ö.] (Reclams Universal-Bibliothek, Nr. 8729 [2]), S. 25; F. Hölderlin, Patmos (1803); W. Busch, Die fromme Helene (1872). H. Plessner, Gesammelte Schriften, hrsg. ven G. Dux, O. Marquard und E. Ströker, Bd.4, Frankfurt a. M. 1981, S. 24, 385, 395. J. Ritter, Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt a. M. 1974. W. Sombart, »Beiträge zur Geschichte der wissenschaftlichen Anthropologie«, in: Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse 13 (1938) S.96-130.
Zur Diätetik der Sinnerwartung Philosophische Bemerkungen Der Sinn - und dieser Satz steht fest - ist stets der Unsinn, den man läßt. Ich meine, beim Rahmenthema »Sinn im Horizont der Wissenschaft« kommt man als Philosoph ganz gut durch mit dieser - Sie haben das sofort bemerkt - Variante einer Formulierung von Wilhelm Busch, die da lautet: »Das Gute, dieser Satz steht fest, ist stets das Böse, das man läßt«, die umgedrehter Plotin ist: nicht das Böse ist Mangel (privatio boni), sondern das Gute ist Mangel (privatio mali): es ist die Absenz des Schlimmen. Das war die These Schopenhauers: Busch ist gereimter Schopenhauer, womit ich nicht behaupte, daß Schopenhauer ungereimt ist. Ich wiederhole: Der Sinn - und dieser Satz steht fest - ist stets der Unsinn, den man läßt. Diese Formulierung möchte ich hier - nun freilich ganz und gar nicht aus der Position Schopenhauers heraus - zu einem philosophischen Gedanken stabilisieren, und zwar in etwa 55 Minuten in folgenden vier Abschnitten: 1. Modernität der emphatischen Sinndebatte; 2. Sinndefizit und Anspruchsdenken; 3. Die Indirektheit von Sinn und der Unsinn der direkten Sinnintention; 4. Fürsprache für den unsensationellen Sinn. Ich beginne - ganz konventionell, brav und sittsam - mit Abschnitt
1. Modemität der emphatischen Sinndebatte . Bemerkenswert scheint mir folgender begriffs- und problemgeschichtlicher Befund: Das emphatische Sinnproblem und der emphatische Sinnbegriff (derzeit ein »hot issue«, wieder einmal ein Diskussions-Renner vom Dienst) sind - im Unterschied zu davon verschiedenen Altbedeutungen des Sinnbegriffs - eine sehr junge und durchaus spätmoderne Angelegenheit. Ich beginne mit Unterscheidungen. Man muß oder kann - meine ich - zumindest drei Sinnbegriffe unterscheiden: den sinn-
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lichkeitsbezüglichen Sinnbegriff, den verständlichkeitsbezüglichen Sinnbegriff und den emphatischen - den glücksbezüglichen - Sinnbegriff. Erlauben Sie mir hier zunächst - zur Erläuterung - drei kurze einschlägige Hinweise (a-c). Da ist a) der sinnlichkeitsbezügliche Sinnbegriff: Sinn hat, wer merkt (im Unterschied zu dem, der nicht merkt, weil ihm zuständige Sinne fehlen, oder weil er - und sei es denkend durch Abstraktionsorgien - nur spinnt) und also: Sinn hat, wer- durch Merken - genießen oder leiden kann. Die Menschen merken durch ihre fünf Sinne: das Gesicht (wenn sie nicht blind sind), das Gehör (wenn sie nicht taub sind), den Geschmack, den Geruchssinn und den Tastsinn, also das Sinnen-Ensemble der menschlichen aisthesis, d. h. der sensatio bzw. sensualitas bzw. sensibilitas, also der ,.Sinnlichkeit«, deren äußere Sinne unterscheidbar sind vom inneren Sinn (sensus interior) ebenso wie vom Gemeinsinn (dem sensus communis für die communis opinio, für topos und common place, aber auch fürs Gemeinwohl). So gibt es nicht nur den ,.sinnlichen« - ggf. ,.sinnlich genialen« - Menschen, der genießt, indem er seine Sinnlichkeit auslebt, sondern auch den ,.sensiblen« Menschen mit dem ,.Sinn für« etwas: dem ,.Feinsinn«, ,.esprit de finesse«, dem Sensorium für das Ziemliche der Sitten und ihre ,.feinen Unterschiede« und die tolerablen Möglichkeiten des Ausbruchs aus ihnen in die direkte Herzlichkeit oder Ruppigkeit; dem ,.moral sense« für das Gute; dem ,.taste« bzw. ,.gout« und ,.gusto«, d. h. Geschmack für das Schöne; dem ,.Gespür« und der ,.Nase« für das Fällige, womit die Grenze sich schon verwischt zum zweiten Bedeutungsfeld. Denn da ist b) der verständlichkeitsbezügliche Sinnbegriff: Sinn hat, was verständlich ist (im Unterschied zum ganz und gar Unverständlichen und Fremden). Hierhin gehört - als auch eine Altbedeutung des Sinnbegriffes - der sensus scripturae, dergegebenenfalls mehrfache (mindestens literale und spirituelle, d. h. buchstäbliche und geistige) - Schriftsinn der Heiligen
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Schrift, wobei man das Verständliche und das Verständnis dieser oder jeder Schrift oder Handlung oder Wirklichkeit zuweilen kurz aussprechen kann: durch - auch das ist ein alter Sinnbegriff - eine »Sentenz« (juristisch: Urteilsspruch; praktisch: Entschluß; theoretisch: These; literarisch: Sinnspruch und Sinngedicht; und metaphorisch-emblematisch: das Sinnbild): sie präsentierten Verständnis des Verständlichen. Dieser verständlichkeits bezügliche Sinnbegriff regiert - auch dies modern und hektisch erst in unserem Jahrhundert - die hermeneutische, phänomenologische und neuerdings soziologische Sinndiskussion : der neopositivistisch wissenschaftstheoretische Disput um das analytische Sinnkriterium (als Wissenschaftsabgrenzungskriterium) - das Abstinenz von der Metaphysik, d. h. dem Sinnlosen als dem empirisch Unentscheidbaren, Unverifizierbaren, Unprüfbaren verlangt - ist davon nur die Schwundstufe, die übrigens die ruinöse Anwendung dieses Sinnkriteriums auf es selbst nur durch Unterscheidung von Objektsprache und Metasprache zu stoppen vermag, wobei allemal die Frage bleibt, ob diese Unterscheidung ihrerseits im Sinne dieses Sinnkriteriums sinnvoll ist. Plausibler ist es, jene Recherchen für sinnlos zu halten, deren Ergebnisse folgenlos sind, wie z. B. die Beantwortung der Frage, ob die Subtraktion der Quersumme aller ungeraden Mainzer Telephonnummern von der Quersumme aller geraden Mainzer Telephonnummern eine positive oder eine negative Zahl ergibt: Schad't ja nicht, aber was soll das?, heißt es im Volksmund, der so das pragmatische Sinnkriterium verwendet. Wie das Richtige aus dem Umkreis des Diskutablen stammt, so stammen Bestimmungen, Prädikationen, eidetische Varianten, Abschattungen, Bewandtnisse einer Sache aus dem Möglichkeitsumkreis ihrer affinen Bestimmungen: »die Pfeife ist kein Opernsänger«, das stimmt zwar, ist aber sinnlos, weil niemand auf die Idee käme zu sagen, sie sei doch einer. Derlei hat der phänomenologische Sinnbegriff im Blick bis hin zu Heideggers Groß-Frage nach dem »Sinn von Sein« und seiner Bestimmung als Zeit: es ist
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sinnlos, Sein durch Charakteristika des Vorhandenen oder Zuhandenen oder deren Negation zu bestimmen; das Seinsverständnis - das des »ist« - verlangt sinnvollerweise stets Temporalcharakteristiken, von denen die amtierende abendländische Metaphysik - die anderen ausschließend - nur eine einzige aktualisiert: sie ist im Reiche der Zeit der Staatsstreich der Gegenwart. Phänomenologisch-hermeneutisch verstanden, ist der Zuspruch von Sinn also ein Abgrenzungsverfahren: es beleuchtet die Pointe einer aktualisierten Position durch Verweis auf das, was sinnvollerweise sonst noch vertreten werden könnte, und durch Ausgrenzung dessen, was nicht. Dieser phänomenologisch-hermeneutische Sinn begriff lebt - durch Alfred Schütz und Niklas Luhmann - in der Gegenwartssoziologie fort. Ich verschone Sie hier mit der Diskussion der Luhmann-These, daß bei Negationen, die Komplexitätsreduktion mit Komplexitätserhaltung verbinden, das durch die Negation Aktualisierte und das durch die Negation Potentialisierte (jedenfalls dieses beides und nur dieses beides) Sinn hat, denn man kommt bei dieser - heute gern übersubtil geführten - Diskussion ganz gut hin, wenn man sich eben merkt: Der Zuspruch von Sinn ist ein Abgrenzungsverfabren, durch das abgegrenzt wird: das Verständliche vom ganz und gar Unverständlichen, das Vertraute vom ganz und gar Fremden, das Affine vom ganz und gar Nichtaffinen, das Mögliche vom ganz und gar Unmöglichen, die Welt gegenüber der Un-Welt. Dabei ist das Sinnvolle nicht stets auch das Wichtige; die Relevanzfrage führt vielmehr auf ein drittes Bedeutungsfeld; denn da ist: c) der emphatische Sinnbegriff: Sinn hat, was sich - gegebenenfalls absolut - lohnt (was wichtig ist, erfüllt, zufrieden, glücklich macht und nicht verzweifeln läßt, emphatisch - als ihr Wert und Zweck - bezogen auf das Menschenleben, die Geschichte, die Welt). Dies ist jener Sinnbegriff, der- so habe ich das Anwerbungsschreiben von Herrn Saame verstanden in dieser Vorlesungsreihe "Sinn im Horizont der Wissenschaft« im Aufmerksamkeitsmittelpunkt steht. Man könnte
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daher vermuten, daß diese Vorlesungsreihe eine Jubiläumsveranstaltung ist: denn - soweit ich im Augenblick weiß dieser emphatische Sinnbegriff hat vor genau 100 Jahren - in Diltheys Einleitung in die Geisteswissenschaften von 1883 das Licht der Welt erblickt, und zwar als geschichtstheologieund geschichtsphilosophiekritische Abwehrvokabel; denn dort und erst dort heißt es: zwar will die Theologie und »säkularisiert«l- die »Philosophie der Geschichte [... ] den Sinn des geschichtlichen Verlaufs, d. h. seinen Wert und sein Ziel aussprechen«2; jedoch (meint Dilthey): »es gibt so wenig ein [... ] letztes und einfaches Wort der Geschichte, das ihren wahren Sinn ausspräche, als die Natur ein solches zu verraten hatte«3: die Geschichte hat keinen »senso unico«, sie ist keine Einbahnstraße. Noch Schopenhauer hatte seinen pessimistischen Sinnlosigkeitsverdacht gegenüber der Welt ohne Verwendung des Wortes "Sinn« formuliert; erst Nietzsehe holt diese Verwendung einschlägig nach: zuerst 1886 in seiner Fröhlichen Wissenschaft4 : »Indem wir die christliche Interpretation [... ] von uns stoßen und ihren >Sinn< wie eine Falschmünzerei verurteilen, kommt nun sofort auf eine furchtbare Weise die Schopenhauersche Frage zu uns: hat denn das Dasein überhaupt einen Sinn? - jene Frage, die ein paar Jahrhunderte brauchen wird, um« - »durch die Heraufkunft des Nihilismus«5 - »auch nur vollständig und in alle ihre Tiefe hinein gehört zu werden.« Das Aufwerfen dieser emphatischen Frage gehört spezifisch zur spätmodernen Welt; sie wird dann zwar verschieden beurteilt; entweder: wer nach dem Sinn des Lebens fragt - so Freud - ist krank; oder: wer nicht nach dem Sinn des Lebens fragt- so Franklwird krank. Indes: die Frage selber wird - scheint es - zunehmend unausweichlich; man muß sich ihr stellen: etwa in Gestalt der Erfahrung des »Absurden«, so Camus im Mythos von Sisyphos, ich zitiere: »Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Die Entscheidung, ob das Leben lohne oder nicht, beantwortet die Grundfrage der Philosophie«6: die Sinnfrage, und zwar
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durch "Sinngebung des Sinnlosen«. Das jedenfalls gehört zur
Trotzphase dieser modernen Konjunktur der Sinnlosigkeitserfahrung. Sie - eine spezifisch moderne Erfahrung nicht nur dort, wo sie durch Verwendung des Wortes "Sinn-" sich artikuliert - schlägt alsbald um in die Klagephase: dann beklagt man den Mangel an Sinn als Sinnverlust, indem man gegebenenfalls jene Zeiten zurücksehnt, die diese Sinnverlustklage noch nicht nötig hatten, weil sie - als religiöse oder sonstwie sinnsichere Zeitalter - mit Wirklichkeitsvertrauen zu lieben, zu hoffen, zu glauben vermochten, was heute - heißt es weithin nicht mehr möglich sei. Dabei wird - angesichts seines Verlustes - "Sinn« zum pathetischen Begriff und so modern und spätmodern - die Sinndebatte emphatisch; dadurch wird der Sinnverlust um so schmerzlicher spürbar, und es wird zur verbreiteten Überzeugung, was nunmehr ausgemachte Tatsache zu sein scheint: wir - die spätmodernen Menschen - leben im "nihilistischen« Zeitalter des großen Sinndefizits. Das ist - gegenwärtig - der Stand der Dinge in Sachen Sinn: jene emphatische Sinnverlustklage, die sich in den letzten Jahren durch mancherlei auffällige Phänomene zusätzlich meldet: durch - teilweise politisch sich artikulierende - Protestbewegungen von Sinnvermissern; durch neureligiöse Sinnsuchbewegungen mit fundamentalistischem Touch; durch breite - auch und gerade intellektuelle - Wiederzuwendung zu altreligiösen Sinngarantien; durch symptomatische Expansion eines einschlägigen Beratungs-, Betreuungs- und Therapiegewerbes von "Sinnproduzenten« und "Sinnvermittlern«, wie Schelsky sie genannt hat; durch philosophische Großtumiere um das Sinnverwaltungsmonopol; durch das Aufbrechen der Sinnfrage selbst bei den sogenannten Einzelwissenschaften und inmitten der technologischen Expertenriegen. Man trägt wieder »Sinn«: »Sinn« ist »in«. Sinn wird zum Desiderat vom Dienst; denn offenbar wird - in der gegenwärtigen Welt - allenthalben auf bedrükkende Weise ein Sinndefizit verspürt. Woran liegt das?
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2. SinndeJizit und Anspruchsdenken. Der Sinn - und dieser Satz steht fest - ist stets der Unsinn, den man läßt. Diese Formel wird hier zum Refrain meiner Überlegungen, weil sie geeignet ist, die Sinnfrage zu ernüchtern. Ernüchtert werden - scheint mir - muß sie, die emphatisch und klagetrunken gewordene Frage; darum bringe ich hier das Problem des Sinndefizits - der großen modernen Sinnenttäuschung und Sinnverlustklage - mit dem modernen und heutigen Anspruchsdenken zusammen. Freilich: ich sehe Sie schon müde abwinken. Das - werden Sie sagen - wissen wir schon, haben wir schon gehabt, ist nichts Neues für uns: die heutige Anspruchsgesellschaft kompensiert durch Konsumaufwand das Sinndefizit. Das hat man uns - werden Sie geltend machen - mehrfach schon gesagt: weil der Lebenssinn verlorengegangen ist, flieht man in Surrogate, eben in das Anspruchsdenken. Die Ansprüche wachsen, weil der Sinn ausbleibt: die moderne Wohlstandsgesellschaft istobjektiv vergeblich - der Versuch, den verlorenen Sinn durch Luxus zu ersetzen; durch eine Art umgedrehten »overkill«also durch »overlife« - wird das Sinnlose transformiert zum Superleben. An die Stelle des Sinns treten die Zerstreuung, das Geld, der Erfolg, das Prestige, das Wachstum, die Korpulenz in physischer, technischer und ökonomischer Form: die moderne Anspruchsgesellschaft ist der Kummerspeck des Sinndefizits. Weil das Leben, das man lebt, leer ist, braucht man es - und alles in ihm - mindestens zweimal: den Zweitfernseher, das Zweitauto, das Zweithaus, das Zweitstudium, die Zweitfrau oder den Zweitmann, das Zweitleben etwa als Urlaub; das greift - nun schon fast hoffnungsvoll- inzwischen sogar schon über aufs Geistige und auf den Bücherschrank: es wächst - nach der sarkastischen Formulierung von Wolf Lepenies - es wächst die Tendenz zum Zweitbuch. Es gibt den Zweitberuf, die Zweitarbeit als Schattenwirtschaft und als Expansion der Nebentätigkeit; wer- beispielsweise - längst hinreichend zu tun hat mit Forschung, Lehre und Wissenschaftsadministration, übernimmt trotzdem auch
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noch dauernd Vorträge, z. B. im Studium generale in Mainz. Diese Verdoppelungssucht geht eben um: was - einmal gelebt - sinnlos ist, muß man zum Ausgleich - wenn auch weiterhin sinnlos - zweimal oder mehrmals leben. So wachsen die Lebensansprüche direkt proportional zum zunehmenden Sinndefizit: Wachstum statt Sinn. Das alles - werden Sie sagen - brauchen Sie uns nicht klarzumachen, denn es ist uns schon klar. Diesen Zusammenhang zwischen Sinndefizit und Anspruchsdenken, den - werden Sie sagen - den kennen wir schon. Ich versichere: ich glaube Ihnen das. Gerade weil ich es Ihnen glaube - weil ich vermute, daß Sie diesen Kompensationsnexus zwischen Sinndefizit und Sinnsurrogaten kennen, der zweifellos und von mir unbestritten besteht -, möchte ich Sie gerade nicht auf ihn, sondern - diese Diagnose ergänzend und sie nur dadurch korrigierend - auf etwas ganz anderes aufmerksam machen: auf einen noch anderen Nexus zwischen Sinndefizit und Anspruchsdenken, den es ebenfalls gibt. Ich meine, daß folgendes zutrifft: Wenn irgendwo Erwartung und Erfüllung divergieren, so daß Enttäuschungen, Erfüllungsdefiziterlebnisse, Mangelerfahrungen entstehen, dann gibt es niemals nur eine, sondern dann gibt es stets zwei Möglichkeiten der Erklärung: entweder nämlich ist da zu wenig Erfüllung, oder es ist da zu viel Erwartung; entweder das Angebot ist zu klein, oder die Nachfrage ist zu groß. Dasmeine ich - trifft auch zu in Sachen Sinn: die Erfahrung von Sinndefiziten muß nicht allemal aus Sinnmangel herrühren, sie kann entstehen auch aus einer Übererwartung von Sinn. Nicht der Sinn fehlt dann, sondern der Sinnanspruch ist übermäßig. Ich glaube, dieser zweite Fall ist der interessantere und wichtigere Fall: dieser andere Nexus zwischen Sinndefizit und Anspruchsdenken. In der Anspruchsgesellschaft kompensieren nicht allein die Ansprüche das Sinndefizit; vielmehr: das Sinndefizit entsteht seinerseits durch Ansprüche, nämlich durch einen unmäßigen Sinnanspruch. Weil wir - die Mitglieder der Anspruchsgesellschaft - verwöhnt sind
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mit Anspruchserfüllungen, wollen wir auch mit Sinn verwöhnt werden: darum steigt - in der Anspruchsgesellschaft insbesondere auch der Sinnanspruch in schwindelnde Höhen und über jedes erfüllbare Maß hinaus, so daß er nur enttäuscht werden kann und so zwangsläufig die Erfahrung von Sinnleere erzeugt und die großen Sinnverlustklagen veranlaßt. Meine These - die also den Sinnverlust aus der zunehmenden Anspruchshalning auch in bezug auf Sinn erklärt - ist somit diese: unsere primäre Schwierigkeit ist nicht der Sinnverlust, sondern das Übermaß des Sinnanspruchs; und nicht die große Sinnverlustklage bringt uns weiter, sondern eine Reduktion des unmäßig gewordenen Sinnanspruchs, eine Diät in Sachen Sinnerwartung. Es kann nicht ausbleiben, daß sich gegenüber dieser These Widerspruch erhebt: sie mobilisiert Widerstände, und zwarplausiblerweise - aus mindestens zwei Richtungen. Zum einen durch die Sinnvermittlungsprofis; insbesondere die gewerblichen Klageweiber und Klagemänner in Dingen Sinnverlust und die (mit dem Ausdruck Max Webers) »hierokratisch« gestimmten Wegweiser für den »senso unico« der Menschheit müssen fürchten, arbeitslos zu werden: meine These ist ein Angriff auf ihre Branche. Zum anderen müssen sich auch diejenigen - und das sind wir mehr oder weniger alle - getroffen fühlen, für die der Sinnverlust zum liebgewordenen Alibi fürs expansive Wohlleben oder fürs Murren über sein Ausbleiben geworden ist; durch unmäßige Steigerung der Sinnansprüche durfte jedermann wohlentschuldigt die Surrogate ihrer Nichterfüllung in Anspruch nehmen: das angenehme Leben oder die Empörung über sein Fehlen. Dieser nur allzu verständliche Doppelwiderstand gegen meine These macht sie nun freilich nicht falsch, sondern unterstreicht die Notwendigkeit, sie ausdrücklich zu fortnulieren und häufig zu wiederholen, was ich sofort noch einmal tue: die moderne und gegenwärtige Sinnverlusterfahrung resultiert aus einem Überanspruch in bezug auf Sinn; unsere primäre Schwierigkeit ist also nicht der Sinnverlust, sondern das
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Übermaß des Sinnanspruchs; und nicht die große Sinnverlustklage bringt uns weiter, sondern eine Mäßigung - eine Reduktion - des unmäßig gewordenen Sinnanspruchs : eine Sinndiät durch Diätetik der Siilnerwartung. Dabei meint Diätetik hier keinen Zweig der Ernährungswissenschaften: das ist eine sehr späte Wortbedeutung; ich hingegen habe hier zwar nicht die ursprünglich hippokratisch-medizinische Bedeutung·dieses Wortes im Auge, wohl aber die alte in etwa von Feuchtersleben: Diätetik ist ein Teil der praktischen Philosophie. Sie ist dabei nicht Ethik der Diät, sozusagen DiätEthik, wohl aber wirklich ein Teil der Ethik: jener, der es statt mit Normenbegründungsfragen zu tun hat mit der Lebenskunst, nämlich mit Ratschlägen für die Kunst, halbwegs beschwerdenfrei und halbwegs glücklich zu leben. Eine Diätetik der Sinnerwartung traktiert also die Frage, wie man in lebensbekömmlicher Weise mit dem Sinnproblem umgeht; und dazu nach der ersten Halbzeit meiner Überlegungen in ihrer zweiten Halbzeit, d. h. in den beiden restlichen Abschnitten, jetzt einiges Weitere.
