Odo Marquard Abschied vom Prinzipiellen Reclam
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Odo Marquard Abschied vom Prinzipiellen Reclam
Universal-Bibliothek Abschied vom Prinzipiellen. Auch eine autobiographische Einleitung Inkompetenzkompensationskompetenz? Über Kompetenz und Inkompetenz der Philosophie Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts Ende des Schicksals? Einige Bemerkungen über die Unvermeidlichkeit des U nverfügbaren Lob des Polytheismus. Über Monomythie und Polymythie Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist
ISBN 3-15-007724-9
1111 1111 11111111111111 " 111111 9 783150 077245
Odo Marquard
Abschied vom Prinzipiellen Philosophische Studien
Philipp Reclam jun. Stuttgart
Für Traute und Felix
Universal-Bibliothek Nr. 7724 Alle Rechte vorbehalten © für diese Ausgabe 1981 Philipp Redam jun. GmbH & Co., Stuttgart Satz: Utesch, Hamburg Druck und Bindung: Redam, Ditzingen Printed in Germany 2000 RECLAM und UNIVERSAL-BIBLiOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Redam jun. GmbH & Co., Stuttgart ISBN 3-15-007724-9
Vorbemerkung
Die in dieses Bändchen aufgenommenen Texte sind zwischen 1973 und 1981 entstanden. Die Einleitung »Abschied vom Prinzipiellen« ist eigens für diese Sammlung geschrieben; die anderen Beiträge sind Arbeiten zu verschiedenen Anlässen: sie konvergieren auf der Linie skeptischer Philosophie. Ich denke, den Leser - den mutigen und den unmutigen erwartet die Momentaufnahme des Gedankenzustands eines Philosophen, der sich langsam zu bewegen pflegt, und der darum - bei einer Belichtungszeit von knapp acht Jahrenhalbwegs konturenscharf erfaßt sein könnte. Als Motto diene aus den Geschichten vom Herrn Keuner von Brecht die folgende: »>Woran arbeiten Sie?< wurde Herr K. gefragt. Herr K. antwortete: >Ich habe viel Mühe, ich bereite meinen nächsten Irrtum vor.<<<
Abschied vom Prinzipiellen Auch eine autobiographische Einleitung
Die Philosophie - schreibt Aristoteles - ist die »theoretische Wissenschaft von den ersten Gründen und Ursachen«!: sie fragt nach den Prinzipien und - bei gesteigerter Prinzipialität - nach dem prinzipiellsten Prinzip. Abschied vom Prinzipiellen: bedeutet das also Abschied von der Philosophie? Diese Frage ist hier identisch mit der Frage, ob die Skeptiker wirklich zu den Philosophen gehören oder nicht; denn die Titelformulierung dieses Bändchens und seiner Einleitung avisiert nicht den Kritischen Rationalismus - an dem mich der Dogmatismus seines Antidogmatismus stört -, sondern sie bekräftigt die Wende zur Skepsis. Diese Wende zur Skepsis ist in der Philosophie bisher mein Weg und meine Arbeit gewesen: darüber - mit gebremstem Erzählgestus : seminarrativ - zu berichten scheint ein sinnvolles Pensum für die Einleitung zu einem Buche zu sein, das einige jüngere Dokumente dieses Weges zusammenstellt. Dieser Bericht gliedert sich in drei Abschnitte: 1. Skeptische Generation; 2. Nachträglicher Ungehorsam; 3. Skepsis und Endlichkeit.
1. Skeptische Generation. Die Skepsis ist eine alte Sache, und natürlich gehört sie in die Geschichte der Philosophie: als pyrrhonische und akademische Skepsis der hellenistischen Zeit; als moralistische Skepsis von Montaigne und Charron; als aufklärerische Skepsis von Bayle und Hume; als anthropologische Skepsis von Schulze-Aenesidem und Plessner; als historistische Skepsis von Burckhardt und als antihistoristische Skepsis von Löwith. Das ist also eine wohlidentifizierbare Tradition der Philosophie, eine alte: wie kommt - und dies zunächst, ohne von diesem Traditionszusammenhang zu
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wissen - gerade ein Mensch meiner Generation in diese Tradition hinein? Helmut Schelsky hat in seinem zuerst 1957 erschienenen Buch Die skeptische Generation2 darauf eine Antwort versucht: Die Wende zur Skepsis war - für jene Generation, zu der ich, 1928 geboren, gehöre: als einer, der mindestens im Anfangsteil der Zeit zwischen 1945 und 1955 (vgl. S. 5) nicht mehr Kind und noch nicht erwachsen war (vgl. S. 16 ff.) - in der Bundesrepublik gerade nicht das Außergewöhnliche, sondern das Normale. Schelsky unterscheidet als »zeitgeschichtliche Phasen« und "Generationsgestalten des Jugendverhaltens« seit der Jahrhundertwende: ,,1. die Generation der Jugendbewegung; 2. die Generation der politischen Jugend und 3. die deutsche Jugend im Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkriege, für die wir vorläufig die Bezeichnung >die skeptische Generation< gewählt haben« (5. 57). Da war also zunächst die frühgrüne Generation der Meißner-Formel, des Wanderns, der Klampfe und Blockflöte; dann kam zwischen den Weltkriegen - die Generation des radikalen politisch-ideologischen Weltverbesserungsengagements; schließlich formierte sich - nach dem Zweiten Weltkrieg-die skeptische Generation: Ihre Skepsis war - auch und gerade nach Schelskys Deutung - die Antwort auf die »Generation der politischen Jugend« und jene Zusammenbrüche, in die sie verwickelt wurde und die sie nach sich zog, die Antwort auf ihre Selbstkompromittierung; in der Erfahrung der Älteren (umstritten, umstreitbar): daß die Linke versagte3 ; und in der Erfahrung auch der Jüngeren (mit grauenhafter Evidenz, unbestreitbar): daß die Rechte die Katastrophe herbeiführte. Es kam zum Enttäuschungsschock; die Folge waren »Prozesse der Entpolitisierung und Entideologisierung des jugendlichen Bewußtseins« (5.84): darum wurde »diese Generation [ ... ] in ihrem sozialen Bewußtsein kritischer, skeptischer, mißtrauischer, glaubens- oder wenigstens illusionsloser als alle Jugendgenerationen vorher« (5.488). »Diese geistige Ernüchterung macht frei zu einer für die
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Jugend ungewöhnlichen Lebenstüchtigkeit. Die Generation ist im privaten und sozialen Verhalten angepaßter, wirklichkeitsnäher , zugriffsbereiter und erfolgssicherer als je eine Jugend vorher« (ebd.). Mit ihrem »geschärften Wirklichkeitssinn« für »das Praktische, Handfeste« (S.88), ihrem »Konkretismus« (S.89, 307 f.), ihrer »Pseudo-Erwachsenheit« (S.93) war sie »die deutsche Ausgabe der Generation, die überall die industrielle Gesellschaft konsolidiert« (S. 493). Soweit diese Generation wirklich skeptisch war, habe ich an ihrem Schicksal teilgenommen: durch Wende zur Skepsis. Denn - ich wiederhole es - die Wende zur Skepsis war - für jene Generation, zu der ich gehöre - nicht das Außergewöhnliche, sondern das Normale; außergewöhnlich war nur, daß ich mit dieser Wende zur Skepsis unter die Philosophen geriet und dann auch noch bei ihnen blieb. Denn Philosophie als Studium: das bedeutet - damals wie heute - in aller Regel nicht den Beginn einer erfolgreichen Karriere, sondern den Beginn einer persönlichen Tragödie, jedenfalls keinen »Konkretismus« ; ich befand mich also - als Philosophiestudent, der außerdem Germanistik und daneben zunächst Kunstgeschichte, dann Geschichte, schließlich evangelische Systematische Theologie und ein wenig katholische Fundamentaltheologie studierte - gewißlich nicht auf dem Weg der »vorsichtigen, aber erfolgreichen jungen Männer« (S.488) mit »geschärftem Wirklichkeitssinn« für »das Praktische, Handfeste« (S.88): das - beim Zeus! - nun gerade mit Sicherheit nicht. Mitgrund für diese Blockade des »Konkretismus« bei mir mag gewesen sein: 1940-1945 - bis unmittelbar nach meinem 17. Geburtstag - war ich auf einer politischen Internatsschule\ einer späten und extremen Sozialisations agentur der »Generation der politischen Jugend«: Ich kam - solide ausgebildet einzig in Weltfremdheit - (nach Kriegsende und kurzer Kriegsgefangenschaft) retardiert in die geschichtliche Wirklichkeit der skeptischen Generation hinein und schaffte - zusätzlich gebremst durch die akademische Entlastung von den Lebensfristungsnotwen-
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digkeiten des Tages - zunächst nur die eine Hälfte ihres Generationspensums : also nicht den realitätstüchtigen "Konkretismus«, sondern nur die Skepsis. Just das freilich brachte mich zur Philosophie, und zwar auf dem Weg über die Ersatzbegeisterung an der Kunst - dem Versuch, durch Töne, Bilder, Worte die Wirklichkeit aussehender zu machen als Verlockung zum Lebenbleiben - und ihrer Verführung, sich gerade nicht zu verwirklichen, sondern zu vermöglichen: also über das Ästhetische. Darum war es - nach dem temperierten Zufall, daß ich in der damaligen Numerus-clausus-Zeit 1947 nicht in Marburg und nicht in Kiel, sondern in Münster zum Studium zugelassen wurde - kaum ein Zufall, daß ich dort alsbald an jenen Philosophen geriet, der mein Lehrer wurde: Joachim Ritter; denn er begann damals seine Philosophische A'sthetik zu lesen, die - als Kompensationstheorie des Ästhetischen5 - die "Position der Möglichkeit« beschrieb und kritisierte und mich dadurch unmittelbar ansprach. Es war übrigens diese Vorlesung, durch die - noch vor seinen späteren Vorlesungen zur Praktischen Philosophie, in denen er seinen Ansatz positiv formulierte - Ritter die Älteren jener bunten und standpunktkontroversen Gruppe als Schüler gewann, die in der späteren Institutionengeschichte der bundesrepublikanischen Philosophie als derjenige Flügel des hermeneutischen Denkens wirksam geworden ist, der die Praktische Philosophie rehabilitierte: eben als Ritter-Schule, deren Lebendigkeit auch aus der »heterogenen Zusammensetzung des >Collegium Philosophieum< Ritters« resultierte, »das Thomisten, evangelische Theologen, Positivisten, Logiker, Marxisten und Skeptiker vereint«6. Denn Ritter verpflichtete seine Schüler nicht auf seine eigenen Thesen7 • Diesseits seiner Thesen habe ich von ihm gelernt: daß Merken wichtiger ist als Ableiten; daß niemand von vorn anfangen kann, daß jeder anknüpfen muß: also den Sinn fürs Geschichtliche; daß Widersprüche notfalls ausgehalten werden müssen gegen den Schein ihrer Auflösung; daß solche Widersprüche eindrucksvoller präsent sind
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durch Personen als durch Lektüren und daß dies verlangt: mit fremden Einstellungen leben und von ihnen lernen können; daß also die buntere Philosophenkonstellation die bessere ist; im übrigen den Sinn fürs Institutionelle und seine Pflichten; und schließlich: daß Erfahrung - Lebenserfahrung - unersetzlich ist für die Philosophie. Erfahrung ohne Philosophie ist blind; Philosophie ohne Erfahrung ist leer: man kann keine Philosophie wirklich haben, ohne die Erfahrung zu haben, auf die sie die Antwort ist. Erfahrung aber braucht Zeit. Darum konvergierten die Ritter-Schüler in ihren inhaltlichen Thesen nicht im Studium und in den Lehrjahren, sondern erst Jahrzehnte später: als sie ihrerseits über Erfahrungen verfügten, die ihnen nunmehr Ritters eigene philosophische Antworten plausibel machten; es existiert - das bemerke ich heute - in der Ritter-Schule eine Schulkonvergenz als langfristige Spätwirkung. Damals jedoch, in der Studienzeit, gab es - begrenzt einzig durch institutionelle Pflichten und die Spürbarkeit jener Sorge, die sich Ritter um jeden von uns machte - beim Denken alle Freiheit: auch die, ein Skeptiker zu sein. Den »interimistischen Skeptizismus« als "Position im nautischen Sinn« habe ich 1958 in meinem Buch Skeptische Methode im Blick auf Kant zu formulieren versucht: es war die (fast gänzlich umgeschriebene) Druckfassung jener Dissertation, mit der ich - Ritter war für drei Jahre nach Istanbul gegangen - 1954 in Freiburg promovierte, generös gefördert durch meinen Doktorvater Max MüllerS. Das Buch galt als stilistisch eigenwillig: Form - Zeitdruckersatz unter Mußebedingungen - gehört als Mittel der Beliebigkeitsersparung zu den Produktions schrittmachern beim Schreiben für den, dem Schreiben nicht leicht fällt. In einen >Lebenslauf< geht normalerweise Wichtiges nicht ein: das Intime, das Schwere (es gibt das Grundrecht auf Ineffabilität); ich meine - und begann damals zu meinen -, daß man in der Philosophie dauerhafteren Umgang nur mit solchen Gedanken suchen sollte, die man auch in schweren Lebenslagen noch bemerkt
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und mit denen man es notfalls ein Leben lang aushalten kann. Das schließt - wie ich vor allem bei Kierkegaard und Heine lernte - die Suche nach der leichten und pointierten Formulierung nicht aus, sondern gerade ein; das ästhetische Kompositions- und Formulierungsspiel ist nicht das Gegenteil, sondern ein Aggregatzustand des Ernstes: jener, der den Ernst so ernst nimmt, daß er es für notwendig hält, ihn aushaltbarer zu machen. Dadurch fand ich zu meinem Genre: zur Transzendentalbelletristik. 2. Nachträglicher Ungehorsam. Das intellektuelle Klima der Bundesrepublik änderte sich: der »skeptischen Generation« folgte eine neue »Generation der politischen Jugend«. In der Philosophie ging ihr voraus der Erfolg der »Frankfurter Schule« nicht zuletzt bei den nunmehr Älteren. Auch auf mich hat die »Kritische Theorie« Horkheimers und Adornos wesentlichen Eindruck gemacht; Herbert Marcuses Eros and Civilization9 habe ich 1956 im Lesekreis des ,.Collegium Philosophicum« zustimmend und werbend referiert: Ich arbeitete damals schon an meiner Habilitationsschrift über Schelling und Freud10 mit der These: die Psychoanalyse istphilosophisch gesehen - die Fortsetzung des deutschen Idealismus unter Verwendung entzauberter Mittel. Freud benutzte - insbesondere in Totem und Tabu ll auch für die Theorie des Gewissens - den Begriff des »nachträglichen Gehorsams« (5.173 ff.): die Söhne in der ,.Urhorde«, die den Vater ermordet hatten, »widerriefen ihre Tat, indem sie die Tötung des Vaterersatzes, des Totem, für unerlaubt erklärten, und verzichteten auf deren Früchte, indem sie sich die freigewordenen Frauen versagten« (5.173); die »Totemreligion« war - wie dann auch das Gewissen - »aus dem Schuldbewußtsein der Söhne hervorgegangen als Versuch; dies Gefühl zu beschwichtigen und den beleidigten Vater durch den nachträglichen Gehorsam zu versöhnen« (5.175). Der erfolgreiche Aufstand gegen den Vater wurde nachträglich ersetzt durch den Respekt vor dem, was an des Vaters
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Stelle trat. In der Bundesrepublik - meine ich - vollzog sich seit Ende der 50er Jahre - und als spektakuläre Reprise dann in der so genannten »Studentenbewegung« Ende der 60er Jahre - just das Gegenteil: die in der Nationalsozialistenzeit zwischen 1933 und 1945 weitgehend ausgebliebene Revolte gegen den Diktator (den Vater der »vaterlosen Gesellschaft«12) wurde stellvertretend nachgeholt durch den Aufstand gegen das, was nach 1945 an die Stelle der Diktatur getreten war: darum wurden nun die »Totems« gerade geschlachtet und aufgegessen und die» Tabus« gerade gebrochen: nach der materiellen Freßwelle kam so die ideologische. Es entstand ein frei flottierender quasimoralischer Revoltierbedarf auf der Suche nach Gelegenheiten, sich zu entladen; er richtete sich - zufolge der Logik der Nachträglichkeit okkasionell und unwählerisch gegen das, was jetzt da war: gegen Verhältnisse der Bundesrepublik, also demokratische, liberale, bewahrenswerte Verhältnisse. Es ist - ich formuliere scharf (»gegen nichts ist man unnachsichtiger als gegen gerade abgelegte Irrtümer«: Goethe) - als Reflexion zelebrierte Dummheit, diese Verhältnisse zugunsten eines revolutionären Prinzips aufs Spiel zu setzen; denn es gibt keine Nichtverschlechterungsgarantie, auch und gerade nicht durch jene revolUtionäre Geschichtsphilosophie, die sie durch den Fortschrittsgedanken zu geben verspricht: 13 wir haben - und zwar in unserer Zeit und Gegend alle - sehr viel mehr zu verlieren als allein unsere Ketten. 14 Das alles ignoriert der nachträgliche Protest; dadurch wird eine Demokratie zum nachträglichen Empörungsziel eines gegen die totalitäre Diktatur versäumten Aufstands: diese Absurdität steckt in der merkwürdigen Nachträglichkeit dieses Protestverhaltens. Es liegt nahe, zu seiner Beschreibung einen Gegenbegriff zu Freuds Begriff des »nachträglichen Gehorsams« zu bilden: darum nenne ich das, was hier - zwischen den späten 50er und den frühen 70er Jahren - vorging, den nachträglichen Ungehorsam.
Es war die Zeit des umgekehrten Totemismus. Zu ihm
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gehören eigentümliche Mechanismen und Reaktionen. Etwa: der Totemismus führt zu demonstrativer Askese; der umgekehrte Totemismus führt zu demonstrativer Libertinage, die sich als emanzipatorische und antiautoritäre Bewegung verstand. Im Totemismus zwingt - nach Freuds Interpretation - der Aufstand gegen einen Menschen (den Vater) zur nachträglichen Verehrung von Tieren (des Totem); im umgekehrten Totemismus zwingt der unterlassene Aufstand gegen das Staatstier >Leviathan< zum nachträglichen Aufstand gegen wirkliche Väter und wirkliche Menschen. Dabei mag individuell oder gruppenmäßig abgestuft - die Stärke einstmaliger Konformität mit der Stärke jetziger Distanzierung zuweilen signifikant korrelieren. Auch zwingt, daß eine Tat unterlassen wurde, nun dazu, daß nachträglich jedes Denken gleich zur Tat schreiten soll: ohne Rücksicht auf Spinozas Einsicht, daß man nur dann alles denken darf, wenn man nicht alles tun darf. 15 Vor allem aber entstand der Zwang zur sekundären Verähnlichung von Heute und Damals: weil das, gegen das die Revolte unterblieb, Faschismus war, soll nun das, gegen das sie nachgeholt wurde, auch Faschismus sein und wird (durch ein entsprechendes Sortiment an Theorien) dazu stilisiert; denn sonst würde der Absurditätsgehalt des nur nachträglichen Ungehorsams allzu flagrant, und es würde allzu deutlich, daß er gegenwärtig in der Regel ein komfortabler Ungehorsam ist, der den Ungehorsamen wenig kostet. Darum wird die angleichende Negativierung des Vorhandenen - die Technik, in jeder Suppe ein Haar, in jeder Wirklichkeit Entfremdung, in jeder Institution Repression, in jedem Verhältnis Gewalt und Faschismus zu entdeckenzu hoher Kunst entwickelt: notfalls durch »Verbösung des Guten«16 und »geborgtes Elend«17 wird es sekundär negativiert. Partout nicht wegzuinterpretierende Differenzen zum Damals gelten als Zusatzschurkereien des Heute, als besonders infame Tarnung: so werden gerade Unterschiede zum Ähnlichkeitsbeweis. Niemand scheint dabei zu sehen, daß diese zwanghafte sekundäre Verähnlichung von Heute und
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Damals als nachträgliche Verharmlosung des Faschismus zu wirken geradezu prädestiniert wäre, wenn - womit offenbar niemand ernstlich rechnet - irgend jemand ihr wirklich glauben würde. Der nachträgliche Ungehorsam kam nicht unmittelbar nach dem Ende des zweiten Weltkriegs, sondern später, und zwar nicht zufällig. »Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral« (Brecht): erst als durch den Wiederaufbau materiell erträgliche Zustände und dann überflußverhältnisse entstanden waren, schlug das Entsetzen über das gewesene Schreckliche voll durch aufs Gewissen und wurde erst nun - mit Zeitverzug - moralisch wirklich unerträglich: erst jetzt fand man Zeit für Schuldgefühle, für das Unbehagen an der eigenen geschichtlichen Vergangenheit. Darum wurde gerade erst jetzt - und keineswegs früher- auch jenes Entlastungsangebot weithin unwiderstehlich und erfolgreich, das die entfremdungsentlarvende Kritik darstellte, die schnell monopolisiert wurde durch jene revolutionäre Geschichtsphilosophie, zu der die »Kritische Theorie« - alsbald gegen den Widerstand ihrer Erfinder und Protagonisten - weiterentwickelt worden war: daß man - wo Schuldvorwürfe es überlasten - das Gewissen nicht mehr zu haben braucht, wenn man das Gewissen wird. Aus dem nachträglichen Gehorsam entsteht das Gewissen, das man )hat<; aus dem nachträglichen Ungehorsam entsteht das Gewissen, das man )ist<: das Tribunal, dem man entkommt, indem man es wird. Es war das Erfolgsrezept der revolutionär geschichtsphilosophischen Kritik, diese Flucht aus dem Gewissenhaben in das Gewissensein zum Prinzip der Avantgarde zu machen und darauf ihren Anspruch zu gründen, daß nur noch die anderen die Vergangenheit sind und man selber nur noch die Zukunft, und zwar eben durch dieses nachträgliche Neinsagen. Eine der Geschichten vom Herrn Keuner von Brecht ist überschrieben »Maßnahmen gegen die Gewalt«18: Sie berichtet von einem Herrn Iggen (einem temperierten Akkomodateur zur Zeit der Gewalt), der erst dort, wo die Zeit der Gewalt
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vorbei ist, »nein« sagt. Diese Geschichte - das sei mein später Nachtrag zum sechsten Kolloquium (1972) der Gruppe »Poetik und Hermeneutik«19, zu der ich seit 1966 gehöre (ihr Motor war und ist Hans Robert Jauß) - scheint einschlägig interpretierbar: sie ist die nicht zu Ende geschriebene Parabel vom nachträglichen Ungehorsam. Dies alles gehört in eine autobiographische Einleitung, weil es sich auch auf Introspektion stützt: auf eine Analyse des eigenen Mitmachverhaltens in den 60er Jahren und seiner Umkehr in die Absage, in die Weigerungsverweigerung. Dazu gehört dann auch die Vermutung, daß diese Absage bei mir - einsetzend 1967: ich merke spät und habe lange Bremswege - erleichtert war durch die - gegenüber der frühen >bloßen< Skepsis - nunmehr nachgeholte Konkretisierung. Denn inzwischen war bei mir der Schritt von der »Präexistenz« in die »Existenz«io getan, der Schritt: zu heiraten (1960) und Vater zu werden, statt entlarvungsartistisch in Dauerreflexion zu verharren; die institutionelle Notwendigkeit der Habilitation endlich zu erfüllen (1963) und die Berufspflichten des akademischen Lehrers auf mich zu nehmen: als Privatdozent in Münster und ab 1965 in Gießen als Seminardirektor und als ordentlicher Professor und später - nach der Hochschulreform - als nicht mehr ganz so ordentlicher; schließlich als Dekan und seither unvermeidlich auch in mancherlei Funktionen der Wissenschaftsverwaltung, der Schul- 'und Hochschulpolitik, vor denen ich mich nicht gedrückt habe. Im übrigen galt dann, was in Gides Falschmünzern Armand über seine Familie sagte: »Wir leben von Papas Glauben«, in abgewandelter Form auch von der meinen: Sie lebte von Papas Zweifeln und Verzweiflungen und seinem Talent, dieses Betriebskapital maßvoll mit Gelehrsamkeit vollzusaugen und in didaktische und transzendentalbelletristische Formulierungen umzusetzen, und sie lebte davon auf die Dauer - nach dem zweiten Ruf - nicht einmal schlecht. Sie hätte noch weit besser leben können, wenn ich dieses Betriebskapital nun auch noch durch ein
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Sortiment von revolutionären Gesinnungen und entsprechenden Theorien dauerhaft aufgestockt und arrondiert hätte; indes: dann hätte auch bei mir jene Diastase ein bestimmtes Spannungsquantum überschritten, die für diese ganze Phase bestimmend war: daß nämlich Reflexionswelt und Lebenswelt, Erwartungswelt und Erfahrungswelt, Gesinnungswelt und Verantwortungswelt, Reformwelt und Arbeitswelt, Resolutionswelt und Handlungswelt, Empörungswelt und glaubwürdige Welt auseinandertraten und beziehungslos wurden zueinander. 3. Skepsis und Endlichkeit. Die Undurchhaltbarkeit dieser Diskrepanz - meine ich - führte zu dem, was man» Tendenzwende« genannt hat: sie war die fällige Verehrlichung der Verhältnisse. Denn es gibt das Recht der nächsten Dinge gegenüber den letzten. Zu dieser neuen Ernüchterung gehörte der Katzenjammer in bezug auf den Illusionsgehalt des nachträglichen Ungehorsams: mich jedenfalls wurmte es, daß mich gerade die Skepsis zu einer neuen Vertrauensseligkeit geführt hatte. Es scheintunbehaglicherweise - so etwas zu geben wie ein Gesetz der Erhaltung der Naivität: Die menschliche Mißtrauenskapazität ist begrenzt, und je mehr man sie an einer der Denkfronten konzentriert, desto leichter kommt die Naivität zum Sieg an den anderen. Die Gegenwartsszene ist bewegt von Gegenbesetzungen gegen diese unbehagliche Erfahrung; darüber zum Beispiel - wurden unsere Dichter zu kochenden Seelen: sie kochen fast alle, entweder vor Wut oder am Herd (oder beides), und allemal gibt das Bücher. Ich selbst kann nicht kochen, es sei denn auch nur mit Wasser; aber sogar das tristesse oblige! - gab ein Buch: die Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie (1973), die hier eine Zwischenbilanz versuchten. Die Philosophie - das gilt für die des nachträglichen Ungehorsams wie für die Zweifelsorgien der bloßen Skepsis - ist kein Amulett, das gegen Irrwege schützt; das nahm ich ihr übel, und aus dieser Enttäuschung heraus
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entstand der hier secundo loco abgedruckte - 1973 zum60. Geburtstag von Hermann Krings geschriebene - Aufsatz » Inkompetenzkompensationskompetenz ?«, der natürlich die Skepsis gegenüber der Philosophie übertrieb: aber gerade das ließ ihn mitrepräsentativ sein für jene spezifisch deutsche »Selbstunsicherheit der Philosophie«21 und Verzweiflung an ihr, die - historisch bedingt - eine umgekippte Uberhoffnung ist. Denn die »verspätete Nation« - das hat Plessner dargelegt - kompensiert ihr verspätungsbedingtes Defizit an politischen Liberalwirklichkeiten zunächst durch Ubererwartung an die Geisteskultur, speziell an die Philosophie. Doch diese Ubererwartung kann die Philosophie (wie ihr Weg durchs 19. Jahrhundert zeigt, auf dem gerade darum die Kunst der Enttäuschung entstand: die Ideologiekritik) nur enttäuschen: Das erzwang - anders als etwa in den angelsächsischen Demokratien, deren Ansprüche an die Philosophie von vornherein bescheidener sein konnten - gerade in Deutschland die Neigung, die absolute Hoffnung auf die Philosophie schließlich durch die absolute Verzweiflung an der Philosophie zu ersetzen. Das tat auch mein Aufsatz über die »Inkompetenzkompensationskompetenz« der Philosophie. Im Grunde aber wollte er für die Philosophie nur das Ende der Unbescheidenheit22: in diesem Sinne wiederholte und bekräftigte er die Wende zur Skepsis. Gerade diese Wende zur Skepsis jedoch - wiederholt und bekräftigt - mußte skeptischer werden in bezug auf sich selber: insbesondere angesichts des unbehaglichen Verdachts, sie wirke als indirekte Ermächtigung von Weltverbesserungsillusionen. Darum wurde es fällig, ihr Illusionspotential zu reduzieren: das Quantum quasigöttlicher Souveränität, das der Dauerzweifel zu enthalten scheint, an die Kette der Menschlichkeit zu legen und die Skepsis (meinethalben durch »existenzialistische« Akzentuierung) umzudefinieren zu einer Philosophie der Endlichkeit. Darum wurden jetzt gleichwichtig mit dem Zweifel jene Züge, die die Skepsis - historisch belegbar - stets auch gehabt
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hat: die Ernstnahrne des »Einzelnen« und die Bereitschaft, gemäß den »Sitten der Väter« zu leben, d. h. - wo es keine zwingenden Gründe fürs Abweichen gibt - nach Ublichkeiten zu handeln. Das ist für Menschen unausweichlich, weil sie Einzelne sind. Die Skepsis wünscht sich zwar den vermeidlichen Einzelnen: die gebildete Individualität. Aber sie rechnet mit dem unvermeidlichen Einzelnen: das ist jeder Mensch, weil er »unvertretbar« sterben muß und »zum Tode« ist. 23 Dadurch ist das Leben des Menschen stets zu kurz, um sich von dem, was er schon ist, in beliebigem Umfang durch Ändern zu lösen: er hat schlichtweg keine Zeit dazu. Darum muß er stets überwiegend das bleiben, was er gescl),ichtlich schon war: er muß »anknüpfen«. Zukunft braucht Herkunft: »die Wahl, die ich bin«24, wird »getragen« durch die Nichtwahl, die ich bin; und diese ist für uns stets so sehr das meiste, daß es - wegen unserer Lebenskürze - auch unsere Begründungskapazität übersteigt: Darum muß man, wenn man - unter den Zeitnotbedingungen unserer vita brevis überhaupt begründen will, nicht die Nichtwahl begründen, sondern die Wahl (die Veränderung): die Beweislast hat der Veränderer. Indem sie diese RegeJ25 übernimmt, die aus der menschlichen Sterblichkeit folgt, tendiert die Skepsis zum Konservativen. »Konservativ« ist dabei ein ganz und gar unemphatischer Begriff, den man sich am besten von Chirurgen erläutern läßt, wenn diese überlegen, ob »konservativ« behandelt werden könne, oder ob die Niere, der Zahn, der Ann oder Darm herausmüsse: lege artis schneidet man nur, wenn man muß (wenn zwingende Gründe vorliegen), sonst nicht, und nie alles; es gibt keine Operation ohne konservative Behandlung: denn man kann aus einem Menschen nicht den ganzen Menschen herausschneiden. Das unabsichtlich oder nicht - übersehen die, die den Begriff des Konservativen perhorreszieren. Analog läßt sich nicht alles ändern und darum nicht jegliches Nichtändern unter Anklage stellen: Deswegen bewirken die, die das - von den Geschichtsphilosophen bis zu den Diskursphilosophen - im
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Sinne einer »übertribunalisierung der Wirklichkeit« tun, etwas anderes als sie wollen. Das habe ich (mit Blick auf die Anfangskonstellation dieses Zusammenhangs) in dem 1978 geschriebenen Aufsatz »Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts« darlegen wollen, der hier tertio loco abgedruckt ist: Die übertribunalisierer etablieren nicht die absolute Rationalität, sondern den »Ausbruch in die Unbelangbarkeit«, der für Freiheiten eintritt, die wir - vor aller prinzipiellen Erlaubnis - schon sind; dazu gehören üblichkeiten. Weil wir zu schnell sterben für totale Änderungen und totale Begründungen, brauchen wir üblichkeiten: auch jene üblichkeit, die die Philosophie ist. Die Skeptiker rechnen also mit der sterblichkeitsbedingten Unvermeidlichkeit von Traditionen; und was dort üblicherweise und mit dem Status von üblichkeiten26 gewußt wird, wissen auch sie. Die Skeptiker sind also gar nicht die, die prinzipiell nichts wissen; sie wissen nur nichts Prinzipielles: die Skepsis ist nicht die Apotheose der Ratlosigkeit, sondern nur der Abschied vom Prinzipiellen. Demgegenüber will die prinzipielle Philosophie gerade prinzipiell und Prinzipielles wissen: darum fragt sie nach den Prinzipien und nach dem prinzipiellsten Prinzip. Dieses absolute Prinzip aber - das (wie immer es gedacht wird) stets sozusagen das Gewissen ist, das die Wirklichkeit haben soll verwandelt die faktische Wirklichkeit insgesamt in das Unselbstverständliche, Kontingente, Ungerechtfertigte, das aus diesem unprinzipiellen oder gar konterprinzipiellen Status allererst durch prinzipielle Rechtfertigung (durch prinzipielle Begründung oder durch prinzipielle Veränderung) erlöst werden muß. Als derartige >Verwandlung< der Wirklichkeit ins Rechtfertigungsbedürftige - als tendenzielle Tribunalisierung der Wirklichkeit - ist die prinzipielle Philosophie der fundamentale Spezialfall einer Veränderung. Wenn aber - sterblichkeitsbedingt - gilt: die Beweislast hat der Veränderer, dann (wenn also das Faktische das Apriori des Prinzipiellen ist, und zwar gerade durch seine Vergäng-
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lichkeit) muß die prinzipielle Philosophie zuerst nicht das Faktische, sondern zuerst sich selber rechtfertigenP Doch beide Rechtfertigungen der prinzipiellen Philosophie - die Rechtfertigung des Prinzipiellen vorm Faktischen und die Rechtfertigung des Faktischen vorm Prinzipiellen - kommen entweder zu leer oder zu spät: nämlich, als unendliche Antwort an ein endliches Wesen, stets erst nach dessen Tod. Falls der transzendentale Hase als überbringer der prinzipiellen Botschaft - unwahrscheinlicherweise - wirklich einmal gerannt käme (und dabei nicht von nichts, sondern wirklich von etwas wüßte), läge der endliche Swinegel immer schon da: tot. Das Prinzipielle ist lang, das Leben kurz; wir können mit dem Leben nicht warten auf die prinzipielle Erlaubnis, es nunmehr anfangen und leben zu dürfen; denn unser Tod ist schneller als das Prinzipielle: das eben erzwingt den Abschied vom Prinzipiellen. Darum muß der endliche Mensch - einstweilen, in provisorischer Moral: aber jedenfalls bis zu seinem Tod - ohne prin~ipielle Rechtfertigung leben (so daß das Gewissen jeweils mehr Einsamkeit ist als Universalität; Mündigkeit ist vor allem Einsamkeitsfähigkeit): er muß kontingent und aus Kontingenzen heraus existieren, die aber für ihn - den Anknüpfenmüsser, der nicht vor ihnen steht wie Buridans Esel vor den Heuhaufen, sondern der in ihnen steckt und stets nur wenig herauskannkeine beliebig wählbaren und abwählbaren Beliebigkeiten sind, sondern (als die Nichtwahl, die er ist) unverfügbare und kaum-entrinnbare Schicksale. Deswegen - das macht der 1976 geschriebene und hier quarto loco abgedruckte Aufsatz »Ende des Schicksals? Einige Bemerkungen über die Unvermeidlichkeit des Unverfügbaren« geltend - wurde zwar das Schicksal theologisch-metaphysisch durch das absolute Prinzip des einen Gottes verdrängt; aber das verdrängte Schicksal kehrte - spätestens nach dem »Ende Gottes«, durch das die Neuzeit entstand - unverzüglich wieder: als die »Unverfügbarkeit der Vorgaben« und die »Unverfügbarkeit der Folgen«. Aus Kontingenzen zu leben, d. h., ein Schicksal zu
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haben ist - wegen ihrer Sterblichkeit - für die Menschen unvermeidlich. All diese überlegungen verabschieden die prinzipielle Philosophie; aber sie verabschieden nicht die unprinzipielle Philosophie: die Skepsis. Sie verabschieden für die Menschen die prinzipielle Freiheit; aber sie verabschieden nicht die wirkliche Freiheit, die im Plural: die Freiheiten. Zu ihnen kommt es durch die Buntheit des Vorgegebenen: dadurch, daß die Vielfalt - die Rivalität, der gleichgewichtige Widerstreit, die Balance - seiner Mächte deren Zugriff auf den Einzelnen neutralisiert oder limitiert. Freiheiten entstehen durch Gewaltenteilung. Der Sinn für diese Freiheiten ist nicht die prinzipielle Philosophie, sondern die Skepsis. Das bestimmt zugleich die Rolle ihres Zweifels: als Teilung auch noch jener Gewalten, die die überzeugungen sind, ist der skeptische Zweifel der Sinn für Gewaltenteilung. Er ist nicht die absolute Ratlosigkeit, sondern der Vielfaltsinn für die »isosthenes diaphonia«28 - die Balance - nicht nurwiderstreitender Dogmen, sondern auch widerstreitender Wirklichkeiten, die eben dadurch - divide et liberaliter vive! - dem Einzelnen Freiheiten läßt und jene Entlastung vom Absoluten gewährt, die vor allem auch - wie Hans Blumenberg gezeigt hat29 - als »mythische Gewaltenteilung« wirkt. In meinem Anfang 1978 geschriebenen und hier quinto loco abgedruckten Aufsatz »Lob des Polytheismus. über Monomythie und Polymythie« habe ich das (durchaus in Spuren Blumenbergs gehend30) geltend gemacht: Freiheit ist, nicht »monomythisch« nur eine einzige Geschichte haben dürfen, sondern »polymythisch« deren viele durch die Teilung auch noch jener Gewalten, die die Geschichten sind. Dabei muß man - was diese Buntheit und Vielfalt betrifft - notfalls nachhelfen: und das - zumindest auch das - heißt dann Hermeneutik. In dem 1979 geschriebenen und hier sexto et ultimo loco abgedruckten Beitrag »Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist« wollte ich - als späte, längst überfällige Bekräftigung meiner Zugehörigkeit zum
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hermeneutischen Lager - justament das unterstreichen: Hermeneutik ist die für Menschen lebensnotwendige Kunst, sich verstehend in Kontingenzen zurechtzufinden, die man festhalten und distanzieren muß, weil Wesen mit befristeter Lebenszeit sie nur begrenzt loswerden können; und der modernste Teil dieser Lebenskunst besteht - »lesen und lesen lassen!« - darin, den »absoluten Text«, der in den hermeneutischen Bürgerkriegen (den Konfessionskriegen) tödlicher Streitfall wurde, zum »relativen Text« - zum neutralen, literarischen, ästhetischen - unter anderen relativen Texten zu zähmen durch Pluralisierung auch noch der Lesarten, der Rezeptionsversionen: als Teilung auch noch jener Gewalten, die die Texte und Auslegungen sind, so daß »der Kern der Hermeneutik die Skepsis und die aktuelle Form der Skepsis die Hermeneutik« ist. Wir müssen unsere Kontingenz ertragen: Gerade die Skepsis - und auch das in dieser Einleitung Ausgeführte - ist keine absolute Mitteilung, weil jede Philosophie in ein Leben verwickelt bleibt, das stets zu schwierig und zu kurz ist, um absolute Klarheit über sich selber zu erreichen. »Das Leben« - sagt ein Sprichwort - »ist schwer, aber es übt«: vor allem trainiert es - more scepticoZufriedenheiten damit, daß es endlich ist.
Anmerkungen 1 Aristoteles, Metaphysik A 2 982 b 7 H. 2 H. Schelsky, Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldod/Köln 1957; hier zit. nach 41960. 3 Vgl. M. Sperber, Die vergebliche Warnung, Wien 1973, S.165H. 4 Vgl. H. Scholtz, Nationalsozialistische Ausleseschulen. Internatsschulen als Herrschaftsmittel des Führerstaats, Göttingen 1973, bes. S. 162 H. (Vorgeschichte und Entwicklung der Adolf-HitlerSchulen 1936-1941), S.254H., 374ff. 5 Vgl. O. Marquard, .Kunst als Kompensation ihres Endes«, in: W. Oelmüller (Hrsg.), ifsthetische Erfahrung, Paderborn 1981 (Kolloquium: Kunst und Philosophie, Bd. 1), S. 159-168.
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6 R. Spaemann, »Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte«, in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie 1 (1959) S.313; vgl. H. Lübbe [u.a.] (Hrsg.), Collegium Philosophicum. Studien, Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, Basel/Stuttgart 1965. 7 Zusammengefaßt in: J. Ritter, Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt a.M. 1969; J. R., Subjektivität, Frankfurt a. M. 1974. 8 Vgl. M. Müller, Symbolos, München 1967, S.49. 9 H. Marcuse, Eros and Civilization. A Philosophical Inquiry into Freud, Boston 1955; dt.: Eros und Kultur, Frankfurt a.M. 1957; Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1965. 10 O. Marquard, aber die Depotenzierung der Transzendentalphilosophie. Einige philosophische Motive eines neueren Psychologismus in der Philosophie, Habil.-Schr. Münster 1963 .. 11 S. Freud, Totem und Tabu (1912); hier zit. nach: S. F., Gesammelte Werke in Einzelbänden, hrsg. von A. Freud [u. a.], Bd.9, Frankfurt a. M. 41968. 12 Vgl. A. Mitscherlich, Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie, München 1968. 13 Vgl. R. Koselleck, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg/München 1959. 14 Vgl. M. Merleau-Ponty, Die Abenteuer der Dialektik (1955), Frankfurt a. M. 1968, bes. S. 245 ff. 15 Vgl. Spinoza, Tractatus theologico-politicus (1670); dt.: Theologisch-politischer Traktat, hrsg. von G. Gawlick, Hamburg 1976, S. 301 ff.; vgl. R. Spaemann, Zur Kritik der politischen Utopie, Stuttgart 1977, S. 87. 16 Vgl. O. Marquard, Artikel »MalumI«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, BasellStuttgart 1980, S. 652-656; O. M., »Vernunft als Grenzreaktion. Zur VerWandlung der Vernunft durch die Theodizee«, in: H. Poser (Hrsg.), Wandel des Vernunftbegriffs, Freiburg/München 1981. 17 H. Schelsky, Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, Opladen 1975, S. 84. 18 B. Brecht, Gesammelte Werke, hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zsarb. mit E. Hauptmann, Bd.12, Frankfurt a.M. 1968, S.375f. 19 Vgl. H. Weinrich (Hrsg.), Positionen der Negativität, München 1975, (Poetik und Hermeneutik, Bd. 6), S. 557ff. 20 Vgl. H. v. HofmannsthaI, »Ad me ipsum«, in: Au/zeichnungen (Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hrsg. von H. Steiner), ,Frankfurt a.M. 1959, S.211ff. Es ist der Schritt aus der
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Abschied v,om Prinzipiellen »ästhetischen« Existenzsphäre, wo jeder der »einzige« Mensch ist, in das »ethische« Sein für Andere: »mein Leben kann ich aufs Spiel setzen, mein Leben kann ich allen Ernstes zum Scherze machendas eines andern nicht«: S. Kierkegaard, Philosophische Brocken (1844), in: S. K., Gesammelte Werke, hrsg. von E. Hirsch und H. Gerdes, Abt. 10, Düsseldod 1967, S. 6. H. Plessner, Die verspätete Nation. aber die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes (1935/59), Frankfurt a. M. 1974, S. 163; vgl. O. Marquard, »Skeptische Betrachtungen zur Lage der Philosophie«, in: H. Lübbe (Hrsg.), Wozu Philosophie?, Berlinl NewYork 1978, bes. S.70-74. Vgl. H. Cohen, Ethik des reinen Willens, Berlin 1904,S. 502: »Die Bescheidenheit ist daher die Tugend der Skepsis.« Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, Halle 1927, S.235ff. J.-.P. Sartre, L'etre et le neant, Paris 1943, S. 638: »le choix que je SUlS«.
