Odo Marquard Skepsis in der Moderne Philosophische Studien Reclam
Universal-Bibliothek Odo Marquard untersucht in Text...
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Odo Marquard Skepsis in der Moderne Philosophische Studien Reclam
Universal-Bibliothek Odo Marquard untersucht in Texten, die zwischen 1993 und 2007 entstanden sind und hier in Auswahl in seinem sechsten Band in der UniversalBibliothek versammelt werden, Themen wie Theodizee, Freiheit, Optimismus oder Pluralismus, also Themen, die dem Autor besonders wichtig waren und sind. Weiterhin vertritt er dabei »eine endlichkeitsphilosophische Skepsis« - und zwar »ohne missionarischen Eifer«.
ISBN 978-3-15-018524-7
111111111111111111111111
9 783150 185247
€ [DJ
4,00
Marquard Skepsis in der Moderne
Odo Marquard
Skepsis in der Moderne Philosophische Studien
Philipp Reclam jun. Stuttgart
Franziska, Florian, Frederik, den Enkelkindern
RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 18524 Alle Rechte vorbehalten © 2007 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Sruttgart Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen. Printed in Germany 2007 RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart ISBN 978-3-15-018524-7 www.reclam.de
Inhalt
Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . .
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Zum fünfzigjährigen Doktorjubiläum Rede in Freiburg am 16. Juli 2004
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»Ich bin ein Weigerungsverweigerer« Ein Gespräch mit Odo Marquard. Die Fragen stellte Jens Hacke . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Wie politisch muß ein Schriftsteller sein?
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Entpflichtete Repräsentation und entpolitisierte Revolution Philosophische Bemerkungen über Kunst und Politik
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Skepsis in der Moderne Überlegungen im Blick auf Heinrich Heine
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Die Philosophie der Geschichten und die Zukunft des Erzählens . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sprachmonismus und Sprachpluralismus der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . .
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Innovationskultur als Kontinuitätskultur Überlegungen zur Renaissance . . . . . .
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Die Krise des Optimismus und die Geburt der Geschichtsphilosophie
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Freiheit und Pluralität
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Inhalt
Textnachweise
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Biographische Notiz
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Veröffentlichungen
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Vorbemerkung Die Texte des vorliegenden Bändchens sind zwischen 1993 und 2007 entstanden. Sie enthalten eine Erinnerungsrede, eine Art autobiographisches Interview, zwei Beiträge über Politik und Kunst, einen Beitrag über Heinrich Heine als Skeptiker, einen zur Phänomenologie der Geschichten, einen über den Sprachpluralismus der Philosophie, einen zum Neuzeitbeginn Renaissance, einen über die Geburt der Geschichtsphilosophie im 18. Jahrhundert, einen über Freiheit und Gewaltenteilung. So setzen sie fort, was den Verfasser philosophisch interessiert hat: das ist vor allem der Pluralismus und die Theodizeefrage. Sie vertreten weiterhin eine endlichkeitsphilosophische Skepsis. Das tun sie ohne missionarischen Eifer. Zu einem Hauptwerk - auch darin sind sie skeptisch - reicht es auch dieses Mal nicht: Ein Schelm, der mehr gibt, als er hat.
Zum fünfzigjährigen Doktorjubiläum Rede in Freiburg am 16. Juli 2004
Verehrte offizielle Respektspersonen! Meine Damen und Herren! Es ist ein Zufall, daß gerade ich diese kurze Rede halte und nicht eine oder einer meiner goldenen Mitdoktorandinnen und Mitdoktoranden. Liebe Frau Cheaure, leugnen Sie's nicht: Ich bin Ihnen einfach zuerst vor die Flinte gelaufen. Irgendwer muß es ja machen. Ich danke der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, jener Gemeinsamen Kommission unaussprechlichen Namens, die aus ihrer Philosophischen Fakultät hervorgegangen ist, und ihrer Vorsitzenden, Frau Cheaure, daß nach fünfzig Jahren die Promotionsurkunde erneuert und uns jetzt überreicht wird. Ich weiß, daß Universitäten heute sparen müssen: wenn einige von uns, die dank der Macht des >demographischen Faktors< noch leben, zur Entgegennahme dieser goldenen Doktorurkunde heute hier sind, dann sicher auch deswegen, um der Albert-Ludwigs-Universität das Porto zu sparen, das die Zusendung sonst gekostet hätte. Es kam die Neugier hinzu, zu schauen, wie es in Freiburg heute aussieht, und der Wunsch, jenen jungen Leuten zu gratulieren, die heute ihre Abschlußurkunde erhalten. Im übrigen wird man daran erinnert, daß das, was uns mit der Promotion vor fünfzig Jahren widerfuhr, eigentlich noch gar nicht so lange her ist. Meine kurze Rede von knapp 10 Minuten umfaßt drei Punkte. Erstens: Die ganz persönliche Erinnerung an 1954. Mein eigentlicher philosophischer Lehrer Joachim Ritter aus Münster war für drei Jahre in die Türkei gegangen, und Max Müller hier in Freiburg, wo ich 1949/50 und 1950 schon zwei Semester studiert hatte, war auf Bitten Ritters generös bereit, meine Promotionsbetreuung zu
Zum fünfzigjährigen Doktorjubiläum
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übernehmen. Ich hatte schon sechs Jahre studiert: meine Verwandten betrachteten mich als gescheitert, und meine Eltern machten pflichtweise nur noch schüchterne Verteidigungsversuche. Dann aber kam das Sommersemester 1954: mein drittes Semester in Freiburg. Ich meldete mich üblichkeitsgemäß beim damaligen Vertrauensdozenten der Studienstiftung, dem Juristen Pringsheim. Sie melden sich zurück, fragte er mich. Ich: nein. Ach, Sie sind neu aufgenommen? Ich: nein. Pringsheim war ratlos. Die dritte Möglichkeit, die ich repräsentierte, gab es eigentlich gar nicht: ich war - das ist der Charme der Studienstiftung für ein Semester wiederaufgenommen worden: um meine Dissertation doch noch abzuschließen. Ich stand wirklich unter Druck. Ich bekam von der Studienstiftung monatlich 130 DM, mehr hatte ich nicht. Mein Zimmer bei Hodels in der Bauhöferstraße 103 - das mir meine Wirtsleute aus meinen ersten beiden Freiburger Semestern, die Familie Niceus aus der Bauhöferstraße 97 (die sich um die Freiburger Geisteswissenschaften wirklich verdient gemacht haben), besorgt hatten - kostete davon 35 DM: natürlich, wie damals üblich, winzig, keine Dusche, kein fließend Wasser, aber - darum erwähne ich das - im Zimmer befand sich ein Volksempfänger, das damalige Kleinstradio, das ich mit einer Ausnahme nie eingeschaltet habe. Am 4. Juli 1954 habe ich der Übertragung der ersten Halbzeit eines Fußballspiels, das durch einen Film inzwischen auch Sie kennen, widerstanden: die Dissertation mußte fertig werden. Aber die zweite Hälfte der zweiten Halbzeit habe ich dann gehört, denn ich war, wie viele Philosophen, überdurchschnittlich fußballbegeistert. Heidegger hat Ernst Tugendhat hat mir das gerade bestätigt - das (von Heidegger als Technik sonst mit Argwohn betrachtete) Fernsehgerät einer befreundeten Familie aufgesucht und dort geguckt. Mein Korreferent Wilhe1m Szilasi, der Ungar und Deutscher war, sagte: so oder so, wir gewinnen auf jeden Fall. Mein Doktorvater Max Müller hat - zu-
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Zum JünJzigjährigen Doktorjubiläum
sammen mit seinem älteren und verehrten Freund Romano Guardini aus Tübingen - damals im Berner WankdorfStadion leibhaftig gesessen und das Spektakel unmittelbar angeschaut: ich weiß nicht, ob die heutigen filmischen Bemühungen das wiedergeben. Ich habe meine Arbeit fast unmittelbar nach dem 4.Juli abgegeben, die Prüfung war am 30. Juli, und ich danke meinen Gutachtern noch heute, daß sie die Gutachten extrem schnell geschrieben haben. Meine Nebenfachprüfer waren Walther Rehm und Bernhard Welte. Dekanatssekretär war Herr Hohl. Dekan war der Philosoph Eugen Fink, der extrem schüchtern war: fast so schüchtern wie damals ich. Aus all diesem folgt: für mich war der Juli 1954 nicht das Wunder von Bern, sondern das Wunder meiner Promotion. Danach habe ich mich dann lebenslang als Philosoph durchgeschlagen. Zweitens: Ich glaube, praktisch alle, die ihr fünfzigstes Doktorjubiläum heute begehen, haben damals die Doktorprüfung als erste Studienabschlußprüfung abgelegt. Heute muß man Bachelors und Masters und Magister machen und sich dann - postgraduiert - möglichst in dreijährigen Doktorandenkolloquien zusammenfinden. Manchmal frage ich mich, wie die jungen Leute vor lauter Betreuung noch dazu kommen, ihre Magisterarbeit oder Dissertation wirklich und ungestört niederzuschreiben. Das dauert natürlich alles viel länger und kostet auch Geld; und je länger es dauert, desto besorgter ist die Verwaltung, möglichst viele Studienabschlüsse schon vorher unter Dach und Fach zu bringen: das Studium ist immer mehr zum administrativen Dauerkampf gegen den Studienabbruch geworden. Ich meine darum: Studienzeitverlängerungen entstehen vor allem durch administrative Maßnahmen zur Studienzeitverkürzung. So kommt es zur Konjunktur des Studienstufenmodells: zur consecutivitis perniciosa, jetzt neuerdings durch den Bologna-Prozeß, durch den sich die Universität von der Universität zu verabschieden scheint. Unser Promotionsalter lag damals bei
Zum fünfzigjährigen Doktorjubiläum
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25/26 Jahren, das heutige bei über 30 Jahren: so wird die Universität gezielt ins 'Spätere verlegt. Mir gefällt dieser ganze Trend nicht; aber vermutlich liegt das daran, daß ich - über 11 Jahre inzwischen als Emeritus - ganz und gar reaktionär und überaltert bin: einen Schlaganfall habe ich auch schon hinter mir, und was ist von so jemandem noch zu erwarten (außer der Wahrheit)? Drittens und abschließend: Es erhalten hier - wenn ich das richtig sehe - junge Wissenschaftler ihre Studien abschlusszeugnisse, die vor allem aus dem Bereich stammen, den man früher Geisteswissenschaften nannte. Zunächst noch einmal herzlichen Glückwunsch! Ich weiß selber, auf welches Abenteuer man sich da einläßt: mein erster bezahlter Job war die Verwaltung einer wissenschaftlichen AssistentensteIle mit knapp 27 Jahren (dafür hatte ich mit 17 Jahren schon 3 Monate Kriegsgefangenschaft hinter mir). Mit 34 wurde ich Privatdozent, mit 37 ordentlicher Professor. Der Bedarf an Geisteswissenschaftlern ist auch wenn wir ständig unter Beschuß liegen - gleichwohl groß und müßte eigentlich steigend sein; und man kann sagen, woran das liegt. 1985 habe ich in Bamberg vor der Westdeutschen Rektorenkonferenz den Hauptvortrag gehalten »Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften« mit der These: »Je moderner die moderne Welt wird, desto unvermeidlicher werden die Geisteswissenschaften.« Wir leben in der versachlichten Modernisierungswelt mit ihren Veränderungsbeschleunigungen, die durch Fortschritte die lebensweltliche Kultur und ihre Geschichten und Traditionsgeschichten auszuklammern scheint. Wer kümmert sich um dieses Ausgeklammerte, das lebensnotwendig ist? Das sind die Geisteswissenschaften, die ja historisch nach den Laborwissenschaften entstehen und die modernen Innovationsüberlastungen nicht nur durch Gegeninnovationen, sondern auch durch Kontinuitätskultur zunehmend ausgleichen müssen. (Ich irritiere Sie lieber nicht durch den Gebrauch des Wortes
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Zum fünfzigjährigen Doktorjubiläum
>Kompensation<.) Je mehr Fortschritte wir wollen und haben, um so mehr Geisteswissenschaften brauchen wir. Es lohnt sich also, Geisteswissenschaftler zu sein. Wir, die Alten, haben das - in schwieriger Lage - geschafft; Sie, die Jungen, werden das - in schwieriger Lage - ebenfalls schaffen. Die Welt ist mehr Nichtkrise als Krise: sie ist gewiß nicht der Himmel auf Erden, aber auch nicht die Hölle auf Erden, sondern die Erde auf Erden. Sie werden sie bestehen. Dafür wünsche ich Ihnen herzlich Glück!
»Ich bin ein Weigel1lngsverweigerer« Ein Gespräch mit Odo Marquard. Die Fragen stellte Jens Hacke
FRAGE Als Schüler einer Adolf-Hitler-Schule, als Flakhelfer, als Kriegsgefangener - können Sie beschreiben, was für ein Geschichtsgefühl Sie vor sechs Jahrzehnten wesentlich prägte? MARQuARD Sie sprechen von meinem zwölften bis zu den Anfängen meines siebzehnten Lebensjahrs. Am wichtigsten scheint mir, daß es sich um ein zunehmend irritiertes Geschichtsgefühl gehandelt hat mit zwei Tendenzen: halbwegs realistische Einschätzung bzw. Endbefürchtung und Ausflüchte ins Wunschdenken. Die Zukunft erschien immer mehr als Ende, andererseits bestand eine >Pflicht< zur nationalen >Gläubigkeit<. Vielleicht beschreibe ich das durch eine Situation Ende März 1945. Damals rief der vorbeikommende >Inspekteur< der Adolf-Hitler-Schulen, Kurt Petter, in der Gegend von Teupitz-Groß Köris einige seiner Schäfchen, die dort gerade zu einem VolkssturmEinsatz-Bataillon eingerückt waren, zusammen und erklärte uns (ich fasse sein etwas ausführlicheres Votum mit meinen Worten zusammen): Der Krieg ist verloren, und jetzt spielt nicht die Helden. Ich habe das als desillusionierende Klärung mit einer gewissen Befreiungswirkung akzeptiert, aber dann anschließend immer noch ab und zu an die >Wunderwaffen< geglaubt: diese Ambivalenzerfahrung hat mich später interessiert. Also: nationale Großmannssucht plus Enderfahrungsdepression. FRAGE In Ihrer Sicht der Bundesrepublik spielen Emotionen und Psychologisierungen eine besondere Rolle. Nicht nur erklären Sie die Achtundsechziger-Bewegung in Anlehnung an Freud als >nachträglichen Ungehorsam< (nämlich als Reaktion auf das elterliche Ja zum National-
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»Ich bin ein Weigerungsverweigerer«
sozialismus), auch Sie sind offenbar durch die sogenannte Kulturrevolution nachhaltig emotionalisiert und politisiert worden. Dabei hat das Ganze institutionell doch vergleichsweise wenig Folgen gehabt. Wie erklären Sie dieses Phänomen Nachgeborenen? MARQUARD Emotionen und Psychologisierungen spielten - sowohl bei den Achtundsechzigern wie auch beim eigenen zunehmenden Widerstand dagegen - nicht mehr und nicht weniger eine Rolle als in jeder Realität. Natürlich bin ich dort politisiert worden. Daß ich - ich hatte mich 1963 mit einem Buch über den deutschen Idealismus und Sigmund Freud habilitiert und viel Freud gelesen den >nachträglichen Ungehorsam< als Gegenbegriff zu Freuds >nachträglichem Gehorsam< entwickelt habe, lag da doch nahe. Als Intellektueller und ab 1965 als >Jungordinarius< habe ich die Lage schließlich anders beurteilt: daß »das Ganze institutionell doch vergleichsweise wenig Folgen gehabt hat«, schien mir nicht so, falls man dagegen nichts täte. Entscheidend war, daß die möglichen Folgen abgewendet worden sind. Es war wichtig, daß die Bevölkerung der Bundesrepublik sehr vernünftig reagiert hat und daß auch einige Philosophen diese Bürgerlichkeitsverweigerung verweigerten, wozu ein ganz klein wenig auch meine Philosophie beigetragen hat. Es wurde klar, daß die Bundesrepublik keine mißlungene Revolution, sondern eine gelungene Demokratie ist. FRAGE In Ihrem Werk haben Sie immer wieder auf Kontingenz und Schicksal, die >Unvermeidbarkeit des Unverfügbaren<, hingewiesen. Hat es überhaupt Sinn, sich Gedanken über den >großen Plan< zu machen? MARQUARD Die >Unvermeidlichkeit des Unverfügbaren< ist für mich - langsam - wichtig geworden, weil die Geschichte selber nicht die Aktion nach einem großen Plan ist, sondern ein Gewimmel von Handlungs-Widerfahrnis-Gemischen. Sie besteht aus Aktionen und Kontingenzen. An den großen geschichtsphilosophischen Plan
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glaube ich in der Tat nicht: er bringt mehr Unglück als Glück. Partielle Pläne sind hingegen wichtig und um so besser, je mehr Individualität dabei zum Zuge kommt. FRAGE Was war für Sie der Auslöser, sich mit Geschichtsphilosophie zu beschäftigen? MARQUARD Zunächst war die Geschichtsphilosophie nicht mein zentrales Problem. Lieblingsbücher waren zwar von Anfang an Burckhardts Weltgeschichtliche Betrachtungen und Max Webers Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (so müssen wissenschaftliche Werke aussehen!). Auch habe ich im dritten und vierten Semester als Nebenfach Geschichte studiert. Aber der zentrale Zugang gerade zur Philosophie war die Kunst (Architektur, Malerei: ich habe zunächst während des Studiums fast mehr gemalt als .geschrieben). Die entscheidende Philosophie war die Asthetik, dann auch beflügelt durch Joachim Ritters großartige Ästhetik-Vorlesung. Mein philosophisches Spezialgebiet wurde schnell der deutsche Idealismus: Kant, Schiller, Schelling. Auf die Geschichtsphilosophie kam ich dabei, um die Stellung der Ästhetik zur Realität zu begreifen: das ging gerade dort nur über die Geschichtsphilosophie. Eine wichtige Rolle hat ab 1950 Georg Lukacs gespielt, der Marx ins Blickfeld rückte. Nach 1954 hatte ich eine Zeitlang die Vorstellung, eine Philosophie der Geschichte der Resignation der Philosophie der Geschichte sei ratsam. Das führte zu immer stärkeren Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Ungefähr ab 1960 war der entscheidende Einfall dieser: der Rechtshandel (Prozeß) Geschichtsphilosophie kommt aus dem Rechtshandel (Prozeß) der Theodizee, und die autonomistische Geschichtsphilosophie - die ein entscheidendes Motiv seit dem deutschen Idealismus bildete - ist eine säkularisierte Theodizee, eine Theodizee durch das Ende Gottes (sozusagen: Theodizee gelungen, Gott tot). Von daher habe ich dann die Geschichtsphilosophie - mit immer stärkerer Betonung der menschlichen Endlichkeit -
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zunehmend kritisiert: schließlich durch Absage an die Utopie einer gleichschaltenden Alleingeschichte der Weltverbesserung und Diesseitserlösung, und zwar zugunsten eines philosophischen - auch geschichtsphilosophischen Pluralismus. Diese Absage an die Geschichtsphilosophie hat mich - das konkretisierte sich nach 1968 - dann auch dazu gebracht, eine politisch liberal konservative Position zu beziehen. Es hat mich - was zu Anfang nicht in meiner Absicht lag - auf die Idee gebracht, bei mir >Konservatives< zu finden mit der (von Martin Kriele und Hermann Lübbe dankbar übernommenen) Regel: die Beweislast hat der Veränderer. FRAGE Sie haben in der Diskussion um Francis Fukuyama geschrieben, das »Ende der unheilvoll finalisierenden Geschichtsphilosophie« sei nicht das Ende der Geschichte, sondern »die Rückkehr in die Geschichte«. Wohin kehren wir zurück? MARQuARD In die Geschichte: in die Buntheit der belastenden und beglückenden Kontingenzerfahrungen, mit der Pflicht zur Politik, und im günstigen Falle in die bürgerliche Welt. FRAGE Sie sind als jemand charakterisiert worden, der den Konservatismus in Deutschland fit für die Postmoderne gemacht hat - negativ ausgedrückt: Sie gelten als >Experte für postmoderne Beliebigkeit<, der sich für den >Abschied vom Prinzipiellen< stark macht und das Loblied der Vielfalt, des Polytheismus singt. Gleichzeitig lautet einer Ihrer Leitsätze »Zukunft braucht Herkunft«. Welche Herkunft brauchen wir, und vor allem: wie erkennen wir das, was wir brauchen? MARQuARD Diesen Schuh ziehe ich mir nicht an. 1986 habe ich einen Beitrag Nach der Postmoderne - der in die Anfangspassagen von Aesthetica und Anaesthetica eingegangen ist - geschrieben mit der These: nach der Postmoderne kommt die Moderne. Die Postmoderne ist keine Epoche. Man muß die >pluralistische Lösung< als altes mo-
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dernistisches Motiv erkennen, zu dem die skeptische Tradition der Moralistik mit ihrem Sinn für Gewaltenteilung wesentlich beigetragen hat. Die absolute Nullagen-Spekulation, zu der prinzipielle Philosophien neigen, ist eine weltfremde Abstraktion. Wir suchen nicht aus einer absoluten Nullage heraus Lebensformen aus, sondern wir stecken immer schon in Lebensformen drin. Wir haben - in unserem >Leben vor dem Tode< - immer schon Lebensformen, Üblichkeiten, Tradilionen: das ist eine völlig unbeliebige Lage, deren Unbeliebigkeit mit der Kürze unseres Lebens zusammenhängt. Die zuweilen dann entstehende Frage, ob wir einen Teil einer Üblichkeit verlassen sollten (die Frage der Kritik), setzt immer schon Üblichkeiten voraus, die wir haben, und Üblichkeiten, die in Konkurrenz dazu treten. Wir >suchen< nicht aus einer absoluten Position unsere Lebensformen, sondern allenfalls entsteht - untotal- die Frage, ob wir einen Teil unserer Lebensformen zugunsten anderer >verlassen< sollten: diese Frage die immer schon an Geschichtliches anknüpft - ist partialkritisch, nicht totalkritisch. Ich gehe dabei von einem begrenzten Gewimmel von Herkünften aus. Ich räume ein, daß darin ein partielles >Multikulti<-Motiv steckt: ich muß mit den Herkünften anderer zusammenleben, nach Möglichkeit tolerant. Aber wir haben - trotz aller Unsicherheiten, die zum Leben gehören - nicht die Möglichkeit, auf beliebigen Herkünften beliebig zu spielen. Die eigene Herkunft ist keine beliebige, sondern - trotz aller Unsicherheiten - eine bestimmte. Meine Herkunft ist die aus der Antike kommende (vor allem aristotelische) Tradition der liberalen Bürgerlichkeit, das Christentum (mit einem leicht protestantischen Schlenker), die konziliante Form der Aufklärung, die skeptische Tradition der Moralistik. Und wir erkennen das, was wir brauchen, nicht durch bequeme Aprioris, sondern - was ein durchaus mühsamer Weg ist - durch Lebenserfahrung. FRAGE Joachim Ritter, Ihr Lehrer, wäre 2003 hundert
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geworden, kaum jemand kennt ihn heute. Dennoch: Robert Spaemann, Hermann Lübbe und Sie selbst haben immer nachdrücklich an ihn erinnert. Was eint die sogenannte Ritter-Schule und was ist ihre Bedeutung für die Bundesrepublik? MARQuARD Joachim Ritter war einer der prägenden Philosophen der beginnenden und entwickelten Bundesrepublik Deutschland: er ist dort - wie Henning Ottmann schön schreibt - »wenn nicht einer der bekanntesten, dann doch einer der einflußreichsten Philosophen Deutschlands gewesen«. Natürlich hätte ich mir vorstellen können, daß nicht nur Spaemann, Lübbe und ich (vielleicht kommt noch etwas von Dierse und Gründer) zum hundertsten Geburtstag von Joachim Ritter geschrieben hätten, aber warten wir ab (auch, bis die Adorno-Bewunderungswelle abgeklungen ist). 2004 wird das Historische Wörterbuch der Philosophie abgeschlossen: das wird Ritter erneut ein wenig ins Gespräch bringen. Die Ritter-Schüler, die wegen der Buntheit ihrer Positionen ja keine richtige >Schule< waren> sind dankbar für die extreme Lebendigkeit und Jürgen Seifert [2000] hat das präzis beschrieben - die außerordentliche Liberalität seines Kreises: Ritter verpflichtete seine Schüler nicht auf seine eigenen Thesen. Er balancierte das durch Forderungen: Leistungsbereitschaft, Erfüllung institutioneller Pflichten, und daß die Schüler einander auch in ihren eigenen Positionen wechselseitig ernst nahmen. Merken ist wichtiger als Ableiten: das konnte man bei ihm lernen. Das führte dazu, daß später als die Schüler über eigene Lebenserfahrung verfügten viele Thesen von Ritter plausibel wurden: seine - gegen die Absolutheitsansprüche von Fortschritt (>Zukunft<) und Bewahrung (>Herkunft<) sich wendende - Bürgerlichkeitsphilosophie der >positivierten Entzweiung<. So existiert - neben einer gewissen Bindung an die >hermeneutische< Philosophie - unter den Ritter-Schülern eine Schulkonvergenz als langfristige Spätwirkung, die sie teilweise
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gerade auch gegen die Frankfurter Kritische Theorie, ihre Vergröberung zu den Positionen der Achtundsechziger und ihre Wacht am Nein in Opposition brachte. Ich selber habe das als Verweigerung der Bürgerlichkeitsverweigerung beschrieben; aber ich bin nicht der Schulsprecher der Ritter-Schule: es gibt nämlich keinen. Daraus folgt: Wenn Ritters Schüler eine Art von Schule bilden, ist das - bei allem Sinn für institutionelle Pflichten - eine sehr lockere Angelegenheit. Niemandem wird durch Schuldisziplin der Mund verboten: vermutlich erkennt man sie am meisten daran. FRAGE Anders als Ihre liberalkonservativen Weggefährten gelten Sie als Skeptiker. Trotzdem: Kann Skepsis langweilig werden, wenn der Gegner abhanden gekommen ist, wenn es keine Großentwürfe mehr gibt, gegen die man Einspruch erheben kann, wenn nur noch Zustimmung, Affirmation und Apologie der bürgerlichen Welt bleiben? Oder anders gewendet: Wo bleibt das Normative, Herr Marquard? MARQuARD Meine Selbst bezeichnung als >Skeptiker< (zunächst hieß das >interimistischer Skeptizismus<) ist älter als meine Entgegensetzung zur Geschichtsphilosophie und zu den >Großentwürfen<. Erst war die >skeptische Methode< nur ein philosophisches Thema, dann wurde sie - immer stärker im Rahmen der skeptischen Tradition der Moralistik - zum philosophischen Vollzug. Natürlich ist der Hintergrund meiner Skepsis das Trauma des Nationalsozialismus: in gewisser Hinsicht habe ich mein Erschrecken, meine Ernüchterung und meine Irritierung zur philosophischen Position gemacht, auch als Angehöriger der >Skeptischen Generation< (Schelsky). Als Lehrer und als Autor hüte ich mich, als Missionar aufzutreten: Ich bin auch kein Missionar der Skepsis. Im übrigen erhebt sich gegen meine Form der Skepsis der (auch Ihr) Einwand, daß sie zu >affirmativ< und zu >apologetisch< sei. Ich meine, es gehört zumindest auch zur Skepsis, Positivitätsver-
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drän gun gen zu bezweifeln und Affirmationsverbote zu übertreten. Wir Menschen sind viel zu zerbrechlich, um irgend eine Positivität der Wirklichkeit zu mißachten und »die Rose im Kreuz der Gegenwart« (HegeI) übersehen zu dürfen. Darum bin ich - auch und gerade in bezug auf die bürgerliche Welt - dagegen, den eigenen Negativitätsbedarf zu übertreiben. Meine Weltabwehr absolviere ich nicht durch Philosophie, sondern durch Schlafen: ich bin ein >Weigerungsverweigerer<. Das Normative ist vor allem das Kleine: Das kleine Jasagen, das schwieriger ist als das große Neinsagen. FRAGE >Fortschrittskonservativ< bzw. ein >Modernisierungstraditionalist< zu sein, das scheint seit den fünfziger! sechziger Jahren möglich. Die von Ihnen popularisierte Figur der Kompensation/Kompensationstüchtigkeit setzt einen Entwicklungsgedanken voraus. Ist das implizit nicht auch Teleologie, also mit Geschichtsphilosophie verwandt? MARQuARD Auf liberale Weise konservativ zu werden wurde möglich, als die Bundesrepublik - die keine versäumte Revolution, sondern eine stabile Demokratie ist gegen den durch das Jahr 1968 symbolisierten Versuch, sie revolutionär abzuschaffen, verteidigt werden mußte: das also der Modernitätstraditionalismus zugunsten der liberalen Demokratie - wurde eine der wichtigsten Aufgaben meiner Generation. Dazu gehörte es, im Namen dieser Herkunft den utopisch-emphatischen Fortschrittsgedanken der Geschichtsphilosophie zu mildern durch den Gedanken einer - endlichkeitsfähigen, nicht größenwahnsinnigen - Pluralität von Fortschritten. Das führte zum Gedanken der Kompensation, den ich von Joachim Ritter aufnahm. Seine Begriffsgeschichte habe ich teilweise im Kompensationsaufsatz von Aesthetica und Anaesthetica versucht. Nicht der Entwicklungs gedanke, sondern der Gleichgewichtsgedanke ist dabei entscheidend. Zum Beispiel die moderne Versachlichungs-, Beschleunigungs-
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und Veraltungswelt wird nicht negiert, wohl aber kompensiert durch Kontinuitätskultur: das habe ich wohl am wirksamsten in Uber die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften darzulegen versucht. Natürlich steckt auch eine Halbwegs-Teleologie darin: eine verendlichte und pluralisierte Teleologie, also das, was geschichtsphilosophisch weiterhin vertretbar ist, etwa im Blick auf partiale Geschichtsvorgänge. FRAGE Sie sind in den Achtzigern rückhaltlos für die Kernenergie eingetreten und haben die Übersteigerungen der Ökologiebewegung kritisiert, die damals die kollektive Angst vor nuklearer Gefahr, Atomtod, Ozonloch usw. artikulierte. Heute nimmt die Globalisierungskritik eine ähnliche Rolle ein. Können Sie zivilisatorische Ängste verstehen? Wovor haben Sie Angst? MARQuARD Ich habe die Tendenz, Überdramatisierungen der gegenwärtigen Geschichtssituation zu ernüchtern und zu mildern. Darum sage ich häufiger, der Weltlauf sei - trotz allem - mehr Nichtkrise als Krise. Die Vorstellung, jetzt ist der absolute Augenblick, in dem die Menschheit gerettet werden muß, und die Zuspitzung der Gegenwart zur großen Entscheidungsgrenzsituation zwischen Allem und Nichts: das geht mir viel zu weit. Ich bin gegen den großen Außerordentlichkeitsbedarf, auch im Negativen. Die Menschen haben schon genug Probleme, auch diesseits des absoluten Ausnahmezustands: diesen unendlichen Krisenstolz können wir uns gar nicht leisten. Darum wehre ich mich gegen ökologisches Krisengeschrei und habe auch wenig übrig für die Globalisierungsgegner. Die Angstübertreibung ist eine Luxusreaktion: man sollte sie zumindest dosieren. Natürlich habe ich Angst: zum Beispiel vor zu schwerem Sterben. Aber die >zivilisatorischen Ängste< gehorchen der Freudschen Theorie des Angsttraums: die Angst, die man bei ihm hat, ist nicht die Angst vor dem Schrecklichen, das man träumt, sondern die Angst vor dem eigenen Wunsch nach dem Schrecklichen,
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»Ich bin ein Weigerungsverweigerer«
das man träumt. Der Ang~ttraum - und so mag es auch bei den >zivilisatorischen Angsten< sein - konserviert, getarnt als seine Abwehr, einen schrecklichen Wunsch: Man sollte auch diese Wunschpflege bleibenlassen.!