3. Die Indirektheit von Sinn und der Unsinn der direkten Sinnintention. Der Sinn - und dieser Satz steht fest - ist stets der Unsinn, den man läßt. Diese Formulierung macht unter anderem geltend, daß Sinn etwas Indirektes ist; und so riskiere ich folgende sinndiätetische These: Jener Unsinn, den man - um des Sinnes willen - am meisten lassen muß, ist die direkte Sinnintention. Sinn ist ein Deckname für Glück. ·Es ist plausibel, daß er - als Begriff für das Lohnen des Lebens - gerade im 19. J ahrhundert ins Spiel kommt: zu einer Zeit, wo - als Folge des Erfolgs der kantischen Pflichtethik des kategorischen Imperativs und ihrer sogenannten Eudämonismuskritik, ihrer Kritik der Glücksethik - das Glücksproblem als zentrales Positivproblem aus der Philosophie verbannt war, und zwar so sehr, daß auch noch dort, wo - weil man das Glücksproblem als zentrales Positivproblem nicht auf Dauer aus der Philosophie
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verbannen kann - das Glücksproblem wiederkehrte, das Problem des Glücks nicht mehr unter seinem eigenen Namen auftreten durfte, sondern nur mehr unter Decknamen: dann also - zunächst und seither immer wieder - als Problem des Sinns. Dieser Vorgang der Pseudonymisierung des Problemthemas Glück bestimmt auch noch heute die philosophische Szene; so hat - inzwischen - das Glück eine ganze Reihe von Pseudonymen gebraucht und wohl auch verbraucht: die Eigentlichkeit, das Prinzip Hoffnung, das unbeschädigte Leben, die Emanzipation, die Lebensqualität, die Selbstverwirklichung, die Authentizität, und dazwischen immer wieder und derzeit erneut eben: Sinn. Bei diesem Vorgang der Pseudonymisierung des Glücks gerät nun - vielleicht nur erneut - in Vergessenheit, was beim nicht-pseudonymen Glück in der Regel einigermaßen offenkundig ist: daß nämlich - obwohl, wie Aristoteles sagte, alle es wollen - das Glück nicht direkt intendiert werden kann; und so kommt es - durch diese Pseudonymisierung des Glücks bis hin zum Glücksdecknamen Sinn - zum Unsinn der direkten Sinnintention. Mit direkter Sinnintention meine ich ein Verhalten, das demjenigen gleicht, das Hegel - in anderem Zusammenhang durch die kleine Geschichte illustriert hat von jenem Mann, der Obst wollte und darum Äpfel, Birnen, Pflaumen, Kirschen und Quitten verschmähte, denn er wollte nicht Äpfel, sondern Obst, und nicht Birnen, sondern Obst, und nicht Pflaumen, sondern Obst, und nicht Kirschen, sondern Obst, und nicht Quitten, sondern Obst: er wählte also den einzigen mit Sicherheit erfolgreichen Weg, gerade das nicht zu bekommen, was er doch wollte: nämlich Obst; denn Obst ist jedenfalls für uns Menschen - nur in Gestalt von Äpfeln oder Birnen oder Pflaumen oder Kirschen oder Quitten zu haben. Ganz ähnlich ergeht es dem, der das Glück - pseudonymisiert zum Sinn - direkt intendiert; denn so einer will nicht lesen, sondern Sinn, nicht schreiben, sondern Sinn, nicht arbeiten, sondern Sinn, nicht faulenzen, sondern Sinn, nicht lieben,
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sondern Sinn, nicht helfen, sondern Sinn, nicht schlafen, sondern Sinn, nicht Pflichten erfüllen, sondern Sinn, nicht Neigungen folgen, sondern Sinn, und so fort: er will nicht Beruf, sondern Sinn, nicht Hobby, sondern Sinn, nicht Familie, sondern Sinn, nicht Alleinsein, sondern Sinn, nicht Staat, sondern Sinn, nicht Kunst, sondern Sinn, nicht Wirtschaft, sondern Sinn, nicht Wissenschaft, sondern Sinn, nicht Mitleid, sondern Sinn, und so fort. Auch er wählt den einzigen mit Sicherheit erfolgreichen Weg, gerade das nicht zu erreichen, was er doch will: nämlich Sinn; denn Sinn ist - jedenfalls für uns Menschen - stets nur auf dem Weg über Beruf, Familie, Einsamkeit, Staat, Kunst, Wirtschaft, Wissenschaft, Pflichten, Neigungen, Mitleid und so weiter zu erreichen, und ihn anders erreichen zu wollen ist Unsinn. Kein Mensch ist unmittelbar zum Sinn: Menschen sind stets nur mittelbar zum Sinn: auf dem Umweg über bestimmte Üblichkeiten und Pensen, die auch institutionalisierte Routinen sein können und sehr häufig institutionalisierte Routinen sind, und jedenfalls stets bestimmte, d. h. begrenzte Pensen, woraus - nota bene - folgt, daß Sinn alias Glück mit Verzichtenkönnen zu tun hat, was die Stoiker wußten: wer nicht verzichten kann, wird nicht glücklich. Wer also Sinn nicht auf diesem Umweg über bestimmte Pensen, sondern wer Sinn direkt haben will, bekommt ihn nicht, jedenfalls nicht in dieser unserer menschlichen Welt. Er müßte also eine andere Welt wollen, die so gebaut ist, daß dort gelingt, was in unserer Welt nicht gelingen kann: die Lebenserfüllung durch direkte Sinnintention. Man könnte darum meinen, der Unsinn der direkten Sinnintention gehöre zu jenen Religionen, die versprechen, daß alles ganz anders wird: die - wie etwa die Bibel- eine neue Welt verheißen und einen neuen Menschen in ihr. Doch hier muß man, denke ich, unterscheiden: nämiich - im Falle des Christentums --einerseits das Christentum und andererseits jene Positionen, gegen die es entstand, indem es sie - früh schon zur Häresie erklärte. Zwar halte ich es nicht für ausgeschlos-
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sen, daß unser heutiges Bedürfnis nach Verwöhnung mit Sinn durch das Christentum gefördert wurde: nämlich - als der Sinn als Glück durch den Sinn als Heil nicht so sehr pseudonymisiert als vielmehr überboten wurde - durch die christliche Gewißheit über Gottes Zusage an die Menschen, nicht mehr nur - wie im griechischen Falle des Glücks - bei einer endlichen Partie (bei der Polis, beim Einzelnen) auf endliche Weise, sondern nun - im christlichen Falle des Heils - bei einer absoluten Partie (der Partie Gottes) auf absolute Weise mit von der Partie zu sein: das ist schon ein Sinnquantum, durch das man in Dingen Sinn verwöhnt werden kann. Doch muß man - ich wiederhole es - unterscheiden: nicht das Christentum hat diese absolute Sinnpartie zur direkten Sinnintention stilisiert, sondern jene Positionen haben das getan, gegen die das Christentum entstand, indem es sie - früh schon - zur Häresie erklärte: ich meine die - am konsequentesten von Marcion vertretene - gnostisch -eschatologische Version, die durch Positivierung der Weltfremdheit mittels N egativierung der vorhandenen Welt für eine ganz andere und ganz neue Welt optierte und darum - eschatologisch - für das Ende der vorhandenen Welt eintrat, so sehr, daß sie auch das Ende ihres Schöpfergottes - was man also heute den Tod Gottes nennt - wollte durch einen Gegengott der ausschließlichen Erlösung: der Erlösung des Menschen zu einer Lage, in der das gelingt, was in der vorhandenen Welt nicht gelingen kann: die Lebenserfüllung durch direkte Sinnintention, und in der gilt, was in unserer vorhandenen Welt nicht gilt: die Menschen sind unmittelbar zum Sinn. Gegen diese gnostische Häresie und ihre Rezidive - ich beziehe mich auf Thesen von Harnack und Blumenberg - ist nicht nur die christliche Kirche entstanden und die mittelalterliche Philosophie, die gegen den direkten den indirekten Gott wiederherstellte, dem man die Ehre gibt, indem man seiner Welt und den menschlichen Verrichtungen in ihr angemessen die Ehre gibt, sondern schließlich auch jenes Zeitalter, von dem meine Überlegung ausging: die Neuzeit. Auch
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und gerade die Neuzeit, die moderne WeIt - als das Zeitalter der Neutralisierungen der direkten Sinnintention -, ist der große Versuch, dem Sinn - als Glück - seine Indirektheit wiederzuverschaffen und zu retten: das geschieht notfalls wenn auch nicht durchweg- gegen den Gott religiöser Eschatologien (wo diese - wie in den Konfessionsbürgerkriegen zum Auslöser direkter Sinnstreitigkeiten mit blutigen und tödlichen Folgen werden) durch den Schritt dann in die Profanität, der das Religiöse neutralisiert. Dieser Schritt ins »Zeitalter der Neutralisierungen« neutralisiert es akkurat in der sechstagerenntechnischen Bedeutung dieses Worts: wo der Staat, die moderne - exakte oder hermeneutische - Wissenschaft, das System der Bedürfnisse und seine ökonomischen und technischen Vollzüge ihre Entscheidungen pragmatisch fällen, wird heilsmäßig nichts mehr entschieden et vice versa. Das wird in seiner pragmatischen Nüchternheit unsensationell und insofern ein wenig langweilig; doch schließt es Sinn dennoch gerade nicht aus: denn diese Ernüchterung, die die Neuzeit und ihre Aufklärung ist, rettet vielmehr nur - gegen jeglichen Unsinn direkter Sinnintention die Indirektheit von Sinn: es ist - sage ich als Skeptiker, der jenen Traditionalismus, der zum Skeptiker stets gehört, als Modernitätstraditionalist ableistet - es ist wichtig, diesen Ernüchterungsvorgang, die »raison d'etre« der neuzeitlichen und modernen WeIt, als vernünftig anzuerkennen und - wie Hegel es ausdrückt - seinen Frieden mit ihm zu machen, mit ihm als einer Bewahrung dessen, was wir Menschen brau~ chen: einer Bewahrung der Indirektheit von Sinn. 4. Fürsprache für den unsensationellen Sinn. Der Sinn - und dieser Satz steht fest- ist stets der Unsinn, den man läßt. Vor allem ist das der Unsinn der direkten Sinnintention, die zwar das Sinnproblem sensationell werden läßt, aber die Menschen ins Unglück stürzt: in die Erfahrung der Sinnleere, in die Verzweiflung und im Extremfall in die Umkehrung der direkten Sinnintention, in die direkte demonstrative Sinn-
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Negation: den Selbstmord. Das - die direkte Sinnintention des Einzelnen und der Menschheit und ihr negatives Gegenbild, der Suizid des Einzelnen und die Suizidangst der Menschheit: ihre gegenwärtige Angst vor der Selbstauslöschung - sind die Extrempole der sensationellen Sinndimension. Diese sensationelle Sinndimension wird gerade modern - gegenläufig zur Grundtendenz des Zeitalters der Neutralisierungen, gegenläufig zu jener pragmatischen Ernüchterung der Welt, zu der die nicht wildgewordene Aufklärung führt, die dadurch ein Aufregungs-, ein Sensationsdefizit erzeugt -, nostalgisch wiederaufgesucht und hochgejubelt zur kompensatorischen Deckung des menschlichen Aufregungs- und Sensations bedarfs : in Sachen Sinn durch die emphatische Sinndebatte, durch emphatische Verheißungen oder Vermissungen von Sinn, wobei Verheißung oder Vermissung und vor allem Sinn das Sekundäre sind, das Primäre die Aufregung und die Emphase: die Deckung des Sensationsbedarfs durch das Sensationelle: den sensationellen Sinn oder die sensationelle Sinnlosigkeit, durch erneut direkte Sinnintention oder direkte demonstrative Sinn-Negation. Das - diese Sehnsucht nach dem total gemütsbewegenden, dem spruchband- und theaterdonnerfähigen Supersinn - ist eine aufklärungskompensatorische Nostalgiewelle großen Stils, die die spätmoderne Szene zu beherrschen scheint: die trunkene Sehnsucht nach dem sensationellen Sinn. Aber gerade von ihr - dieser Einfalt vom Dienst - muß man ablassen. Die hier von mir versuchte Diätetik der Sinnerwartung rät und empfiehlt darum - in Dingen Sinn - einen Abschied vom Sensationellen: den Verzicht auf den sensationellen Sinn und die sensationelle Sinnlosigkeit als Verzicht auf die direkte Sinnintention und die direkte Sinn-Negation. Sie rät und empfiehlt also die Kultur des unsensationellen Sinns. Folglich geht es ihr darum, die Sinnerwartung zurückzunehmen aus der Erwartung von direktem Sinn in die Erwartung von indirektem Sinn. Deswegen meint sie: man muß gerade gegen-
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wärtig ablassen mindestens - und ich betone: mindestens, denn meine Erwägung prätendiert keine Vollständigkeit von viererlei Unsinn: vom Sinnfragenverbot, von der Verachtung kleiner Sinnantworten, von den Perfektionismen, von der Bindung der Lebensbejahung an den absoluten Sinnbeweis. Darüber hier zum Abschluß nacheinander - en suite vier kurze Bemerkungen (a-d): a) Man muß - gerade auch gegenwärtig - ablassen vom Unsinn des Sinnfragenverbots (etwa durch das analytische Sinnkriterium, d. h. den Sinnlosigkeitsverdacht gegen die Metaphysik). Darum plädiere ich - obzwar Skeptiker - für Metaphysik, weil die Metaphysik Sinnfragen festhält. Sie tut das zwar durch metaphysische Antworten; aber zuweilen kann man Fragen nur durch Antworten festhalten (Antworten sind häufig vor allem ein Fragentransportmittel), und Sinnfragen kann man häufig nur durch metaphysische Antworten festhalten. Um Sinnfragen sinndiätetisch gemäßigten - gegebenenfalls nichtmetaphysischen - Antworten zuzuführen, muß man sie zunächst einmal haben; und es ist besser, sie metaphysisch zu haben, als sie gar nicht zu haben, wenn es auch - das ist die Meinung des Skeptikers - nicht allemal gut ist, sie metaphysisch zu beantworten. Aber auch skeptisch gesehen, haben metaphysische Antworten durchaus Vorteile; denn die Metaphysik gibt in der Regel auf eine Frage nicht nur eine, sondern mehrere, d. h. zu viele Antworten und hält gerade dadurch die Frage offen. b) Man muß - gerade auch gegenwärtig - ablassen vom Unsinn der Verachtung der ,kleinen< Sinnantworten. Diesseits der Metaphysik ist - in bezug auf die Frage nach dem unsensationellen Sinn - die Minimalinstanz für eine Minimalantwort die Lebenserfahrung. Die aber zeigt: gerade das, was die Protagonisten direkter Sinnintention als deren Behinderung und Vereitelung verdammen - also die bestimmten und detaillierten und institutionalisierten Lebenspensen: z. B. Beruf, Familie, umgrenzte Verantwortungen, bestimmte Verrichtungen und Routinen -, ist das entscheidende Reme-
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dium gegen das, in was die direkte Sinnintention zwangsläufig umschlägt: die absolute Verzweiflung. Die Menschen verzweifeln nicht, solange sie immer gerade noch etwas zu erledigen haben: die Milch am Überkochen zu hindern, den Zug in den nächsten Bahnhof zu fahren, das Baby zu füttern, zu Ende zu operieren, das termindringliche Förderungsgutachten zu schreiben, dem Ortsfremden Auskunft zu geben und so fort; dadurch (durch diese kleinen Aufhalter im Sinne des Mini-Kat-Echon) kommen die Menschen - und das ist richtig so -, durch Pensen aufgehalten, ständig zu spät zum Rendezvous mit dem absoluten Nein. Das ist - ganz unsensationellder normale Sinn, den unsere Gewohnheiten und Verrichtungen unserem Leben geben: dieser kleine Sinn reicht aus, um ein Leben zu führen, und die großen Sonntags gefühle - die Ekstase, die Hochgestimmtheit und Erfüllungsverzückungsind allenfalls dona superaddita: man nehme sie dankbar in Kauf, wenn sie nicht allzu sehr stören, aber es geht auch ohne sie. Man lebt, um anderen das Leben nicht zu erschweren: das ist, scheint mir, die Lehre, die Guillaumee uns gibt, der - mit seinem Flugzeug abgestürzt in schnee-eisiger Wildnis, in praktisch aussichtsloser Entfernung zu menschlichen Behausungen - nicht aufgibt, sondern sich auf den Weg macht, um einen Platz zu erreichen, wo seine Leiche schnell gefunden werden kann, was nötig ist, damit seine Frau die Lebensversicherung ohne die lange Vermißtenwartezeit erhält; dabei kommt er dann - mehr zufällig - doch noch lebend zurück. Ihm ging es nicht um den absoluten Sinn des Lebens, sondern um die Lebensversicherung für seine Frau; extrem gesagt: in dieser Situation war der Sinn seines Lebens die Lebensversicherung für seine Frau. Ich möchte folgern: Die Antwort auf die Frage von Camus, »ob das Leben lohne«, also die Antwort auf die Lebenssinnfrage, hängt mehr an den nächsten Dingen als an den letzten. (Religiös könnte man sagen: Gott hat sie subsidiär geregelt.) Bei Camus ist - für Sisyphus - dieses nächste Ding sein Stein: ohne Stein müßte er verzweifeln; mit Stein »darf man Sisy-
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phus für einen glücklichen Menschen halten«, so Camus, obwohl dieser Stein nur ein Stein ist und obwohl er für Camus ein Stein des Anstoßes bleibt, ein Anlaß zur Revolte. Hier möchte ich von Camus abweichen: unser Stein - unsere nächsten Dinge- sind das Ensemble unserer kleinen Lebenspflichten und Lebensgewohnheiten und als diese in der Regel kein Stein des Anstoßes, sondern ein Stein der Weisen: wir sind genau dann weise, wenn wir diese nächsten Dinge besorgen; denn für Menschen - für uns alle - wird die Sinnfrage in der Regel nicht grundsätzlich, nicht prinzipiell entschieden, sondern sie wird - indirekt und positiv - mitentschieden durch die Besorgung der nächsten Dinge; durch die Erledigung des Details. Hier kommt dann natürlich und unvermeidlicherweise die empörte Frage: Und wo bleibt da die Kritik? Die Antwort ist ganz einfach: Auch die Kritik ist die Erledigung eines Details. c) Man muß - gerade auch gegenwärtig - ablassen vom Unsinn der Perfektionismen. Die direkte Sinnintention ist unter diesen Perfektionismen nur der extremste; es gibt auch noch andere Perfektionismen. Hegel - in seiner Sollenskritik - hat darauf aufmerksam gemacht, daß - ich formuliere es kurz und darum nicht ganz auf der Höhe Hegelscher Subtilität - perfektionistische Sollforderungen als Seinsvermiesungen wirken. Die Forderung, nur das Vollkommene zu akzeptieren, führt zu Entmutigungen und zu Sinnlosigkeitsgefühlen: zur Leugnung des Guten im Unvollkommenen, zur Infernalisierung des Vorhandenen. Der Ausschließlichkeitsanspruch des Perfekten negativiert das Imperfekte: wo beispielsweise nur die - durch superpedantische Einhaltung absoluter Präzisionsstandards und durch superpedantische Erfüllung. absoluter Konsenspflichten - perfekte Verständigung erlaubt ist, sind eben dadurch die vorhandenen Verständigungen - die Selbstverständlichkeiten, Üblichkeiten, pragmatischen Konventionen - als sinnlos gebrandmarkt und die erreichbaren Verständigungen eben dadurch eher verhindert. Wer nur mit stets perfekt gelingender Superkommunikation
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zufrieden ist und dabei mit jedermann in höchster Intensität dauerkommunizieren will und selbst noch vom Standbild auf dem nächsten Platz erwartet, daß es ihm um den Hals fällt, und sich ausgestoßen fühlt, wenn es das - wie bei Standbildern üblich - nicht tut, gehört - indem er sich im Namen der perfekten Kommunikation aus allen faktischen Kommunikationen exkommuniziert - zu den Genies der Verzweiflungserzeugung: zu den Sinnmasochisten. Ich plädiere gegen die Perfektion der Allsamkeitseintracht und Gruppenverzükkung für die Bonität der einschlägig zweitbesten Möglichkeiten: des zaghaften Lächelns, der kleinen Geste, der transitorischen Konversation, der hilfreichen Routine. Wer nur jene perfekte Weltverbesserung zuläßt, die - mit dem Prinzip >alles oder nichts<-die absolut gute Welt, z. B. mit absolutem strukturellen Frieden, herbeiführt und vom Bestmöglichen und Nächstbesten nichts wissen will, infernalisiert das wirklich Mögliche und das Wirkliche; und da auch und gerade das Vorhandene nicht das ens perfectissimum ,alles< ist, gilt es dann als das ens defectissimum >nichts<; da es nicht das Paradies ist, gilt es als Hölle (als ob es dazwischen nichts gäbe): als schlechthin sinnleer und jeremiadenpflichtig. So wirken die Perfektionismen - in bezug aufs Vorhandene und Erreichbare- als Sinnvermiesungen: im wesentlichen als Potenzsteigerungsmittel für Jammerpotenzen. Die vorhandene Wirklichkeit gilt als infernalisch, weil das Superbeste gefordert und seine Unterbietung diskriminiert wird. Aber diese Negativierung des Zulänglichen, diese Schlechtmachung jenes Guten, das auch noch im vorhandenen Unvollkommenen steckt, können wir uns nicht leisten: endliche Wesen haben nicht so viele Eisen im Feuer, daß sie auf irgendeines verzichten könnten. Ganz im Gegenteil: wir müssen das Sensorium behalten für die Bonität selbst noch des Imperfekten, merkfähig blei.ben für »die Rose am Kreuz der Gegenwart«, und wir müssen also sehen: es gibt mehr Sinn in der vorhandenen Wirklichkeit, als die Perfektionismen - die uns die Sinnleere des Vorhandenen aufschwätzen wollen - zu erlauben meinen: nicht
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der Sinn fehlt, sondern - aufgrund wachsender Perfektionsansprüche - die Sinnerwartung ist zu hoch und die Frustrationstoleranz ist gesunken bei gleichzeitigem Superwachstum der Klagetechnik und der - u. a. durch ideologiekritisches Doping hochgekitzelten - Kunst, enttäuscht zu sein und aus PositivilIusionen in Negativillusionen umzusteigen. Zur Diätetik der Sinnerwartung gehört demgegenüber die Dämpfung der Perfektionismen durch den Mut zur Unvollkommenheit. d) Man muß - gerade auch gegenwärtig - ablassen vom Unsinn der Bindung der Lebensbejahung an den absoluten Sinnbeweis. Den absoluten Sinnbeweis - extrem die Antwort auf die Frage: wozu ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? (mit Einschluß der Theodizeefrage) - können wir nicht absolut führen: dafür ist unser Leben zu kurz, weil es befristet ist durch den Tod. Daraus folgt nicht die Verneinung des Lebens. Selbst wenn Silen recht hätte mit seinem Satz »das Beste ist es, nicht geboren zu sein«, hat doch Polgar noch mehr recht mit seinem Kommentar zu diesem Satz: »Das Beste ist es, nicht geboren zu sein: doch wem passiert das schon ?« Wenn wir aber bereits leben, haben wir dem Leben zwar nicht prinzipiell, aber faktisch und als Üblichkeit durch Leben jeweils schon irgendwie zugestimmt. Man müßte - ex suppositione vivendi et ex suppositione moriendi - die Abweichung von dieser Zustimmungspraxis begründen: die Beweislast liegt beim Nein. Nun gilt aber für das absolute Nein, was für den absoluten Sinnlosigkeitsbeweis gilt: wir haben - vita brevis - nicht die Lebenszeit, ihn absolut zu führen. Daraus möchte ich folgern: Es ist unser Lebenin einer sehr unprinzipiellen, bescheidenen, kontingenten, unsensationellen Weise - sinnvoll: es hat nämlich Sinn - es lohnt - zwar nicht, weil es erwiesenerweise sinnvoll ist, aber es hat Sinn - es lohnt -, weil es nicht erwiesenerweise sinnlos ist: in dubio pro vita. Das ist so, weil unser Tod schnell ist: eben darum hat er stets hervorragende Chancen, auf der Rennstrecke, die unser Leben ist, den Wettlauf mit der prinzipiellen Verzweiflung zu gewinnen. Was darüber hinaus
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- etwa durch Rekurs auf Religiöses - zum Sinn des Lebens zu sagen sein könnte: das zu sagen ist (meine ich) nicht Sache des Philosophen, jedenfalls nicht des Skeptikers, der dazu keine Vollmacht hat. Damit beende ich diese Überlegung zur Diätetik der Sinnerwartung, deren Grundthese war: zur großen Sinnverlustklage kommt es vor allem durch übermäßigen Sinnanspruch. Das primäre Problem ist nicht, daß der Sinn fehlt, sondern daß zuviel Sinn erwartet wird. Darum muß diese Sinnerwartung reduziert werden durch diätetische Fürsprache für jenen unsensationellen Sinn, der übrigbleibt, wenn man dem Unsinn der direkten Sinnintention widersteht und von jenem vierfachen Unsinn abläßt, von dem ich im letzten Abschnitt gesprochen hatte: vom Sinnfragenverbot, von der Verachtung der kleinen Sinnantworten, von den Perfektionismen, von der Bindung der Lebensbei~hung an den absoluten Sinnbeweis. Somit kann ich meine Uberlegung ganz kurz zusammenfassen durch ungefähr jenen Satz, mit dem ich begonnen hatte: Der Sinn - dies steht nun halbwegs fest - ist stets der Unsinn, den man läßt.
Anmerkungen 1 W. Dilthey, Gesammelte Schriften, 12 Bde., Leipzig/Berlin 1913 H., Bd. 1, hrsg. von B. Groethuysen, 1922, S. 99. 2 Ebd., S. 96. 3 Ebd., S. 92. 4 F. Nietzsche, Werke in drei Bänden, hrsg. von K. Schlechta, München 1966, Bd. 2, S. 228. 5 Ebd., Bd. 3, S. 634. 6 A. Camus, Le Mythe de Sisyphe (1942); dt.: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde, übers. von H. G. Brenner und W. Rasch, Bad Salzig / Düsseldorf 1950, S. 13. 7 A. de Saint-Exupery, Terre des hommes (1939); dt.: Wind, Sand und Sterne, übers. von H. Becker, Düsseldorf, Neuaufl. 1979, Kap. 2,2.
Universalgeschichte und Multiversalgeschichte Die Geschichte ist eine viel zu wichtige Sache, um sie allein den Historikern zu überlassen. Ich denke, dies ist ein Mitgrund dafür, daß hier an der Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg im Breisgau - deren Angehöriger als ihr Doktor zu sein ich die Ehre habe - das Thema der Universalgeschichte dem Studium Generale übertragen worden ist: als ein fürwahr interdisziplinäres Thema. Der Begriff des Interdisziplinären ist freilich nicht mehr ungebrochen eine Wonnevokabel. Wer Gelegenheit hat, das Gras wachsen zu hören bei der Meinungsbildung von Wissenschaftsförderungsinstitutionen, weiß, daß die Interdisziplinaritätseuphorie - die dem Kater der vorausgegangenen Spezialisierungseuphorie antwortend folgte - nun ihrerseits (trotz unbestreitbar wichtiger Ergebnisse) längst ebenfalls in die Jahre der enttäuschten Bilanzen geraten ist. Diese Ernüchterung des Interdisziplinären - die zur indirekten Chance des Studium Generale werden kann - wird sicher nicht zur Preisgabe des Interdisziplinären führen, sondern zu seiner Verwandlung. Vermutlich wird diese Verwandlung begünstigt werden durch das, was der Universität spätestens in den neunziger Jahren bevorstehenkönnte: das ist der Rückweg zur Kleinuniversität - die vielleicht nicht länger die sogenannte Spitzenforschung nach oben auslagern muß in reine Forschungsinstitute, sondern eher 1ie verschulten Pensen nach unten anlagert an CollegeAquivalente - mit einer neuen strukturellen Maßgeblichkeit der kleinen, d. h. der Ein-Professuren-Fächer; denn bei diesem Weg muß es wohl - unter dem Eindruck des Pillenknicks und dem Druck der Sparzwänge - zu einem Abbau der Fächerbinnendifferenzierung kommen mit Entspezialisierungsfolgen, die den Einzelforscher trainieren, dann auch fachübergreifend entspezialisiert zu arbeiten: zum primären Agenten des. Interdisziplinären wird dann -
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anstelle aufwendiger Sonderteams fürs Interspezielle - wieder der Einzelne. Das ist jener Einzelne, der - als Wanderer zwischen mehreren Wissenschaftswelten - nicht mehr nur sein fachlich spezielles Jagdrevier beansprucht, sondern zusätzlich eine allgemeine Wildererlizenz. Von einer solchen mache ich hier - um mein Thema zu traktieren - schon jetzt Gebrauch und benehme mich dadurch ganz und gar als Philosoph. Denn die Philosophie ist keine spekulative Holding der Spezialwissenschaften und der Philosoph nicht der Generalsekretär ihrer intellektuellen Dachorganisation; er ist - einem verbreiteten Vorurteil entgegen - überhaupt nicht mehr der Mann fürs Totale, sondern etwas durchaus anderes: nämlich - analog zur freiwilligen Feuerwehr (nicht ohne Sinn für Trompeten) - der Mann für jenes hyperriskante Semidetail, bei dem die anderen Wissenschaftler es aus szientifischen Reputierlichkeitsgründen einstweilen vorziehen, die maßvoll trauernde Hinterbliebenengemeinde zu bilden, falls dem Philosophen bei seiner Bearbeitung·etwas zustößt: der Philosoph - nicht mehr der Experte fürs Ganze - ist vielmehr der Stuntman des Spezialisten, also sein Double fürs Gefährliche. Das Thema Universalgeschichte - und sein Seitenthema in Moll, die Multiversalgeschichte - ist etwas dieserart Gefährliches, so daß in dieser Vortragsreihe ganz plausiblerweise ein Philosoph vorangeschickt wird!, um auszuprobieren, ob man bei der Entsorgung dieses brisanten Pensums draufgeht, natürlich ein auswärtiger Philosoph: denn mit den einheimischen muß man pfleglich umgehen. Ich akzeptiere diese Rolle; in ihrem Sinn traktiere ich hier in den folgenden 55 Minuten vier Abschnitte, die ich folgendermaßen überschreibe: 1. Stadien des Programms der Universalgeschichte; 2. Beschleunigungskonformismus; 3. Lob der Trägheit; 4. Lob der Buntheit.