25 Im Anschluß zunächst an M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, Berlin 1967; N. Luhmann, »Status quo als Argument«, in: H. Baier (Hrsg.), Studenten in Opposition. Beiträge zur Soziologie der Hochschule, Bielefeld 1968 (S. 78: »unfreiwilliger Konservativismus aus Komplexität«); H. Lübbe, GeschichtsbegriJf und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie, Baseli Stuttgart 1977, S. 329 ff. 26 D. Hume, An Enquiry concerning Human Understanding(1748), Sect. V: »custom or habit«. 27 Vgl. O. Marquard, »über die Unvermeidlichkeit von üblichkeiten«, in: W. Oelmüller (Hrsg.), Normen und Geschichte, Paderborn 1979 (Materialien zur Normendiskussion, Bd.3), S.332-342. 28 Vgl. M. Hossenfelder, Einleitung zu: Sextus Empiricus. Grundzüge der pyrrhonischen Skepsis, Frankfurt a. M. 1968, bes. S. 42 ff. 29 H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt a.M. 1979; vgl. O. Marquard, »Laudatio auf Hans Blumenberg., in: Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 1980///, Heidelberg 1981, S. 53-56. 30 Vgl. O. Marquard, »Einleitung zur Diskussion von H. Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos«, in: M. Fuhrmann (Hrsg.), Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, München 1971 (Poetik und Hermeneutik, Bd.4), S.527-530.
Inkompetenzkompensationskompetenz ? Ober Kompetenz und Inkompetenz der Philosophie
Bei einem chinesischen Henkerwettstreit - so wird erzählt geriet der zweite Finalist in die Verlegenheit, eine schier unüberbietbar präzise Enthauptung durch seinen Konkurrenten, der vor ihm dran war, überbieten zu müssen. Es herrschte Spannung. Mit scharfer Klinge führte er seinen Streich. Jedoch der Kopf des zu Enthauptenden fiel nicht, und der also scheinbar noch nicht enthauptete Delinquent blickte den Henker erstaunt und fragend an. Drauf dieser zu ihm: Nicken Sie mal. Mich interessiert, was dieser Kopf denkt, bevor er nickt; denn das müßte doch Ahnlichkeit haben mit Gedanken der Philosophie über sich selber. Es mag unangebracht erscheinen, einen festlichen Anlaß und nun gar einen zu Ehren von Herrn Krings - mit der Assoziation eines Henkerwettstreits zu belasten. Indes: hier sind schließlich Philosophen versammelt, und die, im Zweifelsfall, wissen, wovon ich rede. Zwar ist es - denn das ist immerhin das Handwerkszeug von Philosophen - unbestreitbar, daß sie Köpfe haben und, wenn ich mich selber einmal ausnehme, unbestreitbar, daß sie Köpfe sind. Aber wie fest sitzen diese Köpfe? -: Das ist - real oder wenigstens, und vielleicht dringlicher noch, metaphorisch - die Frage dort, wo über Kompetenz und Inkompetenz der Philosophie auf Geheiß der Ausrichter gesprochen werden soll und wo dabei - und dies dann ganz zwangsläufig - von dem Schicksal der Decapitatio der Philosophie durch radikale Reduktionen ihrer Kompetenz die Rede sein muß in Verbindung mit der Tatsache, daß die Philosophie ihren Kopf offenbar immer noch oben trägt. Ich möchte meine einschlägigen Erwägungen in zwei Abschnitten vorbringen: der erste Abschnitt
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handelt im Blick auf die Philosophie von ihrer Kompetenzreduktion; der zweite Abschnitt handelt im Blick auf die Philosophie von ihrer Reduktionskompensation. 1. Zunächst also - in einigen pauschalen Andeutungen - über die Reduktion der Kompetenz der Philosophie. Was bedeutet dabei Kompetenz? Ich verhalte mich - ohne philologischen Kontakt zum Thesaurus, der das Wort im Wortfeld der Rivalität ansiedeln mag, ohne juristischen Kontakt zu terminologiegeschichtlich arbeitenden Rechtsgelehrten, ohne biologischen Kontakt zu Blastemforschern, ohne linguistischen Kontakt zu Chomsky, ohne kommunikativen Kontakt zu Habermas - zum Begriff der Kompetenz vorerst möglichst vage: Kompetenz hat offenbar irgendwie zu tun mit Zuständigkeit und mit Fähigkeit und mit Bereitschaft und damit, daß Zuständigkeit, Fähigkeit· und Bereitschaft sich in Deckung befinden, womit gerade bei der Philsosophie von Anfang an nicht unbedingt gerechnet werden kann; denn schon immer hat es Philosophien gegeben, die für nichts zuständig, zu manchem fähig und zu allem bereit waren: Ob dieser Befund für die Philosophie total und schlechthin zutreffend sei: vor zweitausend Jahren wäre das keine diskutable Frage gewesen; heute ist es eine; und so kommt in diese überlegung gleich zu Anfang die Geschichte hinein in bezug auf die Philosophie und ihre Kompetenz. Was ihre Kompetenz sei, sagt ihr nur ihre Geschichte; die aber sagt der Philosophie, daß es einen Fortschritt gegeben habe in der Abnahme ihrer Kompetenz: die Philosophiegeschichte ist die Geschichte der Reduktion der Kompetenz der Philosophie. Und hier ist sie, diese Reduktionsgeschichte, und zwar eiligkeitshalber formuliert als spekulative Kurzgeschichte: Erst war die Philosophie kompetent für alles; dann war die Philosophie kompetent für einiges; schließlich ist die Philosophie kompetent nur noch für eines: nämlich für das Eingeständnis der eigenen Inkompetenz. Und das lief so: Die Philosophie wurde im Laufe ihres beschwerlichen Lebens
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mindestens dreimal aufs äußerste herausgefordert, dabei überfordert und so schließlich erschöpft, ausgezehrt und von Kompetenten, also Mitbewerbern: und zwar hier in Dingen Kompetenz - aus dem Rennen geworfen. Da war früh: nämlich von der Bibel her - die soteriologische Herausforderung, und da waren - spät: nämlich bürgerlich und pseudonachbürgerlich - die technologische und die politische Herausforderung. Die soteriologische Herausforderung verlangte von der Philosophie, zum Heil der Menschen zu führen, aber das - und dies zeigte sich, als das Christentum die Philosophie überbot - konnte sie nicht: so war es um ihre Heilskompetenz geschehen und die Philosophie wurde zum Fürsorgefall; eine Zeitlang kam sie unter als ancilla theologiae. Die technologische Herausforderung verlangte von der Philosophie, sie solle zum Nutzenwissen der Menschen führen; aber das - und dies zeigte sich, als die exakten Wissenschaften die Philosophie überboten - konnte sie nicht: so war es um ihre technologische Kompetenz geschehen und die Philosophie wurde zum Fürsorgefall; eine Zeitlang kam sie unter als ancilla scientiae, als Wissenschaftstheorie. Die politische Herausforderung verlangte von der Philosophie, sie solle zum gerechten Glück der Menschen führen; aber das - und dies zeigte sich, als die politische Praxis die Philosophie, sei es durch Aktivität, sei es durch Sinn fürs Tunliche, Mögliche und Institutionelle überbot - konnte sie nicht: so war es um ihre politische Kompetenz geschehen und die Philosophie wurde zum Fürsorgefall; eine Zeitlang kam sie unter als ancilla emancipationis, als Magd (oder sagen wir wegen der Gleichberechtigung: als Knecht) der Emanzipation, als Geschichtsphilosophie. Im Zuge der Geschichte dieser überforderungen und Verluste ist es auch zweifelhaft geworden, ob es sinnvoll ist, das, was an Zuträglichkeiten für Heil und Technologie und Politik in der Philosophie immerhin anzutreffen war und vielleicht ist, zum Separatum zu stilisieren: ich bezweifle, daß es mehr ist als ein frommer Wunsch der Philosophenprofis, daß die Philosophie den
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gesunden Menschenverstand und die nüchterne Vernunft gegen die, die sie aus ihrer tagtäglichen Wirklichkeit eigentlich haben sollten, retten müßte und - falls es wirklich nötig wäre - retten könnte. Es gibt natürlich Leute, die die Philosophie als Amulett betrachten, das gegen Irrwege schützt; jedoch - genau umgekehrt wie bei jenem Hufeisen, das in einer bekannten Anekdote bedeutsam ist, die von Niels Bohr erzählt wird l - die Philosophie nützt auch und gerade dann nichts, wenn man an sie glaubt. Damit ist jener Sektor berührt, in bezug auf den die Philosophie das Kompetenzmonopol ohnehin niemals hatte: die Lebensweisheit. Wo es um ihre Äußerung geht, waren schon immer mindestens die Dichter ihre Konkurrenten. So scheint auch eine Spezialität gefährdet, die die Philosophie hat, wo man definieren kann: Philosophie, das ist die Altersweisheit der noch nicht Alten: Simulation von Lebenserfahrung für die und durch die, die noch keine haben. Hier wird der biologische Prozeß zum Angriff auf diese Kompetenz: immerhin werden sogar Philosophen älter, wenn man es auch manchmal nicht merkt, und dann können sie - das vermute ich einstweilen nur und auch nur manchmal - Philosophie durch wirkliche Altersweisheit ersetzen und brauchen die Philosophie nicht mehr. Indes: Lebenserfahrung zu sein für die, die noch keine haben, Altersweisheit der noch nicht Alten zu sein: das ist schließlich nicht nur eine mögliche Teildefinition der Philosophie, sondern die wirkliche Teildefinition der Geisteswissenschaften dort, wo diese das Pensum haben, zu erinnern, und gerade darum jetzt - und das ehrt sie - angefochten sind: denn wo riskant reformiert wird, ist man plausiblerweise daran interessiert, sein Risiko bei der Erfolgskontrolle zu mindern durchs Verbot der Erinnerung. Erinnert die Philosophie besser als die Geisteswissenschaften? Doch wohl kaum: und so ist ihr in diesen erinnernden Wissenschaften, auf die die Philosophie wegen ihres sonstigen Kompetenzverlusts seit dem vorigen Jahrhundert setzte, ein Kompetent erwachsen, der ihre vielleicht letzte Kompetenz in Frage stellt: die
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Erinnerungskompetenz. Offenbar laufen die Kompetenzen der Philosophie aus, so daß sie bei der Inkompetenz endet. Das heißt nicht, daß sie bei all diesen Fragen gar nichts mehr zu sagen hätte; aber sie ist überwiegend zum aussichtslosen Kompetenten geworden, günstigstenfalls zur zweiten Besetzung: und was nützt es, die zweite Besetzung zu sein, wenn die erste wirklich gut und überdies niemals indisponiert ist. Die Philosophie: sie ist zu Ende; wir betreiben Philosophie nach dem Ende der Philosophie. Was tun? - ich zitiere hier nicht Lenin, sondern Schillers »Teilung der Erde« - Was tun, spricht Zeus, die Welt ist weggegeben; - aber der einzige konstruktive Hilfsvorschlag, den Zeus - bei Schiller - dann machte, der war an die Dichter gerichtet und eben nicht an die Philosophen: gerade den Philosophen hilft er nicht. So bleibt es dabei: Der Bericht zur Lage der Kompetenz der Philosophie, das ist eine Orgie der Fehlanzeigen. Freilich: stimmt das nun wirklich und muß das so sein? Ich gebe gern zu: es mag Residualkompetenzen geben für die Philosophie, vielleicht sogar beträchtliche, womöglich nicht nur residuale, indes: darüber zu sprechen fehlt mir - mir ganz persönlich - die Kompetenz; denn dafür bin ich nicht zuständig, dazu bin ich nicht fähig, dazu bin ich allenfalls bereit, und lassen Sie mich das kurz erläutern. -Ich bin nicht zuständig, und zwar mindestens aus Gründen der Höflichkeit: Es wäre unhöflich, auch nur von ferne den Eindruck zu erwecken, die Münchener brauchten zur Würdigung einer Kompetenz, die sie - und vielleicht als einzige - selber kennen, einen Auswärtigen, gar einen in Hinterpommern geborenen Zwangsostfriesen, der am Fuße des Vogelsbergs sein bedenkliches Leben verbringt und darum ja auch sowieso eher zuständig ist für nonkonformistische Teile der südhessischen Grundlagenfolklore. - Ich bin auch nicht fähig zur Würdigung solcher Kompetenz, und zwar aus Gründen der Unfähigkeit: Meine Arbeitsstätte ist eben kein Institut für Naivität, sondern nur eines zur Suche der verlorenen, ein Zentrum für konzentrierte Ratlosigkeit: und solch ein
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Philosoph - nennen wir ihn einen sentimentalischen - hat es schwer etwa mit der Theoria, mit der, die aus dem Staunen erwächst, jenem unadressierten Dank fürs Wohlsein der Welt, der zur Schau ihrer schönen, guten und wahren Ordnung ermuntert; er ist nämlich ein schlechter Stauner, denn das einzige, worüber er wirklich staunt, das ist: davongekommen zu sein, einstweilen und unwahrscheinlicherweise. - Gleichwohl bin ich bereit, über verbleibende Kompetenzen der Philosophie mich zu äußern. Dieser ganze Prozeß des Kompetenzverlusts der Philosophie, er läßt sich ja schließlich auch ganz anders lesen: nicht als Weg der Enteignung, sondern als Weg der Erleichterung; denn vielleicht ist dieser Pflichtenverlust der Philosophie für sie in Wirklichkeit ein Gewinn von Freiheiten; ihre Verdrängung kann ihre Entlastung bedeuten: wenn sie jetzt nichts mehr muß, dann könnte das gerade heißen, daß sie jetzt nahezu alles darf. So mag also mancherlei für sie übrigbleiben. Denn da sind schließlich auch noch ihre unbestrittenen Pensen: die Philosophiegeschichte und ebenso auch die Logik, die freilich in Symbiose lebt mit der Mathematik. überhaupt sind Symbiosen wichtig: vor allem für die Grundlagenphilosophie der Einzelwissenschaften. In diesen ist - nach Heideggers Diktum - so viel Philosophie wie Fähigkeit zur Grundlagenkrise: ihr Grundlagenkrisenmanagement ist also ein bleibendes philosophisches Pensum. Aber wer ist wirklich kompetent dafür? Reine Philosophen? Oder die Wissenschaftler der jeweils betroffenen Wissenschaft selber? Die Zeit der reinen Philosophen ist vorbei: wo sie auf Reinheit bestehen, verlieren sie schließlich die Philosophie. Wie also steht es mit ihrer Grundlagenkompetenz für die Wissenschaften? Hier sind offenbar Zweifel möglich und angebracht; ich äußere sie denn auch freimütig: teils schon deswegen, weil es keinen guten Eindruck machen würde, wenn hier in diesem Kolloquium über die Philosophie nur Zuversichtliches, nur Jubelndes gesagt würde; und teils auch aus kompositorischen, sozusagen aus gliederungsrhythmischen Gründen: was tut
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man nicht alles - wie jenes berühmte Wiesel- um des Reimes willen; meine überlegung käme zu keinem Duktus und zu keiner Peripetie, wenn ich nicht zunächst dabeibliebe, nachhaltig die radikale Reduktionsgeschichte der Kompetenz der Philosophie und also nachdrücklich folgendes zu behaupten, ich wiederhole es: Erst war die Philosophie kompetent für alles; dann war die Philosophie kompetent für einiges; schließlich ist die Philosophie kompetent nur noch für eines: nämlich für das Eingeständnis der eigenen Inkompetenz. Und wenn das so sich verhält, dann bleibt übrig für die Philosophie: gar nichts, also die reine, pure, nackte Inkompetenz, sowie - um den Sokrates zu zitieren - nur noch eine einzige ganz winzige Kleinigkeit, eine freilich sehr unsokratische Kleinigkeit, eine, die die Philosophie nicht weniger problematisch, sondern die sie vollends problematisch macht, etwas, das ich im Blick auf die radikal inkompetent gewordene Philosophie nennen möchte: ihre Inkompetenzkompensationskompetenz. 2. über sie - also über diese Inkompetenzkompensationskompetenz - möchte ich jetzt zwei Vorbemerkungen, zwei mittlere Bemerkungen und eine Nachbemerkung machen. Sie werden - vermute ich - erst an dieser Stelle spüren, daß ich mein Thema, ein vorgegebenes wie gesagt, etwas eigenartig aufgefaßt habe: nämlich mich interessiert hier nicht die Grenze zwischen dem unendlichgroßen Gebiete der Inkompetenz und dem unendlichkIeinen Gebiete der Kompetenz der Philosophie, sondern mich interessiert gerade eine Nichtgrenze: die Legierung von Inkompetenz und Kompetenz, und eine derartige Legierung ist bei der Philosophie das, was ich genannt habe: ihre Inkompetenzkompensationskompetenz. Darüber also zunächst zwei Vorbemerkungen: a) Diese Inkompetenzkompensationskompetenz hat bei der Philosophie viel mit ihrer Inkompetenz zu tun: denn kompensieren muß man nur, wo etwas fehlt; und so ist denn
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ihre Inkompetenzkompensationskompetenz zunächst einmal ein Symptom ihrer Inkompetenz. b) Es gäbe sie nicht - diese Inkompetenzkompensationskompetenz - wenn es nur die Inkompetenz der Philosophie gäbe und nicht auch ihre Kompetenznostalgie. Alle reden von Nostalgie: ich auch. Etwas zu sein: danach sehnt sich die Philosophie; und sie war etwas: das kann sie nicht vergessen, auch nicht dadurch, daß sie sich einredet, sie sei noch etwas, wenn sie das überflüssige ist. Sie ist zwar - als das Inkompetente - tatsächlich das überflüssige, aber sie ist es eben nicht einfachhin, sondern sie ist kompetenznostalgisch jenes überflüssige, das in das Nützliche verliebt ist, und zwar unglücklich. Auf die pure überflüssigkeit sich zurückzuziehen: das hält sie gar nicht aus. Das wird zunächst bestätigt durch ein mehr rührendes Phänomen: durch den Enthusiasmus der Philosophen für unbezahlte Nebentätigkeiten. Der Mensch ist das tätige, der Philosoph ist das .nebentätige Lebewesen; es blühen seine extraprofessionellen Selbstbestätigungsaktivitäten: Die Philosophen werden - dabei ist übrigens ihr bekanntes Faible für Talmijurisprudenz nur die geheime Rache der aus der Philosophie vertriebenen Mathematik für ihre Vertreibung: wo sie aus der Philosophie verschwindet, erzeugt sie jenes Vakuum, in welches dann das eindringt, was Philosophen und nur Philosophen für juristische Logik halten - die Philosophen also werden Selbstverwaltungsfetischisten, Fundamentalstatistiker, Gründungsund Opernbeiräte, Wissenschaftstouristen, Leistungssportler des Interdisziplinären, Planungs-, Satzungs- und Gesetzesverfertiger, graue Eminenzen der Totaltransparenz, d. h. Dunkelmänner der Durchsichtigkeit, ambulante Seelentröster und Kommunalpolitiker, direkte und indirekte, gutachterliche Papierfluterzeuger, sekundäre Salonlöwen, und so fort; und sie schaffen dabei - bei diesem Sein zum Herzinfarkt auf der Suche nach der Kreislaufstörung als Beweis der eigenen Realität - allemal das, was Gehlen die Flucht in die überarbeitung genannt hat: Ich ächze, also bin ich, und zwar
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nützlich. Darum - weil die Philosophen gegenwärtig als jene überflüssigen leben, die kompetenznostalgisch in das Nützliche unglücklich verliebt sind, so daß sie ihren einschlägigen Minnedienst notfalls durch Nebentätigkeit leisten - wirkt die Uberflüssigkeit als Rechtfertigungskategorie auch nur dort wenn auch nicht perfekt - lindernd, wo eine Theorie der Nützlichkeit des überflüssigen hinzutritt: etwa dadurch, daß man Veblens Kategorie der stellvertretenden Muße, die bei den feinen Leuten einstmals von Frauen und Dienstboten absolviert wurde, auf die Philosophen ausdehnt; denn häufig sind die Philosophen tatsächlich ebendies : stellvertretende Müßiggänger auf der Suche nach feinen l.euten; darum halten sie sich gern bei den Herrschenden auf und noch lieber bei den künftigen Herrschenden, am liebsten bei jenen künftigen Herrschenden, die auch jetzt schon herrschen, wobei der Grenzfall möglich ist, daß sie sich bei sich selber aufhalten. Der - in dieser Rolle freilich längst schon wieder durch andere überbotene - Philosoph wird Parasit als Status-Symbol. Und er symbolisiert - ob in den Herrschaftsterrains der Besitzer oder der Funktionäre: das läuft mindestens in diesem Punkt auf dasselbe hinaus - damit ja wirklich: daß des einen Leben der Tod des anderen ist, daß die Menschen vom Leiden anderer Menschen leben, die Freiheit von der Knechtschaft, die Gleichheit vom Unterschied, das Hinsehn vom Wegsehn, das Glück vom Unglück: das ist ja so und ist ja nicht nicht so. Das Parasitäre versteht sich immer von selbst: Diesen Satz nicht gelten lassen wollen und gleichwohl selbstverständlich das Parasitäre zu sein: das ist die Philosophie; und wo sie Gewissen hat, quält sie das; und wo sie ihre Kompetenzen verloren hat, aber nicht den Eindruck, daß sie hier welche haben sollte, ist sie dieser Qual unmittelbar und daher schutzlos ausgesetzt. Das, was ich Kompetenznostalgie nannte, artikuliert diese Qual und kanalisiert sie in Richtung auf Kompensationen: die Philosophie beschwichtigt sich, indem sie - angesichts dieser Qual - entweder verzweifelt nicht sie selbst oder verzweifelt sie selbst sein will; und das
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bedeutet: bei der Kompetenznostalgie streicht sie entweder die Kompetenz oder die Nostalgie; sie wird entweder zum Kompetenzflüchter und sucht Nostalgie ohne Kompetenz d. h. absolute Inkompetenz mit schönen Gefühlen; oder sie wird zum Kompetenzhocker und sucht Kompetenz ohne Nostalgie d. h. absolute Kompetenz mit erhabenen Ansprüchen. Dadurch will sie jener Qual des Gewissenhabens entkommen, indem sie bei seiner Anklage entweder nicht die Adresse zu sein versucht oder aber der Adressierer, entweder nicht zurechnungsfähig oder der Zurechner selber: sie entflieht dem Gewissenhaben entweder in Varianten des Garnichts oder ins Gewissensein. Ihre Inkompetenzkompensation ist - angesichts jenes Gewissenhabens - entweder die Flucht aus ihm in jene totale Inkompetenz, die darin besteht, daß die Philosophie gar nicht präsent ist, oder die Flucht aus ihm in jene totale Kompetenz, die darin besteht, daß die Philosophie das absolute Weltgewissen wird. Der Philosoph ist dann: nur Narr, nur Richter, entweder das eine oder das andere - falls das wirklich eine Disjunktion ist. Diese beiden Möglichkeiten der Inkompetenzkompensation, die ich hier anvisiert habe: die Stilisierung der Philosophie zur absoluten Instanz oder ihre Selbstverwandlung in ein gerade noch lebensfähiges Nichts - im Grunde Ersatzgestalten und Nachfolgeformen uralter Fraktionen der Philosophie: des Dogmatismus und des Skeptizismus - möchte ich jetzt in zwei kurzen Mittelbemerkungen .nacheinander einschlägig charakterisieren. a) Der Dogmatismus nennt sich heutzutage Kritik und ist wie ich sagte - die Position der Totalkompetenz der Philosophie durch die Flucht aus dem Gewissenhaben in das Gewissensein. In Freuds Theorie der ökonomie des überIch scheint mir dieser ziemlich unbehagliche Konnex angedeutet, daß jemand, der Gewissen wird, sich dadurch die Notwendigkeit ersparen kann, Gewissen zu haben: das muß nicht so laufen, erklärt aber, warum die Kritik wohl häufig nicht wegen der Kritik, sondern gerade als Entlastung durch
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diesen Vermeidungsertrag attraktiv werden kann. Drum auch darf man im Hause der Kritik nicht von Entlastung sprechen: das kommt der Sache zu nahe. Die Kritik verdächtigt alles und klagt alles an und sitzt über alles zu Gericht. Sie ist damit Schritt innerhalb einer Tradition: denn erst- in der Religionsaß Gott über die Menschen zu Gericht; dann - in der Theodizee - die Menschen über Gott; dann - in der Kritikdie Menschen über sich selber. Das Gericht der Kritik ist also Selbstgericht, und das ist anstrengend: darum wählt die Kritik den Ausweg, dabei nicht der Angeklagte zu sein, sondern der Ankläger; sie entlastet sich, indem sie richtet, um nicht gerichtet zu werden; die Kritik: das sind Ferien vom überIch dadurch, daß sie selber' jenes über-Ich wird, das die Anderen nur haben, und das selber kein über-Ich hat. Dem an sich und für sie verurteilten Zustande ist sie dann für sich schon entkommen: der verurteilte Zustand sind somit die Anderen. Und die Kritik entkommt absolut, indem alle verurteilten Zustände so die Anderen werden und die Philosophie als Kritik selber das absolut Unanklagbare wird, das, was Menschen doch eigentlich nicht sein können: das Absolute, das nicht mehr gerichtet wird, weil es nur noch selber und nur noch andere richtet. Die Philosophie: sie »hatte« Gewissen, aber das hat sie, indem sie absolut vorn ist, hinter sich: statt dessen »ist« sie nun Gewissen, und zwar das absolute. Die institutionellen Konsequenzen reichen über das, was die Philosophie als Separatum betrifft, dabei natürlich weit hinaus; ihre Organisation zu einem zentralen Institut ist - so nützlich sie sein mag - nicht unabdingbar, denn die Philosophie ist hier- absolut, wie sie nun einmal istnicht nur zentral, sondern ubiquitär und omnipräsent: die kritische Philosophie wird alles und daher wird alles kritische Philosophie. Sie löst propriale Sachbereiche und Objektbegriffe auf und ersetzt sie durch emanzipatorische Reflexionsbegriffe, die wesentlich Lockmittel und Brechmittel sind: sie locken in Fortschrittliches und brechen den Widerstand dagegen. Die Kritik kennt keine Gegenstände mehr, sie kennt
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nur noch Relevanzen; und so wird alles identisch: Philosophie und Politik, Utopie und Selbsterhaltung, Haupttätigkeit und Nebentätigkeit, Transparenz und Undurchsichtigkeit, Philosophie und Einzelwissenschaft, jedes Fach mit jedem; nur die Fächer selber verlieren dabei ihre Identität. Dadurch entsteht die Gefahr, daß diese integrierte Gesamtwissenschaft von der Emanzipation - die sozusagen unterwegs ist vom Fachidioten zum integrierten Gesamtidioten, dem so genannten nützlichen, und von der Tyrannei der Werte zur Tyrannei der Stellenwerte - zu jener militanten Karikatur des Identitätssystems wird, in welcher nicht mehr nur alle Kühe schwarz, sondern auch alle Fächer grau sind, weil in allen nur noch dasselbe gedacht wird und nichts anderes mehr: Dieses andere nämlich - meint sie - ist böse, ebenso dann, wenn es falsch, wie auch dann, wenn es überflüssig ist, was in der Praxis heißt: wohl auch dann, wenn es richtig ist, aber nicht opportun. Denn was nicht für die Kritik ist, ist gegen die Kritik und also Sünde. So werden bei diesem bacchantischen Taumel, an dem kein Glied nicht trunken sein darf, gerade jene exkommuniziert, die nüchtern bleiben. Die Wissenschaften werden wieder häresiefähig: ihre Recherchen und Ergebnisse unterliegen wieder einer Zensur im Namen des Heils. Davon befreit zu haben war die Neuzeit; es zu rehabilitieren ist die Gegenneuzeit. Um diesen Preis sucht die Philosophie unterm Namen der Kritik dogmatistisch absolute Kompetenz. ß) Die andere Möglichkeit ist die Nachfolgegestalt des Skeptizismus: es ist die Position der in Kauf genommenen totalen Inkompetenz der Philosophie durch die Flucht aus dem Gewissenhaben in eine mehr oder weniger temperierte Unzurechnungsfähigkeit und also Nichtpräsenz der Philosophie bzw. des Philosophen. Hier ist die Ersparungsrelevanz, der Entlastungsertrag, die Vermeidungsvalenz ohnehin manifest, so daß man nicht erst lange darüber reden muß. Es gibt mehrere Sorten solcher Nichtpräsenz. Die durch Woanderssein ist jedermann geläufig, der museal beschäftigt ist oder
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sonstwie verreist. Aber man kann - und das ist keine Sache einer bestimmten philosophischen Schule oder Richtung man kann auch nicht da sein, indem man ständig noch nicht da ist; und das kann man hermeneutisch: weil das Gespräch noch nicht zu Ende ist; oder dialektisch: weil das Gegenteil noch nicht eingetreten ist; oder analytisch: weil die Behauptung immer noch zu immun auftritt; oder anthropologisch: weil man unbedingt erst noch einmal zu den Bororos muß; oder historisch: weil zuvor noch alles darauf ankommt, die Gnosis zureichender zu erforschen; oder geschichtsphilosophisch: weil man noch. auf die Basis oder noch auf den überbau warten muß oder auf den, der absolut feststellt, auf wen man warten muß; oder transzendental: weil noch nicht alle Möglichkeitsbedingungen beisammen sind oder schon zuviele; oder ästhetisch: weil der Rhythmus noch nicht stimmt oder nur erst der Rhythmus; oder rational rekonstruierend: weil der entscheidende Prädikator immer noch nicht konsensual genug eingeführt ist; oder begriffs geschichtlich: weil man erst bis I informiert ist; oder direkt skeptisch: indem man überflüssig bleibt und schläft, wenn man nicht gerade nützlich nebentätig ist - man sollte sich hüten vor nebentätigen Skeptikern - und so fort: am besten - für eine solche Absenz - ist es gerade, alle Philosophien zu haben oder jedenfalls möglichst viele, um immer gerade die andere zu haben. Die philosophische Kommunikation ist hier Einsamkeit mit anderen Mitteln. Die institutionelle Konsequenz ist die Organisation von Anwesenheitsverhinderungen: Auch hier ist es gut, wenn die Philosophie etwas Zentrales wird, hier ist ein Zentrum nützlich, weil es - wo Fakultäten oder Fachbereiche existieren - eine zweite Präsenzverpflichtung begründet, die mit der ersten aussichtsreich kollidiert; wer da nicht für Philosophie und nicht für die erste Philosophie zuständig ist, sondern nur für die zweite, die andere, die skeptische, ist im Zentrum wegen des Fachbereichs und im Fachbereich wegen des Zentrums verhindert und kann gerade dadurch - das ist die Evidenz des dritten Ortes - arbeiten in
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seiner Außenstelle für Exzentrik: zu Hause, als ein emeritus praecox, ein Sisyphus, der dort seinen Stein, ehe er ihn rollt, allererst basteln muß, und zwar mit Wörtern und aus nichts. Aber aus nichts wird nichts; und so ist, was so einer treibt, allemal die Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts: bekanntlich ist das Kants Definition des Lachens, und so ist diese skeptische Philosophie - tristesse oblige vielleicht das Heitere und womöglich - im Zeitalter der traurigen Wissenschaft - das letzte Exil der Heiterkeit, ein trauriges: denn wer so lacht, hat nichts zu lachen. Wo - und dies ist jetzt meine Nachbemerkung - wo die Philosophie kompetenzunsicher, wo sie zunehmend inkompetent und kompetenznostalgisch wird: da will sie schließlich entweder alles sein oder nichts. Beide Möglichkeiten - die weitaus mehr identisch miteinander sind, als ihnen lieb sein kann - hatte ich anvisiert; sie sind Kompensationsarrangements unterm Eindruck von Kompetenzreduktionen bei der Philosophie: sie sind Inkompetenzkompensationen. Rechtfertigt das die Rede von einer Kompetenz, einer Inkompetenzkompensationskompetenz der Philosophie? Man könnte an jenen begriffsgeschichtlich ausgezeichneten Gebrauch des Wortes Kompetenz denken, der sich im Bezirk der kirchlichen Rechte findet: dort ist die Kompetenz der terminus technicus für jene Klerikeralimentation, die zur Führung eines standesgemäßen Klerikerlebens erforderlich und darum unpfändbar ist. Denn diese Bedeutung - bei der ein durch die Schule des Verdachts bei Marx und Nietzsche und Freud und Heidegger und Adorno Gegangener mit gelehrigem Argwohn sich fragt, warum eigentlich unsere gegenwärtigen Kompetenztheoretiker von ihr in ihren wissenschaftlichen Performanzen keine Notiz nehmen - diese Bedeutung von Kompetenz kann akzentuiert werden entweder in Richtung auf die Bedingungen der Möglichkeit von Priesterschaft, von potestas clavium, oder in Richtung auf die Minimalapanage desjenigen, der nicht am aktiven Leben teilnimmt: und das
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sind ja die beiden von mir skizzierten Möglichkeiten, durch die die Philosophie ihre Inkompetenz kompensiert: absolute Schlüsselgewalt oder vita postuma. Freilich: Kompetenz läßt an Leistung denken; doch was ich beschrieb, waren Fehlleistungen. Die Philosophie: vielleicht hat sie - ich lasse das offen und sage es mit Vorbehalt - heute keine Chance, keine Fehlleistung zu sein; vielleicht hat sie nur die Chance, dies sich einzugestehen. Sie hätte dann keine Vollmacht und wäre nicht sie selbst, sondern bestenfalls täte sie etwas statt dessen. Wo sie das in Rechnung stellt: vielleicht würde sie da menschlich, denn Menschen sind ja die, die etwas statt dessen tun. Ich hatte hier - auf Geheiß - das Referat über Kompetenz und Inkompetenz der Philosophie zu halten; statt dessen habe ich das vorgebracht, was ich statt dessen vorgebracht habe: ein Antireferat. Malraux hat in seinen Antimemoiren die Frage aufgeworfen, ob Memoiren ähnlich sein müssen in einer Zeit, in welcher nicht einmal Portraits mehr Ähnlichkeit wollen. Ich dehne - indem ich im Zeitalter der Totaltransparenz an das Grundrecht auf Ineffabilität erinnere - diese Frage aus nicht auf Referate schlechthin, aber auf dieses Refera~, bei dem ich im übrigen eigens betonen muß, daß ich es jetzt beende, damit Sie nicht auf die fürchterliche Idee verfallen, ich würde es aus irgendwelchen Prinzipien ewiger Wiederkehr des Gleichen jetzt sofort noch einmal halten, wenn ich folgendermaßen schließe: Bei einem chinesischen Henkerwettstreit - so wird erzählt - geriet der zweite Finalist in die Verlegenheit, eine schier unüberbietbar präzise Enthauptung durch seinen Konkurrenten, der vor ihm dran war, überbieten zu müssen. Es herrschte Spannung. Mit scharfer Klinge führte er seinen Streich. Jedoch der Kopf des zu Enthauptenden fiel nicht, und der also scheinbar noch nicht enthauptete Delinquent blickte den Henker erstaunt und fragend an. Drauf dieser zu ihm: Nicken Sie mal. Mich - sagte ich interessiert, was dieser Kopf denkt, bevor er nickt; denn dasmeinte ich - müßte doch Ähnlichkeit haben mit Gedanken
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der Philosophie über sich selber. Ich vermute, daß sich Ihnen in bezug auf mich jetzt seit mindestens fünfundvierzig Minuten die Frage aufdrängt: Wann endlich nickt er?
Anmerkungen Alle philosophieträchtigen Naturwissenschaftleranekdoten der Gegenwart neigen dazu, schließlich zu Niels-Bohr-Anekdoten zu werden; hier ist die folgende gemeint: Niels Bohr erhält Besuch auf seiner Skihütte, über deren Tür ein Hufeisen angebracht ist. Der Besucher weist auf das Hufeisen und fragt Bohr: .Sie, als Naturwissenschaftler, glauben daran?« Bohr: .Selbstverständlich glaube ich nicht daran; aber ich habe mir versichern lassen, daß Hufeisen auch dann wirken, wenn man nicht an sie glaubt.« 2 Das ja, direkt genommen, gegen die Fachräson verstößt, indern es die Philosophie als etwas vorstellt, zu dem - und zwar sowohl zum Dogmatismus der Kritik wie zum Skeptizismus der zur Position gemachten Nichtigkeit - man gegenwärtig skeptisch sich verhalten sollte. Aber - zumal es sich ja auch lesen läßt als Dialektik ihrer Fehlleistungen, die eine Analytik ihrer Leistungen provozieren will - indirekt gilt schließlich das Gegenteil; denn welch unerschütterliche Lebenskraft beweist doch die Philosophie als Fach schon allein dadurch, daß sie sich dies leisten kann: bei einern repräsentativen Anlaß justament den (was seine Haupttätigkeit betrifft) notorischen Defätisten der Innung als Mutmacher zu engagieren.
Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts
Der Philosoph ist nicht der Experte, sondern der Stuntman des Experten: sein Double fürs Gefährliche. Justament das jedenfalls ist hier - bei der Analyse der Neubestimmung des Menschen im 18. Jahrhundert - meine Rolle. Daraus ziehe ich folgenden Schluß: Ein Stuntman, der nicht halsbrecherisch agiert, ist nichts wert; also agiere ich im Folgenden halsbrecherisch. In der damit deduzierten Manier traktiere ich mein Thema in fünf Abschnitten, ich nenne sie: 1. Neue Philosophien; 2. Homo compensator; 3. Obertribunalisierung; 4. Ausbruch in die Unbelangbarkeit; 5. Flucht ins Gewissensein und ihr Kollaps. Damit zur Sache, zum Menschen. 1. Neue Philosophien. Es mag sein, daß Sie auch sonst vorgewarnt sind: ich komme fast stets irgendwie auf die Theodizee; und also: welch Glück für mich, daß Leibniz das Buch dieses Titels! 1710, also innerhalb des 18. Jahrhunderts veröffentlicht hat; sonst hätte ich nämlich hier mit diesem Referat - trotz allem - als Auditorium die Gesellschaft zur Erforschung des für mich falschen Jahrhunderts erwischt. So aber darf ich auch hier auf die Theodizee kommen; und ich werde das tun, dies freilich erst später. Zunächst stelle ich fest: Der Wandel des anthropologischen Konzepts im 18. Jahrhundert - die dortige Neubestimmung des Menschen - wird durch die Definitionen des Menschen seitens der Philosophenprofis, die sich auf zuweilen raffinierte Weise fast durchweg ans Traditionelle halten, in der Regel mehr verdeckt als enthüllt. Darum ist es erforderlich, nach Phänomenen Ausschau zu halten, deren Betrachtung einschlägig zusätzlich enthüllungsdienlich ist. Zu diesen Phänomenen gehört im 18. Jahrhundert die Karriere neuer philosophischer Disziplinen mit scienza-nuova-appeal und ihr
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Aufrücken zu diensthabenden Fundamentalphilosophien, bei denen sich vermuten läßt, daß sie deswegen avancieren, weil sie jenes am Menschen geltend machen, was die traditionell etablierten Altphilosophien nicht oder nicht mehr zureichend auszusagen vermochten. Dieser Vorgang betrifft - so scheint es zunächst - vornehmlich die zweite Jahrhunderthälfte. Das 18. Jahrhundert ist nämlich - was immer es sonst noch ist - das Jahrhundert der »Sattelzeit«, um diesen von Reinhart Koselleck geprägten BegrifF hier ins Spiel zu bringen, der besagen soll: Kurz nach 1750 geschieht vielerlei Bedeutsames gleichzeitig, und zwar begriffsgeschichtlich nachweisbar (wie Zecken immer auf Buttersäure kommen Begriffsgeschichtler immer auf 1750); begriffsgeschichtlich nachweisbar ist für diesen Zeitpunkt auch und vor allem dies: das Avancement jener neuen Philosophien. Dort nämlich entsteht a) die Geschichtsphilosophie, die sich selber so nennt. Wiederum Koselleck hat das - zusammenfassend jetzt im Geschichtsartikel der »Geschichtlichen Grundbegriffe« gezeigt: genau erst seit der »Philosophie de l'histoire« überschriebenen Einleitung von Voltaires Essai sur les mreurs 1756 bzw. 17653 erscheinen in rascher Folge Bücher, die diese philosophische Disziplin lancieren und - spätestens seit Fichte - zur amtierenden Grundphilosophie erheben, die den Menschen als den geltend macht, der er in der etablierten Altmetaphysik nicht sein durfte: als homo progressor et emancipator. Aber - dieser Tatbestand sollte zu denken geben - die Geschichtsphilosophie ist mitnichten die einzige neue Philosophie dieses Zeitpunkts. Denn da ist b) die philosophische Anthropologie. Zwar gibt es sie seit etwa 1600;4 aber erst im 18. Jahrhundert - wo 1719 Gottfried Polycarp Müller in Leipzig die erste selbständige Anthropologievorlesung hielt -erzielt - das hat Mareta Linden in kürzlich erschienenen Untersuchungen zum Anthropologiebegriff des 18. Jahrhunderts gut belegt5 - seit der Jahrhundertmitte die philosophische Anthropologie ihren ersten
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entscheidenden Durchbruch als vitalistoide Replik auf die cartesianische Dualisierung des Menschen: Nach dem Vorgang von Struves »Anthropologia naturalis sublimior« von 1754 kommt es - insbesondere seit Platners »Anthropologie für Arzte und Weltweise«, die 1772 im Anfangsjahr von Kants Anthropologievorlesung (dem Publikationsjahr von Herders Sprachursprungsschrift) erschien, bis hin zu Wilhelm v. Humboldts »Plan einer vergleichenden Anthropologie« von 17956 - zur Hochkonjunktur der philosophischen Anthropologie, indem sie den Menschen als den geltend macht, der er selbst in der dienstjüngsten Altmetaphysik dem dualisierenden Cartesianismus - nicht sein durfte: als psychosomatisch »ganzen Menschen«, also nicht nur als »res cogitans«, sondern als homo naturalis et individualis. Und schließlich entsteht gleichzeitig c) die philosophische A'sthetik. 1750 erscheint ihr Initialbuch, Baumgartens Aesthetica, die die Sinnlichkeit - Ul:O'IhJOLS rehabilitiert, auf deren imaginative Produktivität jene Philosophie der schönen Künste setzt, die - nach dem Import von Burkes 1757 publizierten Ideen auch »on the sublime« durch Kants einschlägige »Beobachtungen« von 1764 bis 1790 - Kants Kritik der Urteilskraft zu jener philosophischen Zentralstellung disponiert, die sich 1794 in Schillers .Asthetischen Briefen und 1800 in Schellings Transzendentalsystem vollendee: Die philosophische Ästhetik macht - indem sie zur dominierenden Hauptphilosophie wird - den Menschen geltend als den, der er im Zeichen des metaphysisch-exakten Primats des Rationalen und Rationellen nicht sein durfte: als homo sensibilis et genialis. Jetzt - nach diesen drei Hinweisen - kommt meine Frage: Warum eigentlich avancieren diese drei neuen Philosophienmindestens sie: Geschichtsphilosophie, philosophische Anthropologie, philosophische Ästhetik - gleichzeitig und warum ausgerechnet - sozusagen sattelzeitbrav - kurz nach 1750? Vielleicht darf man - mit Reverenz vor Oetinger einen spätphänomenologischen Begriff ins 18. Jahrhundert vorzie-
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hend8 - sagen: Es handelt sich hier um Philosophien einer Neubestimmung des Menschen, die einen jahrhundertmittenspezifischen Lebensweltverlust des Menschen zu kompensieren versuchen. Die nähere Bestimmung dieser Lebensweltbeeinträchtigung kann verschieden geschehen: etwa durch die - sit venia dicto - Carl-Schmitt-Lepenies'sche These von der Geburt der bürgerlich moralhypertrophen oder melancholischen Innerlichkeit aus dem Geiste der Handlungshemmung durch absolutistischen Ordnungsüberschuß;9 oder durch Kosellecks Zusatzthese, daß Neubestimmungen nötig werden, weil durch die beginnende Beschleunigung des sozialen Wandels »Erfahrung« und »Erwartung« auseinandertreten. 1o Das hatte Joachim Ritter die »Entzweiung von Herkunft und Zukunft« genanntll und einschlägige Kompensationstheoreme entwickelt, von denen ich hier stellvertretend nur eines nenne: daß im 18. Jahrhundert die einsetzende Versachlichung die Welt entzaubert, wird folgerichtig gerade dort kompensiert durch die Ausbildung des Organs einer neuen Verzauberung: des Ästhetischen. 12 Ich halte all diese Thesen durchweg für plausibel und habe nicht vor, sie in Frage zu stellen; ich möchte hier nur versuchen, sie zu ergänzen, indem ich hinweise auf einen Zusatzmitgrund für die skizzierten Simultaninnovationen - Geschichtsphilosophie, philosophische Anthropologie, philosophische Ästhetik - durch die These: Die gleichzeitige Ausbildung dieser philosophischen Formationen zur Neubestimmung des Menschen um 1750 gehört zum Phänomen einer Flucht aus der gerade dort einsetzenden ,Obertribunalisierung< der Menschenwelt: sie sind Versuche ihrer Kompensation durch ,Ausbruch in die Unbelangbarkeit<. 2. Homo compensator. Um diese These zu erläutern und plausibel zu machen, wähle ich als vorläufigen Leitfaden den Blick auf jenen Begriff, den ich bei der Formulierung meiner These zentral verwendet habe: den Begriff Kompensation 13 • Es ist nicht so, daß mit ihm eine späte - etwa im Umkreis der
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Psychoanalyse trainierte und durch deren Konjunktur ins heutige Jedermannsbewußtsein eingewanderte - Kategorie an die Philosophiegeschichte des 18. Jahrhunderts anachronistisch herangetragen wird: der Kompensationsbegriff entstammt vielmehr dieser Philosophiegeschichte des 18. J ahrhunderts selber, und zwar ist er näherhin ein Posten im argumentativen Gottesverteidigungsetat der - und jetzt kommt das schon angekündigte Stichwort - der Theodizee. Leibniz, ihr Erfinder, betont zum Zweck der Rechtfertigung Gottes angesichts der übel in der Welt: »Der Schöpfer der Natur hat die übel und Mängel durch zahllose Annehmlichkeiten kompensiert«; noch 1755 versucht das der junge Kant zu bekräftigen: »Die Kompensation der übel« - schreibt er in seiner >Nova dilucidatio< - »ist eigentlich jener Zweck, den der göttliche Schöpfer vor Augen gehabt hat.«14 Aber in der »optimistischen« Leibnizform der Theodizee ist das noch nicht das Zentralargument, sondern nur ein flankierendes Nebentheorem. Erst wo die Leibniztheodizee - um die Jahrhundertmitte - in die Krise gerät, wird der Kompensationsgedanke dominant; erst wo das Problem, das die übel aufwerfen, nicht mehr global durch den Optimalweltgedanken aufgefangen werden kann, muß intensiv und zentral und spezifizierend gefragt werden, ob es - und wo es - für die Ubel Ausgleich gibt: erst dort begibt sich die Philosophie bilanzierend auf die Suche nach Balancen und Kompensationen. Dabei gibt es mehrere Suchfelder; ich nenne vier. Es interessiert a) die individuelle Kompensationskunst zur Balancierung von übeln durch Güter: sie beherrscht vor allem der Weise. Viele Traktate »du bonheur« mit dem Seitenthema »sagesse« - die für das Frankreich des 18. Jahrhunderts Robert Mauzi untersucht hat lS - greifen, meine ich, einschlägig auf Ciceros These aus >,De natura deorum« zurück, daß die »sapientes« die »incommoda in vita [... ] commodorum conpensatione leniant« 16: Weil der Weise der ist, der - als ausgeglichener Mensch - ausgeglichen zu leben versteht, wird die Kunst des
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Ausgleichs entscheidend: die Lebenstechnik der Gleichgewichtswahrung durch die Fähigkeit zur Kompensation von übeln durch Kornmoditäten. Es interessiert b) der mundane Kompensationsmechanismus zur Balancierung der übel durch Güter; dabei wird philosophisch gemessen und bilanziert: die malheurs - nicht zureichend kompensiert - überwiegen (so etwa, in der Nachfolge Bayles, Maupertuis im Essai de philosophie morale 1749); oder: die bonheurs überwiegen (Antoine de Lasalle, der diese These in der Nachfolge zu Leibniz vertritt, schreibt 1788 in seiner Balance naturelle: »tout est compense ici bas«); schließlich: malheurs und bonheurs halten einander die Waage: das meint - ausdrücklich Kompensationsbefunde geltend machend 1761 in De la nature Robinet ebenso wie 1763 in den »Negativen Größen« Kant und 1788 in seinem Apologues modemes überschriebenen Unterrichts buch für Königskinder Sylvain Marechal, der dort in der Le~on über La Balance schreibt: »Güter und übel bleiben in einem zureichend vollkommenen Gleichgewicht: alles im Leben wird kompensiert [tout est compense dans la vie]«.17 Diese Kompensationsthese beruft sich häufig auf die durch Newton inspirierte Lehre vom Ursprung der Realität aus dem Gleichgewicht von Attraktion und Repulsion, die dann über das Dynarnikhauptstück von Kants Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft ab 1797 auch Schellings naturphilosophische Indifferenz-Theorie - die ja auch eine Philosophie der Balance, des Gleichgewichts, ist - erreicht und prägt.18 Im übrigen wird diese Kompensationsthese 1808 von PierreHyacinthe Aziis in seinem Buch Des compensations dans les destinees humaines pointiert resümiert, ehe sie um die Mitte des 19. Jahrhunderts stochastisch von Cournot, emphatisch von Emerson und skeptisch von Burckhardt aufgegriffen wird, um dann - auf dem Weg über die Hirnphysiologie - in die Hände der Psychoanalyse zu fallen. 19 Es interessiert wiederum in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts außerdem konsequenterweise dann auch
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c) das sozialrelormerische Kompensationsprogramm etwa im Utilitarismus : Wo die Bilanz der übel und Güter trotz allem unbefriedigend ausfällt, muß man sie - in Richtung auf »the greatest happiness of the greatest number« - durch pragmatische Fortschrittsmaßnahmen aufbessern; ein derart planmäßig betriebenes compenser le malheur proklamieren 1758 Helvetius und 1776 bzw. 1789 Bentham.20 Dazu gehört dann unvermeidlich auch das Folgeproblem, wie - durch Kompensationen - diejenigen entschädigt sind oder werden können, die da nicht zur »greatest number« gehören und weniger »happiness« haben als »the greatest«; etwa der Chevalier de Chastellux hat 1772 in seinem Buch De la Felicite publique dergleichen gefragt und behauptet: »Le bonheur se compense assez.«2! d) Die bisherigen Hinweise betrafen die schwache Form des Kompensationsgedankens: trotz der übel gibt es Güter, die sie mehr oder weniger zulänglich kompensieren. Aber es existiert auch eine starke Form des Kompensationsgedankens: erst durch übel entsteht, sie wettmachend, Gutes, das ohne diese übel nicht zustandekäme ; das ist der (wie ich ihn nennen möchte) bonum-durch-malum-Gedanke, der nach dem Vorbild des Gedankens der. ,>felix culpa« gebaut ist: nur weil malum - die Menschen sündigten, kam - bonum-durchmalum - Gott in die Welt. Diese Figur - die ebenfalls aus der Theodizee von Leibniz kommt22 - aufnehmend spricht etwa Pope (im Essay on Man) von »happy frailties«, durch die »the joy, the peace, the glory of mankind« zustandekommt. Aber auch Malthus - im Principle 01 population: um über dessen düstere Resultate zu trösten - schreibt entsprechend: »übel gibt es in der Welt, nicht um Verzweiflung hervorzubringen, sondern Tätigkeit.« Und dieser Gedanke geht um: von Mandeville (es gibt - malum - »private vices«, aber sie sind - bonum-durch-malum - »public benefits«) bis Herder (der Mensch ist - malum - ein Stiefkind der Natur, aber - bonum-durch-malum - nur deswegen hat er Sprache). Man findet diese Figur 1784 bei Kant (es gibt- ma-
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lum - »Antagonismen«, aber - bonum-durch-malum - sie beflügeln den Fortschritt) und 1790 bei Schiller (es gibt malum - den Sündenfall, aber - bonum-durch-malum - gerade dadurch kommt es zur Kultur).SpätestensimgleichenJ ahr - in der Kritik der Urteilskraft - avanciert die nämliche Figur zur Thesenfigur der Asthetik des Erhabenen: zwar - malum unsere Sinne scheitern, aber - bonum-durch-malum - gerade dadurch beweist die Vernunft ihre Macht. 23 Und so fort. All diese Hinweise sollten belegen: der KompensatioI).sgedanke ist im 18. Jahrhundert aktuell. Insbesondere die zweite Jahrhunderthälfte ist das eigentliche Zeitalter der Kompensation; es lanciert den homo compensator. Sage mir, wie du kompensierst, und ich sage dir, wer du bist; und man kann meinen: just so, wie die Leitformel der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die cartesische war: »Je pense, je suis«, just so hätte die Leitformel der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts diejenige sein können, die - meines Wissens - unformuliert blieb: »Je compense, je suis.« Das wäre die Formel eines indirekten Vizeoptimismus dort, wo der klassische Leibnizoptimismus zerbricht. Weil der globale Trost des Bestmöglichkeitsgedankens entgleitet, müssen die vielen mittleren und kleinen Tröstungen mobilisiert werden, die der Kompensationsgedanke ermöglicht. Darum wird. er um die Jahrhundertmitte zentral. Wenn aber - und auf diese Folgerung wollte ich hier hinaus - wenn aber so nach 1750 der Kompensationsgedanke dermaßen aktuell wird, darf es nicht wundern, wenn es da dann auch wirklich Kompensationen gibt. Mehr noch: in diesem Zeitalter der Philosophien der Kompensationen gibt es auch wirklich Kompensationen durch Philosophien: zumindest durch die, die kurz nach 1750 selber kompensatorisch avancieren; das sind - mindestens - die eingangs genannten: Geschichtsphilosophie, philosophische Anthropologie, philosophische Asthetik. Sie kompensieren: freilich nicht irgend etwas, sondern eine einigermaßen distinkt bestimmbare jahrhundertmittenspezifische Lebensweltschädigung; denn - das war meine These - diese
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Neuphilosophien der Sattelzeit kompensieren (durch ,Ausbruch in die Unbelangbarkeit<) die gerade dort einsetzende ,übertribunalisierung< der menschlichen Lebenswirklichkeit. Aber was ist das? 3. Obertribunalisierung. Die Konjunktur des Kompensationsgedankens nach 1750 ist das Resultat der Krise der Leibniztheodizee: Gilt das auch für die Kompensationen selber, die neuen Sattelzeitphilosophien? Ich behaupte: das ist so. Auch das Avancement von Geschichtsphilosophie, philosophischer Anthropologie, philosophischer Asthetik ist - pauschal gesprochen - ein Resultat des Zusammenbruchs der Leibniztheodizee. Die Theodizee, die Leibniz 1710 lancierte, ist die erste neue Philosophie des 18. Jahrhunderts. Sie ist neu unter anderem darin, daß sie die Philosophie in einen Prozeß verwandelt: in den Prozeß Mensch gegen Gott in Dingen übel in der Welt. Bereits die Leibniztheodizee enthält also eine Neubestimmung des Menschen: er wird essentiell Prozeßpartei, nämlich der Ankläger Gottes. Gott ist in diesem Prozeß der angeklagte Absolute, der absolute Angeklagte. Das tragende Hauptargument seiner Verteidigung, der Theodizee in ihrer Leibnizform - ich sagte das schon - ist zunächst nicht der Hinweis auf die zulängliche Kompensiertheit der übel durch Güter, sondern dieses: Schöpfung ist die Kunst des Bestmöglichen; darum muß Gott - wie der Politiker bei seiner »Kunst des Möglichen«: mit Rücksicht auf Kompatibilitäten - die übel in Kauf nehmen, zulassen: das Optimum als Zweck rechtfertigt die übel als Bedingungen seiner Möglichkeit. Das geheime Grundprinzip dieser Theodizee ist darum - horribile dictu - der Satz: Der Zweck heiligt die Mittel. Ich meine nun: gerade dieses Prinzip - der Zweck heiligt die Mittel -, das Gott »optimistisch« als den guten erweisen soll, weckt Zweifel an seiner Güte. Vielleicht war es in einer Zeit, in der der Teufel als genius malignus aus einer geglaubten Realität zu einem fiktiven Argumentationskniff im Kontext des
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methodischen Zweifels si~h entwirklichte, nahezu unvermeidlich, Gott - und zwar durch diese »optimistische« Form seiner Rechtfertigung - zur Mitbewältigung dieser vakant gewordenen Stelle ein wenig zum Teufel zu stilisieren: dieswomöglich - machte 1755 das »desastre de Lisbonne« - über dessen literarische Verarbeitung uns etwa Harald Weinrich informier~4 - sinnenfällig und darum weltweiten Eindruck, nachdem Zweifel am »Optimismus« philosophisch längst geäußert waren: Belege sind unter anderem die Position Philo in Humes bereits ab 1751 geschriebenen »Dialogues Concerning Natural Religion« und die Widerlegungsintention der ja schon 1753 formulierten Optimismuspreisfrage der Preußischen Akademie. 25 Fortan lag es nahe, zu meinen: die Theodizee gelingt nicht dort, wo - wie bei Leibniz - Gott durch das Schöpfungsprinzip »der Zweck heiligt die Mittel« entlastet, sondern erst dort, wo Gott von diesem Prinzip entlastet wird. Wo dieses Prinzip als Prinzip der Schöpfung gleichwohl unangefochten bleibt, muß das schließlich folgende Konsequenz haben: Gott muß - zugunsten seiner Güte - aus der Rolle des Schöpfers befreit, ihm muß - zur Rettung seiner Güte - sein Nichtsein erlaubt oder gar nahegelegt werden. Diese Konsequenz - den Schluß von der Güte Gottes auf seine Nichtexistenz - zieht - nicht zufällig unmittelbar nach 1755 - die moderne Geschichtsphilosophie, indem sie ich meine: zu dessen Entlastung - statt Gott den Menschen als Schöpfer ausruft und die Wirklichkeit zu jener Schöpfung erklärte, die - wie dies zuerst Vico meinte - der Mensch selber machen kann: zur Geschichte. Die Geschichtsphilosophie ist die aus einer Krise der Theodizee durch Radikalisierung der Theodizee entstehende Vollendung der Theodizee durch den Freispruch Gottes wegen der erwiesensten jeder möglichen Unschuld, nämlich der Unschuld wegen Nichtexistenz. Durch diesen Atheismus ad maiorem Dei gloriam26 wird der Mensch der Erbe der Funktionen Gottes: nicht nur seiner Funktion als Schöpfer, sondern eben darum auch (und das ist hier wichtig) seiner Funktion als Angeklagter der Theodizee.
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Danach gilt durch die Geschichtsphilosophie folgendes: Die Philosophie bleibt ein Prozeß, der Mensch bleibt der absolute Ankläger, aber mindestens eines hat sich geändert: statt Gott wird nunmehr - in der gleichen Sache: in Dingen übel der Welt - zum absoluten Angeklagten der Mensch. Das ist meine ich - die entscheidende Neubestimmung des Menschen, die die Radikalisierung der Theodizee zur Geschichtsphilosophie kurz nach 1750 mit sich bringt und auf die ich hier aufmerksam machen will: Der Mensch wird der absolute Angeklagte, und das ist - in nuce - der Befund, den ich als die ,übertribunalisierung< der menschlichen Lebenswirklichkeit bezeichnet habe: daß fortan der Mensch als wegen der Obel der Welt absolut Angeklagter - 'Vor einem Dauertribunal, dessen Ankläger und Richter der Mensch selber ist - unter absoluten Rechtfertigungsdruck, unter absoluten Legitimationszwang gerät. ' Ist diese Bestimmung des Menschen wirklich neu? Auf den ersten Blick scheint sie ganz alt zu sein, nämlich mindestens so alt wie das Christentum. Auch dort wird der Mensch ja absolut - nämlich durch den Absoluten: durch Gott angeklagt: wegen der Sünde. Aber diese absolute Anklage ist christlich zugleich absolut ermäßigt: durch die göttliche Gnade. Christlich gerät der Mensch gerade nicht unter absoluten Rechtfertigungsdruck, denn seine Rechtfertigungdie christlich nicht vom Menschen erwartet wird, weil dieser sie selber gar nicht leisten kann - ist je schon geschehen: durch die Erlösungstat Gottes per Christentum. Nur deswegen konnte - zum Beispiel - die bei der VIII. "Poetik und Hermeneutik« eindrucksvoll von Manfred Fuhrmann betonte antike Wurzel des Autobiographischen, das Bedürfnis der Apologie,27 seit Augustinus abgelöst werden von der Lizenz zum Bekenntnis der eigenen Bedürftigkeit und Besonderheit: erst christlich - im Schutz der Gnade - kann die Autobiographie der Tendenz nach aufrichtig und individualitätsfähig werden, weil erst dort - trotz der Sünde wegen der Rechtfertigungstat Gottes - dem Menschen geschenkt ist
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die sekundäre Rechtfertigungsunbedürftigkeit des Gnadenstands. 28 Der Status des absoluten Angeklagten bleibt dem Menschen also christlich erspart durch die Gnade. Das ändert sich modern; spätestens in jenem Augenblick, in dem Anfang des 18. Jahrhunderts - in der Theodizee - mit Gott als absolutem Angeklagten - der Mensch zum absoluten Ankläger avanciert, wird die absolute Anklage gnadenlos: zunächst einfach deswegen, weil es dem Menschen nicht zukommt, Gott zu begnadigen. Wo dann die radikalisierte Theodizee, die Geschichtsphilosophie, statt Gottes den Menschen zum absoluten Angeklagten macht, bleibt die absolute Anklage gnadenlos. Dies ist ein spezifisch moderner und für die übertribunalisierung der menschlichen Lebenswirklichkeit entscheidend mitursächlicher Vorgang: der Verlust der Gnade. Weil durch ihn die absolute Anklage wegen der übel der Welt den Menschen gnadenlos trifft und gnadenlos unter totalen Rechtfertigungsdruck setzt, wird sie menschlich unaushaltbar und unlebbar. Die Leibnizfrage an den Schöpfer: »Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?«29 ist dann nicht allein theodizeemäßig juridifiziert zur Anklagefrage: Mit welchem Recht ist und gilt überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?; denn: über Kants nur kategorienbetreffende »quaestio juris« seiner »transzendentalen Deduktion« (Mit welchem Recht gelten überhaupt Aprioris und nicht vielmehr keine?30) hinaus wird diese Frage schließlich gesteigert und ubiquisiert zur absoluten gnadenlosen Anklagefrage an jedermann: Mit welchem Recht gibt es dich überhaupt und nicht vielmehr nicht, und mit welchem Recht bist du so, wie du bist, und nicht vielmehr anders? Unter dem Druck dieser Frage muß sich fortan jeder Mensch in toto ständig zur Disposition stellen: jedermann hat - als säkularisierte causa sui - ohne Pardon die totale Beweislast für sein eigenes Seindürfen und Soseindürfen. Zum exklusiven menschlichen Lebenspensum wird: vor einem Dauertribunal, bei dem der Mensch zugleich als Ankläger und Richter agiert, die Entschuldigung dafür leben zu müssen, daß es ihn
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gibt, und nicht vielmehr nicht, und daß es ihn so gibt, wie es ihn gibt, und nicht vielmehr anders. Daß dieser totale Legitimationszwang für jedermann um 1750 durch die Radikalisierung der Theodizee zur Geschichtsphilosophie der Tendenz nach entsteht, nenne ich die Tribunalisierung, daß er dabei total und gnadenlos wird, nenne ich die Obertribunalisierung der menschlichen Lebenswirklichkeit: sie - und ihr Paradebeispiel in der Realität ist natürlich die Tribunalsucht der französischen Revolution - sie wirkt für die Menschen als Lebensweltbedrohung und Lebensweltverlust, denn - ich wiederhole es - sie ist unaushaltbar, sie ist unlebbar. 4. Ausbruch in die Unbelangbarkeit. Just dadurch - durch diese übertribunalisierung und ihre Unlebbarkeit - entsteht ein enormer Entlastungsbedarf, ein Antitribunalbedürfnis nach Rechtfertigungsunbedürftigkeit: Die Obertribunalisierung - malum - erzwingt - bonum-durch-malum - den Ausbruch in die Unbelangbarkeit. Dafür werden jetzt - also kurz nach der Jahrhundertmitte - jene Neuphilosophien wichtig, die - kompensatorisch - am Menschen solche Befunde geltend machen, welche zum absoluten Anklagedruck der totalen Legitimationsfrage resistent und sperrig und abweisend sich verhalten: das sind - denn die Geschichtsphilosophie ist, wie sich andeutungsweise schon zeigte, zunächst ein anderer Fall - vor allem die philosophische Anthropologie und die philosophische Ästhetik; es bedurfte ihrer, und alsobald waren sie da: als Philosophien des Menschen auf der Suche nach Entlastung. Es ist - meine ich fällig, beide zu interpretieren als Philosophien des Ausbruchs in die Unbelangbarkeit. Ich weise hier - ohne Vollständigkeitsprätentionen - auf sieben einschlägige Befunde ganz kurz nur hin, die (noch vor aller späteren Kunst, es nicht gewesen zu sein) gerade diese Philosophien - teils die eine, teils die andere, teils beide gemeinsam - geltend machen. Es gehört
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a) zum Ausbruch in die Unbelangbarkeit, daß der Mensch die Grenzen seiner Selbstursächlichkeit benennt und damit das an ihm, in bezug auf das Legitimationsfragen sinnlos sind. Die nachtheologisch wesentlichste dieser Grenzen ist das, was am Menschen selber Natur ist: Gerade indem die philosophische Anthropologie - im Unterschied zu dem, »was« der Mensch »als frei handelndes Wesen aus sich selber macht oder machen kann und soll« - das, »was die Natur aus dem Menschen macht«, thematisiert und betont (also nicht durch ihr »moralisches« bzw. »pragmatisches«, sondern durch ihr »physiologisches« Programm), wird sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfolgreich: 3 ! als philosophischer Agent einer Wende zur Natur zwecks Ausbruchs in die Unbelangbarkeit. Es gehört b) zum Ausbruch in die Unbelangbarkeit die Deckung jenes Anonymitätsbedarfs, der - durch die Last der öffentlichen Exponiertheit des totalen Sichrechtfertigenmüssens - unvermeidlich entsteht. Diese Sucht nach Situationen, in denen man unauffindbar und unidentifizierbar und darum für Legitimationsfragen unerreichbar· ist, befriedigt die unberührte Natur: sie gewährt Ferien vom angeklagten Ich; in ihr taucht man unter auf der Flucht vorm identifizierendertappenden Zugriff der totalen Rechtfertigungszumutung. Die Konjunktur der - wiederum kurz nach 1750 etwa durch Rousseau etablierten - Sehnsucht nach der unberührten Natur ist die Konjunktur dieses Entlastungsertrages..32 sie gehört zum Ausbruch in die Unbelangbarkeit. Hier ist unter anderem - zusätzlich aufschlußreich, daß, wie einst Augustinus die alte Aufrichtigkeit seiner Confessiones nur im Schutz der Gnade, so Rousseau die nouvelle sincerite seiner Confessions nur im Schutz dieser Natur gelang: die Positivierung der unberührten Natur ist eine profane Kompensation des Verlusts der Gnade. Es gehört c) zum Ausbruch in die Unbelangbarkeit die Konjunktur der Individualität, die innerhalb der philosophischen Anthropologie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch die
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Ausbildung der »anthropologischen Charakteristik« gefördert und durch die Genese des historischen Sinns verstärkt wird.)) Individuum est ineffabile: eben darum - weil die Rechtfertigungszumutung zur ineffabIen Individualität des Individuums nicht zukann - bleibt der Mensch als Indivi'duum für Legitimationsfragen unerreichbar und muß eben darum zum Individuum werden: Die Karriere des Individuums ist seit der Mitte des 18. Jahrhunderts die Karriere seiner Ineffabilität als Antwort auf die Hypertrophie des Legitimationszwangs : als Ausbruch in die Unbelangbarkeit. Es gehört d) zum Ausbruch in die Unbelangbarkeit der Enthusiasmus der Abwesenheit: der Mensch wird unbelangbar durch die Reise und halbwegs auch durch ihre Vorbereitung und Auswertung. Darum fasziniert die Tätigkeit der anthropologischen Ethnologen, etwa der Forsters, Bougainvilles und Blumenbachs. Wo das Zuhausesein zunehmend bedeutet, vor einem Tribunal Selbstentschuldigungen leben zu müssen, lokken die fremden Länder und Völker als Gelegenheiten, nicht zu Hause zu sein: darum blüht alsbald auch die Reiseliteratur von der fiktiven - Sternes »Sentimental Journey« - bis zu den großen Reisebeschreibungssammlungen, die in Deutschland just ab 1764 zu erscheinen beginnen.)4 Dabei gibt es nicht nur -die Reise in die Fremde als Raum, sondern auch die Reise in die Zeit: die historiographische Mentalexkursion in die Vergangenheit, die Vorzeit. Die Identität von Fremde und Vorzeit ist die fremde Vorzeit: darum kommt es ebenfalls kurz nach 1750 - im Gegenzug gegen den tribunalsüchtigen Monomythos der einen Geschichte - zum Gegeninteresse an den Polymythen insbesondere auch der exotisch-nichtokzidentalen vorklassisch-orientalischen Mythologie etwa durch Heyne und Zoega. 35 Fremde und Vorzeit und fremde Vorzeit: all das sind Gelegenheiten, verreist oder emigriert, d. h. durch Abwesenheit unbelangbar zu sein: Das 18. Jahrhun,dert ist ein Jahrhundert der Reise als eines Ausbruchs in die Unbelangbarkeit und darin - nota bene - Protagonist manch späterer Reisewut, die vom gleichen Motiv lebt, bis hin zum
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heutigen Tourismus und Wissenschaftstourismus: Je mehr die Forscher gegenwärtig ihre Zeit in jenen Tribunalen verbringen müssen, zu denen die reformierten Universitätsverwaltungsgremien geworden sind, desto unwiderstehlicher wird die Absenz durch die Reise: eben darum fährt manzum Beispiel- nach Wolfenbüttel. Es gehört e) zum Ausbruch in die U nbelangbarkeit das Absenzsurrogat für chronisch Nichtverreiste: das ist die Krankheit; sie wirddurch die anthropologischen Nosologien und durch die »Geburt der Klinik«J6 im Zeitalter des Todes der Metaphysik - zur ebenso qualvollen wie attraktiven Entlastungschance. Weil dadurch der Mensch repräsentativ zum Patienten wird, kommt es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zur Konjunktur der medizinischen Anthropologie, und auch die philosophische Anthropologie wird gerade da in bedeutendem Umfang für und durch Ärzte geschrieben. Zur faszinierendsten Form der Krankheit wird der Wahnsinn: Wo im Zeichen der Ubertribunalisierung dem Menschen zunehmend alles zugerechnet wird, favorisiert dieser kompensatorisch als Wunschlage die Unzurechnungsfähigkeit, die Positivierung des Wahnsinns J7 ist - auch im Kontext der Genietheorie der philosophischen Ästhetik - ein Ausbruch in die Unbelangbarkeit. Es gehört f) zum Ausbruch in die Unbelangbarkeit die Genesis des .ifsthetischen. Bei diesem Weg in die Ästhetisierung der Kunst - von der Rationalität zur Sensibilität, vom Normativen zum Originellen, von der imitatio zum Genie - just in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird zur nobelsten Produktivkraft die Phantasie und zur führenden Rezeptivkraft der Geschmack: »Taste ist [... ] ein Begriff des 18. Jahrhunderts«, resümiert Hannelore Klein ihre bei Herrn Fabian gemachte Arbeit »There is no disputing about taste«;J8 der Geschmack macht gerade jetzt gerade deswegen Karriere, weil er disputationsdiesseitig, legitimationsdiesseitig ist: ein Refugium menschlicher Rechtfertigungsunbedürftigkeit, eine Resurrektion der sonst verlorenen Selbstverständlichkeit. Als
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Urlaub vom Tribunal wird die Kunst ästhetisch: sie wird autonom und dadurch zur institutionalisierten Unerreichbarkeit und das ästhetische Kunstwerk vielleicht am meisten das, wovor die Frage: Mit welchem Recht ... ? verstummt. Just wegen dieser Legitimationszumutungsresistenz des Ästhetischen wird es nunmehr überwichtig: Gerade in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts avanciert die Geniekunst zum zentralen Lebensweltorgan und der Künstler als origineller Outlaw zum exemplarischen Menschen: zwecks Ausbruchs in die Unbelangbarkeit. Es gehört schließlich g) zum Ausbruch in die Unbelangbarkeit gerade in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch der Versuch zur rechtlichen Festlegung von Grenzen der absoluten Rechtfertigungszumutung an den Menschen: die Konzeption und Proklamation von Grund- und Menschenrechten, die in einem juristisch praktikablen Umfang die Rechtfertigungsunbedürftigkeit des Seins und Soseins von Menschen schützen sollen. 39 Gerade die Verwandlung des Menschen in den absoluten Angeklagten erzwingt den Versuch einer Definition und Garantie von Grenzen, innerhalb derer er es niemals ist. Man hat sich angewöhnt, diese Fundamentalrechte auf Abwehr des Legitimationszwangs als Resultate des durch die Geschichtsphilosophie beflügelten Fortschritts zu sehen; der Versuch ist fällig, sie - ganz im Gegenteil - zu begreifen als vorbeugende Maßnahmen zum Schutz vor dessen Tribunalisierungsfolgen: als Phänomene des Ausbruchs in die Unbelangbarkeit. Diese sieben Hinweise - die zweifellos ergänzungs bedürftig und ergänzungsfähig sind - wollten geltend machen: Anthropologie und Ästhetik - nicht nur sie, aber auch und gerade sie - werden nach 1750 erfolgreich, weil just da durch die übertribunalisierung der Lebenswelt für den absolut angeklagten Menschen das Bedürfnis unabweisbar wird, zum entlasteten Menschen zu werden: philosophische_Anthropologie und philosophische Ästhetik koavancieren als Agenten seines kompensatorischen - Ausbruchs in die Unbelangbarkeit.
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5. Flucht ins Gewissensein und ihr Kollaps. Die Geschichtsphilosophie hingegen, so sagte ich, ist zunächst ein anderer Fall: sie ist der philosophische Agent der übertribunalisierung selber. Indes: ich meine, sie ist - so unwahrscheinlich das zunächst klingen mag - zugleich auch noch Agent eines Ausbruchs in die Unbelangbarkeit: desjenigen durch Tribunalisierungspotenzierung. In dieser Gestalt hat der deutsche Idealismus, der sich selber als Parallelaktion der französischen Revolution verstand,40 die Geschichtsphilosophie zur Grund- und Hauptphilosophie gemacht, und zwar - durch Radikalisierung von Kants Autonomietheorie des Gewissens - vor allem Fichte: seine Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794 - ein Buch des 18. Jahrhunderts bestimmt die »Geschichte des menschlichen Geistes«41 als den Vorgang: daß das Ich sich selber setzt, indem es sich absetzt vom Nicht-Ich, und zwar ins Absolute. Ich hatte betont: die durch die Entpflichtung Gottes radikalisierte Theodizee, die Geschichtsphilosophie, unterscheidet sich von der klassischen Theodizee dadurch, daß sie im Blick auf die übel der vorhandenen Welt - statt Gottes - den Menschen zum absoluten Angeklagten macht; zugleich aberund das zu betonen muß ich jetzt nachholen - übernimmt sie aus der klassischen Theodizee, daß der Mensch der absolute Ankläger ist. Gerade das aber bietet jene Entlastungschance besonderer Art, die die Geschichtsphilosophieversion der Wissenschaftslehre ergreift: Die Geschichte ist das Verfahren, diese Doppelrolle als Objekt und Subjekt der absoluten Anklage für die Menschen arbeitsteilig, sozusagen lebensteilig zu machen, so daß der Mensch - sukzessiv - aus der Rolle des absoluten Angeklagten entkommt, indem er - sukzessivdie Rolle des absoluten Anklägers zu seiner ausschließlichen Rolle macht. Das Akkusativobjekt ist dann nicht mehr Ich, sondern es wird Nicht-Ich genau in dem Maße, in dem das Ich selber exklusiv zum Akkusationssubjekt wird: absolute Angeklagte sind dann zwar die Menschen, aber nur noch die anderen Menschen, weil man selber nur noch der absolute
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Ankläger ist. Ich nenne das zuweilen: den Neomanichäismus der etablierten Geschichtsphilosophie: Schöpfermensch als Angeklagter und Ankläger alias Erlösermensch treten auseinander. Die Geschichte ist so - unterm Druck der übertribunalisierung - die Flucht nach vorn in das absolute Anklagen, das das absolute Angeklagtsein hinter sich läßt als die Verfassung derer, die nicht die Avantgarde sind; ihr - nur wenig später »Dialektik« genanntes - Bewegungsgesetz der geschichtlichen Avantgarde ist, angesichts der übel, die Flucht in das schlechte Gewissen, das man für die anderen wird, um es die anderen haben zu lassen, damit man es selber nicht mehr zu haben braucht: Man entkommt dem Tribunal, indem man es wird; und der große moralische Empörungsaufwand, der dabei getrieben wird, ist nur die Gegenbesetzung gegen das, was nicht mehr zu sein, sondern nur noch zu richten durch diese Flucht prekär gelingt. Die Geschichte ist so - geschichtsphilosophisch - die Dauerflucht aus dem Gewissenhaben in das Gewissensein: 42 dadurch - als Selbstabsolution des Menschen durch Steigerung des Legitimationsdrucks auf die anderen Menschen - ist auch sie ein Ausbruch in die Unbelangbarkeit: jener, der zugleich die Belangbarkeit - die übertribunalisierung - unendlich steigert, nämlich für die anderen. Auch die Geschichtsphilosophie läßt also - um diesen Preis - aus dem angeklagten den entlasteten Menschen werden, und es ist - darüber sollte man sich nicht täuschengerade dieser Entlastungsertrag, der sie erfolgreich macht. Auch sie betreibt so eine Neubestimmung des Menschen: aber diese Neubestimmung - kann man meinen - bestimmt den Menschen hinweg; denn es scheint so zu sein: Wie die Theodizee konsequent wurde durch die Negation Gottes, wird die Geschichtsphilosophie konsequent durch die Negation des Menschen: dadurch, daß sie ihn entzweibricht in das gnadenlose Absolute und seine absoluten Feinde. Die Neubestimmung des Menschen in der Philosophie des 18. Jahrhunderts - wo sie nicht anthropologisch und ästhetisch moderat bleibt, sondern geschichtsphilosophisch radikal wird -
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bestimmt den Menschen zum Ende seiner Menschlichkeit. Dieser Vorgang reicht weit über das 18. Jahrhundert hinaus: Ich habe ihn hier nur angedeutet; ihm weiter nachzugehen ist hier nicht meine Sache.
Darum - zum Abschluß - nur noch eines: Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. Wer, wie die Geschichtsphilosophen, seinen Mitmenschen - in der soeben skizzierten Manier - unentwegt die dialektische Kunst vormacht, stets nur die anderen schuldig sein zu lassen und anzuklagen: der darf sich nicht wundern, wenn seine Mitmenschen diese Kunst schließlich lernen und dann - den Spieß umdrehend auch anwenden: auf die Geschichtsphilosophen selber undper Sippenhaftung der Inntingsmitglieder - schließlich auf die Philosophen insgesamt. 1818 schreibt de Bonald: "Es ist heute ein Glaubensartikel, daß die Philosophen des 18. Jahrhunderts mit unseren Katastrophen nichts zu tun haben [...] Ich jedenfalls würde zur Ehre der Philosophie nicht nur, sondern auch der Nation es vorziehen, beiden etwas mehr Schuld zu geben.« Diesen Satz hat Helmuth Plessner seiner Verspäteten Nation als Motto vorangestellt;43 und der erfolgreichste Expropriateur der These von Plessners Buch, Georg Lukacs, hat dies in seiner Zerstörung der Vernunft zugespitzt zu dem Satz: Es gibt keine unschuldige Philosophie (und war dabei zweifellos um eins ehrlicher, als er sein wollte).44 Die überführung der Philosophieschuldthese in das Gemeineigentum der öffentlichen Meinung gelang, weil in bezug auf die Philosophie zweierlei passiert war. Erstens - als Vorgang wesentlich des 18. Jahrhunderts - die Verwandlung der Philosophie in eine Sondersache: aus der »Wissenschaft von allem Möglichen« (Christian Wolff, 1709) wurde sie zur Sondersache »Kritik« (Kant, 1781).45 Zweitens, als Vorgang wesentlich des 19. Jahrhunderts: weil die Sondersache Philosophie, die als Geschichtsphilosophie die Erfüllung aller Hoffnungen versprach, dabei notwendigerweise enttäuschte, erzwang diese Enttäuschung durch Philosophie die Enttäu-
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schung der Philosophie: die Ideologiekritik. 46 Diese ist popularisierbar, weil sie ihrerseits Entlastung verspricht: Fortan sind die Nichtphilosophen der entlastete Mensch, denn der entlarvte und angeklagte Mensch ist nunmehr - in weiten Bereichen - durchweg der Philosoph. Die Lage der Philosophie wird so von allem, was sie als Geschichtsphilosophie wollte, das Gegenteil: das ist die Lage der mißlungenen Flucht ins Gewissensein, des kollabierten Absoluten, der umgekippten Anklägerschaft. So wird - am Ende dieses Vorgangs: also heute - der Philosoph zum handlichen, pflegeleichten und knautschfesten Allzwecksündenbock; als wohltrainiertes Allround-Alibi gehört er fortan zur Ökonomie der Entschuldigungsprophylaxe von jedermannY Diese Philosophenverfassung ist freilich vielseitig einsetzbar, sozusagen polyvalent; der Philosoph kann sie, zum Beispiel, professionalisieren und dann - im Zeitalter des Wissenschaftstourismus als Reisender in Entlastung: als Spezialist fürs Riskante, als transzendentaler Stuntman - Experten doubeln, wo es für diese gefährlich sein könnte, selber aufzutreten: beispielsweise Experten fürs 18. Jahrhundert bei der Frage nach der Neubestimmung des Menschen in der damaligen Philosophie. Mit diesem abschließenden Hinweis wollte ich nicht nur das Damals mit dem Heute zusammenbringen, sondern auch noch einmal nachdrücklich unterstreichen, daß das gilt, was ich eingangs zu verstehen gab: Diese meine Expertise war keine authentische Expertise, sondern eine gedoubelte Expertise, also das Produkt eines Doubles: Double.