Anmerkung
1 Literatur: Odo Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Aufsätze, Frankfurt a. M. 1973. - Odo Marquard, Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1981 Cu. ö.] (Universal-Bibliothek, Nr.7724) - Odo Marquard, Aesthetica und Anaesthetica. Philosophische Überlegungen, Paderborn 1989. - Odo Marquard, Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays, Stuttgart 2003. - Jürgen Seifert, »Joachim Ritters >Collegium philosophicum<. Ein Forum offenen Denkens«, in: Richard Faber / Christine Holste (Hrsg.), Kreise Gruppen - Bünde. Zur Soziologie moderner Intellektuellenassoziation, Würzburg 2000, S.189-198. - Zusatz 2007: Jens Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006.
Wie politisch muß ~in Schriftsteller sein? Menschen - schrieb Aristoteles - sind politische Lebewesen. Schriftsteller sind Menschen. Also sind Schriftsteller politische Lebewesen. Sie können und müssen darum politisch sein wie alle Menschen, und zwar - meine ich nicht weniger, aber auch nicht mehr als alle anderen Menschen. Schriftsteller brauchen - wie alle Menschen - für ihr Leben und ihre Profession Lebenserfahrung, und die Politik ist ein wesentliches Feld menschlicher Lebenserfahrung, von dem man sich, wenn man Mensch und Schriftsteller sein will, ebensowenig fernhalten darf wie von anderen Feldern menschlicher Lebenserfahrung: dem Wirtschaftlichen, dem Religiösen, dem Erotischen usf. Es gehört zum Menschen und zum Schriftsteller, das politische Feld zu erfahren und bei seiner Gestaltung mitzuwirken. Nichts Menschliches sollte dem Schriftsteller fremd sein: auch und gerade nicht das Politische. Freilich: Daraus folgt nicht, daß Schriftsteller eine Sonderstellung und Vorzugsverfassung in bezug auf das Politische haben. Sie haben nicht die politische Eigentlichkeitsposition; und wo sie sie beanspruchen, mißlingt ihr Verhältnis zum Politischen. Die Schriftsteller sind nicht die, die - im Unterschied zu den anderen Menschen durch eine Sonderoffenbarung eingeweiht sind in den eigentlichen politischen Fahrplan der Welt, und die - als die eigentlichen Hüter des politisch Korrekten und Vernünftigen und Guten - den anderen sagen müssen, was sie politisch denken und tun dürfen und sollen; denn diese Sonderoffenbarung haben die Schriftsteller nicht: auch nicht dadurch, daß sie ein politisches Tribunal einrichten, dem sie selber entkommen, indem sie es für andere werden. Die Schriftsteller haben im Politischen nicht einmal eine Vorzugskompetenz als Formulierer: ihre Fähigkeiten zur
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Wie politisch muß ein Schriftsteller sein?
politisch situationssensiblen und folgenempfindlichen Rede sind in der Regel eher ungeübt und darum mindestens begrenzt. Wenn sie sich politisch äußern, ergibt das keine politpriesterlichen Verlautbarungen des Weltgeists ex cathedra, sondern es handelt sich dabei dann selber um politische Maßnahmen, die politisch klug und produktiv oder - insbesondere, wo sie Eitelkeiten pflegen und Wichtigkeitserlebnisse suchen - politisch unklug und kontraproduktiv sein können. Politische Äußerungen von Schriftstellern sind - wie die aller anderen Bürger - torheitsfähig und darum umstreitbar; und daß sie kritisiert werden, ist deswegen normal und keine Majestätsbeleidigung und Götterlästerung. In Sachen Politik - das will ich damit zum Ausdruck bringen - sind Schriftsteller Normalbürger: Menschen wie du und ich. Sie haben politische Positionen, aber sie haben - ich wiederhole es - nicht die politische Eigentlichkeitsposition. Niemand sollte jammern, daß die politisch Mächtigen auf die Schriftsteller zu wenig hören. Denn nur, wenn die Schriftsteller politisch geschickt politisch Kluges äußern, sollte man auf sie hören und tut das ja auch: aber nicht, weil sie Schriftsteller sind, sondern weil sie Kluges äußern, was sie ja keineswegs immer tun. Daß im Felde des Politischen die Übel erst dann aufhören, wenn die Mächtigen den Schriftstellern gehorchen oder die Schriftsteller die Mächtigen sind: diese Variante von Platons Philosophen-Könige-Satz ist ebenso falsch wie Platons Philosophen-Könige-Satz selber, der vor allem die Gefahr heraufbeschwört, daß die politische Macht weltfremd oder die Weltfremdheit politisch mächtig wird. Menschen - schrieb Aristoteles - sind politische Lebewesen. Schriftsteller sind Menschen. Also sind Schriftsteller politische Lebewesen. Sie können und müssen darum politisch sein wie alle Menschen, und zwar - meine ich - nicht weniger, aber auch nicht mehr als alle anderen Menschen.
Entpflichtete Reprä.sentation und entpolitisierte Revolution Philosophische Bemerkungen über Kunst und Politik
Philosophie ist, wenn man trotzdem denkt. Meine heutige Trotzdemdenkerei betrifft das Feld der Ästhetik: der Philosophie der Kunst; und näherhin soll die Rede sein vom Verhältnis von Kunst und Politik. Was ist Politik? Was ist Kunst, die sogenannte schöne Kunst? Bismarck hat - wenn auch in Wirklichkeit nicht genau mit diesen Worten - die Politik als Kunst des Möglichen bestimmt. Der nur wenig ältere Nestroy hat in bezug auf die sogenannte schöne Kunst - mit listigem Sarkasmus gegen die These, daß Kunst von Können komme gesagt: Kunst ist, wenn man's nicht kann; denn wenn man's kann, ist's keine Kunst. Für beide Künste - Politik und sogenannte schöne Kunst: die Kunst des Möglichen und die Kunst des vielleicht Unmöglichen - gilt, was Gottfried Benn meinte: "das Gegenteil von Kunst ist gut gemeint«. Beide Künste - Politik und Kunst - haben also Gemeinsamkeiten. Beide haben natürlich auch Unterschiede. Ihr Verhältnis steht in meinem Vortrag - obwohl ich von der Lizenz des Philosophen zu sehr pauschalen Äußerungen reichlich Gebrauch machen werde - nur sehr partiell zur Debatte. Auch wird es mir, obwohl Politik und Kunst durchaus konkrete Angelegenheiten sind, in den folgenden 45 Minuten zweifellos gelingen, unter Beweis zu stellen, daß ein Philosoph entschieden in der Lage ist, auch über sehr konkrete Angelegenheiten auf extrem abstrakte Weise sich zu äußern: ein Schelm, der mehr gibt, als er hat. In meinem Vortrag versuche ich, folgende These zu vertreten. Die moderne Welt verwandelt die gebundene Kunst in eine ästhetische Kunst. Die Neigung der Kunst,
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zur politischen Repräsentation zu werden, ist eine - mehrgestaltige - Flucht aus diesem Vorgang. Die Tendenz der ästhetischen Kunst geht dahin, auf diese Flucht zu verzichten: also zur Entlastung vom Politischen, zur Entpflichtung auch von der politischen Repräsentation. Ich versuche dabei, Einschränkungen mitzuformulieren, die angesichts dieser These gemacht werden müssen, und Fragezeichen zu artikulieren, die in bezug auf sie zweifellos gesetzt werden müssen. Ich erläutere meine These - Betrachtungen eines Teilpolitischen - in folgenden fünf UItrakurzabschnitten: 1. Gebundene Kunst und ästhetische Kunst; 2. Kunst als politische Repräsentation; 3. Ästhetisierte Revolution: das Gesamtkunstwerk; 4. Ästhetisierte Revolution: die Avantgarde; 5. Ästhetisierung und Demokratie. Ich beginne - den Üblichkeiten entsprechend - mit Abschnitt:
1. Gebundene Kunst und ästhetische Kunst Die Kunst in der modernen Welt ist geprägt durch den Vorgang ihrer Ästhetisierung. Zu den Indizien für diese Ästhetisierung der Kunst gehört, daß in der Philosophie eine Ästhetik - als Philosophie überwiegend der schönen Kunst - erst und nur in der modernen Welt entstanden ist, übrigens recht genau datierbar: in der von Reinhart Koselleck so getauften »Sattelzeit« im Jahr 1750. Davor gab es keine Ästhetik, und dafür gibt es Ursachen. Vormodem war - grob gesprochen - die Philosophie des Schönen keine Philosophie der Kunst und die Philosophie der Kunst keine Philosophie des Schönen. Das Schöne war das vorgegeben Seiende, das gerade nicht gemacht werden konnte, also das Nichtkünstliche; und das, was - durch Kunst gemacht werden konnte, war darum nicht das Schöne, eben weil es das Künstliche war und nicht das vorgegeben Seiende. Einen Platz konnte die schöne Kunst nur gewin-
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nen, indem sie sich in den Dienst des Seienden stellte, in den Dienst des Göttlichen: die schöne Kunst - die Kunst des Schönen - tritt darum auf als religiös gebundene Kunst. Sie gehört zum religiösen Kult: die Architektur gibt ihm Raum, die Götterplastik gehört in den Tempel, die Madonna in die Kirche, das Theater hat religiöse Bedeutung, Poesie und Musik gehören in den Gottesdienst. Es gibt noch nicht das Museum, den Konzertsaal, den profanen Lesesaal. Maßstab der Kunst ist das Göttliche und nicht das Künstlerische; Ziel der Kunst ist das Heil und nicht die Kunst. In der modernen Welt wird das anders: die beschleunigt rationell werdende Welt - das Zeitalter der Traditionsneutralisierungen - neutralisiert auch die religiöse Bindung der Kunst, sie emanzipiert die Kunst aus der Rolle der religiösen Repräsentation. Der Tendenz nach hört das Göttliche zunehmend auf, der Maßstab der Kunst zu sein: zum Maßstab der Kunst wird vielmehr das Künstlerische. Ziel der Kunst ist zunehmend nicht mehr das Heil, sondern die Kunst. So streift die Kunst - die schöne Kunst, zu der alsbald die nicht mehr schöne Kunst sich gesellt: von der erhabenen Kunst bis zur Antikunst - ihre religiöse Bindung immer mehr ab und wird insofern autonom: die Architektur kümmert sich in wachsendem Maße um den profanen Raum, das Buch wird Literatur, das Theater wird zur profanen Sonderinstitution, die Musik wechselt in den Konzertsaal, die Plastik und Malerei in die Ausstellungen und ins Museum, das dafür - modern - allererst erfunden wird. Das alles - so nur angedeutet und extrem simplifiziert - kann durch die Formel beschrieben werden: in der modernen Welt wird aus der - religiös - gebundenen Kunst die ästhetische Kunst. Für diesen Vorgang gibt es Ursachen, von denen ich hier nur einige nenne. Je mehr der monotheistische Gott der Bibel zum transzendenten Gott wird, um so mehr wird die Welt profan. Sie wird religiös »entzaubert« und
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kann nun gerade dadurch zum Platz für profane - etwa ästhetische - Faszinationen werden. Die religiös entweltlichte Schönheit muß in der Welt nun ästhetisch festgehalten werden. Weil die moderne Welt - durch experimentelle Wissenschaft und Technik - immer künstlicher wird, muß fortan auch das Schöne künstlich bewahrt werden: eben durch die ästhetische Kunst. Hinzu kommt der theologische Angriff auf die erlösende Kraft guter Werke. Darum retten sich die guten Werke ins Außertheologische: als gute Werke der schönen Kunst, als ästhetische Kunstwerke, so daß in gewisser Hinsicht gelten mag: das Ästhetische entwickelt sich spezifisch modern als die Fortsetzung der Werkgerechtigkeit unter Bedingungen ihrer reformatorischen Negation. So also - aus diesen Gründen und vielen anderen mehr - wird aus der religiös gebundenen Kunst in der modernen Welt die ästhetische Kunst. Man kann diesen modernen Vorgang der Ästhetisierung der Kunst verschieden bewerten: negativ als Aushöhlung ihrer religiösen Verbindlichkeit und »Verlust der Mitte«, positiv als Entlastung vom Traditionellen und als Befreiung der Kunst zu sich selbst. Ich will meine eigene Bewertung nicht verstecken: Ich halte die Ästhetisierung der Kunst für einen Gewinn, zu dem ich mich affirmativ verhalte, obwohl Affirmation heute immer noch weithin als Mangel an Kritik und insofern als Laster gilt, während es sich doch in Wahrheit so verhält: daß zuweilen die Affirmation - das Jasagen - die schwierigste und nötigste Form der Kritik ist. Nunmehr zum Abschnitt:
2. Kunst als politische Repräsentation Wo sich - und auch das ist ein Vorgang der modernen Welt - das Politische deutlich vom Religiösen absetzt, erhält die Kunst gerade dadurch die Möglichkeit, ihre schwindende religiöse Bindung durch politische Bindung
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zu ersetzen: dann wird die Kunst betont zur politischen Repräsentation. Man kann dies als den Versuch der Kunst betrachten, sich dem Prozeß ihrer modernen Ästhetisierung zu entziehen. Hier möchte ich - grob typisierend auf zwei große Möglichkeiten der Kunst zur politischen Repräsentation hinweisen: auf den Staat und auf die Revolution. Da ist: a) der Staat und die Möglichkeit, daß die Kunst - statt sich ungebunden zu ästhetisieren - die Rolle der politischen Repräsentation des Staates übernimmt. Der Staat der moderne Staat zunächst in absolutistischer Form wurde als Friedensstifter gegen die konfessionellen Bürgerkriege nötig und wirklich: er befriedet sie nicht, indem er - angesichts der religiösen Kontroversen - entscheidet, was religiös die Wahrheit ist, sondern er befriedet sie, indem er gerade nicht entscheidet, was religiös die Wahrheit ist, sondern indem er durch seine Autorität und Macht das, was den blutigen Streit bringt, das kontrovers gewordene Religiöse, aus der Politik heraushält. Das Religiöse die Wahrheitsfrage der Erlösung - wird politisch neutralisiert durch die profane Macht des Staates diesseits der Religion. Die Kunst kann dann ihrerseits - diesseits der vormals religiösen Gebundenheit - sich dazu bereit finden, die profan werdende politische Macht des Staates zu repräsentieren. Vor allem die barocken Anfangsgestalten dieser politischen Repräsentation stehen uns vor Augen: die Schlösser, die Gärten, die politische Plastik, die höfische Dichtung und Musik. Das Bedürfnis nach politischer Repräsentation des Staates durch die Kunst dauert fort, wo der Staat - modern und gegenwärtig in liberaler Form als gewaltenteiliger Rechtsstaat - den Frieden durch politische N eutralisierung der Ideologien bewahrt auch dann, wenn Kraft und Neigung der Kunst zur politischen Repräsentation des Staates abnehmen. Da ist: b) die Revolution und die Möglichkeit, daß die Kunststatt sich ungebunden zu ästhetisieren - die Rolle ihrer
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politischen Repräsentation als Instrument der revolutionären Weltverbesserung übernimmt. Je erfolgreicher der Staat - gegen die Gefahr ideologischer Bürgerkriege - den Frieden sichert, desto selbstverständlicher wird dieser Friede. Je selbstverständlicher dieser Friede wird, desto unselbstverständlicher wird die politische Neutralisierung der Wahrheitsfrage: der - religiösen oder postreligiösen Frage nach dem alleinrichtigen Menschheitsglück und Menschheitsziel. Dann will man nicht mehr das vorhandene, sondern das vollkommene Leben und greift den Staat an, weil er es nicht herbeiführt und man seine Ausklammerungen als Repression erfährt. Man sucht - utopisch den Himmel auf Erden und erfährt das Vorhandene, das dieser Himmel nicht ist, als Hölle auf Erden und vergißt, was das Wirkliche wirklich ist: die Erde auf Erden.· So kommt es - in gewisser Hinsicht parasitär zum Staat - zu den geschichtsphilosophischen Utopien und den durch sie dirigierten Revolutionen, die - von der Französischen Revolution bis zur kommunistischen Oktoberrevolution und ihren Schicksalen - nun wieder - postreligiös - Welterlösung versprechen und notfalls gewaltsam durchzusetzen versuchen. Die Kunst kann dann ihrerseits - nunmehr gegen den Staat - sich dazu bereit finden, in den Dienst der politischen Ziele dieser Revolution zu treten und revolutionäre Welterlösung politisch zu repräsentieren: die Kunst dient als Mittel zum Zweck der revolutionären Weltverbesserung. Ich habe hier die beiden extremen Möglichkeiten anzudeuten versucht, wie die Kunst - wo sie ihre religiöse Gebundenheit einzubüßen beginnt und ihre ästhetische Ungebundenheit zu ergreifen sich noch nicht traut - zur politischen Repräsentation werden kann: zur politischen Repräsentation einerseits des Staates und zur politischen Repräsentation andererseits der Revolution. Mich interessiert in der Folge der Umstand, daß diese Ausflucht der Kunst in die politische Repräsentation - die meiner These
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zufolge dazu dient, d~e konsequente Ästhetisier1!:ng der Kunst zu vermeiden -längerfristig diese moderne Asthetisierung der Kunst gerade nicht stoppt, sondern im Gegenteil befördert: in Dingen Ästhetisierungsvermeidung ist sie kontraproduktiv. Ich beginne das zu erläutern, indem ich - aus Zeitnot zwar, aber sonst in völlig willkürlicher Beschränkung - auf das Schicksal jener Kunst blicke, die sich politisch mit der Revolution verbindet. Die Kunst, die das tut, ist für die Revolution immer nur die zweite Besetzung; denn sie ist nie die wirkliche revolutionäre Praxis selber, sondern - wie revolutions eifrig sie auch sein mag immer nur die Kunst. Mit dieser zweiten Besetzung ist es so, wie es im Theater mit zweiten Besetzungen ist: wichtig werden sie nur, wenn die erste Besetzung indisponiert ist; solange die erste Besetzung nicht indisponiert ist, ist die zweite Besetzung günstigenfalls eine Rivalin. Ähnlich ergeht es der revolutionär engagierten Kunst bei der Revolution. Wo die erste Besetzung - die Revolution - scheitert, wird die zweite Besetzung - die Kunst - unendlich wichtig: das ist der Fall des utopischen Gesamtkunstwerks. Wo die erste Besetzung - die Revolution - aber zu siegen scheint, wird die zweite Besetzung - die Kunst unendlich verdächtig: das ist der Fall der Ächtung der Avantgarde. Auf beide Fälle lenke ich Ihre Aufmerksamkeit in den beiden folgenden Abschnitten: auf den zuletzt genannten Fall im vierten Abschnitt, auf den zuerst genannten Fall im Abschnitt davor, nämlich im Abschnitt:
3. Asthetisierte Revolution: das Gesamtkunstwerk Wo es zur Revolution kommt, treten Träume in die Wirklichkeit: sie werden aus Erwartung zur Erfahrung, und zwar zu einer schlechten Erfahrung. Denn - das war die Erfahrung mit der Französischen Revolution und das wurde die Erfahrung mit der kommunistischen Revolu-
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tion - was die Revolution versprach, das hielt sie nicht. Statt in die absolute Freiheit führte sie in den Schrecken; mehr als von Repressionen befreite sie von Freiheiten; und - fiat utopia, pereat mundus - was Welterlösung werden sollte, wurde zur Weltzerstörung. Darum gehört zu den großen geschichtsphilosophisch inspirierten Revolutionen der modernen Welt die Enttäuschung ihrer revolutionären Hoffnung und Erwartung. Oder anders und kürzer gesagt: diese Revolutionen scheitern. Wie überleben Revolutionäre mental das Scheitern der Revolution? In bezug auf die kommunistische Revolution ist das - jedenfalls für mich - noch nicht deutlich erkennbar. In bezug auf die Französische Revolution indes kann man diese Frage beantworten, und diese Antwort gehört zum Thema Kunst und Politik, denn sie lautet: Die Revolutionssympathisanten überleben das politische Scheitern der Revolution ästhetisch. Sie versuchen, zumindest auch, gescheiterte Politik durch gelungene Kunst zu ersetzen. Sie retten das politisch mißglückte Revolutionäre in seine entpolitisierte Form, in die Ästhetisierung des Revolutionären, indem sie das Gesamtkunstwerk erfinden; denn um es salopp zu formulieren - das Gesamtkunstwerk ist das Vehikel für die sanfte Bauchlandung geplatzter revolutionärer Hoffnungen. Ziel der Revolution ist dann nicht mehr die total vollkommene Wirklichkeit, sondern das total vollkommene Kunstwerk, eben das Gesamtkunstwerk, das justament deswegen die Rolle der finalen Wirklichkeit spielen muß und dem es darum wesentlich darauf ankommt, daß die Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit fällt. Man muß dabei sehen: erfunden wurde das Gesamtkunstwerk nicht von Richard Wagner, sondern in der Philosophie des deutschen Idealismus. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling - der, mit Nietzsehe zu sprechen, die Köpfe der Jugend verdarb, als Wagner jung war - ästhetisierte die Revolutionsphilosophie. Er war nicht so bescheiden wie
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in unserem Jahrhundert die, die bei einer Mailänder Triennale Polizisten zu Kuristwerken erklärten, denn Schelling erklärte - in seinem »Identitätssystem« - die ganze Wirklichkeit zum Kunstwerk und entwickelte am Schluß der Schlußphilosophie dieses Systems, der »Philosophie der Kunst«, jenes Konzept des Gesamtkunstwerks, das Wagner in Oper und Drama wieder aufgriff. Wagner - der seinerseits ein gescheiterter Revolutionär war und darum den Weg von der Dresdener Barrikade zum Grünen Hügel in Bayreuth ging - verstärkte Schellings Ansatz, indem er betonte: zur Wirklichkeit, die Ziel der Revolution ist, kann das Gesamtkunstwerk nur werden durch den - wie er sagte - »Kommunismus« der Künste: durch die Verbindung aller Einzelkünste zu einem einzigen Kunstwerk, das eben dadurch - als Gesamtkunstwerk - die Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit aufhebt. Die Nachfolger Wagners in Dingen Gesamtkunstwerk - die im Einzugsgebiet von Surrealismus, Dadaismus, Futurismus - waren in diesem Punkt anderer Meinung als Wagner: nicht die Verbindung, sondern die Zerstörung aller Einzelkünste in einem totalen Antikunstwerk gibt diesem die Dignität der Wirklichkeit. Das kann sehr weit gehen: bis zur Ästhetisierung des Krieges, vor der Walter Benjamin in seinem Kunstwerkaufsatz warnte, und zur Ästhetisierung des Bürgerkriegs, vor der er zu warnen vergaß. Aber alle Anhänger des Gesamtkunstwerks waren für den »Kommunismus des Genies«: erst alle Menschen zusammen sind die Künstler dieses totalen Kunstwerks. Und wo heute noch ein Einzelner es zustande zu bringen sucht, indem er alles kann und alles durchstreicht, was er kann, muß er zumindest durch Kleidungsrituale suggerieren, kein Einzelner zu sein: darum war etwa - als gesamtkunstwerkelnde Identität von Avantgarde und Heilsarmee - Joseph Beuys (dieses EinMann-Heer für Pazifismus und Nichtuniformierung) der disziplinierteste und exzessivste Uniformträger der Gegenwart: der standhafte Sinn-Soldat.
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Die Revolution - das war und ist hier meine These überlebt ihr Scheitern, indem sie ästhetisiert wird: im Gesamtkunstwerk. Aber dieses Kunstwerk will die vollkommenste Wirklichkeit sein. Darum nötigt es die Menschen, nur noch in diesem Kunstwerk zu leben. Das aber - ernst g.enommen - hält niemand aus. Und so wird klar, daß das Asthetische gar nicht - wie seine vehementesten Kritiker, also etwa Kierkegaard, meinten - dadurch fragwürdig ist, daß es zu unwirklich bleibt; es wird nämlich - ganz im Gegenteil - dort unerträglich, wo es zu wirklich wird: wo man die Grenze der Kunst zur Wirklichkeit vergißt, weil man die Wirklichkeit nur noch als Kunst und die Kunst nur noch als Wirklichkeit will. Das zwingt - indirekt zur Suche nach dem nur noch Ästhetischen. Damit zum Abschnitt:
4. Ästhetisierung der Revolution: die Avantgarde Die Alternative zur Ästhetisierung der Revolution durch das Gesamtkunstwerk ist - nach der Französischen Revolution und ihrem Scheitern - die reale gesteigerte Wiederholung der Revolution, wie die kommunistischen Revolutionäre sie erstrebten. Die Revolution überlebt ihr Scheitern durch das Gesamtkunstwerk; die Revolution überlebt das Gesamtkunstwerk als erneute Revolution. Erneut will man - fiat utopia, pereat mundus - statt des vorhandenen das vollkommene Leben: erneut herrschen die utopischen Träume, erneut die Hoffnungen auf politische Welterlösung, und die Kunst setzt sich erneut dazu - sympathisierend oder engagiert - in ein positives Verhältnis. Sie agiert erneut als politische Repräsentation des Revolutionären; und es ist die ästhetische Avantgarde, die sich - als Malerei, als Plastik, als Architektur und Literatur, als Theater und Film - in den Dienst der revolutionären Welterlösung begibt: die forschrittlichste Kunst tritt ein für die ver-
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meintlieh fortschrittlichste Welt. Aber das ist ein gefährliches Unternehmen. . Ich hatte das Dilemma der revolutionär engagierten Kunst schon angedeutet: Die revolutionäre Kunst ist für die politische Revolution immer nur die zweite Besetzung: sie ist nie die wirkliche revolutionäre Praxis selber, sondern - wie revolutionseifrig sie auch sein mag - immer nur die Kunst. Diese zweite Besetzung war und wird wichtig, wenn die Revolution scheitert: das - sagte ich und habe es kurz erläutert - ist der Fall des Gesamtkunstwerks. Wenn die erste Besetzung - die Revolution - aber zu siegen scheint: dann wird es gefährlich für die revolutionäre Kunst. Denn die politische Revolution verlangt von ihr Linientreue: »Die Literatur« - so Lenin schon 1905 - »darf keine Angelegenheit des Individuums sein. Sie kann nicht von den allgemeinen Aktivitäten des Proletariats unabhängig sein. Nieder mit den unparteiischen Schriftstellern! Nieder mit den literarischen Übermenschen! Literatur muß ein Bestandteil der organisierten, geplanten und auf einen Nenner gebrachten Parteiarbeit sein.«! Mit dieser Forderung wird es ernst nach der Oktoberrevolution: Sobald die Revolution siegt und dabei ist, ihren Sieg zu konsolidieren und zu stabilisieren, erscheint - extrem dann im Stalinismus - die revolutionskonforme Kunst als unsicherer Kandidat und wahrscheinlicher Abweichler: das Kreative ist potentiell subversiv. Darum wird die revolutionäre - die avantgardistische - Kunst in den 20er Jahren als potentielle Konterrevolution verdächtigt und abgehängt, durch monumentale Jubelkunst ersetzt, und die Künstler werden eliminiert; sie werden im Namen der kommunistischen Revolution - man denke an Kandinskis zweite Emigration - aus dem Lande oder - man denke an Blok, Majakowski, Mandelstam, Meyerhold, Babel usf. - aus dem Leben verjagt: die Avantgarde wird verschmäht und geächtet. Was das über das Revolutionsland, die Sowjetunion,
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hinaus bedeutete, hat Arnold Gehlen in seinem Buch ZeitBilder durch die Formel »entpolitisierte Revolution« zu fassen versucht, mit Blick auf die Malerei, aber in allgemeinerer Geltung. »Ganz ohne Zweifel« - schreibt er »galten die modernen Richtungen des Expressionismus, Kubismus usw. bei ihrem Erscheinen in einem weiteren Sinne als dem bloß künstlerischen als >revolutionär<, man hörte die gesinnungsmäßigen Obertöne mit. Als nun die Sowjets die abstrakte Kunst ächteten, geschah etwas sehr Entscheidendes: Sie entpolitisierten damit die moderne westliche Malerei, denn es war jetzt unmöglich geworden, die jeweils neueste Richtung mit politischen Vorstellungen nach links hin glaubhaft zu verbinden. Damit wurde die Kunstrevolution von den politischen Nebengeräuschen befreit, d. h. in die bloße Kunstimmanenz hineingezwungen. [... ] Sofern also der Künstler [ ... ] Instinkte der Aggressivität und Beunruhigung ausleben will, ist diese Aggression entpolitisiert, sie kann sich nur noch gegen andere Kunst ihrer eigenen Gattung wenden [... ]. Die dauernde immanente Kunstrevolution hat doch wohl hier eine ihrer wesentlichen Ursachen.«2 Durch diesen Vorgang ächtet die politische Revolution die ästhetische Avantgarde und hängt sie ab. Sie wird politisch verstoßen und verschmäht und durch diese politische Kränkung gegen ihren Willen - »in die bloße Kunstimmanenz hineingezwungen«, d. h. ästhetisiert: der ganze Vorgang ist eine indirekte Ästhetisierung der Kunst. Fortan wird die links revolutionäre Gesinnungsattitüde dieser von der politischen Revolution abgehängten Kunst und ihrer Künstler, wo sie heute noch aufrechterhalten wird, politisch zu einer unglaubwürdigen und eher kläglichen Angelegenheit, deren politischer Ernst nur noch gespielt wird und die - bei denen, die mehr oder weniger für die Revolution und von ihrem Ausbleiben gelebt haben im Grunde nur noch relevant ist als Aufwindsystem einer Gesinnungsschickeria, die den Exitus der politisch revolu-
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tionären Gesinnungsorientierung der Kunst noch nicht bemerkt hat oder noch nicht zugeben will. Objektiv ist sie passe. Indem die Revolution die avantgardistische Kunst sozusagen sitzenließ und sie dadurch »entpolitisierte«, hat sie - und das scheint mir positiv - schließlich jenen Prozeß gefördert, dem diese Kunst doch durch ihr politisches Engagement entgehen wollte: nämlich die konsequente Ästhetisierung der Kunst. Ich beende meinen Vortrag mit dem ganz kurzen Abschnitt:
5. Ästhetisierung und Demokratie Zunächst wiederhole ich noch einmal meine These, die ich hier durch einige Hinweise zu erläutern versucht habe: In der modernen Welt wird die gebundene Kunst zur ästhetischen Kunst. Der Versuch der Kunst, zur politischen Repräsentation - sei es eines Staates, sei es der Revolution zu werden, diente letzthin überwiegend dem Ausstieg der Kunst aus diesem Vorgang, welcher Ausstieg aber schließlich das Gegenteil bewirkt: nämlich den definitiven Einstieg in die konsequente Ästhetisierung der Kunst. Ich hatte unterstrichen: ich selber halte diesen Prozeß der Ästhetisierung der Kunst nicht nur nicht für schlimm, sondern ganz im Gegenteil für gut, auch wenn er einige Folgelasten mit sich bringt. Die Ästhetisierung der Kunst ist primär die Emanzipation aus ihren Gebundenheiten, also auch die Entlastung vom Politischen; und diese Entlastung der Kunst vom Politischen - meine ich - gehört gerade zur modernen liberalen Demokratie. Man sollte hier nicht mit dem Satz kommen, daß man dem Politischen nirgendwo entgehen dürfe, weil alles Politik sei; denn das - alles ist Politik - ist ein totalitärer Satz. Liberal ist gerade, daß nicht alles politisch sein muß, auch die Kunst nicht. Zur Freiheitsverfassung der liberalen Demokratie gehört, wenn ich es richtig sehe,
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daß es in ihr überhaupt keine Wirklichkeitsgröße gibt, die alles ist: auch wenn alles Religion oder alles Bildung oder alles Wirtschaft oder alles Kunst wäre, wäre das schlimm. All diesem gegenüber muß das Individuum die Möglichkeit zur Distanz haben, und so gehört zur modernen liberalen Demokratie neben vielen anderen Freiheiten auch die Freiheit der Kunst von der Politik. Das schließt nicht aus, sondern gerade ein, daß diese Freiheit vom Politischen politisch verteidigt werden muß. Zugleich schließt es auch das Interesse der Kunst fürs Politische nicht aus: Die Kunst - das gehört sozusagen zur Logik ihrer Ästhetisierung - muß vielerlei und fast alles dürfen; aber sie muß nicht müssen, vor allem auch das Politische nicht, und schon gar nicht ist sie zur Nähe zu einer bestimmten Art des Politischen verpflichtet: etwa zur Verweigerung der Bürgerlichkeit und zur Apotheose des Ausnahmezustands. Vernünftig ist, wer den Ausnahmezustand vermeidet. Und vor allem: die konsequent ästhetische Kunst darf politisch sein, aber sie muß es nicht. Wie verträgt sich das jedoch mit folgendem Umstand: daß das Bedürfnis nach ästhetischer Repräsentation - nach politischer Repräsentation durch die Kunst - auch in der Demokratie fortdauert? Wie ist - in der modernen liberalen und bürgerlichen Demokratie - dieses Bedürfnis zu decken, wenn doch die Entlastung vom Politischen zur Ästhetisierung der Kunst und diese gerade zur Demokratie gehört? Auf diese Frage antworte ich mit zwei Hinweisen. Erstens: Die primäre Repräsentation der modernen repräsentativen Demokratie ist nicht die Kunst, sondern sind die Organe der Repräsentation des Souveräns, des Volks, also vor allem das Parlament. Hinzu kommen die anderen - geteilten - Gewalten dieser liberalen Staatsform, und erst dann kann man auch nach indirekten Repräsentationen Ausschau halten. Zweitens: In der liberalen Demokratie geschieht ihre ästhetische Repräsentation ganz und gar indirekt: indem sie die Kunst - dadurch, daß
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sie ihrer Freiheit Verfassungsrang gibt, aber auch durch Ehre und Geld - gerade ohne politische Repräsentationsauflagen fördert, also nicht zuletzt auch durch Entpflichtung der Kunst von der politischen Repräsentation. Die ästhetische Kunst ist also - in der liberalen Demokratie - entpflichtete Repräsentation. Ich bitte Sie, es einem Philosophieprofessor, der vor einem halben Jahr emeritiert, d. h. entpflichtet worden ist, nachzusehen, daß er diesen Begriff der Entpflichtung, der für ihn außerordentlich positive Konnotationen hat, hier zentral einsetzt und die aktuelle Kunst - auch und gerade in bezug auf die Politik - als entpflichtete Repräsentation beschrieben hat und beschreibt. Dadurch ist gewiß nicht das Gesamtverhältnis von Kunst und Politik charakterisiert. Aber es mag die Betonung dieses Entpflichtungsstatus der ästhetischen Kunst einen nicht unwichtigen Teil dieses Verhältnisses beleuchten, der freilich - wie das ganze Verhältnis von Politik und Kunst - kompliziert und für das Denken sperrig ist und bleibt und trotzdem philosophisch gedacht werden muß; denn: Philosophie ist, wenn man trotzdem denkt.3 Anmerkungen (von 2007) 1 Zit. nach: Arnold Gehlen, Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei (1960), Frankfurt a. M. / Bonn 31986, 5.150. 2 Ebd., S. 150f. 3 Eine Anwendung der Thesen dieses Textes ist inzwischen: Odo Marquard, »Der Schritt in die Kunst. Über Schiller und Heidegger«, in: Martin Heidegger, Übungen für Anfänger. Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, Wintersemester 1936137, hrsg. von Ulrich von Bülow, Marbach: Deutsche Schillergesellschaft, 2005, 5.191-206 (Marbacher Bibliothek 8).