1. Stadien des Programms der Universalgeschichte. Im Jahr der Französischen Revolution, 1789, hielt Friedrich Schiller in Jena seine Antrittsvorlesung» Was heißt und zu welchem
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Ende studiert man Universalgeschichte?«2 mit der These: Universalgeschichte - nichts für »Brotgelehrte« - sei eine Sache für den »philosophischen Kopf«, der »aus der ganzen Summe« der »Begebenheiten« des bisherigen Weltlaufs »diejenigen heraushebt, welche auf die heutige Gestalt der Welt und den Zustand der jetzt lebenden Generation einen wesentlichen ... Einfluß gehabt haben«, der also die Geschichte durch ihren Gegenwartsbezug definiert und ihr zukünftiges Ziel und dadurch »einen vernünftigen Zweck in den Gang der Welt und teleologisches Prinzip in die Weltgeschichte« hineinbringt, die uns darum - meint Schiller - »von der übertriebenen Bewunderung des Altertums und von der kindischen Sehnsucht nach vergangenen Zeiten« »heilt«, weil sie- indem sie »den Menschen gewöhnt, sich mit der ganzen Vergangenheit zusammen zu fassen und mit seinen Schlüssen in die ferne Zukunft voraus zu eilen« und »das Individuum« »in die Gattung hinüber« »führt« - zeigt, daß »alle vorhergehenden Zeitalter« sich - »ohne es zu wissen« - »angestrengt« haben, »unser menschliches Jahrhundert herbeizuführen« und dadurch die Geschichte in Zielnähe zu bringen. Schiller hat damit die klassische Definition der Universalgeschichte - der allgemeinen, der Weltgeschichte - gegeben: jener Geschichte, die universal ist, weil sie alle Geschichten in eine wendet, in die eine einzige Fortschritts- und Vollendungsgeschichte der Menschheit. Diese Definition der Universalgeschichte ist - obwohl auch und gerade gegenwärtig Weltgeschichten geschrieben werden - seit langem in die Krise geraten und hat zu schönen und erhabenen Oppositionen geführt: von Burckhardts Weltgeschichtlichen Betrachtungen über Spenglers »vergleichende Kulturmorphologie« im Untergang des Abendlandes mit ihren kulturzyklentheoretischen Filialen und strukturalistischen Filiationen bis hin zu Schonstellungen durch Reduktion der Weltgeschichte z. B. auf die» Weltgeschichte einiger Details«\ wie Arno Borst sie im Turmbau zu Babel versucht hat. Den gegenwärtigen Stand der Definitionskrise und Aporienlage der Universalgeschichte dokumentiert Ernst Schu-
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lins Sammelband Universalgeschichte: In seiner Einleitung werden mehrere Aporien diagnostiziert; entscheidend meine ich - sind die Schwierigkeiten mit dem »einheitlichen Verlauf«4, dem Konzept des linearen Fortschritts mit der europäischen Entwicklung als Kulmination: darauf werde ich später zurückkommen. Schiller sah - wie noch nach ihm Hegel und Marx - diese Schwierigkeiten nicht: trotz der immensen ethnologischen Aufarbeitung und Popularisierung der Entdeckungsreiseberichte gerade im 18. Jahrhundert und obwohl der kategorische Imperativ in seiner berühmten Zweckformel doch wohl auch verbietet, die Menschen früherer Zeiten nur als Mittel zur Erzeugung des Heute und einer zukünftigen Geschichtsperfektion zu sehen und ihnen einen geschichtlich je eigenen Weg zur Humanität zu untersagen. Schiller - indem er diese Schwierigkeiten noch nicht empfindet - definiert die Universalgeschichte also vor ihrer Definitionskrise, indem er-wie sich etwa aus Kosellecks begriffs geschichtlichen Analysen ergibt - dasjenige resümiert, was seit Mitte des 18. Jahrhunderts --; unterstützt durch die gleichzeitige Erfindung der Geschichtsphilosophie - von Voltaire und Turgot über Schlözer und Kant sattelzeitbrav entstanden war: die »histoire generale« oder »universelle«, die »allgemeine Geschichte« oder »Weltgeschichte«, die »allgemeine Geschichte in weltbürgerlicher Absicht«, eben - wie dann Fichte sagt: als »pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes« - die Universalgeschichte: jene supersingularisierte Geschichte, die (ich wiederhole es) universal ist, weil sie alle Geschichten in eine wendet, in die eine einzige Fortschrittsund Vollendungsgeschichte der Menschheit. Auf diese Definition muß die Universalgeschichtsdiskussion auch noch heute rekurrieren, weil sie bis heute noch nicht wirklich befriedigend und einvernehmlich ersetzt ist. Ihr Weg in die Krise führt - meine ich - über zwei Stadien, das Stadium des Angriffs und das Stadium der Notwehr. Das aggressive, das Stadium des Angriffs ist - inspiriert durch jenen politischen Leichtsinn, der durch den modernen Erfolg
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des Staates politisch, möglich wurde, indem man von ihm lebend gegen ihn denkt - die Radikalisierung der Universalgeschichte zur Philosophie der Revolution. Wenn die Gegenwart nicht schon fast die Vollendung der Menschheit ist, muß sie gewaltsam dazu gemacht werden: durch politischen Umsturz, durch Revolution, die jene Aktion ist, als deren Durchdenkungs- oder Parallelaktion sich der deutsche Idealismus verstand, der in seinem zentralen Ansatz war: Universalgeschichte als Philosophie der Revolution. Deren entscheidender Knick im Selbstvertrauen - auch die entscheidende Zäsur der Philosophie des deutschen Idealismus - ist die Revolution selber: die Verwirklichung der Revolutionsphilosophie, zuerst durch die Französische Revolution und später durch ihre Nachfolgerevolutionen, macht das, was vorher Hoffnung, Wunsch und Erwartung war, zum Gegenstand wirklicher Erfahrung und - weil, mit Hegel zu sprechen, dort die »absolute Freiheit« zum »Schrecken« wird und die Revolution zur Stunde der Diktatur - zum Gegenstand wirklicher Enttäuschung: es kommt zur großen Enttäuschung der revolutionären Naherwartung. Die unmittelbare geschichtsphilosophische Replik war - neben der Erfindung des Sinns für die indirekten Wege und Umwege der Geschichte, der historischen Dialektik - angesichts der Gegenwart einer schlechten Revolution die Entgegenwärtigung der guten Revolution: für Hegel ist die gute Revolution nur noch die vergangene Revolution, und zwar vor allem die vorletzte, die Reformation; für Marx ist die gute Revolution nur noch die zukünftige Revolution, und zwar vor allem die übernächste, die proletarische Revolution. Oder - wenn nicht überhaupt Verfallstheorien die Stelle der Universalgeschichte besetzen - die aggressive Angriffsphase wird beendet: die Universalgeschichte tritt dann aus ihrem revolutionsphilosophischen Stadium in ein anderes, ein zweites Stadium. Das defensive, das Stadium der Notwehr ist - durch diese Enttäuschung der revolutionären Naherwartung - auf dem Wege einer Fundierung der Geschichtsphilosophie in der
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Naturphilosophie die Mäßigung der Universalgeschichte zur Theorie der Evolution. Für mich - vermutlich nur deswegen, weil ich diesen philosophiegeschichtlichen Abschnitt zufällig halbwegs kenne - is~ der paradigmatische Vorgang Schellings Versuch seit 1797, die heillos gewordene Geschichte zu sanieren durch die heile Natur, die romantisch als die bessere Geschichte gilt und darum dann ihrerseits als Geschichte gedacht werden muß: »genetisch« als - wie Schelling sagt- »gehemmte Evolution«. 5 Das ist- für den Kontext Universalgeschichte - der entscheidende Aktualisierungsschub für jenen Denktrend seit dem 18. Jahrhundert, dessen Anfänge Foucault untersucht hat: für den Ausbruch aus dem klassifizierenden Denken, den Wolf Lepenies - durch Kontrastierung von Linne und Buffon mit seinen Folgen - als »Ende der Naturgeschichte« durch den Schritt zum Entwicklungsdenken beschrieb, für dessen historiographische Etappen Wolfgang Wielands Entwicklungsartikel aus den »geschichtlichen Grundbegriffen« die Kompaktchronik ist. 6 Die Evolutionstheorie Darwins macht diesen Vorgang sozusagen definitiv erfolgreich: ihr Ansatz - der den Fortschrittsgedanken durch seine Entlastung vom Endzweck, durch Verzicht auf Teleologie und auf absolute Chronologien aussichtsreich zu retten versucht - inspiriert (auf dem Weg über Herbert Spencer) auch die Theorien der sozialen Evolution als Kunstlehren des Übrigbleibens, die teils das Recht des Stärkeren loben, teils die Menschheitsgeschichte universalgeschichtlich als Fortsetzung der natürlichen Evolution unter Verwendung zivilerer Mittel begreifen. Dieses Stadium der Universalgeschichte wird also dort akut, wo die revolutionäre Naherwartung - um nicht in verfallstheoretischen Pessimismus abzurutschen - zu einer evolutionären Fernerwartung gestreckt werden muß, und zwar - in kürzer werdenden Abständen - immer wieder: innerhalb des letzten Vierteljahrhunderts erneut - nach der Enttäuschung der revolutionären Naherwartung der späten sechziger Jahre - signifikant seit Beginn der siebziger Jahre: da koavanciert universalhistorisch
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bedeutsam - zugleich mit der Idee des langen Marsches durch die Institutionen - die Idee des langen Marsches durch die Arten und durch die sozialevolutionären Etappen der Menschheit. Als Ersatz für das ursprüngliche Konzept· der Universalgeschichte treten so - flankiert durch die Konjunktur der evolutionären Gnoseologien und Ethiken' etwa von Piaget und Konrad Lorenz und der Soziobiologie etwa von Wilson - Theorien der sozialen Evolution auf, die soziologisch - teilweise hochabstrakt mit ,subtilen Distinktionsorgien und nicht ohne transzendentales Wolken treten - auch philosophienah entwickelt werden: etwa durch Luhmann und Habermas. Wir leben - durch diese evolutionistische Transformation des Programms der Universalgeschichte derzeit in der Ära eines zweiten - zivilisierteren - Sozialdarwinismus. ' 2. Beschleunigungskonformismus. Was ich so nur angedeutet habe, beginnt also - ich wiederhole: sattelzeitbrav - Mitte des 18. Jahrhunderts: seither gibt es die Universalgeschichte zumindest als Bedürfnis und Programm. Die Frage, die sich aufdrängt, ist nun diese: Warum entsteht das Programm der Universalgeschichte gerade modem ab Mitte des 18. Jahrhunderts und warum bleibt es hinfort - nun über mehr als zwei Jahrhunderte schon - aktuell? Meine Antwort - die originell ist allenfalls in ihren Simplifizierungen - stützt sich zumindest teilweise auf Auskünfte meiner geschichtstheoretischen Hausgötzen und modernitätstheoretischen Penaten: ich meine Reinhart Koselleck und Hermann Lübbe, die auf eine Generalisierung der Krisentheorie aus Burckhardts Weltgeschichtlichen Betrachtungen zurückgreifen. Geschichtliche Krisen sind - nach Burckhardt - »beschleunigte Prozesse«: also muß die modeme Welt, wo sie insgesamt zur geschichtlichen Krise wird, insgesamt als beschleunigter Prozeß verstanden werden. 7 Ihre Wandlungsgeschwindigkeit steigt, ihr Innovations- und Veraltung~tempo wächst, ihre Komplizierungsrasanz nimmt zu; das Anderungstempo der
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Lebensverhältnisse - des Abbaus von Vertrautheit und der Produktion von Fremdheit - zieht an: alles fließt, und zwar immer schneller. Das verlangt nach Beschleunigungsbewältigung. Meine These ist nun: Die - geschichtsphilosophisch in Gang gebrachte, revolutionistisch radikalisierte oder evolutionistisch temperierte - Universalgeschichte ist der Versuch einer Beschleunigungsbewältigung durch Beschleunigungskonformismus. Das zeigt sich - meine ich - an mindestens vier Eigenheiten, die zu ihr gehören und auf die ich hier durch vier kurze Hinweise (a-d) aufmerksam machen will. a) Zur Universalgeschichte - zur revolutionistischen wie zur evolutionistischen - gehört als Prämisse die ontologische Positivierung der Wandelbarkeit. Das ist unselbstverständlich: denn ontologische Bonität hatte vormodem traditionell nur das Unveränderliche: das, was unwandelbar sich selber g~eich bleibt; und die Wandelbarkeit galt ontologisch als Ubel, als malum metaphysicum. Aber wo man - seit der modernitätsinitialen Theodizee von Leibniz - die Übel Gott nicht mehr zum Vorwurf machen will, muß man in der Konsequenz die Übel, die er »zugelassen« hat, positivieren: so auch das malum metaphysicum. Es nimmt teil am mo~~mi tätsrepräsentativen Prozeß der großen Entübelung der Ubel. Darum kommt es - seit dem 18. Jahrhundert- zur Positivkarriere auch der Endlichkeit, zu der die ontologische Nobilitierung der Wandelbarkeit gehört, aus der der ungeheure Wichtigkeitsgewinn der Geschichte folgt, mit dem man sich der modemen Weltwandlungsbeschleunigung anpaßt. Wo alles fließt, zerfließt schließlich auch das Bleiben als ontologischer Maßstab, und die Veränderlichkeit wird ontologisch positiv zunächst als Fortschritt und Entwicklung. Aus der Not des Wandels wird die Tugend der Geschichte und die universale Tugend der Universalgeschichte: durch Beschleunigungskonformismus. b) Zur Universalgeschichte - insbesondere zur Philosophie der Revolution - gehört als Weiterung, daß das zur Geschichte positivierte malum metaphysicum Veränderlich-
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keit - das auch Vergänglichkeit bedeutet - noch eine Zusatzbonität aufweist: denn - so scheint es - das Übel Vergänglichkeit garantiert die Vergänglichkeit der Übel und ist eben dadurch erst recht das Gute: folglich muß es - im Sinne einer fortschrittsbedachten Zusatzbeschleunigung - universalgeschichtlich nun erst recht begrüßt und betrieben werden. Darum wird - durch Temposteigerung der Geschichtsvollendung - ein immer kürzerer Abstand zwischen der Gegenwartslage der Geschichte und ihrer Vollendung gesucht; und der kürzeste Abstand zwischen beiden ist - scheint es - die Revolution: sie ist dann das eigentlich gute Übel, der Inbegriff des letzten - endgültig entübelnden - Übels. Das metaphysische Ultraübel wird zum geschichtlich Superbesten als Sprung in das vollendende Ende der Geschichte, der - durch Universalgeschichte - gelobt und trainiert wird. Aus der Not der Wandlungsbeschleunigung wird die Tugend der Revolution: durch Beschleunigungskonformismus. c) Zur Universalgeschichte - zur revolutionistischen wie zur evolutionistischen - gehört der Ausgriff auf die große und immer größere zeitliche Dimension: man braucht zunehmend die Selbstbestätigung durch den langen Trend. Wo die Wandelbarkeit positiviert und die Temposteigerung zur historischen Pflicht wird, wachsen die Turbulenzen der Gegenwart, damit kann man - wo die Ontologie des ImmutabIen nicht mehr intakt ist - nur noch fertig werden, indem man auf eine temporale Transzendenz rekurriert: auf eine Vergangenheit, die schon der Weg zur einzig richtigen Zukunft war. Die aktuellen Turbulenzen und Richtungswirren müssen als Ausschnitt einer langen und allen gemeinen Geschichte begriffen werden, um sie auszuhalten und die Zuversicht zu retten, daß man selber historisch richtig liegt. Je turbulenter die gegenwärtige Turbulenz ist, desto länger muß die lange Geschichte sein, um dies zu leisten: schließlich greift man über die Geschichte der Menschheit und die Evolution des Lebendigen hinaus und zurück bis zum kosmologischen Urknall, um sich zu bestätigen, daß man -
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trotz allem- im universalen Trend liegt und ihn richtig fortsetzt. Aus der Not der aktuellen Irritierung wird die Tugend der universalgeschichtlichen Gesamtorientierung:durch Beschleunigungskonformismus. d) Zur Universalgeschichte - und justament das zwingt, ihre revolutionäre gegenüber ihrer evolutionären Gestalt ständig zu repristinieren - gehört die Beschleunigungsüberbietung als Gesetz der geschichtlichen Avantgarde. Das hängt zusammen mit der modernen Tribunalisierung der geschichtlichen Lebenswirklichkeit. Denn wo - nach Meinung der Universalgeschichte - die Menschen ihre Geschichte immer mehr selbst machen, übernehmen sie von Gott mit seiner Schöpferrolle auch die Rolle als Angeklagter der Theodizee: wo es weiterhin Weltübel gibt, liegt - bei diesem Tribunal, vor dem jetzt von den Menschen nicht mehr Gott, sondern die Menschen selber angeklagt sind - ihre aussichtsreiche Entschuldigung dann nur noch in der Versicherung, daß zwar die Menschen es waren, aber stets nur die anderen Menschen. Zum Beweis müssen darum diese anderen Menschen, die - als die langsamen Menschen widersetzlich gegen das wachsende Tempo des Geschichtslaufs - für das Vorhandene einstehen, identifiziert und zur unverzüglichen Vergangenheit verurteilt werden durch jene geschichtsgemäß schnellen Menschen, diemit der universal geschichtlichen Garantie, bei den definitiven Siegern der Geschichte zu sein - Agenten der guten Zukunft schon in der Gegenwart zu sein prätendieren. Die Menschen entgehen der Anklage wegen der vorhandenen Übel, indem sie zur Avantgarde werden, denn diese - stets schneller als die Anklage - entkommt dem Tribunal, indem sie es wird: nämlich durch Flucht in das Anklagen (der Flucht aus dem Gewissenhaben in das Gewissensein), die eine immer schnellere Flucht nach vorn ist. Aus der Not der Beschleunigung wird die Tugend der Beschleunigungsüberbietung, die die universale Weltgeschichte zum Weltgericht und die Avantgarde zu seinen Richtern macht: durch Beschleunigungskonformlsmus.
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Mit diesen vier Hinweisen - die ergänzungsbedürftig und ergänzungsfähig sind - wollte ich die These erläutern, die ich folgendermaßen formuliert hatte: Die - geschichtsphilosophisch in Gang gebrachte, revolutionistisch radikalisierte oder evolutionistisch gestreckte - Universalgeschichte ist der zur modernen Welt gehörende Versuch einer Beschleunigungsbewältigung durch Beschleunigungskonformismus. 3. Lob der Trägheit. Die Universalgeschichte - als Theorie der emanzipatorisch revolutionären Avantgarde und als Theorie der sozialen Evolution - erklärt den Menschen so zum triumphierenden Lebewesen: zum siegreichen Protagonisten des Reiches der Freiheit oder wenigstens zum derzeitigen Träger des gelben Trikots bei der tour de I'evolution, der Weltmeisterschaft im Übrigbleiben. Aber dies läuft allemal darauf hinaus, daß der Mensch triumphiert, indem er zugleich über Menschen triumphiert: denn die Universalgeschichte ist - sofern sie inspiriert ist durch den Beschleunigungskonformismus - stets auf ein Finale aus, bei dem Menschen gezwungen sind, Menschen die Menschlichkeit abzusprechen und dadurch selber unmenschlich zu werden. Die Universalgeschichte läuft - im Zeichen des Beschleunigungskonformismus - stets Gefahr, über der Menschheit die Menschlichkeit zu verlieren. Davor will ein Satz warnen, mit dem ich meine Mitmenschen noch nicht genug geärgert habe, so daß es sich - auch ärgerungsökonomisch -lohnt, ihn hier zu wiederholen, und zwar in folgender Variante: Wer menschlich sein will, sei lieber träge als universal. Ich werbe dadurch - gegenüber jedem Beschleunigungskonformismus - für die humane Bonität der geschichtlich wandlungsträgen Verfassungen. Dazu gehören - sie fundierend Konstanten, also etwa jene »immergleichen Lebensrätsel«, die Wilhelm Dilthey benannt hat: »Geburt, Zeugung, Tod«. 8 Zum Wandlungsträgen gehört aber auch und gerade a11 jenes Viele, was sich nur langsam ändert, und zwar mindestens und ich betone: mindestens - so langsam, daß das Ände-
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rungsresultat nicht mehr dieselbe Generation betrifft. Für all dieses Wandlungs träge gilt: was durch geschichtliche Änderungen und Änderungsbeschleunigungen zum Antiquierten wird, ist nicht das Unmenschliche, sondern meistens gerade das Menschliche, zu dem auch das Allzumenschliche gehört und - in der modernen Welt - jene »Antiquiertheit des Menschen«, die Günther Anders im Blick auf die »prometheische Scham« beklagt. Human ist das Ritardando. Diese humane Bonität des geschichtlich Wandlungs trägen - der durch die sich beschleunigende Zukunfts geschichte antiquierungsgefährdeten Herkunftsgeschichten - kann nicht die Universalgeschichte geltend machen, weil sie beschleunigungskonformistisch denkt, so daß es dafür andere Organe braucht: zu ihnen gehört - meine ich - die philosophische Anthropologie mit ihrem seit Herder und Dilthey klassischen Koalitionspartner: dem - auf Buntheit bedachten - Historismus. Ich habe seit 1963 in begriffsgeschichtlichen Untersuchungen9 - anfangs mit ganz anderer Wertung - zu zeigen versucht, daß sich die philosophische Anthropologie - als Philosophie der »Natur« des Menschen und seiner konstanten und wandlungsträgen Verfassungen - gerade im Gegensatz zu Geschichtsphilosophie etabliert: also gegen die geschichtsphilosophische Universalgeschichte. Heute - angesichts der Konjunktur der Evolutionstheorien - ist zu ergänzen, daß sie - in Fortsetzung dieser Opposition - in problematischem Verhältnis zumindest auch zur Evolutionslehre stand: die initialen philosophischen Anthropologien unseres Jahrhunderts - die Menschsonderstellungsanthropologien von Scheler, Plessner, Gehlen - haben sich (etwa durch Rückgriff aufs Schichtenmodell) neutral zum Darwinismus etabliert. Es gibt eine Überlegung von Wolf Lepenies lO, die (jedenfalls mir) plausibel macht, wieso das nahelag: durch die Evolutionslehre, die den Menschen durchaus anthropologiekonform in engsten Zusammenhang mit der Natur bringt, wurde - meint Lepenies - die Anthropologie als integrierte Gesamtwissenschaft vom Menschen zwar einerseits in vorher nie dagewese-
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ner Weise möglich, zugleich aber andererseits überflüssig und darum institutionell nicht wirklich; denn für die natürliche Evolution ist - wie Darwin notierte - »man no exception«: darum institutionalisierte sich im 19. Jahrhundert statt der Anthropologie die Biologie, indem sie die Sonderbarkeiten des Menschen der schönen Literatur überließ, der sich in der Romantik und im 20. Jahrhundert die philosophische Anthropologie anschloß. Die Anthropologie - oppositionell gegen die Geschichtsphilosophie - zerfiel in Biologie und Belletristik. Hier wurden - plausiblerweise - Versöhnungsversuche fällig; und der letzte mir bekanntgewordene ist das neue Buch von Günter Dux über »die Logik der Weltbilder«l1: es bestimmt den Menschen zunächst scheinbar ganz brav und sittsam als Fortsetzung der Evolution unter Verwendung autonomiehaltiger Mittel, d. h. durch Geschichte, und macht dann zur Pointe, daß der - durch Instinktreduktion wirksame - N aturzwang für den Menschen, sich frei durch Lernen erfinden zu müssen, sich in jeder menschlichen Ontogenese wiederholt als jene »kulturelle Nullage«, die jede Geburt eines Menschen darstellt, die dann nur in den verschiedenen Kulturen beim Erwachsenwerden verschieden weit überboten wird: durch jede Geburt gilt für jeden Menschen, daß er erst existiert und sich dann erfindet. So ist in diesem evolutionären Existenzialismus von Günter Dux mindestens seit vielen zehntausend Jahren jedes menschliche Baby - zur Freiheit und zur Mutter verurteilt - ein kleiner Sartre und potentieller Späteuropäer, bei dem eigens erklärt werden muß, warum er nicht sogleich sondern erst in der späteuropäischen Neuzeit - der matromorphen Weltsicht des »subjektivischen Schemas« entkommt und in anderen Kulturen - trotz der chancengleichen Freiheitschance Geburt - in unterschiedlichem Maße dahinter zurückbleibt. Der Hemmungsgrund ist - wie bei Comte die Phantasie - bei Dux das »subjektivische Schema« selber, das als »Barriere« wirkt. So sind - wenn ich das richtig verstehe: aber Herr Dux darf mich anschließend in seinem Vor-
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trag korrigieren und zausen - die Eigenheiten der verschiedenen Kulturformationen Mängel als Gehemmtheiten einer an sich fortschritts- und beschleunigungsfrohen Geschichte: bei Dux setzt sich das universalgeschichtliche Modell des linearen Fortschritts - gegen den Konstantensinn seines anthropologischen Ansatzes - beschleunigungskonformistisch durch. Das ist nun - meine ich - so, weil Günter Dux nur das »Lebensrätsel« »Geburt« - das in der Tat die Freiheit eröffnet- und nicht auch das »Lebensrätsel« "Tod« - das die Freiheit limitiert, und zwar durch Befristung des Lebens, durch Lebenszeitnot- zur anthropologischen Leitkonstante macht. Demgegenüber möchte ich hier - wie sich das für einen Philosophen, der durch seinen Doktorvater Max Müller ein Enkelschüler Heideggers ist, gerade hier in Freiburg auch halbwegs gehört - den Tod priorisieren: Die Menschen sind "zum Tode«12, allerdings ganz unemphatisch, nämlich - im Sinne jener Philosophie der Knappheit der Ressource Lebenszeit, die auch in Heidegger steckt- so: wie ihre Natalität beträgt auch die Mortalität der menschlichen Gesamtpopulation nach wie vor 100 Prozent, und wir Menschen wissen das, so daß gilt: wir haben - vita brevis - nicht genug Zeit, stets alles neu zu erfinden, darum müssen wir stets überwiegend auf das rekurrieren, was schon ist und gilt, und wir haben - vita brevis - nicht genug Zeit, das, was schon ist und gilt, in beliebigem Umfang in Frage zu stellen und abzuändern, darum müssen wir stets überwiegend das fortsetzen, was schon ist und gilt. Denn wir sind durch unsere Geburt nicht nur zur Freiheit, sondern auch zum Tode verurteilt: das Leben ist kurz, darum müssen wir - unvermeidlich wandlungsträge - anknüpfen an Vorgegebenes, das stets zu den kontingenten Besonderheiten gehört, aber nicht im Sinne einer beliebig wählbaren und abwählbaren Beliebigkeit, sondern im Sinne eines kaum entrinnbaren Schicksals: die Wahl, die wir sind, wird stets getragen durch diese Nichtwahl, die wir sind; menschlich Initiales braucht menschlich Inertiales.
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Darum - also weil wir sterben - sind wir wandlungsträge und sterben, wenn uns ein Wandlungsübermaß zugemutet wird. Wer das - etwa durch ein Überquantum an Entbesonderungspensen, an Universalisierungspflichten - vergißt, vergißt - mit ruinierenden Folgen - das Menschliche. Denn der Mensch ist- sterblichkeits bedingt unvermeidlich - der wandlungsträge Anknüpfenmüsser, das Zoon hypoleptikon, das das schließende Lebewesen sein kann, weil es das Lebewesen ist, das an Vorgegebenes anschließen muß. Und so gilt, ich wiederhole es : Wer menschlich sein will, sei stets mehr träge als universal. Mit dieser Wandlungsträgheit des Menschen ist es in der modernen Welt nur scheinbar vorbei durch die Veränderungsbeschleunigung der heutigen Welt: denn - und das kann man die List der Trägheit nennen - die moderne Veränderungsbeschleunigung selber tritt in den Dienst der Wandlungsträgheit. Zwar verhält es sich wirklich so, wie ich eingangs - bezugnehmend auf Koselleck und Lübbe - gesagt hatte: modern wächst das Innovationstempo, die Veraltungsgeschwindigkeit. Weil das so ist, darum sind wir ja heutzutage alle irgendwie die, die - aber gerade das ist menschlichnicht mehr so recht mitkommen und dies in der Regel auch wissen, wo wir dieses Wissen nicht durch Beschleunigungskonformismen zudecken. Indes, und dies scheint mir wichtig: in der modernen Welt gehört zur wachsenden Veraltungsgeschwindigkeit die wachsende Geschwindigkeit der Veraltung auch ihrer Veraltungen. Dadurch kann, je schneller das Neue zum Alten wird, um so schneller das Alte wieder zum Neuesten werden. So wird die - trägheitsbedingte Langsamkeit und Retardierung zur Chance; unter Beschleunigungsbedingungen ist vielleicht gerade die methodische Antiquiertheit für die Menschen die aussichtsreichste Strategie, stets auf der Höhe der Zeit zu sein. Wo die Ressource Veränderlichkeit bei den Menschen sterblichkeitsbedingt knapp bleibt, sollte man sich beim Dauerlauf Geschichte - je schneller sein Tempo wird - unaufgeregt überholen lassen
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und warten, bis der Weltlauf - von hinten überrundendwieder bei einem vorbeikommt: vorübergehend gilt man dann - in immer kürzeren Abständen - bei denen, die überhaupt mit Avantgarden rechnen, ebenso irrtümlich wie wirksam wieder als Spitzengruppe. So kommt es, daß - und jedermann ist Zeuge, der nur ein wenig länger schon lebt - in immer kürzeren Abständen das soeben erst endgültig Überholte wieder als das Neueste auftaucht: mit oder ohne modische Tarnung. Darum - etwa - regieren heute die N ostalgiewellen: vom Neomarxismus über das Systemdenken und die Evolutionstheorie bis zur neuen Morgenländerei und zum N eurousseauismus der Grünen: ihre Veraltung veraltete. Die Kunst, derlei Vorgänge zu bemerken und in Rechnung zu stellen, ist der historische Sinn, der - kompensatorisch zum Beschleunigungskonformismus - geltend zu machen vermag: die zunehmende Veraltungsgeschwindigkeit wird modern kompensiert durch die Zunahme der Reaktivierungschancen fürs Alte. Daher ist in der Geschichte, der ewigen Wiederkehr des Ungleichen, gerade ihre heutige Beschleunigung die Fortsetzung der ewigen Wiederkehr des Gleichen unter Verwendung modernster Mittel: die moderne Veränderungsbeschleunigung ein Agent menschlicher Wandlungsträgheit.
4. Lob der Buntheit. Insofern mag - im Zeichen der schon erwähnten Koalition zwischen philosophischer Anthropologie und Historismus - gelten, was ich (möglicherweise geschichtswissenschaftlich immer noch viel zu naiv) für eine Quintessenz der Erfahrung mit der Geschichte halte, nämlich: daß nur die erste Erfahrung mit ihr - durch die freilich jeder hindurch muß - diese ist: wieviel hat sich selbst dort geändert, wo sich fast gar nichts geändert hat; die zweite und nachhaltigere Erfahrung aber diese: wie wenig hat sich selbst dort geändert, wo sich fast alles geändert hat. Der historische Sinn ist vor allem Inertialsinn, Sinn für Trägheiten: die Grunderfahrung des Geschichtlichen ist - meine ich - mehr als die der Veränderlichkeit die ihrer Grenzen.
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Das bedeutet: selbst wenn die geschichtlichen Veränderungen langfristig wirklich zum Universalen tendieren, verharrt die Geschichte (durch diese Trägheit) stets mehr im Nichtuniversalen - den bunten Besonderheiten -, als dies die Universalgeschichte meint; und das - denke ich - ist gut so. Sterblichkeit bedingt Wandlungsträgheit; Wandlungsträgheit bewahrt Buntheit; und ohne diese Buntheit können wir nicht leben. Selbst wo - modern - die menschlichen Dinge weltweit interdependieren und dadurch globale - universelle - Regelungen unvermeidlich werden, regeln diese Universalien das lebensmäßig Erheblichste gerade nicht; so etwa dort, wo universalistisch und begrüßenswert- alle Menschen als gleich anerkannt werden, denn Gleichheit meint ja: angstloses Andersseindürfen für alle. Darum ist für die Menschen wichtiger als ihre Verallgemeinerungsfähigkeit ihre Besonderungsfähigkeit: ihre Buntheitskompetenz; und jede Universalisierung muß Buntheit fördern, oder sie taugt nichts. Die klassische Definition der Universalgeschichte - als jene supersingularisierte Geschichte, die universal ist, weil sie alle Geschichten in eine wendet, in die eine einzige Fortschrittsund Vollendungsgeschichte der Menschheit - hat genau das, meine ich, übersehen. Wer die Geschichte als den langen Marsch ins Universale und als Weg der Auflösung des Individuums in die Gattung definiert, muß folgerichtig annehmen, daß - ich wiederhole die schon zitierte Schiller-Stelle - »alle vorhergehenden Zeitalter« sich »angestr.engt« haben, »unser menschliches Jahrhundert herbeizuführen« und damit die Geschichte der real existierenden Universalität nahezubringen, und er wird darüber zu einer Art engagiertem Reporter, der als Quasi-Wilhelm-.Tell (nicht mehr lauernd, sondern jubelnd und anfeuernd) - statt mit Pfeil und Bogen mit Mikrophon und Kamera - für die Menschheit im Blick auf die späteuropäische Gegenwart berichtend feststellt: durch diese hohle Gasse muß sie kommen. Es führt kein andrer Weg zur Freiheit. Hier vollend't sie's, die Notwendigkeit ist mit ihr. Im Grunde steckt diese Überzeugung - abgeschwächt - auch
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noch im berühmten Anfangssatz der Vorbemerkung von Max Webers Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie, der da lautet: »Universalgeschichtliche Probleme wird der Sohn der modernen europäischen Kulturwelt unvermeidlicherund berechtigterweise unter der Fragestellung behandeln: welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, daß gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch - wie wenigstens wir uns gern vorstellen - in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen?«13 In der klassischen Bestimmung der Universalgeschichte bei Schiller klang das freilich unvorsichtiger: alles Bisherige ist dort nur als Selbstbestätigungsmittel für die Gegenwart interessant; freilich: diese universalhistorische Instrumentalisierung des Geschichtlichen ist ein als Erinnern getarntes Vergessen. Dagegen hat - Rankes These von der Chancengleichheit der Epochen auf die der Kulturen ausdehnend - Claude LeviStrauss in seiner Strukturalen Anthropologie protestiert u. a. durch einen Satz, der wie direkt gegen Schiller formuliert sich anhört: »eine Gesellschaft« - schreibt dort Levi-Strauss »kann leben, handeln, sich wandeln, ohne sich von der Überzeugung trunken machen zu lassen, daß die, die ihr um gut zehntausend Jahre vorausgegangen sind, nichts anderes getan haben, als ihr den Boden zu bereiten, daß alle Zeitgenossenund seien es auch die Antipoden - fleißig arbeiten, um sie einzuholen, und daß die, die ihr bis ans Ende der Zeiten folgen, nur darauf bedacht sind, sich in ihrer Richtung weiterzuentwickeln«.14 Es gibt vielmehr - das meint diese Kritik am »Mythos der Französischen Revolution« - viele je eigene Wege zur Humanität. Darum darf es -liberaliter - nicht nur eine einzige Geschichte, sondern es muß viele Geschichten geben. Wichtiger als die Universalgeschichte ist die buntheitsfördernde Replik auf sie: also - wenn es denn aus formulierungstechnischen Gründen bei einem sprachlichen Singular bleiben muß - die Multiversalgeschichte, die wissenschaftlich betriebene Form der Polymythie. Universalgeschichte ist
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nur als - direkte oder indirekte - Ermächtigung der Multiversalgeschichte menschlich. Daraus - meine ich - folgt: Die Universalgeschichte wird menschlich erst durch den Historismus, also durch jenen späteuropäischen Selbstdistanzierungsmodus des historischen Sinns, der den Menschen - allen Menschen zusammen und jedem einzelnen Menschen - nicht nur eine Geschichte, sondern viele Geschichten zu haben erlaubt, in die die Menschen verstrickt sind und die sie erzählen können und müssen; denn das ist für die Menschen - und ~iese knappe Doppelerwägung stehe hier am Schluß meiner Uberlegungebenso nötig wie möglich. Es ist nötig für die Menschen, nicht nur eine einzige Geschichte oder wenige Geschichten zu haben, sondern viele Geschichten; denn hätten sie - jeder einzelne Mensch und alle Menschen zusammen - nur eine einzige Geschichte, wären sie dieser Alleingeschichte mit Haut und Haaren verfallen und ausgeliefert; erst sobald sie viele Geschichten haben, werden sie von jeder Geschichte durch die jeweils anderen Geschichten relativ frei und dadurch fähig, eine je eigene Vielfalt zu entwickeln, d. h. ·ein Einzelner zu sein, und sei es ein verzweifelter Einzelner, der weiß: nur eines hilft wirklich über eine Verzweiflung hinweg: die nächste. Weil endliche Wesen sich - sterblichkeitsbedingt - nicht ex nihilo selber bestimmen können, besteht ihre Freiheit - divide et fuge - nur durch die Gewaltenteilung: durch die Teilung schließlich auch noch jener Gewalten, die die Geschichten sind, und selbst noch jener Mächte, die ihre Erzählungen und Auslegungen sind, durch Teilung der einen Geschichte in viele Geschichten. Dabei ist die Geschichte der Universalisierungen eine unter anderen Geschichten: die Universalgeschichte ist zustimmungsfähig nur dann, wenn sie nicht die einzige Geschichte, sondern eine - und keineswegs die wichtigste Geschichte unter anderen Geschichten zu sein bereit ist. Zugleich ist es auch möglich für die Menschen, nicht nur eine einzige Geschichte und nicht nur wenige Geschichten zu
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haben, sondern viele Geschichten: trotz jenes harten Einzigkeitszwangs, unter dem wir alle stehen, weil wir nur ein einziges Leben haben. Denn dieses Vita-una-Argument, das Eckhard Nordhofen ins Spiel gebracht hat15 , scheint mir weniger Einwand als vielmehr Startpunkt für eine Philosophie menschlicher Mitmenschlichkeitsbedürftigkeit zu sein. Wenn wir nämlich - was zutrifft - nur ein einziges Leben haben, aber mehrere Leben haben müssen, um wirklich viele Geschichten haben zu können: dann brauchen wir die Anderen, unsere Mitmenschen, die ja mehrere sind und darum mehrere Leben leben. Die Kommunikation mit den Anderen ist unsere einzige Möglichkeit, mehrere Leben und dadurch viele Geschichten zu haben: und zwar nicht nur die - simultane - Kommunikation mit gleichzeitigen Anderen, sondern auch die - historische - Kommunikation mit Anderen anderer Zeiten und fremder Kulturen, wobei gerade ihre bunte Andersartigkeit gebraucht wird und wichtig ist, die in der Kommunikation mit ihnen also nicht getilgt, sondern gepflegt und geschützt werden muß. Das freilich unterscheidet diese - sozusagen multiversalistische - Kommunikation von jener - universalistischen - Kommunikation, die (im Sinne von Apel und Habermas) der ideale Diskurs ist: denn im idealen Diskurs - dem Analogon der Universalgeschichte - ist Buntheit nur als Anfangskonstellation gestattet, Bewegung nur als Buntheitsabbau gerechtfertigt, und sein Endzustand - der universalistische Konsens - ist einer, in dem niemand mehr anders ist als die Anderen, so daß dort im Grunde alle Teilnehmer überflüssig werden bis auf jenen einen, der genügt, um jene Meinung zu hegen, die dann sowieso als einzige herrscht. So holt jener transzendentale Solipsismus, gegen den das kommunikative Handlungsmodell des idealen Diskurses erfunden wurde, diesen Diskurs an seinem Ende wieder ein: der diskursive Konsens selbst ist die Rache des Solipsismus an seiner diskursiven Überwindung. Denn wie in der Universalgeschichte Ziel der Geschichten das Überflüssigwerden der Geschichten ist, ist im idealen Diskurs Ziel
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seiner Teilnehmer das Überflüssigwerden seiner Teilnehmer. Von dieser universalistischen Kommunikation unterscheidet sich also die multiversalistische Kommunikation, die des unendlichen Gesprächs, die die Andersartigkeit der Anderen braucht und bewahrt. Sie ist das Organ jener Multiversalgeschichte, für die ich hier plädiert habe durch die These: die Universalgeschichte ist menschlich nur durch ihre historistische Aufhebung: als Multiversalgeschichte. Ich schließe, indem ich an jenen Satz erinnere, mit dem ich begonnen hatte: Die Geschichte - sagte ich - ist eine viel zu wichtige Sache, um sie allein den Historikern zu überlassen. Ich denke, daß - durch meine philosophischen Bemerkungen. zur Universalgeschichte und Multiversalgeschichte - nicht gerade dieser Satz plausibel geworden ist, sondern - in einer für den Fortgang dieser Vortragsreihe allerdings dienlichen Weise - vielmehr ein ganz anderer und fast gegenteiliger Satz, nämlich der folgende: Die Geschichte ist - erst recht - eine viel zu wichtige Sache, um sie allein den Philosophen zu überlassen.