Anmerkungen 1 G. W. Leibniz, Essais de Theodicee sur la bonte de Dieu, la liberte
de l'homme et l'origine du mal (1710). 2 R. Koselleck, .Richtlinien für das Lexikon politisch-sozialer
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Begriffe der Neuzeit«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 9 (1967) S. 82,91,95. Vgl. R. Koselleck, Artikel.Geschichte/Historie«, in: O. Brunner / W. Conze / R. Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1975, bes. S. 658 ff. Vgl. O. Marquard, .Zur Geschichte des philosophischen Begriffs ,Anthropologie< seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. (1963), in: O. M., Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a.M. 1973, S.122-144 und 213-248, sowie O. M., Artikel .Anthropologie«, in: J. Ritter (u. a.] (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.l, BasellStuttgart 1971, S.362-374. M. Linden, Untersuchungen zum Anthropologiebegriff des 18. Jahrhunderts, Bern/Frankfurt a. M. 1976 (Studien zur Philosophie des 18. Jahrhunderts, Bd.l), bes. S. 36 ff. K. W. F. Struve, Anthropologia naturalis sublimior, Jena 1754; E. Platner, Anthropologie für Arzte und Weltweise, Bd. 1, Leipzig 1772; I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht(1798), zur Datierung des Vorlesungsbeginns vgl. I. Kant, Brief an Markus Herz, in: Werke, hrsg. von E. Cassirer, Bd.2, Hildesheim 1973, S.116f.; J. G. Herder, aber den Ursprung der Sprache (1772); W. v. Humboldt, .Plan einer vergleichenden Anthropologie« (1795), in: Werke in fünf Bänden, hrsg. von A. Flitner und K. Giel, Bd.l, Stuttgart 1978, S.337-375. A. G. Baumgarten, Aesthetica (1750); E. Burke, A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful (1757); I. Kant, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764); I. Kant, Kritik der Urteilskraft(1790); Schiller, aber die ästhetische Erziehung des Menschen (1794/95); F. W. J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus (1800), 6. Hauptabschnitt, in: Sämmtliche Werke, hrsg. von K. .f. A. Schelling, Abt. 1, Bd. 3, Stuttgart/Augsburg 1860, S. 612-629. E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1935/36), in: E. H., Gesammelte Werke. Husserliana, Bd.6, Den Haag 1954, bes. S. 48ff.; vgl. R. Piepmeier, Aporien des Lebensbegriffs seit Oetinger, Freiburg/ München 1978. C. Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, Hamburg 1938; vgl. R. Koselleck, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg/München 1959; W. Lepenies, Melancholie und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1969.
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10 R. Koselleck, »Geschichte/Historie., bes. S. 702 ff.; R. K., »>Erfahrungsraum. und >Erwartungshorizont. - zwei historische Kategorien., in: G. Patzig / E. Scheibe / W. Wie!and (Hrsg.), Logik, Ethik, Theorie der Geisteswissenschaften, Hamburg 1977, S.191-208, bes. S.197ff. 11 »Die mit der Gesellschaft beginnende Zukunft verhält sich diskontinuierlich zur Herkunft.: J. Ritter, Subjektivität, Frankfurt a.M. 1974, S.@7;vgI.J.R.,MetaphysikundPolitik,Frankfurt a. M. 1969, bes. S.)112 H., 338 H. 12 Vgl. Ritter, Subjektivität, bes. S. 141 H. 13 Vgl. O. Marquard, »Kompensation., in: J. Ritter Eu. a.] (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 4, Base!/Stuttgart 1976, S. 912-918; O. M., »Kompensation. überlegungen zu einer Verlaufsfigur geschichtlicher Prozesse. in: K. G. Faber I Chr. Meier, Historische Prozesse, München 1978 (Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik, Bd. 2), S. 330-362; O. M., »Glück im Unglück. Zur Theorie des indirekten Glücks zwischen Theodizee und Geschichtsphilosophie«, in: G. Bien (Hrsg.), Die Frage nach dem Glück, Stuttgart 1978, S.93-111. 14 »L'auteur de la nature a compense ces maux [ ... ] par mille commodites ordinaires et continuelles«: G. W. Leibniz, Theodicee, in: Die philosophischen Schriften, hrsg. von C. 1. Gerhardt, Berlin 1875-90, Bd.6, Nachdr. Hildesheim 1961, S. 409; »Nam ea ipsa malorum [ ... ] compensatio [ ... ] est proprie ille finis, quem ob oculos habuit artifex«: 1. Kant, »Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio«, in: Gesammelte Schriften, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd.l, Berlin 1902, S. 405. 15 R. Mauzi, L'idee du bonheur dans la litterature et la pensee fram;aises au XVIII' siede, Paris 1960, 31967. 16 Cicero, De natura deorum 1,21; vgl. Cicero, Tusculanae disputationes 5,95. 17 P. Bayle, Reponse aux questions d'un Provincial (1704), in: (Euvres diverses, La Haye 1727-31,Bd. 3, bes. S.650f.;P. L. M.de Maupertuis, Essai de philosophie morale (1749); Leibniz, Theodicee, S. 266f.; A. de Lasalle, Balance naturelle (1788); J. B. Robinet, De la nature, Amsterdam 1761, S. 3: »D'ou resulte un equilibre necessaire des biens et des maux dans la nature.; vgl. z. B. S. 126ff.: »De la Guerre: compensation des maux qU'elle produit«_ (den Hinweis verdanke ich R. W. Schmidt); »I'economie universelle., »afin de compenser tout.: S. 105, 109, 133 u. ö.; I. Kant,
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»Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen« (1763), in: Gesammelte Schriften, Bd.2, 1905, S.179ff. in Verb. mit S.197; S. Marechal, Apologues modernes, a l'usage du Dauphin, premieres le,ons du fils aine d'un Roi, Bruxelles 1788, S. 51 (den Hinweis verdanke ich H. Hudde). Vgl. 1. Kant, »Negative Größen«, S.l72 (»Realrepugnanz«) und bes. S.198; Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786), in: Gesammelte Schriften, Bd.4, 1911, S.523 (»Allgemeiner Zusatz zur Dynamik«); J. G. Fichte, Grundlage dergesammten Wissenschaftslehre (1794), in: Sämmtliche Werke, hrsg. von 1. H. Fichte, Bd.l, Berlin 1845, S. 110 (»negative Größe.); F. W. J. SchelJing, Ideen zu einer Philosophje der Natur (1797), in: Sämmtliche Werke, Abt. 1, Bd.2, 1860, bes. S.178ff. und S.227ff.; vgl. Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799), ebd., Abt. 1, Bd.3, 1860, bes. S. 287 ff., und Darstellung meines Systems der Philosophie (1801), ebd., Bd.4, 1859, bes. S.125 ff. (»Indifferenz des Subjektiven und Objektiven.) und S.136ff.: Die beiden einander entgegengesetzten Kräfte limitieren einander zu Gleichgewichtslagen, aus denen die Wirklichkeit besteht; das ist eine Art .isosthenes diaphonia., die nicht nur zwischen Dogmata, sondern auch zwischen Kräften bestehen kann: so wäre in gewisser Hinsicht die ganze Welt ein Skeptiker. P. H. Aziis, Des compensations dans les destinees humaines, Paris 1808; A. Cournot, Exposition de la theorie des chances et des probabilites, Paris 1843, eh. 9, § 103; R. W. Emerson, Compensation (1865), in: The Complete Works, Centenary Edition, Bd.2/3, 1.ondon 1904, S.91-127. J. Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen (1868), in: Gesammelte Werke, Bd.4, Stuttgart 1970, S.193f.; A. Adler, Studie über Minderwertigkeit von Organen (1907); C. G. Jung, Zur Psychologie derdementiapraecox (1907). C. A. Helvetius, De l'esprit, Paris 1758; J. Bentham, A Fragment on Government, London 1776; J. B., An Introduction to the Principfes 0/ Morafs and Legislation, London 1789. Chevalier de Chastellux, [anonym], De la Felicite publique ou Considerations sur le sort des hommes dans fes differentes epoques de l'histoire, Amsterdam 1772, zit. bei: R. Bury, The Idea 0/ Progress. An Inquiry into its Origin and Growth (1932), New York 1955, S.190 (den Hinweis verdanke ich H. Hudde). Vgl. Leibniz, Theodicee, S.108.
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23 A. Pope, An Essay on Man (1733/34), Ep. II, V. 241ff.; T. R. Malthus, Essay on the Principle of Population (1798), dt.: Das Bevölkerungsgesetz, hrsg. und übers. von C. M. Barth, München 1977, S. 170; B. de MandeviIle, The Fable of the Bees or Private Vices, Public Benefits (1725); J. G. Herder, Uber den Ursprung der Sprache (1772), in: Sämmtliche Werke, hrsg. von B. Suphan, Bd. 5, Berlin 1895, bes. S. 27 ff.; I. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), in: Gesammelte Schriften, Bd. 8, 1912, bes. S. 20 H.; F. v. Schiller, »Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde« (1790); 1. Kant, Kritik der Urteilskraft (1790), in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, 1908, S. 244 ff. 24 H. Weinrich, »Literaturgeschichte eines Weltereignisses: das Erdbeben von Lissabon« (1964), in: H. W., Literatur für Leser, Stuttgart 1971, S.64-76. 25 Vgl. die Datierung durch G. Gawlick in: D. Hume, Dialoge über natürliche Religion, Hamburg 1968, S.IXff.; zur Optimismuspreisfrage (»On demande I'examen du systeme de Pope, contenu dans la proposition: Tout est bien«) vgl. A. v. Harnack, Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd.1, Berlin 1901, S.404. 26 Vgl. O. Marquard, »Idealismus und Theodizee« (1965), in: O. M., Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a. M. 1973, S. 65, vgl. S.52-65 und 167-178 sowie S. 70. 27 Vgl. M. Fuhrmann, »Rechtfertigung durch Identität - über eine Wurzel des Autobiographischen«, in: O. Marquard / K. Stierle (Hrsg.), identität, München 1979 (Poetik und Hermeneutik, Bd. 8), S.685-690. 28 Vgl. O. Marquard, »Identität-Autobiographie- Verantwortung (ein Annäherungsversuch)«, ebd., S. 690-699. 29 G. W. Leibniz, Principes de Ia nature et de Ia grace, fondes en raison, in: Philosophische Schriften Bd. 6, S.602: »Pourquoi il y a plustöt quelque chose que rien?« 30 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781), in: Gesammelte Schriften, Bd.4, 1911, B 117 f.: »Die Rechtslehrer, wenn sie von Befugnissen und Anmaßungen reden, unterscheiden in einem Rechtshandel die Frage über das, was Rechtens ist (quid juris), von der, die die Tatsache angeht (quid facti), und indem sie von beiden Beweis fordern, so nennen sie den ersten, der die Befugnisse oder auch den Rechtsanspruch dartun soll, die Deduktion [ ...] Unter den mancherlei Begriffen [ ...], die das [ ... ] Gewebe der
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menschlichen Erkenntnis ausmachen, gibt es einige, die [ ... ) zum reinen Gebrauch apriori (völlig unabhängig von aller Erfahrung) bestinunt sind; und diese ihre Befugnis bedarf jederzeit einer Deduktion.: einer »transzendentalen Deduktion.; vgl. das Folgende. Vgl. 1. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Gesammelte Schriften, Bd. 7, 1917, S. 119; aber die philosophische Anthropologie wird erfolgreich gegenläufig zum kantischen Programm: durch Wende zur Natur. J.-J. Rousseau, Discours sur la question, si le retablissement des Sciences et des Arts a contribue aepurer les maurs(1750); J.-J. R., /ulie ou la Nouvelle Heloise (1761). Dabei ist - etwa - die Entdeckung der »Landschaft« nicht allein Kompensation des Natürlichkeitsverlusts der artifiziell werdenden modernen Welt: vgl. J. Ritter, »Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen inder modernen Welt (1963)., in: J. R., Subjektivität, S.141 ff.; sie bietet vielmehr - wie später, zum Ende des 19. Jahrhunderts und im 20. Jahrhundert, die darin funktionsäquivalente Anonyrnitätschance Großstadt - auch die Möglichkeit, vorm total identifizierenden Anklagezugriff der »Weltgeschichte« als des »Weltgerichts« im Anonymen unterzutauchen; die Natur als Zuflucht deckt - etwa als unberührte Landschaft - den so definierten Einsamkeitsbedarf ; vgl. J.-J. Rousseau, Lesreveries du promeneur solitaire (1782). Anthropologische Charakteristik: vgl. 1. Kam, Anthropologie, S.283ff.; W. v. Humboldt, Plan einer vergleichenden Anthropologie (1795), erhebt die Charakteristik zum Zentralpensum der Anthropologie: vgl. Linden, Untersuchungen, S.139ff.; zur Individualität als objectum proprium des historischen Sinns vgl. F. Meinecke, Die Entstehung des Historismus (1936), München 1965. Sammlung der besten und ausführlichsten Reisebeschreibungen, Berlin 1764ff.; G. Forster, Neue Geschichte der Land- und Seereisen, Hamburg 1781 ff.; Bibliothek der neuesten Reisebeschreibungen, Berlin 1786ff.; Magazin von merkwürdigen neuen Reisebeschreibungen, Berlin 1790ff. Vgl. »Lob des Polytheismus. über Monomythie und Polymythie« im vorliegenden Band S. 91 ff.; insgesamt gilt: Zur Verlokkung wird das, vor dem noch im 17. Jahrhundert als Gefahr gewarnt wird, etwa bei Descartes, Discours de la methode (1637) 1,8: .Car c'est quasi le meme de converser avec ceux des autres
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siecles, que de voyager [ ... ] mais lorsqu'on emploit trop de temps 11 voyager on devient enfin etranger en son pays .• Vgl. M. Foucault, Die Geburt der Klinik (1963), München 1973. Vgl. M. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft (1961), Frankfurt a.M. 1973: mit Akzent auf der Zeit zwischen 1657 und 1794; zum Anschlußvorgang vgl. O. Marquard, .über einige Beziehungen zwischen Ästhetik und Therapeutik in der Philosophie des 19. Jahrhunderts« (1963), in: O. M., Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, S.85-106 und 185-208. Die Bestimmung des Künstlers durch »mania«, die - in polemischer Absicht - durch Platon im Ion gegeben wurde, wird modern - dadurch zugleich wahnsinnspositivierend - zur Bestimmung des Genies affirmativ aktuell; in diesem Sinne ist - beispielsweise - symptomatisch die Gleichzeitigkeit der Zuwendung etwa Kants zum ästhetischen und zum anthropologisch-psychiatrischen Problem: I. Kant, .Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. (1764); .Versuch über die Krankheiten des Kopfes« (1764). Vgl. auch Lepenies, Melancholie und Gesellschaft. H. Klein, There is no disputing about taste. Untersuchungen zum englischen Geschmacksbegriff im 18. Jahrhundert, Münster 1967, S.141; vgl. K. StierleiH. Klein/F. Schümmer, Artikel .Geschmack., in: Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.3, S.444-456; auch die Analyse des .gesellschaftliehen. Sinnes von Geschmack im 18. Jahrhundert bei H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode(1960), Tübingen 31972, S. 31 ff. betont mit der Undemonstrierbarkeit des Geschmacks - seiner Diesseitigkeit gegenüber dem Argumentativen - Legitimationszumutungsresistenzbefunde, die m. E. die Interpretation seiner Karriere als Phänomen eines Ausbruchs in die Unbelangbarkeit stützen. Die hier im Anschluß an Gesichtspunkte von J. Ritters Ästhetikvorlesungen (Münster 1948 H.) - vgl. auch O. Marquard, .Kant und die Wende zur Ästhetik«, in: Zeitschrift fürphilosophische Forschung 16 (1962) S.231-243 und 363-374 - skizzierte Interpretation der Genesis des Ästhetischen ist zugleich der Ritters These ergänzende - Versuch einer auf das 18. Jahrhundert bezogenen Anwendung der Makrothese: Ästhetik und ästhetische Kunst entstehen als Kompensation des ,eschatologischen Weltverlusts<, die ich z. Z. auszuarbeiten versuche. Bill of Rights in der Verfassung von Virginia 1776; 1789 Bill of Rights in der Verfassung der Vereinigten Staaten und Declaration des droits de l'homme et du citoyen in Frankreich; vgl. M. Kriele,
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Der angeklagte und der entlastete Mensch Einführung in die Staatslehre, Reinbek bei Hamburg 1975, bes. S. 149 ff. Mir geht es hier vor allem darum, daß die Grund- und Menschenrechte nicht den Zwang institutionalisieren, der >allgemeine Mensch< zu werden, sondern die Lizenz, je dieser >besondere Mensch< zu bleiben: dabei auftretende Interpretationsprobleme kann ich an dieser Stelle nicht verfolgen. Vgl. F. W. J. Schelling, Immanuel Kant (1804), in: Sämmtliche Werke, Bd. 6,1860, bes. S.4ff.; G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (1816ff.), in: Werke in 20 Bänden, Theorie-Werkausgabe, Red. E. Moldenhauer und K. M. Michel, Bd.20, Frankfurt a. M. 1971, S. 314 und 331f.; Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1822ff.), ebd., Bd.l1, 1970, S. 525 ff.; vgl. H. Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834), in: Sämtliche Werke, hrsg. von E. Elster, Bd.4, LeipziglWien 1890, bes. S.245ff. »Die Wissenschaftslehre soll sein eine pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes«: J. G. Fichte, GrundlagederGesammten Wissenschaftslehre(1794), in: Sämmtliche Werke, Bd. 1, S. 222. Vgl. O. Marquard, .Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie«, bes. S.14ff., 73ff.; O. M., Inkompetenzkompensationskompetenz?, im vorliegenden Band S. 23ff.; O. M., »Exile der Heiterkeit«, in: W. Preisendanz / R. Warning (Hrsg.), Das Komische, München 1976 (Poetik und Hermeneutik, Bd. 7), bes. S.138ff. H. Plessner, Die verspätete Nation. Uber die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes (1935), Frankfurt a. M. 1974, S.6. G. Lukacs, Die Zerstörung der Vemunft(1954), Berlin 1955, S.6: »Es gibt keine >unschuldige< Weltanschauung«; gemeint ist - wie der Kontext zeigt - die Philosophie. Vgl. N. Hinske, »Die Geliebte mit den vielen Gesichtern«, in: H. Lübbe (Hrsg.), Wozu Philosophie? Stellungnahmen eines Arbeitskreises, Berlin / New York 1978, bes. S. 322 ff.; vgl. Plessner, Die verspätete Nation, bes. S. 144 ff. Plessner, Die verspätete Nation, S. 119 ff. Vgl. O. Marquard, »Skeptische Betrachtungen zur Lage der Philosophie«, in: H. Lübbe (Hrsg.), Wozu Philosophie?, bes. S.84-87.
Ende des Schicksals? Einige Bemerkungen über die Unvermeidlichkeit des Unverfügbaren
Wir leben im Zeitalter der Machbarkeit. Erst wurde nichts gemacht, dann wurde einiges gemacht, heute wird alles gemacht. Wo gemacht wird, wird weggeworfen: wir leben zugleich im Wegwerfzeitalter. Erst wurde nichts weggeworfen, dann wurde einiges weggeworfen, heute wird alles weggeworfen: es gibt die Einwegflasche, die Einwegtüte, überhaupt die Einwegpackung, den Einweginhalt, das Einwegding, die Einwegwelt. Ich versuche im folgenden - wie ich das auch sonst versuche -, den Einweggedanken zu fassen. Der Einweggedanke ist derjenige Gedanke, der nur einmal gedacht und gebraucht wird und dann nie wieder auftaucht.· Bei dem Fassen dieses Gedankens gehe ich schrittweise vor, und durch diese Schritte gliedert sich meine überlegung in Abschnitte. Es handelt sich um fünf Abschnitte, und es sind dies die folgenden: 1. Ende des Schicksals: Gott; 2. Ende Gottes: menschlicher Machzwang; 3. Schicksal inkognito: die Unverfügbarkeit der Vorgaben; 4. Schicksal inkognito: die Unverfügbarkeit der Folgen; 5. Anfang mit bösem Ende. Soviel zur Gliederung; jetzt zur Sache. 1. Ende des Schicksals: Gott. Habent sua fata fata: Die Schicksale selber haben ihre Schicksale. Denn erst waren sieals Moira, Ananke, mit Einschränkung als Nemesis, Daimon, Tyche, später. als Heimarmene und Fatum - offiziell und ausdrücklich Schicksal; dann' aber - scheint es - nicht mehr: Der Weg führt vom Fatum zum Faktum, vom Schicksal zum Machsal. Schicksal- das deutsche Wor~ ist spät: offenbar siebzehntes
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Jahrhundert - Schicksal und seine griechischen und lateinischen Vorgängerworte3 sind Worte für das unvermeidlich Notwendige, Verfügte, Verhängte: für das, was man gerade nicht wählen, machen und anders machen kann, sondern was einen unverfügbar üb ermächtigt, festlegt und trifft. Das ist nicht nur das Unerwartete und Plötzliche: der Schicksalsschlag, sondern gerade auch das, was dem jeweiligen Leben lebenslang bestimmt, auferlegt und zugeteilt ist: das Los, der Lebensanteil. Moira hängt mit Meros zusammen: Teil; keiner erlebt alles, schon deswegen nicht, weil er stirbt. Auch ist scheint es - kein Schicksal wie das andere; aber es gibt Schicksale, die jeder erlebt: etwa Geburt und Tod. Schicksal verbindet; Schicksal isoliert. Es gibt kollektive Schicksale: die Sintflut, alle ertrinken. Es gibt individuelle Schicksale: die Sintflut, Noah überlebt. Schicksale zeichnen: im extremen Fall durch die äußere oder innere Entstellung eines einzelnen, die ihn zur Einsamkeit verurteilt, oder auch durch die eines ganzen Geschlechts. Beispiel ist der Fluch der Atriden oder um hier nicht unentwegt nur seriös zu reden - das Schicksal jener Familie, in der, nach der Feststellung eines zerstreuten Gelehrten, über Generationen hinweg die Kinderlosigkeit erblich war. Schicksale zeichnen aus, modisch gesprochen: sie stiften Identitäten; und sie tun das auch dort, wo es nicht um das im übermaß glückliche Gelingen oder um das ganz große Verhängnis geht. Im übrigen muß man sein Schicksal ergreifen, sonst - womöglich - greift es nicht: das fatum braucht die virtus;4 man muß sehen, »wie sich Verdienst und Glück verketten«5 und Schuld und Verhängnis. Aber Verdienst und Schuld: die selber mögen ihrerseits Glück und Verhängnis sein und also Schicksal. Auch dabei - und im Kontext Fatum allüberall - geht es um die vorbestil1UDte Notwendigkeit, die unmachbar unabänderliche Unverfügbarkeit dessen, was jeglicher ist und was ihm geschieht. Das alles - in Andeutung - ist Schicksal; aber das alles scheint es - ist auch Vergangenheit. Schicksal ist nicht mehr up to date; es ist antiquiert: eine Angelegenheit für N ostalgie-
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wellen und stiftungsfinanzierte Symposien. Heutzutage lebt jeder mündig sein Leben selber: selbst ist der Mann; selbst ist die Frau; selbst ist das Kind: das antiautoritär zu erziehende idealiter schon pränatal. Die Umstände werden - durch Selbstbestimmung - von den Menschen selber gestaltet und hergestellt: dagegen kommt - scheint es - das Schicksal nicht mehr an. Das ist die moderne Emanzipation aus dem Schicksal: »Die Menschen« - schreibt Marx6 - »machen ihre Geschichte selber;« die Geschichtswelt - so formuliert ein früher Fichteaner, nämlich Novalis 7 - ist »Faktur«. In der Gegenwart wird das handgreiflichst offenkundig; wir leben in einer Welt vorhandener und künftiger Artefakte: was ist, ist gemacht; und was noch nicht gemacht ist, ist schon oder bald machbar. Das Unvedügbare, zu dem kein Machen zukann, gibt es nicht mehr: das Unabänderliche - scheint eshat ausgespielt, das Schicksal ist zu Ende. Das berührt auch die modernen Ersatzversionen des Schicksals; offenbar verlieren sie ihren Reizwert für ein pro oder contra. Ober den Determinismus - scheint es - regt sich niemand mehr auf. Spenglers Unterscheidung zwischen »Kausalitätsprinzip und Schicksalsidee«8 - scheint es - ist eine obsolete Subtilität und lohnt sich nicht mehr. Der pädopsychologische »Jensenismus«9 ist - scheint es, und ich betone: scheint es - eine verspätete Position. Und Szondis »Schicksalsanalyse« 10 warbestenfalls - ein Rückzugsgefecht. Zum Schicksal fällt uns nichts mehr ein, es sei denn - mit oder ohne» Vorstudien zur Sabotage des Schicksals«11 - dies, daß wir es selber machen. Denn die herrschende Meinung - herrschend in dem Sinne, daß jeder, der gegen sie auftritt, apriori die Beweislast zu haben scheint und die Vermutung moralischer Bedenklichkeit oder Untragbarkeit gegen sich - die herrschende Meinung ist diese: Alles ist machbar, alles steht zur Disposition, alles kann und muß verändert werden, und Veränderung ist immer Verbesserung. Die emanzipatorische Geschichtsphilosophie proklamiert das en gros, die Psychoanalyse entdeckt es - im Blick auf Individuen und Gruppen - en
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detail. Thomas Mann - auch er, schon er - erinnert in seiner zweitschönsten Freudrede an Freuds Formulierung, daß »der Geber aller Gegebenheiten in uns selber wohnt«, und zitiert einen Satz von Jung, »der das ,Zustoßen< als ein ,Machen< entlarvt«12: selbst das, was uns vermeintlich nur trifft, ist maskiertes Selbstgemachtes, ein getarntes Artefakt. Schicksal ist unbewußtes Machsal. Damit - scheint es - zerbricht der Anspruch des Schicksals begriffs und seiner Varianten auf Geltung als seriöse Wirklichkeitskategorie. Allenfalls dort, wo nicht progressiv aufgeräumt wurde, liegen noch einige Schicksalstrümmer herum als Steine des Anstoßes; teils mit Kuriositätsappeal: die »Tücke des Objekts« und die »Anziehungskraft des Bezüglichen«13; teils mit zeitgeschichtlich bösem oder mit mondänem Anklang: als der »Schicksalsglaube« »verschworener Schicksalsgemeinschaften« oder als das, was a la mode gerade schick ist bei der jeweiligen Schickeria bis zum »radical chic«14. Insgesamt aber gilt: Durch den Siegeszug der Optik der Veränderbarkeit und des Machens wird die Wirklichkeit defatalisiert. Drum auch emigriert das Fatum in die Schicksalsschonung Kunst. Schicksal: das wird eine Kategorie für die Tragödienästhetik l5 • Ergiebig ist der Wallenstein: »In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne« .16 Wenig später gibt es die Spiele um Schicksalsdaten und die Ahnfrau: die sogenannten Schicksalstragödien. Oder das Schicksal präsentiert sich lyrisch: »So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehn«: Goethe, »Urworte, orphisch«17; oder Hölderlin: »An die Parzen«, »Hyperions Schicksalslied«; aber auch Ferdinand Raimund: »Das Schicksal setzt den Hobel an und hobelt alle gleich«.18 Oder es tritt quasimusikalisch auf: »So pocht das Schicksal an die Pforte«, inzwischen eine Formulierung mit Hautgout; und von der »Schicksalssymphonie« geht es dann zur Oper Die Macht des Schicksals - und zur Operette: »Die Liebe, die Liebe ist eine Schicksalsmacht«, ich weiß: das ist falsch; die Liebe ist - natürlich - »eine Himmelsmacht«; aber - Strauß hin, Zigeunerbaron her - Schicksalsmacht ginge auch, nicht
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nur aus rhythmischen Gründen; denn das Schicksal wird schließlich insbesondere schlagerfähig. Kein Hitlieferant kommt ohne das Schicksal aus: zur Love Story gehört die »Schicksalsmelodie«; und: »Ein Mann kehrt heim ... Er hat den Sternen sein Schicksal erzählt ... Er stand am Abgrund der Zeit... Glück und Leid hielt sein Schicksal für ihn bereit«: das singt - auf Polydor - Freddy19 für die, die statt an die Sterne nun an die Sternchen glauben. Das ist ein ergiebiges, ein interessantes Thema: die Heimarmene von Zeno bis Heino. Insgesamt wird - auch wenn dies nur Andeutungen waren und man streiten mag, ob es stimmt erkennbar sein, was ich sagen will.: Aus der defatalisierten Wirklichkeit, die offiziell zum Machsal wird, flüchtet das Schicksal ins Ästhetische, ins Banale und Triviale, zuletzt ins banale und triviale Ästhetische: in die Tagtraumkonfektion. Diese Geschichte der Depotenzierung des Schicksals, die so endet, beginnt - wenn ich es richtig sehe - beim Antifatalismus des Christentums.' Dort, wo die frühen Kirchenväter »contra fatum« und »contra mathematicos« - also gegen die Astrologen, die gelehrten Schicksalswahrsager - schreiben,z° ist das Vordergrundproblem die Willensfreiheit: die Väter erheben Einspruch gegen das Fatum als Ausrede in ethicis. Das wirkliche Zentralproblem aber ist dieses: Das Fatum ist der Allmachtskonkurrent Gottes. Wir Christen, schreibt Tatian, »dflaQflEVl1~ eOflEv dvOrtEQOL, wir sind über die Heimarmene erhaben und kennen statt der Irrsterne nur Einen, den nie irrenden Herrn«21: den allmächtigen Gott. Nicht nur fällt kein Sperling vom Dach, wenn er es nicht will. Denn er ist zugleich über alle Details hinaus der allmächtige und allwissende Lenker, weil er die absolute Antwort ist auf die absolute Anfangsfrage: Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Das von Gott Verschiedene - was nicht aus sich selber sein kann: das Kontingente - ist darum, weil Gott es will: weil er es aus nichts anfängt und macht, d. h. schafft, und es per concursum Dei et per creationem
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continuam erhält. Was zuvor die ohnmächtige Frage an das Schicksal war - warum gerade dies mir, uns, ihm, ihr, ihnen? die Frage der heute so genannten »Kontingenzbewältigung«22 - wird biblisch-christlich und theologisch-metaphysisch überboten durch die absolute Anfangsfrage, auf die Gott die absolute Antwort ist: der allmächtige Schöpfer allein niemand sonst - macht alles und lenkt alles. Diese Berufung auf Gott - auf kreatürliche Kontingenz und göttliche Omnipotenz - beendet die Karriere des Fatums: der eine allmächtige Gott ist das Ende des Schicksals. Und die moderne Welt - scheint es - vollstreckt nur dieses im Grunde schon frühe Ende des Schicksals. 2. Ende Gottes: menschlicher Machzwang. Gott - der der Bibel: der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der der Gott der Philosophen und Gelehrten wurde - Gott ist das Ende des Schicksals. Was bedeutet - wenn das so ist - das Ende Gottes? Das Ende Gottes: Mit dieser Formulierung zitiere ich einen Eindruck, der weithin konstitutiv scheint für die moderne Welt und ihre Tendenz zum Machen. Bei derlei Konstitutiva ist es nicht gut, sich auf die eigene Erfahrung zu verlassen: die ist zu einsam. Darum berufe ich mich hier auf andere: auf einen Philologen, zwei Theologen, eine Soziologin, einen Metaphysiker und dann noch - in cumulo - auf weitere Philosophen. Der Philologe ist Nietzsche; seine Formulierung ist berühmt: »Gott ist tot«.23 Todesursache Gottes istmeint Nietzsche - sein Mitleid. Mitleid gibt es nur dort, wo es Leid gibt: die übel in der Welt. Si Deus, undemalum? (Wenn es Gott gibt, woher dann das übel?): An dieser Frage - der Frage seines Mitleids: der Theodizeefrage Gottes an sich selber - ist Gott gestorben; denn: si malum, unde Deus ? Wo es die übel gibt, ist Gott - auch vor sich selber - nur durch sein Nichtsein zu rechtfertigen: durch seinen Tod. Der Bestand und das Wachstum der übel - das Mißlingen von Schöpfung und Erlösung - erzwingen das Ende Gottes, jedenfalls - aber das läuft aufs selbe hinaus - das Ende seiner
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Allmacht. Dies - im Grunde dies und genau dies - sagen auf ihre Weise auch zwei Theologen: der frühe Habermas und der späte Oeing-Hanhoff. Oeing-Hanhoff - der soeben erspätete - formuliert es systematisch-direkt, indem er - eine Theodizee suchend - behauptet, »daß [Gott] auf seine Allmacht«, das heißt »auf seine Gottheit zugunsten endlicher Freiheit verzichten kann«24 und verzichtet: so wird Freiheit zum Machen und zum Schlimmen möglich für die, die nicht Gott sind: für die Menschen. Habermas - der frühe formuliert dasselbe als Interpretation von Schellings Weltalterphilosophiej angesichts der Korruption der Schöpfung verspricht - meint er - Schellings weltalterphilosophische »Idee einer Contraction Gottes« eine Theodizee: zu der "Gott aus der Hand geglittenen Welt, deren Geschichte« eben dadurch "dem >umgekehrten Gott< der gesellschaftlichen Menschheit überantwortet ist«, kommt es - so sagt Habermas, daß so Schelling sagt - durch den »Rückzug Gottes in sich selbst« und "in die Vergangenheit«j25 durch diesen Rückzug überläßt Gott die Geschichte menschlicher Freiheit: seine Demission macht Gott sozusagen zum Initiator des Linkshegelianismus und zum indirekten Protektor auch noch der Kritischen Theorie. Dasselbe - scheint mir meint eine germanistisch-theologische Soziologin, nämlich Dorothee Sölle: »Atheistisch an Gott glaubend« handelt ihre »Theologie nach dem Tode Gottes« vom Rücktritt Gottes: sie handelt vom "in der Welt ohnmächtigen Gott«, der »Hilfe braucht« zunächst durch Christus, der den »abwesenden Gott« vertritt, und dann durch die Menschen, die als Stellvertreter dieses »Stellvertreters« - darauf läuft es doch hinaus - an Gottes Stelle selber handeln. 26 Der Tod Gottes nötigt die Menschen, ihre Dinge selber zu machen. Das ist und jetzt nenne ich einen Metaphysiker, der es nicht sein will - das ist der ins Theologische übersetzte Heidegger: Indem das Sein - und »das Sein« ist das Pseudonym Gottes - sich seinsgeschichtlich entzieht, überläßt es selbst die Welt der metaphysischen Logik der Vergegenständlichung, dem Wil-
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len zur Macht, der Technik; weil das Sein - und mit ihm (zu vergleichen sind Heideggers Hölderlin-Interpretationen) Christus als der letzte der Götter - abtritt, werden die Menschen zum Machen ermächtigt. 27 Man sieht: Die hier Zitierten sagen nicht nur Ähnliches; sie sagen dasselbe. Dies zu meinen ist jedenfalls möglich, wenn man merkt, daß es im Grunde keinen Unterschied macht, ob die Demission Gottes als Interim oder als Definitivum gedacht wird, und daß es eine minder erhebliche Nuance ist, ob Gott entmächtigt oder in seiner Existenz negiert wird; dabei ist es auch von sekundärer Bedeutung, ob dies durch die Menschen oder durch Gott selber geschieht: ob also anti theologisch-atheistisch - die Menschen nicht mehr an Gott glauben oder ob - theologisch-atheistisch - Gott selber nicht mehr an Gott glaubt und sich darum zurückzieht und stirbt. Sie sagen dasselbe: ich muß das unterstreichen. Denn die, die ich hier - unter Schwindeletiketten, die die Wahrheit sagen - zusammen zitiert habe, können es eigentlich nicht mögen, zusammen zitiert zu werden. Gerade darum ist ihre von ihnen sorgfältig getarnte Einigkeit ein besonders eindrucksvoller Beleg dafür, daß es sich hier um eine konvergierende Tendenz der modernen Philosophiegeschichte - des modernen Selbstverständnisses - handelt: um eine, die eigentlich auch nicht überraschen darf. Denn die Macht der menschlichen Freiheit lebt von der Ohnmacht Gottes. Daß der Mensch - modern - selber zum Macher, Schöpfer und Erlöser wird, hat eben darin seinen Grund, daß Gott seinerseits aufhört, es zu sein. Die Autonomie des Menschen lebt von der Depotenzierung Gottes. Das hat - intendiert oder nicht und unterschiedlich ausdrücklich - zuerst der deutsche Idealismus - der von Kant bis Marx, dessen Radikalposition (meine ich) Fichte ist - betont durch seinen Schluß von der Güte Gottes auf seine Nichtexistenz: Die Menschen müssen die Wirklichkeit - bewußt oder unbewußt - selber machen, weil Gott gut ist und - angesichts der übel, Antinomien, Antagonismen - gut bleiben kann nur dadurch,
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daß es ihn nicht gibt. Das ist die Theodizee durch einen Atheismus ad maiorem Dei gloriam: 28 das, was die hier Zitierten - im Prinzip - gemeinsam vertreten, nämlich eine Theologie des Deus emeritus. Es ist - nota bene - bedenkenswert, daß am Anfang dieser Depotenzierung Gottes die extreme Omnipotenztheologie des ausgehenden Mittelalters stand; der Weg von der Theologie der potentia absoluta über die Theologie des Deus absconditus, des Dieu cache und die Theologie des Deus emeritus bis zur Theologie nach dem Tode Gottes: das ist eine bemerkenswerte Sequenz; vielleicht war auch schon Allmacht nur Ohnmacht mit anderen Mitteln. Aber dies nur als Nebenbemerkung. Denn hier wollte ich - insgesamt - einzig auf das hinweisen, was in der Philosophie umgeht dort, wo - modernitätskonstitutiv - zur Debatte steht, was ich nannte: das Ende Gottes. Ich wiederhole meine Frage: Gott ist das Ende des Schicksals; was bedeutet - wenn das so ist - das Ende Gottes? Kehrt nunmehr - nachtheistisch modern - das Schicksal wieder? Zwar scheint das Gegenteil der Fall zu sein: Man blicke auf die artifizielle Welt, in der wir leben, und auf ihr - eingangs skizziertes - Selbstverständnis. Aber trifft es wirklich zu, daß in der gegenwärtigen Weh - durch die von Gott geerbte modifizierte Machensallmacht des Menschen - das Schicksal endgültig besiegt und zu Ende ist? Oder scheint das nur so? Wird die offizielle und manifeste Tendenz zur Machensallmacht des Menschen womöglich konterkariert durch eine latente und inoffizielle Tendenz: durch die indirekte Wiederermächtigung des Fatums? Es ist fällig, sie zu formulieren und zu prüfen, diese zweifellos riskante These: Modern, nach dem Ende des Schicksalsendes Gott, gehört zur offiziellen Defatalisierung der Welt ihre inoffizielle Refatalisierung; oder anders gesagt: Resultat der modernen Entmächtigung der göttlichen Allmacht ist nicht nur der offizielle Triumph der menschlichen Freiheit, sondern auch die inoffizielle Wiederkehr des Schicksals. Ich möchte in den beiden folgenden Abschnitten zwei
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Hinweise versuchen, die dazu beitragen könnten, diese These einer gewissen Plausibilität anzunähern. 3. Schicksal inkognito: die Unverfügbarkeit der Vorgaben. Der eine Hinweis betrifft den für die Menschen unvermeidlichen Tatbestand der Unverfügbarkeit der Vorgaben: er wird - scheint es, und prima facie paradoxerweise - gerade modern unabweisbar; und er ist interpretierbar als eine - freilich veränderte und pseudonyme - Wiederkehr des Fatums. Ich möchte das kurz erläutern. Für die Menschen ist es eine schwierige Sache, nach dem Ende Gottes menschlich zu bleiben. Zunächst einmal stehen sie sobald die Stelle Gottes vakant wird - unter Kandidaturzwang, unter Nachfolgezumutung, unter Gottwerdungsdruck. Darum obliegt ihnen ja nunmehr das, was vorher Gottes Sache war: alles zu machen. Wo sie sich gleichwohl diesem Druck, zum Absoluten zu avancieren, widersetzen, entsteht für die Menschen modern das Problem, ihre Endlichkeit zu retten in einer Situation, in der die theologische Definition dieser Endlichkeit - die Bestimmung >Kreatürlichkeit< - in wachsendem Maße nicht mehr zur Verfügung steht. Hier springt der Versuch ein, ihre Endlichkeit emphatisch als Sterblichkeit zu definieren: existenzphilosophisch als »Sein zum Tode«, anthropologisch als die stets nur befristete »Entlastung« vom Umkommen. 29 Vita brevis: das gilt - man denke an Termindruck durch Vorsorgenotwendigkeiten dann auch fürs Detail; just deswegen ist ja Zeitgewinn - trotz der Gefahr des ennui - ein bonum evidentissimum. Aber die Gleichung >Endlichkeit ist Sterblichkeit< - so bedeutsam sie ist - reicht nicht aus. Sie sagt nur implizit das andere, das mindestens ebensowichtig ist: daß die Menschen nie von Anfang an anfangen. Ihr Leben ist ein Interim: wo es aufhört, ist es zu Ende; aber wo es anfängt, ist niemals der Anfang. Denn die Wirklichkeit ist - ihnen zuvorkommend stets schon da, und sie müssen anknüpfen. Kein Mensch ist der absolute Anfang: jeder lebt mit unverfügbaren Vorgaben.