Skepsis in der Moderne Überlegungen im Blick auf Heinrich Heine
Zu einer Philosophie, die auf sich hält, scheint in unserer Weltgegend und Zeit zu gehören, daß sie gegen das Bürgerliche ist. Herrschende Lehre wurde und ist, was ich hier nennen werde: die Verweigerung der Bürgerlichkeit. Ausgemacht scheint zu sein: Bürgerlichkeit ist schlimm, Verweigerung der Bürgerlichkeit ist gut. Fällig scheint der Angriff auf die bürgerliche Welt. Dadurch gewinnt jene Geschichtsphilosophie Konjunktur, die die Menschen antreibt, die bürgerliche Welt hinter sich zu lassen, um eine bessere und definitiv heile Welt zu erreichen. Seit Anfang der siebziger Jahre habe ich versucht, diese Position zu verlassen und zu bestreiten. Ich habe versucht - teils aus skeptischem Widerspruchsgeist, teils aus Verdruß am »Kritik« genannten Konformismus mit dieser Bürgerlichkeitsverweigerung -, dieser Negativierung des Bürgerlichen und dieser Positivierung seiner Verweigerung ausdrücklich entgegenzutreten und - durch Verweigerung der Bürgerlichkeitsverweigerung - ihre Bewertung zu berichtigen durch die These: In unserer gegenwärtigen Welt steht es nicht deswegen schlimm, weil es zuviel, sondern deswegen, weil es zuwenig bürgerliche Gesellschaft in ihr gibt; denn problematisch in unserer Gegenwartswelt ist nicht die Bürgerlichkeit, sondern ihre Verweigerung, so daß nicht zur Flucht aus der bürgerlichen Welt ermuntert werden muß, sondern zur Identifizierung mit der bürgerlichen Welt. Es gibt einige Dinge, die mir Schwierigkeiten machen bei dieser meiner These; und eines dieser Dinge ist der Umstand, daß ich Heinrich Heine - der ja nun zweifellos und gelinde gesagt nicht gerade ein Apologet der Bürgerlichkeit war - ausgesprochen mag: ich finde ihn stilistisch
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unwiderstehlich; und ~s gibt Inhalte seiner Poesie und Prosa, die ich unter gar keinen Umständen missen möchte. Daraus entsteht die Frage, die ich in diesem Vortrag erörtern will, nämlich: Wie kann man für die Bürgerlichkeit - also gegen die Verweigerung der Bürgerlichkeit sein und dennoch Heinrich Heine mögen? Ich möchte auf diese Frage folgende Antwort versuchen: Es sind seine Inkonsequenzen, die Heine wichtig und liebenswert machen;' es sind seine Fähigkeiten zur Abweichung von sich selbst, die seine Identität definieren, so wie es bei der bürgerlichen Welt ihre Oppositionshaltigkeit ist, die sie zustimmungsfähig machen. Anders gesagt: Es ist der Radikalitätsverzicht und die Skepsis, die die Sympathie für Heine und die Option für die bürgerliche Welt kompatibel machen. Das möchte ich in folgenden vier Abschnitten erläutern: 1. Annäherung an Heine; 2. Revolution; 3. Lob der Inkons~quenz; 4. Skepsis in .. der Moderne. Ich beginne meine Uberlegungen - den Ublichkeiten entsprechend mit Abschnitt: 1. Annäherung an Heine Heine sagt in seinen Texten - vor allem auch in seinen Prosatexten - häufig »ich«. Das gefällt mir; darum versuche ich, es ihm nachzumachen und auch meinerseits in diesem Vortrag »ich« zu sagen. Im kleinen einleitenden autobiographischen Rückblick meines ersten ReclamBändchens Abschied vom Prinzipiellen (1981) - dort, wo ich als »mein Genre« die »Transzendentalbelletristik« bezeichne - habe ich geschrieben: Der Ernst - das Intime, das Schwere - »schließt - wie ich vor allem bei Kierkegaard und Heine lernte - die Suche nach der leichten und pointierten Formulierung nicht aus, sondern gerade ein; das ästhetische Kompositions- und Formulierungsspiel ist nicht das Gegenteil, sondern ein Aggregatzustand des
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Ernstes: jener, der den Ernst so ernst nimmt, daß er es für notwendig hält, ihn aushaltbarer zu machen« (S. 9). In dieser Passage steht, was zutrifft: Heine hat - wie Kierkegaard - erhebliche Stilbedeutung und Lebensbedeutung für mich. Dabei hat es mit Heine und mir recht merkwürdig angefangen, sozusagen mit erheblichem Degout. Zuerst bin ich - damals noch sechzehnjährig - mit ihm in den ersten Februartagen 1945 intensiver konfrontiert worden, als ein Germanistik-Professor - der erste leibhaftige Professor, dem ich in meinem Leben gelauscht habe - im Allgäu vor Adolf-Hitler-Schülern, zu denen ich gehörte, über Heine sprach und jene These vertrat, die damals politisch verlangt wurde: Heine sei ein jüdischer Pseudodichter, der den Mangel an arischer Kreativität durch zersetzende Pointen zu verdecken versucht habe. Ich hatte damals wie gesagt: mit 16 - weder Kenntnis noch Phantasie, noch Mut, die geläufige Linientreue zu lockern und an dieser Deutung zu zweifeln. Nur eines war da passiert: ich - der seit diesem Vortrag etwa das »Leise zieht durch mein Gemüth« mit der Rose und dem Grüßen auswendig konnte und kann - war auf Heine aufmerksam geworden, zunächst - mit einem gewissen Prickeln im Bauch meines Gehirns - negativ; aber negative Aufmerksamkeiten können sich entwickeln. Es ist - nota bene - dies eines der für mich durch Eigenerfahrung erreichbaren Beispiele, die mich zweifeln lassen, daß Einflüsse immer nur linear laufen; auch zur Rezeption gehört - frei nach Hans Magnus Enzensberger - das »Zickzack«. Es hätte nämlich durchaus sein können, daß ich ohne die damals - in ganz und gar suspekter Form - geweckte Aufmerksamkeit auf Heine bei der Arbeit an meiner Kant-Dissertation in der ersten Hälfte der 50er Jahre über jene kleine Anmerkung auf Seite 8 in Friedrich Paulsens Kant-Buch von 1898,1 in der er auf die Kant-Sequenz von Heines Zur Geschichte der Religion und Philosophie in
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Deutschland beiläufig hinwies, glatt hinweggelesen hätte, während ich so - aufmerksam und neugierig geworden dort stutzte und mir dann diesen hinreißenden Text von Heine (von dem ich damals noch nicht wußte, daß er hinreißend ist) beschafft habe und seine Kant-Deutung - unter dem Titel »fortschrittsphilosophische [... ] Deutung«, die ich zusammengreifend mit der Kant-Deutung des Verdinglichungsaufsatzes aus Geschichte und Klassenbewußtsein von Lukacs 2 - in meiner Skeptischen Methode im Blick auf Kant von 1958 bei meiner »Inventur« rivalisierender »Kant-Deutungen« als eine der interessantesten Kantinterpretationen aufgeführt habe: »Kant ist« revolutionärer »Fortschrittsphilosoph«, oder, mit Heines Worten, »Kant war unser Robespierre«. Mein Philosophenkollege Wolfgang Wieland hat im Januar 1962 seine Hamburger Antrittsvorlesung über »Heinrich Heine und die Philosophie« gehalten und sie in der Deutschen Vierteljahrsschrift veröffentlicht mit einer Anmerkung »Zu Heines Kant-Deutung«' und mir damals - wir standen auf Sonderdruckaustauschfuß - einen Sonderdruck geschickt; vielleicht bin ich tatsächlich etwas mitschuld, daß er Anfang der 60er Jahre als Philosoph auf das Thema Heine gekommen war, was ja damals noch unüblich war, wenn man einmal Wolfgang Harichs Essay »Heinrich Heine und das Schulgeheimnis der deutschen Philosophie« von 19564 ausnimmt, den ich allerdings 1958 noch nicht gekannt habe. Mich hat damals - Mitte der 50er Jahre - Heine wegen einer philosophischen Position interessiert, die gut 10 Jahre später für die sogenannte 68er Studentenbewegung wichtig wurde: die Position der Revolutionsphilosophie. Daß das schon vor 1968 im Spiel war, ignorierten und ignorieren die 68er natürlich, die ohnehin mehr Verdrängungen angefangen als aufgehört haben. Ebenfalls noch vor 1968 bin ich dann erneut auf Heine gestoßen. Im dritten Kolloquium der Forschungsgruppe »Poetik und Her-
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meneutik« im .~eptember 1966 in Lindau über »Grenzphänomene des Asthetischen« hatte ich - den Regeln der Gruppe entsprechend, bei deren Tagungen nicht die Vorlagenverfasser, sondern jeweils gerade ein Nichtverfasser ein bis drei Teilnehmertexte für die Diskussion zu referieren hatte - die Aufgabe, die Vorlage von Wolfgang Preisendanz »Der Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik bei Heine« kurz zu referieren und - mit Fragen garniert - zu pointieren. Was ich damals gesagt habe, ist im dritten Band der »Poetik und Hermeneutik«5 nachlesbar; es war das Kurzresümee der damaligen Heine-These von Preisendanz: Heines Prosa ist die zur Publizistik transformierte Dichtung nach dem - wie Heine es formulierte - »Ende der Kunstperiode«, so daß - meinte Preisendanz mit einer großartigen Umkehrung des Themas der ganzen Tagung - seine soziale Schriftstellerei nicht sowohl ein Devianz- und »Grenzphänomen des Ästhetischen« ist, sondern vielmehr das Ästhetische, also etwa das der »Kunstperiode« Goethes, ein »Grenzphänomen« der Wirklichkeit. Heine öffnet - aus der ästhetischen Illusion heraustretend - für die Wortkunst den Blick auf die soziale Wirklichkeit, wodurch eine neue Optik des Schreibens notwendig wurde: die Optik des »Schriftstellers«. Das gefiel mir damals nicht nur wegen Wolfgang Preisendanz, der mir immer gefällt, sondern auch deswegen, weil es sich so lesen ließ, daß Heine als entscheidender Wendepunkt erschien: als Wende von der Periode der degagierten ästhetischen Kunst zur Periode der engagierten politischen Praxis. Was ich jetzt - ich fürchte: überwiegend zu Ihrem Unmut - quasi autobiographisch skizziert habe, möchte ich inhaltlicher erläutern nunmehr im Abschnitt:
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2. Revolution
Was mir damals an Heinrich Heine - der von den insgesamt gut schreibenden Junghegelianern mit Abstand am besten schrieb - inhaltlich vor allem wichtig war, war die Fürsprache für die Revolution. Das war bei der unmittelbaren Nachkriegsauseinandersetzung meiner Generation mit dem Nationalsozialismus üblich, weil man sich vor der Versuchung zur rechten Verweigerung der Bürgerlichkeit, der rechten Revolution, aus der man kam, schützen wollte durch die Konversion in die linke Verweigerung der Bürgerlichkeit, die linke Revolution, und indem man diesen Schritt dadurch bekräftigte, daß man den anderen vorwarf, ihn nicht radikal genug vollzogen zu haben und zu vollziehen: man entkam dem Tribunal, indem man es wurde. Darum hat auch mich 1958 jene Verbindung von linkem Geist und politischer Praxis fasziniert, die dann die Studentenbewegung - 10 Jahre später - noch einmal fasziniert hat. Heinrich Heines Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland schien zu dieser Verbindung von Philosophie und Revolution zu ermuntern: in der zuerst 1834 erschienenen französischen Übersetzung haben alle drei Teile der Schrift das Wort »revolution« in der Überschrift; und der dritte Teil interpretierte die klassische deutsche Philosophie als Spielart der Revolution, nämlich als Parallelaktion der Französischen Revolution: diese Philosophie - von Kant über Fichte und Schelling bis Hegelsei die geträumte französische Revolution. Dieser Topos stammt nicht von Heine: er taucht meines Wissens erstmals in Schellings Gedenkrede auf den Tod Kants von 1804 auf und wurde dann von Hege! in seinen ab 1805 gelesenen und ab 1816 wieder aufgenommenen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie wirksam verbreitet. Das nahm Heine - in der Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland von 1834 bzw. 1835 - auf und wurde von ihm
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schon vorher - 1831 - in der »Einleitung« zu »« formuliert; dort schrieb Heine: »Man vergleiche nur die Geschichte der französischen Revoluzion mit der Geschichte der deutschen Philosophie, und man sollte glauben: die Franzosen, denen so viel wirkliche Geschäfte oblagen, wobey sie durchaus wach bleiben mußten, hätten uns Deutsche ersucht unterdessen für sie zu schlafen und zu träumen, und unsre deutsche Philosophie sey nichts anders als der Traum der französischen Revoluzion« (DHA XI, 134). Darin - schien es -lag die Aufforderung, nun auch in Deutschland - vom Vormärz bis zur bundesrepublikanischen Gegenwart - das Träumen zu beenden, aus dem theoretischen Schlummer zu erwachen und zur revolutionären Praxis zu schreiten. Denn - um einen jüngeren Zeitgenossen und persönlichen Bekannten Heines zu zitieren -: »die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt darauf an, sie zu verändern.« In dieser Form - schien es - etablierte Heine jene Lehre, die man nun gerade auch in der Bundesrepublik alsbald als herrschende Lehre haben wollte: die Ablösung der Hermeneutik durch Revolution. Darum wurden bei Heine jetzt vor allem die Subversionen und Destruktionen interessant: daß er scheinbar Gegenwärtiges als in Wahrheit schon Vergangenes und Abgestorbenes durchschaute; also etwa: daß er - indem er den Theismus durch Pantheismus zu ersetzen trachtete, den er später »verschämten Atheismus« nannte - als Geheimnis der religiösen Reformation und als »Schulgeheimnis« der klassischen deutschen Philosophie, insbesondere des Hegelianismus, den Atheismus entdeckte; daß Heine die »deutschen Zustände« durch die »französischen Zustände« kritisierte: zum Geheimnis seines Patriotismus wurde das Exil, die Emigration. Heines Absicht schien: Gott beiseite zu räumen, um die Menschen zu vergöttern; den restaurativen Staat aufzulösen, um der Demokratie aufzuhelfen; das Bürgerliche anzugreifen, um seine Überwindung zu
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betreiben und - vgL »Deutschland. Ein Wintermährchen« - »hier auf Erden schon I Das Himmelreich [zu] errichten« (DHA IV, 92); Traditionen zu destruieren, um Autonomie zu erreichen. Und darum ging es ihm: das Alte aufzuheben, um dem Neuen Platz zu machen; und das Bürgerliche statt es zu befestigen - vielmehr zu überwinden. Dafür brauchte Heine eine neue Sprache: eine Sprache, die angreift, sozusagen Angriffspoesie und Angriffsprosa, die sich nicht mehr in die ästhetische Illusion und die »lügenden« Verse der ästhetischen Illusion flüchtet, sondern aus der ästhetischen Illusion heraustritt, sie hinter sich läßt durch - wie Heine es in der Auseinandersetzung mit Wolfgang Menzels »« (DHA X, 240), in »Französische Maler« (1831; DHA XII/I, 47) und im ersten Buch der »Romantischen Schule« (1835/36; DHA VIII/I, 125 u. 154) genannt hat - das »Ende der Kunstperiode«. Darum ist für Heine das Leitbild nicht mehr der absolute Dichter, also Goethe, und auch nicht mehr der absolute Philosoph, also Hegel, sondern der Schriftsteller (der, wie später Sartre sagen wird, »engagierte Schriftsteller«), der die Kunstperiode liquidiert und die Revolutionsperiode initiiert: der, der nicht mehr schön und absolut schreibt, sondern publizistisch, sozial und menschlich, also justament so wie eben Heinrich Heine. Dies - und vieles, was bei Heine dazugehörte - war für mich zwischen 1958 und 1968 positiv interessant und faszinierend; und es läßt sich gruppieren um das HeineStichwort »soziale Revolution« bzw. »große Revolution«. Erst dann - nach 1968 und im Gegenzug zum fiat utopia, pereat mundus der sogenannten Studentenbewegung verwandelte sich bei mir diese positive Faszination durch das Revolutionäre in Mißtrauen gegen das Revolutionäre. Wir sind - meinte ich nunmehr - nicht so gut gestellt, daß wir es uns leisten könnten, das Bestehende - und mit ihm das Gute im Bestehenden - einfach zu verwerfen. Die
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Verweigerung der Bürgerlichkeit - das Revolutionäre wurde mir zunehmend suspekt; und für immer nötiger hielt ich die Verweigerung der Bürgerlichkeitsverweigerung mit »mehr Mut . zur eigenen Bürgerlichkeit«. Dadurch - je deutlicher sich diese Position bei mir artikulierte und je mehr trotzdem meine Sympathie für Heine andauerte - wurde jene Frage unabweisbar, die ich eingangs als die zentrale Frage dieses meines Vortrags bezeichnet habe: Wie kann man zugleich für die Bürgerlichkeit - also gegen die Verweigerung der Bürgerlichkeit - sein und dennoch Heinrich Heine - den Unwiderstehlichen - mögen? Diese Frage nehme ich jetzt erneut auf, und zwar im Abschnitt:
3. Lob der Inkonsequenz Meine Antwort auf diese Frage hatte ich schon angedeutet: Es sind - bet der Sympathie für die Revolution, bei der Verweigerung der Bürgerlichkeit, beim Ende der Kunstperiode - die scheinbaren Inkonsequenzen, die Heine interessant und wichtig und liebenswert und faszinierend machen; und so gilt es, hier das zu betreiben, was Hans Magnus Enzensberger in seinen Politischen Brosamen als »Ende der Konsequenz« bezeichnet und gelobt hat. Denn bei Heine sind gerade die Inkonsequenzen bedeutsam, und zwar positiv; seine Identität ist entscheidend geprägt durch seine Nichtidentität, und zwar positiv. Wesentlich sind seine Abweichungen von sich selber: also gerade nicht der Radikalismus, sondern der Verzicht auf den Radikalismus; mit anderen Worten: die Skepsis. Um zu dieser Antwort zu kommen, muß man das positivieren, was die normale - die revolutionsfreundliche - HeineDeutung nur mit Irritierung bei Heine zur Kenntnis nimmt und als Verrat an der Aufklärung zu sehen neigt. Aber Heines scheinbare Abweichungen von sich selber
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gehören positiv zu Heif!.e: sie stehen - als Resultate seiner Skepsis - für Heines Modernität. Ich weise hier einschlägig auf nur drei Phänomene hin. Diese Hinweise sind ergänzungsbedürftig und ergänzungsfähig. Da ist: a) der Umstand, daß Heine schließlich zur alten Religion zurückkehrt: diese »Umwandlung [... ], welche in Bezug auf göttliche Dinge in meinem [Heines] Geiste stattgefunden« hat/ seine »Heimkehr zu Gott«, wie es im Nachwort zum Romanzero von 1851 heißt (DHA III/1, 179), bei der - wie Heine es in den Geständnissen 1854 formuliert - »das religiöse Gefühl wieder überwältigend in mir aufwogt« (DHA Xv, 42f.), so daß er wieder »der Allmacht eines höchsten Wesens« »huldigt« (DHA XV, 37). Das ist kein Verrat an der Aufklärung, sondern - wie es Hermann Lübbe in seinem schönen Aufsatz »Heinrich Heine und die Religion nach der Aufklärung« von 1982 interpretiert hat - der Normalverlauf moderner Mentalität unter der Bedingung erfolgreicher Aufklärung: je mehr Wirklichkeit die Menschen durch Aufklärung rationell beherrschen, desto mehr erfahren sie zugleich, was sie nicht rational beherrschen können, sondern was - z. B. als Kontingenzlage der »Matratzen gruft« - kontingent bleibt und unverfügbar. Darum brauchen sie - zusätzlich zur rationellen Verfügung - die Kontingenzbewältigung durch Religion. Die Religion stirbt modern nicht ab, sondern im Gegenteil: je aufgeklärter die moderne Welt wird, desto unvermeidlicher wird die Religion, schließlich auch und gerade für den Aufklärer Heine. Da ist: b) Heines Interpretation der klassischen deutschen Philosophie als Traum der Französischen Revolution in Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland: das ist - anders als jedenfalls ich es seit Mitte der 50er Jahre zunächst gelesen habe - nicht die Ermunterung der deutschen Philosophie, zur Revolution zu werden, sondern die Warnung davor. Der berühmte prognostische Schluß dt;r Schrift - daß die Deutschen die Revolution
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langsamer als die Franzosen, aber dafür um so schrecklicher Wirklichkeit werden lassen werden - warnt: die Verwandlung der absoluten Philosophie in die absolute Revolution - der »deutsche Donner« - führt zum gesteigerten Terror. Auch diese Warnung Heines vor der deutschen Steigerung der »terreur« ist kein Verrat an der Moderne und der Aufklärung; denn die Aufklärung und die Moderne kulminiert nicht in der radikalen Negation, sondern in der Skepsis. Da ist: c) der Radikalitätsverzicht Heines, wo er - als »genie du soup~on«, wie Stendhal das dann nannte - das »Ende der Kunstperiode« will und 4.en Anfang der Revolutionsperiode. Denn Heine hat das Asthetische nicht nur angegriffen, sondern auch bewahrt: er - der aggressive politische Schriftsteller - blieb zugleich ein »deutscher Dichter«. Er hat - wie u. a. Wolfgang Preisendanz es unterstrich - die Kunst zugleich fest gehalten und nicht die Agitation und »Tendenzpoesie« an ihre Stelle gesetzt. Heine mischt - vom Buch der Lieder bis zu den späten Prosaschriften - die Illusionierung mit der Desillusionierung: in jeder seiner Schriften, in jedem seiner Sätze lauert - auch stilistisch - ihr Gegenteil, so daß ihr Grundzug - indem sie etwas durch ihr Gegenteil sagen - die »Ironie« wird. Ich glaube, die Forschung über Heine, der sich brieflich »Meister der Ironie« nannte, hat noch zu wenig auf Heines jüngeren Zeitgenossen Kierkegaard geblickt, der sich selber »Magister der Ironie« nannte und u. a. in seiner Ironie-Dissertation von 1841 auf Heine Bezug nahm; ich zitiere Kierkegaard: »Es ist die allergewöhnlichste Form der Ironie, daß man mit ernster Miene etwas sagt, das doch nicht ernst gemeint ist. Die andere Form, daß man etwas zum Scherz, scherzend sagt, das ernst gemeint ist, kommt seltener vor«, meist - setzt Kierkegaard in seiner Anmerkung zu dieser Textstelle 7 fort - in »Verbindung mit einer gewissen Verzweiflung, und daher findet sie sich oft bei Humoristen, so z. B.« - betont Kierkegaard - bei »Heine«, und natürlich bei Kierkegaard sel-
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ber. Kierkegaards Ironie der »indirekten Mitteilung« und Heines Ironie der ästhei:ischen Negation des Ästhetischen sind eng verwandt miteinander, sozusagen existentielle Zwillinge: beide - die beide emphatisch »Schriftsteller« sein wollten - mit der Absicht, eine ironische und keine absolute Position zu haben, wie sich das für Skeptiker gehört. Heinrich Heine - das wollte ich hierdurch unterstreichen - bremst seine Radikalintentionen aufs Revolutionäre. Er tut dies, weil er keine Welt erträgt, die in bezug auf die »gute Sache« des einen einzigen Endzwecks und Ziels der Geschichte total instrumentalisiert ist, und weil er es nicht erträgt, selber so instrumentalisiert zu werden, weder restaurativ noch revolutionär. Heine wahrte schlechthin seine Freiheit, ein Einzelner, ein Individuum zu sein; darum pflegte er auch seine Inkonsequenzen und seine Abweichungen von sich selbst, und seine Position war und wurde der Radikalitätsverzicht. Dazu jetzt noch einige Bemerkungen im abschließenden Abschnitt:
4. Skepsis in der Moderne Heine ist nicht für das Extreme, das Radikale, das große Pathos schon gar nicht des rechten, aber auch nicht des linken Ausnahmezustands. Vernünftig ist, wer den Ausnahmezustand vermeidet. Die Sache von Heinrich Heine - das wollte ich durch meine bisherigen Überlegungen andeuten - war nicht der Radikalismus, sondern die Skepsis. Aber was ist Skepsis? Skepsis ist der Sinn für Gewaltenteilung bis hin zur Teilung auch noch jener Gewalten, die die Überzeugungen sind. Skeptiker ist nicht der, der - als Inhaber geballter Ratlosigkeit - gar keine Position hat, sondern zu viele; Skeptiker ist einer, der zweifelt, weil er mehrere - mindestens, wie das Wort Zweifel sagt, zweiSeelen in seiner Brust, mehrere - mindestens zwei - Ten-
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denzen in seinem Leben, mehrere - mindestens zwei Geschichten in seiner Wirklichkeit hat, und der mehrere mindestens zwei - Positionen vertritt, die einander durch »isosthenes diaphonia« neutralisieren. Heine ist kein Monist; er tritt nicht für ein einziges Wirklichkeitsverhältnis ein, sondern - mindestens - für zwei: für die Emanzipation und für die Religion; für die Revolution und nicht für die Revolution; für das Ende der Kunstperiode und doch für die Kunst und das Ästhetische. Das macht ihn unbequem: nicht nur für Restaurative, sondern gerade auch für Emanzipatoren; denn er vermeidet - meine ich - ebenso die radikale Affirmation wie die radikale Negation und verärgert dadurch die Anhänger von beiden. So ist seine Sache - ich wiederhole es - nicht der Radikalismus, sondern der Radikalismusverzicht durch Gewaltenteilung: eben die Skepsis. Darin - meine ich - liegt zugleich die Modernität Heines. Denn die moderne Welt insgesamt: das ist das Zeitalter der Gewaltenteilung. Die moderne Welt neutralisiert die eine einzige absolute Position durch Pluralisierung der Positionen und macht gerade dadurch die moderne Wirklichkeit individualitätsfähig. Denn individuelle Freiheit gibt es für Menschen nur dort, wo sie nicht dem Alleinzugriff einer einzigen Alleinmacht unterworfen sind, sondern wo mehrere - voneinander unabhängige - Wirklichkeitsmächte existieren, die - beim Zugriff auf den Einzelnen durch Zugriffsgedrängel einander wechselseitig beim Zugreifen behindern und einschränken. Einzig dadurch, daß jede dieser Vielzahl von Wirklichkeitspotenzen - Geschichten, politische Formationen, Wirtschaftskräfte, Sakralgewalten, Überzeugungen, Üblichkeiten und Traditionen, Kulturen - den Zugriff jeder anderen einschränkt und mildert, gewinnen die Menschen ihre Distanz und individuelle Freiheit gegenüber dem Alleinzugriff einer jeden. So lebt das Individuum - gerade das moderne - von der Gewaltenteilung: sola divisione individuum.