Anmerkungen
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Wie 1961- in der Propyläen Weltgeschichte, hrsg. von G. Mann und A. Heuß, Bd. 1, S. 33-86 - H. Plessner, »Die Frage nach der Conditio humana«; wiederabgedr. in: H. P., Gesammelte Schriften, hrsg. von G. Dux, O. Marquard und E. Ströker, Bd.8, Frankfurt a. M. 1983, S. 136-217. F. Schiller, Sämtliche Werke, Säkularausg. in 16 Bdn., hrsg. von E. v. der Hellen [u. a. J, Stuttgart 1904/05, Bd. 13, S. 3-24. A. Borst, Der Turmbau zu Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker, 4 Bde., Stuttgart 1957ff., Bd.l, S.12. E. Schulin (Hrsg.), Universalgeschichte, Köln 1974, bes. S. 32 f. F. W. J. Schelling, Erster Entwurfeines Systems der Naturphilosophie (1799), in: Sämmtliche Werke, 2 Abt. in 14 Bdn., Stuttgart 1856-61, Abt. 1, Bd. 3,1858, bes. S. 15 ff. und 287ff.
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6 W. Wieland, Artikel »Entwicklung., in: O. Brunner I W. .Gonze I R. Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 199-228. . 7 J. Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, in: Gesammelte Werke, Basel/Stuttgart 1955 ff., Bd.4, 1970, S. 116 ff.; vgl. R. Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979. 8 W. Dilthey, .Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen. (1911), in: Gesammelte Schriften, 12 Bde., Leipzig/Berlin 1913 ff., Bd. 8, hrsg. von B. Groethuysen, 1931, bes. S. 80f., 140ff. u. ö.;vgl. O.Marquard, »Leben und Leben lassen. Anthropologie und Hermeneutik bei Dilthey«, in: F. Rodi (Hrsg.), Dilthey-Jahrbuch, Bd. 2, Göttingen 1984, S. 128-139. 9 O. Marquard, .Zur Geschichte des philosophischen Begriffs >Anthropologie< seit dem Ende des 18. Jahrhunderts« (1965), in: O. M., Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a. M. 1982, S. 122-144. 10 Vgl. W. Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19,fahrhunderts, Frankfurt a. M. 1978. 11 G. Dux, Die Logik der Weltbilder. Seinsstrukturen im Wandel der Geschichte, Frankfurt a. M. 1982. 12 Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, Halle a. d. S. 1927, bes. S. 235 ff. 13 M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 71978, S. 1. 14 C. Levi-Strauss, Strukturale Anthropologie, übers. von H. Naumann, Frankfurt a. M. 1978 (stw 226), S. 362. 15 E. Nordhofen, .Ein vergnügter Skeptiker. Odo Marquard: >Abschied vom Prinzipiellen<., in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 267 vom 17. 11. 1981, Literaturbeilage, S. 11.
Zeitalter der Weltfremdheit? Beitrag zur Analyse der Gegenwart Unsere Zeit hat viele Namen. Sie gilt als »Industriezeitalter« oder »Spätkapitalismus« oder »Zeitalter der wissenschaftlichtechnischen Zivilisation« oder »Atomzeitalter«; sie gilt als Zeitalter der »Arbeitsgesellschaft« oder »Freizeitgesellschaft« oder »Informationsgesellschaft« ; sie gilt als Zeitalter der »funktionalen Differenzierung« od~r »Epoche der Epochisierungen« oder »postkonventionelles Zeitalter« oder bereits als »nacheuropäisches Zeitalter« oder einfach als »Moderne« oder auch schon als »Postmoderne« und so fort. Diese Vielnamigkeit ist indirekte Anonymität: unsere Zeit und Welt befindet sich - scheint es - auch deswegen in einer Orientierungskrise, weil sie zunehmend nicht mehr weiß, mit welcher dieser Kennzeichnungen sie sich identifizieren muß. Es kann hier nicht meine Aufgabe sein, diese Orientierungskrise zu beheben; ich werde sie eher - heilsam: und erst zum Schluß werde ich sagen, warum das heilsam ist - ich werde sie eher steigern, indem ich hier jetzt eine weitere Kennzeichnung ins Spiel bringe, nämlich diese: unsere Zeit ist - vielleicht auch - das Zeitalter der Weltfremdheit. Ich möchte diesen Kennzeichnungsvorschlag in den folgenden gut 50 Minuten ein wenig erläutern und konturieren, und ich tue das in folgenden fünf Abschnitten: 1. Utopien und Apokalypsen; 2. Man wird nicht mehr erwachsen; 3. Tachogene Weltfremdheit; 4. Erhaltung des Negativitätsbedarfs; 5. Plädoyer für den Kontinuitätensinn. Damit - wenn es denn eine ist zur Sache und also zum Abschnitt 1. Utopien und Apokalypsen. Was immer unsere Zeit sein mag: sie ist jedenfalls auch das Zeitalter der Wechselwirtschaft zwischen Utopien und Apokalypsen, zwischen Diesseitserlösungs-Enthusiasmus und Katastrophengewißheit,
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zwischen den Naherwartungen einerseits des Himmels auf Erden, andererseits der Hölle auf Erden, und jedenfalls zwischen - überemphatischen - Fortschrittsphilosophien und Verfallsphilosophien. Warum gehören zu unserer Welt beide? Da sind einerseits die Fortschrittsphilosophien und Utopien. Zu unserer, der modernen Welt, die schließlich zur Industrieund Arbeitsgesellschaft geworden ist, gehört zentral der Fortschrittsgedanke, der Gedanke der Selbststeigerung oder gar Selbstvollendung der Menschheit: alles wird immer schneller immer besser und womöglich gar alsbald am Ende wirklich gut. Dieser Gedanke setzt sich im 18. Jahrhundert durch. Zuerst wird er - sattelzeitbrav1 ab 1750 - durch die moderne Geschichtsphilosophie formuliert, für die die Namen Turgot, Voltaire, Condorcet, Kant, Fichte, Hegel und Marx stehen mögen und die als Säkularisierung (Löwith) oder Umbesetzung (Blumenberg) des Heilschemas der christlichen Geschichtstheologie verstanden werden kann: durch die Geschichte betreibt die Menschheit ihre Erlösung, die Herbeiführung ihres guten Lebens. Dann - nach der Enttäuschung der emanzipatorischen Naherwartung zuerst durch die Französische Revolution - kommt der Fortschrittsgedanke in die Obhut positivistischer Stadienlehren und biologischer, psychoanalytischer und soziologischer Evolutionstheorien, für die die Namen Schelling, Comte, Darwin, Spencer, Freud, Gehlen, Habermas und Luhmann stehen mögen: der schnelle Marsch ins Heil wird ersetzt durch den langen Marsch durch die Arten und Institutionen; durch die Geschichte betreibt die Menschheit die Perfektion der Technik, der Sicherung ihres Überlebens. Das Grundschema bleibt das gleiche: das Frühere wird überboten durch das Spätere, das Primitive durch das Entwickelte, und also in concreto: das Rohe durch das Gekochte, die Natur durch die Kultur, das Wilde durch das Gezähmte, das Lustprinzip durch das Realitätsprinzip, die Gewalt durch das Recht, der Stamm durch den Staat, der Mythos durch
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den Logos, der Zufall durch die Wissen~~haft, das Schicksal durch die Technik, die Not durch den Uberfluß, die Phantasie durch die Beobachtung, die Fiktion durch die Realität, die Illusion durch die Kritik, die Ungleichheit durch die Gleichheit, die Repression durch die Freiheit, der Urmensch durch die Spätkultur, kurzum: das Frühere, das das Unmündige und Unreife ist, wird überboten durch das Spätere, das das Mündigere und Reifere, und durch das Späteste, das das Mündigste und Reifste ist. Das meine ich: und man kann es durch die Lebensaltermetaphorik aller Fortschrittstheorien belegen - schließt ein: die Menschheit ist emsig dabei, ihre Kindheit hinter sich zu lassen, und ist also strebsam bemüht, dauernd immer erwachsener zu werden. Die spätesten Menschen sind die reifsten - die erwachsensten Menschen der Weltgeschichte; unsere Zeit - als Produkt der Abstreifung ihrer früheren Unmündigkeiten und Weltfremdheiten - ist das Zeitalter der vollendeten Erwachsenheit: die Weltgeschichte ist - im Blick auf das Diesseitsheil - die Fortschrittsgeschichte des Gewinns der Erwachsenheit. Da sind andererseits die Verfallsphilosophien und Apokalypsen. Zu unserer, der modernen Welt, die schließlich zur Arbeits- und Industriegesellschaft geworden ist, gehört ebenso zentral der Verfallsgedanke, der Gedanke der Selbstzerstörung oder gar Selbstvernichtung der Menschheit: alles wird immer schneller immer schlimmer und womöglich gar alsbald am Ende wirklich tödlich. Durch diesen Gedanken wird das skizzierte Reifungsschema nicht angefochten, es bleibt vielmehr aufrechterhalten, gerade auch dort, wo die Fortschrittsgeschichte der Menschheit nicht als Gewinngeschichte, sondern als Verlustgeschichte erfahren wird: als Geschichte des Verfalls durch Fortschritt. Das geschieht bemerkenswert gleichzeitig mit der geschichts- und evolutionsphilosophischen Positivkarriere des Fortschrittsgedankens und der Utopie. Denn die These, daß das Wachstum an Technik und Zivilisation Verlust und Verfall sei,
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kommt ebenfalls - sattelzeitbrav - Mitte des 18. Jahrhunderts ins Spiel: seit 1750 Rousseauin seinem Discours des sciences et des arts die Frage, ob der Wissenschafts- und Technikfortschritt gut für den Menschen sei, frühgrün mit »nein« beantwortete und im Namen der Natur gegen die Fortschritts geschichte plädierte. Seither wird dieses Nein ständig wiederholt: romantisch - etwa bei Novalis - zu Anfang und lebensphilosophisch - etwa bei Nietzsche - zu Ende des 19. Jahrhunderts; und - nach Spengler und Klages und Heidegger - im Augenblick ist die grüne Welle die aktuelle Reprise der Interpretation des Fortschritts als Verfall und des vermeintlichen Wegs zum Heil als Weg in die Katastrophe: nichts Neues unter der Sonne, die freilich zuweilen durch Smog verdunkelt wird. Wie gesagt: das Grundschema - das Reifungsschema - bleibt dabei das gleiche; nur wird jetzt umgewertet, und wo sonst gejauchzt wird, wird jetzt gezittert und geklagt; und wo das Prinzip Hoffnung regierte, regiert nun das Prinzip Angst. Denn: jawohl, die Menschheit ist emsig dabei, ihre Kindheit hinter sich zu lassen, und ist also strebsam bemüht, dauernd immer erwachsener zu werden: das - fürwahr! - ist so. Nur: es ist schlimm. Unsere Zeit - die einer fortgeschrittenen Verfallsgeschichte - ist die Schreckensära der Hypertrophie des Erwachsenseins: sie ist die Unheilszeit eines großen Verlustes, nämlich des Verlustes der Kindlichkeit der Menschen. Denn auch hier gilt: die spätesten Menschen sind die reifsten - die erwachsensten Menschen der Weltgeschichte; unsere Zeit - als Produkt der Abstreifung ihrer früheren Unmittelbarkeiten und kreativen Phantasien - ist das Zeitalter der vollendeten oder fast vollendeten Erwachsenheit: die Weltgeschichte ist - im Blick auf die Katastrophe - die Verfalls geschichte des Verlustes der Kindlichkeit. Befreiungserwartung und Katastrophenangst, utopische Fortschrittsphilosophie und apokalyptische Verfallsphilosophie: beide gehören zu unserer - der modernen - Welt. Warum beide? Ich sprach von ihrer Wechselwirtschaft: sie
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sind »feindliche Brüder«. Nicht eine von beiden, sondernim Pendelverfahren grundsätzlich gleichzeitig - beide gehören zur modernen W elt. Warum beide? 2. Man wird nicht mehr e~achsen. Auf diese Frage versuche ich zu antworten, indem ich zunächst auf folgenden Tatbestand hinweise: Etwa gleichzeitig mit dem gleichzeitigen Triumph von Fortschrittsphilosophien und Verfallsphilosophien kommt es - wiederum sattelzeitbrav seit dem 18. Jahrhundert - zu dem, was man die »Entdeckung des Kindes« genannt hat. 2 Ein Kind ist kein kleiner Erwachsener, sondern etwas anderes als ein Erwachsener, nämlich ein Kind: das istPhilippe Aries hat es gezeigt - eine moderne Entdeckung, etwa 300 Jahre alt. Vor kaum 200 Jahren hat die Romantik - beeindruckt durch Rousseaus Lehre vom guten Wilden diese Entdeckung des Kindes zugespitzt zur Überzeugung: das Kind ist der eigentliche Mensch, und Erwachsenwerden - als Verlust der Kindlichkeit - ist Abfall vom Menschsein, nämlich einzellebensgeschichtlich das, was menschheitsgeschichtlich die moderne Fortschrittskultur selber ist: die Zerstörungsgeschichte des eigentlichen, »authentischen«, natürlichen Menschen, jenes guten Wilden, der in unserer entfremdeten Welt allein noch das Kind ist. Seither gelten die Kinder, die Jugendlichen als die maßgeblichen Menschen: diese Meinung hat so sehr Schule gemacht, daß selbst die Schule ihre Lehrer zuweilen anhielt, nur noch Lehrlinge ihrer Schüler zu sein. Erwachsenwerden ist Sündenfall. Ihm entgehen - scheint es - nur die, die das Erwachsenwerden verweigern. Das sind - meinen einige - die Künstler; es sind - meinen andere - die Randgruppen und Aussteiger (von der Boheme bis zur alternativen Selbsterfahrungsgruppe); es sind - so wollen es die modernen Jugendbewegungen - vor allem die Kinder, die Jugendlichen selbst. Nicht zufällig tragen sie heute Savage-Iook, die Uniform des guten Wilden; was da bärtig und zottig einhertrottet, sind keine ungepflegten Menschen, sondern gepflegte Zitate: Rousseau-Zitate. Dazu
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gehört allenthalben der Bedeutungsaufschwung der Frage »wie bleibe ich jung?« und die Flut der Versuche, sie befriedigend zu beantworten: vom Sport über die Kosmetik bis zur Entwicklung von Möglichkeiten, lebenslang die Schulbank zu drücken. Weil man dennoch - schon aus· biologischen Gründen - weiterhin älter wird, entsteht das Gefühl, daß die moderne Erwachsenenwelt - als Welt der erwachsensten Erwachsenen der bisherigen Menschheitsgeschichte - die Kinder- und Jugendwelt einschränkt und erdrückt. Dagegen rennt die heutige Jugend an, zuweilen wild: denn beim guten Wilden beweist ja Wildheit Güte. Aus der modernen Uberaufwertung des Kindseins und Jungseins - ermuntert durch die Deutung des Fortschritts als Verfall - folgt schließlich, daß - unter Beifall der Erwachsenen - die Jugend den Aufstand probt: als Widerstandsbewegung gegen das Erwachsenwerden. All das kennzeichnet heute weithin unsere Lage. Das - diese Lage der scheinbar expandierenden Erwachsenheit und ihrer Negativbewertung durchs Lob des Kindes und durch Jugendprotest - muß man (meine ich) neu durchdenken. Dabei sollte Inan - abweichend von bisherigen Analysen- folgende Möglichkeit in Betracht ziehen: Vielleicht stimmt es gar nicht, daß die modernen Erwachsenen zuviel erwachsen und zuwenig Kind sind, vielleicht stimmt eher das Gegenteil, daß sie zuwenig erwachsen und zuviel Kind sind und - im Sinne eines Ressentiments - durch das Lob des Kindes nur die eigene Schwäche loben: die Neigung der modernen Erwachsenen zu Infantilismen, zu Verkindlichungen und Kindlichkeiten, ihre Unfähigkeit zum Erwachsensein, ihren Hang zur Weltfremdheit. Das ist denn auch hier im folgenden meine These: Uns fehlt nicht die Kindlichkeit, wir haben sie eher zuviel; für die Menschen der modernen Welt nämlich gilt: man wird nicht mehr erwachsen, denn wir leben im Zeitalter der Weltfremdheit. Man wird nicht mehr erwachsen: damit meine ich hier nicht das, was wohl immer zutraf und was uns die Psychoanalyse nur noch einmal eindrucksvoll in Erinnerung rief: wie sehr wir bei allem, was wir
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tun und denken, jenes Kind zitieren und bleiben, das wir einmal waren: sein Verhältnis zu den Eltern, den Geschwistern, und zwar auch und gerade in jenen häufigen und häufig harmlosen Fällen, wo es nicht zur Neurose führt. »Und dann, die Quintessenz von allem ist, daß es keinen Menschen gibt, der erwachsen wäre«: so ein französischer ResistancePriester über seine Beichterfahrung, zitiert zu Anfang der Anti-Memoiren von Malraux. 3 Das, denke ich, hätte ein Beichtiger auch 1000 Jahre früher sagen können: es ist also etwas Altes und somit nichts Neues. Neu- spezifisch modern - ist vielmehr etwas anderes. Darüber im Abschnitt
3. Tachogene Weltfremdheit. Neu ist nämlich eine zeitalterspezifisch moderne Beeinträchtigung des Erwachsenwerdens. Ich nenne sie tachogene Weltfremdheit; denn sie resultiert aus der beschleunigten Schnelligkeit (auf griechisch: to tachos) des modernen Wirklichkeitswandels. Erlauben Sie mir zu ihrer Charakteristik - die hier keineswegs vollständig sein kann - fünf Hinweise (a-e). Da ist als erstes Charakteristikum der tachogenen Weltfremdheit a) die beschleunigte Erfahrungsveraltung4 • Wir leben seit knapp einem Vierteljahrtausend in einer - der modernen Welt, in der sich immer schneller immer mehr ändert. Zu ihren besonderen Kennzeichen - darauf haben im Anschluß an Jacob Burckhardts Interpretation der geschichtlichen Krisen als »beschleunigte Prozesse« vor allem Reinhart KoselIeck und Hermann Lübbe hingewiesens - gehört die. Veränderungsbeschleunigung. Wo beispielsweise vor 2000 Jahren ein Wald war und vor 1000 Jahren ein Feld und vor 500 Jahren ein Haus, stand vor 150 Jahren eine Weberei, vor 75 Jahren ein Bahnhof, vor 25 Jahren ein Flugplatz und steht heute ein Weltraumsatellitenterminal, und was dort in 10 Jahren stehen wird: das wissen wir noch nicht. Bedingt durch die Fortschritte von Wissenschaft, Technik und Arbeitseffektivität wächst auf fast allen - und immer mehr - Gebieten die N euerungsgeschwindigkeit: das heißt zugleich, daß immer mehr
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immer schneller veraltet. Das gilt auch für unsere Erfahrungen. Denn in unserer Lebenswelt kehren jene Situationen immer seltener wieder, in denen und für die wir unsere Erfahrungen erworben haben. Darum rutschen wir - statt durch stetigen Zuwachs an Erfahrung und Weltkennmis selbständig, d. h. erwachsen zu werden - zunehmend stets aufs neue in die Lage derer zurück, für die die Welt überwiegend unbekannt, neu, fremd und undurchschaubar ist: das ist die Lage der Kinder. Erfahrung ist das - wohl einzige - Gegenmittel gegen Weltfremdheit: aber jetzt greift sie nicht mehr. Weil heutzutage das Vertraute immer schneller veraltet und die künftige Welt zunehmend anders sein wird als die von uns erfahrene bisherige Welt, wird - für uns, die modernen Menschen - die Welt fremd, und wir werden weldremd. Die modernen Erwachsenen verkindlichen. Selbst wenn wir grau werden, bleiben wir grün. Man wird nicht mehr erwachsen. Da ist als zweites Charakteristikum der tachogenen Weltfremdheit b) die Karriere des Hörensagens. Niemals zugleich - das liegt am modernen Siegeszug der Erfahrungswissenschaften - gab es soviel neue Erfahrungen wie heute. Aber wir machen sie nicht mehr selbst, sondern andere machen sie für uns. Sogar ein Empirie-Spezialist, wie z. B. ein experimenteller Physiker, macht heute höchstens 2 bis 5 % jener Experimente selber, auf deren Resultate er sich ständig verlassen muß: schon aus Kosten- und Zeitgründen. Um - unter Beschleunigungsbedingungen - innovativ erfahren zu können, wird die Erfahrung superspezialistisch: z. B. fachjargonabhängig und apparateintensiv. 50 müssen wir immer mehr Erfahrungen hinnehmen, die wir nicht selbst machen, sondern nur durch Hörensagen kennen, das zum großen Teil die Fach-, die Konversations- und die 5ensationsmedien verwalten: bis hin zu den Bildzeitungen, etwa dem Spiegel. Das bedeutet: je wissenschaftlicher - in unserer Welt - die Erfahrungen gemacht werden, um so mehr müssen wir glauben, und ich betone es, weil es paradox klingt: wir müssen - gerade weil Erfahrungen
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modern immer wissenschaftlicher gemacht werden - zunehmend mehr nur noch auf Hörensagen hin glauben. Dieses Glaubenmüssen - also die Abhängigkeit von Erfahrungen, die man nicht bzw. noch nicht selber gemacht hat - war stets die Lage des Kindes: heute - in der modernen Welt - ist gerade sie zur Normallage des Erwachsenen geworden, der so - tachogen weltfremd - in einer neuen Weise zum Kind wird. Man wird nicht mehr erwachsen. - Da ist als drittes Charakteristikum der tachogenen Weltfremdheit c) die Expansion der Schule. Wer - wie der moderne Mensch, dessen eigene Erfahrungen immer schneller veralten, dessen neue Erfahrungen aber (spezialistisch) überwiegend nicht mehr eigene Erfahrungen sind - seine Erfahrungen nicht mehr selber macht, muß den Erfahrungsersatz kultivieren. Eine solche Kultur des Erfahrungsersatzes (des erfahrungsentlasteten - erfahrungsentfernten - Erfahrungserwerbs, den man heute meint, wenn man »Lernen« sagt) ist- im weitesten Sinn verstanden: einschließlich des Kindergartens, der Hochschule, der Fortbildung und der Seniorenakademie - die Schule, die ebendarum erst modern eigentlich entsteht und jedenfalls expandiert; denn immer mehr- zum Erfahrungsersatz - muß gelernt werden. So ergreift die Schule immer weitere Teile der Wirklichkeit unseres Lebens; und die für die Schule nötige Weltfremdheit - denn sie trainiert das Erwachsensein unter Kindseinsbedingungen, d. h. durch das Moratorium des Erwachsenseins - geht p'eu apeu über auf die Wirklichkeit. Nur zunächst ist es eine Ubertreibung, zu der jene Lehrer und Lehrerpolitiker neigen, die selber die Schule niemals verlassen haben, wenn sie die Schule selber zum Leben ernennen: wie einst - von Schelling über Wagner bis zum Surrealismus - die Wirklichkeit mit der Kunst identifiziert, d. h. der Ernst nur noch gespielt wurde durch das Gesamtkunstwerk, wird dann die Wirklichkeit mit der Schule identifiziert durch die Gesamtschule. Aber die Wirklichkeit ist - je mehr (durch den tachogenen Ausfall direkter Erfahrung) lebenslang indirekt erfahr.en, d. h. gelernt werden
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muß - buchstäblich dabei, wirklich zur Schule zu werden: der Mensch wird - der Tendenz nach - ganz und gar zum Schüler, und - der Tendenz nach - jeder Erwachsene wird dadurch jenes Kind, das - wie alt er auch sein mag - in jedem Schüler steckt. Man wird nicht mehr erwachsen. - Da ist als viertes Charakteristikum der tachogenen Weltfremdheit d) die Konjunktur des Fiktiven6 • Wo die Welt - wandlungsbeschleunigungsbedingt - ständig komplexer wird, bedarf es zunehmend der (wie Luhmann sie nennt) Komplexitätsreduktionen, deren jede Quasifiktionen enthält: jede Weltvereinfachung hat ihre Lebenslüge. Ein exemplarischer Befund ist dieser: Handlungen - insbesondere Interaktionen von erheblicher Größenordnung - brauchen stets Zeit; während diese Zeit vergeht, ändern sich - unter Beschleunigungsbedingungen - jene Orientierungsdaten, aufgrund derer man die Handlungen unternahm. Von einem bestimmten temporal point of no return ab verlangt es die Sichträson der Handlung, die Änderung dieser Daten zu ignorieren: ohne diese Konstanzfiktion brächte man keine Handlung mehr zu Ende. Wo alles fließt, zwingt jedes Durchhalten von Handlungen zu Fiktionen: und gegen Comte muß gesagt werden: nicht das religiöse, sondern das positive Stadium ist das fiktive. Freilich wächst gerade dadurch das Risiko ungewollter Nebenfolgen; insbesondere Großplanungen werden so leicht zur self-destroying prophecy. Darum bedarf es einer Dennoch-Zuversicht. Die einschlägigen Zuversichtsgaranten werden notfalls erfunden: etwa - wie seit Kant - durch Postulate der praktischen Vernunft. Heute sind diese Fiktionen in der Regel keine absoluten Postulate mehr: nicht mehr das Postulat einer übermenschlich wiedereinrenkenden Allmacht (Gott) und nicht mehr das einer trans-endlichen Geduld, ihre Erfolge abzuwarten (Unsterblichkeit); sondern: zuversichtsgarantierende Postulate werden alle Konstanzfiktionen (wie sie sich exemplarisch melden durch die gegenwärtige Inflation der Formel "ich gehe davon aus, daß ... «, einer Konstanzfiktionsformel), etwa als Ceteris-paribus-Klauseln.
