Marco Iorio Regel und Grund
Ideen & Argumente Herausgegeben von Wilfried Hinsch und Lutz Wingert
De Gruyter
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Marco Iorio Regel und Grund
Ideen & Argumente Herausgegeben von Wilfried Hinsch und Lutz Wingert
De Gruyter
Marco Iorio
Regel und Grund Eine philosophische Abhandlung
De Gruyter
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfenfonds der Wissenschaft der VG Wort
ISBN 978-3-11-024575-2 e-ISBN 978-3-11-024576-9 ISSN 1862-1147 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Umschlaggestaltung: Martin Zech, Bremen Umschlagkonzept: ⫹malsy, Willich Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Für Rüdiger Bittner akademischer Lehrer philosophischer Freund und ein bisschen auch Vater
The study of rules should not be viewed as an isolated investigation but as part of a larger enterprise. The success of any theory of norms depends in part on its contribution to the clarification of the other main concepts of the philosophy of practical reason (or practical philosophy for short). Joseph Raz, Practical Reason and Norms, 1975, S. 10.
Vorwort Der Großteil dieser Abhandlung wurde während meines Aufenthalts als Junior Fellow am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald im akademischen Jahr 2008/09 verfasst. Ich möchte mich bei allen Menschen bedanken, die dieses Forschungsjahr möglich, das Leben und Arbeiten vor Ort so angenehm und wunderbar effektiv gemacht haben. Der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung schulde ich Dank für die großzügige Finanzierung des gesamten Unterfangens. Zu diesem zählte nicht nur mein Forschungsaufenthalt in Greifswald, sondern auch eine interdisziplinäre Fachtagung am Wissenschaftskolleg zum Konzept der Regel, die ich gemeinsam mit Rainer Reisenzein im Spätsommer 2009 durchgeführt habe. Mein besonderer Dank gilt jedoch nicht Institutionen, sondern wiederum Menschen. Dieser Dank geht insbesondere an Romy Jaster, Rüdiger Bittner, Jens Schnitker, Geo Siegwart und Peter Stemmer, deren hilfreiche und scharfsichtige Kommentare zu früheren Fassungen dieser Arbeit mir dabei halfen, Missverständnisse zu beheben und Fehler zu korrigieren. Schade, dass ihnen die verbliebenen Fehler nicht ebenfalls ins Auge gefallen sind. Berlin/Potsdam, November 2010
Inhalt Einleitung ……………………………………………...
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Teil 1 I II III IV V
Präliminarien …………………………………...… 13 Paradigmen ………………………………………. 34 Gebot und Anweisung ……………………………. 56 Regeln ……………………………………………. 86 Der Fall Hart gegen Austin ………………………. 119
Teil 2 VI Gründe …………………………………………... VII Gründe und Regeln ……………………………… VIII Sollen ……………………………………………. IX Dürfen …………………………………………... X Recht und Moral …………………………………
147 171 202 227 262
Anmerkungen …………………………………………. Literatur ……………………………………………….. Personenregister ……………………………………….. Sachregister …………………………………………….
293 315 325 326
Einleitung Ein Gespenst geht um auf dem Globus – das Gespenst der Normativität. Philosophen aller Couleur haben sich zu einer gewaltigen Hetzjagd nach diesem Gespenst verbündet. Es ist hohe Zeit, das Gespenst als Gespenst zu entlarven. Diese Entlarvung soll in den zehn Kapiteln dieser Abhandlung indirekt geschehen. Denn es ist schwer, Gespenster direkt als Gespenster zu entlarven. Das indirekte Vorgehen besteht dabei darin, bestimmte Phänomene und Begriffe zu klären, die zumeist involviert sind, wenn unter Philosophen von Normativität die Rede ist. Der zentrale Trick der Entlarvung liegt darin, bei der Klärung dieser Phänomene und Begriffe so wenig wie nur möglich von der Normativität zu reden. Normativität ist ein Gespenst, vielleicht besser: eine philosophische Schimäre. Man entlarvt Schimären und verjagt Gespenster am besten, indem man im Denken einen Standpunkt einnimmt, von dem aus es möglich ist, die Schimären und ihre schimärischen Schatten zu ignorieren. Manche philosophischen Probleme lassen sich bekanntermaßen nicht lösen. Man muss sie auflösen, indem man eine Perspektive entwickelt, in der diese Probleme erst gar nicht entstehen können. Die beiden Begriffe, deren Klärungen in dieser Abhandlung dazu beitragen sollen, die besagte Perspektive einzunehmen, sind der Begriff der Regel und der des praktischen Grundes. Was sind Regeln? Was sind Handlungsgründe? Und wie ist das Verhältnis zwischen Regeln – insbesondere solchen Regeln, die Normen sind – und Gründen beschaffen? Diese drei Fragen stehen im unmittelbaren Interesse der nachfolgenden Kapitel. Ihre Beantwortung wird hoffentlich mittelbar zugleich auch dem therapeutischen Zweck dienen, sich des Interesses an der