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Drum auch gibt es ein Recht der nächsten Dinge gegenüber den ersten und ein modernes Bescheidenheitsritual, das diesen nichtinitialen, nachleblichen Status der Menschen ihre unvermeidliche Angewiesenheit auf unverfügbare Vorgaben - demonstriert: das ist die metaphysik-kritische Abwehr der absoluten Anfangsfrage. Wer nach dem Anfang fragt, will der Anfang sein; und wer der Anfang sein will, will kein Mensch sein, sondern das Absolute. Darum nehmen modern die Menschen - zugunsten ihrer Menschlichkeit: wo sie sich weigern, zum Absoluten zu werden - Abschied vom Prinzipiellen, von der dQXt] , und sie setzen dann auf Konzeptionen, die die absolute Anfangsfrage - die absolute Rechtfertigungsfrage - überflüssig machen, suspendieren. Hans Blumenberg30 hat den modernen Selbsterhaltungsgedanken als ein solches Suspensionstheorem interpretiert: Weil- in der Konsequenz - die Selbsterhaltung die Fremderhaltung durch Schöpfung erübrigt, gilt fortan die widerlegliche Vermutung für das zureichende Begründetsein dessen, was ist: conservatione sui ist es und bleibt es, was es ist, wenn es nicht durch erforschliche Ursachen geändert wird; darum muß man nicht mehr begründen, warum es ist und nicht vielmehr nichts, sondern nur noch, warum es anders wird, falls es anders wird. Das ist - sagt Blumenberg - »eine Art Beweislastregel« : sie reduziert Begründungslasten auf endliche, das heißt menschlich einlös bare Größen, indem sie festlegt, daß die Begründungslast, die Beweislast die Veränderung hat. Martin Kriele31 hat - anknüpfend an die Tradition der englischen Juristen des »common law« - gezeigt, daß dies nicht nur dort gilt, wo man - theoretisch - Veränderungen begreifen, sondern gerade auch dort, wo man - praktisch Veränderungen herbeiführen will: auch dort muß vernünftigerweise zunächst einmal die Suffizienz des Bestehenden widerleglich - und dies ist zu betonen: widerleglich vermutet werd-en; die Beweislast hat der Veränderer. Niklas Luhmann32 nennt das den »unfreiwilligen Konservativismus aus Komplexität«: Er ist unvermeidlich, weil bei endlicher
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Kapazität nicht alles zugleich zur Disposition stehen kann, sondern immer nur sukzessiv Bestimmtes durch bestimmte Alternativen, die die Beweislast tragen; anders zu verfahren wäre so kompliziert, daß unsere komplexitätsreduktionsbedürftig endliche Einsichtskapazität nicht mitkäme; darum besteht - meint Luhmann - die zwingende Notwendigkeit zur »übernahme der Geschichte als Handlungsgrundlage«. Das ist - systemtheoretisch präzisiert - nichts anderes als der Grundgedanke des hermeneutischen Ansatzes in der modernen Philosophie: Nur indem das geschichtlich Vorhandene »immer schon« ohne Zutun als Vorgabe da ist, hat das eigene Zutun eine Chance; kein Mensch kann absolut von vorn anfangen, jeder muß - wie Joachim Ritter sagte: »hypoleptisch«33 - an das anknüpfen, was schon da ist: Zukunft braucht Herkunft. Diese hermeneutische Einsicht begünstigt und trainiert den amor fati, »Sohn seiner Zeit« zu sein: »Hic Rhodus, hic saltus« ;34 und das sind eben keine großen Sprünge, die man da machen kann. Den Spielraum determiniert das schon Vorhandene als fait accompli: als »fait« nicht nur im Sinne des Minischicksals »datum«, sondern auch im Sinne des Maxischicksals »fatum«. Zugleich muß man sehen, daß dies keine vernichtende Einschränkung, sondern daß es gerade die Lebenschance für die Menschen ist: Weil sie nicht das Absolute sind, brauchen sie diese Anknüpfungsgröße, sonst könnten sie nicht leben, geschweige denn ändern. Man kann dies alles auch so formulieren: Die Menschen haben - eben wegen ihrer Nichtinitialität, ihrer hypoleptischen Lebensweise - einen unabweislichen Fatalismusbedad; nicht etwa nur diejenigen, die - opportunistisch - vom laufenden Ablauf Vorteile erwarten, oder diejenigen, die defätistisch - der Ungewißheit des Ausgangs die Gewißheit der Niederlage vorziehen. Denn wer überhaupt in bestimmten Bereichen handeln will, muß sich darauf verlassen, daß er in anderen - die immer die meisten sind - nicht zu handeln braucht; in diesem Sinne lebt seine Tätigkeit von seiner Untätigkeit, sein Machen davon, daß er das meiste gerade
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nicht macht, sondern - sit venia verbo - als Schicksal hinnimmt. Es braucht also jeder Mensch viel Fatalismus, der kein Fatalist sein will. Daß man nicht alles machen muß, daß also - anders gesagt - die meisten Dinge »immer schon« ohne eigenes Zutun laufen und gelaufen sein müssen: dies - Fatum also, Schicksal- ist die Möglichkeitsbedingung des HandeIns in Reichweiten, in denen Menschen handeln können. Dieser (wie mir scheint: vernünftige) Fatalismus - und seine Agenten: etwa die Institutionen - reduziert Handlungslasten auf die Größenordnung menschlicher Handlungskapazität: er bringt das, was zu tun ist, in die Reichweite menschlicher Täterbegabung. Menschliche Praxis macht stets nur das Wenige, was noch zu machen ist: damit sie möglich sei, muß in einem sehr beträchtlichen Umfang schon »nichts mehr zu machen« sein. Das ist zugleich der Grund, aus dem die Menschen - auch nach dem Abschied von der »scientia non humana sed divina«, der Metaphysik, gerade in der »scientia humana«, den »humanities« - zur Theorie disponiert bleiben; denn Theorie ist das, was man macht, wenn gar nichts mehr zu machen ist. Ingesamt also scheint es so zu sein: Modernnach dem Ende Gottes - gibt es einen Bedingungszusammenhang zwischen'Fatalismus und Menschlichkeit; dort erzwingt der Versuch der Menschen, gegen jede Gottwerdungszumutung ihre Menschlichkeit zu retten, die Wiederermächtigung des Schicksals. Das war der eine meiner beiden Hinweise. 4. Schicksal inkognito: die Unverfügbarkeit der Folgen. Der
andere Hinweis betrifft den für die Menschen unvermeidlichen Tatbestand der Unverfügbarkeit der Folgen: Auch erscheint es, und prima facie paradoxerweise - wird gerade modern unabweisbar; und auch und gerade er ist interpretierbar als eine - freilich veränderte und pseudonyme - Wiederkehr des Fatums. Ich möchte auch das kurz erläutern. Für die Menschen - sagte ich - ist es eine schwierige Sache, nach dem Ende Gottes menschlich zu bleiben. Denn sie stehen - sobald die Stelle Gottes vakant wird - unter
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Kandidaturzwang, unter Nachfolgezumutung, unter Gottwerdungsdruck. Darum - ich wiederhole es - obliegt ihnen ja nunmehr das, was vorher Gottes Sache war: alles zu machen. Dieses ererbte Pensum ergreifen die Menschen dort emphatisch, wo sie diesem Druck, zum Absoluten zu werden, nachgeben, um dem skizzierten Fatalismus zu entgehen. Darum werden sie - dafür ist (scheint mir) philosophiehistorisch repräsentativ der Schritt von Kant zu Fichte: der ins Ende der Bescheidenheit, der aus der Neuzeit in die Gegenneuzeit - die Menschen werden dann selber das Absolute. Aber wie ist das: Kann ein Mensch das Absolute sein? Für die absolute Emanzipation zum Absoluten ist die klassische Antwort diese: Er kann, denn er soll; im Gegenwartsjargon : Er ist kontrafaktisch kompetent. Alles andere ist eine kantianisch faule, eine positivistisch halbierende Ausrede. So wird - neoabsolut - der Abschied vom Prinzipiellen widerrufen; die absolute Anfangsfrage wird wiederhergestellt. Warum - so lautet sie modern, transformiert in die absolute Legitimationsfrage - warum, das heißt mit welchem Recht, ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts: außer mir selber? Der Mensch, der nach dem absoluten Anfang fragt, macht sich durch diese Frage zum absoluten Anfang, nämlich zum absoluten über-Ich der Gesamtwirklichkeit. Inzwischen - im Zeitalter der Kommunikation: der nicht mehr nur bilateral-dialogistischen, sondern der multilateralinteraktionistischen - hat sich dieses Ich zum Wir verwandelt: zur absoluten Kommunikationsgemeinschaft, zum absoluten über-Wir. Nichts darf gegen es, alles soll "für es« sein; und für es: das sind im Zweifelsfall nur seine Kreaturen. So muß alles zu seiner Kreatur werden durch kontrafaktische Kreationskompetenz dieses Wir: durch absolute Soziofaktur. Deshalb ist und wird - neo absolut - alles durch die Menschen gemacht. Aber diesem kontrafaktisch absoluten Machen fehlt - da es doch faktisch menschlich ist - faktisch die Allmacht; darum bewirkt es, was es nicht will. Die Folgen und Nebenfolgen
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entziehen sich seiner Kontrolle; sie werden unverfügbar ; und die Gründe dafür, daß das so ist, sind spezifizierbar, etwa soziologisch: Friedrich H. Tenbruck35 hat das versucht. Wirklichkeiten (Sozialwirklichkeiten, etwa Institutionen), die man wegen manifesten Versagens oder Mißfallens durch Machenseingriff abschafft, erfüllen in der Regel latente Funktionen, deren Nichterfüllung Unheil stiftet; und in dem Maße, in dem Errungenschaften - durch erfolgreiches Ändern - selbstverständlich werden, tendiert ihr Befriedigungswert gegen Null. Das überrascht nicht nur die praktischen Macher - die ja im Augenblick des Mangels planen und darum den Befriedigungswert des Erfolges notwendigerweise überschätzen -, sondern auch die theoretischen Konstantenverächter der kritischen Schule, wo sie den Gratifikationswert solcher Errungenschaften unkritisch als Konstante betrachten: Die Dialektiker - vor allem die, die für die Revolution und von ihrem Ausbleiben leben - rechnen ja kaum je damit, daß das sie ereilt, woran sie in bezug auf die anderen immer und in bezug auf sich selber selten denken, nämlich die Dialektik. Also: nicht etwa nur die erfolglose, gerade auch die erfolgreiche Machensplanung plant sich wenigstens partiell - um den Erfolg. Darum wird - im Zeitalter des schicksalsvernichtenden Machenseifers der Menschen - das Gutgemeinte nicht das Gute; das absolute Verfügen etabliert das Unverfügbare; die Resultate kompromittieren die Intentionen; und die absolute Weltverbesserung mißrät zur Weltkonfusion. Das sind - seit der Französischen Revolution und bis heute - die großen Enttäuschungserfahrungen des Selbermachens der Menschen, wo diese - modern - zum kommissarischen Gott avancieren: sie beruhen auf der Unverfügbarkeit der Folgen. Darum müssen die Menschensynchron mit dem Fortschritt des Machens und seinen Größenordnungen - Techniken entwickeln, mit diesen Enttäuschungen zu leben. Gerade diese Techniken aber - scheint mir - reaktivieren das Fatum. Es handelt sich um Enttäuschungsverarbeitungstechniken.
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Natürlich versucht man zunächst, Enttäuschungen durch die Kunst des Ignorierens zu venneiden; so wird etwa gegenwärtig die Erinnerung - der historische Sinn - diskriminiert; es soll der Vergleich unterbleiben zwischen dem, was herbeigeführt wurde, und dem, was vorher war. Aber das - scheint esreicht nicht aus; man muß zu stärkeren Mitteln greifen. Darum kommt es zur großen Kultur der Ausreden, zur rIochkonjunktur von Entschuldigungsarrangements, zu einem exorbitanten Sündenbockbedarf, kurzum: zur Kunst, es nicht gewesen zu sein. Beliebtes Vielzweckalibi ist die Gesellschaft; und die Gesellschaft: das sind die anderen. Denn wo es schiefgeht, sind modern zwar die Menschen es machend - gewesen, aber stets nur die anderen Menschen: Man braucht zur entschuldigenden Erklärung des Bonitätsgefälles zwischen dem, was erstrebt wurde, und dem, was tatsächlich eintritt, die Figur des Gegentäters, der - als diabolus redivivus - die Wohltaten des Fortschritts verrät und hintertreibt. Dieser Zwang, sich verhindert und verraten zu fühlen, den Manes Sperbecl6 die »polizistische Geschichtsauffassung« nennt, dient der Zurechnungsabwälzung an jene Neo-Parzen und Nornen vom Dienst, die nicht mehr Schicksalsfäden spinnend wie die alten - durch den Textilsektor definiert werden, sondern nunmehr durch den MetalIsektor: als Drahtzieher. Indem es diese beschuldigt, setzt sich das weltkreative über-Wir selbst über seine Kreationsenttäuschungen hinweg; sozusagen: das Wir setzt sich selbst, indem es sich absetzt vom Nicht-Wir: im Extremfall von Feinden, denen die Schuld am Mißlingen des autonomen °Machens zugeschrieben wird. Offenbar geraten die Menschen, wo sie zum Absoluten avancieren, in diesen Abgrenzungs- oder Verfeindungszwang. Sie agieren dann der Tendenz nach nicht mehr menschlich als Menschen, sondern nur noch absolut als Feinde von Feinden; die neoabsolute Philosophie des Selbermachens ist - scheint es - nicht nur Theologie nach dem Ende Gottes, sondern auch Anthropologie nach dem Ende der Menschlichkeit. So läuft das also: Die absolute Absicht der
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Menschen, es absolut zu sein, entwickelt sich zur Kunst, es nicht gewesen zu sein: zur Kunst, es andere gewesen sein zu lassen. Das ist eine indirekte Ermächtigung des Schicksals: Je mehr die Menschen die Wirklichkeit selber machen, um so mehr erklären sie sie schließlich - enttäuscht - zu der, für die sie nichts können und die ihnen nur noch angetan wird. Der moderne - neoabsolut-emanzipatorische - Antifatalismus neigt offenbar dazu, sein Gegenteil zu werden: Fatalismus; seine Defatalisierung der Welt betreibt indirekt ihre Refatalisierung. Gleichzeitig kommt es - und das bestätigt diesen Befund zum direkten Ruf nach der großen Notwendigkeit: einer Notwendigkeit zum Guten, die die schlimmen Machensfolgen überholt, überwältigt, überlistet und wenigstens langfristig kompensiert. Gerade dort, wo die Menschen - modern ihre Geschichte selber machen, suchen sie eine übermenschliche Garantie dafür, daß - was immer sie machselig anrichten und wie schlimm es dadurch auch wird - in der Geschichte das Bessere und schließlich das Gute herauskommt. Es entsteht das Interesse am notwendigen - am schicksalhaftenGang der Geschichte. Freilich: »Ich fühle mich« - schreibt Georg Büchner - »wie zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte« ;37 wo das Zutrauen in die Notwendigkeit des Geschichtsgangs derart in Mißtrauen und Verzweiflung umschlagen kann, braucht man von vornherein Zusatzgaranten für seinen guten Lauf. Sie werden postuliert: zunächst Gott, dann die Natur, schließlich der Weltgeist und andere Protagonistengrößen bis hin zum Proletariat und den Anti-Elitarismus-Eliten. Sie alle gehören - transzendentalphilosophisch gesprochen - in die Postulatenlehre38 : man muß dran glauben, sonst muß man dran glauben. Sie sollen fatalen Machensfolgen als Gegenfatum begegnen. Inzwischen sind diese Postulate aus dem Jenseits ins geschichtliche Diesseits geholt und auf Planstellen gesetzt: als Sachzwangauguren. Sie bilden die Planungsstäbe der Fortschrittsbürokratien innerhalb der verwalteten Welt; und sie sind - das
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muß man sehen - innerweltlich gewordene Postulate: Was sie an Jenseitsnimbus einbüßen, gewinnen sie an Diesseitsnimbus dadurch, daß - wo aus der Einsicht, daß guter Rat teuer ist, die Konsequenz gezogen wird, daß teurer Rat gut ist diese Postulate jetzt nicht mehr nur postuliert, sondern damit sie uns imponieren - auch noch bezahlt werden: durch Zuweisung von Macht, Ehre und Geld. Sie sind zuständig für die Notwendigkeiten, zu denen die autonom bewirkten schlimmen Folgen zwingen: diese schlagen den vermeintlich beherrschten Weltlauf in die Flucht nach vorn. Solche Notwendigkeiten werden - mit komplizierten Berechnungen - formuliert und verhängt durch die großen Pläne: der Gesamtplan ist die Identität von Horoskop und Fatum. Mich haben stets Märchen beeindruckt, in denen Feen nacheinander an irgendwelche Wiegen treten, um dort ihre Wünsche zu sagen; das - offenbar - waren die Mitglieder von Planungsgruppen jener Zeit, in der das Wünschen noch geholfen hat. Die vorletzte Fee ist immer die böse Fee: sie steuert die Flüche bei. Heute ist sie überflüssig. Die Flüche - das ist eine; der seltenen Fälle von Abbau der Arbeitsteilung - werden jetzt in den wohlgemeinten Planungen gleich mitentwickelt; denn frei nach Benn - das Gegenteil von gut ist gut gemeint; und die Planungen heutzutage sind allemal gut gemeint. Die Erfinder jener Märchen hatten - denke ich - sehr viel Sinn dafür, wie es in der Wirklichkeit zugeht; denn die letzte Feedie gute - konnte diese Flüche niemals ungeschehen machen; sie konnte einzig durch einen gegensteuernden Ausgleichswunsch helfen: durch eine Kompensation. Diese letzte Fee war also die Kompensationsfee. Auch das gegenwärtige Kompensationsgewerbe - das Krisenmanagement der Planer und Macher - muß gegensteuern: es arbeitet an gegen die Folgen, die außer Kontrolle geraten sind; aber - gute und böse Fee sind hier strikt identisch - es erzeugt dabei selber zugleich wieder Folgen, die außer Kontrolle geraten, und wenn ich das richtig sehe - dies um so mehr, je weniger es aus Omnipotenzeuphorie - die hypoleptischen Pflichten der
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Anknüpfung an natürliche und geschichtliche Vorgaben erfüllt. Wo - durch den Zwang zur Flucht nach vorn - die Zukunft rücksichtslos wird gegen die Herkunft, werden die Kompensationspläne günstigstenfalls Makulatur; sie entwerfen dann Zukünfte, die nie kommen werden, und sind dadurch in einer neuen Weise museal: ein Futurologe ist ein vorwärts gekehrter Antiquar. Im schlimmen Fall aber werden die Pläne und Eingriffe zu unfreiwilligen Spießgesellen der Unverfügbarkeit des Weltlaufs; dann wirken gerade die machenseifrigsten Versuche zu seiner Beherrschung als Beförderung seiner Fatalität: im Extremfall als Vollstreckung des Gesetzes der Erhaltung der Absurdität. Ein Minimum an Durcheinander wird dann stets wiederhergestellt; wo es durch Ordnungsversuche gestört wird, wird diese Störung gerade durch die Ordnungsversuche - unverzüglich wieder beseitigt. Wer das Planungswesen - zum Beispiel das Bildungsplanungswesen - betrachtet, muß eigentlich zum Schluß kommen, dieser Verlauf sei der wahrscheinlichere: Planung ist - jedenfalls häufig - Fortsetzung des Chaos unter Verwendung anderer Mittel. Das ist die List der Unvernunft: Die· Machensallmacht der Menschen wiederermächtigt das Unverfügbare, das Verhängnis; ihr autonomer Kontrafatalismus entpuppt sich als konterautonomer Fatalismus; indem sie - machselig - das Fatum vertreiben, rufen sie es gerade herbei; und just dort, wo die Menschen - offiziell- zu Erben seines absoluten Endes werden, ist dann - inoffiziell - das Schicksal unabweislich wieder da.
5. Anfang mit bösem Ende. Das waren zwei Hinweise, nur zwei, um eine riskante Globalthese zu erläutern, die ich folgendermaßen formuliert hatte: Modern, nach dem Ende des Schicks als endes Gott, gehört zur offiziellen Defatalisierung der Welt ihre inoffizielle Refatalisierung; oder anders gesagt: Resultat der modernen Entmächtigung der göttlichen Allmacht ist nicht nur der offizielle Triumph der menschlichen Freiheit, sondern auch die inoffizielle Wiederkehr des
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Schicksals. Ich hatte Gelegenheit anzudeuten, wie sehr diese Wiederkehr des Fatums zugleich die Permanenz von Fatalitäten ist: nicht zwar schlechthin, wohl aber dort, wo die Menschen die Anknüpfungspflichten ihrer Endlichkeitsverfassung vergessen und die Position kontrafaktischer Onmipotenz okkupieren. Gerade dies - also nicht der in meinem ersten Hinweis skizzierte neuzeitliche Fatalismus der menschlich gegenabsoluten Bescheidenheit, sondern der im zweiten Hinweis skizzierte gegenneuzeitliche Fatalismus, der aus dem Schritt in die gegenmenschliche Unbescheidenheit der menschlich versuchten Allmacht resultiert - scheint der herrschende Trend zu sein. Darum kann man die Befürchtung hegen: Es wird bös' enden. 39 Wer die Erwägung einer indirekten Wiederkehr des Schicksals bös' endet mit der Befürchtung, es werde bös' enden, hat allen Anlaß, auf zwei resultats relativierende Umstände hinzuweisen. Erstens: Mit meiner überlegung fängt sie an, diese Vortragsreihe, aber sie hört - Gott sei Dank - nicht mit meiner überlegung auf; und so darf der Anfänger dieser Reihe die Erwartungen von sich selber ab- und auf diejenigen lenken, die nicht - als Anfänger - zuerst, sondern erst nach dem Anfänger als die Fortgeschrittenen sprechen werden. Zweitens: Ich muß - wegen dieses Anfangs mit dem bösen Ende - Wert darauf legen, daß dasjenige gilt, was ich zu Beginn sagte: Es kam mir hier darauf an, den Einweggedanken zu fassen, einen unbeständigen Gedanken, der von seinem belastenden Inhalt gleich wieder entlastet, weil er alsbald verschwindet; denn - ich wiederhole es - der Einweggedanke ist derjenige Gedanke, der nur einmal gedacht und gebraucht wird und dann - es sei denn, fatalerweise, als Problem der Umweltverschmutzung - nie wieder auftaucht; justament so - denke ich - verhält es sich hier mit diesem Wegwerftheorem über das mißlungene Ende und die indirekte Wiederermächtigung des Schicksals.
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Anmerkungen 1 An dieser Formulierung sind G. Patzig und ehr. Meier mindestens mit schuld. . 2 Vgl. den Artikel .Schicksal. in: Deutsches Wörterbuch, hrsg. von J. und W. Grimm, Bd. 8, Leipzig 1893, Sp. 2659 f. 3 Vgl. insbes. den Artikel .Heimarmene« (W. GundeI) in: Pau/ys Realencyclopädie der Classischen Altertumswissenschaft, beg. von G. Wissowa, Bd.7, Stuttgart 1912, Sp.2622-45; den Artikel .Fatum« (Heimarmene) (H. O. Schröder) in: Realenzyklopädie für Antike und Christentum, Bd.7, Stuttgart 1969, Sp.524 bis 636. 4 Vgl. M. Landmann, .Virtus und Fatum«, in: M. L., Pluralität und Antinomie, München/BaseI1963, S.151-197; M. L., »Eine Lanze für das Schicksal., in: M. L., Das Ende des Individuums. Anthropologische Skizzen, Stuttgart 1971, S.208-214. J. W. Goethe, Faust 11, V. 5061-64, in: Werke, Hamburger Ausg. in 14 Bdn., Bd. 3, München 1°1976, S. 158. 6 K. Marx, Der 18te Brumaire des Louis Napoleon, in: K. Marx/ F. Engels, Werke, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. 8, Berlin 1960, S. 115. 7 Novalis, »Das Allgemeine Brouillon« (1798/99), in: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hrsg. von P. Kluckhohn und R. Samuel, Bd.3, Stuttgart 21969, S.247f. 8 O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes (1918), München 1972, S. 152 ff. 9 Vgl. H. J. Eysenck, Vererbung, Intelligenz und Erziehung. Zur Kritik der pädagogischen Milieutheorie (1971), Stuttgart 1975, S. 36 ff. 10 L. Szondi, Schicksalsanalyse (1944), Basel 21948. 11 U. Sonnemann, Negative Anthropologie. Vorstudien zur Sabotage des Schicksals, Hamburg 1969. 12 Tb. Mann, .Freud und die Zukunft« (1936), in: Werke. Schriften und Reden zur Literatur, Kunst und Philosophie, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1960, S. 222,221; vgl. insges. S.213-231. 13 F. Tb. Vischer, Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft (1879), Stuttgart/Leipzig/BerlinlWien s1891, S.24 u. ö.; W. v. Scholz,
Der Zufall, eine Vorform des Schicksals (Die Anziehungskraft des Bezüglichen), Stuttgart 1924. 14 T. Wolfe, Radical Chic und Mau Mau bei der Wohlfahrtsbehörde (1970), Hamburg 1972, bes. S. 5 H.
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15 Repräsentativ: F. W. J. Schelling, »Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kritizismus. (1795), in: Sämmtliche Werke, hrsg. von K. F. A. Schelling, Abt. 1, Bd.1, Stuttgart/Augsburg 1857, bes. S. 336f.; »Philosophie der Kunst« (1802), ebd., Abt.1, Bd.5, 1860, 5.693 H.; vgl. ebd., 5.429 f., sowie .System des transzendentalen Idealismus. (1800), ebd., Abt. 1, Bd.3, 1860, 5.603 f.: Die Geschichtsperiode des »Schicksals« ist die »tragische«, die Tragödie Kollision von Freiheit und Schicksal, während das »Epos [ ... ] ohne Schicksal. ist (Bd. 5, S. 646). Dagegen G. W. F. Hegel: Es herrscht »im Epos, nicht aber, wie man es gewöhnlich nimmt, im Drama [ ...] das Schicksal.; »Vorlesungen über die Ästhetik. (1818ff.), in: Werke in 20 Bänden, TheorieWerkausg., Red. E. Moldenhauer und K. M. Michel, Bd.15, Frankfurt a. M. 1970, S. 364; vgl. 5.521 ff.: Die Tragödie läßt das Schicksal hinter sich und etabliert die sittliche Welt. Vgl. insges. B. v. Wiese, Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel (1948), Hamburg 81961. 16 F. Schiller, »Die Piccolomini. (1799) 1I, 6, in: Sämtliche Werke, Säkularausg. in 16 Bdn., Bd. 5, hrsg. von J. Minor, Stuttgart/Berlin [1905], 5.105. 17 In: Werke, Hamburger Ausg., Bd.1, München 1°1974, 5.359. 18 F. Raimund, »Der Verschwender. Original-Zaubermärchen in drei Aufzügen« (1834) III,6, in: Sämtliche Werke, hist.-krit. Säkularausg., hrsg. von F. Brukner und E. Castle, Bd.2, Wien [1934], S. 434f. Vgl. zum Thema Gleichheit durch Schicksal und Gleichheit der Schicksale u. a. P. H. Azijs, Des compensations dans les destinees humaines (1808), Bd.1, Paris 31818, 5.29: .Le sort de I'homme, considere dans son ensemble, est I'ouvrage de la nature entiere, et tous les hommes sont egaux par leur sort.' 19 [F. Quinn] »Ein Mann kehrt heim., Text und Musik von P. Orloff, in: top Schlagertextheft, Nr. 43, Hamburg [0. J.], S. 12. 20 Vgl. den Artikel »Fatum., in: REAC (s. Anm. 3). 21 Tatian, Dratio ad Graecos 9,5; ich muß hier übergehen, daß in der Vätertradition im Grunde schon seit Justin - vgl. insbes. Augustinus (u. a. De civitate Dei 5,Iff.) - diese disjunktive zuweilen zu einer mediatisierenden Interpretation abgeschwächt wird: Die omnipotente Providenz Gottes ist dann nicht mehr die Negation des Fatums, denn dieses gilt nunmehr als schiefer bzw. uneigentlieher Ausdruck für die göttliche Providenz; eine moderne Version gibt R. Guardini, Freiheit, Gnade, Schicksal (1948), München 51967, bes. S.173ff.
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22 Vgl. u. a, H. Lübbe, Fortschritt als Orientierungsproblem, Freiburg 1975, bes. S. 176 ff. 23 F. Nietzsehe, u. a. in: Die fröhliche Wissenschaft (1881182), in: Werke, hrsg. von K. Schlechta, Bd.2, München 1955, S.115, 126-128,206; Also sprach Zarathustra (1883/84), ebd., S. 279,280, 348 (»an seinem Mitleiden mit den Menschen ist Gott gestorben.), S.498, 501, 522 f. 24 L. Oeing-Hanhoff, »Mensch und Recht bei Thomas von Aquin., in: Philosophisches Jahrbuch 82 (1975) S. 29; vgl. S. 28-31. 25 J. Habermas, »Dialektischer Idealismus im Ubergang zum Materialismus - Geschichtsphilosophische Folgerungen aus Schellings Idee einer Contraction Gottes. (1963), in: J. H., Theorie und Praxis, Frankfurt a. M. 1971, S. 172-227, bes. S.190-193. 26 D. Sölle, Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem ,Tode Gottes<, Stuttgart/Beriin 1965, bes. S. 189-205; D. S., Atheistisch an Gott glauben, Olten 1968, bes. S. 68 ff. 27 Vgl. insbes. M. Heidegger, »Die seinsgeschichtliche Bestimmung des Nihilismus. (1944-46), in: M. H., Nietzsche, Bd. 2, Pfullingen 1961, S.335-398, bes. S. 353: »Es bleibt bei der Verborgenheit des Seins als solchen. Das Sein selbst bleibt aus«; S. 355: »Das Sein selbst entzieht sich«; S. 383: »Das Wesende des Nihilismus ist das Ausbleiben des Seins als solchen [ ...] das Sein [hält] mit seinem eigenen Wesen an sich [ ...]. Wenn aber das Sein selbst in seinen fernsten Vorenthalt sich entzieht, steht das Seiende als solches, losgelassen in die ausschließliche Maßgabe für >das Sein<, in das Ganze seiner Herrschaft auf. Das Seiende als solches erscheint als der Wille zur Macht .• Vgl. W. Weischedei, Der Gott der Philosophen, Bd. 1, Darmstadt 1972, bes. S. 491 f. 28 Vgl. O. Marquard, »Idealismus und Theodizee. (1965), in: O. M., Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a. M. 1973, S. 52--65. 29 M. Heidegger, Sein und Zeit, Halle 1927; A. Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940), Frankfurt a. M. 91971. 30 H. Blumenberg, Selbsterhaltung und Beharrung. Zur Konstitution der neuzeitlichen Rationalität, Wiesbaden 1970; vgl. bes. S. 39: »primär als ein Satz über die Beweislast•. 31 M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, Berlin 1967; Zusammenfassung S. 312: »[ ...] präsumtive Verbindlichkeit der Präjudizien. Es besteht eine (widerlegliehe) Vermutung zugunsten der
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Ende des Schicksals? Vernünftigkeit sämtlicher Präjudizien«; vgl. M. K., Die Herausforderung des Ver!assungsstaats, Neuwied/Berlin 1970, bes. S.18-20. N. Luhmann, »Status quo als Argument«, in: H. Baier (Hrsg.), Studenten in Opposition. Beiträge zur Soziologie der deutschen Hochschule, Bielefeld 1968, S. 73-82, bes. S. 78, 81. Von griech. Un:6A.r]'lj!L~, Anknüpfen an das, was der Vorredner gesagt hat; vgl. J. Ritter, Metaphysik und Politik, Frankfurt a. M. 1969, S.64: Die »hermeneutische Methode führt [ ...] auf den Weg der hypoleptischen Anknüpfung«; S.66: »hermeneutische Hypolepsis«. Vgl. den Artikel »Hypolepsis« von G. Bien in: J. Ritter Eu. a.] (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.3, BaseVSruttgart 1974, Sp.1252-54. VgI. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode (1960), Tübingen 31972, S.250-290; geprüft werden muß, was Krieles »präsumtive Verbindlichkeit der Präjudizien« mit Gadamers »Rehabilitierung des Begriffes des Vorurteils« (S.261) zu run hat. G. W. F. HegeI, Grundlinien der Philosophie des Rechts(1821), in: Werke, Theorie-Werkausg., Bd. 7,1970, S.26. F. H. Tenbruck, Zur Kritik der planenden Vernunft, Freiburgl München 1972. M. Sperber, Die Achillesferse (dt. 1960), Frankfurt a. M./Hamburg 1969, bes. S. 75 f. G. Büchner, Sämtliche Werke nebst Briefen und anderen Dokumenten, hrsg. von H. J. Meinerts, Darmstadt 1963, S. 391. Im Sinne von I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1788), in: Gesammelte Schriften, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd.5, Berlin 1908, S. 122 H. Formulierung eines Schwabing-Oblomow in: May Spils (Reg.), Zur Sache, Schätzchen, Frankfurt a. M., Nobis-Verleih, 1969; vgI. F. Schiller, Die Braut von M essina (1803) 1,8, in: Sämtliche Werke, Säkularausg., Bd.7, [1905], S. 41: »Ja, es hat nicht gut begonnen, glaubt mir, und es endet nicht gut.«
Lob des Polytheismus aber Monomythie und Polymythie
Das Bewußtsein der hohen Ehre, die mir widerfährt durch die Einladung, in Ihrem Mythenkolloquium zu sprechen, verbindet sich bei mir mit einer heftigen Furcht und einer zaghaften Hoffnung. Ich fürchte, Sie haben mich eingeladen, weil Sie bei mir mythologiephilosophische Kompetenz vermuten. Das wäre ein glatter Irrtum: ich habe keine. Wohl aber habe ich etwas anderes, nämlich die eben erwähnte zaghafte Hoffnung, daß Sie mich ganz im Gegenteil- um diese meine mythologiephilosophische Inkompetenz mehr als mir lieb sein kann wissend - aus zwei sehr anderen Gründen eingeladen haben, entweder aus dem einen oder aus dem anderen oder sogar aus beiden. Der eine Grund wäre dieser: Sie lassen mich nicht nur trotz, sondern gerade wegen meiner mythologiephilosophischen Inkompetenz sprechen: weil man hier in diesem Kolloquium - sagen wir einmal: aus Paritätsgründen - einen Nichtsachverständigenvertreter zu Wort kommen lassen will mit einer paradigmatisch inkompetenten Äußerung; nur einen zwar (schließlich haben alle Paritätsregelungen einmal klein angefangen), aber immerhin wenigstens einen; und in diesem Fall ist es ganz plausibel, daß man, wenn schon nicht notwendigerweise mich, so doch jedenfalls einen Auswärtigen chartert: Wer will schon eine Untat verrichten und dann am Tatort bleiben müssen? Der andere Grund wäre dieser: Sie haben erfahren, daß ich der Philosophie » Inkompetenzkompensationskompetenz« zuspreche; wenn das - so mögen Sie folgern - generell zutreffen soll, muß es auch im speziellen Fall - also für das Thema Mythos - zutreffen; und dann soll eben der Urheber dieser philosophiebezüglich halbüblen Nachrede einmal zeigen, was er einschlägig zu bieten hat.