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Diese bilden ihrerseits ein wachsend kompliziertes Ensemble, das zu seiner Betreuung Experten braucht. Darum postuliert man heute nicht mehr Postulate, sondern man postuliert - und bezahlt - Postulierer: das Orientierungsdatenproduktionsgewerbe mit seiner Superabteilung für die Fiktionskonfektion, zu der nicht nur die hochrechnenden Statistiker - darunter die mit den Weltmodellen - gehören, sondern auch die Träumprofis. Die jeweils überwältigende Mehrheit der Handlungsteilnehmer - zu der wir alle gehören - ist dabei nicht mehr in der Lage, den Realitätsgehalt der Daten wirklich zu beurteilen: es verwischt sich der Unterschied von Realitätswahrnehmung und Fiktion. Mir scheint gegenwarts zentral, daß beide zunehmend den Charakter des Halbfiktiven annehmen und dadurch tendenziell konvergieren. Darum ist es gegenwärtig so leicht, wirkliche Schrecklichkeiten zu ignorieren und von fiktiven Positivitäten überzeugt zu sein, und fast noch leichter, fiktive Schrecklichkeiten zu glauben und für wirklich Positives blind zu werden, also: was in den Kram paßt zu akzeptieren und was nicht in den Kram paßt zu verdrängen. So disponiert die tachogene Weltfremdheit zu Illusionen, durch die die Menschen - träumend - verkindlichen. Man wird nicht mehr erwachsen. Darum ist denn auch das fünfte Charakteristikum der tachogenen Weltfremdheit e) die zunehmende Illusionsbereitschaft. Sie entsteht durch das, was Joachim Ritter die ,.Entzweiung von Herkunft und Zukunft« nannte und Reinhart Koselleck die - durch zunehmende Wandlungsbeschleunigung-wachsende ,.Kluft« zwischen ,.Erfahrung und Erwartung« nennt:' immer weniger vergangene Erfahrung wird auch zukünftige Erfahrung sein; darum hat die Erwartung des Künftigen immer weniger ihr Maß an der bisher vorhandenen Erfahrung: so wird die Erwartung - nicht mehr gedeckt und nicht mehr kontrolliert durch Erfahrung - maßlos und also der Tendenz nach illusionär, wobei - da die Geschichtsphilosophie (durch Verabschiedung des Topos ,.historia magistra vitae«) das Alte und
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die Anspruchsgesellschaft das erfahrungsgemäß Mögliche als Instanz verwirft - diese Not leicht zur Tugend erklärt wird. Dann kommt es zur Flucht aus dem Erfahrungsverlust in den Erfahrungsverzicht, etwa zur großen Konjunktur der Apriorismen und der Heilspläne; vor allem aber: die Menschen werden zu erfahrungslosen Erwartern, zu Träumern. Erwartet wird dann justament das, was man nicht mehr erfahren kann, und das ist Vertrautheit. Je mehr Vertrautheit nicht mehr erfahren wird, um so mehr wird sie - ungeduldig erwartet: durch die Illusion einer endgültig nicht mehr fremden, einer endgültig heilen Diesseitswelt. Gerade sie wird dann zur direkten Hoffnung, zum direkten Anspruch. Kinder, für die die Wirklichkeit überwältigend fremd ist, brauchen zum Ausgleich eine eiserne Ration an Vertrautem: ihren Teddybär, den sie ebendarum überallhin mitschleppen. Just so brauchen die modernen Erwachsenen - für die die Welt tachogen dauernd wieder fremd wird - die ideologische Naherwartung der heilen Diesseitswelt: sie ist der mentale Teddybär des modern verkindlichten Erwachsenen. Denn eine Welt, in der immer weniger von dem, was war, künftig noch sei~ wird, in der also - tachogen - immer weniger Herkunft Zukunft sein wird, ist geprägt durch Kontinuitätsverlust: gerade er inthronisiert die Illusion, durch die die Menschen verkindlichen. Man wird nicht mehr erwachsen. Durch all dieses wird die moderne Welt zu dem, was ich nannte: das Zeitalter der Weltfremdheit. 4. Erhaltung des Negativitätsbedarfs. Ich meine nun: diesetachogene - Weltfremdheit ist es, die in der modernen Welt zur eingangs geschilderten Wechselwirtschaft zwischen U topien und Apokalypsen, zwischen Positiv- und Negativillusionen führt: zwischen Wunschtraum und Alptraum. Sie begünstigt das, was heute unter dem Stichwort»Wertewandel« diskutiert wird und was keiner ist, denn es handelt sich von Anfang an nur um ein Scheinwertependeln, eben um die moderne Wechselwirtschaft zwischen Utopien und Apoka-
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lypsen. Im Augenblick ist wieder einmal die Apokalypse dran: der Alptraum. Denn zu den Eigenheiten des Zeitalters der tachogenen Weltfremdheit gehört offenbar auch diese: nicht nur die positiven Erwartungen - die Ansprüche und Hoffnungen - werden illusionär, sondern auch die negativen Erwartungen: die Ängste. Eben weil die Erwartungen insgesamt weltfremd werden, kommt es bei Enttäuschungen von Positivillusionen nicht mehr zur Ernüchterung, sondern zu einer Art negativer Trunkenheit: Die Überhoffnungen kippen nicht mehr um in Realitätssinn, sondern in Panik. Davon - meine ich - zeugt die heutige Neigung zur Negativierung der Fortschrittskultur. Denn eigentlich müßten wir im Zeitalter der Ernüchterungen leben. Der Kulturfortschritt - vor allem der technische - hat einst mit kleinerem Aufwand große Vorteile bewirkt und bewirkt jetzt - wo vieles Lebenserleichternde erreicht ist mit größerem Aufwand und größeren Umweltbelastungen zusätzlich nur noch relativ kleinere Vorteile. Wenn aber immer kleinere Vorteile immer größere Anstrengungen fordern und mit immer größeren Nachteilen bezahlt werden, kommt es schließlich zu einer Nullbilanz zwischen Aufwand und Effekt: jenseits dieser Nutzengrenze wird der Grenznutzen des Fortschritts negativ. Das mag heute in manchen - beileibe nicht in allen - Bereichen tatsächlich so sein: ichvielleicht neutral, weil ich selber nicht Auto fahren kann, sondern es nur als Beifahrer kommentiere - könnte mir z. B. vorstellen, daß die Ausweitung des Autoverkehrs hierzulande auf die Dauer mehr Plagen als Freuden bringt; aber erstens müßte das - die Beweislast hat der Veränderer - plausibel gemacht werden, und zwar unter Berücksichtigung nicht nur der. manifesten, sondern auch der latenten Funktionen des Autowesens (z. B. auch, daß Autos durch ihren Kapseleffekt Einsamkeitsbedarf unter Vermassungsbedingungen zu decken scheinen); und zweitens läge Abhilfe dann nicht in der Steigerung der Jammerrate lind der inflationären Einberufung von Neuethikertribunalen, sondern in der pragmati-
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schen Suche nach einer Optimierung der Plagen-FreudenRelation, erst letztlich notfalls durch Geburtenkontrolle für Autos. Das vernünftige Verhalten ist hier dieses: die erreichten Vorteile dankbar zu genießen und - wo dies als nötig sich erweist - auf ungehemmt weiteren Ausbau bei bestimmten Dingen einsichtsvoll-klaglos zu verzichten, in einem Klima nüchterner Abwägung. Indes: wir leben nicht. im Klima nüchterner Abwägung, sondern im Klima hysterischer Angst; denn wohin man schaut: es herrscht gepflegte Panik. Warum - in aller Welt - ist das so? Die kulturellen Entlastungen des Menschen durchlaufen scheint es - drei Stadien: erst werden sie begrüßt; dann werden sie selbstverständlich; schließlich ernennt man sie zum Feind. Entsprechend verhalten sich die Menschen: erst arbeiten sie emsig am Aufbau dieser Entlastungen; dann konsumieren sie gleichgültig ihre Errungenschaften; schließlich bekommen sie Angst vor ihnen und greifen sie an. Das letzte Stadium setzt das zweite voraus, dieses wiederum das erste; und das - wenn ich es richtig sehe - bedeutet: der spätere Angriff auf die kulturellen Entlastungen erfolgt nicht trotz, sondern gerade wegen ihres Erfolges; oder anders gesagt: die Entlastung vom Negativen8 - gerade sie - disponiert zur Negativierung des Entlastenden. Was ich mit dieser abstrakten Formel meine, erläutere ich zunächst durch drei Beispiele: Je mehr Krankheiten die Medizin besiegt, desto größer wird die Neigung, die Medizin selber zur Krankheit zu erklären; je mehr Lebensvorteile die Chemie der Menschheit bringt, um so mehr gerät sie in den Verdacht, ausschließlich zur Vergiftung der Menschheit erfunden zu sein; und: je länger Kriege vermieden werden, desto gedankenloser gilt die vorhandene Friedensvorsorge als pure Kriegstreiberei. Kurzum: die Entlastung vom Negativen - gerade sie - disponiert zur Negativierung des Entlastenden; die Befreiung von Bedrohlichemgerade sie -läßt das Befreiende bedrohlich erscheinen. Plausibel wird dieser - ja ganz und gar paradox anmutendeNexus genau dann, wenn man eine gewisse Konstanz oder
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(richtiger) Änderungsträgheit des menschlichen Negativitätsbedarfs annimmt. Die Menschen sind durch Angstbereitschaft halbwegs dauerhaft eingestellt auf ein gewisses Quantum an Widrigkeiten. Diese Widrigkeiten gibt es für den Menschen - naturhaft ein Mängelwesen, das zwecks Kompensation seiner Naturmängel zum Kulturwesen werden muß - in reicher Menge: durch natürliche Feinde und Wildheiten der Natur, durch Hinfälligkeiten der eigenen Kondition, durch Krankheiten, durch die Mühe und Last physischer Arbeit, durch die Unordnungen menschlichen Zusammenlebens, durch Aggressionsverzichte, die der kulturelle Fortschritt den Menschen auferlegt, und so fort. Um diese Widrigkeiten ins Lebensdienliche umzuarbeiten, muß der Mensch auf Negatives gefaßt sein, so daß es sinnvollerweise so eingerichtet ist, wie ich sagte: die Menschen sind - durch Angstbereitschaft - halbwegs dauerhaft eingestellt auf ein gewisses Quantum an Widrigkeiten. Insofern ist das Widrige, d. h. Negative (schon als Gelegenheit, es zu überwinden), eine Art anthropologischer Besitzstand, von dem sich - und nun gar schnell und ersatzlos - zu trennen den Menschen schwerfällt; denn die Menschen sind konservative Wesen, die ungern verzichten, sogar aufs Schlimme. Darum kommt es, wo Widrigkeiten auf Grund entwickelter Kultur dauerhaft abgebaut werden, nicht nur dazu, daß das alsbald nicht mehr als Gewinn honoriert, sondern selbstverständlich wird; vielmehr: es kommt auch und vor allem - meist unbewußtzur großen Suche nach Ersatz für die verloren ge gangenen Widrigkeiten, nach negativitätsausfallkompensierenden Negativitäten, nach Bedrohlichkeiten, die überwundene Bedrohlichkeiten ersetzen; und diese Suche wird dort verstärkt, wo - wie heute hierzulande weithin - negativitätsträchtige Risiken selbst im Abenteuerurlaub nicht mehr zureichend gefunden werden können. Da werden dann die Widrigkeiten, die die menschliche Kulturarbeit zunehmend aus der Wirklichkeit vertrieben hat und die nun - als suchthaft schwerverzichtbare Gewohnheiten - mit Entzugsnöten ver-
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mißt werden, schließlich zunehmend in jener Kulturarbeit selber gesucht und gefunden bzw. erfunden, die uns die Widrigkeiten erspart. Wenn die Kultur immer mehr Bedrohliches besiegt, wird - als Bedrohlichkeitsersatz - die Kultur selber zum Bedrohlichen ernannt, das man - etwa durch alternatives Leben - glaubt besiegen zu müssen; oder eben anders und abstrakt gesagt: die Entlastung vom Negativengerade sie - disponiert zur Negativierung des Entlastenden. Dann - und das ist einer der großen Angstgründe unserer Zeit - bekommt man vor allem vor demjenigen Angst, das einem die Ängste erspart, just weil es einem die Ängste erspart: denn gerade die real entpflichtete Angst macht sich auf die Suche nach Gelegenheiten, sie zu haben, und findet sie dann auch fast um jeden Preis: schließlich in der entwickelten Kultur selber. Je mehr die moderne Welt frühere Schrecklichkeiten tilgt, um so mehr werden ihr selber jetzt Schrecklichkeiten angehängt, die notfalls - weil hierzulande nicht hinreichend auffindbar - durch exotischen Schrecklichkeitsbestätigungstourismus eingeworben werden. Je erfolgreicher die Technik als Lebenserleichterung wirkt, desto ungehemmter wird sie zur Lebenserschwerung umerfahren; und je mehr Umweltschonung sie faktisch ermöglicht, desto mehr wird sie zur Umweltbelastung erklärt. Und analog: je effektiver der Kapitalismus Wohlstand produziert, desto energischer wird er zum Übelstand ernannt; je mehr der Markt Probleme löst, desto mehr erscheint er selber als Problem; und nur, weil planwirtschaftliche Sozialismen diese Probleme weniger gut lösen, ist man milder gegen sie gestimmt. Je sicherer der Staat Bürgerkriege verhindert, desto hemmungsloser gilt er selber als Bürgerkriegsgrund; je mehr die parlamentarische Demokratie den Menschen Repressionen erspart, um so leichter proklamiert man sie selber zur Repression; und: je mehr das Recht die Gewalt ablöst, um so mehr gilt schließlich das Recht selber als - gegebenenfalls »strukturelle« - Gewalt. Kurzum: je mehr die Kultur die Wirklichkeit entfeindlicht, desto mehr gilt die Kultur dann selber als Feind. Hier - bei
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dieser großen Inversion des Negativen - ist eine Art Übelstandsnostalgie der Wohlstandswelt am Werke, der man Übelstände um so leichter nachsagt, je mehr Übelstände sie tilgt, und vor der man zur Wahrung des Besitzstandes Angst bekommt, um so mehr Angst bekommt, je mehr Gründe zur Angst sie beseitigt, so daß eben gilt: die Befreiung vom Widrigen - gerade sie - macht das Befreiende widrig; oder abstrakt: die Entlastung vom Negativen - gerade sie - disponiert zur Negativierung des Entlastenden. Man könnte, was diese Formel zum Ausdruck bringt, nennen: das Gesetz der Erhaltung des Negativitätsbedarfs. Doch es ist - hoffe ich - kein Gesetz, und es ist - hoffe ich - nicht einmal eine unbäuerliche Bauernregel. Sondern - das ist hier meine These - der von mir formulierte Nexus - daß man jenes Negative, das einem erspart wird, dann (weil man es nunmehr vermißt) gerade in demjenigen sucht, das einem das Negative erspart - dieser Nexus greift nur dort, wo Menschen - tachogen - allzu weltfremd werden und wo ihre Hemmung, erwachsen zu sein - also ihre beschleunigungsbedingte Infantilisierungsrate - ein bestimmtes Maß übersteigt, was freilich heute nicht selten ist: dort - nur dort - greift, meine ich, und wirkt dieser Nexus; dort allerdings unheilvoll. Ich warne vor ihm, darum mache ich auf ihn aufmerksam. Ich warne vor dieser Versuchung zur Inversion des Negativen und davor, sich durch die Entlastung vom Negativen ermuntern zu lassen zur Negativierung des Entlastenden. Aus diesem Grund warne ich vor zuviel tachogener Weltfremdheit, vor zuviel beschleunigungsbedingter Verkindlichung, und ebendarum empfehle ich: mehr Mut zum Erwachsensein.
5. Plädoyer für den Kontinuitätensinn. Diese Warnung und diese Ermutigung hat Erfolgsaussichten einzig dann, wenn die modeme Welt nicht nur das ist, als was ich sie bisher beschrieb: nicht nur das Zeitalter der Weltfremdheit. Meine Meinung - und das signalisierte das Fragezeichen im Titel meines Vortrags - ist diese: die modeme Welt ist zwar auch,
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aber sie ist nicht nur das Zeitalter der Weltfremdheit. Gewiß, wir sind ihr ausgesetzt: der zunehmenden Änderungs- und Veraltungsgeschwindigkeit des modernen Daseins; gerade sie macht uns tachogen weltfremd: dadurch, daß - wandlungsbeschleunigungsbedingt - immer weniger von dem, was war, künftig noch sein wird, und daß immer weniger Herkunft noch Zukunft sein wird. Diese zunehmende Diskontinuität von Herkunft und Zukunft - gerade sie - entmächtigt ja die Erfahrung und ermächtigt die Illusion, insbesondere auch die negative. Doch zugleich gibt es - kompensatorisch - Entschleunigungen: das Zeitalter der Weltfremdheit ist zugleich das Zeitalter kompensatorischer Kontinuitäten. Es ist lebenswichtig für uns, gerade auf diese kompensatorischen Kontinuitäten zustimmend aufmerksam zu sein, d. h. Kontinuitätensinn zu entwickeln und zu pflegen. Ich weise hier abschließend, doch ohne Vollständigkeitsprätention - nur auf drei Formen dieses Kontinuitätensinns (a-c) hin. Wir brauchen a) den historischen Sinn9 • Wir müssen ihn nicht erst erfinden, denn es gibt ihn in unserer Welt, und zwar reichlich: daßmodern - immer weniger Herkunft Zukunft sein wird, wird kompensiert durch die Kunst, immer mehr Herkunft in die Zukunft mitzunehmen: durch das Sensorium für die Geschichte, das - als eine Art Ersatzerwachsensein für tachogen Unerwachsene- erst modern - kompensatorisch zur neuzeitlichen Veraltungsbeschleunigung- entstand. Kein Zeitalter hat mehr Vergangenheit vertilgt als unseres, kein Zeitalter hat zugleich mehr Vergangenheit festgehalten: museal aufbewahrt, konservatorisch gepflegt, ökologisch behütet, archivalisch gesammelt, archäologisch rekonstruiert, historisch erinnert. Die - technogene - Dauerzerstörung von Vergangenheit wird modern kompensiert durch die - historische Dauerbewahrung von Vergangenheit: ohne sie könnten wirim Zeitalter der Kontinuitätsbrüche - unseren Kontinuitätsbedarf und - im Zeitalter der Weltfremdheit - unseren Vertrautheitsbedarf nicht mehr decken und den Wirklichkeits-
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wandel nicht mehr aushalten; denn: je weniger Kontinuität durch historischen Sinn, desto mehr Flucht in die Illusion. Ihr gegenüber hat der historische Sinn Desillusionierungswert: er ist eine Ernüchterungsgröße. Ohne historischen Sinn könnten wir nicht leben. Wir brauchen b) den Sinn für Usancen10. Auch sie müssen nicht erst erfunden werden, sondern sind - neuzeitlich nur als Gemenge am gleichen Ort bunter als früher - da: als »mceurs«, als Sitten, .als Üblichkeiten und Traditionen werden sie gerade modern unverzichtbar; denn je mehr sich - im Zeitalter tachogener Weltfremdheit - dauernd alles ändert, um so mehr braucht man Lebensroutinen, die durch Usancen gesteuert sind als das, was man macht, weil man es immer schon so gemacht hat: je schwerer die Lebenslage, desto größer der Routinebedarf. Auch diese Üblichkeiten gehören - teilweise als Traditionen rationeller Subsysteme - zu den kompensatorischen Kontinuitäten, und man muß zugeben, daß es ohne sie nicht geht: so bedarf es der Entwicklungshi~fe für die Entwicklung des Sinns für das Usuelle; denn die Ublichkeiten werden beschleunigungskompensatorisch - immer wichtiger, und ich vermute, sie sind immer kräftiger da: ohne sie könnten wirim Zeitalter der Kontinuitätsbrüche - unseren Kontinuitätsbedarf und - im Zeitalter der Weltfremdheit - unseren Vertrautheitsbedarf nicht mehr decken und den Wirklichkeitswandel nicht mehr aushalten; denn: je weniger Kontinuität durch Usancen, desto mehr Flucht in die Illusion. Ihr gegenüber haben Usancen, d. h. Traditionen, Desillusionierungswert: sie sind Ernüchterungsgrößen. Ohne Usancen könnten wir nicht leben. Wir brauchen c) das Festhalten der Aufklärung l1 • Sie ist jene Modernitätstradition, die - als Wille zur Mündigkeit, d. h. zum Erwachsensein - den Mut zur Nüchternheit zur Routine macht. Man darf - weil man von Usancen ohne Not nicht abweichen sollauch von dieser Tradition (der Usance Modernität) nicht ohne Not abweichen. Dabei muß man die Aufklärung vor jenen retten, die sie zum Kursus in Weltfremdheit umfunk-
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tionieren wollen: zum Doping für Revolutionäre. Denn - das jedenfalls meine ich in meiner Skeptikereigenschaft als Moder~itätstraditionalist - es ist nicht Aufklärung, sondern illusionär, die Wandlungsbeschleunigungsschäden der Moderne durch Beschleunigungsüberbietung - und ihre Weltfremdheiten durch Weltfremdheitsüberbietung - beheben zu wollen: mittels Futurisierungdes Antimodernismus durch den revolutionären Drang, die Moderne hinter sich zu haben. Denn damit, meine ich, hätte man auch die Aufklärung hinter sich, die - man sollte das deutlich sagen - eine bürgerliche Tradition ist, an der man - um der Nüchternheit willen festhalten muß durch etwas heute recht Unpopuläres: durch Zustimmung zur eigenen Bürgerlichkeit. Erlauben Sie mir eine kurze Schlußbemerkung. Die Kennzeichnung »Zeitalter der Weltfremdheit« kommt - ebenso wie die Kennzeichnung »Zeitalter der kompensatorischen Kontinuitäten« - zusätzlich ins Spiel: als Zusatznamen für eine Zeit, die - ich sagte es anfangs - ohnehin viele Namen hat und auch deswegen in einer Orientierungskrise steckt, weil sie zunehmend nicht mehr weiß, mit welcher dieser Kennzeichnungen sie sich identifizieren muß. Ich hatte - wi~ ich eingangs sagte'- hier nicht vor, diesen Orientierungsschaden zu reparieren. Ich wollte vielmehr - auch das hatte ich gesagt - die Verwirrung heilsam steigern: durch Erhöhung der Vielnamigkeit unserer Zeit. Warum ist solche Vielnamigkeit heilsam? Mir scheint: mit der Anzahl kontroverser Gegenwartskennzeichnungen - teile und denke! - sinkt die Gefahr monodiagnostischer Sichteinseitigkeiten und steigt die Diagnosefreiheit des Einzelnen. Auf sie kommt es dem Skeptiker- wie ich einer bin - an; denn Skepsis ist ja: der Sinn für Gewaltenteilung bis hin zur Teilung auch noch jener Gewalten, die die Namen sind. In diesem Sinne habe ich unsere Zeit nicht gekennzeichnet, sondern nur mitgekennzeichnet, indem ich sie - mit Fragezeichen - nannte: Zeitalter der Weltfremdheit.
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Anmerkungen
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Der Begriff »Sattelzeit« - geprägt durch R. Koselleck, .Richtlinien für das Lexikon politisch-sozialer Begriffe in der Neuzeit«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 9 (1967) S. 82, 91, 95; vgl. R. K., Ein!. zu: O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, bes. S. XV meint die Zeit der europäischen Geschichte um und kurz nach 1750. Ph. Aries, L'Enfant et la Vie familiale sous l'Ancien Regime, Paris 1960. A. Malraux, Antimemoires (1967), dt.: Anti-Memoiren, übers. von C. Schmid, Frankfurt a. M. 1968, S. 7. Vgl. H. Lübbe, »Erfahrungsverluste und Kompensationen. Zum philosophischen Problem der Erfahrung in der gegenwärtigen Welt«, in: Gießener Universitätsblätter 12,2 (1979) S. 42-53. Vgl. J. Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, in: Gesammelte Werke, Base!/Stuttgart 1955 ff., Bd.4, 1970, S.116; R. Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979; H. Lübbe, Zukunft ohne Verheißung? Sozialer Wandel als Orientierungsproblem, Zürich 1976. Vgl. O. Marquard, .Kunst als Antifiktion. Über den Weg der Wirklichkeit ins Fiktive«, in: D. Henrich / W. Iser (Hrsg.), Funktionen des Fiktiven (Poetik und Hermeneutik, Bd. 10); O. M., Krise der Erwartung - Stunde der Erfahrung. Zur ästhetischen Kompensation des modernen Erfahrungsverlustes, Konstanz 1982. VgI.J. Ritter, Subjektivität. SechsAufsätze, Frankfurta. M.1974, S. 27 u. ö.; R. Koselleck, Artikel »GeschichtelHistorie«, in: Geschichtliche Grundbegriffe (s. Anm. 1), Bd. 2, Stuttgart 1975, bes. S. 658 ff. »Entlastung vom Negativen«: vgl. A. Gehlen, Anthropologische Forschung, Reinbek bei Hamburg 1961, S. 64 ff. Vgl. Ritter, Subjektivität, bes. S. 105 ff. Vgl. O. Marquard, .Über die Unvermeidlichkeit von Üblichkeiten«, in: W. Oelmüller (Hrsg.): Normen und Geschichte, Paderbom 1979 (Materialien zur Normendiskussion, Bd.3), S.332-342.
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11 Vgl. O. Marquard, -Die Erziehung des Menschengeschlechtseine Bilanz«, in: Der Traum der Vernunft. Vom Elend der Aufklärung. Eine Veranstaltungsreihe der Akademie der Künste, Berlin, Erste Folge, Darmstadt/Neuwied 1985, S. 125-133.
Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften Eine der zahlreichen Anekdoten über den großen dänischen Physiker Niels Bohr lautet folgendermaßen. Bohr erhält Besuch auf seiner Skihütte. Der Blick des Besuchers fällt auf ein Hufeisen, das über der Skihüttentür angebracht ist. Verwundert fragt er Bohr: "Sie, als Naturwissenschaftler, glauben daran?« Darauf Bohr: "Selbstverständlich glaube ich nicht daran. Doch man hat mir versichert, daß Hufeisen auch dann wirken, wenn man nicht an sie glaubt.« Das gegenwärtig vorherrschende y~rhältnis zu den Geisteswissenschaften hat - meine ich - Ahnlichkeit mit dem von Bohr auf unüberbietbar philosophische Weise subtil charakterisierten Verhältnis zum Hufeisen: man glaubt nicht an sie, aber man verläßt sich auf sie, wie mir scheint: weil einem gar nichts anderes übrigbleibt. Dabei bestehen natürlich auch einige tiefgreifende Unterschiede zwischen Hufeisen und Geisteswissenschaften, darunter diese beiden: die Institution der Hufeisen ist alt, die Institution der Geisteswissenschaften ist neu; und: es sind die Geisteswissenschaften - im Unterschied zu den Hufeisen - einigermaßen unersetzlich. Ich möchte das unterstreichen, indem ich hier in meinen Überlegungen folgende Grundthese vertrete: Je moderner die moderne Welt wird, desto unvermeidlicher werden die Geisteswissenschaften. Ich plädiere dafür, dem - von der Schätzung bis zur Finanzierung - Rechnung zu tragen. Mein einschlägiges Plädoyer umfaßt folgende vier Abschnitte: 1. Dementi eines Vorurteils; 2. Kompensationsrolle der Geisteswissenschaften; 3. Lob der Vieldeutigkeit; 4. Neuchance der Anthropologie? Ich beginne - den Üblichkeiten entsprechend - mit Abschnitt
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1. Dementi eines Vorurteils. Das Vorurteil, das ich hier dementieren möchte, ist auch heute noch verbreitet und lautet folgendermaßen: Die Geisteswissenschaften werden durch die Modernisierung unserer Welt zunehmend obsolet; denn zur modernen WeIt gehört die Geburt und Expansion der harten - der experimentierenden - Wissenschaften (also maßgeblich der Naturwissenschaften, aber auch der messenden Humanwissenschaften), die jene Wissenschaften zunehmend überflüssig machen, die nicht oder noch nicht experimentieren: also die erzählenden Wissenschaften, eben die Geisteswissenschaften. Mit anderen Worten: In der modernen Welt sterben modernisierungsbedingt -langfristig - die Geisteswissenschaften ab. Dieses Vorurteil lebt von folgender historischen Annahme: Erst waren - als die alten Wissenschaften - die Geisteswissenschaften da; dann kamen - als die neuen Wissenschaften die experimentellen Naturwissenschaften. Aber diese historische Annahme ist falsch. Darauf hat - mit einer Pointe, die nach wie vor bedenkenswert ist - mein 1974 verstorbener philosophischer Lehrer Joachim Ritter 1961 aufmerksam gemacht in seiner Rede »Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft«.l Es verhält sich nämlich genau umgekehrt: erst waren die experimentellen Naturwissenschaften da; dann kamen die Geisteswissenschaften. Die Geisteswissenschaften sind jünger als die Naturwissenschaften. Ich halte hier kein wissenschaftsgeschichtliches Referat; darum gebe icp. - als Beleg- nur einen kurzen Hinweis auf die durchschnittliche Etablierungsverzugszeit der Geisteswissenschaften gegenüber den experimentellen Naturwissenschaften: sie beträgt zunächst ungefähr 100 oder etwas mehr als 100 Jahre. Symptomatisch dafür ist schon der Zeitabstand der beiden philosophischen Programmschriften, jener, die auf die Naturwissenschaften hinaus will, und jener, die auf die Geisteswissenschaften hinaus will: Descartes' Discours de la methode erscheint 1637, Vicos Prinzipi di una scienza
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nuova erscheint 1725. Dieser Abstand wiederholt sich bei den beiden klassischen philosophischen Grundlagenschriften : Kant analysiert die Grundlagen der Naturwissenschaften 1781 in seiner Kritik der reinen Vernunft und Dilthey die Grundlagen der Geisteswissenschaften 1883 in seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften und seinen weiteren Schriften zur Kritik der historischen Vernunft. In symptomatisch ähnlichem Abstand tauchen die Namen beider Wissenschaftsgruppen auf: der Terminus »Naturwissenschaften« wird ab 1703 gebräuchlich, der Terminus »Geisteswissenschaften« ab 1847 bzw. 1849. All das aber spiegelt nur jenen Etablierungsabstand wider, den es bei den Wissenschaften selber gab: der entscheidende Zeitraum des Durchbruchs der Naturwissenschaften (zunächst der Physik und Chemie) zur Exaktheit - man denke an Galilei, Torricelli, Boyle, Newton, Lavoisier usf. - war das 17. und 18. Jahrhundert; der entscheidende Zeitraum des Durchbruchs der Geisteswissenschaften (der »betrachtenden« im Unterschied zu den »pragmatischen«2, also zunächst der Altertumskunde, dann der Geschichte, der Sprach-, Literatur- und Kunstwissenschaften) zu ihrem eigenen Weg - man denke an Winckelmann, Heyne, Herder, Grimm, Bopp, Niebuhr, Ranke, Droysen, Burckhardt usf. - war das 18. und 19. Jahrhundert. Also verhält es sich tatsächlich so: modern begannen zuerst die harten Naturwissenschaften ihren Erfolgslauf ; erst dann - mit einem Etablierungsabstand von zunächst um 100 Jahren und einem temporalen Schwerpunkt der universitären Institutionalisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - kamen die Geisteswissenschaften. Was - so greife ich Joachim Ritters Frage auf, die er mit der Feststellung dieses elementaren Tatbestandes verband - was bedeutet das? Doch wohl dieses: Wenn die Geisteswissenschaften >nach< den experimentellen Wissenschaften entstehen, kann es nicht stimmen, daß sie >durch< die experimentellen Wissenschaften überflüssig werden; sondern - es liegt ja nahe, das >post< als >propter< zu deuten - plausibler verhält es
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sich vielmehr so: beide Wissenschafts gruppen gehören in der modernen Welt - beide sie prägend - unvermeidlich zusammen, und zwar so, daß (darum der Zeitverzug) die Ausbildung und Entwicklung der Geisteswissenschaften auf die Ausbildung und Entwicklung der harten Naturwissenschaften antwortet. Die experimentellen Naturwissenschaften sind »chalIenge«; die Geisteswissenschaften sind »response«. Die Genesis der experimentellen Wissenschaften ist nicht die Todesursache, sondern die Geburtsursache der Geisteswissenschaften; mit anderen Worten: die Geisteswissenschaften sind nicht das Opfer, sondern sie sind das Resultat der Modernisierung und daher selber unüberbietbar modern. Von dieser Verursachungsvermutung her riskiere ich folgende Prognose: Auch jeder weitere Fortschritt der harten Wissenschaften - der Naturwissenschaften und ihrer U msetzung in Technologie, aber auch der experimentellen Humanwissenschaften - wird (in immer kürzerem Abstand) einen zunehmend erweiterten Bedarf an Geisteswissenschaften erzwingen; oder eben, anders gesagt: je moderner die moderne Welt wird, desto unvermeidlicher werden die Geisteswissenschaften. Bevor ich einiges darüber zu sagen versuche, warum das so ist, möchte ich auf die entscheidende Konsequenz aufmerksam machen, die zu ziehen ist, wenn dies so stimmt. Man muß, was die Geisteswissenschaften betrifft, Abschied nehmen von den großen Verkümmerungsprognosen, zu denen auch die heutige Klagenflut über die Gegenwartslage der Geisteswissenschaften gehört. Das entbindet nicht von der Pflicht, ihre trartsitorischen Beeinträchtigungen ernst zu nehmen: in Deutschland vom nach wie vor fortwirkenden Substanzverlust durch die Emigration der 30er Jahre über die falsche Orientierung der Geisteswissenschaften am Pensum einer niedrig veranlagten Lehrerausbildung und die Anfechtung ihrer Erinnerungs- und Erzähltugenden durch ihre Seitensprünge mit Mathematik und Ideologie bis hin zum Problem ihrer überspezialistischen Fehlinstitutionalisierungen.