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Normativität weitestgehend zu entwöhnen. Regeln und Gründe sind ein spannendes und philosophisch aufschlussreiches Thema. Normativität kann dagegen nicht mithalten. Am Beginn des ersten Kapitels wird als Ausgangspunkt die Vereinbarung getroffen, in der vorliegenden Abhandlung einen weit gefassten Begriff der Regel vorauszusetzen. Nur manche Regeln sind Normen. Diese Voraussetzung liefert den Anlass dazu, für einen ersten Überblick über das Untersuchungsgelände die relevanten Unterschiede zwischen verschiedenen Formen von Regeln zu klären. Die Menge aller Regeln wird im Zuge dieses Überblicks in drei Hauptarten eingeteilt: Neben den deskriptiven und den präskriptiven Regeln gibt es eine Gruppe, die ich konsultative Regeln nennen werde. Alle drei Arten von Regeln lassen sich anhand unterschiedlicher Regeltypen (Unterarten) genauer differenzieren. Im Zuge dieser Unterscheidungen wird eine Typologie von Regeln entfaltet, die neben Gebots-, Verbots-, Erlaubnis- und Strafregeln unter anderem auch Verfahrensregeln, allgemeine Ratschläge sowie Faust- bzw. Daumenregeln umfasst. Ein weiterer Gegenstand der Vorüberlegungen des ersten Kapitels betrifft zwei Mehrdeutigkeiten des Ausdrucks ‚Regel‘. Dieses Wort dient sowohl dazu, auf Regelmäßigkeiten etwa im Verhalten eines Individuums (oder einer Gruppe von Individuen) zu verweisen. Es dient aber auch dazu, den semantischen Inhalt einer Regel zu bezeichnen, deren Beachtung durch die Akteure zur Entstehung einer Verhaltensregelmäßigkeit beitragen kann. Darüber hinaus ist der Ausdruck mehrdeutig, insofern er neben den Regelinhalten auch die Regelsätze meinen kann, die man verwendet, um die betreffenden Inhalte zur Sprache zu bringen. Regeln werden am Ende des ersten Kapitels aus heuristischen Gründen vorübergehend mit den propositionalen Inhalten von Regelsätzen identifiziert. Die Analyse des Regelkonzepts, die erst im dritten Kapitel stattfinden kann, wird diese Identität jedoch wieder aufheben. Regeln sind im dann intendierten Sinn des Wortes weder Regularitäten noch Regelsätze noch die propositionalen Gehalte dieser Sätze.
Einleitung
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Auch wenn im Rahmen der ersten Vorüberlegungen des Eröffnungskapitels bereits einige Anmerkungen zu moralisch und juridisch relevanten Begriffen (wie etwa denen der Pflicht, der Verpflichtung, des Rechts und der Rechtsnorm) fallen, werden alle moral- und rechtsphilosophischen Verflechtungen der Problematik bis zum Ende des ersten Teils der Abhandlung ausdrücklich zurückgestellt. Das oberste Anliegen der frühen Kapitel dieser Arbeit besteht darin, einen möglichst klaren und allgemeinen Begriff der Regel zu entfalten. Auch das zweite Kapitel hat vorbereitenden und insofern präliminarischen Charakter. Hier geht es weniger darum, den Blick für unterschiedliche Arten und Typen von Regeln zu schärfen. Hier geht es vor allem darum, sich zu vergegenwärtigen, dass Menschen mit Regeln ganz unterschiedliche Dinge tun. Zu diesem Zweck wird eingangs auf das Kommunizieren über Regeln kurz eingegangen. Daraufhin wird das Aufstellen, Ändern und Abschaffen von Regeln durch ihre Regelautoren thematisiert. Aus der Perspektive der Regeladressaten unterscheide ich des Weiteren zwischen dem Akzeptieren, dem Anwenden, dem Befolgen und dem Folgen von Regeln. Vor allem hier gilt es, sich für eine Reihe von wichtigen Unterschieden zu sensibilisieren, die in der (sprach-, sozial-, moral- und rechtsphilosophischen) Diskussion über Regeln und dem Regelfolgen nicht selten übergangen werden. Wenn ein Akteur