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Darum sind die wirklich modernen Philosophien der Moderne nicht die, die beanspruchen, die eine einzige absolute und absolut wahre Position zu haben, wie Metaphysiken es tun und die geschichtsphilosophischen Welterlösungsphilosophien. Die eigentlichen modernen Philosophien der Moderne sind skeptische Philosophien, vor allem die der Moralistik, in deren Tradition - meine ich Beinrich Beine gehört. Das Wort »Moralist« wird im heutigen Klima der Bypermoralisierung häufig falsch verwendet: bei uns wird heutzutage gern derjenige ein Moralist genannt, der - stets mit flammender Empörung und häufig durchs Vergessen seines Kopfes - nur noch aus erhobenem Zeigefinger besteht. Demgegenüber muß man hier an die historische Formation der Moralistik - ab Montaigne und einschließlich Montesquieus und seiner Gewaltenteilungsphilosophie - denken, die den Menschen nicht durch das charakterisiert, was er sein soll, sondern durch seine »mores«, »mreurs«, »morals«, die er ist und die stets viele sind, gerade in der modernen Welt, dem Zeitalter der Gewaltenteilung: ihr Grundsinn ist der Sinn für die Gewaltenteilung, die Aufklärung der Skepsis. Darum gehört zur modernen Welt - insbesondere zur entwikkelten liberalen bürgerlichen Welt - in dieser Pluralität stets auch ihr Gegenteil: die Institutionalisierung der politisch-rechtlichen und der kulturell reflexiven Opposition, also etwa Beine, so wie zu Beine - dem behutsamen Revolutionär - immer auch noch sein Gegenteil gehört: die Religion, die Warnung vor der Revolution und die Kunst. Das macht beide - die oppositionshaltige bürgerliche Welt und den in sich selber oppositionshaItigen Beine - kompatibel. Darum kann, wer Beine mag, zugleich die bürgerliche Welt mögen, und wer die bürgerliche Welt mag, zugleich Beine mögen. Denn zu beiden gehört, daß die Aufklärung - für die es unverzichtbar einzutreten gilt - nicht im emanzipatorischen Radikalismus kulminiert, sondern in der Skepsis.
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Anmerkungen 1 Friedrich Paulsen, Immanuel Kant. Sein Leben und seine Lehre, Stuttgart 1898. 2 Georg Lukacs, »Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats., in: G. L., Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin 1923, S. 94-228. 3 Wolfgang Wieland, »Heinrich Heine und die Philosophie., in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Stuttgart 1963, S.232-248, hier S. 237: »[VgI.] die lehrreichen Ausführungen von O. Marquard: Skeptische Methode im Blick auf Kam. Freiburg, München 1958, S.41ff.• 4Wolfgang Harich, »Heinrich Heine und das Schulgeheimnis der deutschen Philosophie., in: Sinn und Form (Berlin) 8 (1956), H. 1, S. 27-59. 5 Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen, hrsg. von Hans Robert Jauß, München 1968 (Poetik und Hermeneutik, Bd. 3), S. 629ff. bzw. S. 707ff. 6 Vorrede zur 2. Auflage der Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland von 1852; Heinrich Heine, Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke [Düsseldoder Heine-Ausgabe], hrsg. von Manfred Windfuhr, 16 Bde., Hamburg 1975-97 [zit. als: DHA mit Band-, Teil- und Seitenangabe; Texte innerhalb der diakritischen Zeichen < > sind Ergänzungen des Bandherausgebers.]; hier: DHA VIII/I, 499. 7 S",ren Kierkegaard, Ueber den Begriff der Ironie, hrsg. von Emanuel Hirsch, Düsseldod 1961; Gesammelte Werke, Bd.31, S.252.
Die Philosophie der. Geschichten und die Zukunft des Erzählens Vor 50 Jahren - also 1953 - erschien von Wilhelm Schapp, dem Auricher Rechtsanwalt und Notar und zweiten philosophischen Promovenden von Edmund Husserl, als Spätwerk das Buch In Geschichten verstrickt, das - im Gegenzug gegen die Wesensphänomenologie der klassischen phänomenologischen Tradition - die Phänomenologie der Geschichten begründete. In meinem eigenen Exemplar der damaligen ersten Auflage steht, von mir selber eingetragen: »Odo Marquard, Dezember 1953, Geschenk des Verfassers«. Wilhelm Schapp hatte mir das Exemplar, auf Anregung von Hermann Lübbe, zugeschickt, damit ich schon einen Lektüreeindruck hatte beim gemeinsamen Besuch von Hermann Lübbe und mir bei Schapp, es war wohl Anfang 1954, wo ich von Norderney aus, wo meine Familie bei einer Tante, die dort Lehrerin war, als hinterpommersche Flüchtlingsfamilie Unterkunft gefunden hatte, kurz nach Aurich kam: mit Schiff nach Norddeich und dann per Bahn, umsteigen in Abelitz. Dies war auch für mich eine eindrucksstarke Begegnung, für die ich Wilhelm Schapp dankbar bin. Wenn ich heute auf mein Leben, das ein philosophierendes Leben geworden ist, zurückblicke, dann stelle ich fest: als leibhaftig mir begegnendem Denker gehört Wilhelm Schapp zu den fünf oder sechs Philosophen, auf die ich immer wieder zurückkomme. Ich möchte in diesem Beitrag erläutern, warum das so ist, und ich unterstreiche es durch zwei Thesen, in denen ich Wilhelm Schapps Philosophie der Geschichten ebenso aufnehme, wie in meiner Weise ein wenig weiterführe. Meine These 1 lautet, ganz im Sinne von Wilhelm Schapp: Die Menschen, das sind ihre Geschichten; darum ist das Erzählen von Geschichten
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unvermeidlich. Meine These 2 lautet: Es bleibt - trotz der Tendenz der modernen Welt zur »Geschichtslosigkeit« kompensatorisch dazu auch in Zukunft das Erzählen von Geschichten ganz und gar unvermeidlich; narrare necesse est. Ich erläutere das hier in vier Abschnitten, den folgenden: 1. Wiederkehr des Historizismus; 2. Die Geschichten und das Erzählen; 3. Die moderne Geschichtslosigkeit und die Frage nach der Zukunft des Erzählens; 4. Der historische Sinn, der Siegeszug des Romans und die Ausbildung der Geisteswissenschaften. 1. Wiederkehr des Historizismus Ich war damals, als ich Wilhe1m Schapp zuerst traf, ein Student der Philosophie von 25 Jahren: ein gutes halbes Jahr später wurde ich - mein eigentlicher philosophischer Lehrer Joachim Ritter aus Münster lehrte damals vorübergehend in der Türkei - in Freiburg bei Max Müller promoviert, Korreferent war Wilhelm Szilasi. Für mich war übrigens damals - mit 25 Jahren - noch völlig ungewiß, was meine Zukunft bringen würde; denn ein Philosophiestudium war auch damals normalerweise nicht der Beginn einer strahlenden Karriere, sondern eher der Beginn einer persönlichen Tragödie. Darum beeindruckte mich vor allem auch der Weg, den Wilhe1m Schapp gegangen war. Nicht zuletzt um fürs Philosophieren ökonomisch hinreichend abgesichert zu sein, war Schapp Jurist geworden. Er begann anwaltlich zu arbeiten und spezialisierte sich auf das im Bürgerlichen Gesetzbuch wegen seiner Kompliziertheit ausgeklammerte Sielrecht. Wenn die Siele zu viel Wasser führten und gaben, prozessierten die Bauern, wenn die Siele zu wenig Wasser führten und gaben, prozessierten die Schiffer. Die Sache schien Wohlhaben zu versprechen, doch dann kam der Erste Weltkrieg, die Inflation, der Zweite Weltkrieg: was als Übergangsphase in
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die Philosophie geplant war, wurde lebenslange Berufsarbeit, und erst der Ruheständler Schapp konnte das machen, was er ursprünglich alsbald beruflich machen wollte: er konnte philosophieren. Und so erschien das Buch In Geschichten verstrickt, dessen 50. Erscheinungsjahr wir begehen, erst als Spätwerk, nämlich 1953, dem dann alsbald - im Jahr 1959 - die Philosophie der Geschichten folgte. Wilhelm Schapp, der von 1884 bis 1965 lebte, war - ich sagte es schon - der zweite Promovend des Begründers der Phänomenologie, von Edmund Husserl. Es war die Göttinger Zeit Husserls, und noch war nicht absehbar, welche Weltbewegung in der Philosophie Husserls Phänomenologie bewirken sollte: es waren in Göttingen nach Schapp vor allem Reinach, Hering, Koyre, Roman Ingarden, Hedwig Conrad-Martius, Edith Stein, es waren dann Max Scheler, Nicolai Hartmann, und dann in Freiburg Martin Heidegger, auch Plessner, Landgrebe, Fink, Szilasi; es waren P{!ter van Breda, Sartre, Merleau-Ponty, Levinas und auch Ricceur bis hin zu Blumenberg und bis zu den Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Forschung, die teilweise hier anwesend sind. Schapps Doktorarbeit von 1909 hieß Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung und erschien 1910. Der "Phänomenologie« ist Schapp treu geblieben, auch wenn er schließlich - dies aber erst nach seiner Neuen Wissenschaft vom Recht von 1930 und 1932 - die Sachverhaltsund Wesensphänomenologie in die Phänomenologie der Geschichten verwandelte. Darum war Wilhelm Schapp für mich alsbald der, bei dem man lernen konnte, was die Phänomenologen, die - man denke an Husserl selber, etwa an seine Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913) und an die Cartesianischen Meditationen (1931) - in der Regel sehr abstrakte und enorm schwierige Bücher geschrieben haben, in Wirklichkeit und in concreto wirklich taten, sozusagen
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das Berufsgeheimnis der phänomenologischen Schule: daß sie - unterwegs »zu den Sachen selbst« - ganz konkrete Beobachtungen und ergiebige Beschreibungen lieferten; und es waren diese frühen Begegnungen mit Wilhelm Schapp, später auch kurz in Münster, die mir hier für das Verständnis der Phänomenologie hilfreich waren. Der frühe Schapp schrieb: »Nur was geschaut ist, gehört in die Philosophie«; und ein anderer Phänomenologe, der schon genannte Wilhelm Szilasi, forderte in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre seine Schüler auf: »Denken Sie sinnlich!« und »Denken Sie dumm!«. Das war jene phänomenologische Sachlichkeitseinstellung, die in jener kurzen Geschichte - Stichwort: Abschattungsanalyse - zum Ausdruck kommt, in der ein Phänomenologe und ein Nichtphänomenologe an einer großen Schafherde vorbeikommen. Der Nichtphänomenologe sagt: Die Schafe dieser Herde sind allesamt frisch geschoren. Drauf der Phänomenologe: Wenigstens auf der Seite, die sie uns zukehren. Diese konkrete Phänomenologie also hat Wilhelm Schapp bei Husserl gelernt. Aber er hat sie - peu a peu und in gründlichem Nachdenken - verwandelt zu jener Phänomenologie der Geschichten, die zuerst 1953 in dem Buch In Geschichten verstrickt in die Welt trat. Für junge Philosophen war damals - und für ältere heute - faszinierend zu sehen, wie diese phänomenologische Bewegung von der Sachverhalts- und Wesensphänomenologie Husserls zur Geschichtenphänomenologie Wilhelm Schapps nicht im akademischen Raum - wo vor allem Martin Heidegger den Weg vorgab -, sondern in der phänomenologischen Klause in Aurich in Ostfriesland ihren radikaleren Weg gegangen ist. In Aurich ist nicht nur Rudolf Eucken geboren, der einzige philosophische Nobelpreisträger Deutschlands, sondern eben auch Wilhelm Schapp, der die Phänomenologie der Geschichten begründet hat. Und es ist ein dritter Philosoph aus Aurich gewesen, nämlich Hermann Lübbe, der Wilhelm Schapps Weg in die Phäno-
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menologie der Geschichten zuerst in der Form einer großen Abhandlung in der' Tijdschrift voor Philosophie schon 1954 - im Band 16 auf den Seiten 639-666 - geltend gemacht und interpretiert hat als »Das Ende des phänomenologischen Platonismus«: daß Husserls Phänomenologie der Ideen und Wesen zu Schapps Phänomenologie der Geschichten wird. Ich habe 1963 in meiner Habilitationsschrift Transzendentaler Idealismus, Romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse zu Anfang des Buchs - durchaus mit Rücksicht auf Lübbes These - diese Bewegung nachgezeichnet und »Wiederkehr des Historizismus« genannt. Der Gegner der frühen Phänomenologie war der »Psychologismus« und betont vor allem in Husserls Logos-Aufsatz Philosophie als strenge Wissenschaft von 1910/11 - der »Historizismus«, der bei Husserl vor allem durch Wilhe1m Dilthey repräsentiert ist. Wenn die Philosophie - meint der frühere Husserl - streng allgemeingültige Wissenschaft sein will, ist es nicht möglich, sie auf die Tatsachenwissenschaften »Psychologie« und »Historie« zu gründen: jede Philosophie - dekretiert der »Historizismus« - ist zeitgebunden und darum nicht allgemein gültig. Darum muß die auf Allgemeingültigkeit bedachte Philosophie - will sie nicht im Skeptizismus landen - zur Phänomenologie werden, die keine Tatsachenwissenschaft, sondern Prinzipien- und Wesenswissenschaft ist. Aber nun passiert das Merkwürdige: 1900 - im Jahr von Husserls Logischen Untersuchungen, dem von Husserl angeblich bewirkten Todesjahr von »Psychologismus« und »Historizismus« - erscheint Freuds Traumdeutung: mit der Psychoanalyse kommt es alsbald gerade in der Philosophie zu einer »Wiederkehr des Psychologismus«, die gerade die Lebensgeschichten zum großen Thema macht. Und mit der - über das Thema Subjektivität sich fortentwickelnden - Phänomenologie kommt es zu einer »Wiederkehr des Historizismus«, die zunehmend die Geschichte zum zentralen Thema erhebt.
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Es war Husserl selber - durch seine »genetische Phänomenologie« - und im entscheidenden Maße Martin Heidegger durch seine phänomenologische Daseinsanalytik der »Sorge«, der hier den Weg vorgab; bei Heidegger - etwa durch die in Sein und Zeit von 1927 mehrfach zitierte Yorckvon-Wartenburg-Formel von der »generischen Differenz zwischen Ontischem und Historischem« (der Urformel von Heideggers »ontologischer Differenz«, die in ihren Intentionen durchschaubarer war, als sie noch ein Yorckvon-Wartenburg-Zitat gewesen ist) - wird die Geschichte zum entscheidenden philosophischen Pensum: der - nunmehr phänomenologische - Historizismus kehrt wieder. Und diese »Wiederkehr des Historizismus« wird dann im Jahre 1953 durch das Buch In Geschichten verstricktin einem phänomenologischen Ansatz schlechthin zentral: nämlich in der Phänomenologie der Geschichten von Wilhelm Schapp. 2. Die Geschichten und das Erzählen
Wilhelm Schapps entscheidende These ist, ich wiederhole sie, diese: Die Menschen, das sind ihre Geschichten; darum ist - für alle »in Geschichten Verstrickten«, und das sind wir alle - das Erzählen von Geschichten unvermeidlich: narrare necesse est. Wir Menschen - das erinnert bei Schapp an Heideggers Analyse des »Zuhandenen« und des »Zeugs«, die Schapp anfangs nicht kannte - erschließen die Welt zunächst primär durch »Wozudinge«; unsere Welt zeigt sich (um einen Ausdruck von Jost Trier zu gebrauchen) als »Wirk- und Notwelt«. Der theoretische Blick ist das Sekundäre: der Mensch ist - schon zunächst - durch Wozudinge in seine Wirk- und Notwelt »verstrickt«. Der entscheidende Schritt von Wilhelm Schapp - mit dem er in Gegensatz zu seinem Lehrer Husserl selbst in
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dessen späterer »genetischen Phänomenologie« tritt - ist die Entdeckung, daß die Menschen ihre Geschichten sind: »Die Geschichte steht für den Mann«, d. h. den Menschen; und die Welt der Menschen ist nicht primär ihre Gegenstands- und Sachverhaltswelt, sondern die Welt jener Geschichten, in die sie »verstrickt« und »mitverstrickt« sind: nicht als »Fälle«, sondern als Eigengeschichten, Fremdgeschichten und Wirgeschichten. Ich möchte vier zentrale Punkte dieser These Schapps hervorheben, so, wie ich selber sie seit damals in wiederholtem Nachdenken mir klargemacht habe, wobei ich überhaupt nicht ausschließe, daß meine Überlegungen mit Überlegungen anderer - und besonders wichtig waren dabei sicher Diskussionen mit Hermann Lübbe bis hin zu seinem Buch Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse von 1977 und darüber hinaus bis zu Im Zug der Zeit - zusammengeflossen sind; schon im Sommersemester 1957 habe ich als wissenschaftlicher Assistent in Münster Schapps In Geschichten verstrickt zum Mitthema meines zweiten Seminars gemacht: meiner Erinnerung nach war die damalige Referentin des Schapp-Buchs die später hochkarätige Germanistin Renate von Heydebrand. Ich hebe hier vier Punkte hervor: a) Wilhelm Schapps Phänomenologie der Geschichten betont: die Menschen, das sind ihre Geschichten. Ich - der ich zuweilen etwas merkwürdige Denkspiele unternehme - habe seinerzeit, um mich nicht gleich an die Menschen heranzuwagen, meine entsprechenden Schapp-Überlegungen an einem Dackel (vorsichtshalber an einem Dackel: ich habe nie einen gehabt) unternommen: dieser Dackel, nennen wir ihn Adelzahn, ist weder Wissenschaftsobjekt noch Wissenschafts subjekt, er unterliegt nicht dem ontologischen Substanz-Akzidenz-Schema und ist also nicht Substanz als Akzidenzienchef z. B. mit kalter Nase, spitzem Schwanz und freitragend durchhängendem Bauch, sondern - das ist die Pointe - dieser Dackel Adelzahn ist
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der, der Tante Rosalinde gebissen hat. Wenn man jetzt weitergeht - meint Schapp - zu den Menschen: sie sind natürlich nicht die, die Tante Rosalinde gebissen haben, aber - das ist Schapps Pointe - sie sind ihre Geschichten. Schapp - meine ich - unterstreicht beim Menschen die »der, der ... «-Struktur: jeder Mensch ist »der, der ... « bzw. »die, die ... «; und wer er dann genauerhin ist, das sagen immer nur seine Geschichten. Jeder Mensch ist sein Lebenslauf: ein Ensemble seiner Geschichten. Ich bin der, der 1960 meine Frau geheiratet hat; meine Frau ist die, die 1960 mich geheiratet hat. Kolumbus ist der, der Amerika entdeckt hat. Rotkäppchen ist die, die - zunächst - vom Wolf gefressen wurde. Odysseus ist der, der zwanzig Jahre für seine Heimkehr aus Troja brauchte. Menschen sind immer »die, die ... «; und bei jedem von uns - und bei jedem anderen Menschen - stehen für uns selber und für jeden anderen seine Geschichten: die, in die er verstrickt ist, und die, in die er mitverstrickt ist. b) Wilhelm Schapps Phänomenologie der Geschichten - und ich gebe gern zu, daß mir das in seiner vollen Bedeutung erst aufgegangen ist nach dem Poetik-und-Hermeneutik-Kolloquium 5 »Geschichte: Ereignis und Erzählung«, das von Reinhart Koselleck und Wolf-Dieter Stempel 1970 auf der Insel Reichenau ausgerichtet wurde - Schapps Phänomenologie der Geschichten betont zentral die Pluralität der Geschichten: darum heißen Schapps Bücher In Geschichten verstrickt und Philosophie der Geschichten. Man hat nicht nur eine Geschichte; man muß viele Geschichten haben dürfen: darauf kommt es an. Wer als Mensch - für sich selbst und zusammen mit allen anderen Menschen - nur eine einzige Geschichte haben darf, die singularisierte Totalgeschichte der Weltverbesserung und fortschreitenden Diesseitserläsung, an der jedermann unentwegt arbeiten muß und der er sich nicht in Sonder geschichten entziehen darf, der ist schlimm dran. Nur wer an vielen Geschichten teilnimmt, hat - durch
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Teilung jener Gewalten, die die Geschichten sind - durch die jeweils eine Geschichte Freiheit von der jeweils anderen Geschichte. Wer nur eine einzige Geschichte hat, hat diese Freiheit nicht. Darum ist Wilhelm Schapps Phänomenologie der Geschichten für den Pluralismus der Geschichten. (Nota bene: Man kann viele Geschichten und einen Gott haben; man kann polymythisch sein und monogam.) c) Wilhelm Schapps Phänomenologie der Geschichten betont, daß die Menschen - eben weil sie in Geschichten verstrickt sind - nicht primär Akteure sind; sie sind Wesen, bei denen Aktionen und Kontingenzen sich legieren, Handlungen und Zufälle sich mischen. Denn Geschichten, das sind: Handlungs-Widerfahrnis-Gemische. Sie sind nicht ausschließlich naturgesetzliche Abläufe und nicht ausschließlich geplante Handlungen, weil sie zu Geschichten erst dann werden, wenn ihnen etwas dazwischenkommt. Meine Frau und ich haben, ich erwähnte es schon, 1960 geheiratet: das war eine echte Geschichte: wir sind einander dazwischengekommen. Einen Lebenslauf ohne Kontingenzen gibt es nicht: wir sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Leistungen. Wenn Kolumbus Indien amerikalos erreicht hätte, wenn Rotkäppchen die Großmutter wolflos besucht hätte, wenn Odysseus ohne Zwischenfälle schnell nach Hause gekommen wäre, wären das eigentlich keine Geschichten gewesen: vorher gäbe es - als Voraussage oder Planung - die Prognose, hinterher nur die Feststellung: es hat geklappt. Denn Geschichten - in die die Menschen verstrickt oder mitverstrickt sind - sind Aktions-Kontingenz-Legierungen, sie sind HandlungsWiderfahrnis-Gemische. d) Wilhelm Schapps Phänomenologie der Geschichten betont darum, daß Geschichten - in die die Menschen verstrickt oder mitverstrickt sind - erzählt werden müssen, z. B. um die Geschichten fortzusetzen. Das folgt daraus, daß Geschichten keine prognostizierbaren Naturabläufe
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und keine planbaren Handlungen sind: erst wenn ihnen etwas - nicht prognostizierbar und nicht planbar - dazwischen kommt, werden sie zu Geschichten. Es sind die Kontingenzen, die Zufälle, die sie zu Geschichten machen. Erst wenn einem geregelten Ablauf oder einer geplanten Handlung ein unvorgesehenes Widerfahrnis widerfährt, müssen sie - als Geschichten - erzählt werden. Und dann können sie auch nur erzählt werden; derin in der Regel weiß man erst hinterher, ob es eine Geschichte ist. Darum müssen Geschichten - Handlungs-Widerfahrnis-Gemische - erzählt werden. Wir Menschen sind unsere Geschichten; Geschichten muß man erzählen; darum müssen wir Menschen erzählt werden. Wer auf das Erzählen verzichtet, verzichtet auf seine Geschichten. Wer auf seine Geschichten verzichtet, verzichtet auf sich selber: narrare necesse est.