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Eine grundsätzliche Leistungskrise der Geisteswissenschaften aber sehe ich nicht. Kassandrismus ist fehl am Platz. Man klagt häufig an der falschen Stelle; daß z. B. - gemessen am 19. Jahrhundert und am Beginn unseres Jahrhunderts - der Anteil der deutschen Geisteswissenschaften am weltweiten Sozialprodukt an geisteswissenschaftlichem Genie zurückgeht, ist in Wirklichkeit ein Erfolg: so sehr wurden inzwischen - als Folge der globalen Modernisierungen - die Geisteswissenschaften ihrerseits zum Welterfolg, daß jetzt weltweit immer mehr Geisteswissenschaftler arbeiten, wodurch der relative Anteil der Deutschen naturgemäß sinkt j daß diese dann nicht mehr das meiste entdecken, sondern nur noch einiges, ist völlig normal. 'Gleichwohl gibt es gegenwärtig eine Krise der Geisteswissenschaften: aber- wenn ich es richtig sehe - sie entsteht nicht dadurch, daß das geisteswissenschaftliche Leistungsangebot kleiner wird, sondern dadurch, daß die Nachfrage nach Geisteswissenschaften - als Folge der immer schnelleren Modernisierungen - schneller wächst als das geisteswissenschaftliche Leistungspotential. Die gegenwärtige Krise der Geisteswissenschaften ist - kurz gesagt keine .. Leistungskrise«, sondern eine .. Überforderungskrise«3. Die Geisteswissenschaften sterben also nicht ab, sondern sie halten nur - obwohl sie wachsen - mit ihrer modernen Unvermeidlichkeit nicht Schritt. Das aber spricht nicht gegen, sondern es spricht gerade für meine Grundthese, die da lautet: Je moderner die moderne Welt wird, desto unvermeidlicher werden die Geisteswissenschaften. 2. Kompensationsrolle der Geisteswissenschaften. Warum ist das nun so und wie muß das verstanden werden: daß diedurch die harten Wissenschaften vorangetriebene - Modernisierung unserer Welt die Geisteswissenschaften nicht nur nicht überflüssig, sondern allererst nötig macht, und zwar immer mehr? Meine Antwort - und ich gehe hier einstweilen weiter überwiegend in den Spuren von Joachim Ritter - ist diese: Die - durch die experimentellen Wissenschaften voran-
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getriebene - Modernisierung verursacht lebensweltliche Verluste, zu deren Kompensation 4 die Geisteswissenschaften beitragen. Lassen Sie mich den Grundverlauf dieses Vorgangs hier durch drei Bemerkungen (a-c) ein wenig konkreter erzählen. a) Wer überprüfbar experimentieren will, muß die Experimentierer austauschbar machen. Die Experimentierer aber sind Menschen, und Menschen sind eben nicht einfachhin austauschbar; nicht deswegen, weil es bei ihnen - sozusagen im Sinne eines bedauerlichen Störfaktors - als Randphänomen auch noch ergebnisverfälschende subjektive Emotionen gibt, sondern weil die Menschen primär tatsächlich verschieden sind, nämlich - noch vor aller Individualität - fundamen tal mindestens dadurch, daß sie in verschiedenen Traditionen sprachlicher, religiöser, kultureller, familiärer Art stecken und gar nicht leben könnten, wenn das nicht so wäre: wir Menschen sind stets mehr unsere Traditionen als unsere Experimente. Darum muß man die Menschen experimentierfähig, d. h. austauschbar, erst kunstvoll machen: justament das geschieht in den modernen experimentellen Wissenschaften durch methodischen Verzicht auf die je eigene Besonderheit. Die geschichtlichen Herkunftswelten der experimentierenden Wissenschaftler - z. B. ihre religiösen Traditionen: daß sie Buddhist, Mohammedaner, Jude, Christ und dabei Katholik oder Protestant sind usf. - werden (durch »methodischen Zweifel«) »neutralisiert« streng im sechstagerenntechnischen Sinn dieses Worts: solange experimentell gefahren wird, wird herkunftsweltlich - z. B. religiös - nichts entschieden und umgekehrt. Aber diese Neutralisierung der geschichtlichen Herkunftswelten gelingt im Labor, nicht aber im Leben, und weil es Menschen gibt, bei denen das Labor zum Leben gehört, nicht einmal durchgängig im Labor, wo man ja zugleich ständig traditionelle Sprachen gebraucht, um durch Metaphern die Wissenschaftsergebnisse an die menschliche Lebenskürze anzupassen: So ist z. B. s die Rede vom »genetischen Code« eine Metapher aus dem tradi-
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tionellen Bildfeld des »Buchs der Natur«, das teilhat am Bildfeld des »Buchs der Bücher«: also der Bibel. Grundsätzlich aber gilt: die modernen Wissenschaften werden exakt, d. h. zu experimentellen Wissenschaften, durch Neutralisierung jener lebensweltlichen Traditionen, in denen ihre Wissenschaftler stehen, also durch methodischen Verzicht auf ihre geschichtlichen Herkunftswelten. b) Dieser methodische Verzicht wird zur Gefahr des realen Verlusts durch die Modernisierungen. Modernisierungen bestehen in der - partialen - Ersetzung der Herkunftswelten durch experimentell geprüfte und technisch erzeugte Sachwelten, die ihrerseits - damit er sich in ihnen zurechtfinde den austauschbaren Menschen verlangen auf Kosten seiner traditionellen Verschiedenartigkeiten. Der Mensch wird nun auch lebensweltlich zum Sachverständigen und das, was ist, zur Sache: zum exakten Objekt, zum technischen Instrument, zum industriellen Produkt, zur ökonomisch kalkulierbaren Ware, wobei all dieses - weil es zur Globalisierung drängt - die Lebenswelten weltweit uniformisiert; mit einem Wort: die Gleichförmigkeiten siegen. Dieser Vorgang - das hat einschlägig vor allem Hermann Lübbe' geltend gemacht und dadurch die These Joachim Ritters eindrucksvoll fortgeschrieben 6 - beschleunigt sich: in der modernen Welt wird immer schneller immer mehr zur Sache. Das bedeutet: immer weniger von dem, was Herkunft war, scheint Zukunft bleiben zu können; die geschichtlichen Herkunftswelten geraten zunehmend in die Gefahr der Veraltung. Das aber wäre umkompensiert - ein menschlich unaushaltbarer Verlust, weil zunehmend der lebensweltliche Bedarf der Menschen nicht mehr gedeckt wäre, in einer farbigen, vertrauten und sinnvollen Welt zu leben. c) Dieser Verlust ruft also nach Kompensation; und die Kompensationshelfer sind die Geisteswissenschaften, die darum gerade jetzt- modern- erst entstehen. Freilich: wären in der modernen Welt alle Traditionen verschlissen (oder auch nur die meisten), käme jede Hilfe zu spät, Diese totale Krise sollten wir nicht herbeijammern:wir sind nicht so gut gestellt,
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um uns solchen Negativierungsluxus und Krisenstolz leisten zu können, die ja auch durch die Wirklichkeit und ihre vorhandene Fülle an intakten Traditionen täglich dementiert werden. Auch und gerade modern sind und bleiben wir Menschen stets mehr unsere Traditionen als unsere Modernisierungen. Die Geisteswissenschaften helfen den Traditionen, damit die Menschen die Modernisierungen aushalten können: sie sind - das betone ich in meiner Skeptikereigenschaft als Modernitätstraditionalist - nicht modernisierungsfeindlieh, sondern - als Kompensation der Modernisierungsschäden - gerade modernisierungsermöglichend. Dafür brauchen sie die Kunst der Wiedervertrautmachung fremd werdender Herkunftswelten. Das ist die hermeneutische Kunst, die Interpretation: durch sie sucht man in der Regel für Fremdgewordenes einen vertrauten Kram, in den es paßt; und dieser Kram ist fast immer eine Geschichte. Denn die Menschen: das sind ihre Geschichten. 7 Geschichten aber muß man erzählen. Das tun die Geisteswissenschaften: sie kompensieren Modernisierungsschäden, indem sie erzählen; und je mehr versachlicht wird, desto mehr- kompensatorisch - muß erzählt werden: sonst sterben die Menschen an narrativer Atrophie. Das unterstreicht und präzisiert meine Grundthese : Je moderner die moderne Welt wird, desto unvermeidlicher werden die Geisteswissenschaften, nämlich als erzählende Wissenschaften. Sie erzählen vor allem drei Sorten von Geschichten (c1-c3). Sie erzählen cl. Sensibilisierungsgeschichten. Dabei geht es - kompensatorisch zur farblos werdenden Welt - um den lebensweltlichen Farbigkeitsbedarf. Die Modernisierung wirkt als »Entzauberung« (Max Weber); diese moderne Entzauberung der Welt wird -.!l10dern - kompensiert durch die Ersatzverzauberung des Asthetischen: ästhetisch-autonome Kunst hat es vorher nie gegeben. Darum entsteht - spezifisch modern der ästhetische Sinn, dessen Kompensationspensum die Geisteswissenschaften unterstützen, indem sie Sensibilisierungsgeschichten erzählen. Sie erzählen c2. Bewahrungsgeschichten. Dabei geht es - kompensato-
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risch zur fremd werdenden Welt - um den lebensweltlichen Vertrautheitsbedarf. Die Modernisierung wirkt als beschleunigte Artefizialisierung, d. h. Entnatürlichung, und als Versachlichung, d. h. Entgeschichtlichung der Wirklichkeit; beide werden - spezifisch modern - kompensiert durch die Entwicklung des Sinns für die Natur (von der Entdeckung der Landschaft bis zum Naturschutz) und durch die Entwicklung des Sinns für die Geschichte mit seinen konservatorischen Aktivitäten: dem Museum, der forschenden Erinnerung, der Denkmalpflege. So ist die Gesellschaft der Kittelträger - gerade sie - zugleich die Gesellschaft der Pflanzenund Trachtenpfleger. Keine Zeit hat soviel zerstört wie die Moderne; keine Zeit hat soviel bewahrt wie die Moderne: durch Entwicklung von Fertigkeiten, immer mehr Herkunft in die Zukunft mitzunehmen. Darum entsteht - spezifisch modern - der historische Sinn und - seit Rousseau - der ökologische Sinn, deren Kompensationspensen die Geisteswissenschaften unterstützen, indem sie Bewahrungsgeschichten erzählen. Sie erzählen c3. Orientierungsgeschichten. Dabei geht es - kompensatorisch zur undurchschaubar und kalt gewordenen Welt - um den lebensweltlichen Sinnbedarf. Die Modernisierung wirkt als Desorientierung; sie wird - modern - kompensiert durch die Ermunterung von Traditionen, mit denen man sich identifizieren kann: also etwa der Tradition des Christentums, der Tradition des Humanismus, der Tradition der Aufklärung usf. Darum entsteht- spezifisch modern - der philosophische Sinn für historische. Orientierungen einschließlich des Sinns der Ethik für historische Orientierungen, deren Kompensationspensum die Geisteswissenschaften unterstützen, indem sie Orientierungsgeschichten erzählen. Dabei allerdings geht es nicht nur um die Identifizierung mit Traditionen, sondern ebenso um die Distanzierung von Traditionen; und dazu nun - gesondert - einige Bemerkungen im Abschnitt
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3. Lob der Vieldeutigkeit. Je moderner die moderne Welt wird, desto unvermeidlicher werden die Geisteswissenschaften: und zwar als erzählende Wissenschaften. Aber dürfen denn Wissenschaften erzählen? Die Wissenschaftstheorie, die (just wie zu Ende des 19. J ahrhunderts, so auch noch heute) repräsentativ dazu neigt, die Geisteswissenschaften dafür auszuschimpfen, daß sie anders sind als die experimentellen Wissenschaften - diese Wissenschaftstheorie ist überwiegend gegen das Erzählen: sie empfiehlt eine wissenschaftstheoretische Schönheitsoperation, die aus den Geisteswissenschaften das Erzählen (also die Geisteswissenschaften) amputiert. Aber das, meine ich, spricht nicht gegen die erzählenden Wissenschaften, ganz im Gegenteil: es spricht gegen die Wissenschaftstheorie. Ich bin zur Zeit auch Standespolitiker des Standes der Philosophen und in dieser Eigenschaft selbstverständlich bereit, die Wissenschaftstheorie bis zu meinem letzten Blutstropfen zu verteidigen. Als Philosoph hingegen bin ich nur bereit, die Wissenschaftstheorie - die die Wissenschaftswirklichkeit selten zur Kenntnis nimmt und nicht zuletzt deswegen ein extrem blutarmes Geschäft ist - bis zu ihrem eigenen letzten Blutstropfen zu verteidigen. Ich meine, immer noch überzeugender als die Wissenschaftstheorie - die deren Surrogat ist - funktioniert auch heute die kooptative Selbstdefinition der Wissenschaften durch Wissenschaftsüblichkeiten: Wissenschaft ist das, was anerkannte Wissenschaftler als Wissenschaft anerkennen. Orientierungshilfen für derartige Anerkennungen gibt die Philosophie der Wissenschaften genau dann, wenn sie erzählt, wie und in welchen historischen Zusammenhängen die Wissenschaften wurden, was sie sind: etwa so, wie ich es hier - in der Form einer Ultrakurzgeschichte - für die Geisteswissenschaften tue, bisher mit der These: die - durch die experimentellen Wissenschaften vorangetriebene - Modernisierung verursacht lebensweltliche Verluste, zu deren Kompensation die Geisteswissenschaften beitragen, so daß sie - je moderner die moderne Welt wird - immer unvermeidlicher
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werden. Wenn so - und dahin tendiert gegenwärtig die Wissenschaftsphilosophie - die Wissenschaftswissenschaft selber erzählt, ist die Frage, ob Wissenschaften erzählen dürfen, positiv entschieden, so daß daraus folgt: was die Geisteswissenschaften vor allem brauchen, ist keine wissenschaftstheoretische Schönheitsoperation, sondern mehr Mut zu sich selbst. Das gilt auch beim Problem der Eindeutigkeit. Wer erzählt, heißt es, unterbietet das wissenschaftliche Soll an Eindeutigkeit, so daß es in den Geisteswissenschaften zur Mehrdeutigkeit oder Vieldeutigkeit kommt. Doch wer das den Geisteswissenschaften zum Einwand macht, übersieht etwas Wichtiges, nämlich dieses: Eindeutigkeit - sieht man von den (freilich ganz wesentlichen) Hilfsoperationen ab: Quellenkritik, Datierung und dgl. - ist in den interpretierenden Geisteswissenschaften kein Ideal, das nicht erreicht wird, sondern eine Gefahr, der es zu entkommen gilt. Man muß merken, wogegen die Vieldeutigkeit nötig wurde und daß es enorme Anstrengung und - buchstäblich - Blut, Schweiß und Tränen gekostet hat, die Eindeutigkeit gerade loszuwerden. 8 Denn die Geisteswissenschaften sind - und zwar durch ihre Wende zur Vieldeutigkeit - auch eine späte Antwort auf die Tödlichkeitserfahrung der konfessionellen Bürgerkriege, die hermeneutische Bürgerkriege waren, weil man sich dort totschlug um das eindeutig richtige Verständnis eines Buchs: nämlich der Heiligen Schrift, der Bibel; und diese Antwort kam spät, denn sie wurde unausweichlich erst durch die Tödlichkeitserfahrung der neukonfessionellen Bürgerkriege, die die modernen Revolutionen seit 1789 sind, die hermeneutische Bürgerkriege blieben, weil man sich dort totschlug und totschlägt um das eindeutig richtige Verständnis der einen einzigen eindeutigen W eltgeschichte. Wenn zwei Menschengruppen kontrovers behaupten: dieses Buch - das absolute, um das es einzig geht - und diese Geschichte - die absolute, um die es einzig geht - lassen nur eine einzige alleinrichtige Deutung zu, und diese Deutung haben wir und nur wir: dann kann es
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zum hermeneutischen Totschlag kommen. Genau auf diese Situation antwortet die Wende zur Vieldeutigkeit durch die Frage: Lassen sich dieses Buch und diese Geschichte nicht doch auch noch anders deuten und - falls das nicht reicht noch einmal anders und immer wieder anders?9 Sie entschärft - potentiell tödliche - Deutungskontroversen, indem sie das rechthaberisch eindeutige in das interpretierende und uminterpretierende Verständnis verwandelt und entdeckt: daß Bücher nicht nur eine Deutung haben und daß es nicht nur ein Buch gibt; und: daß Geschichten nicht nur eine Deutung haben und daß es nicht nur eine Geschichte gibt. Diese Entdeckung >sind< die Geisteswissenschaften. Sie antworten auf das Trauma des hermeneutischen Bürgerkriegs - der aus der rasend gewordenen Rechthaberei der Eindeutigkeit entstehtdurch den Ausbau jener wohltätigen Errungenschaft, die die Vieldeutigkeit ist. Darum müssen sie erzählen und umerzählen. Und so kommt es - als Entdeckung eler Vielfalt der Sprachen und Bücher und ihrer hermeneutischen Vieldeutigkeitzur Genesis und Konjunktur der Philologie und- als Entdekkung der Vielfalt der Geschichten und ihrer hermeneutischen Vieldeutigkeit - zur Genesis und Konjunktur des Historismus. Die Wende von der emphatischen Eindeutigkeit zur Kultur der Vieldeutigkeit durch die Geisteswissenschaften wird also nötig als Replik auf das Trauma des hermeneutischen Bürgerkriegs: und so ist die Vieldeutigkeit keine wissenschaftliche Übeltat, sondern eine lebens- und sterbensweltliche Wohltat. Auch das belegt meine Grundthese: Diese Kultur der Vielfalt und Vieldeutigkeit wird gerade modern - und zwar wachsend - unvermeidlich. Es sind nämlich - das hatte ich vorher skizziert - die Modernisierungen Entgeschichtlichungen; so wächst gerade durch sie - also spezifisch modern die Gefahr, daß bei dieser Ausschaltung aller Geschichten eine - eine einzige - Geschichte übrigbleibt: die Fortschrittsgeschichte der Ausschaltung aller anderen Geschichten, die dann zur Alleingeschichte wird. Die Menschen (jeder
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Mensch für sich und alle Menschen zusammen) dürfen dann nur noch diese eine einzige Geschichte haben. Das aber meine ich - ist gegenmenschlich. Denn diese Menschen brauchen viele Geschichten (und viele Bücher und viele Deutungen), um Individuen zu sein: geschützt vor dem Alleinzugriff einer einzigen Geschichte - und also frei zum Anderssein durch die jeweils anderen Geschichten. Das machen - gegen diese moderne Gefahr des Hangs zur Alleingeschichte justament die Geisteswissenschaften geltend: ihrerseits modern. Dabei - das ist meine Meinung als Skeptiker - ist Skepsis im Spiel bei den Geisteswissenschaften; denn Skepsis ist der Sinn für Gewal~~nteilung: vom Zweifel als Teilung jener Gewalten, die die Uberzeugungen sind, über die politische Gewaltenteilung bis hin zur Teilung jener Gewalten, die die Geschichten und Bücher und Deutungen sind. Diese Gewaltenteilung - der Sinn für die geschichtliche Vielfältigkeit und Vieldeutigkeit: für die Freiheitswirkung der allgemeinen Buntheit der Lebenswirklichkeit - wird also gerade modern, gegen die Gefahr der nur noch eindeutigen Alleingeschichte, zunehmend nötig, so daß auch dadurch gilt: je moderner die moderne Welt wird, desto unvermeidlicher werden die Geisteswissenschaften. Sie helfen bei der Emigration aus der nur noch versachlichten oder nur noch fortschrittsgeschichtlichen Welt; und weil sie das machen, haben die Geisteswissenschaften mit Bildung zu tun: denn Bildung ist die Sicherung der Emigrationsfähigkeit. 4. Neuchance der Anthropologie? Alle Geisteswissenschaften sind Wissenschaften vom Menschen. Aber nicht alle Wissenschaften vom Menschen sind Geisteswissenschaften. Denn es gibt auch - darunter experimentelle - Naturwissenschaften vom Menschen: das große Beispiel sind die Kernfächer der Humanmedizin; und eine der bedeutsamen Wissenschaften vom Menschen ist die Biologie. Es dürfte nützlich sein, sich Gedanken darüber zu machen, wie man die Humanwissenschaften - einschließlich der pragmatischen Handlungswis-
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senschaften: der Jurisprudenz, der Ökonomie sowie der Psychologie, Pädagogik, Soziologie, gegebenenfalls auch der Theologie - aus ihren pragmatischen, naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Isolierungen heraus- und zur Zusammenarbeit zusammenführen kann. Diese Intention hat immer wieder einmal zur Idee einer Gesamtwissenschaft vom »ganzen Menschen« geführt; und als diese Gesamtwissenschaft vom »ganzen Menschen« galt - neuzeittraditionelldie »Anthropologie«. Wolf Lepenies 10 hat einschlägig auf einen wichtigen Tatbestand hingewiesen: daß nämlich die Institutionalisierung dieser Gesamthumanwissenschaft »Anthropologie« - von der die Disziplinengeschichtler wissen, daß die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts die Blütezeit ihrer Blütenträume warl l - in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mißlang: paradoxerweise wurde sie- durch den langsamen Sieg des evolutionären über das klassifizierende Denken - dort schließlich möglich wie nie zuvor und zugleich dem Anschein nach überflüssig. Etwa Darwin dekretierte: »der Mensch ist« - gegenüber den anderen Lebewesen - »keine Ausnahme«; so wurde im 19. Jahrhundert statt der Anthropologie die Biologie erfolgreich institutionalisiert. Aus ihr wurde das Thema der Besonderheiten und Sonderbarkeiten des Menschen ausgeschlossen; seiner nahmen die Geisteswissenschaften sich an: so und man sollte dabei folgende Publikationsdatensequenz vor Augen haben: 1859 Darwins Origin ofSpecies; 1871 Darwins Descent of Man; 1883 Diltheys Einleitung in die Geisteswissenschaften - so kam es gewissermaßen als Konsequenz der mißlungenen Institutionalisierung der Anthropologie gegen Ende des 19. Jahrhunderts zur endgültigen theoretischen und institutionellen Durchsetzung der Geisteswissenschaften. Dieser Verlauf - die Nichtinstitutionalisierung der Anthropologie als Gesamtfach - ist kein Unglück. Nicht nur konnten sich die Geisteswissenschaften fortan weiterhin frei und bunt entwickeln. Ebenso konnten die Sozialwissenschaften ihre Pubertät wenigstens halbwegs in disziplinärer Quaran-
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täne absolvieren. Zugleich konnte auch die evolutionäre Biologie eigenständig lernen, daß sie - durch den Erfolg des Entwicklungsgedankens: weil man zwar mögliche Entwicklungen auswürfeIn kann, wirkliche Entwicklungen aber erzählen muß - ihrerseits (ähnlich wie die evolutionäre Urknall-Kosmologie) zur erzählenden Wissenschaft wird. Diese Tendenz zu einer ~ wie man das nennen kann - >Vergeisteswissenschaftlichung der Naturwissenschaften< bleibt einstweilen imperfekt einzig dadurch, daß bisher die Evolution nur als Alleingeschichte hin auf den Menschen erzählt wird. Für die Evolutionstheorie ist dieses »anthropische Prinzip« jene Schwierigkeit, die für die geschichtsphilosophische Fortschrittstheorie der Eurozentrismus war. Vielleicht gibt es schon irgendwo den evolutions biologischen Ranke mit dem Satz: »jede Art ist unmittelbar zu Gott«; jedenfalls: die Evolutionstheorie hat ihren Historismus noch vor sich, also eine nochmals verstärkte Tendenz zur.>Vergeisteswissenschaftlichung der Naturwissenschaften<. Gerade sie bietet - denke ich - eine bedeutsame Neuchance zur Zusammenführung der Humanwissenschaften, bei der die Geisteswissenschaften dann eine starke Stellung hätten; denn auch dabei gilt: je moderner die moderne Welt wird, desto unvermeidlicher werden die Geisteswissenschaften. Freilich scheint mir: die aktuell angemessene Pflege dieses Motivs zur Anthropologie - zur Gesamtwissenschaft vom Menschen - ist am Ende unseres Jahrhunderts gerade nicht ihre Institutionalisierung als Fach, sondern ihre Realisierung durch das fachübergreifende - das interdisziplinäre - Gespräch. Dieses humanwissenschaftlich interdisziplinäre Gespräch muß nicht erst erfunden und dann mühsam verwirklicht werden; denn es ist - zumindest in Gestalt einer gegenwärtig wachsenden Flut einschlägig interdisziplinärer Projekte, Kolloquien und Arbeitsstätten - längst wirklich da und gelingt - wie die Erfahrung zeigt - in der Regel ohne spezialisierungsbedingte Verständigungsschwierigkeiten, wenn man
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diese nicht künstlich erzeugt durch jenen Verständigungsperfektionismus, der der eigentliche Feind des interdisziplinären Gesprächs ist: Konsens nämlich ist keineswegs immer nötig; viel wichtiger ist das produktive Mißverständnis; und am wichtigsten ist schlichtweg Vernunft: der Verzicht auf die Anstrengung, dumm zu bleiben. Auch für mich - den Philosophenprofi - war der empirische Befund zunächst überraschend, daß am humanwissenschaftlich fachübergreifenden Gespräch überproportional Philosophen beteiligt sind. Offenbar bringen sie aus ihrer Fachtradition - einer zweieinhalbtausendjährigen Tradition der Nichteinigung über Grundsatzpositionen - etwas mit, was interdisziplinär nützlich ist: nämlich leben zu können mit offenen Aporien und Dissensüberschüssen. Das uralte fachliche Laster der Philosophen - ihr chronisches Konsensdefizit - erweist sich als hochmoderne interdisziplinäre Tugend: vor allem als Fertigkeit, Gesprächskonfusionen unentmutigt zu überstehen. Auch sonst sind Philosophen einschlägig nützlich; denn was ihre Sachzuständigkeit betrifft - sie haben kein festes Jagdrevier, sondern eine allgemeine Wildererlizenz. Der Philosoph ist nicht der Experte, sondern der Stuntman des Experten: sein Double fürs Gefährliche. Seine interdisziplinäre Nützlichkeit als Gesprächskatalysator hängt mit diesen philosophischen Tauglichkeiten zusammen, Experten- die ja kostbarer sind als Philosophen - zu doubeln in Situationen, die jenen Riskanzgrad erreichen, den humanwissenschaftlich interdisziplinäre Gespräche nun einmal haben. Ungelöst ist bei dieser gegenwärtigen Konjunktur der humanwissenschaftlich interdisziplinären Gespräche - meine ich - bisher vor allem das Problem, wie man sie an die U niversität zurückholen kann. Denn dort - an der Universität - sind sie nicht mehr: jedenfalls überwiegend. Das mag daran liegen, daß - wenigstens hierzulande - Interdisziplinaritätsförderungsmittel sich weitgehend außerhalb der Universität befinden und auswirken, und auch an Änderungen der Universitätsstruktur, die diese fachübergreifenden Gespräche aus der
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Universität vertrieben haben. Nicht zufällig begann genau zu jenem Zeitpunkt, als mit den Fakultäten die letzten Interdisziplinaragenturen aus der Universität verschwanden, quasi als ihr Ersatz die heutige Konjunktur des Wissenschaftstourismus : die humanwissenschaftlich interfachlichen Gespräche werden seither zur Sache des - gegenüber der Universität - anderen Ortes. So ist man zwar weiterhin an der U niversität; aber man denkt nun woanders. Die Frage - ich stelle sie hier nur, ich beantworte sie nicht - die Frage ist, ob das so. bleiben soll ( und ob nicht z. B. der Pillenknick, sobald er die Universität erreicht, eine Chance wäre, dies zu ändern). Einstweilen ist es so: weil die Universität selber einschlägig zu wenig Chancen bietet (nicht einmal ausgleichende Entlastungen für interdisziplinäre Zusatzarbeit), entschwinden die Forscher - beileibe nicht nur die Geisteswissenschaftler immer häufiger in die Intermundien der überregionalen, gegebenenfalls der interkontinentalen Interdisziplinarität. Ich vermute: wie die Hochschullehrer ergreift diese interfachliche Tendenz zum anderen Ort inzwischen auch die Rektoren und Präsidenten. Wenn sie am Ort ihrer Residenzpflicht nur mehr verwalten, denken sie einzig noch dann, wenn sie reisen; darum müssen sie viel reisen: jetzt gerade z. B. nach Bamberg, und sei es auch nur, um sich unter anderem - mit dankenswerter Geduld - jene These anzuhören, die ich hier vertreten (und zum Schluß nur durch einen Ausblick auf die interdisziplinäre Arbeit der Humanwissenschaften ergänzt) habe; nämlich diese: Je moderner die moderne Welt wird, desto unvermeidlicher werden die Geisteswissenschaften.
Anmerkungen 1 In:], Ritter, Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt a. M. 1974, S.105-140.