einer Regel folgt, steht sein Verhalten in unterschiedlichen Kontexten in ganz verschiedenen Verhältnissen zur involvierten Regel. Man sollte hier genauer differenzieren. Man kann nicht alles über einen Kamm scheren. Nachdem in den beiden vorbereitenden Kapiteln unterschiedliche Regeltypen und einige Formen des Umgangs mit Regeln verdeutlicht wurden, konzentriere ich mich im dritten Kapitel auf genau einen Regeltypus und genau einen Regelumgang. Am Beispiel des Aufstellens einer Gebotsregel führe ich eine Analyse des Regelbegriffs durch, die im Rest der Abhandlung als Paradigma dient. Gebotsregeln, die zur Art der präskriptiven Regeln gehören, sind als generalisierte Anweisungen aufzufassen,
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die Regelautoren an Regeladressaten richten. Diese Anweisungen geben eine bestimmte Struktur zu erkennen, die wir später auch im Fall aller anderen Arten und Typen von Regeln wiederfinden werden. In der Tat erklärt diese gemeinsame Regelstruktur, warum alle Arten von Regeln trotz des nicht zu unterschätzenden Ausmaßes ihrer Verschiedenheiten allesamt Regeln sind. Aber ein Hauptanliegen der frühen Kapitel dieser Abhandlung besteht nicht nur darin, das gemeinsame (strukturelle) Moment aller Regeln ans Licht zu stellen. Fast wichtiger noch ist es, sich die kategorialen Unterschiede zwischen den Regelarten zu vergegenwärtigen. Nur so können Verwechslungen und Missverständnisse mit zum Teil haarsträubenden Folgen vermieden werden. Das vierte Kapitel knüpft an die Analyse der Gebotsregeln an. Hier wird zuerst gezeigt, inwiefern die Deutung der Gebotsregeln als generalisierte Anweisungen mit allen Formen des Regelumgangs harmoniert, die im zweiten Kapitel erläutert werden. Daraufhin werden die übrigen Typen präskriptiver und konsultativer Regeln im Licht der paradigmatischen Deutung von Gebotsregeln untersucht. Dabei zeigt sich, inwiefern alle Typen präskriptiver Regeln als generalisierte Anweisungen zu begreifen sind. Die konsultativen Regeln werden hingegen als generalisierte Ratschläge bzw. generalisierte Absichten (oder Vorsätze) interpretiert. Deskriptive Regeln (darunter auch Naturgesetze) ihrerseits lassen sich nach den strukturellen Vorgaben des etablierten Paradigmas als generalisierte Aussagen (oder Behauptungen) deuten. Regeln, so zeigt sich, haben eine gemeinsame Struktur, die aus ihrem geteilten Wesen als Verallgemeinerungen singulärer Phänomene resultiert. Aber jenseits dieser strukturellen Gemeinsamkeit sind die sachlichen bzw. ontologischen Unterschiede zwischen den Regelarten größer, als man anfangs wahrscheinlich meinen würde. Denn Anweisungen, Ratschläge, Vorsätze und Aussagen lassen sich auf keinen gemeinsamen Nenner bringen. Das fünfte Kapitel schließt den ersten Teil der Abhandlung ab und wendet sich erstmals ausdrücklich auch rechtsphiloso-
Einleitung
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phischen Sachverhalten zu. Da die entwickelte Konzeption präskriptiver Regeln eine unübersehbare Verwandtschaft mit John Austins präskriptivistischer Rechtstheorie aufweist, werden die drei zentralen Kritikpunkte erörtert, die Herbert Hart gegen Austins Präskriptivismus vorgebracht hat. Dem ersten Einwand von Hart zufolge trifft Austins Verständnis staatlicher Regeln (bzw. Rechtsregeln oder auch Rechtsnormen) nur auf eine von zwei Gruppen staatlicher Gesetze zu. Hart hat in dieser Sache zwar recht. Aber seine Kritik an Austin trifft nicht die hier vertretene Konzeption solcher staatlicher Regeln, die sich unter das Konzept der präskriptiven Regel als Anweisung fassen lassen. – Dem zweiten Einwand Harts zufolge gibt es Rechtsregeln, die nicht auf einen Anweisungsakt eines Gesetzgebers zurückführbar sind und daher weder im Sinne Austins als Befehle noch im Sinne der hier vertretenen Konzeption als Anweisungen zu deuten sind. Um diesem Einwand zu begegnen, versuche ich zu zeigen, dass Hart präskriptive Regeln, die notwendigerweise einen Regelautor voraussetzen, mit deskriptiven Regeln verwechselt bzw. deren kategorialen Unterschied nicht zur Kenntnis nimmt. Auch Hart hat, anders gesagt, zwischen