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Lob des Polytheismus
Wohlan denn, ich biete: und zwar ein Lob des Polytheismus. Und ich trage damit natürlich sozusagen Eulen nach Athen, nach Spree-Athen; denn es handelt sich um überlegungen, die sich - und zwar keineswegs zufällig - mit Gedanken berühren, welche - ungleich länger als ich - an Ihrem hiesigen Konkurrenzbetrieb Michael Landmann! zu hegen pflegt und mehrfach publiziert hat: wie oft bei ihm am pointiertesten in Pluralität und Antinomie . Was ich - und ich gehe dabei nicht weiter als Landmann, sondern nur (vermutlich) zu weit - nun meinerseits hierzu einschlägig sagen möchte, sage ich in folgenden vier Abschnitten: 1. Zweifel am Striptease; 2. Monomythie und Polymythie; 3. Das Unbehagen am Monomythos; 4. Plädoyer für aufgeklärte Polymythie. Und ich beginne - ganz konventionell - mit Abschnitt 1. Zweifel am Striptease. Der Mythos ist gegenwartlg polymorph kontrovers. Aber man darf dabei ruhig simplifizieren; und sollte man es nicht dürfen: ich tue es trotzdem. Es gibt - meine ich - zunächst zwei Grundpositionen, zu denen alsbald eine dritte sich gesellt. Die beiden ersten haben eine gemeinsame Prämisse. Wilhelm Nestles Erfolgstitel Vom Mythos zum Logos2, der für Griechisches erfunden wurde, scheint über das von ihm Gemeinte hinaus den Gang der Weltgeschichte des Bewußtseins in ihrem späten Stadium insgesamt zu charakterisieren: als Aufklärung ist sie - scheint es: und es ist dabei egal, ob dies präzis dem Sinn der Bultmannschen Formel entspricht oder nicht - der große Prozeß der Entmythologisierung. Mythos - was immer er sonst noch sein mag - ist dann jedenfalls dies: etwas, was wir im Begriff sind, hinter uns zu haben; und daß das so ist: das ist entweder - Position 1 - gut oder - Position 2 - schlimm. Diese beiden Positionen - das mehr Qder weniger freudige Ja zum Untergang des Mythos: von Comte bis Horkheimer-Adorno und Topitsch; das mehr oder weniger energisch warnende Nein dazu: von Vico bis zur Heideggerschule - sind einigermaßen unvermeidlich im Spiel, wenn die Weltge-
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schichte des Bewußtseins zumindest in ihrem späten Stadium - als Aufklärung - dieses sein soll: der Prozeß der Entmythologisierung. Aber ist sie das wirklich? Diese Geschichte des Prozesses der Entmythologisierung ist - meine ich - selber ein Mythos; und daß so der Tod des Mythos selber zum Mythos wird, beweist ein wenig des Mythos relative Unsterblichkeit. Es ist zumindest ein Indiz dafür, daß wir ohne Mythen nicht auskommen. Auch diese Meinung":: Position 3 - ist keineswegs neu: bei Levi-Strauss ist sie impliziert und - wenn ich es richtig sehe - bei Hans Blumenberg auch; ausdrücklich vertreten wurde sie von Kolakowski. 3 Ich mache mir hier -ohne in jedem Fall die angebotene Begründung zu übernehmen - diese dritte Meinung zu eigen. Die Menschen können ohne Mythen nicht leben; und das sollte nicht verwunderlich sein, denn was sind Mythen? Ein »mythophilos« - Aristoteles bezeichnet sich so - ist einer, der gern Geschichten hört: den täglichen Klatsch, Legenden, Fabeln, Sagen, Epen, Reiseerzählungen, Märchen, Kriminal,romane, und was es an Geschichten sonst noch gibt. Mythen sind - ganz elementar - justament dieses: Geschichten. Man mag sagen: Ein Mythos ist fiktiver als eine »history« und realer als eine »story«; aber das ändert nichts am Grundbefund: Mythen sind Geschichten. Wer den Mythos verabschieden will, muß also die Geschichten verabschieden, und das geht nicht; denn: »Wir Menschen sind immer in Geschichten verstrickt«, meint Wilhelm Schapp; »die Geschichte steht für den Mann«,4 schreibt er und meint damit jeden Menschen und hat recht. Es ist diese unsere unvermeidliche Verstrikkung in Geschichten, die uns zum Erzählen dieser und anderer Geschichten zwingt; das ist bei dem, was uns widerfährt, zuweilen die einzige Freiheit, die uns bleibt: das an den Geschichten, was wir nicht ändern können, wenigstens zu erzählen und umzuerzählen. Wir tun das auch dann, wenn dabei fast unkenntlich wird, daß es sich um eine Geschichte handelt; Prometheus : hier steht der Mann für die
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Geschichte, die für den Mann steht. Natürlich ist die Frage interessant, wann Mythen so ultrakurz sein dürfen und wann sie - wie Hans Blumenberg das nennt - »mythische Umständlichkeit«5 entwickeln müssen; aber so oder so: es handelt sich um Geschichten. Und wichtig ist sicher auch, ob Geschichten - wie Gehlen6 meint - dann zu Mythen werden, wenn sie gewissermaßen >ungesättigt< bleiben dadurch, daß die empirische Identifizierbarkeit ihres Personals suspendiert ist: im Grunde agieren dann dort Platzhalter in .einer »Erzählung an sich«, die erst bei der Rezeption konkret besetzt wird: so steht die Geschichte für jedermann; aber doch eben: eine Geschichte. Und selbst, wenn es scheint, daß der Kern dieser Geschichte ein »semiologisches System«7 ist und gleichsam maskierte Mathematik, handelt es sich dann um Mythen nicht deswegen, weil diese Geschichten Mathematik, sondern deswegen, weil diese Mathematik Geschichten sind. All das differenziert zwar, aber zugleich bestätigt es den Grundbefund: Mythen sind Geschichten. Freilich: ist es nicht so, daß das Erzählen von Geschichten aufhört, sobald man wirklich weiß? Müssen nicht dort, wo die Wahrheit auftritt, die Mythen verschwinden? Doch gerade das ist - scheint mir - ganz und gar ein Irrtum. Ich bestreite nicht, daß Mythen in die noch leere Stelle der Wahrheit faktisch eingetreten sind, wo die Menschen noch nicht wußten; aber das ist eine Zweckentfremdung. Denn Mythen sind, wo sie nicht kontermythisch umfunktioniert werden, eben keine Vorstufen und Prothesen der Wahrheit, sondern die mythische Technik - das Erzählen von Geschichten - ist wesentlich etwas anderes, nämlich die Kunst, die (nicht etwa fehlende, sondern) vorhandene Wahrheit in die Reichweite unserer Lebensbegabung zu bringen. Da ist nämlich die Wahrheit in der Regel noch nicht, wenn sie entweder - wie etwa die Resultate exakter Wissenschaft z. B. als Formeln - noch unbeziehbar abstrakt oder - wie etwa die Wahrheit über das Leben: der Tod - unlebbar grausam ist: Da dürfen dann nicht nur, da müssen die Geschichten - die
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Mythen - herbei, um diese Wahrheiten in unsere Lebenswelt hereinzuerzählen oder um sie in unserer Lebenswelt in jener Distanz zu erzählen, in der wir es mit ihnen aushalten. Dafür haben wir nämlich - letzten Endes - nichts anderes als die Geschichten, insbesondere, wenn das gilt, was Schelling sagte: »Die Sprache selbst sei nur die verblichene Mythologie!«8 Eines ist die Wahrheit, ein anderes, wie sich mit der Wahrheit leben läßt: für jene ist - kognitiv - das Wissen, für dieses sind - vital- die Geschichten da. Denn das Wissen hat es mit Wahrheit und Irrtum zu tun, die Geschichten mit Glück und Unglück: ihr Pensum ist nicht die Wahrheit, sondern der modus vivendi mit der Wahrheit (darum - nota bene - ist es tröstlich, von den Dichtern zu wissen, daß sie wenigstens lügen können). So dürfen also dort, wo die Wahrheit auftritt, die Geschichten - die Mythen - nicht aufhören, denn gerade dort müssen sie ganz im Gegenteil allererst anfangen: das Wissen ist nicht das Grab, sondern das Startloch der Mythologie. Denn wir brauchen zwar die »besprochene«, aber wir leben in der »erzählten Welt«9. Drum eben gilt: Es geht nicht ohne Mythen: narrare necesse est. Deshalb können wir die Mythen nicht einfach ablegen wie Kleider, obwohl ja auch das Ablegen von Kleidern zuweilen nicht ganz einfach ist. »Meine Identität ist mein Anzug«, sagte Gottfried Benn. Der eine der großen Zürcher Textilmetaphoriker, Gottfried Keller, schrieb: »Kleider machen Leute«; und wenn es doch - »die Geschichte steht für den Mann« - so ist, daß Geschichten Leute machen, haben offenbar Kleider, die Leute machen, etwas zu tun mit Geschichten, die Leute machen; drum auch schrieb der andere der großen Zürcher Textilmetaphoriker, Max Frisch, in seinem Gantenbein: »Ich probiere Geschichten an wie Kleider«.lO Aber aus Gantenbeins Qual der Wahl angesichts des Reichtums seiner Mythengarderobe ist eben nicht zu folgern, daß er er selbst ist erst dann, wenn er keine Geschichte mehr anhat; und so stimmt es auch nicht, daß die
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Weltgeschichte des Bewußtseins das ist, als was man sie - wie ich eingangs sagte - sehen will: ein >Fortschritt< genannter Striptease, bei dem die Menschheit nach und nach - mehr oder weniger elegant - ihre Mythen ablegt und schließlich sozusagen mit nichts als sich selber am Leibe - mythisch nackt dasteht: ganz nur noch bloße Menschheit. Dieses Bild ist nicht frivol, sondern hält sich streng im Rahmen der von Blumenberg untersuchten Metaphorik der »nackten Wahrheit«.l1 Ernil Lask sprach vom »logisch Nackten«; so darf man auch vom mythisch Nackten sprechen: das ist im menschlichen Fundamentalbereich jenes Nackte, das es nicht gibt. Der Mythonudismus erstrebt Unmögliches; denn - so scheint es mir - jede Entmythologisierung ist ein wohlkompensierter Vorgang: je mehr Mythen einer auszieht, desto mehr Mythen behält er an. Darum eben habe ich Zweifel am Striptease: Zweifel- genauer gesagt - an der Vorstellung der spätweltgeschichtlichen Aufklärung als Mythen-Striptease. Diese Vorstellung - sagte ich- ist selber ein Mythos; so ist es fällig, dazu einen Gegenmythos zu finden. Sie alle kennen Andersens sozialpsychologisches Märchen von »des Kaisers neuen Kleidern« und erinnern sich: Da hatten clevere Manager der Branche zur Produktion und zum Vertrieb jener Kleider, welche Leute machen, der herrschenden Klasse die Nullgarderobe aufgeschwatzt; die Sache funktionierte, bis ein zeitkritischer Dreikäsehoch ausrief: Die haben ja nichts an! (Das war zu jener Zeit, als das Kritisieren noch geholfen hat.) Beim jetzt, in unserer Zeit, gesuchten Gegenmythos überschrift etwa: »Der Striptease, der keiner war« - muß es umgekehrt sein: da ist die mythische Nullgarderobe gerade das ausdrücklich proklamierte Ziel, da strebt die wissenschaftliche und emanzipatorische Avantgarde nach mythischer Nudität und glaubt, sie zu haben; und hier- scheint mir - funktioniert die Sache vielleicht ebenfalls nur so lange, bis ein phänomenologisch-hermeneutischer Dreikäsehoch auftritt und per naivitatem institutam et per doctam ignorantiam etwa ausruft: Sie da, der Herr aus dem späten Wiener Kreis,
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Sie haben ja immer noch Mythen an! Was dem Betreffenden sicher gleichfalls sehr peinlich ist, selbst wenn er - denkt man z. B. an Ernst Topitsch - ein echtes Erzähltalent ist: welch pralle Mythen enthält doch sein »Naturgeschichte der Illusion« unterbetiteltes Buch;12 und auch das verbindet ihn mit den alten Mythologen, daß er immer wieder dasselbe erzählt. Ich räume ein: ein Philosoph, der jenen vermeintlichen Striptease als tatsächlichen Mummenschanz durchschaut, muß schon über sensible Methoden verfügen; so etwas Halbes wie etwa die Semi-Otik reicht da keineswegs aus, da muß schon jemand holotisch ein Hermeneutiker sein, um so zu intervenieren. Aber recht - scheint mir - hätte er ja wohl: Wir können die Geschichten - die Mythen - nicht loswerden; wer es trotzdem glaubt, betrügt sich selber. Menschen sind mythenpflichtig; ein mythisch nacktes Leben ohne Geschichten ist nicht möglich. Die Mythen abzuschaffen: das ist aussichtslos. 2. Monomythie und Polymythie. Durch diesen einleitenden Hinweis wollte ich - dem ersten Anschein entgegen - nicht dartun, daß die Aufklärung arbeitslos wird, daß das Pensum der MX!henkritik entfällt. Denn: wenn es aussichtslos ist, die Mythen abzuschaffen, so folgt daraus nicht, daß es am Mythos nichts mehr zu kritisieren gibt; ganz im Gegenteil: erst jetzt bekommt das Aufklärungspensum der Mythenkritik präzise Konturen. Nicht wahr: Wer angesichts von avancierten Knollenblätterpilzen die Forderung erhebt, man solle das Essen gänzlich bleibenlassen, der geht - scheint mireinfach zu weit und wird nichts ausrichten; ein Ideologiekritiker könnte entlarvungsbeflissen schließen, so einer habe Interesse am Verhungern der anderen. Die vernünftige Maßnahme ist hierbei doch die, die längst erfolgreich ergriffen wurde: eine genaue Unterscheidung des Eßbaren und Giftigen. Just so beim Mythos: Angesichts der Mythenpflichtigkeit der Menschen wird die Mythenkritik sinnvoll und vernünftig genau dann, wenn man die Mythen nicht
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mehr pauschal abwehrt, sondern wenn man bekömmliche und schädliche Mythensorten zu unterscheiden versucht und gegen die schädlichen antritt. Es gibt giftig~lI.:1nl!en, und ich will hier zu sagen versuchen, welche das sind. Meine These - eine Arbeitshypothese - ist diese: Gefährlich ist immer und mindestens der Monomythos ; ungefährlich hingegen sind die Polymythen. Man muß viele Mythen - viele Geschichten - haben dürfen, darauf kommt es an; wer - zusammen mit allen anderen Menschennur einen Mythos - nur eine einzige Geschichte - hat und haben darf, ist schlimm dran. Darum eben gilt: Bekömmlich ist Polymythie, schädlich ist Monomythie. Wer polymythisch - durch Leben und Erzählen - an vielen Geschichten teilnimmt, hat durch die jeweils eine Geschichte Freiheit von der jeweils anderen et vice versa und durch weitere Interferenzen vielfach überkreuz; wer monomythisch - durch Leben und Erzählen - nur an einer einzigen Geschichte teilnehmen darf und muß, hat diese Freiheit nicht: er ist ganz und gar - sozusagen durch eine monomythische Verstricktseinsgleichschaltung - mit Haut und Haaren von ihr besessen. Wegen dieses Zwangs zur restlosen Identität mit dieser Alleingeschichte verfällt er n~=-Atr.ophie und gerät in das, was man nennen kann: die Unfreiheit der Identität aus Mangel an Nichtidentität. Den Freiheitsspielraum der Nichtidentitäten, der beim Monomythos fehlt, gewährt hingegen die polymythische Geschichtenvielfalt. Sie ist Gewaltenteilung:!3 sie teilt die Gewalt der Geschichte in viele Geschichten; und just dadurch - divide et impera oder divide et fuge, jedenfalls: befreie dich, indem du teilst, d. h. dafür sorgst, daß die Gewalten, die die Geschichten sind, sich beim Zugriff auf dich wechselseitig in Schach halten und so diesen Zugriff limitieren - just dadurch erhält der Mensch die Freiheitsehance, eine je eigene Vielfalt zu haben, d. h. ein Einzelner zu sein. Diese Chance hat er nicht, sobald die Gewalt einer einzigen Geschichte ihn ungeteilt beherrscht; dort - beim Monomythos - muß er die Nichtidentitätsverfassung seiner
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Geschichtenvielfalt vor dieser Monogeschichte auslöschen; er unterwirft sich dem absoluten Alleinmythos im Singular, der keine anderen Mythen neben sich duldet, weil er gebietet: Ich bin deine einzige Geschichte, du sollst keine anderen Geschichten haben neben mir. Ich meine nun - denn als Opfer der Hochschuldidaktik weiß ich ja: um verständlich zu reden, soll man Beispiele bringen; aber ich bringe hier nicht nur ein Beispiel, sondern gleich das einschlägige Zentral-, Haupt- und Endspiel- ich meine also: Von dieser monomythischen Art ist der erfolgreichste Mythos der modernen Welt: der Mythos des unaufhaltsamen weltgeschichtlichen Fortschritts zur Freiheit in Gestalt der Geschichtsphilosophie der revolutionären Emanzipation. Das - Levi-Strauss nennt ihn den »Mythos der Französischen Revolution«14 - ist ein Monomythos: er duldet - antihistoristisch - keine Geschichten neben dieser einen emanzipatorischen Weltgeschichte. Hier zeigt sich: Man kann zwar die Mythen - die Geschichten - nicht abschaffen, aber man kann sie durch Etablierung eines Monopolmythos zentralisieren und dadurch entpluralisieren. Das geschieht hier: In der Mitte des 18. Jahrhunderts - Reinhart Koselleck hat das durch seine begriffsgeschichtlichen Untersuchungen gezeigtlS - proklamiert die Geschichtsphilosophie, die dort entsteht und ihren Namen bekommt, gegen den bisherigen Plural der Geschichten »die« Geschichte. Seither - seit diesem »Zeitalter der Singularisierungen«16, in dem aus den Fortschritten »der« Fortschritt, aus den Freiheiten »die« Freiheit, aus den Revolutionen »die« Revolution und eben aus den Geschichten »die« Geschichte wird - darf die Menschheit sich nicht mehr in Sondergeschichten verzetteln, indem sie multiindividuell oder multikulturell je eigene Wege zur Humanität geht, sondern sie hat fortan zielstrebig diese eine einzige Fortschritts geschichte zu durcheilen als einzig möglichen Weg zum Ziel der Menschheit: Durch diese hohle Gasse muß sie kommen: es führt kein andrer Weg zur Freiheit, hier vollend't sie's, die Notwendigkeit ist mit ihr: wenigstens scheint das so.
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Wer sich dieser einen Emanzipationsgeschichte in Eigengeschichten entzieht, wird fortan zum Häretiker, zum Geschichtsverräter, zum Menschheitsfeind: bestenfalls ist er ein Reaktionär. So führt dieser Monomythos jener Geschichte, die nicht mehr »eine«, sondern »die« Geschichte zu sein beansprucht, zum Ende der Polymythie; ich möchte es nennen: das zweite Ende der Polymythie. Denn dieses zweite Ende der Polymythie ist ein später Effekt und von langher vorbereitet durch das, was man - entsprechend - nennen kann: das erste Ende der Polymythie. Das war das Ende des Polytheismus. Der Polytheismus nämlich war sozusagen die Klassik der Polymythie. Die Geschichte steht nicht nur für den Menschen, sie steht auch für den Gott: So gab es im Polytheismus deswegen viele Mythen, weil es dort viele Götter gab, die in vielen Geschichten vorkommen und von denen viele Geschichten erzählt werden konnten und mußten. Jene Gewaltenteilung im Absoluten, die der Polytheismus war - eine Gewaltenteilung durch Kampf und noch nicht durch Rechtsregeln - brauchte und brachte die Gewaltenteilung der Geschichten durch Polymythie. Das Ende des Polytheismus ist der Monotheismus; er ist das erste Ende der Polymythie: er ist eine ganz besonders transzendentale - nämlich historische - Bedingung der Möglichkeit der Monomythie. Im Monotheismus negiert der eine Gott eben durch seine Einzigkeit - die vielen Götter. Damit liquidiert er zugleich die vielen Geschichten dieser vielen Götter zugunstim der einzigen Geschichte, die nottut: der Heilsgeschichte; er entmythologisiert die Welt. Das geschieht epochal im Monotheismus der Bibel und des Christentums. Zwar pflegen hier die zuständigen Theologen - unter Hinweis etwa auf die Trinitätslehre - zu protestieren: das Christentum sei - anders als z. B. der Islam - gar kein »richtiger« Monotheismus. Aber es genügt für den Zusammenhang, der hier beschäftigt, daß das Christentum jedenfalls »als« Monotheismus »wirkte«. Der christliche Alleingott bringt das Heil, indem er die Geschichte exklusiv an sich
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reißt. Er verlangt das sacrificium mythorum t7 schon bevor Gott innerhalb der Philosophiegeschichte des Christentums schließlich - zum Ausgang des Mittelalters - seiner heilsgeschichtlichen Macht das Image einer gegenweltlichen Willkürherrschaft gab. Wo dann diese - nominalistisch - von der Welt auch noch das sacrificium essentiae und vom Menschen auch noch das sacrificium intellectus -verlangte, trieb dies Mensch und Welt in die Emanzipation: Der Kopf optiertfürs Profane, wenn dem Menschen theologisch zugemutet wird, vor Gott auch den Kopf abzunehmen; und wo die Heilsgeschichte gegenweltlich wird, muß sich - schon aus Notwehrdie Welt gegengeschichtlich formieren: die Welt wird so indirekt durch den Monotheismus selber - zur Geschichtslosigkeit18 gezwungen. Sie formiert sich neuzeitlich durch Absage auch noch an die letzte, die Heilsgeschichte, und also antigeschichtlich: als exakte Wissenschaftswelt und als System der Bedürfnisse; sie versachlicht sich zur Welt der bloßen Sachen. Die Geschichten werden generell verdächtigt: die Mythen als Aberglaube, die Traditionen als Vorurteile, die Historien als Vehikel des Ablenkungsgeistes der bloßen Bildung. Das Ende des Polytheismus, der Monotheismus, entmythologisiert - im Effekt - die Welt zur Geschichtslosigkeit. 3. Das Unbehagen am Monomythos. Aber die Menschen sind mythenpflichtig: Wenn das - wie ich eingangs sagte - gilt, ist diese Geschichtslosigkeit der modernen Sachlichkeitswelt kein Gewinn, sondern ein Verlust, und zwar einer, der nicht ausgehalten und nicht durchgehalten werden kann. Darum hat die moderne Welt die Mythen und Geschichten nicht überwunden, sondern sie hat faktisch nur ein Geschichtsdefizit erzeugt: eine Leerstelle, eine Vakanz. In diese vakante Stelle tritt jetzt - scheinbar unwiderstehlichder nachmonotheistische Monomythos ein: die durch die Geschichtsphilosophie zu »der« Geschichte im Singular ausgerufene revolutionäre Emanzipationsgeschichte der
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Menschheit (sie mag nun per Utopie als Kurzgeschichte traktiert werden oder per Dialektik mythische Umständlichkeit gewinnen). Das ist - nachdem Gott sich auf dem Weg über seine Einzigkeit aus der Welt schließlich in sein Ende zurückzog - die Fortsetzung der Heilsgeschichte unter Verwendung halb-anderer Mittel: Dieser Mythenbeendigungsmythos bleibt - wie die Heilsgeschichte: nicht als deren Säkularisation, sondern als das Mißlingen ihrer Säkularisation - die Alleingeschiche der Ermächtigung einer Alleinmacht zur Erlösung der Menschheit. Zugleich aber ist dieser Monomythos ,Emanzipationsgeschichte< von der christlichen Heilsgeschichte durch das Ende des Monotheismus getrennt als ihre profane Kopie: er ist also historisch ganz spät und ein moderner Tatbestand; er gehört nicht zur alten, sondern zur ganz neuen Mythologie. Der Ausdruck »neue Mythologie« entstand kurz vor 1800. »Wir müssen eine neue Mythologie haben«, »eine Mythologie der Vernunft«: dies meinte 1796 der Urheber des sogenannten »Ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus«;19 ich gehöre zu denen, die der zuerst von Rosenzweig und zuletzt von Tilliette vertretenen Meinung anhängen, daß das Schelling gewesen sei. 20 Aber Schelling, der so die ,'neue Mythologie« proklamierte, wurde - und das scheint mir bemerkenswert - nicht der Philosoph der neuen, sondern der Philosoph der ganz alten Mythologie. Zwar gilt das noch nicht vom Identitätssystem; dort - in der Kunstphilosophie: darauf hat besonders energisch Peter Szondi21 hingewiesen - gelten vorübergehend noch »berufene Dichter« und »jedes wahrhaft schöpferische Individuum« als interimistische Agenten der neuen Mythologie: jeder soll »von dieser noch im Werden begriffenen [mythologischen] Welt [ ... ] sich seine Mythologie schaffen«22. Aber dannnach dem Ende des Identitätssystems - wird diese Forderung der neuen Mythologie für Schelling offenbar problematisch und schließlich suspekt: Mit ihr verbindet sich nun bei Schelling - scheint es - die Erfahrung, daß wir die neue
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Mythologie nicht erst haben müssen, weil wir sie längst schon in ungutem übermaß haben. Denn - das zeigt sich jetzt und bis in unsere Zeit - die neue Mythologie wurde erfolgreich als Mythologie des Neuen: im Mythos des Fortschritts, der Revolution, der Weltveränderung, des kommenden Reichs, des Generalstreiks,23 des letzten Gefechts und der letzten Klasse, etc. Allemal handelt es sich dabei um Totalorientierung durch die Alleingeschichte der Ermächtigung einer Alleinmacht; das ist eben diejenige Gestalt des Monomythos, die nach dem Christentum möglich und gefährlich wird: der absolute Alleinmythos im Singular, der - als das zweite Ende der Polymythie - die Pluralität der Geschichten verbietet, weil er nur noch eine einzige Geschichte erlaubt: den Monomythos der alleinseligmachenden Revolutionsgeschichte. Wo diese neue Mythologie die gegenwärtige Welt ergreift, wird gerade das liquidiert, was an der Mythologie doch Freiheit war: die Pluralität der Geschichten, die Gewaltenteilung im Absoluten, das große humane Prinzip des Polytheismus. Das Christentum verdrängte ihn aus dem Sonntag der modernen Welt, die neue Mythologie will ihn auch aus ihrem Alltag verdrängen. Darum gehört - wo sie aus Forderung Wirklichkeit wird und wo dies, wie beim späten Schelling, Erfahrung zu werden beginnt - zur neuen Mythologie das Unbehagen an der neuen Mythologie. Die Spätwerke Schellings sind - scheint mir - bereits Reaktion auf dieses Unbehagen: sie nehmen - wörtlich gemeint - Abstand von der neuen Mythologie. Darum kümmert sich Schellings "Philosophie der Mythologie« gerade nicht um die neue, sondern um die ganz alte Mythologie; und darum macht Schellings "Philosophie der Offenbarung« den Versuch, die neue Mythologie in ihrem ältesten Zustand anzuhalten und so als Position zu haben;24 denn die christliche Offenbarung: das ist die älteste neue Mythologie. Schellings Abkehr von der neuen Mythologie durch Zuwendung zur ganz alten ist repräsentativ für das Schicksal des Mytheninteresses der modernen Welt insgesamt. Es ist
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geprägt durch das Unbehagen am Monomythos. Schon gleich, als dieser moderne Monomythos durch die Kreation des Singularbegriffs "die« Geschichte entstand, schon in der von Koselleck so getauften "Sattelzeit« kurz nach 1750 formiert sich - repräsentativ bei Christian Gottlob Heyne im Gegenzug das affirmative Interesse an der Polymythie der alten und immer älteren Mythologie. 2s Wo - vorbereitet durch den Monotheismus und vollstreckt durch den Monomythos der Fortschrittsgeschichte - nach dem Polytheismus auch die Polymythie aus unserer Welt zu verschwinden droht, sucht man sie - durch eine mythologische Wende zum Exotischen - außerhalb ihrer: diachronisch in der Vorzeit oder synchronisch in der Fremde, am besten in der fremden Vorzeit. Solch nostalgische Wende zur exotischen Polymythie vollzieht die von Carl Otlieb Müller so genannte »Morgenländerei« der Altertumskunde: die Mythenforschung geht zurück vor die griechische Klassik auf deren orientalische Prämissen; das ist sozusagen der frühe und verdeckte Versuch einer Mythologie der dritten Welt. Sie hat - meine ich - mindestens drei Stadien: zunächst die mythologische Nachtseitenforschung der klassischen Philologie von Heyne und Zoega über Görres und Creuzer bis Bachofen; dann das - immanent exotische - Morgenländereisurrogat einer Zuwendung zur germanischen Mythologie etwa bei Wagner; schließlich - nach der Konversion sozusagen von Odin zu Mao - die sinologische Linksmorgenländerei unseres Jahrhunderts, die immer noch - trotz des Schritts von Hafis zu Ho - der Devise des West-östlichen Divan folgt: »Flüchte du, im reinen Osten Patriarchenluft zu kosten«;26 diese mythologische Morgenländerei zerfällt heute in Maoismus und Tourismus. Ihre seriöse überbietungsgestalt ist die strukturale Ethnologie: der Versuch insbesondere von LeviStrauss, vom neuen Monomythos des Neuen dadurch Distanz zu gewinnen, daß man ihn der Konkurrenz fremderpolymythischer - Mythologien aussetzt und dadurch relativiert. 27 Hier rumort - Henning Ritter hat das für Levi-Strauss
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gezeigt2 8 - allüberall das Rousseau-Interesse am guten Wilden. Und es genügt dann nicht, daß er in der Vorzeit oder den traurigen Tropen lebt: Die Nostalgie transportiert ihnper Zitat: denn die Menschen sind zitierende Lebewesen - in die gegenwärtigste Gegenwart. Als der Bruch mit dem Etablierten durch Kleidungssitten demonstriert werden sollte, verfiel man nicht zufällig auf den Savage-Iook: Was da - zottig und bärtig - unter uns weilte und weilt, repräsentiert (auf der Spitze der Modernität) den bon sauvagej es ist nicht so, wie der Irrtum der Älteren es suggerieren wollte: da trotten nicht ungepflegte Menschen, sondern gepflegte Zitate: Rousseau-Zitate. Was hier vor sich geht - die Verwandlung des Ältesten ins Modernste, die Promotion des Archaischen zum Avantgardistischen - kann man auch an anderen einschlägigen Vorgängen beobachten, etwa: Wasdurchaus im Kontext der mythologischen Morgenländerei Hegels Ästhetik als die Kunst vor den Verehrungs-, den Reverenzobjekten beim Streit zwischen »Alten« und »Modernen« - vor der »klassischen« und der »romantischen Kunstform« also - identifizierte, die im Anschluß an Creuzers Terminologie so genannte »symbolische Kunstform« der - wie Hegel sagte - »abstrakten« Kunst,29 wird spätestens Anfang des 20. Jahrhunderts zur Losung der Avantgarde. Innerhalb der Ästhetik der »Kunstformen« wird sie sozusagen aus dem ersten Abschnitt zum letzten: aus der frühesten zur fortgeschrittensten Kunst. Auch sie bekommt diesen Avantgarde-Appeal freilich nur, indem sie mit dem Monomythos des Fortschritts paktiert und - als ancilla progressusin seine Dienste tritt: er beherrscht das Feld der Gegenwartscheint es - so sehr, daß auf diesem Felde nur noch leben darf, was sich ihm anpaßt und unterwirft. Das Gesamtschicksal dieser mytheninteressierten Gegenbewegung gegen den neuen Monomythos ist also offenbar nicht glücklich: Weil der Monomythos der Fortschritts-Alleingec schichte die moderne Welt unbehaglich beherrscht, suchen ihre Zeitgenossen die verlorene Polymythie in der exotischen
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Mythologie der Vorzeit und Fremde. Weil das - offenbarnicht genügt, kommt es zum Versuch ihrer Verwandlung in Gegenwart; dabei jedoch hört diese alte Mythologie auf, das zu sein, um dessentwillen man sie suchte: sie verliert ihren polymythischen Charakter durch Unterwerfung unter den Monomythos des Neuen; so bestätigt sie schließlich nur dessen Macht. Es wird also hier die Gegenmaßnahme überdauert durch das, was sie auslöste: duch das Unbehagen am Monomythos. Daraus - scheint mir - folgt: Das Interesse an der exotischen - der alten und der fremden - Mythologie ist ein Symptom, aber keine Lösung. 4. Plädoyer für aufgeklärte Polymythie. Es müssen daher um zu einer Lösung zu kommen - alternative Gegenmaßnahmen erwogen werden. Ich will auch das hier nur in der Form einer kurzen Skizze tun. Dabei verlasse ich das Themenfeld Mythos nicht, ich vergrößere nur den Aktionsradius der mythenbetreffenden Aufmerksamkeit; denn die Aufmerksamkeit nur auf die exotische - die alte und die fremde Mythologie birgt die Gefahr, die Aufmerksamkeit auf einschlägig moderne Phänomene zu blockieren. Das führt dann zu einer künstlich halbierten Charakteristik der Gegenwart, bei der nur das gesehen wird, was ich bisher angesprochen hatte: die moderne Versachlichung, die Geschichtslosigkeit ist, und deren - dann unwiderstehlich scheinende Kompensation durch den neuen Monomythos. Aber zur Gegenwart gehört mehr und mythologisch jedenfalls nicht nur die Monomythie; denn - das ist hier meine mythenbetreffende Abschlußthese - es gibt auch eine Polymythie, die spezifisch der modernen Welt zugehört: auf sie muß man setzen, um das Unbehagen am Monomythos ins Produktive zu wenden. Denn es gilt nicht nur dies: die monotheistische Entmythologisierung ist die indirekte Ermächtigung des neuen Monomythos; es gilt nämlich ebenso dies: die monotheistische Entmythologisierung lanciert gerade modern das, was sie liquidieren wollte: die Polymythie. Wie geht das zu?
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Vielleicht so: Der Monotheismus hat den Polytheismus und mit ihm die Polymythie entzaubert und negiert. Die moderne Welt aber beginnt - im früher angedeuteten Sinn - damit, daß sich Gott aus der Welt in sein Ende zurückzieht: also mit dem Ende des Monotheismus. Dieses Ende des Monotheismus verschafft - wie auch anderen Phänomenen, die der Monotheismus scheinbar bezwang: etwa dem Fatum - dem Polytheismus und der Polymythie eine neue Chance: es läßt sozusagen - ihre Entzauberung bestehen, aber es negiert ihre Negation. Mit anderen Worten: gerade in der modernen Welt können Polytheismus und Polymythie - entzaubert - wiederkehren: als aufgeklärter Polytheismus und als aufgeklärte Polymythie. Ich möchte auf drei Tatbestände hinweisen, die in diesen Kontext gehören. Da ist erstens die entzauberte Wiederkehr des Polytheismus. Der moderne - profane, innerweltliche - Aggregatzustand des Polytheismus ist die politische Gewaltenteilung: sie ist aufgeklärter - säkularisierter - Polytheismus. Sie beginnt nicht erst bei Montesquieu, bei Locke oder bei Aristoteles, sie beginnt schon im Polytheismus: als Gewaltenteilung im Absoluten durch Pluralismus der Götter. Es war der Monotheismus, der ihnen den Himmel verbot und damit auch die Erde streitig machte. Weil sich aber der christlich eine Gott, der die vielen Götter negierte, zu Beginn der Neuzeit aus der Welt in sein Ende zurückzog, liquidierte er nicht nur den Himmel; denn er machte dadurch zugleich die Erde - die Diesseitswelt - frei für eine - nun freilich entzauberte, entgöttlichte - Wiederkehr der vielen Götter. Indem der biblische Monotheismus sie aus dem Himmel vertrieb, wies er sie im Effekt nur aus auf die Erde: dort richten sie sich ein als die zu Institutionen entgötdichten Götter Legislative, Exekutive, Jurisdiktion; als institutionalisierter Streit der Organisationen zur politischen Willens bildung; als Föderalismus; als Konkurrenz der wirtschaftlichen Mächte am Markt; als unendlicher Dissens der Theorien, der Weltsichten und maßgebenden Werte: »Die alten vielen Götter« -
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schreibt Max Weber - »entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf.«30 Da ist zweitens die Genesis des Individuums: es lebt von dieser Gewaltenteilung. 3! Das Individuum entsteht gegen den Monotheismus. Solange - im Polytheismus - viele Götter mächtig waren, hatte der Einzelne - wo er nicht durch politische Monopolgewalt bedroht war - ohne viel Aufhebens seinen Spielraum dadurch, daß er jedem Gott gegenüber immer gerade durch den Dienst für einen anderen entschuldigt und somit temperiert unerreichbar sein konnte: Es braucht ein gewisses Maß an Schlamperei, die durch die Kollision der regierenden Gewalten entsteht, um diesen Freiraum zu haben; ein Minimum an Chaos ist die Bedingung der Möglichkeit der Individualität. Sobald aber - im Monotheismus - nur mehr ein einziger Gott regiert mit einem einzigen Heilsplan, muß der Mensch in dessen totalen Dienst treten und total parieren; da muß er sich ausdrücklich als Einzelner konstituieren und sich die Innerlichkeit erschaffen, um hier standzuhalten; die Allmacht konterkariert er durch Ineffabilität. Darum hat nicht der Polytheismus den Einzelnen erfunden: er brauchte es nicht, weil noch kein Monotheismus da war, der den Einzelnen extrem bedrohte. Der Monotheismus seinerseits aber hat nicht selber den Einzelnen entdeckt, sondern er - freilich gerade er - hat die Entdeckung des Einzelnen nur provoziert, weil zuerst er- der Monotheismus - dem Einzelnen wirklich gefährlich wurde. Darum konnte erst nachmonotheistisch der Einzelne offen hervortreten und - unter der Bedingung des säkularisierten Polytheismus der Gewaltenteilung - erst modern die wirkliche Freiheit haben, ein Individuum zu sein. Diese Freiheit riskiert er, wo er sich - monomythisch - einer neuen Monopolgewalt unterwirft. Fasziniert durch den neuen Mythos der.AlIeingeschichte bleibt er dann auf jener Strecke, die nur vermeintlich die Strecke zum Himmel auf Erden ist, in Wirklichkeit aber
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die zur irdischen Identität von Himmel und Hölle: zur integrierten Ges~mtewigkeit. Darum braucht der Einzelne drittens die entzauberte Wiederkehr der Polymythie, um hier erneut standzuhalten: um seine unausweichliche Mythenpflichtigkeit nicht - monomorph progressiv - durch eine absolute Alleingeschichte, sondern - polymorph transgressiv - durch viele relative Geschichten zu absolvieren. Es gibt sagte ich - eine Polymythie, die spezifisch der modernen Welt zugehört. Man muß das eigens betonen: Die übliche Abwehr einer Definition der Mythen als Geschichten - die man gleichermaßen findet bei Roland Barthes und Alfred Baeumler32 - ist nur der Kunstgriff, mit dem man die Mythen aufs Exotische beschränkt und ausschließt, daß auch die Gegenwart ihre Mythen produziert. Je mehr hingegen die Mythen als Geschichten begriffen werden, um so mehr kann man sehen: es gibt eine spezifisch moderne Polymythie. Von ihren Gestalten nenne ich hier zwei: die Geschichtswissenschaft und das ästhetische Genus Roman. Sie sind spezifisch moderne Phänomene,JJ und sie erforschen oder erfinden, und jedenfalls erzählen sie viele Geschichten. Durch den Monotheismus werden aus den Geschichten die vielen Götter, durch sein Ende wird auch noch der eine Gott aus ihnen als handelnde Zentralfigur getilgt: So - entzaubert - tun die Mythen modern in jeglicher Beziehung den Schritt in die Prosa: aus dem Kult in die Bibliothek. Dort sind die Geschichtswerke und die Roma~e präsent als die Polymythen der modernen Welt: auch das ist aufgeklärter Polytheismus. Das Aufgeklärte an ihnen ist unter anderem, daß sich Fiktion und Realität verschiedener Genera suchen, wenn es auch in den Realgeschichten der Historiker - wo sie Historiker bleiben, d. h. Geschichte erzählend schreiben unvermeidliche Fiktionsreste gibt und in den Fiktionen der Romanciers - auch und gerade nach der modernen Entzauberung des Epos zur »Epopöe der gottverlassenen Welt«J4 - die fundamenta in re. Historien und Romane sind die - aufgeklärten - Polymythen der modernen Welt. J5 Den Umgang
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mit ihnen muß man suchen, um aus jener »nützlichen Idiotie«, zu der das ignorierensleitende Ignoranzinteresse der monomythisch inspirierten direkten utopischen Aktion verführt, in die besonnene Vorsicht der Bildung zurückzufinden: jener Bildung, die Chancengleichheit für die Geschichten - die Polymythen - gewährt: für die Historie, die nichtengagierte, und für die Literatur, die nichtengagierte, deren Liquidierung jenes Vakuum erzeugt, in das der Monomythos eindringt. Es ist fällig, gegenüber der schlechten Fortsetzung des Monotheismus durch Monomythie einzutreten für die modernen Geschichten im Plural - die historischen und die ästhetischen - und in diesem Sinn für einen aufgeklärten Polytheismus, der die individuellen Freiheiten schützt durch die Teilung auch noch jener Gewalten, die die Geschichten sind. Es könnte - erlauben Sie mir diese Schlußbemerkung - sein, daß all das nicht ohne Konsequenzen bleibt auch für die Philosophie. Es scheint mir ebenfalls fällig, daß sie ihre Kollaboration mit dem Monomythos beendet und Distanz gewinnt auch zu all dem, was in ihr selber zu dieser Kollaboration disponiert. Das ist insbesondere das Konzept der Philosophie als orthologischer Mono-Logos: als das Singularisierungsunternehmen der Ermächtigung einer Alleinvernunft durch Dissensverbote, bei dem - als unverbesserliche Störenfriede - die Geschichten apriori nicht zugelassen sind: weil man da erzählt, statt sich zu einigen. Mir scheint, es wäre gut, zu solcher Orthologie jenes lockere Verhältnis wiederzugewinnen, das in bezug auf die Orthographie Mark Twain empfahl, als er sagte: Ich bedauere jeden, der nicht die Phantasie hat, ein Wort mal so, mal so zu schreiben. Jede Philosophie ist eine traurige Wissenschaft, die es nicht vermag, über dieselbe Sache mal dies, mal das zu denken und jenen dieses und diesen jenes denken und weiterdenken zu lassen. In diesem Sinne ist selbst der Einfall suspekt: es lebe der Vielfall. Die Geschichten müssen wieder zugelassen werden: gut gedacht ist halb erzählt; wer noch
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besser denken will, sollte vielleicht ganz erzählen: die Philosophie muß wieder erzählen dürfen und dafür - natürlich den Preis zahlen: das Anerkennen und Ertragen der eigenen Kontingenz. Aber da ahnt man schon die Entsetzensschreie der Innung und ihre empörten Warnungen: daß das Relativismus bedeute - mit den bekannten Widersinnskonsequenzen und fallacies - und bös' enden müsse oder gar im Skeptizismus. Es war einmal ein Skeptiker, der hörte dies und empfand es nicht als Einwand: Was meinen die wohl- murmelte er, als er merkte, daß diese Warnung an ihn selber adressiert war: aber vorsichtshalber murmelte er nur - was meinen die wohl, warum ich ein Skeptiker bin? I like fallacy. Hier stehe ich und kann auch immer noch anders: Ich erzähle - als eine Art Scheherazade, die freilich anerzählen muß jetzt gegen die eigene Tödlichkeit - ich erzähle, also bin ich noch; und so just so - erzähle ich denn: Geschichten und spekulative Kurzgeschichten und andere Philosophiegeschichten und Philosophie als Geschichten und weitere Geschichten und wo es den Mythos betrifft - Geschichten über Geschichten; und wenn ich nicht gestorben bin, dann lebe ich noch heute.
Anmerkungen 1 M. Landmann, »Polytheismus«, in: M. L., Pluralität und Antinomie, München/Basel 1963, S.104-150; vgl. M. L., Pluralistische Endzeit, in: M. L., Das Ende des Individuums. Anthropologische Skizzen, Stuttgart 1971, S. 147ff. 2 W. Nestle, Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates, Stuttgart 1940. 3 C. Levi-Strauss, Das wilde Denken (1962), Frankfurt a.M. 1973, bes. S. 302 ff.; zur Grundfigur des Arguments bei Levi-Strauss was der moderne Mensch nicht sein will, stilisiert er zum Anderen, zur fernen »Natur« und zum »Wilden«: dadurch hört er aber nicht auf, es zu sein - vgl. C. L.-S., Rasse und Geschichte (1952), Frankfurt a. M. 1972, bes. S. 16ff.; exemplarische Anwen-
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dung: C. 1.-S., Das Ende des Totemismus (1962), Frankfurt a. M. 1965; vgl. insges. C. 1.-S., Mythologica (1964H.), bes. Bd. 4,2 (»Der nackte Mensch.), Frankfurt a. M. 1976, bes. S. 765ff.: Der Mythos kann nicht sterben, ohne zugleich in der Musik wiederaufzuerstehen. - H. Blumenberg, »WirklichkeitsbegriH und Wirkungspotential des Mythos«, in: M. Fuhrmann (Hrsg.), Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, München 1971 (Poetik und Hermeneutik, Bd. 4), S. 11-66, vgl. S. 527ff. - 1. Kolakowski, Die Gegenwärtigkeit des Mythos, München 21974. W. Schapp, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Hamburg 1953, S. 1 und 103; zur gegenwärtigen Aufnahme dieses Ansatzes vgl. H. Lübbe, Geschichtsbegri// und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie, BaselJStuttgart 1977, bes. S. 145 fI., 168 H., der zugleich den primären und dominanten Widerfahrnischarakter der Geschichten (bes. S. 54ff.) und ihre Verfassung als »Kontingenzerfahrungskultur« (S. 269 H.) betont. Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff., S. 43 ff. A. Gehlen, Urmensch und Spätkultur, Philosophische Ergebnisse. und Aussagen, Frankfurt a. M. I Bonn 1964, bes. S. 222. R. Barthes, Mythen des Alltags (1957), Frankfurt a.M. 41976, S.88. F. W. J. Schelling, »Philosophie der Mythologie« (1820ff.) in: Sämmtliche Werke, hrsg. von K. F. A. Schelling, Abt. 2, Bd. 2, StuttgartlAugsburg 1857, S. 52. Die Rolle des Mythos ist dabei also nicht nur, Fremdes zum Vertrauten umzuerzählen, sondern ebensosehr, Schreckliches zu distanzieren; Formulierungen zu finden zur Charakteristik des Mythos als Distanzierungs- und Ersparungsverfahren habe ich versucht in meiner Zusammenfassung der Thesen von H. Blumenberg in: Fuhrmann (Hrsg.), Terror und Spiel, S. 527-530. H. Weinrich, Tempus. Besprochene und erzählte Welt (1964), Stuttgart/Berlin/KölnlMainz 21971. M. Frisch, Mein Name sei Gantenbein (1964), Hamburg 1968, S.19. H. Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Bonn 1960, S. 47-58. E. Topitsch, Mythos - Pht1osophie - Politik. Zur Naturgeschichte der Illusion, Freiburg 1969. Vgl. H. Schelsky, Systemüberwindung-Demokratie-Gewaltenteilung, München 1973, bes. S. 55ff.