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2 Vgl. A. Heuß, »Vom richtigen und falschen Bewußtsein. Geisteswissenschaft und Öffentlichkeit«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 34 vom 9. 2.1985. 3 Der Ausdruck »Überforderungskrise« im Anschluß an H. Lübbe (Hrsg.), Wozu Philosophie? Stellungnahmen eines Arbeitskreises, Berlin I New York 1978, S. VII, der von ihm dort zur Kennzeichnung der Gegenwartslage der Philoso'phie eingeführt wurde. 4 Vgl. O. Marquard, »Kompensation. Uberlegungen zu einer Verlaufsfigur geschichtlicher Prozesse., in: K. G. Faber I eh. Meier (Hrsg.): Historische Prozesse, München 1978 (Theorie der Geschichte, Bd.2), S. 330-362; und: o. M., »Glück im Unglück. Zur Theorie des indirekten Glücks zwischen Theodizee und Geschichtsphilosophie«, in: G. Bien (Hrsg.), Die Frage nach dem Glück, Stuttgart 1978, S. 93-111. Vgl. außerdem inzwischen: J. Svagelski, L'idee de compensation en France 1750-1850, Lyon 1981, sowie:O. M:, »Homocompensator«, in: G. Frey I J. Zeiger (Hrsg.), Der Mensch und die Wissenschaften vom Menschen, Bd. 1, Innsbruck 1983, S. 55-66. 5 Vgl. H. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M. 1981. 6 Vgl. bes. H. Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie, Basel/Stuttgart 1977, S. 22: »Im Blick auf diese Zusammenhänge hatJoachim Ritter den historischen Geisteswissenschaften die kulturel1e Funktion einer Kompensation der >realen Geschichtslosigkeit< der modernen Welt zugeschrieben. Das wird im letzten Kapitel dieses Buches aufgenommen - mit der nicht unwesentlichen Nuance, daß dabei die >reale Geschichtslosigkeit<, unmißverständlicher, als die historisch beispiel10se Geschichtlichkeit, nämlich strukturverändernde Dynamik unserer Zivilisation interpretiert wird.« Vgl. auch S. 304 ff. und ebenso: R. Kosel1eck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979. 7 »Was der Mensch sei, sagt ihm nur seine Geschichte«: W. Dilthey, »Traum«, in: Gesammelte Schriften, 12 Bde., Leipzig/Beriin 1913 ff., Bd.8, hrsg. von B. Groethuysen, 1931, S.224; »Die Geschichte steht für den Mann.: W. Schapp, In Geschichten verstrickt (1953), Wiesbaden 21976, S. 108. 8 Vgl. O. Marquard, »Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist«, in: O. M., Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981 [u. ö.] (Reclams Universal-Bibliothek, Nr. 7724 [2]), S. 117-146; außerdem o. M.: Krise der Erwartung
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- Stunde der Erfahrung. Zur ästhetischen Kompensation des modernen Erfahrungsverlustes, Konstanz 1982. 9 Vgl. den rezeptionsgeschichtlichen Ansatz; repräsentativ: H. R. Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1982. 10 Vgl. W. Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeit in den Wissenschaften des 18. und 19.}ahrhunderts, Frankfurt a. M. 1978; W. 1., »Naturgeschichte und Anthropologie im 18. Jahrhundert«, in: B. Fabian / W. Schmidt-Biggemann / R. Vierhaus (Hrsg.), Deutschlands kulturelle Entfaltung. Die Neubestimmung des Menschen, München 1980 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, Bd.2/3), S.211-226. 11 Vgl. O. Marquard, »Zur Geschichte des philosophischen Begriffs ,Anthropologie< seit dem Ende des 18. Jahrhunderts«, in: O. M., Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie (1973), Frankfurt a.M. 1982, S. 122-144.
Apologie des Zufälligen Philosophische Überlegungen zum Menschen Einer der schlimmsten Feinde von Freiheit und Würde des Menschen scheint der Zufall zu sein. Indes, ich möchte hier ein gutes Wort einlegen für den Zufall: für das Zufällige. Spreche ich also gegen Freiheit und Würde des Menschen? K~ineswegs. Ich meine nur: es wäre ein Zeichen mangelnder Freiheit, wenn der Mensch unwürdig über seine Verhältnisse leDte: über die Verhältnisse seiner Endlichkeit. Will er das nicht, so muß er das Zufällige anerkennen: durch Apologie des Zufälligen. Das ist hier meine These. 1 Gegen diese These steht - scheint es - fast die gesamte philosophische Tradition. Ich zitiere: »Die philosophische Betrachtung hat keine andere Absicht, als das Zufällige zu entfernen.« Das schrieb - diese Traditionsmeinung zusammenfassend - Hege!. 2 Ich widerspreche Hegel - dem großen Empiriker - selten und ungern. Hier aber tue ich es: notgedrungenerweise. Das Zufällige entfernen: das hieße, zum Beispiel, aus der Philosophie die Philosophen "ntfernen; es gibt aber keine Philosophie ohne Philosophen (ob es nun Amateure sind oder Profis): so würde man schließlich - im Namen der Philosophie - aus der Philosophie die Philosophie entfernen. Also muß - für die Philosophie - das Zufällige gerettet werden: denn nur dadurch hat sie Wirklichkeit. Oder: das Zufällige entfernen: das hieße, zum Beispiel, aus dem Menschen das Allzumenschliche entfernen; es gibt aber keinen Menschen ohne das Allzumenschliche: so würde man schließlich - im Namen des Menschen - aus dem Menschen den Menschen entfernen. Also muß - für den Menschen das Zufällige gerettet werden: denn nur dadurch hat er Wirklichkeit. Diese Fürsprache für das Zufällige kann ich im Folgenden keineswegs umfassend leisten; ich kann nur einige ein-
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schlägige - und, wie es sich im Falle des Zufälligen gehört, zufällige - Überlegungen beitragen und tue das in vier Abschnitten, die ich folgendermaßen überschreibe: 1. Das Programm der Absolutmachung des Menschen und seine moderne Zuspitzung; 2. Über die Unvermeidlichkeit von Üblichkeiten; 3. Wir Menschen sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Wahl; 4. Menschliche Freiheit lebt von der Gewaltenteilung. Sogleich - ganz konventionell - zum Abschnitt 1. Das Programm der Absolutmachung des Menschen und seine moderne Zuspitzung. Wo - ich knüpfe an Hegels Formulierung an - »die philosophische BetrachtUng [... ] keine andere Absicht [hat], als das Zufällige zu entfernen«, wird - je moderner, desto zugespitzter - dieses zu ihrem Programm: den Menschen absolut zu machen. Im Gegenzug zu diesem Programm der Absolutmachung des Menschen - einem alten Programm, das eben modern nur zugespitzt wurde - kam es zu philosophischen Versuchen, den Zufall und das Zufällige in den Blick zu fassen, seit Aristoteles - alternativ zur megarischen Leugnung des Zufallsdas Zufällige gelten ließ als das, was weder unmöglich noch notwendig ist und darum auch nicht oder auch anders sein könnte. 3 Dieses Zufällige - Kontingente4 - wurde in mindestens drei Richtungen zum Problem: als Opponent des Notwendigen (a) oder als Grundlage des Notwendigen (b) oder noch anders (c). Dazu drei kurze Hinweise: a) Si necessarium, unde contingens? Diese Frage- zugespitzt:' Wenn es doch Gott gibt, warum dann das Endliche? - führt in der christlichen Tradition der Philosophie zum Kontingenzproblem der SchöpfungS und später dort, wo - seit Spinozain die Notwendigkeitsstelle Gottes die Natur eintritt, zusammen mit dem Freiheitsproblem zur Frage nach dem Undeterminierten. Der Zufall ist vielleicht die mißlungene Notwendigkeit.
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b) Si contingens, unde necessarium? Diese Frage - die Motive der Deklinationslehre Epikurs und der Mutationslehre Darwins aufnimmt - wurde jüngsthin, etwa im Anschluß an Monod 6 , radikalisiert und dadurch evolutionstheoretisch und synergetisch aktuell: wenn es das Chaos gibt, warum dann die Ordnung, und wenn es das Zufällige gibt, woher dann die Notwendigkeit? Die Notwendigkeit ist vielleicht der gelungene Zufall. c) Zufälle - auch das hat zuerst Aristoteles gesehen - können dadurch entstehen, daß voneinander unabhängige Determinationsketten unvermutet aufeinandertreffen. Einer vergräbt einen Schatz, um ihn zu verstecken; ein anderer gräbt eine Grube, um einen Baum zu pflanzen: "Dies ist ein Zufall für jemanden, der eine Grube gräbt, nämlich dabei einen Schatz zu finden.« Dabei ist der besondere - für den Menschen bedeutsame - Fall der, daß etwas anderes (das seinerseits determiniert ist) seiner Absicht dazwischenkommt: ,.Zufällig kam jemand nach Ägina, wenn er nicht deshalb hinkam, weil er wollte, sondern vom Sturm verschlagen oder von Räubern verschleppt. «7 Es widerfährt uns etwas, was wir nicht gewollt und gewählt haben. Denn wir Menschen sind nicht nur unsere - absichtsgeleiteten - Handlungen, sondern auch unsere Zufälle. Das Programm der Absolutmachung des Menschen leugnet das: es will vor allem auch die Zufälle dieser letzten Art "entfernen«, so daß - und ich verwende dabei Sartres Formel von der "Wahl, die wir sind«8 - gelten soll: die Menschen sind durchgängig nicht ihre Zufälle, sondern sie sind ganz und gar nur ihre Wahl. Das bedeutet dann zweierlei: 1. Der Mensch ist - oder soll sein - ausschließlich das Resultat seiner Absichten. Er ist dann das handelnde Wesen, dem nichts mehr widerfährt. Nichts Menschliches darf unbeabsichtigt, nichts Menschliches darf ungewählt geschehen; nichts mehr darf dem Menschen zustoßen. Denn nur dann gilt: die Menschen sind nicht ihre Zufälle, sondern ganz und gar nur ihre Wahl.
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2. Diese Wahl muß absolut sein: also keine zufällige Option, die auch anders sein könnte, durch andere Absichten ersetzbar. Darum müssen alle Menschen - wenn sie richtige, d.'h. absolute Menschen sein wollen - die gleichen Absichten hegen. Denn nur dann gilt: die Menschen sind nicht ihre Zufälle, sondern ganz und gar nur ihre absolute Wahl. Diese bei den Forderungen, philosophisch vertreten, nenne ich also das Programm der Absolutmachung des Menschen. Es dekretiert: die Menschen sind nicht ihre Zufälle, sondern ausschließlich ihre Wahl, und zwar ihre absolute Wahl. Man fragt mich zuweilen: Wer - genau - ist es denn nun, der dieses Programm der Absolutmachung des Menschen philosophisch vertreten hat oder vertritt?: Marquard, nennen Sie Roß und Reiter! Nun: vielleicht gehört der so Fragende selber zu den Rössern; und welche Tradition ihn dann reitet: daswenn auch nur ultrakurz- schildere ich hier ja gerade. Außerdem gibt es gute Gründe für einschlägig sorgfältige Nachlässigkeit im Genauen: ein kurzer Vortrag kann sich nicht auf Fragen der Philologie - der Platon-Philologie, der Augustinus-Philologie, der Descartes-Philologie, der Fichte-Philologie, der Marx-, der Apel- und Habermas-Philologie - einlassen. Auch gebietet es der Takt, Philosophen - je moderner, je mehr - die Überzeugung zu gestatten, sie seien nicht gemeint. Im übrigen ist man hier nicht bei armen Leuten: notfalls erfinde ich mir den deutschen Idealismus - einschließlich des Marxismus und Neomarxismus - selber. Darum auch verbiete ich niemandem den Eindruck, die von mir hier skizzierte und im folgenden angegriffene Position - das Programm der Absolutmachung des Menschen sei von niemandem jemals vertreten worden. Denn wäre das schlimm? Ganz im Gegenteil: es wäre gerade gut für meine Apologie des Zufälligen, wenn sie weniger Gegner hat als angenommen. Kurzum: die Frage der Zurechnung des Programms der Absolutmachung des Menschen, sie ist ein weites Feld.
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Man darf jedoch wohl sagen, was ich schon sagte: das Programm der Absolutmachung des Menschen - ein philosophisch und nicht nur philosophisch altes Programm - wird modern gesteigert und zugespitzt. Wo man sich - modern nicht mehr darauf verlassen mag, daß die Teilhabe an Gott dem Menschen Absolutheit- zufallsfreies und absolut richtiges Leben - garantiert, muß die Absolutmachung des Menschen zunehmend auf den Menschen selber gegründet werden: auf seine Freiheit, seine eigene absolute Wahl. Daß dabei - im deutschen Idealismus, im Marxismus - vor allem die deutsche Philosophie der Vorreiter wurde, ist plausibel durch Plessners Thesen zur »verspäteten Nation«9: die verzögerte Liberalität im Realen wird kompensiert durch Absolutheit im Philosophischen. So kommt es - auch weil Gott als mäßigende Größe philosophisch zunehmend ausfällt gerade modern - in Fortführung der von mir zitierten SartreFormel - im Sinne des Programms seiner Absolutmachung zur Definition des Menschen als der absoluten Wahl, die er ist. Die Menschen sollen also sein oder werden: absolut. Indes: die Menschen sind nicht absolut, sondern sie sind endlich. Sie leben und wählen ihr Leben nicht - jedenfalls überwiegend nicht - absolut: denn sie müssen sterben; mit Heidegger zu reden: sie sind »zum Tode«lO. Ihr Leben ist befristet: vita brevis. Für die absolute Wahl ist das Menschenleben zu kurz; ganz elementar: die Menschen haben einfach nicht genug Zeit, das, was sie - zufälligerweise - schon sind, absolut zu wählen oder abzuwählen und statt seiner etwas ganz anderes und Neues zu wählen oder gar absolut zu wählen: ihr Tod ist stets schneller als ihre absolute Wahl. Gegen das Programm der Absolutmachung des Menschen steht also seine- sterblichkeitsgeprägte- Wirklichkeit; und ich möchte im Folgenden dafür werben, daß man das philosophisch anerkennt: durch Apologie des Zufälligen.
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Ich wiederhole: gegen das Programm der Absolutmachung des Menschen steht seine·- sterblichkeitsgeprägte - Wirklichkeit. Darum gehört zum Programm der Absolutmachung des Menschen der Versuch, die Wirklichkeit des Menschen - die gegen dieses Programm steht - außer Kraft zu setzen: siegriechisch-traditionell - zu veruneigentlichen oder sie christlich-traditionell - zur schon gerichteten Wirklichkeit auf eschatologischen Abruf zu vervorläufigen oder sie modem zugespitzt - vorsorglich methodisch einzuklammern. Der repräsentative modeme Versuch einer solchen Wirklichkeitseinklammerung - der Aussetzung der menschlichen Wirklichkeit, solange sie nicht die absolute ist - ist der sogenannte »methodische Zweifel«. Descartes - in seinen Meditationes ll - hat ihn für den theoretischen Bereich entwickelt. Die Zweifelsregel von Descartes bestimmt: in dubio contra tra~itionem, anders gesagt: alles, was nicht absolut wahr ist und also falsch sein könnte (das sind alle vorhandenen Urteile unseres Wissens), ist so zu behandeln, als ob es wirklich falsch ist, und zwar so lange, bis es - durch scientia more certa methodo - »dare et distincte«, d. h. absolut, als wahr erwiesen ist; solange dies nicht der Fall ist, muß alles Urteilen ausgesetzt werden: denn alle Urteile sind nicht etWa so lange erlaubt, bis sie durch Falsifikation verboten, sondern so lange verboten, bis sie durch absolute Verifikation erlaubt werden. Das Wissen bleibt suspendiert, solange es kein absolutes Wissen ist. Auf den praktischen Bereich haben diesen methodischen Zweifel die Diskursethiker - also etwa Apel und Habermas - übertragen: die Diskursethik ist der methodische Zweifel auch an Handlungsnormen. 12 Ihre Verdächtigungsregel bestimmt: in dubio contra traditionem (sive conventiones), anders gesagt: alles, was nicht (durch Konsens des herrschaftsfreien Diskurses) erwiesenermaßen, d. h. absolut, gut ist und also böse sein könnte (das sind alle vorhandenen Handlungsorientierungen), ist so zu behandeln, als ob es
2. Über die Unvermeidlichkeit von Üblichkeiten.
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wirklich böse ist, und zwar so lange, bis es - durch den absoluten Diskurs - konsensual, d. h. absolut, als gut gerechtfertigt ist; solange dies nicht der Fall ist, muß alles konventionsgeleitete Handeln ausgesetzt, hilfsweise suspektiert werden: denn alle praktischen Lebensorientierungen sind nicht etwa so lange erlaubt, bis sie durch Malitätserweis verboten, sondern so lange verboten, bis sie durch diskursive Legitimierung absolut erlaubt werden. In beiden Fällen - bei Descartes und in der Diskursethik - wird also das Vorhandene vorsorglich negiert: das Übliche - das Wissen, das gilt, weil es schon galt; die Handlungsanweisungen, die gelten, weil sie schon galten - wird im Namen des Absoluten methodisch storniert. Insgesamt gilt- bei dieser negativen Seite des Programms der Absolutmachung des Menschen -, daß das Leben zu unterlassen (hilfsweise schlimm) ist, solange nicht - durch absolute Wahl: durch absolutes Wissen, durch absolute Handlungsrechtfertigung - absolut erwiesen ist, daß es das absolut richtige Leben ist. Das Programm der Absolutmachung des Menschen negiert vorsorglich das wirkliche Leben, soweit es das Ensemble der Üblichkeiten ist. Freilich: das - gerade auch diese negative Seite des Programms der Absolutmachung des Menschen - kann nicht gelingen: auch sie scheitert an der menschlichen Endlichkeit, d. h. Sterblichkeit. Die Menschen müssen sterben, sie sind »zum Tode«. Diese Aussage ist diesseits aller existenzialistischen Emphase philosophisch zentral und läßt sich auch ganz unemphatisch ausdrücken: in der menschlichen Gesamtpopulation beträgt die Mortalität hundert Prozent. Der Tod aber - wie lange er auch zögert - kommt immer allzubald : das Menschenleben ist zu kurz für die Durchführung des Programms der Absolutmachung des Menschen, denn der Tod läßt uns nicht die Zeit, auf das Ergebnis der absoluten Wahl aller lebensnötigen Orientierungen zu warten. Wenn aber zugleich die geschichtlich-faktisch vorhandenen Lebensorientierungen, die nicht absolut gewählt, sondern nur Üblichkeiten sind, so lange außer Kraft gesetzt sind, bis die
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absolute Wahl mit dem absoluten Wählen aller lebensnötigen absoluten Orientierungen fertig ist: dann läuft das für die Menschen im Effekt hinaus auf das Verbot, mit dem Leben anzufangen, bevor es zu Ende ist; denn - wie gesagt - unser Tod ist stets schneller als unsere absolute Wahl. Darum kann man sagen: das Programm der Absolutmachung des Menschen ist für die Menschen die Philosophie für ihr Leben nach dem Tode, die die Frage einer Philosophie fÜF ihr Leben vor dem Tode offenläßt. Doch gerade für ihr Leben vor dem Tode brauchen die Menschen die Philosophie. Wenn es also die absolute Philosophie - wegen der absoluten Dauer ihrer absoluten Wahl - noch nicht gibt und wenn es die Üblichkeiten - wegen ihrer absoluten methodischen Negation: ihrer Bezweifelung und Verdächtigung - nicht mehr gibt, muß offenbar ein interimistischer Lebensorientierungsersatz herbei, der in diese Zeitlücke - die unser Leben ist einrückt. Bei Descartes wurde das - im dritten Teil seines Discours - zum Argument für die sogenannte »provisorische Moral« 13. Sein Bild war: wenn man sein Haus abreißt, um ein neues zu bauen, muß man für eine Zwischenunterkunft sorgen. Das, meine ich, gilt nicht nur - wie Descartes meinte für die Moral, sondern auch für das Wissen und die menschlichen Lebensorientierungen überhaupt. Darum muß - auch und gerade für das generelle Programm der Absolutmachung des Menschen - das generalisierte Pendant der provisorischen Moral aktuell werden: eine Philosophie der provisorischen Lebensorientierungen. Freilich: sobald diese Philosophie - die des menschlichen Lebens nicht nach, sondern vor dem Tode - im Namen des Programms der Absolutmachung des Menschen auftritt (sozusagen als flankierende Maßnahme für die absolute Wahl), gerät sie in eine Aporie. Denn entweder sind die provisorischen Lebensorientierungen selber kein -Produkt der absoluten Wahl: dann verfallen auch sie deren methodischer Negation der Üblichkeiten. Oder die provisorischen Lebensorientierungen sind doch selber Produkt der absolu-
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ten Wahl: dann lassen sie ihrerseits einigermaßen absolut auf sich warten und brauchen ihrerseits - als interimistischen Orientierungsersatz - wiederum weitere provisorische Lebensorientierungen, und so fort. Diese Aporie entsteht abgeschwächt - auch dann, wenn das Orientierungsinterim eine andersartige umfassende Neuerfindung auch nur eines provisorischen Minimums aller lebensnötigen Orientierungen sein soll: auch dann reproduziert es das Problem, zu dessen Lösung es dienen sollte. Das ist nur dann nicht der Fall (und die genannte Aporie verschwindet), wenn die provisorischen Lebensorientierungen identisch sind mit den faktisch vorhandenen Lebensorientierungen: den vorhandenen Üblichkeiten l 4, und wenn man diese vorhandenen Üblichkeiten gerade nicht methodisch negiert. Daraus folgere ich: die gesuchte - Philosophie der provisorischen Lebensorientie~ngen ist keine andere als die Philosophie der vorhandenen ~blichkeiten, die geltend macht: ohne diese vorhandenen Ublichkeiten- Traditionen, Sitten, Usancen des Wissens und Handeins - können wir nicht leben; sie sind - mit oder ohne Programm der Absolutmachung des Menschen - nicht zu umgehen: unvermeidlich. Die Wahl, die wir sind, wird getragen durch sie als die Nichtwahl, die wir sind: Zukunft braucht Herkunft; Wahl braucht Üblichkeiten. Das bedeutet ~itnichten, daß stets alle Traditionen unangetastet und alle Ublichkeiten unverändert bleiben müssen, denn im Gegenteil: Üblichkeiten sind durchaus änderbar, reformierbar. Es bedeutet nur: stets müssen mehr Üblichkeiten aufrechterhalten werden als verändert, sonst ruiniert man unser Leben; und die - durchaus immer wieder einmal erfolgreich zu tragende - Beweislast hat stets der Veränderer. 15 In diesem Sinn - nur in diesem - gilt für die Menschen die U nvermeidlichkeit der Üblichkeiten: wir Menschen sind stets mehr unsere Üblichkeiten als unsere Wahl, und erst recht sind wir stets mehr unsere Üblichkeiten als unsere absolute Wahl. Folglich muß die nichtabsolute, die ~enschliche Philosophie ebendieses sein: die Apologie der Ublichkeiten.