grundsätzlich verschiedenen Arten von Regeln nicht hinlänglich klar differenziert. – Der dritte Einwand von Hart beruht auf einem Verständnis liberal-demokratischer Rechtsstaaten, dem Austins Rechtstheorie nicht gerecht zu werden vermag. Wie ich zeigen werde, stößt die hier vertretene Regeltheorie in dieser Hinsicht auf kein Problem. Denn diese Theorie ist facettenreich genug, um den berechtigten Ansprüchen Harts Rechnung tragen zu können. Ohne engeren Zusammenhang mit der Hauptthematik des Kapitels endet der erste Teil der Abhandlung mit einem Ausflug in die Gefilde kategorischer und hypothetischer Imperative. Das Ergebnis dieses Exkurses, der auf der entwickelten Analyse präskriptiver Regeln beruht, lässt sich auf die These zuspitzen, dass die Regelperspektive zu erkennen gibt, inwiefern es Imperative der zweiten Art nicht gibt. Denn was vordergründig als hypothetischer bzw. bedingter Imperativ erscheint, erweist sich
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bei näherer Prüfung entweder als ein kategorischer Imperativ oder als etwas, das mit Imperativen nicht viel gemein hat. Das sechste Kapitel eröffnet den zweiten Teil der Abhandlung. Hier steht zuerst das handlungstheoretisch relevante Konzept praktischer Gründe im Mittelpunkt. In Abgrenzung zu den derzeit etablierten Theorien praktischer Gründe entwickle ich ausgehend vom Paradigma des Entscheidens die Position, dass die Gründe für und wider eine Handlung mit den vorteilhaften bzw. nachteiligen Aspekten dieser Handlung identisch sind. Diese Position, die durch eine Unterscheidung zwischen primären und nicht-primären Gründen verfeinert wird, erlaubt es zum einen, die verwirrende Vielzahl unterschiedlicher Theorien praktischer Gründe zu erklären, die in der handlungstheoretischen Diskussion vertreten werden. All diese Theorien haben zwar durchgängig Gründe von Handlungen im Visier. Aber sie verwechseln mehrheitlich verschiedene Arten nicht-primärer Erklärungsgründe mit den primären Gründen einer Handlung, auf denen die nicht-primären beruhen. Zum anderen dient die dargelegte Konzeption primärer Handlungsgründe dazu, im weiteren Verlauf der Abhandlung mit der gebotenen Sorgfältigkeit zwischen den verschiedenen Arten von Regeln einerseits und praktischen Gründen andererseits zu unterscheiden. Um diesen systematisch wichtigen Unterschied zwischen Regeln und Gründen kenntlich zu machen, gehe ich im siebten Kapitel alle Umgangsformen und alle Regeltypen noch einmal durch, die wir in den beiden Anfangskapiteln dieser Abhandlung kennenlernen werden. In jedem einzelnen Fall ist danach zu fragen, wie sich die Regeln zu den Handlungsgründen der involvierten Akteure verhalten. Wie sich zeigen wird, lassen sich bestimmte Typen von Regeln in manchen Situationen durchaus als nicht-primäre Erklärungsgründe deuten. Menschen tun insofern zuweilen, was sie tun, weil es bestimmte Regeln gibt. Als primäre Handlungsgründe kommen Regeln jedoch niemals in Betracht. Man kann aus Gründen, nicht jedoch aus Regeln handeln. Regeln, so also das Hauptergebnis dieses Kapitels, sind per se niemals die primären Gründe, aus
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denen sich die Regeladressaten den Regeln entsprechend verhalten. Dieses für die gesamte Abhandlung zentrale Zwischenergebnis führt zu Beginn des achten Kapitels zu einem aufschlussreichen Paradox. Einerseits soll der Adressat einer Gebotsregel dem Autor der Regel zufolge in bestimmten Situationen etwas Bestimmtes tun. Andererseits kann sich der Adressat mit Blick auf seine Handlungsgründe stets frage, ob er tatsächlich tun soll, was er der Regel zufolge tun soll. Wie kann sich der Adressat aber fragen, ob er soll, was er soll? Die Auflösung dieses Paradoxes führt zu einer weiteren Unterscheidung. Diesmal geht es um den Unterschied zweier Verwendungsweisen des Verbs ‚sollen‘. Die Klärung dieser Verwendungsweisen unterstreicht nicht nur die kategorische Verschiedenheit von Regeln und Gründen. Diese Klärung führt auch zum Gespenst der Normativität zurück. Denn dieses Gespenst ernährt sich größtenteils von einer unangemessenen Vermengung