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14 Levi-Strauss, Das wilde Denken, S. 292; vgl. C. L.-S. Strukturale Anthropologie (1958), Frankfurt a. M. 1971, S. 230: .Nichts ähnelt dem mythischen Denken mehr als die politische Ideologie. In unserer heutigen Gesellschaft hat diese möglicherweise jenes nur ersetzt.« 15 Jetzt zusammenfassend: R. Kaselleck, Artikel »Geschichte, Historie«, in: O. Brunner / W. Conze / R. K., Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1975, bes. S. 658 ff. 16 R. Kaselleck, .Historia magistra vitae. über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte., in: H. Braun / M. Riedel (Hrsg.), Natur und Geschichte, Karl Löwith zum 70. Gebunstag, StuttgartlBeriin/Köln/Mainz 1967, S. 265. 17 Zweifellos rückt diese stark simplifizierende Darstellung Monomythos und christliche Heilsgeschichte zu nahe aneinander: Die christliche Heilsgeschichte - dies soll hier eben dadurch angedeutet werden, daß das Christentum kein »richtiger« Monotheismus sei und als Monotheismus nur »wirkte« - blieb oder wurde eine vergleichsweise liberale Alleingeschichte, die Nebengeschichten und insofern Polymythie - sehr wohl tolerierte oder gar inspirierte. Aber auch noch in der radikalsten und abweisendsten Monomythie bleibt - scheint mir - die Polymythie inoffiziell präsent: Die Rache der monomythisch verdrängten Polymythie am Monomythos ist der Witz. 18 Zum Begriff der »Geschichtslosigkeit« der modernen Gesellschaft vgl. J. Ritter, »Hegel und die französische Revolution« (1957), in: J. R., Metaphysik und Politik, Frankfurt a.M. 1969, bes. S. 227; J. R., .Subjektivität und industrielle Gesellschaft. (1961), in: J. R., Subjektivität, Frankfurt a. M. 1974, bes. S. 27, und J. R., »Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft« (1963), ebd., bes. S. 130 ff. 19 In: R. Bubner (Hrsg.), Das älteste Systemprogramm. Studien zur Frühgeschichte des deutschen Idealismus, Bonn 1973 (HegeIStudien, Beih. 9), S. 265. 20 F. Rosenzweig, Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. Ein handschriftlicher Fund. 1917, Heidelberg 1917. (Sitzungs berichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Stiftung Heinrich Lanz, Philos.-histor. Klasse, Abh. 5). X. Tilliette, »Schelling als Verfasser des Systemprogramms?«, in: Bubner, Das älteste Systemprogramm, S. 35-52. 21 P. Szondi, »Antike und Moderne in der Ästhetik der Goethezeit«
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(1961-70), in: P. S., Poetik und Geschichtsphilosophie, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1974, bes. S. 238f., vgl. S. 225 ff. Vgl. dazu auchP. Szondi in: Fuhrmann (Hrsg.), Terror und Spiel, S. 639f. F. W. J. Schelling, »Philosophie der Kunst« (1802--{)5), in: Sämmtliche Werke, Abt. 1, Bd. 5, 1860, S. 444-446. G. Sore!, Ober die Gewalt (1906), Frankfurt a.M. 1969, bes. S.141ff. F. W. J. Schelling, »Philosophie der Mythologie« (1820ff.), »Philosophie der Offenbarung« (1827ff.); von der hier angedeuteten Interpretation hoffe ich, daß sie kompatibel ist mit W. Schulz, Die Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, Stuttgart 1955, bes. S. 304-306. Vgl. zum Folgenden: K. Gründer, Ein!. zu: J. Bernays, Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie, Hildesheim / New York 1970, S. VIff.; E. Howald (Hrsg.), Der Kampf um Creuzers Symbolik. Eine Auswahl von Dokumenten, Tübingen 1926, S. 1-28 (Ein!. des Hrsg.); A. Baeumler, »Bachofen, der Mythologe der Romantik«, in: M. Schroeter (Hrsg.), Der Mythos von Orient und Occident. Eine Metaphysik der alten Welt aus den Werken von].]. Bachofen, München 21956, S. XXII-CCXCIV; K. Kerenyi (Hrsg.), Die Eröffnung des Zugangs zum Mythos. Ein Lesebuch, Darmstadt 1967. J. W. v. Goethe, West-östlicher Divan (1819), »Hegire«, V. 3 f. C. Levi-Strauss, Traurige Tropen (1955), Köln 1970, S. 363: .So verschaffen wir uns wenigstens die Mitte!, uns von der unseren zu lösen, nicht weil diese als einzige absolut schlecht wäre, sondern weil sie die einzige ist, zu der wir Distanz gewinnen müssen._ H. Ritter, .Claude Levi-Strauss als Leser Rousseaus«, in: W. Lepenies / H. Ritter, Orte des wilden Denkens, Frankfurt a.M. 1970,S. 113-159. G. W. F. Hegel, .Vorlesungen über die Ästhetik. (1818ff.), in: Werke in 20 Bänden, Theorie-Werkausg., Red. E. Moldenhauer und K. M. Michel, Bd. 13, Frankfurt a. M. 1970, S.1 07 ff., S. 389 ff. M. Weber, Wissenschaft als Beruf, Berlin 51967, S. 28: vgl. Landmann, Pluralität und Antinomie, S. 129-132. Vgl. Schelsky, Systemüberwindung, S. 57: .Was dieses Prinzip Gewaltenteilung für die Situation und das Verhalten der einzelnen Menschen [... ] bewirkt, [...] ist ein [...] Schutz des einzelnen gegenüber allen Machtkonstellationen. [...] Die Lebensinteressen des einzelnen [... ] werden in ihrer Vielfältigkeit, Widersprüchlichkeit und Individualisierung vor allem dadurch geschützt, daß
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der einzelne für die verschiedensten Bereiche seines Lebens politische Vertreter und Schutzpatrone findet, die seine jeweiligen Interessen sachlich, mit Engagement und ohne Rücksicht darauf vertreten, ob er zur Mehrheit oder zur Minderheit der Wähler der jeweiligen politischen Herrschaft gehört, welcher Partei er angehört oder für welche er votiert hat. Konkret: Meine Freiheit als einzelner besteht darin, daß ich mit meinem Votum als Bundestags- oder Landtagswähler nicht auch meine Interessenvertretung als Arbeitnehmer oder Beamter, als Elternteil oder Rundfunkhörer, als Hausbesitzer oder Sparer entschieden habe und in allen diesen Lebensbereichen auf politisch gleich vorprogrammierte Entscheidungs- und Verwalrungsinstanzen treffe. Die Vielfalt der in eigener >politischer< Verantwortung entscheidenden Institutionen einer Gesellschaft, die instirutionelle Pluralisierung der Macht, bietet die entscheidende Garantie für die Freiheit des einzelnen, seine vielfältigen Interessen und Lebensansprüche verhältnismäßig >herrschaftsfrei< verfolgen zu können.« 32 Barthes, Mythen des Alltags, S. 141: »Der Mythos entzieht dem Objekt, von dem er spricht, jede Geschichte. Die Geschichte verflüchtigt sich aus ihm«: Barthes will damit begründen, daß .der Mythos«, »statistisch gesehen [...] rechts« ist (S. 138), was ich bezweifle und was von Barthes auch nur durch einen Hilfsirrtum gestützt werden kann: »der linke Mythos ist nicht essentiell« (S.136); Baeumler, »Bachofen«, S. XCI: »Der Mythos ist schlechterdings ungeschichtlich.« 33 Für den historischen Sinn zeigen dies Ritter, »Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft«, in: J. R., Subjektivität, bes. S. 120 ff., und Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse, bes. S. 304ff.; für den Roman erläutert seine .Zugehörigkeit [ ... ] zum [sc. neuzeitlichen] Wirklichkeitsbegriff der immanenten Konsistenz« H. Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans«, in: H. R. Jauß (Hrsg.), Nachahmung und Illusion, München 1964, S. 9-27. 34 G. Lukacs, Die Theorie des Romans (1920), Neuwied/Berlin 1971, S. 77. Zur Korrelation Mythos-Geschichtsschreibung vgl. C. Levi-Strauss, Das Rohe und das Gekochte, Frankfurt a.M. 1976, S.27 (Mythologica, Bd. 1): Es »wird eine scharfblickende Geschichtswissenschaft zugeben, daß sie niemals völlig der Narur des Mythos entgeht«; zur Korrelation Mythos-Roman vgl. C. L.S., Der Ursprung der Tischsitten, Frankfurt a. M. 1976 (Mythologica, Bd. 3), bes. S. 134f.
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35 C. Levi-Strauss bezieht hier zentral die Musik ein, vgl. Der nackte Mensch, T. 2, Frankfurt a. M. 1975 (Mythologica, Bd. 4), S. 765 ff., und bevorzugt - vorbereitet durch die "Ouvertüre« in Das Rohe und das Gekochte, bes. S. 29ff. - folgende These: In "der modernen Zeit, in der die Formen des mythischen Denkens ihren Einfluß zugunsten des entstehenden wissenschaftlichen Denkens lockern und neuen Formen des literarischen Ausdrucks Platz machen [ ... ], übernimmt die Musik die Strukturen des mythischen Denkens in dem Augenblick, da die literarische Erzählung, die von einer mythischen zu einer romanesken geworden ist, sie ausräumt. Der Mythos mußte folglich als solcher sterben, damit seine Form ihm entwich wie die Seele dem Körper und von der Musik das Mittel einer erneuten Verkörperung forderte. Alles in allem sieht es so aus, als ob die Musik und die Literatur sich das Erbe des Mythos geteilt hätten. Die Musik, die mit Frescobaldi, dann mit Bach modern wurde, hat sich seiner Form bedient, während der Roman, der ungefähr zur selben Zeit entstand, sich der entformalisierten Reste des Mythos bediente und, von den Zwängen der Symmetrie emanzipiert, das Mittel fand, als freie Erzählung aufzutreten. So könnten wir den komplementären Charakter der Musik und der Romanliteratur vorn 17. und 18. Jahrhundert bis heute besser verstehen.« Generell gilt: "Wenn der Mythos stirbt, wird die Musik auf dieselbe Weise mythisch, wie die Kunstwerke, wenn die Religion stirbt, aufhören, einfach nur schön zu sein, und heilig werden« (S. 765 f.): das ist bei Wagner bewußt geworden (S. 767); so gilt "zumindest für jene Periode der westlichen Zivilisation«, .daß die Musik auf ihre Weise eine Rolle vergleichbar der der Mythologie erfüllt« als "Mythos, der in Tönen statt in Worten codiert ist. (S. 774).
Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist
Hermeneutik ist die Kunst, aus einem Text herauszukriegen, was nicht drinsteht: wozu - wenn man doch den Text hatbrauchte man sie sonst? Aber braucht man sie überhaupt? Was ist das eigentlich, was man da braucht, wenn man das Interpretieren, die Hermeneutik, braucht: wie muß, wie kann die Hermeneutik selber verstanden und interpretiert werden? Wer, wie ich, als Skeptiker aus der hermeneutischen Schule kommt und ihr nie ganz entlaufen ist, sondern innerhalb ihrer bleibend - sozusagen als endogenes Trojanisches Pferd immer stärker die Meinung entwickelt, der Kern der Hermeneutik sei Skepsis und die aktuelle Form der Skepsis sei Hermeneutik: der muß irgendwann auf diese Frage - die Frage nach der Hermeneutik - stoßen. Daraus wird dann ein wenig die Suche nach einer Antwort auf meine Frage nach mir selbst mit der dazugehörigen Versuchung, sie nicht zu finden; freilich: dieses Privatmotiv ist schwerlich ein anständiger Grund, Aufmerksamkeit für mein Thema zu erbitten. Das dad ich allenfalls deswegen tun, weil es auch noch andere Gründe gibt, auf dieses vielbesprochene Thema Hermeneutik erneut zurückzukommen. Von diesen Gründen möchte ich im folgenden einige erläutern; und ich möchte das in sieben Abschnitten tun; ich nenne sie vorweg: 1. Frage und Antwort; 2. Endlichkeit; 3. Hermeneutik als Replik auf Herkömrnlichkeit; 4. Hermeneutik als Replik auf Vergänglichkeit; 5. Literarische Hermeneutik als Replik auf den Bürgerkrieg um den absoluten Text; 6. Schein ihrer Obsolenz; 7. Hermeneutiker und Code-Knacker. Ich stelle meiner überlegung ein Motto voran: >Lesen und lesen lassen!<; und ich beginne sie im übrigen nun - ganz konventionell - mit dem Abschnitt
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1. Frage und Antwort. Die eingangs formulierte Frage nach der Hermeneutik ist selber ein Verstehensproblem, selber eine hermeneutische Frage. Hans-Georg Gadamer hat - rekurrierend auf Collingwood die Bedeutung der Replikstruktur für das hermeneutische Geschäft des Interpretierens betont:! Man versteht etwas, indem man es versteht als Antwort auf eine Frage; anders gesagt: man versteht es nicht, wenn man nicht die Frage kennt und versteht, auf die es die Antwort war oder ist. Inzwischen 'hat Hans Blumenbergl bei diesem Frage-Antwort-Schema auf kompliziertere Möglichkeiten aufmerksam gemacht: Z. B. kann es sein, daß einer Lösung die Frage historisch weggestorben ist, auf die sie die Antwort war, so daß sie Vizefragen adoptiert, als Antwort, auf die sie erneut verständlich werden kann: Blumenberg bestätigt das Frage-AntwortSchema, indem er es differenziert. Ich halte - auch deswegen, weil im vergangenen Jahr beim IX. Poetik-und-Hermeneutik-Kolloquium Hans Robert Jauß das Frage-AntwortSchema erneut energisch als hermeneutisches Basisschema der Rezeptionstheorie geltend gemacht hat3 - dieses Replikmodell des Verstehens generell für wichtig und richtig. Ich lasse mich dabei nicht irritieren durch den inzwischen verschiedentlich geäußerten Verdacht, die Bestimmung dieser geschichtlichen Anknüpfungsrelation als quasisprachliches Replikverhältnis sei bedenklich, weil das eine bloß metaphorische Redeweise sei. Ich gebe zwar zu, daß engagierte Entmetaphorisierungsversuche unbefriedigend bleiben: etwa Ricceurs Handlung-als-Text-Theorie4 - die Rache der Hermeneutik an der Text-als-Handlung-Theories des speech-act-Lagers - verstärkt eher den Metaphernverdacht. Der genannte Einwand schreckt mich trotzdem nicht: ich lasse es einfach darauf ankommen, daß das Frage-AntwortSchema eine Metapher ist. Denn: wenn es eine Metapher ist, ist es zweifellos eine gute, eine fruchtbare. Und: jede Philosophie ist metaphernpflichtig; so wie beim Grog gilt: Wasser darf, Zucker soll, Rum muß sein, so gilt bei der
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Philosophie: Formalisierung darf, Terminologie soll, Metaphorik muß sein; sonst nämlich lohnt es nicht: dort nicht das Trinken und hier nicht das Philosophieren. Aus all diesem und manch anderem - scheint mir - folgt: Wenn die Frage nach der Hermeneutik - die gegenwärtig stets auch die Frage nach der Dominanz der literarischen Hermeneutik sein muß - eine hermeneutische Frage ist und hermeneutisch beantwortet werden muß, dann ist das von Collingwood und Gadamer herkommende Frage-AntwortSchema - das die elaborierte Form der von Joachim Ritter »hypoleptisch« genannten Anknüpfung6 zu sein scheint dafür zentral: Das Frage-Antwort-Schema ist dann nicht nur das Schema, mit dem die Hermeneutik operiert, um zu verstehen, sondern - ebendeswegen - zugleich auch das Schema, mit dessen Hilfe die Hermeneutik selber verstanden werden kann und muß. Darum hat, wer eine hermeneutische Aufklärung der Hermeneutik vorhat, seinerseits zu fragen: Welches waren und sind die Fragen, auf die die Hermeneutik selber - und auf die die gegenwärtige Dominanz der literarischen Hermeneutik - die Antwort war und ist? Anders gesagt: die hermeneutische Frage nach der Hermeneutik ist die Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist. 2. Endlichkeit. Meine einschlägige Grundthese ist für eine hermeneutische Philosophie nicht überraschend, sondern eher trivial; es ist diese: Die Hermeneutik ist Replik auf die menschliche Endlichkeit. Bei dieser These - die gleichwohl erläuterungsbedürftig ist - muß die menschliche Endlichkeit zusammengebracht werden mit der Zeit, wenn sie folgender Eigenart der Hermene~tik gerecht werden will: Offenbar versteht und interpretiert man nur Dinge, die schon da sind; auch wer Antizipationen interpretiert, interpretiert vorhandene Antizipationen und nicht künftige: die Hermeneutik ist primär ein Vergangenheitsverhältnis.7 Wo eine Philosophie die Hermeneutik akzentuiert, muß also als Temporalbefund
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gelten: daß die Vergangenheit und gerade die Vergangenheitzumindest als gegenwartsprägende Vergangenheit: als Herkunft - wesentlich ist. Dabei darf man sich nicht dadurch einschüchtern lassen, daß das jenen Philosophien nicht gefällt, für die nur die Zukunft wesentlich ist: so sehr, daß sie an der Vergangenheit nur das »Unabgegoltene«8 schätzen: das, was in den Wünschen des Vergangenen das war, was auch heute noch nur Zukunft ist: Zukunftsphilosophien sind - von den revolutionären bis zu den nur noch hoffenden - die Geschichtsphilosophien. Für sie betreiben die Menschen - direkt oder indirekt - die Emanzipation zum Heilen: die Geschichtsvollendung. Dazu freilich - um es ganz simpel zu sagen - brauchten die Menschen (zumindest ihre Avantgarde) Allwissenheit, Allgüte, Allmacht: aber die fehlt ihnen, denn die Menschen sind endlich. Just darum kommt es für die Geschichtsphilosophie zu den großen Enttäuschungserfahrungen: zur Enttäuschung der emanzipatorischen Naherwartung, durch die auch und gerade die Gegenwartslage der Philosophie bestimmt ist. Darum ist die Philosophie gegenwärtig erneut aufmerksam auf die menschliche Endlichkeit; und sie ist dies durch erneute Fundamentalisierung der Hermeneutik. Die Geschichtsphilosophen haben die Welt nur verschieden verändert; es kömmt darauf an, sie zu verschonen; die änderndste Form des Verschonens aber ist das Interpretieren. Die Hermeneutik macht also die Endlichkeit geltend; dabei macht sie aus einem Faktum eine Frage,9 indem sie die Antwort ist: nämlich auf die menschliche Endlichkeit. Aber was bedeutet das: Endlichkeit? Ich skizziere hier kurz dreimiteinander kompatible - Endlichkeitsbegriffe, um ihnen durch Kontrast Kontur zu verschaffen, ehe ich dann mit dem dritten operiere. - Endlichkeit kann bestimmt werden a) in bezug auf Gott. Das geschieht theologisch: Endlich ist das, was nicht Gott, was aus sich selber nichts und darum nur durch Gott ist: das Geschaffene. Das ist in der Philosophie der Endlichkeitsbegriff der metaphysischen Tradition: End-
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lichkeit ist Kreatürlichkeit. - Endlichkeit kann - quasI theologiefrei - bestimmt werden b) in bezug auf den Raum. Das geschieht vor allem in der modernen philosophischen Anthropologie und dort repräsentativ durch Helmuth Plessner: er bestimmt (in seinen Stufen des Organischen und der Mensch) das Endliche als das Begrenzte (mit je verschiedenem Verhältnis zu seiner Grenze).10 Diese Endlichkeitsdefinition durch die Grenze lebt gegenwärtig fort in der systemtheoretischen Fundamentalisierung der System-Umwelt-Differenz." Sie ist fruchtbar für Analysen der Reaktion des Begrenzten auf ihm zustoßende Grenzgefährdungen: als derartige »Grenzreaktionen«12 können begriffen werden: beim Lebendigen das Immunsystem (Thomas A. Sebeok), beim Menschen die Angst (Thure v. Uexküll), Lachen und Weinen (Helmuth Plessner), die »Kontingenzerfahrungskultur« der Geschichte (Hermann Lübbe), literarische Texte als Verarbeitung einer »Ereignis« genannten »Grenzverletzung« (Jurij M. Lotmann), und so fort. 13 All diese »Grenzreaktionen« aber leben davon, daß es Grenzen, d. h. Endlichkeit gibt; und Endlichkeit bedeutet hier - vom Raum her verstanden - die elementare Nichtubiquität des Begrenzten: Endlichkeit ist Unter-Anderem-Sein. - Endlichkeit kann - quasi theologiefrei - bestimmt werden: c) in bezug auf die Zeit. Das geschieht vor allem in der modernen Existenzphilosophie und dort repräsentativ durch Heidegger, und zwar in Sein und Zeit: 14 Endlich ist das, dessen Zeit bemessen ist, abläuft, endet: durch Tod. Das ist die Definition der Endlichkeit durch das temporale Ende, aufgrund derer gilt: Endlichkeit ist Sterblichkeit, und menschliche Endlichkeit ist die gewußte Sterblichkeit: das Sein zum Tode. Einzig dieser dritte Endlichkeitsbegriff bringt - und das hatte ich ja für einen hermeneutikerheblichen Endlichkeitsbegriff verlangt - ausdrücklich Endlichkeit mit der Zeit zusammen; darum operiere ich im folgenden mit ihm und gerade mit ihm,
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um meine Grundthese - die Hermeneutik ist Replik auf die menschliche Endlichkeit - zu explizieren und dadurch womöglich ein wenig spannender zu machen. Dabei muß ich freilich zugleich das scheinbare Paradox auflösen: daß diehermeneutikerhebliche - Wesentlichkeit der Vergangenheit durch einen Endlichkeitsbegriff garantiert werden soll, der gerade eine Zukunft - die Jedermannszukunft - ins Spiel bringt: den Tod. Immerhin gilt so: Die Hermeneutik istwenn sie Replik auf die Endlichkeit ist - Replik auf den Tod. Doch den Tod gibt es für uns in zweifacher Gestalt: als den je eigenen Tod und als den Tod der anderen;15 je nachdem, auf welchen Tod die Hermeneutik repliziert, ist sie entwederdas erläutere ich im dritten Abschnitt - Replik auf Herkömmlichkeit oder - das erläutere ich im vierten Abschnitt - Replik auf Vergänglichkeit. 3. Hermeneutik als Replik auf Herkömmlichkeit. Das eben erwähnte Paradox ist keines; denn mit der Vergangenheit und jener Zukunft, die der je eigene Tod ist, verhält es sich bei den Menschen so: Weil wir sterben und dies wissen, darum werden wir auf unsere Vergangenheit verwiesen. Jedermanns Zukunft ist »eigentlich« sein Tod: das Leben ist kurz, vita brevis. Diese Zeitknappheit des Menschen - des moriturus, der sich als moriturus weiß -liefert ihn dem aus, was er schon war: seiner Herkunft. Ganz elementar: es hat wegen seiner Lebenskürze kein Mensch die Zeit, sich von der Vergangenheit, die er ist, in beliebigem Umfang zu distanzieren; stets bleibt er überwiegend seine Herkunft, die zwar - historisch kontingent ist, d. h. auch anders sein könnte: aber (für den, der sie ist) nicht im Sinne einer beliebig wählbaren und abwählbaren Beliebigkeit, sondern im Sinne eines schweroder gar kaum-entrinnbaren Schicksals: zur »Wahl, die ich bin«16, gehört unvermeidlich meine herkunfts geschichtliche Vergangenheit als die Nichtwahl, die ich bin. Diese durch ihre Sterblichkeit den Menschen auferlegte Unvermeidlichkeit, stets überwiegend das zu bleiben, was sie schon waren, nenne ich Herkömmlichkeit.
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Gegen diese Herkömmlichkeit wehren sich die Menschen: sie wollen ändern. Das dabei treibende Motiv kann verschieden benannt werden: als Freiheitsdurst, als Neugier, als Verlangen nach jenem Glück, das in der Hingabe ans ganz Andere und insofern Neue liegt, als »Angst vorm Verpassen«,!7 als Verzweiflung der Herkunft aus Mangel an Zukunft, als temporale Klaustrophobie, und so fort. Aber - vita brevis die Menschen schaffen es nicht, alles zu ändern; sie versuchen vergeblich, ihre Herkunft loszuwerden: Selbst die Revolutionäre sind - nach der treffenden Formulierung von Olof Palme - am Tag nach der Revolution günstigstenfalls Reformisten: sie müssen an Vorhandenes anknüpfen. Denn durch die endlichkeits-, d. h. sterblichkeits bedingte Herkömmlichkeit gilt das Antiprinzip Anknüpfung: es bleibt in jeder durch Änderung erzeugten Zukunft ein - das Änderungsquantum stets weit übersteigendes - Quantum an Herkunft erhalten. Aus diesem antiprinzipiellen Trägheitsprinzip der Geschichte folgt - meine ich - nicht nur die Tunlichkeit des Inkrementalismus, sondern - ebendeswegen - auch die Unvermeidlichkeit von Martin Krieles bekannter Beweislastregel:!8 weil die Nichtveränderung stets so sehr das meiste ist, daß sie - wegen unserer Lebenskürze - unsere Begründungskapazität übersteigt: darum muß man, wenn man - unter den Termindruckbedingungen unserer vita brevis - überhaupt begründen will, nicht die Nichtveränderung, sondern die Veränderung begründen: die Beweislast hat der Veränderer. Die Herkömmlichkeit dominiert also die Veränderung: die Menschen werden ihre geschichtliche Herkunft stets überwiegend gerade nicht los; sie können stets weniger ändern, als sie wollen und niemals alles, sonders stets das meiste gerade nicht. Auf diese sterblichkeits bedingte Endlichkeitslage - auf die Herkömmlichkeit - antwortet die Hermeneutik; denn Hermeneutik ist das Ändern dort, wo man nicht ändern kann: dort muß man eben etwas statt dessen tun, nämlich interpretieren. Dabei - vita brevis - ist der interpretatorische
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Loswerdensversuch des entlarvenden Interpretierens - die Ideologiekritik - stets nur begrenzt möglich: Jede globale Entlarvung wird bezahlt durch eine Regression des Entlarvers; die totalverdächtigende Kritik wird leicht zur sekundären Naivisierung: sozusagen zur Fortsetzung der Dummheit unter Verwendung der Intelligenz als Mittel. Aber dieses entlarvende Interpretieren ist ohnehin nur der extreme Grenzfall dessen, was - als Replik auf die Herkömmlichkeitdie Interpretation normalerweise leistet: nämlich jene geschichtliche Herkunft, die (als Textwelt oder als paratextuelle überlieferungswelt) uns gefangenhält und trägt, in jenen Abstand zu uns zu bringen, in dem wir es mit ihr aushalten; Hermeneutik ist so die Kunst der Schonstellungen. Diese Art der Interpretation, die die Unmöglichkeit der Herkunftsvernichtung durch die Möglichkeit der Herkunftsdistanzierung kompensiert, nenne ich distanzierende Hermeneutik: sie ist Replik auf die Herkömmlichkeit und hat um so mehr Konjunktur, je mehr das Ändernwollen und seine Grenzerfahrungen Konjunktur haben: also gerade modern. Dabei gilt dann wiederum: Wir schaffen es nicht - unser Leben ist zu kurz -, durch Interpretation alles zu distanzieren; es gibt das Undistanzierbare, das, was (etwa als üblichkeit l9) die Menschen einzig vital repetieren: also das, was wir nicht interpretieren, sondern nur noch sind. Die Herkömmlichkeit ist also in letzter Instanz unauflöslich: als Frage, auf die 'die Hermeneutik die Antwort ist, ist die Herkömmlichkeit stets mehr Frage, als die Hermeneutik Antwort sein kann. 4. Hermeneutik als Replik auf Vergänglichkeit. Ich wiederhole: Weil wir sterben, bleiben wir stets überwiegend'unsere Vergangenheit. Wir können unsere Herkunft nicht in beliebigem Umfang loswerden, aber wir dürfen sie auch nicht in beliebigem Umfang loswerden: Kein Mensch - das Leben ist zu kurz dafür - kann alles, was ihn lebensmäßig betrifft, von Grund aus neu regeln; das ist stets zuviel für ein Wesen, dessen Bewältigungskapazität deswegen begrenzt ist, weil es
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immer allzubald stirbt. Darum ist Herkömmlichkeit für die Menschen nicht nur eine Last, sondern - und vielleicht mehr noch - ein Schutz. 20 Den Menschen kann also nicht beliebig viel Änderung zugemutet werden; Zukunft braucht Herkunft: Es muß in jeder durch Änderung erzeugten Zukunft ein - das Änderungsquantum stets weit übersteigendes Minimum an Herkunft erhalten bleiben: sonst mißlingt die Änderung, und 'es werden die zerstört, derentwegen man ändern wollte: die Menschen. Diesem Antiprinzip Anknüpfung macht jedoch die zweite Gestalt des Todes - der Tod der anderen - Schwierigkeiten; denn: mit jedem Tod stirbt Verständlichkeit von Vergangenem für die, die lebenbleiben. Wer sich je - Ursituation (meine ich) des Historikers - um einen Nachlaß gerade auch' engster Angehöriger hat kümmern müssen, weiß, was ich meine: Unsere Herkunft, ohne die wir nicht leben können, rutscht - durch den Tod der anderen - ständig ins Unverständliche: ihre Verständlichkeit entgleitet. Das nenne ich hier Vergänglichkeit. Gegen diese Vergänglichkeit wehren sich die Menschen: sie müssen festhalten, bewahren. Das dabei treibende Motiv kann verschieden benannt werden: als Kontinuitätsbedürfnis un,d Identitätspflicht, al~ Verlangen nach jenem Glück, das in der Selbstbewahrung liegt, als »Angst vorm Verlieren«,21 als Verzweiflung der Zukunft aus Mangel an Herkunft, als temporale Agoraphobie, und so fort. Aber - vita brevis - die Menschen schaffen es nicht, alles zu bewahren; sie versuchen vergeblich, die unmittelbare Verständlichkeit ihrer Herkunft festzuhalten: denn niemand lebt lange genug, um denen, die ihn überleben, alles, was er selber versteht, zu überliefern. Das gilt auch und gerade dort, wo - in der modernen Weltdie Lebenserwartung wächst: denn ebendort - wegen der modernen Zunahme der Veraltungsgeschwindigkeit auch der Verstehensfertigkeiten22 - sinkt zugleich rapide die Lebenserwartung der überlieferungs tüchtigkeit eines jeden. Die moderne Welt radikalisiert' also die Vergänglichkeit. So entgleitet - durch den Tod der anderen und die modern sich
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beschleunigende Veraltung ihrer Orientierungsfertigkeiten immer schneller jene geschichtliche Herkunft, die die Menschen doch sind, in die Unverständlichkeit. Auf diese sterblichkeitsbedingte Endlichkeitslage - auf die Vergänglichkeit - antwortet die Hermeneutik; denn Hermeneutik ist das Festhalten dort, wo man nicht festhalten kann: dort muß man eben etwas statt dessen tun, nämlich interpretieren. Dabei ist der Festhaltungsversuch durch antiquarisierendes Interpretieren - durch Sammeln - eine ebenso symptomatische wie hilflose Gebärde: denn es reicht hierbei nicht aus, wenn man da Antiquaria sucht und - etwa - in Deutschland Hunderte findet »und in Spanien tausendunddrei «. 2l Aber dieses antiquarisierende Interpretieren ist ohnehin nur der extreme Grenzfall dessen, was - als Replik auf Vergänglichkeit - die Interpretation normalerweise leistet: nämlich die Rettung der Verständlichkeit von Dingen und Texten in neuen Situationen (in sekundären Kontexten), an die sie sie anpaßt. 24 Sie wirkt also konservatorisch: sozusagen als Altbausanierung im Reiche des Geistes. Diese Art der Interpretation, die den Verlust an primärer Verständlichkeit duch Wiederverständlichmachen kompensiert, nenne ich, adaptierende Hermeneutik: sie ist Replik auf die Vergänglichkeit und hat um so mehr Konjunktur, je mehr sich der Wirklichkeitswandel beschleunigt und dadurch immer mehr Vertrautheitsverluste, d. h. Fremdheit produziert. Das ist der Fall in der modernen Welt: Weil gerade in ihr Herkunft und Zukunft - also Lebenswelt und Wissenschaftswelt, Traditionswelt und Bedürfnisbefriedigungswelt - exzeptionell auseinandertreten, entstehen gerade in ihr - wie Joachim Ritter sagte: kompensatorisch - die hermeneutischen, die Geisteswissenschaften. 25 Und je schneller sich in der heutigen Wirklichkeit dauernd alles ändert, desto eher wird in ihr die Kunst des Wiedervertrautwerdens, die Hermeneutik, zur tachogenen Notwendigkeit. Dabei erhält sie - durch die moderne Zunahme des Veränderungstempos - zugleich besondere Chancen. Es scheint zu gelten: die Zunahme
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der Veraltungsgeschwindigkeit wird kompensiert durch Zunahme der Reaktivierungschancen fürs Alte: 26 Darum zum Beispiel- gehört zur modernen Welt die Konjunktur der Nostalgiewellen: etwa im Bereich der Theorie vom Systemdenken über den Neomaoosmus bis zur Neukonjunktur der Evolutionstheorie mit der Notwendigkeit, sie hermeneutisch an die Dauerveränderung des Standes der Dinge anzupassen. Dabei ergibt sich zugleich die Chance für einen hermeneutischen Zugewinn: Weil in der heutigen Welt - änderungstempobedingt - alles Eigenste fast unverzüglich zum Fremden wird, gerät ebendadurch das Fremde - also selbst die exotischste Herkunftswelt - für uns in die Normalentfernung des Eigensten und wird just dadurch für jene Hermeneutik miterreichbar, die in der europäischen Welt für die Wiedervergegenwärtigung des Eigensten erzwungen wurde. Deshalb können wir - interpretierend - heute sogar das noch wiedererinnern, was wir gar nicht vergessen haben, weil wir es überhaupt noch nicht kannten; und so gewinnen wir hermeneutisch - selbst noch jene Paradiese zurück, aus denen wir niemals vertrieben wurden, weil wir nie in sie hineingeboren waren: wir erwerben - durch Hermeneutik - eine sekundäre Weltoffenheit. 27 Die moderne Welt ist also nicht nur das Zeitalter der radikalisierten Vergänglichkeit, sondern zugleich auch das Zeitalter der radikalisierten Antwort auf jene Frage, die die Vergänglichkeit ist: das eigentliche Zeitalter auch der adaptierenden Hermeneutik. 5. Literarische Hermeneutik als Replik auf den Bürgerkrieg um den absoluten Text. Welches aber ist die Frage, auf die nicht unspezifisch die Hermeneutik - die distanzierende und die adaptierende - insgesamt, sondern auf die spezifisch die moderne Literarisierung der Hermeneutik die Antwort ist? Dieses Problem habe ich bisher ausgespart, auch wenn ich die Hermeneutik schon bisher keineswegs nur - durch Hinweis auf den Tod: auf die Endlichkeit als Herkömmlichkeit und Vergänglichkeit - als anthropologische Größe und quasi
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konstante Antwort, sondern durchaus auch schon - durch Hinweis auf ihre gerade moderne Konjunktur - als historische Größe und datierbare Antwort traktiert habe. Es blieb also gerade jener Tatbestand bisher ungeklärt, der doch nach Klärung geradezu schreit: daß nämlich - just im Zuge ihrer modernen Konjunktur - die Hermeneutik schlechthin zentral zur literarischen Hermeneutik wird: zur Kunst des Verständnisses gerade des literarischen Lesers für den literarischen Text; und daß gegenwärtig nur die literarische Hermeneutik als »die« Hermeneutik gilt, während die theologische und juristische Hermeneutik als bloße Hilfskünste spezieller Zuständigkeiten fungieren. 28 Wie kommt es dazu? Bei der Erörterung dieses Problems - meine ich - ist es ratsam, sich von vornherein vor Augen zu halten, daß (»1t€QL EQ!l€V€L(l~« von Aristoteles, wo es anders liegt, einmal beiseite gelassen) der Ausdruck »Hermeneutik« erstmals zum Titelbegriff eines Buchs - bei Dannhauer29 - 1654 wird: also nicht nur deutlich nach der reformatorischen Proklamation des Schriftprinzips und nicht nur kurz nach dem Erscheinen der Fundamentalschriften von Descartes3o, sondern auch unmittelbar nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges. So äußere ich eine Vermutung, die ich - aber vielleicht beweist das nur meine einschlägige Unkenntnis - in der Literatur noch nicht gefunden habe, obwohl sie naheliegt: die (oder wenigstens eine) Frage, auf die die Literarisierung der Hermeneutik die Antwort war, ist die Erfahrung des konfessionellen Bürgerkriegs. Natürlich gibt es die Hermeneutik auch als datierbares Phänomen und entwickelte Kunst nicht erst dort und modern, sondern schon früher, nämlich jedenfalls - allerspätestens - dort, wo das Christentum sich als Kirche etablierte und dabei eine Technik brauchte und - die Kunstgriffe der Homerexegese und die Applikationskniffe des römischen Rechts sich aneignend - entwickelte, um die eine einzige richtige und sozusagen heilsabsolute Lesung der Bibel festzulegen. Diese theologische Hermeneutik mußte -
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figural oder allegorisch oder durch dogmatische Abstraktion - in den vielen biblischen Geschichten stets die eine Geschichte, die nottut, die Erlösungsgeschichte wiededinden und also stets - und dafür war die Annahme eines mindestens zweifachen Schriftsinns unabdingbar - im vielfältigen »Buchstaben« der Schrift den einen einzigen »Geist«.31 Ich möchte dies die singularisierende Hermeneutik nennen und sie von der pluralisierenden Hermeneutik unterscheiden,l2 die umgekehrt - in der einen und sei ben buchstäblichen Gestalt viele Sinnmöglichkeiten und verschiedenartigsten Geist aufspürt. Die singularisierende Hermeneutik ruft also die Vielgestaltigkeit der buchstäblichen Geschichten zur Ordnung des einen einzigen absoluten Sinnes und Geistes: sie gehört - als Selbstbehauptung der Rechtgläubigkeit gegen Heterodoxie und Häresie - zur schweren Phase der institutionellen Etablierung der Religion. Es ist nun - meine ich wichtig, zu sehen, daß die theologische Hermeneutik auch dort zunächst singularisierende Hermeneutik blieb, wo durch die Reformation - Traditionsprinzip und Schriftprinzip in Streit gerieten: Es stritten sich dort zwei singularisierende Hermeneutiken, denn beide wollten die heilsbedeutsam richtige Auslegung des absoluten Textes: der Heiligen Schrift. Ich widerstehe der - von meiner bisherigen überlegung her naheliegenden - Versuchung, diesen Streit der katholischen und protestantischen Hermeneutik als Extremfall der Opposition zwischen adaptierender und distanzierender Hermeneutik zu traktieren, und betone vielmehr gleich: Der Augenblick, in dem die singularisierende in die pluralisierende Hermeneutik umkippte, kam erst dort, wo dieser hermeneutische Streit blutig wurde, und zwar generationenwierig: im konfessionellen Bürgerkrieg, der - zumindest auch - ein hermeneutischer Krieg war: ein Bürgerkrieg um den absoluten Text. Hier wird erneut der Tod für die Hermeneutik bedeutsam: jetzt die gewaltsame Endlichkeit, der Tod als Töten, das »Sein zum Totschlagen«, um diese Formel Kosellecks33 hier einschlägig zu verwenden. Meine These ist:
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Die Hermeneutik antwortet auf diese Tödlichkeitserfahrung des hermeneutischen Bürgerkriegs um den absoluten Text. indem sie - zur pluralisierenden. d. h. literarischen Hermeneutik sich wandelnd - den nichtabsoluten Text und den nichtabsoluten Leser erfindet: also den. den es - außer bei den Frühmerkern: den Humanisten - vorher im Grunde noch gar nicht gab: nämlich den literarischen Text und den literarischen Leser. Die Rechthaberei des Wahrheitsanspruchs der eindeutigen Auslegung des absoluten Textes kann tödlich sein: das ist die Edahrung der konfessionellen Bürgerkriege. Wenn - in bezug auf den heiligen Text - zwei Ausleger kontrovers behaupten: Ich habe recht; mein Textverständnis ist die Wahrheit. und zwar - heilsnotwendig - so und nicht anders: dann kann es Hauen und Stechen geben. Genau auf diese Situation antwortet die Hermeneutik mit ihrer Verwandlung zur pluralisierenden durch die Frage: Läßt sich dieser Text nicht doch auch noch anders verstehen und - falls das nicht reicht - noch einmal anders und immer wieder anders? Sie entschädt so - potentiell tödliche - Auslegungskontroversen. indem sie das rechthaberische Textverhältnis in das interpretierende verwandelt: in ein Textverständnis. das - notfalls ad libitum - mit sich reden läßt; und wer mit sich reden läßt. schlägt möglicherweise nicht mehr tot. Die Hermeneutik. die so zur pluralisierenden sich wandelt. tut etwas statt dessen: sie ersetzt das »Sein zum Totschlagen« durch das Sein zum Text: durch das Sein zum konzilianten Text mit Vermeidungswert und Ersparungsvalenz; das bedeutet eine Tolerantmachung der Texte auch in Dingen des wirkungs geschichtlichen Willens zur Macht. Dieses konziliante Textverständnis ist - in seiner konsequenten. d. h. konziliantesten Form - das Sein des literarischen Lesers zum literarischen Text: dieser entsteht also - durch die Literarisierung der Hermeneutik - als Replik auf den tödlichen Streit um das absolute Verständnis der Heiligen Schrift. Zu dieser Genesis des neutralen Lesers gehört - im Zeitalter auch der hermeneutischen Neutralisie-
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rungen34 - die Suche nach demjenigen Zusammenhang, der die absoluten Textverständniskontroversen relativiert zugunsten dessen, was im Textverständnis unkontrovers oder folgenlos kontrovers ist: Hierbei durchläuft die Entstehungsgeschichte der literarischen Hermeneutik zwei grundverschiedene Positionen. Spinoza - im Tractatus - macht die Naturerkenntnis zur Instanz der Schriftauslegung: in der Konsequenz davon wird - spätestens dort, wo die Naturerkenntnis zur naturwissenschaftlich exakten wird - die Hermeneutik vermeintlich überflüssig. 35 Dagegen wendet sich der romantische Ansatz: Schleiermacher entdeckt - indem er die Bibel als Literatur unter anderer Literatur versteh~6 - als Grundsituation der pluralisierend-literarischen Hermeneutik die Gesprächsgeselligkeit des unendlichen Gesprächs, das jeden zu Wort kommen läßt, ohne zeitliches Limit und ohne Einigungszwang: also anders als der sogenannte herrschaftsfreie Diskurs, der ja alle zu Knechten des Konsensdrucks macht, d. h. faktisch zu Knechten dessen, der den Konsensdruck verwaltet. 37 Originalitas, non veritas facit interpretationern. Im übrigen: weil die Hermeneutik zur literarischen wird, indem ihr die Angst vorm gewaltsamen Tode im Nacken sitzt: darum wird ihr Leitbegriff der Nicht-Tod, das Leben: Das Reden und Redenlassen des unendlichen Gesprächs, zu dem das Lesen und Lesenlassen gehört, dient dem Leben und Lebenlassen. Es scheint mir ebenso reizvoll wie fällig, den Lebensbegriff der lebensphilosophischen Hermeneutik Diltheys38 von dieser Formel her zu rekonstruieren und die Tendenz dieser Formel auch in Gadamers Ansatz vom Spiel her3 9 wiederzufinden, der den Menschen bestimmt als das Sein zum Text: zum literarischen Text, derwie die Jauß-Version der Rezeptionstheorie das geltend macht - stets auch noch anders gelesen und immer auch noch etwas anderes bedeuten kann, weil er keinen "Sinn an sich" hat, sondern - durch die Lust am Kontext - unendlich auslegungsfähig ist. 40 Dieser - literarische - Text also wird nun zum Paradigma der Hermeneutik; die literarische