3. Die moderne Geschichtslosigkeit und die Frage nach der Zukunft des Erzählens Diese vier Punkte wollte ich aus Wilhelm Schapps Phänomenologie der Geschichten hervorheben, deren These ist: Die Menschen, das sind ihre Geschichten, die erzählt werden müssen. Ich wollte es vor allem deswegen hervorheben, um eine Frage zu stellen, die mir dringlich scheint: sie betrifft die Zukunft der Phänomenologie der Geschichten und die Zukunft des Erzählens. Es besteht nämlich, scheint es, eine Spannung zwischen Wilhe1m Schapps Phänomenologie der Geschichten und jener großen Tendenz, die für die moderne Welt - auch für ihre Philosophie - charakteristisch ist: nämlich der Tendenz gegen die Geschichten und für die Geschichtslosigkeit, der Tendenz gegen das Erzählen, gegen das Narrative. Das gibt der entscheidenden Frage dieses Beitrags ihr zentrales Gewicht: Gibt es eine Zukunft für die Geschich-
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ten? Gibt es eine Zukunft für das Erzählen? Gibt es eine Zukunft für die Phänomenologie der Geschichten? Man wird nicht bezweifeln: die moderne Welt beginnt dort, wo die Menschen - durch exakt wissenschaftliche, technische, ökonomische, informationelle Rationalisierung - ihre Wirklichkeit in großem Stil in laborfähige Objekte und planbare Handlungen verwandeln. Das gelingt dort, wo die Menschen methodisch aus ihren herkunftsgeschichtlichen Traditionen heraustreten und austauschbar werden. Nur so können die modernen Naturwissenschaften welteinheitlich messen, experimentieren und zu traditionsunabhängig überprüfbaren Resultaten kommen; nur so kann die moderne Technik gewachsene Traditionswirklichkeiten durch artifizielle Funktionswirklichkeiten ersetzen; nur so kann die moderne Wirtschaft durch Rekurs auf die traditionsneutrale Einheitsgröße Geld - Produkte zu Waren des globalen Handels machen; nur so - durch die von traditionellen Sprachen unabhängigen Daten- und Bild-Systeme - werden Informationen immer schneller weltweit kommunizierbar. Das alles also die Modernisierungen in einer ständig beschleunigten Fortschrittswelt - ist nur dort möglich, wo es mit Absicht gleichgültig wird, in welchen lebensgeschichtlichen Zusammenhängen - in welchen sprachlichen, religiösen, familiären, kulturellen Traditionen und Geschichten - die Wisser oder Macher und das Gewußte oder Gemachte stehen: die modernen Rationalisierungen - die den austauschbaren Menschen inmitten von austauschbaren Sachwelten verlangen - leben von der vorsätzlichen Neutralisierung der lebensweltlichen Geschichten: von der Negation der Geschichten und des Erzählens. Bedeutet das - diese Frage zu stellen ist nötig und unvermeidlich - bedeutet das das Ende der Geschichten? Ist eine Phänomenologie der Geschichten - wie Wilhelm Schapp sie vorschlug - nur ein philosophisches Auslaufmodell? Blickt sie zurück auf das, was einstmals - vormo-
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dem - war und nun - modern - nicht mehr ist: sind heute die Geschichten und das Erzählen zu Ende? Wie steht es mit der Zukunft der Geschichten und der Zukunft des Erzählens? Sterben die Geschichten - stirbt das Erzählen modern ab? Ich antworte darauf im abschließenden Abschnitt:
4. Der historische Sinn, der Siegeszug des Romans und die Ausbildung der Geisteswissenschaften In der modernen Welt sterben die Geschichten nicht ab, und das Erzählen ist nicht zu Ende. In der gegenwärtigen Wirklichkeit passiert etwas ganz anderes: es kommt - gerade in der modernen Welt und trotz ihrer Geschichtslosigkeit - ganz im Gegenteil zur großen Konjunktur der Geschichten und zum Siegeszug des Erzählens. Ich gehöre - einige von Ihnen wissen das - zu den Kompensationstheoretikern, die an allen möglichen und unmöglichen Stellen mit dem Kompensationsbegriff kommen. Ich tue das auch hier. Das hat den Nachteil, daß es einige Leute ärgert, aber es hat den Vorteil, daß es stimmt. Angesichts der modernen Geschichtslosigkeit kommt es - kompensatorisch - zum großen Ausgleich durch die Konjunktur der Geschichten und des Erzählens. Denn wenn in der modernen versachlichten Welt die Geschichtslosigkeit herrscht, heißt das ja nicht, daß man die Geschichten einfach streichen kann, sondern es bedeutet die Frage: Wer wenn nicht die Versachlichungen - kümmert sich dann um die Geschichten und das Erzählen? Ich stelle fest: die moderne Welt ist keineswegs nur die Welt der rationalisierungsermöglichenden Neutralisierung der lebensweltlichen Geschichten, sondern dieselbe moderne Welt ist auch die Welt ihrer Kompensationen, und zwar gerade durch Organe für Geschichten und für das Erzählen von Geschichten. Wo die modernen Versachlichungen die Ge-
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schichten ausklammern, werden die Geschichten - zum Ausgleich - gerade festgehalten und zentralisiert: die moderne Welt ist zugleich die Welt der Geschichtslosigkeit und die Welt der - kompensatorischen - Vergeschichtlichung. Gerade das macht Wilhelm Schapps Phänomenologie der Geschichten geltend. Es macht sie nicht nur nicht obsolet, sondern in besonderer Weise wichtig. Ich nenne hier - ohne Vollständigkeitsprätention - drei dieser geschichtsfesthaltenden Kompensationen. Spezifisch zur modernen Welt gehört: a) die Ausbildung des historischen Sinns. Gerade weil die moderne Welt »geschichtslos« wird, wird in ihr - wie nirgends sonst und niemals zuvor - das Geschichtliche zum großen Positivthema. Weil die Geschichten scheinbar verschwinden, müssen gerade sie in besonderer Weise festgehalten werden: je mehr wir rationalisieren, um so mehr müssen wir erzählen. Die moderne Welt verzichtet nicht nur nicht auf die Geschichten, sie muß gerade sie - kompensatorisch - bewahren. Noch nie wurde so viel weggeworfen wie heutzutage; noch nie wurde so viel aufbewahrt wie heutzutage: wir leben nicht nur im Zeitalter der Entsorgungsdeponien, sondern zugleich auch - kompensatorisch - im Zeitalter der Erinnerungsdeponien, der großen Organe der Erzählung. Zur modernen Fortschritts- und Innovationskultur, die auf Emanzipation aus den Traditionen setzt, zum Wegwerfen verführt und schließlich sogar die lebensweltlichen Geschichten ausrangiert, gehört - als Ausgleich, als real-tatsächliche Kompensation - spezifisch modern die Blüte der Erinnerungs- und Bewahrungskultur, die Entstehung und Konjunktur des Museums, der Denkmalspflege, der konservatorischen Maßnahmen in bezug auf Geschichte und Ökologie, der Hermeneutik als Altbausanierung im Reiche des Geistes, der historischen Wissenschaften, die Konjunktur der geschichtlichen Orientierung nach rückwärts und vorwärts, also der - modern immer nötiger werdende - historische Sinn mit sei-
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ner zunehmend unvermeidlicher werdenden Zukunftskraft des Erzählens und seiner Fähigkeit, immer mehr Herkunft in die Zukunft mitzunehmen. Spezifisch zur modernen Welt gehört: b) der Siegeszug der erzählenden Kunst des Romans. Vor kurzem hat Richard Rorty auf Milan Kundera hingewiesen, der durch seinen Roman Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, einen Kontingenzroman, berühmt geworden ist. Milan Kundera hat in seinem sehr schönen Essay Die Kunst des Romans von 1986 festgestellt: nicht nur die Realgeschichten expandieren, sondern auch die fiktiven Erzählungen; nicht nur die »history« blüht modern, sondern insbesondere auch die »story«; und vor allem hat er eine phänomenologisch interessante - husserlbezügliche - Geschichtsthese aufgestellt. Zur Erfolgsgeschichte der exakten europäischen Wissenschaften, deren »Krisis« Edmund Husserl 1936 phänomenologisch diskutierte, gehört die - den »Geist der Theorie« durch den individualistischen »Geist des Humors« kompensierende - Parallelgeschichte der erzählenden Kunst des Romans, der - wie Kundera sagt - »europäischsten aller Künste«. Zu Galilei und Descartes und Newton und Einstein gehören Rabelais und Cervantes und Sterne und Goethe und Balzac und Flaubert und Dickens und Tolstoi, Thomas Mann, Proust, Joyce und Kafka. Es liegt nahe, auch diese neuzeitliche Parallelgeschichte als Kompensationsgeschichte zu begreifen. Weil zugunsten der geschichtslosen Welt der Versachlichungen - der exakten Objekte, der Technik, der Waren und Informationen - die geschichtliche »Lebenswelt« ausgeklammert wird, muß sie - kompensatorisch festgehalten werden gerade auch durch den Roman, der gleichzeitig entsteht, und der - als spezifisch moderne erzählende Kunst - die Geschichten festhält und gerade dadurch auch für die moderne Zukunft unverzichtbar ist und immer unverzichtbarer wird. Je mehr wir rationalisieren, desto mehr müssen wir erzählen: darum kommt es
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gerade modern zum Sieges zug der erzählenden Kunst des Romans. Spezifisch zur modernen Welt gehört schließlich: c) die Entstehung und Entwicklung der Geisteswissenschaften, also der historischen, der erzählenden Wissenschaften. Es ist ein Irrtum, daß die modernen Naturwissenschaften historisch nach den Geisteswissenschaften kommen: die Geisteswissenschaften kommen vielmehr historisch nach den modernen Naturwissenschaften. Das ist wichtig und wird häufig übersehen oder nicht ernst genommen. Der Etablierungszeitraum der exakten Naturwissenschaften beginnt im 16. Jahrhundert, der Etablierungszeitraum der Geisteswissenschaften beginnt im 18. Jahrhundert: die Geisteswissenschaften - die historischen, die erzählenden Wissenschaften - sind jünger als die exakten Naturwissenschaften. Als Organ für die lebensweltlichen Geschichten - eben als erzählende Wissenschaften - »antworten« sie auf die Geschichtslosigkeit der modernen versachlichten Welt, indem sie nun gerade Geschichten erzählen. Sie erzählen Bewahrungsgeschichten, die - etwa durch Erinnerung - unseren Vertrautheitsbedarf sichern; sie erzählen Sensibilisierungsgeschichten, die - etwa ästhetisch - unseren Überraschungs- und Farbigkeitsbedarf sichern; sie erzählen Orientierungs geschichten, die - etwa durch Identifikation mit und durch Distanzierung von Traditionen - unseren Sinnbedarf und Identifikationsbedarf sichern. Sie entstehen, nicht zuletzt in Deutschland als verspätete Moralistik der verspäteten Nation, indem sie sich - kompensatorisch zum Versachlichungsfortschritt - historisch erzählend um Sprachen, Literaturen, Religionen, die Kunst und die individuellen Kulturen kümmern, und dies alsbald ihrerseits weltweit tun. Je beschleunigter die Fortschritte der modernen Sachwelten werden, desto unvermeidlicher brauchen wir - zur Sicherung unserer Kontinuitätskultur - die erzählenden Geisteswissenschaften. Die Genesis der experimentellen Wissenschaften ist also nicht die Todesursache, sondern
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die Geburtsursache der Geisteswissenschaften. Darum machen die exakten Wissenschaften die - erzählenden Geisteswissenschaften nicht überflüssig, sondern allererst nötig. Daraus folgt als Prognose: Auch jeder weitere Fortschritt der harten Wissenschaften wird einen zunehmend erweiterten Bedarf an erzählenden Geisteswissenschaften erzwingen. Der moderne Erfolg der exakten Wissenschaften löscht und mindert also nicht, sondern er erzeugt und steigert vielmehr den Bedarf an erzählenden Geisteswissenschaften; je moderner die moderne Welt wird, desto unvermeidlicher werden die Geisteswissenschaften, also als Kompensationen der rationalisierungsermöglichenden Neutralisierung der lebensweltlichen Geschichten - auch in Zukunft die erzählenden Wissenschaften. Die Erwartung, daß das Erzählen in unserer gegenwärtigen und zukünftigen Welt zu Ende gehen wird, ist also eine Fehlerwartung. Das wurde hier unterstrichen - mindestens - durch den Hinweis auf den historischen Sinn, den Siegeszug des Romans und die Ausbildung der Geisteswissenschaften. Die Geschichten und Erzählungen verschwinden in unserer modernen Welt nicht nur nicht, sondern sie müssen - als Kompensationen und zum Ausgleich - in unserer modernen Welt gerade festgehalten werden: die Erzählungen - je rationeller und geschichtsloser unsere Wirklichkeit einerseits wird - werden in ihr andererseits zunehmend in alten und neuen Formen wichtig und zentral. Es gibt - Harald Weinrich hat das in seinem schönen Buch Tempus unterschieden - die »besprochene Welt« und die »erzählte Welt«. Wir leben - meine ich »von« der besprochenen Welt und "in« der erzählten Welt; so daß wir in der »besprochenen Welt« hektisch und schnell und in der »erzählten Welt« entspannt und langsam leben. Je mehr und erfolgreicher die moderne Welt zur »besprochenen Welt« wird, desto mehr muß die »erzählte Welt« in ihr eigens festgehalten werden. Dafür ent-
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wickelt die moderne Welt verschiedene Ausgleichsgenera: also mindestens den historischen Sinn, den Roman und die Geisteswissenschaften. In ihnen wird das, was modern - als narrative Geschichten - zu verschwinden scheint, im Gegenteil bewahrt und zukunftsfähig gemacht. Je mehr wir rationalisieren, um so mehr müssen wir - um unsere lebensweltlichen Geschichten festzuhalten - erzählen. Das bedeutet, daß Wilhelm Schapps Phänomenologie der Geschichten schlechthin wichtig ist: nicht nur keine philosophische Kuriosität am Rande und schon gar kein Auslaufmodell der Philosophie, sondern es bedeutet: daß die Philosophie der Geschichten in eine ganz und gar zentrale Stellung rückt. Es ist dies - wie ich eingangs sagte der Grund dafür, daß ich auf Wilhelm Schapp philosophisch immer wieder zurückkomme. Die Phänomenologie der Geschichten - mit ihrem Plädoyer für die lebensweltlichen Geschichten und für das Erzählen - ist, als Kompensation, der entscheidende Kern- und Ausgleichsansatz für eine Philosophie der modernen Welt. Denn wer die Versachlichungstendenzen der modernen Welt stark machen will, der muß modern erst recht und zugleich vor allem die Geschichten und das Erzählen stark machen, denn gerade ihnen gehört die Zukunft. Je moderner die moderne Welt wird, desto unvermeidlicher werden die Geschichten: narrare necesse est.
Sprachmonismus und Sprachpluralismus der Philosophie
Anfang der sechziger Jahre sagte mein philosophischer Lehrer Joachim Ritter, als in Münster der »Lesekreis« seines »Collegium Philosophicum« in seinem Arbeitszimmer wie üblich vor Beginn der Arbeit plauderte, plötzlich: »Wenn ich uns hier so sitzen sehe - mit uns hätte ich früher nicht verkehrt.« Gemeint war der bürgerliche Habitus des Kreises, und das »früher« bezog sich auf die Zeit in den frühen zwanziger Jahren, als Joachim Ritter mit Günther Anders - der damals noch ausschließlich Günther Stern hieß - befreundet war und mit ihm zusammen, nicht als Passagier, sondern als Mitglied der Mannschaft, als Seemann also, auf einem Dampfer ins Schwarze Meer fuhr. Ich möchte über diese Zeit nicht spekulieren, denn sie liegt ja einigermaßen vor meiner Lebenszeit, die 1928 begann. Günther Anders war 1902, Joachim Ritter 1903 geboren: Beide wandelten damals in Hamburg philosophisch auch auf Pfaden eines unorthodoxen Marxismus. Ich selber habe Günther Anders persönlich nie kennengelernt. Joachim Ritter kenne ich seit 1947: Er wurde - wie gesagt - mein philosophischer Lehrer, und ich bin ihm - zunächst nicht ohne Widerstände - gefolgt auf seinem späteren Weg in eine positivierte Entzweiungsphilosophie des »bürgerlichen Lebens«, während Günther Anders - der mich, ehrlich gesagt, wegen dieser frühen Ähnlichkeit mit Joachim Ritter interessiert - dann zu einem ganz anderen Ansatz gekommen ist: zu einer negativen Anthropologie mit dem Hauptthema der »Zerstörung der Humanität und der möglichen physischen Selbstauslöschung der Menschheit«. Trotzdem sehe ich Übereinstimmungen zwischen beiden: Das, was Anders »Gelegenheitsphilosophie« genannt hat mit »Systematik apres coup« und der Tendenz zur »Kreu-
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zung von Metaphysik und Journalismus«, ist für Joachim Ritter und seine Schüler 'ebenfalls wichtig geworden: es gehörte zu dem, was uns - vor allem in seinen Vorlesungen und Seminaren - an Ritter anzog, und es gehört zu dem, was mich auch - bei aller Andersartigkeit der philosophischen Position - an Anders anzieht. Im übrigen will ich mich hier - zunächst im Blick auch auf Günther Anders: aber ich bin ganz und gar kein Anders-Experte - schließlich mit dem befassen, was ich in Dingen Sprache der Philosophie auf meine eigene Kappe zu nehmen habe: nämlich den Zusammenhang zwischen Skepsis und Stil. Ich behandele dies in folgenden drei Abschnitten: 1. Die literarische Situation der gegenwärtigen Philosophie und die Jargons; 2. Sprachmonismus und Sprachpluralismus der Philosophie; 3. Skepsis und Stilbedarf. Ich beginne - den Üblichkeiten entsprechend - mit Abschnitt: 1. Die literarische Situation der gegenwärtigen Philosophie und die Jargons Philosophie ist Spracharbeit: nicht nur, aber auch, und zwar wesentlich. Zwei Tendenzen - meine ich - bestimmen die Sprachverfassung, genauerhin die literarische Situation der gegenwärtigen Philosophie: zum einen das Ende der durch Tradition selbstsicheren Schulphilosophien, zum anderen der Aufschwung der durch exakte Wissenschaftlichkeit selbstsicheren modernen Wissenschaften. Wo die Philosophie ihre Selbstsicherheit - und das Selbstvertrauen ihrer Sprache - nicht mehr durch die Überlieferungsbestände von Schulen und noch nicht durch die Forschungsstände des Wissenschaftsfortschritts gewinnt, ist - auch dann, wenn weder die Schulsprache noch die Fortschrittssprache der Philosophie angemessen ist - ihre Lage - auch ihre rhetorische Lage - der Selbstsicherheitsverlust. Das zwingt als Gegenzug gegen ihre Unsicherheits lage - dazu, aus
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Unsicherheit Selbstsicherheit auch durch ihre Sprache zu übertreiben: dazu dienen die großen philosophischen Jargons. Sie sind in der Philosophie das bange rhetorische Pfeifen im Walde. Diese Situation ist ein historischer Grund für die Verständlichkeitssklerosen gerade im 20. Jahrhundert: Man kann die großen philosophischen Jargons als Gegenbesetzungen, als Selbstsicherheitssurrogate der philosophischen Sprache interpretieren. Günther Anders hat hier - bei den großen philosophischen Jargons - einerseits Heidegger angegriffen, andererseits aber auch das »Soziologenchinesisch«, das »unserer philosophischen Sprache am meisten zusetzt«, und das vielleicht in der Frankfurter Schule vor allem begann. Natürlich kann man auch jene philosophische Sprache als großen Jargon sehen, die sich selber - trotz ihrer Subtilitätenhäkelei - für besonders jargonfrei hält: den Jargon der analytischen Philosophie. Was den Jargon Heideggers und den Jargon der Frankfurter Schule betrifft, so ist es vielleicht nützlich, zunächst zu beschreiben, wie auf eine konkrete philosophierende Person, nämlich mich, diese beiden Jargons lebens- und denkgeschichtlich gewirkt haben, und wie ich ihnen - möglicherweise - schließlich ein wenig entgangen bin. Für meine Generation - die unmittelbare Generation der Studierenden nach Ende des Zweiten Weltkriegs - war zweifellos Heidegger die Versuchung. Den Namen Heidegger habe ich zuerst 1947 in Münster gehört. Zum Winter 1949 sind drei Studenten der Philosophie - Hermann Lübbe, Karlfried Gründer und ich - dann aus Münster nach Freiburg gekommen, gleichzeitig mit Ernst Tugendhat, der aus Amerika karn und in seinen Philosophischen Aufsätzen darüber berichtet. Wir karnen auch und gerade Heideggers wegen nach Freiburg. Heidegger durfte damals noch nicht wieder lesen: Vielleicht hat gerade das zusätzlich stimuliert. Heidegger war - trotz seiner Abwesenheit - überall präsent; nur ein Beispiel: Es gab damals Pro-
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fessorenbilder im Ansichtskartenstil in Freiburg zu kaufen. Jede Professorenahsichtskarte kostete 80 Pfennige, nur Heidegger kostete - bei gleicher Aufmachung - 1,20 D-Mark. In der Philosophie war Freiburg ein durch Heidegger missioniertes Gebiet: Alle glaubten - irgendwie an Heidegger. Aber es gab zugleich mehrere Sekten - die Fink-Sekte, die Müller-Sekte, die Szilasi-Sekte, auch die Welte-Sekte -, die darum stritten, den »wahren« Heidegger zu repräsentieren, was sie - nicht eigentlich bei den Lehrern, aber bei den Schülern - gegeneinander unerbittlich machte: Anstandshalber durfte niemand die jeweils anderen Sekten auch nur besuchen. Nur wir »Münsteraner« und Ernst Tugendhat galten diesen Sekten als philosophisch unzuverlässig - sozusagen als potentielle Heidegger-Heiden - und durften als Strafe für unsere Unzuverlässigkeit schimpflicherweise alle Sekten besuchen. Die Komik dieser Situation - man traf nicht auf einen Heidegger, sondern auf vier Heideggers und auf vier HeideggerJargons - wurde uns sehr bald bewußt. Sie führte zur weiteren Relativierung des Heidegger-Anspruchs: So sind wir - zumindest ein wenig - Heideggers Jargon entronnen. Die nächste Versuchung für meine Studiengeneration war die Frankfurter Schule. In Münster hatte im Lesekreis des Collegium Philosophicum von Joachim Ritter Robert Spaemann - der damals 21 war - schon 1948 die Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno referiert. Karlfried Gründer schwelgte schon unmittelbar nach 1951 in Adornos Minima moralia, deren theologische Tendenz ihn beeindruckte. Und Hermann Lübbe, der 1953 mit dem alsbald erkrankten Gerhard Krüger als Assistent nach Frankfurt ging und am Kolloquium von Horkheimer und Adorno teilnahm, erzählte mir: Da sitzt einer, halbwegs gleichaltrig mit Adorno, der arbeitet - wie damals ich mit meiner Habilitationsschrift - ebenfalls philosophisch über Freud; so bin ich auf Herbert Marcuse aufmerksam geworden, dessen Eros and Civilization ich mir bald nach
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dem Erscheinen noch auf Englisch besorgt und 1956 in Ritters Lesekreis besprochen habe: Es ist nicht auszuschließen, dass es das erste Marcuse-Referat über Eros und Kultur bzw. Triebstruktur und Gesellschaft in Deutschland gewesen ist. Schon rückblickend fragte mich - beim dritten Kolloquium der »Poetik und Hermeneutik« 1966 in Lindau - Siegfried Kracauer, der, was ich damals noch nicht wußte, mit ihm lange befreundet war, nach Adorno, sozusagen um seinen Stellenwert bei der jungen Generation der Philosophen zu testen. Ich antwortete ihm damals: »Man muß Adorno gehabt haben wie die Masern.« Kracauer war über diese Antwort nicht unglücklich; er ließ erkennen, daß die Frankfurter Schule der »Kritischen Theorie« - gegen Heideggers »Jargon der Eigentlichkeit« plädierend - sich längst einen eigenen Jargon zugelegt hatte, dem ich - ich fing beim dritten Teil der Minima moralia an, einer Philosophie, bei der man so schön weinen konnte - eine Zeitlang auch nicht habe widerstehen können: Habermas neckte mich mit der Bemerkung, daß er bei mir auch einige hintangestellte »sichs« gefunden habe. Es war ein unorthodoxer Marxismus, der - schließlich als »Soziologenchinesisch« sich gebend - die Philosophie ergriff, weil sich die Nachkriegsgeneration in Deutschland vor der Versuchung zur rechten Revolution, aus der sie kam und die sie verurteilte, durch Konversion in die linke Revolution schützen wollte und indem sie diesen Schritt dadurch bekräftigte, daß sie ihren Mitmenschen vorwarf, ihn nicht radikal genug vollzogen zu haben und zu vollziehen. Sie entkam dem Tribunal, indem sie es wurde: durch die »Kritik« genannte Flucht aus dem Gewissen-Haben in das Gewissen-Sein. Aber die Kontraposition zur einen - der nationalsozialistischen - Verweigerung der Bürgerlichkeit ist nicht die andere - die sozialistische - Verweigerung der Bürgerlichkeit, sondern die Verweigerung dieser Bürgerlichkeitsverweigerung: die Option für die bürgerlich liberale Demokratie, die es dann intellektuell zu finden galt.
2. Sprachmonismus und Sprachpluralismus der Philosophie . Günther Anders hat nicht nur diese beiden Jargons - den Jargon der Eigentlichkeit von Heidegger und den Jargon der Authentizität der Frankfurter Schule - kritisiert, sondern die Esoterik insgesamt der Universitätsphilosophie und ihrer Sprache als »Großsiegelbewahrerin der Abseitigkeit«. In seinem 1943 niedergeschriebenen, 1952 veröffentlichten, aber erst 1975 für eine größere Öffentlichkeit publizierten Dialog Über die Esoterik der philosophischen Spl'ache l hat Anders nicht nur die Unverständlichkeit der Universitätsphilosophie angegriffen, sondern er hat diese Esoterik der Philosophensprache - im entscheidenden Zugriff seiner Argumentation - als Scheinesoterik durchschaut: Die Universitätsphilosophen - meint Anders - tun so, als ob sie ein gefährliches Geheimnis hätten, das sie durch ihre Sprache tarnen müssen, obwohl sie in Wirklichkeit überhaupt kein gefährliches Geheimnis haben. Darum - deutet Anders an - ist die wahre Philosophie (die Nicht-Universitätsphilosophie) die, die - wie bei Anders selber - die nicht-scheinesoterische Philosophie ist. Das bedeutet nicht primär den Versuch, die Philosophie mit der Alltagssprache zu versöhnen und ihr literarische Qualität zu geben, Es bedeutet vor allem: Die Philosophie hat - frei nach Marx' 11. These über Feuerbach - eine absolute Mission. Sie interpretiert die Welt, um sie zu verändern, nun freilich nicht mehr durch fortschrittspraktische Revolution, in der der Mensch - utopistisch - über die technischen Mittel seiner Lebensfristung siegt, sondern nunmehr durch verfallspraktische Revolution, in der der Mensch sein »prometheisches Gefälle«, seine »prometheische Scham« gegenüber der Perfektion der entfremdenden Apparate und seine »Antiquiertheit« durch »negative Anthropologie« bemerkt: daß also die technischen Mittel seiner Lebensfristung nunmehr - im »Zeitalter der zweiten
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industriellen Revolution« - über den Menschen siegen und daß der Mensch dann keinen Platz mehr hat in dieser modernen Welt. 2 Die - eigentliche - Philosophie sammelt also ihre Avantgarde nicht mehr unter dem Heilszeichen der »klassenlosen Gesellschaft«, sondern nunmehr unter dem Unheilszeichen der »apokalyptischen Bedrohung« durch die Atombombe, und sie revoltiert dagegen: durch extreme philosophische Warnung und - wo die Warnung nichts fruchtet - notfalls mit Gewalt. Ich bin - bei aller Anerkennung der phänomenologischen Sensibilität von Günther Anders' Analysen - unzufrieden mit dieser Philosophie, und ich bin unzufrieden mit jener Sprachgestalt der Philosophie, die sie aufweist: dem philosophischen Sprachmonismus der apokalyptischen Warnung. Günther Anders - der ja auch sonst etwas gegen Pluralismen hat - tendiert zur philosophischen Einsprachigkeit: zum Sprachmonismus der apokalyptischen Warnung. Die Warnungsphilosophie wird bei ihm zur Inversion des Revolutionsdenkens: Sie negativiert die Welt - ihre »Verbiederungen« angreifend - zur absolut entfremdeten Welt, und »übertreibt« dies kunstvoll und macht dann doch einen Rückzieher durch den »Wunsch [ ... ] daß keine meiner [sc. Günther Anders'] Prognosen recht behalten werde«.] Es ist, meine ich, der Außerordentlichkeitsbedarf, der diese Philosophie leitet: ihr Heißhunger nach dem Ausnahmezustand, durch den sie alles Unenorme, alles NichtÄußerste übergeht. Die Welt - wenn sie schon nicht mehr unüberbietbar fortschrittlich ist, soll sie nun wenigstens unüberbietbar verfalls geschichtlich sein: Diese Philosophie präferiert nicht das Wirkliche, sondern das Unüberbietbare. Weil die Wirklichkeit nicht mehr - unüberbietbar utopistisch - der Himmel auf Erden ist, soll sie nun - unüberbietbar apokalyptisch - die Hölle auf Erden sein; aber so vergißt diese Philosophie, was die Wirklichkeit wirklich ist: nämlich weder der Himmel auf Erden noch die Hölle auf Erden, sondern die Erde auf Erden. Sie ersetzt die »Apo-
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kalypse-Blindheit« durch Normalitäts-Blindheit. Sie ist fixiert darauf, daß die Wirklichkeit - als »Selbstauslöschung der Menschheit« durch die Atombombe - die schlimmstmögliche Wendung nimmt. Sie sieht ab vom Widerstand der Institutionen und läßt nur noch den Widerstand der Gesinnungen zu. Sie ist fasziniert von den dehumanisierenden Tendenzen der Welt und übersieht ihre humanisierenden Tendenzen: die Kompensation ihrer Defizienzen durch die »Vernunft« in einer trotz allem menschlichen Wirklichkeit: Vernünftig ist, wer den Ausnahmezustand vermeidet. Das ist ganz anders bei Günther Anders: Seine Philosophensprache ist ausnahmezustandssüchtig; er ersetzt das »Sein zum Tode« durch das Sein zum Tode der Menschheit; die apokalyptische Warnung wird bei ihm zum Jargon der Eigentlichkeit der Philosophie. Dieser Sprachrnonismus der Philosophie ist - wie jeder Sprachrnonismus von Philosophien - meines Erachtens nicht gut. Es ist auch nicht angemessen, dabei das Ressentiment der Alltagssprachler gegen die Philosophensprache - von ihrer Alltagssprache über die Fachsprache bis zu den Jargons - zu schüren und dabei die Philosophensprache auf »Unverständlichkeit« und »Esoterik« negativ festzulegen und der Lächerlichkeit preiszugeben. Die Philosophensprache ist - außer bei schwachen Vertretern, die es natürlich überall gibt - überwiegend vernünftig. Sie bemüht sich - was ja schwer ist - zu merken, wie die Wirklichkeit - ohne Illusionsaufwand, durch Theorie, d. h. durch den Sieg des So-ist-es über das So-hat-es-zu-sein wirklich ist, und sie bemüht sich, mehr Wirklichkeit zu sehen und in mehr - in mehreren - Wirklichkeiten zu leben: durch Vernunft, d. h. durch den Verzicht auf die Anstrengung, dumm zu bleiben. Es kommt darauf an, jede Philosophensprache zu sprechen, um zu merken, was jede jeweils am besten sagt: Es kommt auf philosophischen Sprachpluralismus an. So viele philosophische Sprachen auch Wissenschaftssprachen, auch literarische Sprachen,
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auch Alltagssprachen - man spricht, so viele Mal ist man ein Philosoph. Zu den Konsequenzen, die man aus dieser Überzeugung ziehen muß, gehört unter anderem auch diejenige, die Joachim Ritter und seine Crew, zu der auch ich gehöre, gezogen hat: den Einzug der lexikalischen Begriffs geschichte in die Sprache der Philosophie zu fördern, wie sie mit Ritters Historischem Wörterbuch der Philosophie versucht oder zustande gebracht wurde (dessen erster Band 1971 erschien und dessen abschließender zwölfter Band 2005 ausgeliefert worden ist), einem Wörterbuch, das nicht festlegt, welche Termini gemäß absoluter Definition die philosophisch richtigen seien, sondern das geschichtlich erzählt, in welchen geschichtlichen Konstellationen bestimmte philosophische Begriffe, Sentenzen und nach Möglichkeit auch Metaphern akut geworden sind und akut werden, in welchen anderen aber auch andere. Was die Ausdrücke der - pluralistischen - Philosophensprache sind, sagt nur ihre Geschichte. So wird auch die scheinbar riesige Differenz zwischen Alltagssprache und Philosophensprache unterlaufen: Es ist die Geschichte der philosophischen Begriffe, die zeigt, wo alltagssprachliche und wo fachsprachliche Ausdrücke angebracht sind und wo sogar Ausdrücke von Jargons. Gerade auch die Einbeziehung der »literarischen« Literatur ist dabei schlechthin notwendig, und vor allem der Rekurs auf die Geschichten, die wir sind, auf Lebensläufe, Autobiographisches, auf das, was am Philosophen der Mensch ist: seine Bereitschaft zur eigenen Kontingenz, daß die Philosophen mehr ihre Zufälle sind als ihre Leistungen. Nicht der philosophische Sprachrnonismus, sondern die Pluralität aller Philosophensprachen ist angezeigt. Wer sich diese Pluralität der Philosophensprachen aneignet, wird - das ist die Macht der Gewaltenteilung auch der philosophischen Sprachen - dadurch frei von einer jeden und zugleich frei zu einer jeden: Dadurch wird es möglich und nötig, daß jeder Philosoph - individuell - sich seine eigene philoso-
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phisehe Sprache selber sucht. Damit komme ich auf das, was ich - in Dingen Sprache der Philosophie - auf meine eigene Kappe zu nehmen habe, nämlich im abschließenden Abschnitt:
3. Skepsis und Stilbedarf Die Geschichtsphilosophen haben die Welt nur verschieden verändert; es kömmt darauf an, sie zu verschonen. Veränderer sind nicht nur Fortschrittsphilosophen, sondern auch Verfallsphilosophen, gerade auch die, die sich wie Günther Anders - widersetzen. Zu den Verschonern gehören die Skeptiker. Auch ihre Philosophie ist Spracharbeit: nicht nur, aber auch, und zwar wesentlich. Zwei Tendenzen - hatte ich eingangs gesagt - bestimmen die Sprachverfassung, genauerhin die literarische Situation der gegenwärtigen Philosophie: zum einen das Ende der durch Tradition selbstsicheren Schulphilosophien, zum anderen der Aufschwung der durch exakte Wissenschaftlichkeit selbstsicheren modernen Wissenschaften. Auch dann, wenn weder die Schulsprache noch die Fortschrittssprache der Philosophie wirklich angemessen ist, ist doch die gegenwärtige Sprachlage der Philosophie der Verlust an Selbstvertrauen, der Selbstsicherheitsverlust. Wo ihre Selbstsicherheit noch durch die Überlieferungsbestände von Schulen oder schon durch Forschungsstände des Wissenschaftsfortschritts garantiert ist, hat für die Philosophie der Stil ihrer mündlichen oder schriftlichen Präsenz wenig Bedeutung: » Wer seiner Sache todsicher ist« - schreibt Wolf Lepenies im Blick auf wissenschaftsgeschichtliche und Sprachverhältnisse seit dem 18.Jahrhundert - »braucht sich den Kopf kaum darüber zu zerbrechen, wie er lebendig von ihr redet.«4 Erst wo diese Selbstsicherheit nicht mehr oder noch nicht herrscht, also unter Bedingungen nicht der absoluten, sondern der
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unabsoluten Philosophien, wird für sie der Stil wichtig, so daß gilt: In der Philosophie gibt es gerade so viel Stil bedarf, wie sie unabsolut, also wie Skepsis in ihr ist. Ihr Stilwille kompensiert ihre Schwäche: Die Skepsis muß aus der Not philosophischer Selbstunsicherheit die Tugend literarischer Ansehnlichkeit machen. Texte sind - angesichts der Lebenskürze der sterblichen Menschen: sozusagen als Angriff auf ihre begrenzten Aufmerksamkeitsvermögen und knappen Lebenszeitbudgets immer Belastungen und Belästigungen der Mitmenschen. Das bedeutet: Jeder Text muß dafür Buße tun, daß es ihn gibt. Das aber gelingt der Tendenz nach durch Stil. Es schließt die Suche nach der leichten und pointierten Formulierung nicht nur nicht aus, sondern gerade ein. Das stilistische und ästhetische Formulierungsspiel ist nicht das Gegenteil, sondern ein Aggregatzustand des Ernstes: jener, der den Ernst so ernst nimmt, daß er es für notwendig hält, ihn erträglicher zu machen. Der skeptische Philosoph braucht die Leichtigkeit als Form, um sich auszuhalten: um sich selbst an den Denk- und Schreibtisch zu locken, und um Buße zu tun dafür, daß er seine Mitmenschen mit Denken und Schreiben belästigt.