der beiden Wortverwendungen, wie sich zeigen wird. Wir können daher im achten Kapitel damit beginnen, dem Ungeheuer seine Nahrungsreserven zu entziehen. Dabei kommen auch schon einige rationalitäts- und weitere rechtsphilosophische Überlegungen zur Sprache. Rechtsphilosophische Überlegungen stehen dann im Zentrum des vorletzten Kapitels. Nachdem gezeigt ist, dass das Verb ‚sollen‘ unterschiedliche Bedeutungen hat, wird es den Leser kaum noch überraschen, dass auch das Verb ‚dürfen‘ bedeutungsreicher ist, als man dies ohne genauere Betrachtung glauben würde. Im ersten Teil des Kapitels wird es um Befugnisse, Freiheiten, Rechte und rechtliche Ansprüche gehen, die bestimmte Adressaten aufgrund bestimmter Rechtsregeln eines politischen Regelsetzers haben. Hier werden wir unter anderem sehen, dass juridische Rechte und Pflichten als spezifisch komponierte Cluster präskriptiver Regeln zu analysieren sind. Im zweiten Teil des Kapitels wenden wir uns von den Befugnissen und Rechten der Regeladressaten ab und der Regelungsbefugnis politischer Regelautoren zu. Worauf beruht das Recht be-
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stimmter Leute, den Mitgliedern einer politischen Gemeinschaft Rechtsregeln vorzuschreiben? Was verschafft diesen Regeln ihre Legitimität? Diese Frage wird durch eine Diskussion der politischen Philosophie von Thomas Hobbes zu beantworten sein. Hobbes verwechselt zwei Verwendungsweisen des Ausdrucks ‚dürfen‘. Hat man diese Verwechslung durchschaut, lässt sich aus seiner Theorie eine plausible Beantwortung der Legitimitätsfrage entwickeln. Die Auseinandersetzung mit Hobbes wird ihn zu einem konsequenten Vertreter des Rechtspositivismus machen. Und der Rechtspositivismus und sein Verhältnis zur Moral werden dann auch zu den Hauptthemen des Abschlusskapitels dieser Abhandlung gehören. In diesem Kapitel werde ich zuerst zeigen, inwiefern sich die positivistische Auffassung vom Verhältnis zwischen dem Recht und der Moral bruchlos an das gezeichnete Bild von Regeln und Gründen anschließen lässt. Das Recht ist als ein System von Rechtsnormen erfassbar, das ohne notwendigen Bezug auf die Moral zu begreifen ist, die ich ihrerseits nach den Vorgaben des jüngeren Partikularismus deute. Dem moralischen Partikularismus zufolge ist die Moral anders als das Recht kein System von Regeln, Normen oder Prinzipien. Im Zentrum des Moralkonzepts steht vielmehr der Begriff des moralischen Grundes. Und moralische Gründe im Besonderen unterscheiden sich von Regeln und Normen so klar und deutlich, wie es Handlungsgründe auch im Allgemeinen tun. Vor dem Hintergrund einiger Ausführungen über moralische Gründe, die an die zuvor entwickelte Theorie praktischer Gründe anschließen, komme ich dann im zweiten Teil des Kapitels noch einmal auf den Rechtspositivismus und sein Verhältnis zur Moral zurück. Hier werde ich zwischen dem Recht, verstanden als einem System staatlicher Gesetze, und dem Recht im Sinne einer praktizierten Rechtskultur unterscheiden. Dieser Unterschied zwischen Rechtssystem und Rechtskultur soll abschließend helfen, zwischen den Rechtspositivisten und ihren rechtsmoralischen Kritikern zu vermitteln. Die Rede vom Recht ist dieser Vermittlung zufolge ambig. Beide Seiten haben
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auf je ihre Weise recht. – Einige Überlegungen zum konfliktreichen Verhältnis zwischen der Moral und der Vernunft, die auf dem dargelegten Verständnis praktischer und moralischer Gründe beruhen, stehen schließlich am Ende dieser Abhandlung. Von Normativität, dies wurde eingangs bereits angedeutet, wird auf den nachfolgenden Seiten implizit viel, explizit jedoch eher selten die Rede sein. Trotzdem hoffe ich, dass die zehn Kapitel dieser Abhandlung zur Klärung solcher Phänomene beitragen, die zumeist intendiert sind, wenn über Normativität gesprochen wird. Diese Phänomene sind interessant. Ihre Klärung ist wichtig. Normativität ist weder das eine noch das andere. Vielleicht noch mehr: Eine Fixierung auf das Normativitätskonzept stand und steht dem Verständnis der relevanten Phänomene nicht selten im Weg.