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Darum auch muß man die Üblichkeiten - das, was deswegen gilt, weil es (als das Usuelle) schon galt - gegen üble Nachrede schützen, auch wenn diese Nachrede philosophisch absolut einherkommt. Es trifft nicht zu, daß die Realität der modernen Welt - weil durch ihre Veränderungsbeschleunigung das Veraltungstempo wächst- alle Üblichkeiten dauernd in Frage stellt und verschleißt; denn es gibt, gerade in der modernen Welt, kompensierende Stabilitäten nicht zuletzt auch dadurch, daß in ihr - gerade wegen ihrer zunehmenden Veraltungsgeschwindigkeit - auch die Veraltungen immer schneller veralten. Im übrigen ist die Modernisierung selber längst zur Üblichkeit geworden: zur Usance Modernität. Zugleich scheint mir jenes Votum gegen die Üblichkeiten zunehmend dubios, das man das Eichmann-Argument nennen kann: wer aus den Üblichkeiten lebe, stehe in direkter Gefahr, zu einem Eichmann zu werden, der schließlich gerade nur seine übliche Pflicht habe tun wollen. 16 Mir scheint hier nur die zweite Hälfte der Untat in Rechnung gestellt, deren erste in der Verletzung einer Üblichkeit bestand: der Üblichkeit, seine Mitmenschen nicht umzubringen. Ich kann mich hier nicht differenziert zum »Fall Eichmann« und zur Debatte über die »Banalität des Bösen«17 äußern, meine jedoch: diese primäre Abweichung vom Üblichen wurde vom Täter - schließlich auch vor sich selber sekundär getarnt durch das Bewußtsein der Übererfüllung üblicher Pflicht. Dies spricht - meine ich - so wenig gegen die Üblichkeiten, wie es gegen die Wahrhaftigkeit spricht, daß die Lüge, um zum Erfolg zu kommen, sich - gegebenenfalls sogar gegenüber dem Lügner selber - als Wahrhaftigkeit geben und tarnen muß. Abusus non tollit usum: der Mißbrauch widerlegt nicht den Brauch. Eichmanns Schreibtischuntaten litten nicht an einem Zuviel, sondern an einem Zuwenig von Üblichkeiten: die Eichmann-Gefahr ist (meine ich) größer, wenn man alle Üblichkeiten - und sei es im Namen des Absoluten oder sonst einer guten Sache - zunächst einmal zur Disposition stellt, als wenn man sich weigert, es zu tun;
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man sollte sich daran erinnern, daß der Widerstand vor allem aus intakten Traditionen kam. Darum stimmt es auch nicht, daß die Schätzung der Üblichkeiten Kritik unmöglich mache, denn das Gegenteil ist der Fall: Kritik ist vor allem der Konflikt zwischen Üblichkeiten; um zu ihm fähig zu sein, muß man Üblichkeiten haben; und in unseren Zeiten und Gegenden ist danri schließlich Kritik selber eine Üblichkeit, die durch Üblichkeiten geregelt ist. Man muß - ich wiederhole es - die Üblichkeiten vor übler Nachrede schützen und darum auch vor jenem bösen Blick auf die Üblichkeiten, der aus den perfektionistischen Sollforderungen des Programms der Absolutmachung des Menschen folgt. Hegel- ich formuliere es nicht ganz auf der Höhe Hegelscher Subtilität - Hegel (in seiner Sollenskritik) hat gezeigt: Sollenshypertrophie bewirkt Seinsvermiesung18 ; und wer nur die absolute Wahl des Absoluten gelten läßt, diskriminiert die vorhandenen Üblichkeiten. Doch darf man die Üblichkeiten gerade nicht verteufeln: nicht schon allein deswegen, weil sie nicht der Himmel auf Erden - das absolut Gute - sind, sind sie die Hölle auf Erden: das absolut Schlimme (als ob es dazwischen nichts gäbe, um das zu zittern und das zu verteidigen sich lohnte). Gerade weil die gegenwärtige Welt - unleugbar - schwierig ist, brauchen wir den geschärften Sinn für die Unterscheidung zwischen dem schlechthin Schlimmen und der vorhandenen Wirklichkeit: eine philosophische Apologie der Üblichkeiten. 3. Wir Menschen sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Wahl. Das Programm der Absolutmachung des Menschen moniert: die Üblichkeiten sind - gemessen am Absoluten zufällig. Ich meine: das trifft zwar zu, aber es ist kein Einwand. Zum Einwand wird es durch ein Mißverständnis: daß das Zufällige immer das Beliebige sei, beliebig wählbar und abwählbar. Gewiß ist Beliebigkeit keine zumutbare Verfassung für Lebensorientierungen, für solche des Handeins, des Wissens, des Lebens: wenn man Orientierungen ständig
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umtauschen kann, sind es keine; und wenn das Zufäll\ge ausschließlich das Beliebige wäre, wäre dies - für die Ublichkeiten, die tatsächlich zufällig sind, und für das Menschenleben, für das Üblichkeiten unvermeidlich sind - in der Tat ruinös. Nur: daß das Zufällige ausschließlich das Beliebige sei, justament das stimmt nicht. Der aus der christlichen Schöpfungstheologie kommende Endlichkeitsbegriff des Zufälligen (Kontingenten) - »contingens est, quod nec est impossibile nec necessarium« bzw. »contingens est, quod potest non esse«19 - meint zwar das, was auch nicht sein könnte, bzw. das, was auch anders sein könnte: das aber ist, wenn man es nicht aus der Schöpferperspektive von Gott her, sondern - menschlicher aus der Lebensweltperspektive - vom Menschen her sieht, gerade doppelter Arro. Entweder nämlich ist das Zufällige »das, was auch anders sein könnte« und durch uns änderbar ist (z. B. kann man Wurst essen oder es lassen und statt dessen Käse essen, und dieser Vortrag könnte Ihnen auch Wurst sein, weil er Käse ist, oder er könnte auch gar nicht oder auch anders gehalten werden); dieses Zufällige als »das, was auch anders sein könnte« und durch uns änderbar ist, ist eine beliebig wählbare und abwählbare Beliebigkeit: ich möchte es das Beliebigkeitszufällige nennen, das Beliebige. Oder das Zufällige ist »das, was auch anders sein könnte« und gerade nich"t durch uns änderbar ist (Schicksalsschläge: also Krankheiten, geboren zu sein und dgl.); dieses Zufällige als »das, was auch anders sein könnte« und gerade nicht - oder nur wenig durch uns änderbar ist, ist Schicksal: in hohem Grade negationsresistent und nicht oder kaum entrinnbar; ich möchte es das SchicksalszuJällige nennen, das Schicksalhafte. Es gibt also - das folgt aus dieser Unterscheidung - für die Menschen nicht nur eine Sorte des Zufälligen, sondern deren zwei: es gibt nicht nur das Beliebigkeitszufällige, sondern es gibt auch das Schicksals zufällige. Es sind nun - meine ich - überwiegend Zufälle dieser zweiten Art (also Zufälle von der Art des Schicksalszufälligen), die,
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als natürliche und geschichtliche Gegebenheiten und Geschehnisse, welche uns zustoßen, unser Leben ausmachen. Das beginnt - um mit dem Anfang anzufangen - bei unserer Geburt: wir könnten auch nicht - oder zu anderer Zeit, in anderer Weltgegend, in anderer Kultur und Lebenslage geboren sein; aber wenn wir es einmal sind, können wir das alles nicht mehr annullieren: selbst ein Suizid erfolgt ex suppositione nativitatis. Daß die Geburt ein Schicksalszufall ist, beleuchtet Alfred Polgars Kommentar zu Silen: »Das Beste ist es, nicht geboren zu sein: doch wem passiert das schon?« Das Schicksalszufällige ist die Wirklichkeit unseres Lebens, weil wir Menschen stets »in Geschichten verstrickt« sind (Wilhelm Schapp); denn - das hat vor allem Hermann Lübbe gezeigt - Handlungen werden dadurch zu Geschichten, daß ihnen etwas dazwischenkommt, passiert, widerfährt. 21 Eine Geschichte ist eine Wahl, in die etwas Zufälliges - etwas Schicksalszufälliges - einbricht: darum kann man Geschichten nicht planen, sondern muß sie erzählen. Unser Leben besteht aus diesen Handlungs-Widerfahrnis-Gemischen, die die Geschichten sind: ebendarum überwiegt in ihm das Schicksalszufällige. Zufällig - schicksalszufällig - ist es auch, daß wir jenen Naturgesetzen unterliegen, die die"Naturwissenschaften entdecken: wir könnten auch anderen Determinationen unterworfen sein, doch wir unterliegen nun einmal - zufällig - diesen 22 ; gerade diesen Zufall aber können wir nicht ändern: er ist ein Schicksalszufall für den Menschen. Der Zufall, der uns am schicksalhaftesten und - falls man ihn nicht als den Trost betrachtet, nicht endlos weiterturnen zu müssen - am härtesten trifft, ist unser Tod: wir sind - aus Schicksalszufall- durch Geburt zum Tode verurteilt, d. h. zu jener Lebenskürze, die uns nicht die Zeit läßt, uns aus dem, was wir zufällig schon sind, in beliebigem Umfang davonzumachen; unsere Sterblichkeit zwingt uns, jener Schicksalszufall, der für uns unsere Vergangenheit ist, zu »sein«, d. h. überwiegend zu bleiben. Zu dieser Vergangenheit gehörenentscheidend und wesentlich - jene Zufälle, die unsere
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Üblichkeiten sind, die wir nicht erst wählen, sondern. in denen wir stecken. Sie könnten ganz andere sein, aber wir vita brevis - können sie überwiegend nicht ändern. Es ist ja nicht so, daß wir sie erst sozusagen aussuchen müßten, sondern wir haben sie stets schon und können sie - und brauchen sie - überwiegend nicht loswerden: sie sind Schicksalszufälle ; und wer ihnen - wie die philosophisch normale absolute Argumentation - Beliebigkeit vorwirft, denkt und redet an ihnen vo~bei, und sein Argument ist insofern nichts wert. Daß das Ubliche das Zufällige ist, stimmt zwar; aber das ist weil es nicht das Beliebige ist - kein Einwand. Denn wohl sind unsere Üblichkeiten stets mehr unsere Zufälle als unsere Wahl: doch sie sind nicht beliebigkeitszufällig, sondern schicksalszufällig. Ich übergehe - sie nur erwähnend - die Frage, wie die Menschen mit dem Zufälligen leben können und umgehen. Sicher gehört zum Umgang mit dem Beliebigkeitszufälligen die Kunst: die Beliebigkeitsersparung durch Form; und sicher gehört zum Umgang mit dem Schicksalszufälligen die Religion: die Verwandlung von Grenzsituationen in Routinen. Beide - Kunst und Religion - sind Kontingenzbewältigungsversuche; jene - die Kunst - bewältigt (vielleicht) Beliebigkeitskontingenz; diese - die Religion - bewältigt (vielleicht) Schicksalskontingenz. In der Philosophie - meine ich also - hat man über dem Beliebigkeitszufälligen das Schicksals zufällige vergessen, um schnell mit dem Zufälligen fertig zu werden und es leicht »entfernen« zu können. Das liegt nahe, wenn man beim Zufall - statt phänomenologisch auf der lebensweltlichen Binnensicht auch des Zufälligen zu bestehen,~nur die absolute oder die Außensicht pflegt: z. B. kommt in der kreationstheologischen, stochastischen oder spieltheoretischen Diskussion des Zufälligen selten die Perspektive dessen vor, dem da durch Schöpfung und andere Zufälle mitgespielt wird. Auch gibt es eine Modifikation des Blicks auf das Zufällige, die mit der Alterslage zusammenhängt. In der modernen
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Welt - dem Zeitalter der tachogenen Weltfremdheit, in dem man zunehmend nicht mehr erwachsen wird - dominiert die Jugendsicht des Zufälligen. Die Angst vor der Beliebigkeit ist eine optische Täuschung der Jugend, die nur andauert, weil gilt: "daß es keinen Menschen gibt, der erwachsen wäre«23. Die Erfahrung des Überwiegens und der Lebensbedeutsamkeit jener Zufälle, die uns prägen, obwohl sie gerade nicht in unserem Belieben stehen (also nicht der Beliebigkeitszufälle, sondern der Schicksalszufälle), ist eine Alterserfahrung, die man schon früh im Leben machen kann, weil ebenso gilt: jeder - auch der jüngste - Mensch ist schon alt, d. h. so nah dem Tode, daß er jedenfalls nicht die Zeit hat, die Zufälligkeit der Zufälle, aus denen sein Leben besteht, in nennenswerter Weise zu löschen. Es ist diese Alterserfahrung der Dominanz des Schicksalszufälligen, die - gegenüber dem Programm der Absolutmachung des Menschen - vor allem geltend gemacht werden muß. Nicht nur geben wir unserem Leben niemals - durch Wahl- überwiegend absolute Notwendigkeit, so daß es insofern im Sinne des Beliebigkeitszufälligen zufällig bleibt; sondern wir können unser Leben und seine Wirklichkeit auch niemals über4aupt in wesentlicher Weise wählen oder gar absolut wählen, so daß es auch und vor allem im Sinne des Schicksalszufälligen zufällig bleibt. Wir kommen mehr als durch Wahl- also über Pläne - durch Zufälle durchs Leben und zu uns selber; und das ist nicht- wie die Philosophie der absoluten Wahl und der Absolutmachung des Menschen uns weismachen will- ein Unglücksfall; denn der Zufall ist keine mißlungene Absolutheit, sondern - sterblichkeits bedingt unsere geschichtliche Normalität. Wir Menschen sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Wahl. Ich sage, wohlgemerkt, nicht: wir Menschen sind nur unsere Zufälle; ich sage nur: wir Menschen sind nicht nur unsere Wahl; und ich sage außerdem nur noch: wir Menschen sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Wahl. Und erst recht sind wir Menschen stets mehr unsere Zufälle als unsere absolute Wahl und haben das zu
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akzeptieren; denn wir sind nicht absolut, sondern endlich. Eine Philosophie, die - skeptisch - diese Untilgbarkeit des Zufälligen geltend macht, ist, insofern, die Apologie des Zufälligen. 4. Menschliche Freiheit lebt von der Gewaltenteilung. Das bisherige Fazit ist: zur Würde des Menschen gehört, daß er das Zufällige leiden kann; und zu seiner Freiheit gehört die Anerkennung des Zufälligen. Darin steckt positiv: die Respektierung menschlicher Würde ist vor allem das Mitleid; und die Respektierung menschlicher Freiheit ist vor allem die Toleranz. Darin steckt zugleich negativ: die Würde des Menschen ist nicht die einer absoluten Diva, die permanent beleidigt ist, nicht als Gott - oder als ausschließlicher Selbstzweck wenigstens halbwegs als Gott- behandelt zu werden; und die Freiheit des Menschen ist nicht (als die Macht der Vernunft) die absolute Wahl, für die es nichts Nichtgewähltes - nichts Zufälliges - gibt. Daß die menschliche Würde gleichwohl wirklich Würde und daß die menschliche Freiheit gleichwohl wirklich Freiheit ist oder sein k~n, das folgt aus der folgenden - meiner abschließenden - Uberlegung, die einschlägig die Gewaltenteilung ins Spiel bringt. Des Menschen Wirklichkeit ist - wenn das bisher Gesagte stimmt-überwiegend das Zufäll~ge. Zufällig ist das, was auch anders sein kann. Aber wenn es anders sein kann, dannwenn auch zufälligerweise - ist es häufig auch anders: die zufällige Wirklichkeit - zufällig - ist vielfach so und auch anders; sie umfaßt Verschiedenes: sie ist vielgestaltig, bunt. Diese Buntheit - gerade sie - ist die menschliche Freiheitschance: es ist diejenige Freiheitsmöglichkeit, die die Lehre von der Gewaltenteilung zur Geltung bringt; denn die politische Freiheitswirkung der politischen Gewaltenteilung ist nur ein spezieller Fall der Freiheitswirkung der allgemeinen Buntheit der Wirklichkeit: daß die Zufälle, die dem Menschen als Schicksale zufallen, nicht uniform und monolithisch sind, sondern - zufällig - einander durchkreuzen und einan-
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der dadurch in gewissem Maße neutralisieren. Montesquieuim berühmten Abschnitt über die englische Verfassung in De l'esprit des lois24 - hat die Gewaltenteilung - als Teilung der drei politischen Gewalten Legislative, Exekutive und Jurisdiktion - zwar nur als Garantie der politischen Freiheit geltend gemacht; doch sollte man daran denken, daß Montesquieu - der im übrigen auch sonst die Buntheit der Bedingungen des menschlichen Lebens bis hin zum Klima ins Spiel brachte - in der Tradition der Moralistik25 und die Moralistik in der Tradition der Skepsis stand. Skepsis aber ist der Sinn für Gewaltenteilung: der Zweifel der Skepsis ist - wie das Wort Zweifel es sagt, das ja mit der »Zwei« die Vielheit enthält- justament jenes (in der Tradition der Skepsis »isosthenes ~iaphonia« genannte26 ) Verfahren, das zwei gegensätzliche Uberzeugungen in solcher Art aufeinanderprallen läßt, daß beide dadurch so viel an Kraft einbüßen, daß der Einzelne- als lachender oder weinender Dritter - von ihnen freikommt; und was dieserart durch zwei Überzeugungen passiert, gilt erst recht von mehreren Überzeugungen: jede distanziert den Einzelnen von den jeweils anderen. Und was von Überzeugungen gilt, gilt ebenso von anderen Gewalten, Tendenzen, Größen der Realität: es istfür die skeptisch geltend gemachte, d. h. endliche Freiheitwesentlich, daß stets nicht nur eine, sondern - pluralistisch konkurrierend, einander durchkreuzend und dadurch wechselseitig einander balancierend - eine Mehrzahl solcher Potenzen wirkt. Jede - sozusagen - sichert dem Menschen, indem sie ihn mitdeterminiert, einen Spielraum (Distanz) gegenüber den jeweils anderen und rettet ihn vor dem determinatorischen Alleinzugriff einer einzigen Potenz, gegenüber der er aus Eigenem machtlos wäre: divide et fuge! Es ist also - als Freiheitswirkung - zuträglich für den Menschen, viele ( mehrere) Überzeugungen zu haben: nicht gar keine und nicht nur eine, sondern viele; und zuträglich für ihn, viele (mehrere) Traditionen und Geschichten zu haben und auch viele Seelen - ach! - in der eigenen Brust: nicht gar keine und
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nicht nur eine, sondern viele; und vielleicht ist es auch zuträglich für ihn, vi:ele (mehrere) Götter und Orientierungspunkte zu haben: nicht gar keinen und nicht nur einen, sondern mehrere oder sogar viele; es ist überhaupt zuträglich für den Menschen, viele Determinanten zu haben: nicht gar keine und nicht nur eine, sondern viele; denn die Menschen sind nicht dadurch frei, daß sie Gott kopieren: als quasi-allmächtige Chefs der Weltregie oder durch unbedingtes Vermögen; sondern sie sind frei durch Freiheiten im Plural, die ihnen zufallen, indem die Determinanten, die determinierend auf sie einstürmen, durch Determinantengedrängel einander wechselseitig beim Determinieren behindern: einzig dadurch, daß jede weitere Determinante den Determinationsdruck jeder anderen einschränkt, anhält, mildert, sind und haben Menschen ihre - bescheidene, durchaus endliche, begrenzte - je eigene (individuelle) Freiheit gegenüber dem Alleinzugriff einer jeden. Nicht die Nulldete~!nation - das Fehlen aller Determinanten - und nicht die Ubermacht einer einzigen (gegebenenfalls besonders erha~~nen) Determinante macht den Menschen frei, sondern die Uberfülle an Determinanten tut es. 27 Ich behaupte hier also - als mein~ These: als skeptisch-moralistisch generalisierte Gewaltenteilungsthese - die Freiheitswirkung der Überdetermination, mithin - wie ich schon sagte (und auf die Gefahr hin, daß Ihnen dies zu bunt wird) - den Freiheitseffekt der allgemeinen Buntheit der natürlichen und geschichtlichen Menschenwirklichkeit. Der Umstand, daß das Zufällige, das den Menschen zustößt, nicht ein einziger - ungeteilter - Zufall ist, sondern aus Zufällen im Plural besteht: dieser - selber schicksalszufällige - Umstand macht es, daß - in der Form von Freiheiten im Plural- den Menschen ihr Zufall Freiheit zufällt. So muß der Mensch nicht die Determination fürchten, sondern die Ungeteiltheit ihrer Gewalt. Dabei darf seine Freiheit - bestehend aus Freiheiten im Plural - auf dasjenige an der Wirklichkeit bauen, das - durch Buntheit - Einheitszwänge kompensiert: so auch - neben den absoluten Universalisierungen und den modernen Uniformisierungen und Gleich-
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schaltungen - jenen harten Einzigkeitszwang, dem wir alle unterliegen, weil wir nur ein einziges Leben haben; denn wir können ihm in die Kommunikation mit unseren Mitmenschen - die wir ebendeswegen brauchen - entkommen durch die Möglichkeit, ihre Leben - die ja viele sind - mitzuleben und dadurch unser eigenes Leben zu pluralisieren. Im übrigen ist es - auf daß ihr Arretierungspotential von Determinationsgewalten mit ins Spiel kommt - überhaupt wichtig, daß möglichst viele Determinanten in unser Leben einbezogen werden: also auch jene - schicksalszufälligen - Realitätsgrößen, die durch Bemerktwerden determinieren. So ist es zuträglich für Menschen, wenn Grenzen ihres Merkens kollabieren. Menschlichste oder gar allzumenschlichste Formen dieser »Grenzreaktionen« - die zu denen gehören, die, als So-ist-es-Reaktionen, die menschliche Vernunft bilden: den Verzicht auf die Anstrengung, dumm zu bleiben - sind, wie Helmuth Plessner und Joachim Ritter gezeigt haben, Lachen und Weinen 28 : also die leisen Formen der Anerkennung zuvor unbemerkter und verdrängter Schicksalszufälle, die andere Determinanten balancierend - das Menschliche mitdeterminieren. Indem wir lachen oder weinen, akzeptieren wir - andeutungsweise - das, was - offiziell - ausgegrenzt blieb, aber - inoffiziell- mit im Spiel ist: jenes Zufällige, das dem offiziell Akzeptierten - zufällig - querkommt: durch es lachen oder weinen wir uns frei. So sind Lachbereitschaft und Weinbereitschaft - also Humor und Melancholie - Konkretionen von Toleranz und Mitleid: nicht nur menschlich, sondern auch allzumenschlich leistbare Respektierungen von Freiheit und Würde des Menschen. Frei - das gehört somit zu den Implikationen und Resultaten meiner Überlegung ~i ist, wer lachen und weinen kann; und Würde hat der, der lacht und weint, und - unter den Menschen - insbesondere der, der viel gelacht und geweint hat. Also auch diese Grenzreaktionen Lachen und Weinen sind Formen dessen, auf das ich hier aufmerksam machen wollte: Formen der Apologie des Zufälligen.
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Anmerkungen
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Als kurze Vorüberlegung zum Folgenden vgl. O. Marquard, »Einwilligung in das Zufällige«, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 30 vom 5./6.2. 1983, S. 69 f., deren Hauptthese auf einen Text »Differenzierungen im Beg'Ciff Kontingenz« zurückgeht, den ich 1976 nicht habe zu Ende schreiben können. Eingegangen sind hier außerdem Überlegungen, die zuvor spezieller entwickelt wurden in: O. Marquard, »Das Über-Wir. Bemerkungen zur Diskursethik«, in: K. Stierle 1 R. Warning (Hrsg.), Das Gespräch, München 1984 (Poetik und Hermeneutik, Bd. 11), S. 29-44. G. W. F. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte (1822/1828/1830), hrsg. von G. Lasson, Hamburg 51955, S. 29. Vgl. Aristoteles, Erste Analytik I 13: 32a 18-20. »Texte zum Problem der Kontingenz« habe ich im WS 1985/86 und im SS 1986 in meinem Seminar behandelt, dessen aktiven Teilnehmern ich für manche Anregung danke. Im Folgenden interessiert nur ein Ausschnitt aus der Gesamtproblematik. Was das Übrige betrifft, so verweise ich auf die Arbeit meines Kopiloten bei diesem Seminar, die im Entstehen begriffene Dissertation von F. J. Wetz, »Faktizität - ontologische Probleme von Zufall und Zeit« (Arbeitstitel); dort Literaturhinweise. Vgl. H. Blumenberg, Artikel »Kontingenz«, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 3, Tübingen 31959, Sp. 1793 f. J. Monod, Le hasard et La necessite (1970), dt.: Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie, übers. von F. Griese, München 11985 (dtv 1069). Aristoteles, Metaphysik ll. 30: 1025 a 14-34, bes. 16/17 und 25-27 (zufällig = symbebekos). Vgl. Aristoteles, Physik VI: 197a 5-7. Dazu zugleich A. M. T. S. Boethius, Philosophiae consoLationis libri quinque (524), bes. den Anfang des fünften Buches, di.: Trost der Philosophie, übers. von Karl Büchner, Bremen [1955] (Sammlung Dieterich, Bd. 33), S. 134: »Man glaubt zwar, das sei zufällig geschehen, aber es ist nicht aus dem Nichts entstanden; denn es hat eigene Ursachen, deren plötzliches und unerwartetes Zusammentreffen einen Zufall bewirkt zu haben scheint. [... ] Man kann also definieren: Zufall ist ein unvermutetes Geschehnis aus zusammenströmenden Ursachen in Dingen, die eines Bestimmten wegen unternommen werden.« J.-.P. Sartre, L'etre etle neant, Paris 1943, S. 638: »le choix que je SUlS«,
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9 Vgl. H. Plessner, Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes (1935/1959), in: H. P., Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfun a. M. 1982, S. 7-223. 10 M. Heidegger, Sein und Zeit, Halle a. d. S. 1927, S. 235 H. 11 R. Descartes, Meditationes de prima philosophia (1641), in: (Euvres de Descartes, hrsg. von Ch. Adam und P. Tannery, Bd. 7, Nachdr. Paris 1957, S. 17ff. 12 Vgl. insbes. K. O. Apel, Transformation der Philosophie, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1976, S. 221: »cartesische Radikalisierung der transzendentalen Fragestellung«; vor allem aber S. 392 f.: es »ist der methodische Ansatz des augustinisch-canesischen Zweifels [... ] auch für die Ethik [... ] verbindlich«, denn es »muß die Geltung moralischer Normen (also die Geltung der Sollensansprüche praktischer Sätze) prinzipiell ebenso eingeklammert und in Frage gestellt werden wie die Wahrheits geltung theoretischer Sätze über Tatsachen •. 13 R. Descartes: Discours de la methode (1637), in: (Euvres de Descartes, hrsg. von Ch. Adam und P. Tannery, Bd. 6, Nachdr. Paris 1956, S. 22 H.: »morale par provision«. 14 Vgl. O. Marquard, »Über die Unvermeidlichkeit von Üblichkeiten«, in: W. Oelmüller (Hrsg.), Normen und Geschichte, Paderborn 1979 (Materialien zur Normendiskussion, Bd.3), S.332-342. 15 Vgl. M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, Berlin 1967. Ferner: O. Marquard, Abschied vom Pri,!zipiellen, Stuttgart 1981 [u. ö.] (Reclams Universal-Bibliothek, Nr. 7724[2]), bes. S. 16. 16 Vgl. D. Böhler, Diskussionsbemerkung in: K. o. Apel 1 D. Böhler 1 G. Kadelbach (Hrsg.), Praktische Philosophie!Ethik. Dialoge, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1984, S. 159. 17 Vgl. H. Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, Reinbek bei Hamburg 1978. 18 Vgl. O. Marquard, »Hegel und das Sollen« (1964), in: o. M., Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfun a. M. '1982 (stw 394), S. 37 ff. 19 Vgl. H. Schepers, »Zum Problem der Kontingenz bei Leibniz. Die beste der möglichen Welten«, in: Collegium Philosophicum. Studien, Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, hrsg. von H. Lübbe [u. a.], Basel!Stuttgart 1965, S. 326-350. 20 Die folgende Unterscheidung ist angeregt durch S. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode (1849), in: S. K., Gesammelte Werke, übers. vonE. Hirsch, Abt. 24125, Düsseldorf/Köln 1954, S. 32 H.:
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Verzweiflung der Möglichkeit aus Mangel an Notwendigkeit, Verzweiflung der Notwendigkeit aus Mangel an Möglichkeit. Vgl. W. Schapp, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Dil'!g, Hamburg 1953. Vor allem aber: H. Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie, Basei/Stuttgart 1977. Vgl. außerdem: R. Koselleck, .Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung., in: H. R. Jauß (Hrsg.), Die nicht mehr schönen Künste, München 1968 (Poetik und Hermeneutik, Bd. 3), S. 129-141; dort ist S. 129 zit.: R. Aron, Introduction a la philosophie de l'histoire, Paris 1948, S. 20: »le hasard est le fondement de l'histoire«. Vgl. E. Boutroux, De La contingence des lois de La nature (1874), dt.: Die Kontingenz der Naturgesetze, Jena 1911. A. Malraux, Antimemoires (1967), dt.: Anti-Memoiren, übers. von C. Schmid, Frankfurt a. M. 1968, S. 7. Zit. nach: CEuvres completes, hrsg. von R. Caillois, Bd. 2, Paris 1958 (Bibliotheque de la Pleiade, Bd. 86), S. 396 ff. Vgl. F. Schalk (Hrsg.), Die französischen Moralisten, Bd. 1, München 1973 (dtv 6026), S. 203-257. Vgl. Die Einleitung des Herausgebers, bes. S. 32 ff. Vgl. M. Hossenfelder, Einleitung zu: Sextus Empiricus, Grundriß der pyrrhonischen Skepsis, Frankfurt a. M. 1968, bes. S. 42 ff. Diese hier nur angedeutete - keineswegs zureichend ausgearbeitete - Freiheitsthese versucht jenen Freiheitsgedanken, der aus der politischen Gewaltenteilungslehre kommt, mit jenem Freiheitsgedanken zu kreuzen und zu legieren, der aus der philosophischen Schichtenlehre kommt. Vgl. N. Hartmann, Ethik (1925), Berlin 31949, S. 621-821, bes. S. 649f.: »Der Kausalnexus und das Plus an Determination.« Vgl. außerdem: N. H., Der Aufbau der realen Welt (1939), Berlin 31964, S. 493 ff. und S. 510 ff., bes. S. 519: .Eine Welt, in der es Freiheit gibt, muß mindestens zweischichtig sein. In einer vielschichtigen tritt kategoriale Freiheit von Schicht zu Schicht als Begleiterscheinung des Novums am höheren Determinationstypus auf; da gibt es dann so vielerlei Freiheit, als es Schichtendistanzen gibt. In einer einschichtigen Welt mit einem einzigen Determinationstypus ist sie ein Ding der Unmöglichkeit.« Die schichtentheoretische Freiheitslehre ist hierarchisch, die gewaltenteilungstheoretische Freiheitslehre ist gerade nichthierarchisch. Die hier versuchte Kreuzung beider hat zur Folge: die Enthierarchisierung der schichtentheoretischen Lösung und die ontologische Ausweitung der gewaltenteilungs-
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theoretischen Lösung. Heraus kommt - hoffe ich - eine determinationspluralistische Freiheitsthese. 28 J. Ritter, »Über das Lachen« (1940), in: J. R., Subjektivität, Sechs Aufsätze, Frankfurt a. M. 1974, S. 62-92. H. Plessner, »Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens« (1941), in: H. P., Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frankfurt a. M. 1982, S. 201-387. Vgl. O. Marquard, »Vernunft als Grenzreaktion., in: H. Poser (Hrsg.), Wandel des Vemunftbegriffs, Freiburg i. Br. / München 1981, S. 107-133. Außerdem: O. Marquard, »Loriot laureat. Laudatio auf Bernhard-Viktor von Bülow bei der Verleihung des Kasseler Literaturpreises für grotesken Humor 1985«, in: Wilhelm-Busch-Jahrbuch 1985, Hannover 1986 (Mitteilungen der Wilhelm-Busch-Gesellschaft, Nr. 51), S. 81-85.
Textnachweise Skeptiker. (Dankrede bei der Verleihung des Sigmund-Freud-Preises für wissenschaftliche Prosa 1984 der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung am 12. Oktober 1984 in Darmstadt.) - In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch 1984. Heidelberg: Lambert Schneider, 1985, S. 122-125. Entlastungen. Theodizeemotive in der neuzeitlichen Philosophie. (Fellow-Vortrag am Wissenschaftskolleg zu Berlin am 9. Februar 1983.) - In: P. Wapnewski (Hrsg.): Wissenschaftskolleg - Institute for Advanced Study- zu Berlin. Jahrbuch 1982/83. Berlin: Siedler, 1984. S. 245-258. Zur Diätetik der Sinnerwartung. Philosophische Bemerkungen. (Vortrag im Studium Generale der Universität Mainz am 4. Juli 1983.) - In: G. B. Achenbach (Hrsg.): Philosophische Praxis. Köln: Dinter, 1984. (Schriftenreihe zur Philosophischen Praxis. Bd. 1.) S. 145-160. Universalgeschichte und Multiversalgeschichte. (Vortrag im Studium Generale der Universität Freiburg i. Br. am 28. April 1982.) - In: Saeculum. Zeitschrift für Universalgeschichte 33 (1982) [ersch. 1983] S. 106-115. Zeitalter der Weltfremdheit? Beitrag zur Analyse der Gegenwart. (Vortrag beim Kolloquium »Arbeitsgesellschaft. Wandel ihrer Strukturen« der Walter-Raymond-Stiftung am 12. März 1984 in München.) - In: Arbeitsgesellschaft. Köln: Bachern, 1984. (Veröffentlichungen der Walter-Raymond-Stiftung. Bd.23.) S.11-28. Abdr. nach: Gießener Universitätsblätter 2 (1985) S. 9-20. Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften. (Eröffnungsvortrag der Jahresversammlung 1985 der Westdeutschen Rektorenkonferenz am 5. Mai 1985 in Bamberg.) - In: Westdeutsche Rektorenkonferenz (Hrsg.): Anspruch und Herausforderung der Geisteswissenschaften. Jahresversammlung 1985. Bonn: Dokumentationsabteilung der Westdeutschen Rektorenkonferenz, 1985. (Dokumente zur Hochschulreform. Bd. 56.) S. 47-67. Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Menschen. (Vortrag beim Salzburger Humanismusgespräch 1984 am 20. September 1984 in Salzburg. ) - Überarbeitet 1985/86. Erstveröffentlichung.
Biographische Notiz Odo Marquard, geboren am 26. Februar 1928 in Stolp (Pommern) 1934-45 Schulbesuch in Kolberg (Pommern), Sonthofen (Allgäu),
1945 1946 1947-54
1954 1955-63 1963
Ab 1965 1982/83 1985-87 1993 1994
Seit 1995
Falkenburg (Pommern) und als Luftwaffenhelfer bei Bremen Volkssturm, Kriegsgefangenschaft, dann in Norderney Abitur in Treysa (Hessen) Studium der Philosophie, Germanistik, evangelischen Theologie und katholischen Fundamentaltheologie sowie kunstgeschichtliche und historische Studien in Münster (Westf.) und Freiburg i. Br. Promotion zum Dr. phi!. in Freiburg i. Br. (bei Max Müller) Wissenschaftlicher Assistent am Philosophischen Seminar der Universität Münster (bei Joachim Ritter) Habilitation und Privatdozent für Philosophie in Münster Ordentlicher Professor für Philosophie an der JustusLiebig-Universität Gießen Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin Präsident der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland Emeritierung Dr. phi!. h. c. der Universität Jena Ordentliches Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung
Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa (1984); ErwinStein-Preis (1992); Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik (1996); Hessischer Kulturpreis für Wissenschaft (1997). - Hessischer Verdienstorden (1990); Bundesverdienstkreuz 1. Klasse (1995).
Veröffentlichungen von Odo Marquard Bücher Skeptische Methode im Blick auf Kant. Freiburg i. Br. I München: Alber, 1958. '1982. Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Frankfun a. M.: Suhrkamp, 1973. 4 1997. (stw 394.) Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien. Stuttgan: Reclam, 1981 Eu. ö.]. (Universal-Bibliothek. 7724.) - Eng!. Ausg. 1990. Poln. Ausg. 1994. Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien. Stuttgart: Reclam, 1986 Eu. ö.]. (Universal-Bibliothek. 8352.) - Eng!. Ausg. 1991. Ital. Ausg. 1991. Poln. Ausg. 1994, Span. Ausg. 2000. Transzendentaler Idealismus, romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse. Köln: Dinter, 1987. '1988. Aesthetica und Anaesthetica. Philosophische Überlegungen. Paderborn: Schöningh, 1989. '1994. - Ital. Ausg. 1994. Skepsis und Zustimmung. Philosophische Studien. Stuttgart: Reclam, 1994 Eu. ö.]. (Universal-Bibliothek. 9334.) Glück im Unglück. Philosophische Überlegungen. München: Fink, 1995. '1996.
H erausgeber/Mitherausgeber Historisches Wönerbuch der Philosophie. Hrsg. von J. Ritter und K. Gründer in Verb. mit [...] Odo Marquard [...]. Bd. 1 H. BaseV Stuttgart: Schwabe, 1971 H. [Bisher ersch. Bd. 1-10.] Identität. (Zus. mit K. Stierle.) München: Fink, 1979. (Poetik und Hermeneutik. 8.) Plessner, H.: Gesammelte Schriften (Zus. mit G. Dux und E. Ströker.) 10 Bde. Frankfun a. M.: Suhrkamp, 1980-85. Anfang und Ende des menschlichen Lebens. Medizinethische Probleme. (Zus. mit H. Staudinger.) MüncheniPaderborn: Fink! Schöningh, 1987. (Ethik der Wissenschaften. 4.) Ethische Probleme des ärztlichen Alltags. (Zus. mit E. Seidler und H. Staudinger.) München/Paderborn: Fink!Schöningh, 1988. (Ethik der Wissenschaften. 7.)
Veröffentlichungen von Odo Marquard
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Medizinische Ethik und soziale Verantwortung. (Zus. mit E. Seidler und H. Staudinger.) München/Paderborn: FinklSchöningh, 19.89. (Ethik der Wissenschaften. 8.) Einheit und Vielheit. XIV. Deutscher Kongreß für Philosophie Gießen, 21.-26. September 1987. (Unter Mitw. von P. Probst und F.J. Wetz.) Hamburg: Meiner, 1990. Möglichkeiten und Grenzen medizinischer Forschung und Behandlung. (Zus. mit S. Manth.) BerlinlWien: Blackwell, 1996. (Ex libris »Roche«. 4.) Kontingenz. (Zus. mit G. v. Graevenitz.) München: Fink, 1998. (Poetik und Hermeneutik. 17.)