Anmerkungen Günther Anders, .Über die Esoterik der philosophischen Sprache«, in: Merkur 322 (1975); wiederabgedr. in: Günther Anders antwortet. Interviews und Erklärungen, hrsg. von Elke Schubert, Berlin 1987, S. 181-202. 2 Vgl. Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd.1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, durch ein Vorwort erw. 5. Aufl., München 1980. 3 Ebd., S. IX. 4 Wolf Lepenies, »Laudatio auf Odo Marquard«, in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch 1984, Heidelberg 1985, S. 119, vgl. ff.
Innovationskultur als Kontinuitätskultur Überlegungen zur Renaissance
Die moderne Welt beginnt mindestens zweimal: vom 14. bis zum 16. Jahrhundert mit der Renaissance und ab 1750 mit der von Reinhart Koselleck so getauften »Sattelzeit«, der Zeit der Beschleunigungen und Singularisierungen, durch die die moderne Welt immer moderner wird. In unserer Gegenwart aber ist nicht mehr nur vom Beginn der Neuzeit - vom Anfang der modernen Welt - die Rede, sondern auch und fast mehr noch vom Ende der Neuzeit, von der Postmoderne, in der man die Neuzeit hinter sich haben will. Doch es bleibt umstritten, ob das wünschenswert ist und gelingt. Wahrscheinlich überdauert die Moderne die Postmoderne. Jedenfalls gibt es zugleich die Meinung, daß die Neuzeit keineswegs zu Ende ist und daß dies gut sei. Ich möchte hier - angesichts dieser aktuellen Ende-derNeuzeit-Debatte mit ihren kontroversen Positionen - einige Überlegungen im Blick auf den Anfang der Neuzeit, den Beginn der modernen Welt vorbringen, und zwar in drei Abschnitten: 1. Zäsurwanderung; 2. Zukunft braucht Herkunft; 3. Renaissance und Kompensation. Ich beginne meine Überlegungen - den Üblichkeiten entsprechend mit Abschnitt: 1. Zäsurwanderung Es gehört zu den Eigenarten der modernen Welt, daß sie sich durch historische Zäsuren, durch geschichtliche Einschnitte, durch Epochenschwellen, definiert: durch jene historische Zäsur, die die Neuzeit von ihrem Vorher trennt, und durch jene historische Zäsur, die - da mit dem
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Ende der Neuzeit, mit der Postmoderne gerechnet wirddie Neuzeit von ihrem Nachher trennt. Zunächst liegt der Akzent der Aufmerksamkeit ganz und gar auf der Anfangszäsur, die die moderne Welt von ihrem Vorher, dem Mittelalter, scheidet. Und diese Anfangszäsur, das Verhältnis zwischen Vormoderne und Moderne, zwischen Mittelalter und Neuzeit, findet (grob gesprochen) zwei Interpretationen. Da ist zunächst einerseits: a) die gegenwartsbezogen promodernistische Interpretation der Mittelalter-Neuzeit-Zäsur: Das Vorher war negativ, die Gegenwart ist positiv; das Mittelalter war finster, die moderne Welt ist hell, sie ist Renaissance, Reformation, Aufklärung, Fortschritt. Diese Interpretation, inspiriert durch Petrarca, wird seit der Mitte des 1B.Jahrhunderts geschichtsphilosophisch artikuliert: durch Fortschrittstheorien, für die - von Voltaire bis Hegel - die Gegenwart die fortgeschrittenste Zeit ist, weil die Zukunft zunächst nur als Konsequentmachung der Gegenwart mit gegenwärtigen Mitteln begriffen wird. Das ist Gegenwartsaffirmation durch Vergangenheitsnegation. Sie führt zur - wie ich sie nannte - gegenwartsbezogen promodernistischen Interpretation der Anfangszäsur der modernen Welt. Durch diese Anfangszäsur - die Renaissance - begann der moderne Fortschritt. Dabei gilt: Die zentrale Epochenschwelle ist die Mittelalter-Neuzeit-Zäsur. Da ist dann andererseits: b) die vergangenheits bezogen antimodernistische Interpretation der Mittelalter-Neuzeit-Zäsur: Das Vorher war positiv, die Gegenwart ist negativ; das Mittelalter war heil und hell, die moderne Welt als Renaissance, Reformation, Aufklärung, Fortschritt ist verdorben und finster. Auch diese Interpretation wird seit der Mitte des 1B.Jahrhunderts geschichtsphilosophisch artikuliert: durch Verfallstheorien, für die - von Rousseau über Novalis bis zu den Verlust-der-Mitte-Philosophien unseres Jahrhunderts die Gegenwart die extreme Verfallszeit ist, die Ära der
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Weltverwüstung. Gut war die vormoderne Vergangenheit, das Mittelalter, und die Zukunft kann positiv sein nur als seine Wiederkehr. Das ist Gegenwartsnegation durch Vergangenheitsaffirmation. Sie führt zur - wie ich sie nannte vergangenheitsbezogen antimodernistischen Interpretation der Anfangszäsur. Durch diese Anfangszäsur - die Renaissance - begann der moderne Verfall. Aber auch hier gilt: Die amtierende Fundamentalzäsur, die zentrale Epochenschwelle, ist die Mittelalter-Neuzeit-Zäsur. Das freilich ändert sich durch: c) den zukunftsbezogenen Antimodernismus, den man auch futurisierten Antimodernismus nennen kann. Er zieht die Konsequenz aus der verfallstheoretischen Gegenwartsnegation und macht die Aporie der fortschrittstheoretischen Gegenwartsaffirmation geltend, die darin besteht, daß jede gegenwärtige Fortgeschrittenheit durch künftige Fortgeschrittenheiten in Zurückgebliebenheit verwandelt wird. So kommt es - durch geschichtsphilosophische Interpretationen spätestens seit Anfang des 19. Jahrhunderts: durch Fichte, Marx und durch die Neomarxisten unseres Jahrhunderts - zur Negativierung der Gegenwart nicht mehr im Namen der Vergangenheit, sondern der Zukunft: im Namen eines künftigen Zeitalters des definitiven Diesseitsheils. Die Gegenwart, das bürgerliche Zeitalter, wird zum "Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit« und der maximalen »Entfremdung«. Darum plant dieser futurisierte Antimodernismus den Schritt in die heile Zukunft und seine Beschleunigung durch Revolution. Das ist Gegenwartsnegation nicht durch Vergangenheitsaffirmation, sondern durch Zukunftsaffirmation. Der entscheidende Schritt wird der Schritt in die Zukunft; die entscheidende Epochenschwelle wird die Schwelle zur Zukunft. Das bedeutet: Nicht mehr der Schritt in die Renaissance, nicht mehr die Mittelalter-Neuzeit-Zäsur ist der zentrale Epocheneinschnitt, sondern der Übergang der Neuzeit in die Nachneuzeit. Das bleibt auch dort so:
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d) wo von der Zukunft postmodernistisch nicht mehr das Heil erwartet wird, sondern nur noch, daß die Gegenwart vorbei ist. Für Posthistoire und Postmoderne ist der Zustand nach der Geschichte und nach der Moderne nicht mehr das Reich der Freiheit und nicht mehr der Himmel auf Erden, sondern - wenn nicht der Friedhof der Menschheit - bestenfalls ihr Altersheim, wo nichts mehr passiert und alle aufgeregt sind. Dennoch bleibt der eigentlich interessante Zentraleinschnitt, die eigentlich brisante Epochenschwelle nun in der Zukunft: als NeuzeitNachneuzeit-Zäsur. Das bedeutet - verglichen mit der früheren Wichtigkeit des Beginns der Neuzeit und der Moderne - eine Zäsurwanderung: die Wanderung der entscheidenden Grundzäsur aus der Vergangenheit in die Zukunft, aus der Zeit vor der modernen Welt in die Zeit nach der modernen Welt. Durch diese Zäsurwanderung wird der zentrale Einschnitt die Epochenschwelle zwischen Neuzeit und Nachneuzeit. Das bedeutet: Die Epochenschwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit hört auf, dieser zentrale Einschnitt zu sein. Nicht mehr die Renaissance, sondern die Nachneuzeit die heile Zukunftswelt oder auch nur die Postmoderne ist nun die dramatische Zäsurepoche, die die maximale Aufmerksamkeit auf sich zieht. Das hat Folgen; und diese Folgen, die in besonderer Weise das Interesse an der Renaissance berühren, erörtere ich nun im Abschnitt:
2. Zukunft braucht Herkunft Die skizzierte Zäsurwanderung - die Ablösung der maß-geblichen Wichtigkeit der Mittelalter-Neuzeit-Zäsur durch die der Neuzeit-Nachneuzeit-Zäsur - hat nämlich zugleich einen bemerkenswerten indirekten Effekt für die Diskussion der Mittelalter-Neuzeit-Zäsur, nämlich diesen: Die Futurisierung des Antimodernismus durch ihre Verla-
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gerung des dramatischen Akzents auf die Neuzeit-Nachneuzeit-Zäsur entdramatisiert die Mittelalter-Neuzeit-Zäsur. Darum kann fortan diese Mittelalter-Neuzeit-Zäsur, entlastet von der Aufgabe, die weltgeschichtlich frontenbildende Zäsur vom Dienst zu sein, zur differenzierteren historischen Interpretation freigegeben werden. Die am großen Abstand zwischen dem Vormodernen und dem Modernen interessierten Einstellungen werden verlassen. Die genannte Zäsurwanderung wirkt als Epochenschwellenentschwellungsmittel. Zäsurübergreifende Tatbestände werden enttabuisiert. Nicht mehr der große Bruch zwischen Mittelalter und Neuzeit durch die Renaissance ist primär interessant; sondern fortan darf auch über Kontinuitäten gesprochen werden, und dabei meine ich nicht nur die Kontinuitäten, die es zwischen Renaissance und Spätmittelalter gibt. Das Mittelalter darf jetzt nicht mehr nur als Blockade jener Innovationen verstanden werden, die jede Herkunft braucht, wenn sie Zukunft haben will; es darf jetzt auch als Abschnitt der Überlieferungsgeschichte jener Antike gelten, auf die die Renaissance zurückgriff. Mir scheint es kein Zufall zu sein, daß genau in jenem Zeitraum seit Beginn des 19. Jahrhunderts, in dem die Neuzeit-Nachneuzeit-Zäsur an Sensationswert gewinnt und die Mittelalter-Neuzeit-Zäsur an Sensationswert verliert, das Wort Renaissance aus jenem Aktionswort, das das rinascita exemplarisch bei Vasari war, zur Epochenbezeichnung geworden ist, die wir heute gebrauchen und deren Genese zuletzt Karlheinz Stierle untersucht hat. Renaissance wird - ich meine: in dem Maße, in dem die mögliche Endzäsur der Neuzeit mehr zu interessieren beginnt als ihr Anfang - zum normalen Epochenbegriff; und dabei steht zunehmend nicht mehr der Aufbruch - durch Bruch mit dem Mittelalter - im Zentrum des Deutungsinteresses, sondern die Wiederaufnahme einer unterbrochenen Kontinuität. Renaissance, das ist Innovationskultur als Kontinuitätskultur.
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Es ist die unterbrochene Kontinuität der Antike, die wie sattsam bekannt - die Renaissance wieder aufnimmt: in der Literatur seit Petrarca bis hin zu den klassischen Humanisten und Moralisten; in der Malerei seit bzw. nach Giotto und Cimabue bis hin zu Leonardo da Vinci, Michelangelo und Raffael; in der Architektur seit Bramante. In der Philosophie übrigens ist durch die Epochenschwelle zwischen dem "Cusaner« und dem »Nolaner« (wie Hans Blumenberg Giordano Bruno genannt hat) der Platonismus der Florenzer Akademie - wo Marsilio Ficino die Platonis opera herausgab - für den Rückgriff auf die Antike weitaus wichtiger als der Aristotelismus von Padua, jener der spanischen Aristoteliker und schließlich der Melanchthons. Aus der gleichzeitigen Ermächtigung des Diesseits zog Giovanni Pico della Mirandola in seiner Oratio de hominis dignitate, seiner Rede über die Würde des Menschen, für den Menschen die Konsequenz: Als Schöpfer tritt er in die Stelle Gottes ein. Dem folgt der Katzenjammer; das Leiden des Menschen an seiner misere, aus dem dann vor allem das behutsame Naturvertrauen der Moralisten und Anthropologen herausführt. Aber all das, an dem auch die Rezeption der Stoa und der antiken Skepsis beteiligt war, war nicht der Schritt ins nie dagewesene Neue, sondern jener Schritt ins Neue, der ein Schritt ins Alte war: in die Wieder-Holung der Antike und alsbald - reformatorischin die Wieder-Holung der Bibel. Darum war die Renaissance der Aufbruch ins Neue so, wie Menschen - endliche Wesen - ins Neue aufbrechen können: auf dem Weg durch das Alte. Menschen können Innovationsbelastungen aushalten, doch nicht beliebig viele, nicht ohne Kontinuitätskultur. Und Neues ist menschenmöglich, gewiß, doch nicht beliebig viel, also nicht ohne das Alte, das für die Renaissance vor allem die Antike war. Innovation und Kontinuität gehören zusammen. Das lehrt gerade der Blick auf die Renaissance. Er bestätigt eine
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allgemeine anthropologische These: Es ist die menschliche Endlichkeit, die zugleich zur Innovation und zur Kontinuität zwingt. Sie ist vor allem temporale Endlichkeit. Der Mensch als Mängelwesen ist vor allem das ZeitmangelWesen. Die Menschen sind zugleich stets Spätgeborene und >Zum-Tode-Berufene<; ihr Leben ist kurz, vita brevis; und sie wissen das. Darum - weil ihr Tod immer allzubald kommt - ist die knappste ihrer knappen Ressourcen ihre Lebenszeit. Sie brauchen Zukunft, um ihre Herkunft durch Innovationen zu retten: Herkunft braucht Zukunft. Aber sie haben nie genug Zukunft, um beliebig viele Innovationen herbeizuführen; denn wie lange sie auch leben, dafür sterben sie zu früh. Darum müssen die Menschen stets mehr das Alte bleiben, das sie schon waren, als sie jenes Neue sind, das sie erst werden wollen: Zukunft braucht Herkunft. Beim Menschen gehört zu jeder Belastung mit Innovationsleistungen die Entlastung durch Kontinuitätskultur, sonst zerstört er sich. So ist es auch und gerade bei der Renaissance; denn sie ist - wie ich sagte - Innovationskultur als Kontinuitätskultur, weil sie das Neue so herbeiführt, daß sie die Kontinuität mit der Antike erneuert. Freilich: In der späteren Neuzeit, im Fortgang der modernen Welt und in unserer Gegenwart, bleibt es nicht bei dieser Identität von Innovationskultur und Kontinuitätskultur, sondern zunehmend treten beide - zusammengehörig - auseinander. Darüber mache ich jetzt noch einige Bemerkungen im abschließenden Abschnitt:
3. Renaissance und Kompensation Nach der Renaissance - scheint mir - treten Innovationskultur und Kontinuitätskultur zunehmend nebeneinander, während sie in der Renaissance identisch waren, was schon das Wort Renaissance selber signalisiert.
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1952 hat der Altgermanist und Etymologe Jost Trier in seinem Buch Holz, Etymologien aus dem Niederwald das 14. Kapitel überschrieben: »Renaissance«. Die einleuchtende These dieses Kapitels lautet: Die Wörter renasci, rinascita, renaissance stammen aus der »Wirk- und Notwelt« des »Niederwaldes«. Zwar hatten seit 1910 Konrad Burdach und seit 1920 J ohan Huizinga diese Wörter als säkularisierte religiöse Metaphern interpretiert, nämlich als »Wiedergeburt«. Das - meinte Trier - ist zumindest problematisch und bestenfalls sekundär. Denn - Machiavelli einmal beiseite gelassen - Giorgio Vasaris 1550 geprägte Wendung »rinascitil. di arti«, auf die fast alle historischen Renaissancebegriffe zurückgehen und die Dürer 1523 mit dem Wort »Wiederwachsung« vorweggenommen hat, stammt primär aus dem handfesten ökonomischen Kontext einer Forst- und Landwirtschaft, die den europäischen Menschen seit Jahrhunderten vertraut und um 1500 herum auch im Mittelmeereuropa noch weit verbreitet war: aus der silva caedua, dem Niederwald. Mit renasci, rinascita, renaissance, Wiederwachsung oder Wiederwuchs war ursprünglich vor allem dies gemeint: daß man planmäßig und großflächig Bäume kappte, die daraufhin rings um ihre Kappungsfläche mit erhöhter Vitalität und beschleunigtem Holzertrag Ruten und Triebe hervorsprießen ließen, deren Rinde fürs Gerben wichtig war, und die selber für verschiedenste Formen des Flechtwerks und natürlich auch zum Heizen oder durch das Laub als Futterlieferant gebraucht wurden. Zwischen diesen Bäumen säte und erntete man zunächst Getreide und trieb schließlich Vieh - etwa Ziegen - hinein, bis der Zyklus von vorn begann. Was diesen Hauwald - die planmäßige Baumkappung, um besonders kräftigen Wiederausschlag zu provozieren - zur Metapher für jenen kulturhistorischen Vorgang geeignet machte, der seit dem 14.Jahrhundert lief, war dieses: daß· eine Zerstörung - das Kappen des Baums - zu einem gesteigerten Leben führte, wenn - wie
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Trier schrieb - »der stehengebliebene Stock oder Strunk das ihm Geraubte in neuem Wachstum ersetzt; >renasci< heißt in diesen Zusammenhängen >wiederwachsen<, und nicht >wiedergeboren werden«<; denn »das Lebensgesetz des >renasci< besteht darin, daß man fähig ist, (gerade) durch erlittene Übel zum Wachsen angeregt zu werden«. Wachstum durch Kappung, bonum durch malum, das ist indem das Mittelalter weggekappt wird - das Strukturgesetz der durch Beschädigung stimulierten Innovationskultur der Renaissance. Renaissance: Das ist Innovationskultur als Kontinuitätskultur. Denn die neuen Triebe gehören zum alten Baum und sind ohne diesen alten Stamm ebensowenig möglich wie ohne den kappenden Hieb. Als Renaissance sind dabei Innovation und Kontinuität identisch. Aber im Fortgang der Neuzeit - je moderner die moderne Welt wird - bleibt es nicht bei dieser Identität: Innovationskultur und Kontinuitätskultur treten - zusammengehörig - auseinander und nebeneinander. Je mehr durch die Modernisierungspotenzen der Neuzeit aus Innovation Innovationsüberlastung wird, desto dringender braucht es eine eigene und sozusagen zweite Anstrengung, um - nun nicht mehr als Renaissance, sondern immer stärker als Kompensation - die nötige Kontinuitätskultur zu leisten. Je schneller die moderne Welt sich ändert, desto fremder wird sie. Die Menschen halten dieser Überlastung durch Neues und Fremdes stand, indem sie es so machen wie die ganz jungen Kinder. Diese, für die die Wirklichkeit unermeßlich neu und fremd ist, tragen ihre eiserne Ration an Vertrautem ständig bei sich: ihren Teddybären. Sie kompensieren ihr Vertrautheitsdefizit durch Dauerpräsenz des Vertrauten, durch - wie Donald Winnicott das genannt hat - ein »Übergangsobjekt«, eben ihren Teddybären. Diesen Kontinuitätsbedarf - einen strukturellen Teddybärbedarf - haben in der modernen, der schnell sich ändernden Welt auch die Erwachsenen. So gilt nun allgemein: Die Innovationsüberlastung wird kom-
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pensiert durch Kontinuitätskultur. Je mehr die Zukunft modern, für uns das Neue, das Fremde wird, desto mehr Vergangenheit müssen wir - teddybärgleich - in die Zukunft mitnehmen und dafür immer mehr Altes auskundschaften und pflegen. Darum wird gegenwärtig zwar mehr weggeworfen als je zuvor, aber es wird gegenwärtig auch mehr respektvoll aufbewahrt als je zuvor. Das Zeitalter der Entsorgungsdeponien ist zugleich das Zeitalter der Verehrungsdeponien, der Museen, der konservatorischen Maßnahmen, der Hermeneutik als Altbausanierung im Reiche des Geistes, der Bewahrungskultur des historischen Sinns, der Erinnerung. Diese Erinnerung gilt auch dem Beginn jener modernen Welt, die derlei Erinnerung braucht: der Renaissance, an die hier erinnert wird. Gerade in unserer Innovationswelt brauchen die Menschen die Kontinuitätskultur: entweder als Renaissance oder als Kompensation, zu der die Reminiszenz an die Renaissance gehört. Denn: Zukunft braucht Herkunft.
Die Krise des Opti11).ismus und die Geburt der Geschichtsphilosophie
Vor 250 Jahren, genauer am 1. November 1755, bebte die Erde in Lissabon. Es starben 30000 Menschen, einige zählen sogar 60000 Tote. Ende des Jahres 1755 schrieb Voltaire unter dem Eindruck dieses Erdbebens sein »POeme sur le desastre de Lisbonne«, das er 1756 veröffentlichte. Es beginnt mit Versen der Klage, in Übersetzung: »Ihr Unglücklichen und euer Land seid zu beklagen! / Du entsetzliche Ansammlung, ach, aller Plagen! / Schmerz, der sinnlos doch ist, aber ewig nicht ruht! / Philosophen, irrend, sagen: Alles ist gut. / Kommt, das Unglück bedenkt!« Und dann widmet sich Voltaire jener optimismuskritischen Überlegung, die der Untertitel des Gedichts verspricht: »Prüfung des Axioms Alles ist gut.« Ich knüpfe hier an diese Überlegung - also an Voltaires Kritik des Optimismus - an und möchte dabei philosophisch zeigen, daß diese Kritik des Optimismus unter anderem zur spezifisch modernen Geburt der Geschichtsphilosophie - einer Art post-theistischer Theodizee mit futurisiertem Über-Optimismus - führt; und ich ergänze das - auch als Kritik dieser Geschichtsphilosophie, die es ja erst neuzeitlich nach der Mitte des 18.Jahrhunderts seit der von Reinhart Koselleck so getauften »Sattelzeit« gibt durch einige weitere Überlegungen. Ich versuche, die These meines Vortrags in folgenden vier Abschnitten zu begründen und zu erläutern: 1. Optimismus; 2. Atheismus ad maiorem Dei gloriam; 3. Verfalls geschichte, Fortschritts geschichte, Totalgeschichte; 4. Verfeindungszwänge, Zerbrechlichkeiten, Kompensationen. Ich beginne meinen Vortrag - den Üblichkeiten entsprechend - mit Abschnitt:
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1. Optimismus
Den Ausdruck »optimisme« haben 1737 im Journal de Trevoux französische Jesuiten leibnizkritisch geprägt. Für Leibniz selber stand der Ausdruck noch nicht zur Verfügung, aber seine Essais de Theodicee sur la bonte de Dieu, la liberte de l'homme et l'origine du mal von 1710 sind der Sache nach ein »System des Optimismus«, denn sie verteidigen - in einem Prozeß Mensch gegen Gott in Dingen Übel in der Welt - Gott als Schöpfer der von ihm geschaffenen Welt durch das Argument: Diese Welt ist die bestmögliche Welt. Wie kommt es zu diesem Optimismus? Der Optimismus ist eine Gegenposition gegen die Gnosis, insbesondere, wenn man Hans Blumenbergs These aus seiner Legitimität der Neuzeit von 1966..favorisiert, die da lautet: »Die Neuzeit ist die zweite Uberwindung der Gnosis.« Leibniz plädiert für die Neuzeit. Seine Theodizee ist, wie man ohne Mühe aus ihr entnehmen kann, wesentlich auch eine Auseinandersetzung mit dem französischen Skeptiker Pierre Bayle und seinem pictionnaire historique et critique von 1695/97, das ein Uberwiegen der Übel in dieser Welt behauptete. Der in der Leibniz- Theodizee meistzitierte Artikel dieses dort meistzitierten Werks ist der Artikel über die Manichäer, ein auch zitierter Artikel ist der über die Markioniten. In diesen Artikeln referiert Bayle - mit großer Sympathie - die gnostische Position. Gnosis ist die Positivierung der Weltfremdheit durch Negativierung der Welt und ihres Schöpfers. Sie wurde - als christliche Häresie - theologisch-philosophisch in den ersten Jahrhunderten nach Christus zusätzlich eindrucksvoll durch die Verzögerung der Parusie: durch das Ausbleiben des kommenden Heilsreichs. Die Gnosis - insbesondere, wie sie durch den 160 gestorbenen Markion geltend gemacht wurde - behauptet, daß der Schöpfergott - der sich auch gegen die Erlösung stemmt als Demiurg einer übelhaltigen Welt böse und daß der Er-
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lösergott - als ein dem Schöpfergott gegenüber anderer und fremder - gut sei, indem er die böse Welt des bösen Schöpfers aufhebt zugunsten einer neuen und heilen Welt. Adolf von Harnack - vgl. sein Buch Marcion von 1921, 2. Auflage von 1924 - hat gezeigt, daß die christliche Kirche gegen diese Häresie entstanden ist, und Hans Blumenberg hat, ihn überbietend, zu zeigen versucht, daß die mittelalterliche Philosophie die erste Überwindung dieser Gnosis ist und daß - nach ihrem Scheitern durch die nominalistische Ausrufung eines der Welt verborgenen und souveränen Willkürgottes - die neuzeitliche Philosophie die zweite Überwindung dieser gnostischen Häresie ist, die die Welt negiert und den Schöpfergott als böse erfährt. Diese neuzeitliche Philosophie führt - gegen die gnostische Weltnegation - zur Weltbewahrung und muß das durch Positivierung der Welt und Positivierung ihres Schöpfers zeigen. Das eben zwingt philosophisch zum Optimismus. Zu dieser antignostischen Neuzeittendenz zur Positivierung von Schöpfergott und Welt trägt zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Theodizee von Leibniz zentral bei: durch sein »System des Optimismus«. Die Theodizee von Leibniz ist eine juristisch zu nehmende Verteidigungsschrift in einem Anklageprozeß: sie verteidigt den angeklagten Gott gegen den Ankläger Mensch. Dabei ist wichtig, daß später auch die Geschichtsphilosophie solch eine Prozeßphilosophie sein wird. Die Frage nach der gerechten Güte Gottes angesichts der Übel der von ihm geschaffenen Welt hat erst Leibniz »Theodizee« genannt. Er hat die Übel der Welt unterschieden in metaphysische Übel, moralische Übel und physische Übel, zu denen traditionell auch die Erdbeben gehören. Das Erdbeben von Lissabon hat den Glauben an die Zentralbedeutung der moralischen Übel erschüttert: die physischen Übel gelten fortan nicht mehr durchweg als Strafen Gottes, und die metaphysischen Übel- Endlichkeit und Vergänglichkeit - werden nachop-
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timistisch positiviert. Der Sache nach ist die Theodizeefrage alt: sie wird aufgeworfen etwa im biblischen Buch Hiob; und die Formel »Si Deus, unde malum?« steht immerhin - Bezug nehmend auf Epikur - schon in De ira Dei von Laktanz und wird später abgehandelt in metaphysischen Kapiteln »De causa Dei«, was man übersetzen kann mit »Der Fall Gott«. Wenn es Gott gibt, woher dann die Übel? Und wenn es die Übel gibt, wo bleiben dann Gottes Gerechtigkeit und Güte? In seiner Theodizee gibt Leibniz jene Antwort, die mit der »Wahl des Passendsten« und dem »Prinzip des Besten« zusammenhängt durch den nüchtern um Verständnis für Gott werbenden Gedanken: Gott ist gut und gerecht nicht wie ein weltfremder Gesinnungsschöpfer mit einem gegenüber Folgen rücksichtslosen Alles-odernichts-Prinzip, sondern er ist gut und gerecht wie ein weltkluger Verantwortungsschöpfer, der - auf Kompossibilitäten achtend bei den vielen möglichen Welten und dabei wie ein Politiker auch »Kröten schlucken muß«, um Sinnvolles durchzusetzen - durch die Grenznutzenanalyse einer Optimierungskalkulation jenes Minimum an Übel in Kauf nehmen muß, das ein Maximum an Gütern so ermöglicht, daß das Schöpfungsoptimum entsteht und besteht. Er muß also auch Übel »zulassen« als conditiones sine quibus non nicht der schattenfrei guten, sondern nur der besten, der Optimalwelt: Schöpfung ist die Kunst des Bestmöglichen. Gott - der Schöpfergott - ist nicht der, der es - das Gegenteil von »gut« ist »gut gemeint« - als weltfremder Fundamentalkreator gut nur meint, sondern er ist - sozusagen pragmatisch - als Realkreator der bestmögliche Gott der bestmöglichen Welt. Diese »optimistische« Lösung hat zugleich den Essay on man 1733/34 von Alexander Pope geprägt.