Teil 1
I Präliminarien Regeln spielen nicht nur im Alltag, sondern auch in nahezu allen Bereichen der Philosophie und den übrigen Disziplinen der Wissenschaft eine große Rolle. Entsprechend viel und häufig ist über Regeln zu lesen. Dabei wird in der einschlägigen Literatur jedoch nur selten über die Frage reflektiert, was Regeln ihrer Natur nach eigentlich sind. Nicht zuletzt aus diesem Grund wird es in den ersten vier Kapiteln dieser Abhandlung vornehmlich um die Beantwortung dieser Frage gehen. Wir können dieses Problem jedoch erst angehen, wenn geklärt ist, in welcher Bedeutung des Wortes in der vorliegenden Arbeit von Regeln die Rede ist. Denn nicht nur der Ausdruck ‚Regel‘ wird in philosophischen und außerphilosophischen Zusammenhängen in unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. Auch mit ihm thematisch verwandte Wörter wie ‚Gesetz‘, ‚Norm‘, ‚Prinzip‘ oder ‚Konvention‘ werden in unterschiedlichen Kontexten in den verschiedensten Bedeutungen gebraucht.1 Tatsächlich, so wird im Verlauf der Abhandlung noch genauer zu sehen sein, ist die Vielzahl der etablierten Verwendungen der genannten Ausdrücke nicht in ein konsistentes Gesamtbild zu integrieren. Wir werden hier nach und nach eine Ordnung erst schaffen müssen, was leider auch bedeutet, bestimmte Verwendungen dieser Vokabeln zurückzuweisen. Es wird mir jedoch hoffentlich gelingen, diese Zurückweisungen plausibel zu begründen. Ein konsistentes und möglichst kohärentes Gesamtbild von Regeln ist jedenfalls das vornehmliche Ziel des ersten Teils dieser Abhandlung. Ein Aspekt der vorherrschenden Sprachunordnung zeigt sich darin, dass zuweilen Gesetze, Normen, Konventionen usw. als unterschiedliche Formen von Regeln gelten, wodurch der
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Regelbegriff einen weiten Umfang erhält. In anderen Zusammenhängen taucht hingegen das Konzept der Norm als Oberbegriff auf. In dem Fall sind dann Regeln, Gesetze und Konventionen spezielle Arten von Normen und der Regelbegriff ist entsprechend eng gefasst. Nicht nur die Terminologie ist also uneinheitlich. Auch bezüglich der konzeptuellen Verhältnisse herrscht kein geteiltes Verständnis. Wie im Zuge der vorbereitenden Ausführungen dieses Kapitels deutlich wird, schlage ich den ersten der beiden skizzierten Wege ein. Ein weit gefasstes Konzept der Regel dient als Oberbegriff, der die übrigen Phänomene zu umfassen erlaubt. Nicht zuletzt aufgrund des großen Umfangs, den der Begriff durch diese Vereinbarung erhält, werde ich in diesem einleitenden Kapitel damit beginnen, verschiedene Arten und Unterarten (Typen) von Regeln voneinander zu unterscheiden. Diesem Zweck dienen die nachfolgenden sieben Abschnitte. Die beiden abschließenden Abschnitte des Kapitels bringen andere Arten von Unterschieden zur Sprache, deren Klärung dem weiteren Fortgang der Abhandlung den Boden bereitet. 1 Beginnen wir mit dem zentralen Unterschied zwischen präskriptiven und deskriptiven Regeln, der dem Unterschied zwischen Naturgesetzen im älteren und im modernen Sinn des Wortes entspricht.2 Die drei Sätze „Wer eine Sechs würfelt, muss aussetzen“, „Wer ein Ass zieht, muss noch eine Karte nehmen“ und „Der jüngste Spieler darf anfangen“ bringen präskriptive Regeln zum Ausdruck. Im Fall der Sätze „Im März sind die Alpen schneebedeckt“ und „Alle Schwäne dieser Gegend sind schwarz“ kann man von deskriptiven Regeln sprechen. Bei den zuerst thematisierten Regeln handelt es sich offenkundig um die eines Spiels. Sie klären beispielsweise die Frage, welcher Spieler zu Beginn der Partie den ersten Spielzug unternehmen darf, und legen damit zugleich auch fest, wie zu verfahren ist, damit das Spiel ordnungsgemäß seinen Lauf nimmt. Bei einer deskriptiven Regel handelt es sich hingegen