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Hermeneutik - indem sie den absoluten Text in den literarischen verwandelt, den absoluten Leser in den ästhetischen - erhält Vorrang: als Replik auf den hermeneutischen Bürgerkrieg um den absoluten Text. 6. Schein ihrer Obsolenz. Ich halte diese Prädominanz der literarischen Hermeneutik für unverzichtbar; aber das - beim Zeus! - ist heutzutage eine unzeitgemäße Meinung. Gegenwärtig nämlich herrscht allenthalben Unbehagen am Vorrang der literarischen Hermeneutik,41 und zwar (meine ich) deswegen, weil- denn die wachsende Veränderungs geschwindigkeit der modernen Welt erhöht ihre Vergeßlichkeit - die Frage vergessen wird, auf die dieser Aufschwung der literarischen Hermeneutik die Antwort war: Die Gefahr des hermeneutischen Bürgerkriegs. Darum - also weil der Dreißigjährige Krieg ganz weit weg scheint und die Französische Revolution wenigstens so weit weg, daß die terreur ein übergehbares Problem zu werden beginnt - darum scheint heute die literarische Hermeneutik und ihr Primat obsolet, etwa als bloß bildungsbürgerliches Relikt, Einst wurde- nach der pfiffigen These u. a. von Lutz Geldsetzer42 - die Reformation akademisch erfolgreich durch die Sehnsucht der theologischen Fakultät, zur philologischen zu werden. Heute ist die umgekehrte Sehnsucht am Werk: Die Philologen möchten Theologen sein, mit allem drum und dran: mit Heiliger Schrift, kirchlichem Lehramt, Orthodoxie und Häresie, Index, Bannspruch, Exkommunikation und möglichst auch mit Teufel, ob er nun Kapitalismus heißt oder anders. Die Literaturwissenschaft will aus der literarischdegagierten zurück in die engagierte Position, aus der pluralisierenden Hermeneutik zurück in die absolute: in die singularisierende Hermeneutik. Für diese Tendenz zurück zur Theologie kann man freilich heutzutage die vorhandenen Theologien des Christentums nicht mehr brauchen, denn die sind beide - und ich betone: beide (philologisch gebildet und literarisch auf- und abge-
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klärt) -längst durch die Reformation hindurch und haben die Replik auch auf deren Streitfolgen längst in sich aufgenommen: beide. Eine Theologie, die heute noch vorreformatorisch ist, muß man woanders suchen. Und man findet sie: Es ist die moderne Geschichtsphilosophie, die - streng genommen - keine säkularisierte Theologie43 ist, sondern die einzige Theologie, bei der bisher die Säkularisierung mißlang. In ihr regiert die singularisierende Hermeneutik, und zwar deswegen, weil die Geschichtsphilosophie - nach der bekannten These Kosellecks44 - durch Singularisierung entstand: indem sie in all den vielen Geschichten nur noch eine einzige Geschichte gelten ließ, eben »die« Geschichte, deren Begriff sie - um 1750 herum - erfand und die sie bestimmte als die innerweltliche Erlösungsgeschichte durch Emanzipation. Diese Geschichtsphilosophie braucht die singularisierende Hermeneutik, um - die polymythische Vielfalt der vielen Geschichten verdrängend und die monomythische Einfalt der einen Geschichte verlangend - erne4t in allen »Geschäften« und Handlungen und Gedanken und Texten die eine absolute Geschichte zu entdecken und anzufeuern. Dadurch - also indem sie die Hermeneutik de-pluralisiert, de-literarisiert - re-konfessionalisiert sie die Hermeneutik und macht sie - das ist der Punkt - dadurch wieder fähig und begierig, in eine Situation zu kommen, die sie scheinbar hinter sich hat: in den hermeneutischen Bürgerkrieg. 45 Die - revolutionäre Geschichtsphilosophie verhält sich zu seiner Gefahr dann nicht durch den Versuch seiner Vermeidung, sondern anders: Man muß - das ist (häufig unbewußt) ihre Antwort - den Bürgerkrieg nicht vermeiden, sondern gewinnen, als Revolution. Freilich: um ihn gewinnen zu können, muß man ihn haben; und wenn man ihn hat, muß man ihn durchmachen, blutig und tödlich und womöglich erneut generationenwierig: Und steht das dafür? und steht es überhaupt für etwas Wünschenswertes? Man hat da - meine ich - mindestens drei Dinge zu bedenken: die faktische Zweifelhaftigkeit des Gewinnens; das, was vor dem Gewinnen kommt; und das,
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was nach dem Gewinnen kommt: und da ist die Prognose in allen drei Punkten - meine ich - allemal düster. Im übrigen sollte man - anders als es am arglosesten die tun, die als Weltmeister im Argwöhnen auftreten - man sollte sich nicht auf die eigene Harmlosigkeit verlassen, es sei denn, diese wäre (gerade was die Entsorgung der Denkfolgen betrifft) zureichend sicher institutionalisiert. Darum ist - meine ich - angesichts der perennierenden Gefahr des neokonfessionell hermeneutischen Bürgerkriegs nicht die singularisierende Hermeneutik der Geschichtsphilosophie, sondern das pluralisierende Verfahren der literarischen Hermeneutik - die wohl auch die Historie umfaßt - als Antwort angebracht und, wie ich sagte, unverzichtbar: als die Antwort mit dem Leben und Lebenlassen durchs Lesen und Lesenlassen. Sie ist, für sich allein genommen, einschlägig sicher nicht zureichend, wohl aber notwendig: und nur das stand hier zur Debatte. Diese literarische Hermeneutik operiert - als pluralisierende - mit dem Liberalitätsmittel der Gewaltenteilung, derzufolge der Einzelne - wenn er schon nicht, mit Adorno zu reden, »ohne Angst anders sein« kannjedenfalls mit verminderter Angst anders sein kann schließlich - divide et fuge! - durch die Gewaltenteilung auch der Schriften und Auslegungen: durch die Teilung auch noch jener Gewalten, die die Geschichten,46 und auch noch jener Mächte, die die Texte sind. . 7. Hermeneutiker und Code-Knacker. Wer die Hermeneutik hermeneutisch aufklären will, muß sie stellen: die Frage nach der Frage oder den Fragen, auf die die Hermeneutik die Antwort ist; und er muß versuchen, sie zu beantworten: so, wie ich das hier - partiell - versucht habe, oder anders und noch einmal anders und wieder anders. Bei dieser Verwendung des Frage-Antwort-Schemas ist - nota bene - jeweils die Frage (also auch die Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist) die Bedingung der Möglichkeit der Antwort und ihrer Verständlichkeit: Die hermeneutische Frage nach dieser
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Frage ist also etwas, auf das eigentlich die Transzendentalphilosophen das Exklusivrecht zu haben meinen, nämlich Frage nach den »Bedingungen der Möglichkeit«. Diese werden hermeneutisch historisiert; die Hermeneutik: sie macht den transzendentalen Gesichtspunkt zu dem historischenY Freilich: muß man denn eigentlich hermeneutisch verfahren, um zu verstehen und um zu begreifen, was das Verstehen und das Interpretieren ist? Das ist zumindest nicht selbstverständlich. Im weitesten Sinne gegenwärtig gibt es erneut eine Alternative zum hermeneutischen Ansatz, auf die ich hier - insbesondere auch deswegen, weil die Hermeneutik inzwischen auch noch darauf die Antwort ist - abschließend kurz eingehen möchte: diese Alternative ist das Code-Knacken; es ist - auch und gerade verstehenstheoretisch - unter verschiedenen Wissenschaftsnamen seit längerer Zeit im Vormarsch (als Kommunikationstheorie, als Semiotik, und so fort). Die Verstehensfrage ist dann - senderbewußt und empfängerbewußt - die nach dem benutzten Code. Die begriffsgeschichtliche Analyse der Grundvokabeln der nicht mehr diachronen Humanwissenschaften ist gegenwärtig allgemein ein hermeneutisches Desiderat: warum z. B. kommt bei diesem Ansatz der entscheidende Möglichkeitsbegriff (»competence«) aus dem Wortfeld der Rivalität48 und der entscheidende Aktualisierungsbegriff (»performance«) aus dem Bildfeld des Theaters? Was den Code-Begriff angeht, so vermute ich widerleglich: obwohl »Code« (als Kodex: etwa beim »Code Napoleon«) aus einer Handschriften- und Bücherbezeichnungsvokabel längst zum Wort für ein Verzeichnis oder einen Inbegriff von Regeln sich gewandelt hatte, scheint »Code« - auf dem Weg über die Linguistik"": zum prominenten Grundlagenterminus geworden zu sein wohl doch erst von jenem Moment an, in dem - nach der Erfindung des Funks (Marconi, 1897) - die Entschlüsselung verschlüsselter Gegnerfunksprüche (und die Verschlüsselung eigener) in erheblicher Weise zum Pensum militärischer Geheimsprachenexperten geworden ist: »Code«
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startet seine linguistische Karriere als Spionagewort. Fortanin großem Stil spätestens seit dem Ersten Weltkrieg- kann der Dechiffrier- und Chiffrierexperte zum Eckmann der Sprachwissenschaftler werden (die in Kriegszeiten nicht selten einschlägig tätig sind) und »Code« zunehmend zum Eckterminus der Linguistik und dann auch der Literatur- und Sozialwissenschaften. Das bedeutet aber: mit der Konjunktur des Code-Begriffs wird für die Humanwissenschaften die Optik des Dechiffrierers repräsentativ, der mit der Sprache als ,Geheimsprache< konfrontiert ist: jener Sprache, die ich nicht spreche, nicht verstehe (im Unterschied zur Muttersprache und den bildungsüblich mitbeherrschten Sprachen, die ich fast - immer schon spreche und verstehe). Auch unterm Druck der zunehmenden Anforderungen der Ethnologie und des Sonderproblems der Entzifferung toter Bildzeichenschriften - wird für die Linguistik, die Literatur- und Sozialwissenschaft exemplarisch das Verhältnis zur nicht verstandenen Sprache, zum nicht verstandenen Text, zum nicht verstandenen »fait sociaI«. Adorno49 hat Max Webers »verstehende Soziologie« mit Emile Durkheims Soziologie der »faits sociaux« eindrucksvoll kontrastiert und die Durkheim -Soziologie als die Soziologie der unverständlich gewordenen Welt interpretiert: Es ist aufschlußreich, daß der Vater der modernen Linguistik, Saussure, sich an Durkheim orientierte. Indes: in der Regel verstehen wir zwar niemals alles, aber auch niemals gar nichts. Wir verstehen nur, wenn wir schon verstehen. 50 Darum begibt sich - meine ich - die codeknackende Verstehenstheorie (die nicht-hermeneutische also) methodisch-künstlich heraus aus jener - phänomenologisch ausgezeichneten - Situation, in der wir lebensweIttäglich existieren: aus der Situation der immer bzw. je schon (irgendwie) verstandenen oder vorverstandenen Sprache, Textwelt, Sozialwelt. Bei dieser jedoch setzt die Hermeneutik gerade an: Die Code-Knacker gehen aus von der grundsätzlich fremden, unverstandenen Welt, die Hermeneutiker von
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der grundsätzlich vertrauten, schon verstandenen Welt: darum ist die hermeneutische Rekursinstanz nicht der »Code«, sondern die Geschichte. Das hat Vorteile. Es gelingt leichter, die Diachronprobleme festzuhalten: die CodeKnacker haben sie meistens nicht überholt, sondern nur - ins Problemexil - vertrieben; so wird - zum Beispiel - die Wortgeschichte heute - als Begriffsgeschichte - von nichtlinguistischen Hermeneutikern gemacht, von Historikern und Philosophen;51 ich weiß nicht, ob die vormals zuständigen Linguisten - die in spätestens zehn Jahren nach diesem Pensum wieder lechzen werden - es dann noch zurückbekommen (es sei denn, sie hätten es - weise - gar nicht erst abgegeben). Die Hermeneutik antwortet also auf das CodeKnacken, indem sie - kompensatorisch - die von diesem verdrängten Probleme bewahrt: dazu gehört auch das Problem der hermeneutischen Aufklärung der Hermeneutik. So liegt ihr Vorzug nicht nur darin, daß sie anknüpft an die phänomenologisch ausgezeichnete - Lebensweltsituation, in der wir uns stets schon verstehend befinden, sondern auch darin, daß sie - indem sie stets auf den Verständnisreichtum vorgegebener Verständnisse (die Vor-Ausgelegtheit der Welt) rekurrieren kann - Probleme rettet: Die Hermeneutik vermag das, denn sie hat es näher zu den konkreten, den interessanten, den spannenden - den datierbaren -. Fragen. Um es im Bergsteigerbilde zu sagen: Während die Hermeneutik ihr Basislager der Vorverständnisse - dank der Geschichte, die es dorthin transportierte - immer schon knapp unter der Kammhöhe der konkreten Verständnis probleme hat, muß die code-knackende Wissenschaft ständig in der Tiefenzone der Täler am Fuß der Problemberge auf Null oder gar im Minusbereich anfangen; sie - die code-knackende Wissenschaft - legt dann zwar (mit hohem Finanzmittelbedarf) unentwegt jene Strecken zurück, auf denen man viele Apparate, Sherpas und wissenschaftliche Hilfskräfte braucht; aber die Frage ist allemal, ob sie wirklich und häufig auf jene Problernhänge hinaufkommt, auf denen die Hermeneutiker
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stets fast sofort - meist ohne die Sauerstoffmaske der Forschungssubvention - unterwegs sind: in kleinen Seilschaften oder allein. Ich beende meine überlegung, indem ich folgendes hinzufüge: Die armen Hermeneutiker - höre ich nicht nur CodeKnacker sagen - kommen niemals aus der Geschichte heraus. Aber muß man denn aus der Geschichte hinauskommen? Wer nicht aus der Geschichte herauskommt, erreicht keine absolute Position. Aber muß man denn eine absolute Position erreichen? Wer ohne absolute Position Philosoph sein will, begeht unsägliche fallacies. I like fallacy. Doch wer das sagt, der wird bös' enden oder gar - widersinnsbeladen - als Skeptiker. Diese Warnung, die gutgemeinte, hat Pech: Der Skeptiker, der ich nicht werden soll, der bin ich ja schon; und ebendarum - denn die Skepsis gelingt nicht dadurch, daß man gar keine These vertritt, sondern (als Teilung auch noch jener Gewalten, die die überzeugungen sind) dadurch, daß man jeweils zu viele Thesen vertritt - ebendarum habe ich hier diejenigen Thesen vertreten, die ich hier vertreten habe, zu denen auch die eingangs geäußerte Meinung gehört: es sei der Kern der Hermeneutik die Skepsis und die aktuelle Form der Skepsis die Hermeneutik.
Anmerkungen 1 H.-G. Gadamer, Wahrheit ·und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1960), Tübingen }1972, S. 344 ff., bes. S. 351 ff.; vgl. R. G. Collingwood, Denken. Eine Autobiographie, Stuttgart 1955, S. 30 ff. 2 H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1966. 3 H. R. Jauß, .überlegungen zur Abgrenzung und AufgabensteIlung einer literarischen Hermeneutik., in: H. R. J. (Hrsg.), Text und Applikation, München 1981 (Poetik und Hermeneutik, Bd.9). Mein Aufsatz expliziert Gedanken meiner Einführung in
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die Diskussion dieses Beitrags in Bad Homburg am 27. Mai 1978; vgl. das gleich betitelte Statement von mir im genannten Band. 4 P. Ricceur, »Der Text als Modell: hermeneutisches Verstehen« (1972), in: H.-G. Gadamer/G. Boehm (Hrsg.), Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften, Frankfurt a.M. 1978, S.83-117. 5 K. Stierle, Text als Handlung, München 1975. 6 J. Ritter, Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt a. M. 1969, S. 64 ff.; vgl. G. Bien, Artikel »Hypolepsis., in: J. Ritter [u. a.] (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Basel/Stuttgart 1974, Sp. 1252-54. 7 Dies in bewußtem Gegensatz zu M. Heidegger, Sein und Zeit, Halle 1927, S. 336 ff., und seiner These: »Das Verstehen gründet primär in der Zukunft. (S. 340, vgl. S. 339). 8 Vgl. E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd.l, Berlin 1953, S.19: »Weil. diese Philosophie »überhaupt keine Vergangenheit außer der noch lebendigen, noch nicht abgegoltenen kennt«, ist sie »Philosophie der Zukunft, also auch der Zukunft in der Vergangenheit«. 9 In dieser Form nehme ich die Kritik auf, die H. Krings in H. M. Baumgartner (Hrsg.), Prinzip Freiheit, Freiburg/München 1979, bes. S. 391 ff., an meinem Plädoyer gegen einen »futuristisch halbierten Freiheitsbegriff« (S.337, vgl. S. 322ff.) geübt hat: Die dafür entscheidende Differenz liegt in der Tat diesseits von reiner Unbedingtheit und reiner Faktizität. 10 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), Berlinl New York 31975, bes. S. 99 ff., 123 ff. 11 Vgl. bes. N. Luhmann, »Funktionale Methode und Systemtheorie« (1964), in: N. L., Soziologische Aufklärung. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Opladen ·1974, S.31-53, bes. S. 38 ff. (vgl. vor allem die Ausführungen zur »Systemgrenze«, S.40). 12 H. Plessner, .Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens« (1941), in: H. P., Philosophische Anthropologie, Frankfurt a.M. 1970, bes. S.155ff. 13 Th. A. Sebeok, »The Semiotic Self., und Th. v. Uexküll, »Positionspapier., beides bisher ungedruckte Vorlagen für das Rundgespräch Semiotik der Angst (Bad Homburg, 8.-11. Dezember 1977); Plessner, .Lachen und Weinen.; H. Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik
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der Historie, Basel/Stuttgart 1977, bes. S. 20, 54 ff. und 269 ff. ]. M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, München 1972, S. 332; vgl. S. 333 ff. und 311 ff. 14 Heidegger, Sein und Zeit, bes. S. 235 ff., 245 ff., 329 ff. 15 Ebd., S.237ff., und W. Schulz, .Zum Problem des Todes«, in: A. Schwan (Hrsg.), Denken im Schatten des Nihilismus, Darmstadt 1975, S. 313-333, bes. S. 331 ff. 16 J. P. Sartre, L'etre et le neant, Paris 1943, S. 638: .Ie choix que je suis«,
17 Vgl. P. Probst, Politik und Anthropologie. Untersuchungen zur Theorie und Genese der philosophischen Anthropologie in Deutschland, Frankfurt a. M. 1974, S. 40 f. Mit diesem und dem in Anm. 21 gegebenen Hinweis möchte ich andeuten, was ich hier nicht ausführen kann: daß die Doppelung von ,Herkömmlichkeit< und .Vergänglichkeit< mit der von Probst analysierten Doppelung der Angstsorten zusammenhängt und mit der Doppelung der Glücksversionen (Selbsthingabe und Selbstbewahrung), wie sie analysiert ist bei R. Spaemann, .Philosophie als Lehre vom glücklichen Leben«, in: G. Bien (Hrsg.), Die Frage nach dem Glück, Stuttgart 1978, bes. S. 15 Ef. 18 M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, Berlin 1967, zusammenfassend S. 312: »[ ... ] präsumtive Verbindlichkeit der Präjudizien. Es besteht eine (widerlegliche) Vermutung zugunsten der Vernünftigkeit sämtlicher Präjudizien«; vgl. M. K., Die Herausforderung des VerJassungsstaats, Neuwied/Beriin 1970, bes. S.18-20; vgl. N. Luhmann, .Status quo als Argument«, in: H. Baier (Hrsg.), Studenten in Opposition. Beiträge zur Soziologie der Hochschule, Bielefeld 1968, S.73-82, bes. S.78: .unfreiwilliger Konservativismus aus Komplexität«; außerdem Lübbe, Geschichtsbegriff, S. 329 f.: • Tradition gilt nicht wegen ihrer erwiesenen Richtigkeit, sondern wegen der Unmöglichkeit, ohne sie auszukommen, [so] daß für die Tradition die Primärvermutung ihrer Vernünftigkeit gelten muß und die Last expliziter Begründung bei demjenigen liegt, der sie verwirft.« 19 Vgl. O. Marquard, .über die Unvermeidlichkeit von üblichkeiten«, in: W. Oelmüller (Hrsg.), Normen und Geschichte, Paderborn 1979 (Materialien zur Normendiskussion, Bd.3), S.332-342. 20 Vgl. den gegen Heideggers Begriff der • Geworfenheit« entwickelten Begriff der .Getragenheit« bei o. Becker, »Von der Hinfälligkeit des Schönen und der Abenteuerlichkeit des Künstlers., in:
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Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Erg.-Bd. [Husserl-Festschrift], Halle 1929, S.27ff. Probst, Politik und Anthropologie, S.40f. (vgl. Anm.17). Durch die sich beschleunigende Veraltung von Erfahrungen; u. a. daraus ergeben sich als prägende Züge der modernen Welt der Sieg der »Erwartung« über die »Erfahrung. - vgl. R Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M.' 1979 - und das Phänomen des Erfahrungsverlusts: H. Lübbe, »Erfahrungsverluste und Kompensationen. Zum philosophischen Problem der Erfahrung in der gegenwärtigen Welt«, in: Gießener Universitätsblätter 2 (1979) S.42-53. Es gibt nicht nur den erotischen Don-Juanismus und den DonJuanismus bei der Psychiaterwahl, sondern auch einen DonJuanismus des Antiquarisierens: er ist ein Mitmotiv bei der Genesis des Museums; zur Theorie des Museums und seiner Entstehung gerade in der modernen Welt vgl. J. Ritter, Subjektivität, Frankfurt a. M. 1974, bes. S. 126 ff. Vgl. K. Gründer, .Hermeneutik und Wissenschaftstheorie«, in: Philosophisches Jahrbuch 75 (1967/68) S.155: .Zwischen der zu verstehenden Äußerung und dem, der sie verstehen möchte, liegt ein geschichtlicher Bruch, bei dem der, der verstehen möchte, aus dem geschichtlichen Zusammenhang, dem die Äußerung angehört, herausgetreten ist, sich emanzipiert hat. Hermeneutik ist Theorie des Verstehens unter den Schwierigkeiten von Emanzipationen.«
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J. Ritter, »Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft«, in: J. R, Subjektivität, bes. S.131 ff.; vgl. Lübbe, Geschichtsbegriff, bes. S. 304 ff. Vgl. O. Marquard, »Kompensation. überlegungen zu einer Verlaufsfigur geschichtlicher Prozesse., in: K. G. Faber I ehr. ,Meier (Hrsg.), Historische Prozesse, München 1978 (Theorie der Geschichte, Bd. 2), bes. S. 349 f. Vgl. O. Marquard, »Felixculpa? Bemerkungen zu einem Applikationsschicksal von Genesis 3«, in: Jauß (Hrsg.), Text und Applikation, Abschn. 5. Zur Diagnose vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, bes. S.307ff. J. e. Dannhauer, Hermeneutica sacra sive methodus exponendarum sacrarum litterarum, Straßburg 1654. Meine These ist nicht, daß dies eine literarische Hermeneutik sei: sie gehört vielmehr in die Tradition der theologischen Hermeneutik etwa
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von M. Flacius, Clavis Scripturae Sacrae (1567), die sich den Folgelasten des reformatorischen Schriftprinzips (»sola scriptura«) stellt. Vgl. auch H. E. H. Jaeger, »Studien zur Frühgeschichte der Hermeneutik., in: Archiv für Begriffsgeschichte 13 (1974) S.35-84. R. Descartes, Discours de La methode (1637); Meditationes de prima philosophia (1641).H.-G. Gadamer, Artikel.Hermeneutik«, in: Ritter Eu. a.] (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.3, schreibt auf Sp. 1062: • Wenn wir heute von Hermeneutik reden, stehen wir [ ... ] in der Wissenschaftstradition der Neuzeit. Der ihr entsprechende Wortgebrauch von ,Hermeneutik< setzt genau damals, d. h. mit der Entstehung des modernen Methoden- und Wissenschaftsbegriffs ein.• Dies nicht bestreitend, meine ich jedoch: Die Wende zur Methode ist nur ein Partialmotiv für die moderne Konjunktur der Hermeneutik, weil sie nur eine» Neutralisierungs.-Version unter anderen ist. Vgl. 2. Kor. 3,6; dazu G. Ebeling, Artikel »Geist und Buchstabe«, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, hrsg. von K. Galling, Bd.2, Tübingen. 31958, Sp. 1290-96. Zur Substitutionsgeschichte des mehrfachen Schriftsinns durch die mehrfachen Auslegungsarten vgl. Jauß (Hrsg.), Text und Applikation; zur figuralen Deutung vgl. literaturgeschichtlich E. Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur (1946), Bern/München 61977, bes. S. 75 f., und philosophisch K. Gründer, Figur und Geschichte. J. G. Hamanns ,Biblische Betrachtungen< als Ansatz einer Geschichtsphilosophie, FreiburglMünchen 1958, bes. S. 93 H. Vgl. O. Marquard, .Schwacher Trost., in: Jauß (Hrsg.), Text und Applikation. R. Koselleck, »Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der überlebenden«, in: O. Marquard / K. Stierle (Hrsg.), Identität, München 1979 (Poetik und Hermeneutik, Bd. 8), S.257. Zum Begriff .Zeitalter der Neutralisierungen« vgl. C. Schmitt, Der Begriff des Politischen (1922,21934), Berlin 1963, S. 79 ff. Zu diesen Neutralisierungen gehört nicht nur die Genese des konfessionsneutralen Staates und die Autonomisierung von »Moral«, .Okonomie. und »Technik. als jeweils neutralisierenden Mächten, sondern auch die Entwicklung der theologieneutralen Hermeneutik: etwa die Enttheologisierung der juristischen Hermeneutik (auch sie unter dem Motto des bei C. Schmitt, Der
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Nomos der Erde, Köln/Berlin 1950, S. 96, zitierten Satzes des Albericus Gentilis: "Silete theologi in munere alieno«), die Entsakralisierung der Bibel zu einem Stück Literatur und überhaupt die 'Genese des neutralen, d. h. literarischen Lesers. Vielleicht ist diese Neutralisierung als modernes Schicksal der Hermeneutik nur im Schutze der modernen Neutralisierung des Staates möglich und - ich verwende Gesichtspunkte eines diesbezüglichen Gesprächs mit B. Willms - die Ausbildung des literarischen .Autors« nur im Schutze der neutralstaatlichen »auctoritas«.
35 B. Spinoza, Tractatus theologico-politicus (1670), vollzieht meine ich - jene »Wendung ins Historische«, die Gadamer, »Hermeneutik«, Sp. 1064, ihm zuschreibt, nur instrumental: denn in der Hauptsache dient dies der Vergleichgültigung (Veruneigentlichung) potentiell tödlicher Streitpunkte der Schriftauslegung im Rahmen eines Entmythologisierungsprogramms, das die vernünftige »Naturerkenntnis« zum Maßstab des Bibelverständnisses macht; in der Folge - dort, wo die· Natur aus der pantheistischen Gleichsetzung mit Gott zur experimentablen und mathematisierbaren Objektwelt entzaubert und die Naturerkenntnis zur exakt naturwissenschaftlichen Erkenntnis wird wird das Schriftverständnis und die Interpretation von Schriften vermeintlich übedlüssig, weil zunächst die praktische Vernunftvgl. "Philosophische Grundsätze der Schriftauslegung zur Beilegung des Streits« der philosophischen mit der theologischen Fakutät bei 1. Kant, .Der Streit der Fakultäten. (1798), in: Gesammelte Schriften, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd.7, Berlin 1917, S. 38 ff. - und dann die exakte Natur die Schrift und die Schriften schließlich nicht mehr erklärt, sondern ersetzt; die nach Art Spinozas begonnene Sanierung der Hermeneutik - in der Konsequenz ihres späteren Wegs in die Exaktheit - saniert letzten Endes die Hermeneutik zu Tode. 36 Die damit zusammenhängende Offnung des Umkreises des Auslegungswürdigen durch die Hermeneutik ist durch die bei H.-G. Gadamer / G. Boehm (Hrsg.), Seminar: Philosophische Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1976, zusammengestellten Texte eindrucksvoll dokumentiert: Für die Hermeneutik interessant ist zunächst - von Flacius über Rambach bis S. J. Baumgarten - nur oder primär die Bibel, werden dann zusätzlich die klassischen Dichter (F. A. Wolf) und klassischen Philosophen (F. Ast), dann-
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orientiert am Dialog - die Gesamtliteratur, d. h. alle Texte (Schleiermacher, der sogar die Frage stellt, »ob auch solche Schriftsteller wie die Zeitungsschreiber und diejenigen, welche die mancherlei Inserate darin verfassen, Gegenstände für die Auslegungskunst sind«: ebd., S. 136), dann alle »Lebensäußerungen« (Dilthey) und dort - exemplarisch - die der Sorgewelt des .Zuhandenen« (Heidegger), schließlich alles Sprachliche (Gadamer). Dieser Vorgang wachsender »Universalität. der Hermeneutik darf nicht durch jenes Konzept eines linearen Fortschritts begriffen werden, das die Hermeneutiker sonst attackieren, sondern anders: als der Versuch, den lebensgefährlich brisanten absoluten Text der Bibel durch verähnlichende Eingliederung in einen immer weiter gezogenen Kreis von Interpretanda zum relativen Text zu entschärfen: als Replik auf das - durch die Französische Revolution reaktualisierte - Trauma des hermeneutischen Bürgerkriegs um den absoluten Text; Zur Unterscheidung von .Diskursen« und .unendlichen Gesprächen. vgl. O. Marquard, in: W. Oelmüller (Hrsg.), Normenbegründung - Normendurchsetzung, Paderborn 1978 (Materialien zur Normendiskussion, Bd. 2), S. 230f. Vgl. W. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910), in: Gesammelte Schriften, Bd.7, Göttingen/Stuttgart 61973, S.217: »Das kunstmäßige Verstehen dauernd fixierter Lebensäußerungen nennen wir Auslegung. [ ...] Und die Wissenschaft dieser Kunst ist die Hermeneutik,. sowie S.131: -Der Inbegriff dessen, was uns im Erleben und Verstehen aufgeht, ist das Leben .• Gadamer, Wahrheit und Methode, bes. S. 97 ff.: Dies verstehe ich als Korrektiv gegenüber Heideggers Re-Engagement der Hermeneutik durch ihre Einbindung in die alltagspraktische .Sorge« und die existenziell-existenziale .Entschlossenheit., durch die Heidegger den Verlust ihrer Neutralisierungsvalenz und ihres Distanzierungs- und Entlastungspotentials riskiert, so daß gerade bei Heidegger - gegen seine Grundintention - die ideologischen Hermeneutiken anknüpfen können. Hierzu kann gehören: die heilsame Veroberflächlichung der Wahrheits- und Heilsfragen. Das kann einschließen: die Position der Ironie im Sinne von 111. Mann, .Ironie und Radikalismus., in: Betrachtungen eines Unpolitischen (1918), Frankfurt a. M. 1956, S. 560: .Fiat justitia oder libertas, fiat spiritus - pereat mundus et vita! So spricht aller Radikalismus .•Ist denn die Wahrheit ein
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Argument - wenn es das Leben gilt?< Dies ist die Formel der Ironie.. Es ist - scheint mir - die Formel der literarischen Hermeneutik, die Formel ihrer Direktion aufs Ästhetische. Das berührt das Problem der Applikation: Eines der wichtigsten Dinge bei der Applikation kann es sein, es nicht unmittelbar zu ihr kommen zu lassen. Wo etwa Applizieren als Urteilen Verurteilen heißt, kann es lebenswichtig werden, die Applikation zu verzögern: sie dilatorisch, folgenarm oder gar folgenlos zu machen. Das ist der Grundzug der ästhetischen Applikation: als Replik auf den Bürgerkrieg um den absoluten Text neutralisiert die Hermeneutik absolute Texte zu interpretablen - zu Texten, die immer noch anders gelesen werden und immer noch etwas anderes bedeuten können und also auslegungsfähig sind - und absolute Leser zu ästhetischen. Selbst Gadamer, Wahrheit und Methode, verlangt ihr gegenüber die »Wiedergewinnung des hermeneutischen Grundproblems. (S. 290 ff.) durch das Bestreben, .die geisteswissenschaftliche Hermeneutik von der juristischen und theologischen her neu zu bestimmen. (S.294); aber dies könnte - so fruchtbar es in temperierter Form ist"- im Falle des übermaßes erneut dahin führen, daß durch die Orientierung an »dogmatischen. Fakultäten mit der Wiederkehr einer potentiell tödlichen absoluten Wahrheitsrechthaberei aufs neue die Frage unbeantwortbar wird, wie sich mit der Wahrheit leben läßt. Das ist freilich weniger im Blick auf Gadamer geltend zu machen, ungleich mehr im Blick etwa auf J. Habermas, -Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik., in: R. Bubner / K. Cramer / R. Wiehl (Hrsg.), Hermeneutik und Dialektik, Tübingen 1970, S. 73-103. L. Geldsetzer, _Traditionelle Institutionen philosophischer Lehre und Forschung., in: H. M. Baumgartner / O. Höffe / Chr. Wild (Hrsg.), Philosophie - Gesellschaft - Planung, Kolloquium, H. Krings zum 60. Geburtstag, München 21976, bes. S. 32. K. löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen (1949), Stuttgart 1953. R. Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1978, bes. S.47ff. Vgl. die Analyse der prinzipiellen Figur bei R. Koselleck, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt (1959), Freiburg/München 21969, bes. S. 7f. und S.155-157. Vgl. O. Marquard, »Lob des Polytheismus. über Monomythie und Polymythie., im vorliegenden Band.
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47 Vgl. J. G. Fichte, »System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre« (1798), § 31. 48 Competentia war der Status der competentes: im alten Rom der Konsulatskandidaten, später der Papstkandidaten und anderer (z. B. Tauf-) Bewerber, solange sie das noch nicht waren (oder endgültig nicht wurden), wofür sie kandidierten: .Competent [ ... ] heißt einer, der mit anderen zugleich um etwas anhält« (J. H. Zedler, Großes vollständiges Universallexikon aller Wissenschaften und Künste, Halle/Leipzig 1732 H.). 49 Th. W. Adorno, Artikel »Gesellschaft., in: H. Kunst / S. Grundmann (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Stuttgart/Berlin 1966, S. 636--642, bes. S. 638. 50 Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt, S.225: »Die Auslegung wäre unmöglich, wenn die Lebensäußerungen gänzlich fremd wären. Sie wäre unnötig, wenn in ihnen nichts fremd wäre. Zwischen diesen beiden äußersten Gegensätzen liegt sie also.« Daraus folgt die Unvermeidlichkeit des sogenannten Zirkels im Verstehen bzw. • hermeneutischen Zirkels«: vgl. Heidegger, Sein und Zeit, bes. S.152f., und Gadamer, Wahrheit und Methode, bes. S. 250 ff.; zur Vorgeschichte dieses .Zirkels der Aufgabe« vgl. F. Radi, .,Erkenntnis der Erkannten< - August Boeckhs Grundformel der hermeneutischen Wissenschaften«, in: H. Flashar / K. Gründer / A. Horstmann (Hrsg.), Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert, Göttingen 1979, S.68-83. Durchweg gilt Heideggers Feststellung: »Das Entscheidende ist nicht, aus dem Zirkel heraus- sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen.« (Sein und Zeit, S. 153.) 51 Etwa: O. Brunner / W. Conze / R. Kaselleck (Hrsg.), Geschicht-liehe Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart 1972 H.; J. Ritter [u. a.] (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel/Stuttgart 1971 H.; E. Rothacker, fortges. von K. Gründer (Hrsg.), Archiv für Begriffsgeschichte, Bann 1955 H.
Textnachweise Abschied vom Prinzipiellen. Auch eine autobiographische Einleitung (geschrieben im Januar 1981). - Erstveröffentlichung. Inkompetenzkompensationskompetenz? über Kompetenz und Inkompetenz der Philosophie (Vortrag in München am 28. September 1973). - In: Hans M. Baumgartner / Otfried HöHe / Christoph Wild (Hrsg.): Philosophie - Gesellschaft - Planung. Kolloquium, Hermann Krings zum 60. Geburtstag. München: Bayerisches Staatsinstirut für Hochschulforschung und Hochschulplanung, 1974. 5.114-125. Auch in: Philosophisches Jahrbuch 81 (1974) S.341-349. Abdr. nach: Gießener Universitätsblätter 1 (1974) S.89-99. Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts (Vortrag an der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel am 23. November 1978). - In: Bernhard Fabian / Wilhe1m Schmidt-Biggemann / Rudolf Vierhaus (Hrsg.): Deutschlands kulturelle Entfalrung: die Neubestimmung des Menschen. München: Kraus, 1980. (Srudien zum achtzehnten Jahrhundert. Bd. 2/3.) S. 193-209. Ende des Schicksals? Einige Bemerkungen über die Unvermeidlichkeit des Unverfügbaren (Vortrag in der Carl-Friedrich-von-SiemensStifrung in München am 21. Juni 1976). - In: Schicksal? Grenzen der Machbarkeit. Ein Symposion. Mit einem Nachw. von Mohammed Rassem. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1977. S.7-25. Lob des Polytheismus. über Monomythieund Polymythie(Vortragan der Technischen Universität Berlin am 31. Januar 1978). - In: Hans Poser (Hrsg.): Philosophie und Mythos. Ein Kolloquium. Berlin / New York: de Gruyter, 1979. S. 40-58. Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik dieAntwortist(Vortrag an der Universität Tübingen am 26. November 1979). - In: Philosophisches Jahrbuch 88 (1981) 5.1-19.
Biographische Notiz Odo Marquard, geboren am 26. Februar 1928 in Stolp (Pommern) 1934-45 Schulbesuch in Kolberg (Pommern), Sonthofen (Allgäu),
1945 1946 1947-54
1954 1955-63 1963
Ab 1965 1982/83 1985-87 1993 1994 Seit 1995
Falkenburg (Pommern) und als Luftwaffenhelfer bei Bremen Volkssturm, Kriegsgefangenschaft, dann in Norderney Abitur in Treysa (Hessen) Studium der Philosophie; Germanistik, evangelischen Theologie und katholischen Fundamentaltheologie sowie kunstgeschichtliche und historische Studien in Münster (Westf.) und Freiburg i. Br. Promotion zum Dr. phi!. in Freiburg i. Br. (bei Max Müller) Wissenschaftlicher Assistent am Philosophischen Seminar der Universität Münster (bei Joachim Ritter) Habilitation und Privatdozent für Philosophie in Münster Ordentlicher Professor für Philosophie an der JustusLiebig-Universität Gießen Fellow am Wissenschafts kolleg zu Berlin Präsident der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland Emeritierung Dr. phi!. h. c. der Universität Jena Ordentliches Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung
Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa (1984); ErwinStein-Preis (1992); Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik (1996); Hessischer Kulturpreis für Wissenschaft (1997). - Hessischer Verdienstorden (1990); Bundesverdienstkreuz 1. Klasse (1995).
Veröffentlichungen von Odo Marquard Bücher Skeptische Methode im Blick auf Kant. Freiburg i. Br. I München: Alber, 1958. '1982. Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1973. '1997. (stw 394.) Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien. Stuttgart: RecIam, 1981 [u. ö.]. (Universal-Bibliothek. 7724.) - EngI. Ausg. 1990. Poln. Ausg. 1994. Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien. Stuttgart: RecIam, 1986 [u. ö.]. (Universal-Bibliothek. 8352.) - EngI. Ausg. 1991. !tal. Ausg. 1991. Poln. Ausg. 1994. Transzendentaler Idealismus, romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse. Köln: Dinter, 1987. '1988. Aesthetica und Anaesthetica. Philosophische Überlegungen. Paderborn: Schöningh, 1989. '1994. - haI. Ausg. 1994. Skepsis und Zustimmung. Philosophische Studien. Stuttgart: RecIam, 1994 [u. ö.]. (Universal-Bibliothek. 9334.) Glück im Unglück. Philosophische Überlegungen. München: Fink, 1995. '1996. Philosophie des Stattdessen. Studien. Stuttgart: RecIam, 2000 [i. Vorb.].
H erausgeberlMitherausgeber Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von J. Ritter und K. Grunder in Verb. mit [...] Odo Marquard [...]. Bd. 1 H. Basel! Stuttgart: Schwabe, 1971 ff. [Bisher ersch. Bd.l-lO.] Identität. (Zus. mit K. Stierle.) München: Fink, 1979. (Poetik und Hermeneutik. 8.) Plessner, H.: Gesammelte Schriften. (Zus. mit G. Dux und E. Ströker.) 10 Bde. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1980-85. Anfang und Ende des menschlichen Lebens. Medizinethische Probleme. (Zus. mit H. Staudinger.) München/Paderborn: Fink! Schöningh, 1987. (Ethik der Wissenschaften. 4.) Ethische Probleme des ärztlichen Alltags. (Zus. mit E. Seidler und H. Staudinger.) München/Paderborn: Fink/Schöningh, 1988. (Ethik der Wissenschaften. 7.)
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Veröffentlichungen von Odo Marquard
Medizinische Ethik und soziale Verantwortung. (Zus. mit E. Seidler und H. Staudinger.) München/Paderborn: Fink/Schöningh, 1989. (Ethik der Wissenschaften. 8.) Einheit und Vielheit. XIV. Deutscher Kongreß für Philosophie Gießen, 21.-26. September 1987. (Unter Mitw. von P. Probst und EJ. Wetz.) Hamburg: Meiner, 1990. Möglichkeiten und Grenzen medizinischer Forschung und Behandlung. (Zus. mit S. Manth.) Berlin/Wien: Blackwell, 1996. (Ex libris >Roche<. 4.) Kontingenz. (Zus. mit G. v. Graevenitz.) München: Fink, 1998. (Poetik und Hermeneutik. 17.)
Inhalt Vorbemerkung
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Abschied vom Prinzipiellen Auch eine autobiographische Einleitung
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Inkompetenzkompensationskompetenz ? über Kompetenz und Inkompetenz der Philosophie
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Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . .
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Ende des Schicksals? Einige Bemerkungen über die Unvermeidlichkeit des Unverfügbaren ...............
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Lob des Polytheismus über Monomythie und Polymythie
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Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist
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Textnachweise
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Biographische Notiz
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Veröffentlichungen von Odo Marquard
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