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2. Atheismus ad maiorem Dei gloriam Die Kritik dieser optimistischen Position treibt auf folgende Frage zu: Wenn die bestmögliche Schöpfung nur die bestmögliche ist und unvermeidlich Übel einschließt, warum hat Gott das Schaffen dann nicht bleibenlassen? Diese Frage - in Leibnizscher Form »Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr nichts?« - bildet den Hintergrund jener Krise des Optimismus, die 1755 durch die Katastrophe des Erdbebens von Lissabon weltweit schrecklichen Eindruck machte. »Das 18.Jahrhundert verwendet das Wort Lissabon etwa so, wie wir heute das Wort Auschwitz verwenden«, schreibt Susan Neiman in ihrem brillanten Buch Evil in Modern Thought von 2002, das 2004 als Das Böse denken ins Deutsche übersetzt ist. Ich stelle nun hier - wie einleitend schon gesagt - die These auf, daß diese Krise des Optimismus zur modernen Geburt der Geschichtsphilosophie - einer Art post-theistischer Theodizee mit futurisiertem Über-Optimismus - geführt hat. Diese Geschichtsphilosophie begreift - ihrer Tendenz nach die Welt nicht mehr als Schöpfung Gottes, sondern - weil die Welt sich nicht mehr als gute Schöpfung Gottes verstehen läßt - als Schöpfung des Menschen: als Geschichte mit problematischer Gegenwart, aber guter Zukunft. Diese Geburt der Geschichtsphilosophie setzt also voraus, daß das Leibnizsche - und auch das Popesche - »System des Optimismus« in eine Krise gerät und zusammenbricht, weil die Erfahrung der Weltübel sich radikalisiert. Die Katastrophe von Lissabon und ihre antioptimistische Deutung wird verarbeitet durch Voltaires "Poeme sur le desastre de Lisbonne« und seinen Roman Candide ou l'Optimisme aus dem Jahr 1759: die Satire trifft mit der Figur des Pangloss den Philosophen der bestmöglichen Welt. Ihre Kritik wurde - zumal ein traditionelles Alibi Gottes, der Teufel, wenig früher von Descartes als »genius malignus« zum Argumentationskniff im Kontext des »me-
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thodischen Zweifels« entwirklicht worden war und dadurch als reale Größe zur Entlastung Gottes ausfiel nicht nur durch das Erdbeben von Lissabon sinnenfällig und - durch das Mitleid der europäischen Welt - verschärft. Es waren zuvor - nicht allein durch Pierre Bayles Reponse aux questions d'un Provincial von 1704 und Pierre Louis Moreau de Maupertuis' Essai de philosophie morale von 1749 - Zweifel am Optimismus philosophisch längst geäußert: Belege sind u. a. die Position Philo in David Humes bereits ab 1751 geschriebenen Dialogues concerning Natural Religion und die - gegen Popes Essay on man sich richtende, aber Leibniz meinende - Widerlegungsintention der ja schon 1753 formulierten Optimismuspreisfrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Es gab zudem die Erinnerung an die konfessionellen Bürgerkriege, es gab die frühgrüne Negativerfahrung der Naturferne der Kultur seit 1750 durch Rousseau. Es kommt zu neuen Krankheitserfahrungen und - vgl. Michel Foucault - zur »Geburt der Klinik«, es kommt - Wolf Lepenies hat das interpretiert - zur Ausbreitung der »Melancholie«. Es kommt 1764 - Horace Walpole, The Castle 0/ Otranto - zur Erfindung der literarischen Angstgenera. Es gibt die Unzufriedenheit des dritten Standes mit dem Staat der absoluten Monarchie. Kant - der 1756 drei Texte über das Erdbeben von Lissabon veröffentlichte - führt 1764 die »negativen Größen« in die »Weltweisheit« ein und artikuliert die »Realrepugnanzen«, die später als Widersprüche der Geschichte auffällig werden. Und er entdeckt 1769 - im Jahr seiner Notiz über das »große Licht« - die »Antinomien«, also die Widersprüche der Vernunft bei der Diskussion des Unbedingten und damit die erschreckende Möglichkeit, daß die Vernunft, der Garant der Aufklärung, selber als genius malignus zu wirken vermag: das sind die Anfänge der Ideologiekritik. Angesichts dieser und manch anderer Neuerfahrung von Übeln zerbricht die optimistische
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Leibnizlösung der Theodizee, und die Theodizeefrage so immer mehr der Kiise des Optimismus ausgesetzt wird jetzt radikal und verlangt nach Radikalbeantwortung der genannten Radikalfrage: Wenn die bestmögliche Welt unvermeidlich Übel einschließt, warum hat Gott das Schaffen dann nicht bleibenlassen? Als radikale Antwort auf diese radikale Frage entsteht die Geschichtsphilosophie, und diese Antwort lautet: Gott ,hat< das Schaffen bleibenlassen, denn nicht Gott ist der Schöpfer der Welt, sondern - als Schöpfer des Menschenwerks Geschichte - der Mensch. Dadurch scheidet Gott in der Prozeßphilosophie Theodizee als Angeklagter aus, und es rückt - als Angeklagter der Prozeßphilosophie Geschichtsphilosophie - an seiner Stelle jetzt der Mensch ein. Die Schöpfung des Menschen - die Geschichte also - ist, im Unterschied zur Schöpfung Gottes, die angeblich gut ist, jene Schöpfung, die gut nicht ist, sondern gut erst - in der Zukunft - sein wird: als fortschrittliche Herbeiführung einer zukünftig heilen Welt. Das ist - als extreme Autonomiephilosophie, die Gott theodizeemäßig von der Schöpferschaft entlastet - eine Theodizee durch einen Atheismus ad maiorem Dei gloriam. Sie ist - sozusagen als umgedrehter physiologischer Gottesbeweis - der Schluß von der Güte Gottes auf seine Nichtexistenz: Gott bleibt - angesichts der Übel in der Welt - der gute Gott nur dann, wenn es ihn nicht gibt, oder jedenfalls: wenn Gott der Schöpfer der Welt nicht ist. Die hierbei leitende These ist also: Diese Philosophie des Autonomismus des Menschen hat Theodizeesinn, nämlich Verteidigungswert in bezug auf Gott. Sie entlastet Gott von der Anklagefrage der Theodizee, weil diese Autonomiephilosophie - als post-theistische Theodizee - eine extreme Entlastung Gottes, nämlich die tendenzielle Verabschiedung Gottes ist. Dadurch entsteht - um es auf eine philosophische Formel zu bringen - durch die Krise des Optimismus die Geschichtsphilosophie,· die also ist: eine
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säkularisierte Theodizee, sozusagen (wie man der Chirurgie zuweilen nachsagt: Operation gelungen, Patient tot): Theodizee gelungen, Gott tot. 3. Verfallsgeschichte, Fortschrittsgeschichte, Totalgeschichte
Das konkrete Pensum dieser autonomistischen Geschichtsphilosophie, die im 18.Jahrhundert aus der Krise des Optimismus entsteht, liegt konsequenterweise darin, nachzuweisen, daß Gott deswegen der Schöpfer der Welt nicht ist, weil ein anderer als Gott der Schöpfer der Welt ist, nämlich der Mensch: und die Welt als Menschenwerk ist die Geschichte. Dazu gehört - nachdem bisher ontologische Bonität nur das Unveränderliche hatte - die ontologische Positivierung der Wandelbarkeit mit dem ungeheuren Wichtigkeits gewinn nun der Geschichte: zunächst als Entwicklung und Fortschritt. So entsteht - im Umkreis des Erdbebens von Lissabon aus dem Jahre 1755 - die moderne Geschichtsphilosophie. Es ist begriffsgeschichtlich symptomatisch, daß es 1756 zum Ausdruck »Geschichtsphilosophie« kommt: eben in diesem Jahr - direkt nach dem Erdbeben von Lissabon - hat Voltaire seinen Essai sur l'histoire generale et sur les mreurs et l'esprit des nations veröffentlicht: in seiner zweiten Auflage 1765 wird die Einleitung ausdrücklich als »Philosophie de l'histoire« bezeichnet. Sie ist - als Gegenstück zu Bossuets Discours sur l'histoire Universelle von 1681: vor allem Karl Löwith hat das herausgearbeitet - nicht mehr Vorsehungsgeschichte, sondern Fortschrittsgeschichte mit den Menschen als Tätern. Diese Geschichtsphilosophie - ihre Akzentuierung gehört zu meinen Thesen - durchläuft mehrere historische Stationen, die ich hier in drei Unterabschnitten bündele: die vom Menschen - diesseits von Gott - gemachte Welt als Geschichte ist entweder Verfalls geschichte, für die Rous-
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seau repräsentativ ist, oder moderate Fortschrittsgeschichte, für die Kant repräsentativ ist, oder Totalgeschichte, für die Fichte repräsentativ ist. Ich deute den Ansatz dieser Geschichtsphilosophien an. Da ist: a) die Geschichtsphilosophie als Theorie der Vedallsgeschichte. Für sie steht Jean-Jacques Rousseau. In seinem Brief an Voltaire über die Vorsehung von 1756 verteidigt Rousseau zwar den "Optimismus«, aber - was nach seiner Preisschrift von Dijon Abhandlung über die Wissenschaften und Künste von 1750 naheliegt - mit einer Variante, die entscheidend ist: Nicht alles ,ist< gut, sondern alles ,war< gut, aber es ist nicht mehr gut: und das kommt vom Menschen. Das zeigt sich im Anfangssatz des Emile von 1762: "Alles ist« - war - "gut, soweit es aus den Händen des Schöpfers hervorgeht, alles wird schlecht (degeneriert sich) unter den Händen des Menschen.« Aber nicht die Hände des Schöpfers Gott, sondern die Hände des Menschen machen die Geschichte, und die Geschichte - die nicht von Gott, sondern vom Menschen kommt - ist Verfallsgeschichte. Zwar ist die Natur gut, der Mensch aber durch Kultur - macht sie schlecht. Darum - das ist die Lehre aus dieser verfallstheoretischen Philosophie der Geschichte, die eben dadurch auch Möglichkeiten für den Menschen eröffnet, gegen das (etwa durch Pädagogik) verfallsgeschichtliche Übel der Kultur anzugehen - muß man über die gegenwärtige Verfalls gestalt der menschlichen Verfalls geschichte hinausgehen "zurück zur Natur«. Da ist: b) die Geschichtsphilosophie als moderate Theorie der Fortschrittsgeschichte. Für sie steht Immanuel Kant, und zwar nicht nur in seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht von 1784, sondern zuvor schon in der wissenschaftsgeschichtlichen Fortschrittsgeschichte seiner Kritik der reinen Vernunft von 1781 und - in zweiter Auflage - von 1787, wo er allerdings weniger vom Fortschritt, mehr von den "Revolutio-
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nen« schreibt, die die modernen Laborwissenschaften zum »sicheren Gang einer Wissenschaft« gebracht haben, bei denen es darum geht, an »ihrem Fortschreiten zum Besseren nicht zu verzweifeln, sondern [... ] die Annäherung zu diesem Ziele [... ] zu befördern«, wie Kant in seiner seit 1772 gehaltenen Anthropologievorlesung darlegt; und dieses Ziel ist: exakte Wissenschaften sollen sein und fortschreiten. Kant unterscheidet in seiner Kritik der reinen Vernunft zwischen »Dingen an sich« und »Erscheinungen«. Jene - die "Dinge an sich« - sind göttliche Vorgaben, diese - die »Erscheinungen« - sind Produktionen des Menschen. Dabei ist es wichtig, zu sehen: Kants Theorie in der Kritik der reinen Vernunft ist keine allgemeine Erkenntnistheorie, sondern eine Theorie der - durch Newton geprägten - mathematischen Naturwissenschaften, die er - anders als Rousseau - positiv begreift, wenn sie sich nicht unheilvoll mit lebensweltlicher Ding-ansieh-Erkenntnis verwechseln und dadurch in Antinomien verfallen. Das kritisiert Kants Metaphysikkritik: daß Laborwissenschaft verwechslungsphysisch zu Ding-an-sichErkenntnissen gemacht werden sollen, daß Reduktionismen metaphysisch wild werden. Weil die Laborwissenschaften die göttliche Erkenntnis so nach Kant nicht mehr repräsentieren, werden sie häresieunfähig mit halbwegs uneingeschränkten Neugierlizenzen. Bei Kant wird diese These ungemein vorsichtig entwickelt: Es ist nur die - in ihren formalen Bedingungen aus dem menschlichen Ich entspringende - Laborwissenschaftswelt der »Erscheinungen«, nicht die Lebenswelt der »Dinge an sich«, die durch das menschliche Bewußtseins-Ich produziert wird, und es ist die Geschichte der Fortschritte dieser Laborwissenschaftswelt, die - wie die allgemeine Geschichte in weltbürgerlicher Absicht - vom Menschen gemacht wird, so daß der Weltschöpfer Gott durch den Erscheinungsweltschöpfer Mensch entlastet wird. Abgesehen davon verwirft Kant - der in seiner Frühzeit noch den Leibnizschen
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»Optimismus« zu vertreten versuchte - aus Gründen seiner Ethik alle anderen' Formen einer Theodizee, die schreibt er 1791 im Aufsatz Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee - »mißlingen« müsse: sie dürfe nicht »doctrinal« Scheinlösungen bieten, sondern müsse »authentisch« offenbleiben. Kants Philosophie entlastet Gott - sozusagen halb - durch eine vorsichtige - für mich sehr sympathische - Geschichtsphilosophie des Wissenschaftsfortschritts. Da ist: c) die Geschichtsphilosophie als Theorie der Totalgeschichte. Für sie steht Johann Gottlieb Fichte. Anfangs - in seinen Aphorismen über Religion und Deismus von 1790ist auch für Fichte Gott der Schöpfer, so daß er zum Optimismus neigt: Gott ist alles, und darum ist die menschliche Freiheit nichts (außer einern Wunsch des Herzens, den die Religion artikuliert). Aber Fichte - in seiner AenesidemusRezension von 1792 - favorisiert alsbald die gegenteilige These: Das menschliche Ich ist alles, und darum muß Gott nichts sein (außer - wie Fichte in seinem Versuch einer Kritik aller Offenbarung von 1792 zuerst formuliert - ein moralisches Gesetzespostulat). Bei dieser Konversion Fichtes ist erneut jenes optimismuskritische Theodizeemotiv wirksam, das Gott entlastet, indern es den Menschen belastet: Fichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794 gibt auf die radikal gewordene Theodizeefrage - Warum hat Gott angesichts der Übel in der Welt das Schaffen nicht bleibenlassen? - die radikale Antwort: Nicht Gott hat die Welt geschaffen, sondern das menschliche Ich. Die geschichtliche Ichwerdung des Ich wird zur Weltwerdung der Welt. Fichtes scheinbar maßlose philosophische Zentralisierung des Ich ist - wegen ihrer keineswegs gottesfeindlichen, sondern gottesfreundlichen Absicht, Gott durch Ermächtigung des Ich zu entlasten - eine optimismuskritische Theodizee durch Autonomiephilosophie: sie verwandelt Gottes totale Weltschöpfung in des Menschen totale Geschichtsschöpfung - in die »pragmatische Ge-
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schichte des menschlichen Geistes« mit futurisiertem Über-Optimismus - und so in eine Philosophie der Totalgeschichte mit absoluter Zielgewißheit: der zukünftigen heilen Welt. Das hat nicht Hegel, der ja die Zukunft offenließ, sondern Marx wiederholt, der sozusagen ein konsequenter - umgedrehter - Fichteaner war. Den Fichte der frühen Wissenschaftslehre - der ein philosophischer Prediger war, ein unerbittlicher Evidenzmissionar, ein Weltverbesserungseiferer mit der Fähigkeit, die Dinge absolut auf die Spitze zu treiben - führte sie zur totalen Geschichtsphilosophie der totalen Geschichte. Das sind einige Stationen der Geschichtsphilosophie, die im 18.Jahrhundert durch die Krise des Optimismus entstand: durch den Weg vom unwandelbaren Schöpfer Gott und dem optimistischen »Alles ist gut« zu dem - angeblich - sehr wandelbaren Menschen und seiner Schöpfung Geschichte mit dem negativitätsbedachten >wenig ist gut, aber alles wird schließlich gut sein<, also vom Prinzip Ewigkeit zum Prinzip Zukunft, vom Optimismus zum geschichtsphilosophischen futurisierten Uber-Optimismus.
4. VerJeindungszwänge, Zerbrechlichkeiten, Kompensationen In bezug auf diese Geschichtsphilosophie, die im 18.Jahrhundert durch die Krise des Optimismus entstand, sind je nach Ansatz unterschiedlich - kritische Bemerkungen fällig. Wenn es nämlich schon für Gott so unaushaltbar schwer war, guter und gerechter Weltschöpfer zu sein, daß - angesichts der Übel - der Mensch ihn (geschichtsphilosophisch) aus dieser Rolle und Verantwortung entlasten mußte, um wie vieles mehr ist es dann für den Menschen - das Ich - unaushaltbar schwer, Weltschöpfer zu sein, und um wie vieles mehr muß dann - angesichts der Übel- für die Menschen das Bedürfnis entstehen, aus die-
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ser Rolle und Verantwortung des Schöpfers der Weltgeschichte seinerseits entlastet zu werden. Der Mensch kann - im Kontext der Theodizee und der optimismuskritischen Theodizee, der Geschichtsphilosophie - Gottes Schöpferrolle nicht erben, ohne seine Rolle als Angeklagter der Theodizee mitzuerben: Und was macht er dann? Dabei wird die Geschichtsphilosophie - vor allem die Prozeßphilosophie der Totalgeschichte - ein Tribunal: nicht nur der Ankläger bleibt der Mensch; denn zugleich tritt in die Stelle des Angeklagten, aus der Gott ausgeschieden ist, nun ebenfalls der Mensch ein. Diesem Tribunal entkommt er, indem er es wird: also indem der Mensch den Menschen als Schöpfer der bisherigen Geschichte anklagt und dazu verurteilt, sich und die geschichtliche Wirklichkeit zu ändern. Denn die Übel - das "Böse« - wird jetzt eben nicht mehr von Gott erzeugt oder zugelassen, sondern durch den Menschen. Darum ergänzt der - geschichtsphilosophisch-totalgeschichtliche Mensch seine Absicht, es zu sein, durch die Kunst, es nicht gewesen zu sein. Wenn es übel steht um die Welt als Geschichte, ist es für die Menschen - nunmehr an Stelle Gottes - entlastend, wenn zwar die Menschen sie gemacht haben, aber stets nur die anderen Menschen. So vermeidet der Mensch, ein schlechtes Gewissen zu "haben«, indem er - als Avantgarde - für die anderen Menschen, die nicht die Avantgarde sind, sondern reaktionär die geschichtliche Herkunft gemacht haben, das schlechte Gewissen »wird«, weil sie sich an der Zukunft vergehen, was sie nicht nur dazu führt, »suspect« zu sein und die »terreur« erdulden zu müssen, sondern - immer stärker geplant - tendenziell liquidiert zu werden. Durch diese - später »Dialektik« genannte - Dauerflucht nach vorn aus dem Gewissenhaben in das Gewissensein setzt das Ich - der Mensch - sich selbst, indem es sich absetzt vom anderen Ich, vom anderen - dem negativen - Menschen. Darum entpuppt - totalgeschichtlich - der Fortschritt zum Menschen sich als
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Flucht aus dem Menschen: als geschichtsphilosophischer Verfeindungszwang. So ist die wirklich menschliche Lösung aus der Krise des Optimismus nicht die Geschichtsphilosophie, jedenfalls nicht ihre totalgeschichtliche Form. Darum wird seit dem Erdbeben von Lissabon - die wichtigste Neuentdeckung für die Philosophie des Menschen - die seit der gleichen Zeit Mitte des 18. Jahrhunderts verstärkt »Anthropologie« genannt wird - die betonte Entdeckung der Zerbrechlichkeit des Menschen. Die Zerbrechlichkeit des Menschen ist ein Mangel, der nach Ausgleichsbemühungen ruft: daher kommt es seit Mitte des 18.Jahrhunderts - in der ersten Blütezeit der philosophischen Anthropologie - zur langsamen Konjunktur einer anthropologischen Kategorie, der Kategorie der Kompensation. Hierbei handelt es sich nicht um eine geschichtsphilosophische, wohl aber um eine geschichtsphilosophienahe Kategorie: um eine anthropologische Kategorie von Geschichtsverläufen, die nicht mehr einer endzielgewissen Einheitsgeschichte angehört, sondern einer Pluralität von Geschichtsverläufen nicht-optimistischer Art, die keinen starken Trost, sondern schwachen Trost liefert, weil sie - auf Mangellagen antwortend - positive Ausgleichsbemühungen geltend zu machen in der Lage ist. Sie kommt - als flankierendes Nebentheorem schon aus dem Optimismus. Leibniz schreibt: »der Schöpfer der Natur hat die Übel und Mängel durch zahllose Annehmlichkeiten kompensiert«; und noch jener frühe Kant, der den Optimismus verteidigen wollte, meint 1755 in der sogenannten Nova dilucidatio: »Die Kompensation der Übel ist der eigentliche Zweck, den der göttliche Schöpfer vor Augen gehabt hat.« Aber erst nach der Krise des Optimismus Mitte des 18. Jahrhunderts - zum Zeitpunkt des Erdbebens von Lissabon - wird dieses flankierende Nebentheorem der klassischen Theodizee zum Hauptgedanken. Der Opti-
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mist kennt das Ziel und - generell - das »alles ist gut«; der Kompensierer sieht das Unglück und sucht - en detail - möglichen (und, wenn es geht, glücklichen) Ausgleich. Dabei meint man, daß entweder die Übel überwiegen (so etwa, in der Nachfolge Bayles, Maupertuis im Essai de philosophie morale 1749) oder die Güter (Antoine de La Sale 1788 in seiner Balance naturelle: »tout est compense ici bas«), oder malheurs und bonheurs halten einander die Waage: das meint - ausdrücklich Kompensationsbefunde geltend machend - 1761 in De la nature Jean Baptiste Robinet und 1788 in seinen Apologues modernes Sylvain Marechal: »Güter und Übel bleiben in einem zureichend vollkommenen Gleichgewicht: alles im Leben wird kompensiert.« Diese Kompensationsthese wird - als »la loi« - 1808 von Pierre-Hyacinthe Aza'is pointiert resümiert im Buch Des compensations dans les destinees humaines, durch »Le Principe des Compensations« ist die Glücks-Unglücks-Bilanz angeblich bei jedem Menschen gleich Null, d. h. ausgeglichen: dadurch sind alle Menschen gleich. Hierhin gehört dann auch das sozial reformerische Kompensationsprogramm des Utilitarismus; man muß die Glücksbilanzen - in Richtung auf »the greatest happiness of the greatest number« - durch Kompensationen aufbessern: das proklamiert (fast gleichzeitig mit Adam Smiths An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations) 1776 bzw. 1789 Jeremy Bentham und 1772 in seinem Buch De la felicite publique der Chevalier de Chastellux mit der These: »Le bonheur se compense assez.« Und dann ist da in Über den Ursprung der Sprache 1772 Johann Gottfried Herder: der Mensch - schreibt er - ist ein »Stiefkind der Natur« und »Mängelwesen«, aber - als »Schadloshaltung«, d. h. Kompensation - gerade dadurch hat er Sprache. So erobert die Kompensationsthese die intellektuelle Szene, etwa 1865 in Ralph Waldo Emersons Essay Compensation. Dabei macht es wenig Unterschied, ob sie vor oder nach Scho-
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penhauer formuliert wird. Friedrich Hölderlin schreibt: »wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch«; Wilhelm Busch schreibt: »wer Sorgen hat, hat auch Likör«. Die Formel aus Patmos von 1803 und die aus der Frommen Helene von 1872 meinen die gleiche Figur der Kompensation. So kommt sie auf die Gegenwart. Dort wird sie im Umkreis der Psychoanalyse 1907 durch Alfred Adler und earl Gustav Jung - mit großem, aber falschem Bewußtsein der Originalität - ausdrücklich als Kompensationstheorem reformuliert und avanciert wenig später zur anthropologischen Hauptkategorie: der Mensch ist Mängelwesen, aber das kompensiert er durch Entlastungen, meint 1940 Arnold Gehlen; doch längst vor ihm hat Helmuth Plessner das 1928 in Die Stufen des Organischen und der Mensch formuliert: »Der Mensch [ ... ] sucht [... ] Kompensation seiner Halbheit, Gleichgewichtslosigkeit, Nacktheit.« Dabei mag es angebracht sein, die Skepsis von Jacob Burckhardt walten zu lassen: Es »meldet sich« - schreibt er 1868 in seinen Weltgeschichtlichen Betrachtungen - »als Trost das geheimnisvolle Gesetz der Kompensation«; aber »es ist und bleibt ratsam, mit diesem [ ... ] Troste sparsam umzugehen, da wir doch kein bündiges Urteil über diese Verluste und Gewinste haben«. Wie ist das also - gerade angesichts des Erdbebens von Lissabon in der Mitte des 18.Jahrhunderts und seither und angesichts des Tsunamis Ende 2004 und des Hurrikans von N ew Orleans - wie ist das also mit unserer menschlichen Welt? Ist Optimismus angebracht? Oder geschichtsphilosophisch futurisierter Über-Optimismus? Oder gibt es Verfeindungszwänge, Zerbrechlichkeiten, Kompensationen? Oder was sonst? Vielleicht ist ja unsere Welt trotz allem mehr Nichtkrise als Krise; dann ist sie zwar nicht der Himmel auf Erden, aber zugleich doch auch nicht die Hölle auf Erden, sondern eben: die Erde auf Erden.
Freiheit und Pluralität Menschliche Freiheit - das überlegt dieser Aufsatz - lebt von der Gewaltenteilung. Freiheit ist kein Minus, sondern ein Plus an Determiniertheit. Diese Freiheitsthese versucht, jenen Freiheits gedanken, der aus der politischen Gewaltenteilungslehre kommt, mit jenem Freiheitsgedanken zu kreuzen und zu legieren, der - wenn im Effekt auch schichtenfrei - aus der philosophischen Schichtenlehre kommt. Es resultiert - hoffe ich - eine determinationspluralistische Freiheitsthese. Ich skizziere sie in folgenden drei Abschnitten: 1. Unterforderung: Freiheit als Nulldetermination; 2. Überforderung: Freiheit zum Bösen als Alibi Gottes; 3. Gewaltenteil~:mg: Freiheit als D~termi nationsplus. Ich beginne meine Uberlegung - den Ublichkeiten entsprechend - mit Abschnitt:
1. Unterforderung: Freiheit als Nulldetermination Die berühmte dritte Antinomie aus Kants Kritik der reinen Vernunft! scheint die klassische Formulierung des Freiheitsproblems zu sein. Dort nennt Kant - ich zitiere die Kurzfassung der Prolegomena - »Freiheit [ ... ] das Vermögen eine Begebenheit von selbst anzufangen«2, also sie »spontan« zu beginnen: Freiheit ist durch Indeterminismus als Nulldetermination bestimmt. Dagegen steht die These vom durchgängigen Determinismus der Natur, die heute meist »Naturalismus« genannt wird. Es kommt also zum Widerstreit. In der Kurzfassung der Prolegomena besagt diese Antinomie: »Satz: Es gibt in der Welt Ursachen durch Freiheit. Gegensatz: Es ist keine Freiheit, sondern alles ist Natur.«3 Das also ist - in Kurzfassung - die berühmte dritte, die Freiheits-Antinomie der Kritik der reinen Vernunft.