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um eine Auskunft etwa darüber, wie es normalerweise im Frühjahr um den Schneebestand in den Alpen bestellt ist. Eine deskriptive Regel ähnelt insofern einem Naturgesetz, als sie eine wahre oder falsche Aussage beispielsweise darüber ist, was in einer bestimmten Gegend dieser Welt regelmäßig der Fall ist. Anders als ein Naturgesetz wird eine deskriptive Regel jedoch nicht durch vereinzelte Ausnahmen in Misskredit gezogen oder gar falsifiziert. Denn die Aussage, dass im März in den Alpen Schnee liegt, wird in ihrer üblicherweise intendierten Bedeutung nicht dadurch falsch, dass es hin und wieder einen März gibt oder geben könnte, in dem kein Schnee in den Alpen liegt. Diesem inhaltlichen Punkt kann man formal auch dadurch Rechnung tragen, dass man eine (zumeist ohnehin stillschweigend angenommene) Ausnahmeklausel in die Formulierung der Regel einbaut. Die dadurch entstehenden Sätze „Normalerweise sind die Alpen im März schneebedeckt“ und „In den Alpen liegt im März in aller Regel Schnee“ machen kenntlich, inwiefern sich deskriptive Regeln von Naturgesetzen unterscheiden. Regeln dieser Art sind, wenn man so will, Gesetze, die vereinzelte Ausnahmen einräumen. Anstatt zu sagen, deskriptive Regeln seien ein spezieller Typus von Naturgesetzen, nämlich diejenigen, die vereinzelte Ausnahmen zulassen, kann man die konzeptuellen Verhältnisse auch umkehren. In der Tat ist es mit Blick auf die weiteren Überlegungen hilfreich, wenn wir uns Naturgesetze als eine Unterart der deskriptiven Regeln denken. Deskriptive Regeln bilden dieser Vereinbarung gemäß also ein Genus (eine Art), von dem die Naturgesetze eine Spezies (ein Typ) sind. Die Naturgesetze könnten angesichts dieser terminologischen Festsetzung auch als Menge derjenigen deskriptiven Regeln gekennzeichnet werden, die keine Ausnahmen kennen.3 Der so gefasste Begriff der deskriptiven Regel erlaubt es, weitere Unterfälle als Spezies dieses Genus zu klassifizieren. Nicht nur kontingente Generalisierungen, wie sie in Sätzen der Art „Alle Schwäne dieser Gegend sind weiß“ zur Sprache kommen, können wir neben den (strikten) Naturgesetzen als
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Unterfälle deskriptiver Regeln fassen. Bestimmte Formen statistischer Gesetzesaussagen kann man ebenfalls unter das Konzept der deskriptiven Regel subsumieren. Auch solche Fälle, die in der jüngeren Diskussion unter dem Stichwort Habituale thematisiert werden und (zumeist) das gewohnheitsmäßige Verhalten von Personen zum Gegenstand haben, bilden eine Teilmenge bzw. einen Typus der deskriptiven Regeln.4 Hier haben wir es wieder mit generalisierenden Aussagen zu tun, die nicht dadurch falsch werden, dass sich Ausnahmen von der Generalisierung nachweisen lassen. „Familie Müller geht samstags einkaufen“, „Herr Meier sieht abends fern“ und „Frau Schmidt fährt im Winter Ski“ sind hierfür Beispiele. Habituale müssen sich freilich nicht notwendigerweise auf einzelne Individuen und deren Verhaltensgewohnheiten beziehen. Auch mit Blick auf soziale Gruppen kann man Regelmäßigkeiten des Verhaltens konstatieren und insofern von sozialen Gewohnheiten oder gesellschaftstypischen Eigentümlichkeiten sprechen. Daher können Sätze der folgenden Art ebenfalls als Habituale gedeutet und damit unter das Konzept der deskriptiven Regel gefasst werden: „Schwaben sind fleißig“, „In Hessen trinken die Leute lieber Wein als Bier“, „Bei Spielen der Fußballnationalmannschaft sitzt ganz Italien vor dem Fernseher“. – Auch wenn im Zentrum dieser Abhandlung zumeist bestimmte Formen präskriptiver Regeln stehen werden, sei bereits hier darauf hingewiesen, dass wir auf deskriptive Regeln der zuletzt erläuterten Art noch häufiger zu sprechen kommen. Denn die Gefahr ist groß, sie mit präskriptiven Regeln zu verwechseln. 2 Lassen wir die deskriptiven Regeln vorübergehend beiseite und wenden uns dem Begriff der präskriptiven Regel zu. Hier muss man um der Klarheit willen drei unterschiedlich weite Begriffsumfänge unterscheiden. Eine präskriptive, also vorschreibende Regel im engsten Sinn des Wortes ist offenkundig eine Vorschrift bzw. ein Gebot. Eine Regel dieser Art schreibt vor, wer in welcher Art von Situation etwas Bestimmtes tun soll.