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Indes: Kant formuliert diese »dritte Antinomie« gerade, um zu zeigen, wie das Freiheitsproblem nicht diskutiert werden kann. 4 Sie steht im Kontext von Kants Metaphysikkritik: der Kritik an der Verwechslung von »Erscheinungen« und lebensweltlichen »Dingen an sich«, von Laborwissenschaft und Metaphysik. Metaphysik - meint Kant - als Laborwissenschaft ist nicht möglich. Wo die lebensweltlich metaphysische These von der Vorausbestimmung und Voraussicht Gottes - nach dem pantheistischen Zwischenspiel »Deus sive natura« (Spinoza) - verlassen ist, tritt an ihrer Stelle die »naturalistische« These von der naturgesetzlichen Determination auf, bei der das Freiheitsproblem verlorengeht, indem es zum DeterminismusIndeterminismus-Streit wird. Darum - und das wird heute wenig realisiert bis hinein in die Träume der Hirnwissenschaft: philosophy of mind never mind ist die berühmte »dritte Antinomie« von Kants erster Kritik gerade nicht die klassische Formulierung des Freiheitsproblems: sie ist vielmehr die Konkursbilanz des kontrollmetaphysischen Versuchs, Freiheit auf dem Boden der Laborwissenschaft zu diskutieren. Sie begreift entweder (Determinationsthese) die Freiheit nicht oder (Indeterminationsthese) nicht die Freiheit, sondern verwechselt »Erscheinungen« mit »Dingen an sich«. Aber - schreibt Kant - »sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten«.5 Die Verwechslungsmetaphysik - der wildgewordene Reduktionismus - rettet die Freiheit nicht: sie gibt das Freiheitsproblem verloren. So wird die Freiheitsdiskussion unterfordert. Ich will nicht mäkeln, daß die - inzwischen teilweise neurobiologisch orientierte - Psychologie weithin zur Fragebogenwissenschaft geworden ist. Am Anfang ihrer experimentellen Form stand die Kritik der Introspektion; aber sie hat nur - mit Hilfe der Statistik - die Solitärintrospektion durch die Kollektivintrospektion abgelöst. Der Fragebogen ist die Rache der Introspektion für ihre Vertreibung:
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durch den Fragebogen ist die Introspektion tausendfach zurückgekehrt. 6 Wichtiger ist, scheint mir, daß die Frage nach der Freiheit unzureichend gestellt wird. Im Namen laborwissenschaftlicher Übersichtlichkeit wird - kontrollhinsichtlich allerdings optimal - die Versuchs anordnung auf die einfachstmögliche Form gebracht. So prüft Benjamin Libd die Freiheitsfrage durch eine Fingerbewegung. Aber wo bleibt, daß Freiheit gelernt werden kann und muß, daß es Traditionen und Institutionen der Freiheit gibt und die gewaltenteilige Wirksamkeit von Zusatzdeterminanten? Der Kontext der Freiheit wird dort abgeblendet, wo die Freiheit zur Nulldetermination verkommt: dort bleibt die Freiheit null. Wer Freiheit durch Fingerübungen prüft, prüft nicht die Freiheit: ob er sie verneint oder bejaht. Darum scheint mir das Freiheitsproblem - als Determinismus-Indeterminismus-Streit - verlorenzug.ehen, wo ihre Komplexität aus laborwissenschaftlichen Ubersichtlichkeitsgründen - zwar kontrollhinsichtlich optimal - durch Reduktion ihrer Komplexität auf die einfachstmögliche Form gebracht wird: in dieser simplifiziertesten Versuchsanordnung wird der Entscheidungsfall 'gegen< oder ,für< die Freiheit 'zu klein<; dort siegt das Kontrollinteresse über die Freiheitsprüfung, ob sie nun 'gegen< die Freiheit fällt oder ,für< sie. Indeterminismus die Nulldetermination - ist nicht die Freiheit, ob man nun 'gegen< sie oder ,für< sie spricht. Ich meine also: Die Freiheitsprüfung kann - gerade weil sie zugunsten der laborwissenschaftlichen Kontrolle wirkt - 'zu klein< sein. Daraus folgere ich: Das Freiheitsproblem muß geöffnet werden. Es reicht nicht aus, wenn wir - wie die heutigen analytischen Analysten und analystischen Analyten das tun - es so entkomplizieren und verkürzen, daß die Freiheitsprüfung faktisch verschwindet und sie statt dessen dann in die Fänge einer physikalistisch-überscholastischen Sprachmetaphysik gerät. Das bedeutet also, daß man diesseits von Determinismus und Indeterminismus - das
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Freiheitsproblem anders stellen muß, nämlich nicht mehr >zu klein<. Darum versuche ich hier - um das Freiheitsproblem nicht >zu klein< zu stellen - es zunächst einmal als Gegengift >zu groß< zu stellen: durch einen >zu großen< Freiheitsversuch mit extrem >zu ausgeweiteter< Versuchsanordnung, eine, die die ganze Welt betrifft, wie man sie in der metaphysischen Tradition findet. Auch dieser Versuch - meine ich - scheitert: nun nicht mehr aus Unterforderungsgründen, sondern nun aus Überforderungsgründen. Von ihm soll - mit Blick auf das Freiheitsproblem in einer Philosophie des Übels seit der Antike - jetzt die Rede sein im folgenden Abschnitt:
2. Überforderung: Freiheit zum Bösen als Alibi Gottes Das Freiheitsproblem ist metaphysisch traditionell eine Grundfrage der Theodizee: Freiheit - auch wenn die Vokabel »Theodizee« erst seit Leibniz gebräuchlich wird ist als Freiheit des Menschen zum Bösen angesichts der Macht Gottes zum Guten und als deren Einschränkung das Alibi Gottes. Es ist also jetzt angebracht, dieses Freiheitsproblem - im Kontext einer »Philosophie des Übels« bzw. des »Bösen«8 - in vier Schritten darzulegen. a) Antike Philosophie: Es ist auffällig, daß der Begriff der Freiheit - obwohl die Wörter »eleuteria« und »autonomon« vorkommen - in der antiken Ethik keinen wesentlichen Platz hat. Auch in der hellenistischen Ethik ist »ataraxia« wohl kein Freiheitsbegriff. Jacob Burckhardt hat - nach der »Nachtseitenforschung« der klassischen Philologie vor allem im 19. Jahrhundert9 - die durch Friedrich Nietzsche popularisierte (der Untertitel der Geburt der Tragödie lautet »Griechentum und Pessimismus«) und von Hans Blumenberg in seiner Genesis der kopernikanischen Welt lO erneut erinnerte These vom griechischen Untergrundpessimismus vertreten. Angesichts
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der Übel und des Leidens in der Welt haben die Griechen gleichzeitig erfunden: die » Tragödie«, durch die sie das Lebensleiden in die Distanz des Schauspiels rückten, und die »Philosophie«, durch die sie die Lebensübel vergessen konnten, weil sie sie durch Schauen - durch »Theorie« besiegten. Sie blickten auf das Wesentliche der Welt - das Unvergängliche, das Immerseiende, das Eine, das Wahre, das Gute und ihren Glanz - und relativierten die Welt der Übel als das Unwahre und Unwesentliche. Wie kommt es, wenn doch das Wesentliche der Welt die Nicht-Übel sind, zur unwesentlichen und nichtigen Welt der Übel? Im ganz frühen Spruch des Anaximander ist das Üble ungerecht und wird durch die Zeit mit Vergehen bestraft. In der ganz späten Emanationslehre von Plotin kommt das pothen ta kaka durch die hyle, das einheitsferne me on, den extremen Seinsmangel: der steresis, privatio, »Beraubung«. Das ist auch schon die Position der mittleren griechischen Philosophie, die man vor allem in Platons Timaios findet. »Gott ist schuldlos«,ll denn der »Demiurg« will aufrichtig das Gute schaffen, aber er kann nicht: widerspenstig ist die »Materie«, die - wenn der »Demiurg« sie nicht ordnet - noch viel schlimmer ist als nur schlimmY Das bedeutet: In der griechischen Philosophie wird das Übel und Leiden >veruneigentlicht< zu einer Welt, in der es unwesentlich nichtig - wird. Es kommt zu den Übeln, weil es eine Grenze der Macht des Guten und Wesentlichen gibt, nämlich die Materie: sie wird zum Alibi des Wesentlichen und Guten. b) Christliche Metaphysik: Hier sind die Übel und das Leiden nicht unwesentlich, sondern wesentlich, denn selbst Gott leidet. Es wird die Allmacht Gottes verkündet, und gerade das führt zum Freiheitsproblem. Mit der Allmacht Gottes entfällt jenes Alibi des »Demiurgen«, das antik die Materie bildete. Denn der allmächtige Gott hat nach dem aus der Bibel herkommenden christlichen Verständnis die Welt nicht aus der Materie, sondern aus dem
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Nichts - durch creatio ex nihilo - geschaffen. "Si Deus, unde malum?« Gott ist schuldlos. Wenn das weiterhin nunmehr angesichts seiner Allmacht - gelten soll, bedeutet dies: Das Alibi der wesentlich guten Allmacht Gottes ist nicht mehr die Materie, sondern dieses Alibi Gottes muß jetzt ersetzt werden; und dieses neue Alibi Gottes ist nunmehr: die menschliche Freiheit zum Bösen. Die entscheidende Philosophie ist hier die Philosophie des Augustinus: Man vergleiche die Auseinandersetzung mit den Manichäern in den Confessiones und die hiedür entscheidende Schrift De libero arbitrio, die darlegt: es liegt an der menschlichen Freiheit zur Sünde, zum Bösen, das Ursprung der Übel und des Leides und dadurch zur Entlastung Gottes wird. Durch die menschliche Freiheit zum Bösen (die zugleich zur Strafe wird) bleibt der allmächtige Gott der gute Gott. So wird - durch Augustinus, durch die Patristik und die Scholastik - die Freiheit zum Bösen die eminente Form des Freiheitsproblems: indem sie sozusagen zur Entlastungsformel für den Weltschöpfer und seine Weltschöpfung wird (mit allen Schwierigkeiten, zu denen auch die Erbsündenlehre gehört). So ist das Freiheitsproblem gar nicht >klein<, sondern es wird zum >ganz und gar großen< weltverbindlichen Problem des Alibis Gottes. Darum wird im metaphysischen Rahmen des Theodizeeproblems in der Folge - auch schon in der Gnaden- und Prädestinationslehre des späteren Augustinus zur entscheidenden Frage: Kann der Mensch dem allmächtigen Gott gegenüber frei genug sein, um als Alibi Gottes für das Übel, die Leiden, das Böse verantwortlich zu sein? Das ist - in Grundzügen - das Freiheitsproblem der christlichen Metaphysik. c) Gnosis und Nominalismus: Augustinus und das weitere christlich-metaphysische Freiheitsproblem hat gegen eine Versuchung Stellung bezogen, die für das frühe Christentum nahelag: die Lehre vom bösen Schöpfergott. Gott, der Schöpfer, braucht kein Alibi, schon gar nicht die
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Freiheit zum Bösen. Denn Gott, der Schöpfer, ist böse: er hat eine böse Welt ges'chaffen, und nur ein souveräner fremder - ganz anderer - Erlösergott kann gegen die böse Welt und ihren bösen Schöpfergott an, indem er die vorhandene Welt und ihren bösen Schöpfer negiert. Mit der alten Welt muß Schluß gemacht werden: eine neue Welt muß geschaffen werden, und ihr neuer Schöpfer muß als Erlösergott auftreten und »alles neu« machen. Adolf von Harnack hat in seinem Buch Marcion (1921, 2. Auflage 1924) auf diese These und ihren Verfechter - nämlich Markion, der um 160 starb, und sein schließlich als Häresie tabuisiertes theologisches Hauptwerk Antitheseis, von dem die Unterscheidung zwischen »Altem Testament« und »Neuem Testament« sich erhalten hat - hingewiesen, und Hans Blumenberg hat inzwischen an seine These erinnertY Der gute Erlösergott erlöst von der bösen Welt und ihrem bösen Schöpfer: das ist die Lehre, die eine Art Weltrevolution befürwortet, eine eschatologische Weltnegation. Es bedarf keiner Freiheit, sondern nur - alibifrei der Allmacht des kommenden Erlösergottes, die das Böse - die alte Welt und den alten Gott - zunichte macht. Diese Lehre liegt historisch vor Augustinus: gegen sie ist - nach Harnack - die katholische Kirche entstanden, und gleichermaßen die christliche Metaphysik. So sehr steckte diese Tradition im Christentum, daß sie - schon beginnend mit der Gnadenlehre des späteren Augustinus - als christliche Häresie und schließlich als christliche Reformation überdauert hat bis hin ins Spätmittelalter zur »nominalistischen« Position, die schließlich Wilhelm von Ockham vertrat. Die Welt ist - tendenziell - so böse, daß ihre Strukturen - also die Universalien - negiert werden müssen, um die Souveränität - die potentia absofuta - des Erlösergottes geltend zu machen, die - nicht kraft menschlicher Freiheit - durch die Freiheit des erlösenden Gottes sofa gratia, durch das Geschenk seines Glaubens gewährt wird. Das führt - ich lasse Calvin und Zwingli beiseite -
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zur Rechtfertigungslehre von Martin Luther, der - als junger Erfurter Student - der nominalismusnahen Philosophie von Gabriel Biel nicht entgehen konnte. So bestimmte Luther - gegen die konziliante Freiheitslehre protestierend, die Erasmus von Rotterdam in De libero arbitrio (1524) anbot - in seiner hinreißenden Schrift De servo arbitrio von 1525 eine Negation der menschlichen Freiheit, die nicht nur die Fachphilosophen, sondern in der Regel auch die reformatorischen Theologen weitgehend zu ignorieren pflegen. So läuft von der frühen christlichen Häresie der Gnosis bis zur späten reformatorischen Theologie ein Traditionsstrang, der die Welt - trotz allem - als so böse erfährt, daß er nur noch dem »ganz anderen« Erlösergott mit seiner potentia absoluta die Erlösung zutraut. d) Philosophie der Neuzeit: Gegen diese »gnostische« Tradition wehrt sich die Philosophie der Neuzeit, die weltbewahrender - konservativer - Natur ist. Sie verlangt gegen die gnostische Weltnegation (die Pierre Bayle wiederholt) - nach Weltbewahrung und muß das durch Positivierung der Welt und ihres Schöpfers zeigen: das zwingt philosophisch zum »Optimismus«. Dadurch wird erneut das Freiheitsproblem entscheidend: die Entlastung des Schöpfergottes durch das Alibi Gottes in Gestalt der menschlichen Freiheit zum Bösen. Dieses Freiheitsproblem wird erneut das zentrale Theodizeeproblem. Leibniz - in seiner Theodizee von 171014 - vertritt der Sache nach ein »System des Optimismus« mit dem Argument: diese Welt ist die »bestmögliche Welt«, bei der Gott durch eine Optimierungskalkulation jene Übel- metaphysische, moralische, physische Übel- in Kauf nehmen und »zulassen« muß als conditiones sine quibus non nicht der schattenfrei guten, sondern eben nur der »bestmöglichen Welt«. So wird erneut die entscheidende Frage - Kann der Mensch dem allmächtigen Gott gegenüber frei genug sein, um für die Übel verantwortlich zu sein? - die Frage nach einem Alibi Gottes. Mit diesem »System des Optimismus« gera-
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ten Leibniz und seine Anhänger - sinnfällig werdend durch die Erdbeben-Katastrophe von Lissabon im Jahre 1755 - in eine philosophische Krise: die Krise des Optimismus, die - in der von Reinhart Koselleck so getauften »Sattelzeit« - zur Geburt der modernen Geschichtsphilosophie führt. Diese moderne Geschichtsphilosophie - die viele Varianten hat: Voltaire, Rousseau, Kant: ich betone hier Johann Gottlieb Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre von 179415 - führt zu einem Über-Optimismus. Die Schöpfung Gottes ist gerade nicht gut, sondern schlecht: so springt der Mensch als Schöpfer und Erlöser ein, der - statt Gottes - durch das Menschenwerk Geschichte und ihren Fortschritt alles endgültig gut macht. Aus dem modernen Optimismus wird der absolute Über-Optimismus; und aus der Freiheit zum Bösen - dem Alibi Gottes - wird die utopische Freiheit des Menschen zum Guten und Heil, die nun Gott ersetzt. Das aber macht den Menschen - solange es noch schlecht steht mit der Geschichte - zum Nachfolger Gottes als Angeklagten der Theodizee. Jetzt gerät der Mensch unter Anklagedruck, der zu folgender Verfeindungsfigur führt: daß zwar die Menschen angesichts einer immer noch unguten geschichtlichen Schöpfung angeklagt werden, aber immer nur »die anderen Menschen«. Kritisiert werden die nicht fortschrittlichen durch die fortschrittlichen Menschen. Aus der Theodizee wird absolute Zeitkritik, aus der Moderne wird antimodernistische Utopie, insbesondere bei Fichte und Marx (während Hegel die Geschichte offenließ).16 Die Avantgardisten richten die Reaktionäre und bestrafen sie durch Verachtung und Vernichtung. Die Theodizee - mit der Freiheit zum Bösen als Alibi Gottes endet im Verfeindungszwang der Menschen, und was als Philosophie der Freiheit begann, endet in einer Philosophie der Unterdrückung. Das ist - scheint mir - die antimoderne Utopisierung des Freiheitsgedankens, die schließlich nicht zur Neuzeit, sondern nur zur Negation
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Gottes wird, die schließlich zur Negation auch des Menschen führt. Auch dabei also scheitert das Freiheitsproblem. Ich ziehe daraus die Konsequenz im letzten, dem Abschnitt:
3. Gewaltenteilung: Freiheit als Determinationsplus Einerseits: Im fundamentalistischen Naturalismus, dem wildgewordenen Reduktionismus - im Freiheitsproblem der dritten kantischen Antinomie - wird die >kleinstmögliehe< Versuchsanordnung zum Entscheidungsfall für oder gegen die Freiheit: hier - im Determinismus-Indeterminismus-Streit - entscheidet die >kleinstmögliche< Situation über das Vorliegen oder das Nichtvorliegen der Freiheit (der Nulldetermination): die Tendenz geht dahin, daß alles dem Determinismus unterliegt. - Andererseits: Im Freiheitsproblem der Theodizee - dem traditionellen Freiheitsproblem der Metaphysik - wird die >größtmögliche< Versuchsanordnung zum Entscheidungsfall für oder gegen die Freiheit: hier - im Versuch der Theodizee, die Freiheit zum Bösen zum Alibi Gottes zu machen - entscheidet die >größtmögliche< Situation über das ..vorliegen oder das Nichtvorliegen der Freiheit (die alle Ubel der Verantwortung des Menschen überläßt). Das ist - scheint mir - eine Absolutsetzung des Freiheitsgedankens im Namen der ganzen Welt: auch sie führt zum Scheitern der Freiheitstheorie. Darum muß es einen neuen und noch anderen Ansatz geben, der die Freiheit geltend macht. Es kommt darauf an, die Situation, in der man Freiheit finden kann, nicht zu klein und nicht zu groß zu machen: nicht als Fingerübung und nicht als Entlastung Gottes. Ich versuche, hier einen Ansatz wiederzubeleben, den man in der Philosophie vergessen hat, nämlich einen Freiheitsnachweis, der aus der Schichtenlehre kommt und dort am stringentesten durch-
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geführt worden ist von Nicolai Hartmann. Ich gebe zu, daß ich ursprünglich - in Überheblichkeit solide ausgebildet durch die Freiburger Heideggerschule - Nicolai Hartmann (der als Lehrer viel an die Tafel schrieb) statt für einen Philosophen für einen begabten Tafelmaler gehalten habe. Inzwischen aber habe ich aus der Ethik und aus dem Aufbau der realen Welt immerhin Folgendes entnommen: Die Freiheit muß nicht als Minus an Determination, sondern als Plus an Determination gesehen werden; nicht weniger Determination gibt Freiheit, sondern ein Mehr an Determination. Dabei halte ich es - im Unterschied zu Hartmanns Schichtenlehre - für angebracht, nicht nur Determinanten übergeordneter Schichten, sondern überhaupt >andere< Determinanten für jenes Plus an Determination anzusetzen, das als Freiheit wirksam wird: nicht die Determinante einer "höheren« Schicht, sondern jedes Mehr an Determination ist freiheitswirksam. Daraus folgt übrigens: Wer zusätzliche Determinanten abschneidet, bringt sozusagen von vornherein - indem er ein Determinationsplus negiert - die Möglichkeit der Freiheit beiseite. Nicht nur ein »höherschichtiges« Plus an Determination, sondern jedes zusätzliche Mehr an Determination ist freiheitswichtig. Das läßt mich in der Frage der Freiheit an die politische Gewaltenteilungslehre denken. Die Gewaltenteilungslehre favorisiert einen Freiheitsbegriff, der den einzelnen Menschen als den begreift, der anders ist als alle anderen: d. h., der ein Individuum ist. Diese Freiheit des Menschen, ein Individuum zu sein, lebt von der Gewaltenteilung. Montesquieu - im berühmten Abschnitt über die englische Verfassung im Buch De l'esprit des lais von 174817 - hat die Gewaltenteilung - als Teilung der drei politischen Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative - zwar nur als Garantie der politischen Freiheit geltend gemacht: doch sollte man daran denken, daß Montesquieu auch sonst die Buntheit der Bedingungen des menschlichen Le-
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bens bis hin zum Klima ins Spiel gebracht hat. Er steht in der Tradition der Moralistik und Skepsis. Skepsis ist der Sinn für Gewaltenteilung. Der Zweifel der Skepsis ist - wie das Wort Zweifel es sagt, das ja mit der »zwei« die Vielheit enthält - justament jenes (in der Tradition der Skepsis »isosthenes .~iaphonia« genannte) Verfahren, das zwei gegensätzliche Uberzeugungen in solcher Art aufeinanderprallen läßt, daß beide dadurch so viel an Kraft einbüßen, daß der Einzelne - als lachender oder weinender Dritter - von ihnen freikommt. Und was dieserart durch zwei Kräfte bewirkt wird, gilt erst recht von mehreren Kräften: jede distanziert den Einzelnen von der jeweils anderen: er kommt frei von ihnen. Es ist - für die skeptisch geltend gemachte, d. h. endliche Freiheit wesentlich, daß nicht nur eine, sondern - pluralistisch konkurrierend, einander durchkreuzend und dadurch wechselseitig einander balancierend - eine Mehrzahl solcher Potenzen wirkt. Jede sichert dem Menschen, indem sie ihn mitdeterminiert, einen Spielraum (Distanz) gegenüber den jeweils anderen und rettet ihn - als Mitdeterminante - vor dem determinatorischen Alleinzugriff einer einzigen Potenz, gegenüber der er aus Eigenem machtlos wäre. Denn die Menschen sind nicht dadurch frei, daß sie Gott - den Anfänger aller Determination - kopieren, sondern sie sind frei durch Freiheiten im Plural, indem die Determinanten, die determinierend auf sie einstürmen, durch Determinantengedrängel einander wechselseitig beim Determinieren behindern: einzig dadurch, daß jede weitere Determinante den Determinationsdruck jeder anderen einschränkt, haben sie ihre individuelle Freiheit gegenüber dem Alleinzugriff einer jeden. Nicht die Nulldetermination - das Fehlen aller Determinanten - macht die Menschen frei, sondern die Überfülle an Determinanten macht es. Ich behaupte hier also - als skeptisch-moralistisch generalisierte Gewaltenteilungsthese - die Freiheitswirkung der Überdetermination.
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Das impliziert jenen Freiheitsgedanken, den die Schichtentheorie vor allem Nicolai Hartmanns geltend gemacht hat und den ich - subtrahiert um die Schichtentheorie hier fortsetze. Hartmann hat - in seiner Ethik von 1925 die Freiheitsthese beleuchtet durch Überlegungen zum »Kausalnexus und das Plus an Determination«,18 die mir einleuchten: nicht durch ein Minus an Determination, sondern durch eine zusätzliche, durch ein Plus an Determination lebt die menschliche Freiheit. Nicolai Hartmanns Schichtenlehre interpretiert dieses Determinationsplus als Beitrag der jeweils höheren Schicht und sagt im 1939 zuerst erschienenen Buch Der Aufbau der realen Welt: »Eine Welt, in der es Freiheit gibt, muß mindestens zweischichtig sein. In einer vielschichtigen Welt tritt kategoriale Freiheit von Schicht zu Schicht als Begleiterscheinung des Novums am höheren Determinationstypus auf: da gibt es dann so vielerlei Freiheit, als es Schichtendistanzen gibt. In einer einschichtigen Welt mit einem einzigen Determinationstypus ist sie ein Ding der Unmöglichkeit.«19 Aber warum macht nur ein schichtenspezifisches Determinationsplus Freiheit, warum nicht jedes Determinationsplus? Mir scheint dieser Schritt plausibel: Jedes Determinationsplus bringt Freiheit, unabhängig davon, ob man nun einer Schichtenlehre anhängt oder nicht. Je mehr Determinationsplus in einer Situation herrscht, um so mehr Freiheit gibt es. Die schichtentheoretische Freiheitslehre bleibt hierarchisch, die gewaltenteilungstheoretische Freiheitslehre ist gerade nichthierarchisch. Die hier versuchte Kreuzung beider hat zur Folge: die Enthierarchisierung der schichtentheoretischen Lösung und die ontologische Ausweitung der gewaltenteilungstheoretischen Lösung. Heraus kommt - hoffe ich: durch die These >Jedes Determinationsplus bringt Freiheit< - eine determinationspluralistische Freiheitsthese. Je mehr man sich einem Determinationsplus - gewaltenteilig - auszusetzen vermag, um so mehr Freiheit.
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Ich resümiere: Der heutige - naturalistische oder antinaturalistische - Freiheitsstreit um den Indeterminismus reduziert das Determinationsplus, also die gewaltenteilige Weise, Freiheit zu denken, und ist darum vom Ansatz her freiheitsirrelevant. Der metaphysisch traditionelle Freiheitsstreit um eine Theodizeeformel des Freiheitsproblems überlastet das Freiheitsproblem: Freiheit, als Alibi Gottes gedacht, zerstört den Gottesgedanken und die Menschlichkeit der Freiheit. Die determinationspluralistische Freiheitsthese vermeidet - scheint es - beide Irrgänge und führt - vielleicht - zu einem endlichkeitsbedachtskeptischen Freiheitsgedanken. Ich sage: vielleicht, und womöglich nimmt auch das die Freiheitsthese zu wenig ernst. Ich allerdings meine: Die Philosophie ist eine viel zu ernste Sache, um sie allein dem Ernst zu überlassen.
Anmerkungen 1 Immanuel Kam, Kritik der reinen Vernunft, B (1787), S.472H. 2 Immanuel Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783); Gesammelte Schriften, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 4, Berlin 1911, S. 344, Anm. 3 Ebd., S. 339. 4 Vgl. Odo Marquard, Skeptische Methode im Blick auf Kant, Freiburg i. Br. / München 1958, S.92-103. 5 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B, S. 564. 6 V gl. Odo Marquard, » Wirklichkeitshunger und Alibibedarf. Psychologisierung zwischen Psychologie und Psychologismus«, in: Psychologie, Psychologisierung, Psychologismus, hrsg. von Heinz Gumin und Armin Mohler, München 1985, S.1-16. 7 Benjamin Libet, Mind Time. Wie das Gehirn Bewusstsein produziert, übers. von Jürgen Schröder, Frankfurt a. M. 2005. 8 Ich habe im Sommersemester 1980 und im Sommersemester 1988 eine Vorlesung »Philosophie des Übels« gehalten, die diese Zusammenhänge berührt. Vgl. auch Joachim Ritter / Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5,
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BasellStuttgart 1980, in dem ich »Einleitung und Überblick« des Artikels» Malum« (Spalte 652-656) geschrieben habe. VgL Karlfried Gründer, »Einleitung«, in: Jacob Bernays, Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie, hrsg. von Karlfried Gründer, Hildesheim 1970, S. VIIff. VgL Hans Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt a. M. 1975, bes. S.16ff. Platon, Politeia 617 E. Platon, Timaios, bes. 28 C, 29 E H. VgL Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1966, bes. S. 75 ff. Gottfried Wilhelm Leibniz, Essais de Theodicee sur la bonte de Dieu, la liberte de l'homme et l'origine du ma~ Amsterdam 1710. Zum folgenden Gedankengang vgL Odo Marquard, »Die Krise des Optimismus und die Geburt der Geschichtsphilosophie« im vorliegenden Band S. 93-108. Johann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794); Fichtes Werke, hrsg. von Immanuel Hermann Fichte, Nachdr. Berlin 1971, Bd.l, S. 83-328. VgL hierzu auch Odo Marquard, »Theodizeemotive in Fichtes früher Wissenschaftslehre«, in: O. M., Individuum und Gewaltenteilung. Philosophische Studien, Stuttgart 2004, S. 145-158. VgL für die Neuzeit vor allem das schöne Buch von Susan Neiman, Evil in Modern Thought. An Alternative History of Philosophy, Princeton, N.]. 2002; dt.: Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie, übers. von Christiana Goldmann, Frankfurt a. M. 2004: Es gibt eine vorzügliche Analyse des Theodizeeproblems in der modernen Welt. Einzig ihre Hegel-Interpretation scheint mir problematisch: sie interpretiert Hegel primär satirisch als Steigerung einer Art von» Pangloss« im Sinne des Voltaireschen Candide. VgL Fritz Schalk (Hrsg.), Die französischen Moralisten, Bd. 1, München 1973, S. 203-257, bes. S.232-237. Nicolai Hartmann, Ethik, Berlin 1926, hier zit. nach 31949, S. 621-821, bes. S.649f. Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt. Grundril! der allgemeinen Kategorienlehre, Berlin 1940, hier zit. nach 1964, S.493H. und S.510H., bes. S.519.
Textnachweise Zum fünfzigjährigen Doktorjubiläum. Rede in Freiburg am 16.Juli 2004. - In: Ästhetik und Kommunikation. Jg.36 (2005). ff. 129/130. S.17-19. »Ich bin ein Weigerungsverweigerer«. Ein Gespräch mit Odo Marquard. Die Fragen stellte Jens ffacke. - In: Ästhetik und Kommunikation. Jg. 34 (2003). ff. 122/123. S. 77-81. Wie politisch muß ein Schriftsteller sein? (Sendung des Politischen Feuilletons im Deutschlandradio am 2. und 4.7.2000.) - In: Die politische Meinung. Jg. 45. Nr. 370 (September 2000). S. 81 f. Entpflichtete Repräsentation und entpolitisierte Revolution. Philosophische Bemerkungen über Kunst und Politik. (Vortrag der ffessischen Landeszentrale für politische Bildung im ffessischen Landtag 1993.) - In: Kunst und Politik. Eine Vortragsreihe. ffrsg. von Bernd ffeidenreich. Wiesbaden: ffessische Landeszentrale für politische Bildung, 1994. S.79-91. Skepsis in der Moderne. Überlegungen im Blick auf ffeinrich ffeineo (Öffentlicher Vortrag des Internationalen ffeine- Kongresses 1997 im Düsseldorfer Malkasten.) - In: Aufklärung und Skepsis. Internationaler ffeine- Kongreß 1997 zum 200. Geburtstag. ffrsg. von Joseph A. Kruse, Bernd Witte und Karin Füllner. StuttgartlWeimar: Metzler, 1999. S.909-918. Die Philosophie der Geschichten und die Zukunft des Erzählens. (Öffentlicher Vortrag in der Ostfriesischen Landschaft in Aurich 2003.) - In: Geschichte und Geschichten. Studien zur Geschichtenphänomenologie Wilhelm Schapps. ffrsg. von Karlffeinz Lembeck. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004. S.45-56. Sprachmonismus und Sprachpluralismus der Philosophie. (Vortrag beim Kolloquium »ganz Anders« zum 100. Geburtstag von Günther Anders im Einstein-Forum Potsdam im November 2002 U. d. T. »Zur Sprache der Philosophie: Skepsis und Stik) In: ganz Anders? Philosophie zwischen akademischem Jargon und Alltagssprache. ffrsg. von Rüdiger ZilI. Berlin: Parerga, 2007. S. 195-203. Innovationskultur als Kontinuitätskultur. Überlegungen zur Renaissance. (Vortrag im Studio Franken, Nürnberg, des Bayerischen Rundfunks und in Neuburg/Donau 1995 u.d. T. »ffer-
Textnachweise
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kunft braucht Zukunft - Zukunft braucht Herkunft«.) - In: Von der Moderne der Renaissance. Was uns im 21.Jahrhundert erwartet. Hrsg. von Rainer Lindemann und Hermann Glaser. Cadoizburg: ars vivendi, 1996. S.22-29. Die Krise des Optimismus und die Geburt der Geschichtsphilosophie. (Öffentlicher Vortrag der Deutschen Gesellschaft für die Edorschung des 18. Jahrhunderts am 6. 10. 2005 in der PaulinerKirche in Göttingen.) - Erstveröffentlichung. Freiheit und Pluralität. (Oktober 2006 / Januar 2007.) - Erstveröffentlichung.
Biographische Notiz Odo Marquard, geboren am 26. Februar 1928 in Stolp (Pommern) 1934-45
1945 1946 1947-54
1954 1955-63 1963
Ab 1965 1982/83 1985-87 1993 1994 Seit 1995
Schulbesuch in Kolberg (Pommern), Sonthofen (Allgäu), Falkenburg (Pommern) und als Luftwaffenhelfer bei Bremen Volkssturm, Kriegsgefangenschaft, dann in Norderney Abitur in Treysa (Hessen) Studium der Philosophie, Germanistik, evangelischen Theologie und katholischen Fundamentaltheologie sowie kunstgeschichtliche und historische Studien in Münster (Westf.) und Freiburg i. Br. Promotion zum Dr. phi!. in Freiburg i. Br. (bei Max Müller) Wissenschaftlicher Assistent am Philosophischen Seminar der Universität Münster (bei Joachim Ritter) Habilitation und Privatdozent für Philosophie in Münster Ordentlicher Professor für Philosophie an der J ustusLiebig-Universität Gießen Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin Präsident der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland Emeritierung Dr. phi!. h. c. der Universität Jena Ordentliches Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung
Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa (1984); ErwinStein-Preis (1992); Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik (1996); Hessischer Kulturpreis für Wissenschaft (1997); Cicero Rednerpreis für Wissenschaft (1998). - Hessischer Verdienstorden (1990); Bundesverdienstkreuz 1. Klasse (1995).
Veröffentlichungen Bücher Skeptische Methode im Blick auf Kant. Freiburg i. Br. / München: Alber, 1958. '1982. Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1973. 4 1997. (stw 394.) - Franz. Ausg. 2002. Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien. Stuttgart: Reclam, 1981 [u. ö.]. (Universal-Bibliothek. 7724.) - Eng!. Ausg. 1990. Poln. Ausg. 1994. Span. Ausg. 2000. Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien. Stuttgart: Reclam, 1986 [u. ö.]. (Universal-Bibliothek. 8352.) - EngI. Ausg. 1991. ItaI. Ausg. 1991. Poln. Ausg. 1994. Span. Ausg. 2000. Transzendentaler Idealismus, romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse. Köln: Dinter, 1987. 21988. Aesthetica und Anaesthetica. Philosophische Überlegungen. Paderborn: Schöningh, 1989. 21994. München: Fink, 2003. - ItaI. Ausg. 1994.
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