Präliminarien
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Und insofern man auch vorschreiben kann, in bestimmten Situationen bestimmte Handlungsweisen zu unterlassen, fallen Verbote – verstanden als Unterlassungsgebote – ebenfalls unter den engsten Begriff der präskriptiven Regel. Ein etwas umfassenderer Begriff der präskriptiven Regel umschließt nicht nur Gebote und Verbote, sondern auch Erlaubnisse. Erlaubnisregeln sind gewissermaßen die Schwestern der vorschreibenden Regeln. Denn diese Regeln legen fest, wer in welcher Art von Situation Dinge welcher Art tun darf. – Rein dem Wortlaut nach ist es merkwürdig, eine Regel, die besagt, wer wann etwas tun darf, als präskriptive, also vorschreibende Regel zu bezeichnen. 5 Und tatsächlich stoßen wir an dieser Stelle auf ein Loch in unserer Sprache. Denn es gibt keine bessere Bezeichnung für die Menge von Regeln, die nicht nur Vorschriften, sondern auch deren Pendant, die Erlaubnisregeln, umfasst. Mit diesem sprachlichen Handicap müssen wir leben. In der umfassendsten Bedeutung werden schließlich oft all diejenigen Regeln als präskriptive klassifiziert, die keine deskriptiven Regeln sind. Dadurch treten auch allgemeine Ratschläge, Daumen- bzw. Faustregeln mit auf den Plan, die wir in den späteren Abschnitten dieses Kapitels noch genauer in Augenschein nehmen werden. Im Moment ist nur der Umstand von Belang, dass die Elemente der jetzt zusätzlich ins Spiel gekommenen Menge von Regeln wörtlich genommen noch weniger präskriptiv, also vorschreibend sind, als es die Erlaubnisregeln waren. Dass eine Regel in dieser sehr weiten Bedeutung des Wortes präskriptiv ist, besagt, ich wiederhole, einzig und allein, dass sie nicht zu den deskriptiven Regeln gehört. Auch hier müssen wir ein Loch in der Sprache zur Kenntnis nehmen. Denn es gibt keine bessere Bezeichnung für die Menge aller nicht-deskriptiven Regeln. Um angesichts dieser drei Begriffsumfänge unnötige Missverständnisse zu vermeiden, sollten wir uns auf eine terminologische Fixierung verständigen.6 Was soll mit der Rede von den präskriptiven Regeln gemeint sein? Für den engsten der
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drei erläuterten Begriffe benötigen wir diese Rede nicht. Denn in diesem engen Sinn sind nur Gebotsregeln präskriptive Regeln. Daher reicht es hin, wenn wir hier durchgängig bei der Bezeichnung ‚Gebotsregeln‘ bleiben. – Mit Blick auf die umfassende Menge aller nicht-deskriptiven Regeln sollten wir besser nicht von präskriptiven Regeln sprechen. Denn wie bereits angedeutet, enthält diese Menge Elemente, für die die Rede von einer präskriptiven Regel allzu unangemessen erscheint. Wir werden diesen Elementen gleich einen eigenen Namen geben. Bleibt also der mittlere Begriffsumfang als geeignetster Kandidat für die Rede von den präskriptiven Regeln. Diese Rede ist auch hier mit Vorsicht zu genießen, wie gesehen. Denn der Begriff umfasst auch Regeln, die nicht im Wortsinn Präskriptionen, also Vorschriften sind. Aber wir werden im vierten Kapitel sehen, inwiefern alle ab jetzt präskriptiv genannten Regeln, also auch Erlaubnisregeln und weitere Regeltypen, die wir in diesem Kapitel noch kennenlernen werden, einen vorschreibenden Charakter teilen. Regeln, die weder deskriptiv noch im jetzt fixierten Sinn des Wortes präskriptiv sind, seien von nun an konsultative Regeln genannt. Was es mit dieser Bezeichnung auf sich hat, wird sich im sechsten und siebten Abschnitt des Kapitels klären. 3 Hat man sich erst einmal für den Tatbestand sensibilisiert, dass das Phänomen des Lochs in der Sprache existiert, merkt man rasch, dass es zahlreiche Löcher bzw. Lücken dieser Art gibt. Ich habe im zurückliegenden Abschnitt mit dem engsten Konzept der präskriptiven, also vorschreibenden Regel begonnen und mit Blick auf diese Regeln nicht nur von Vorschriften, sondern auch von Geboten gesprochen. Wo immer in diesem Sinn von Vorschriften die Rede ist, kann man in einem künstlich erweiterten Sinn dieser Worte alternativ auch von Geboten, Pflichten oder Verpflichtungen sprechen. Dass es sich dabei in vielen Fällen um künstlich erweiterte Bedeutungen der genannten Ausdrücke handelt, ist daran zu erkennen, dass Gebotsre-
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geln auch in solchen Lebensbereichen ein bestimmtes Handeln vorschreiben können, in denen es überzogen klingt, von einem Gebot, einer Pflicht oder einer Verpflichtung im eigentlichen Sinn dieser Worte zu sprechen. Diese drei Ausdrücke, die wir in unserem Kontext als gleichbedeutend erachten können, stammen aus dem rechtlichen und moralischen Bereich. Daher ist es nicht verwunderlich, dass nur Regeln aus diesen Bereichen, also rechtliche und moralische Gebotsregeln, in der normalen Bedeutung dieser Ausdrücke mit Pflichten bzw. Verpflichtungen einhergehen. Viele präskriptive Regeln sind indes auch in solchen Lebensbereichen relevant, die mit der Moral oder mit dem Recht nicht unmittelbar zu tun haben. Eine Fußballregel mag zum Beispiel lauten, dass der Torhüter ein Trikot tragen muss, durch das er sich deutlich von den Feldspielern seiner Mannschaft unterscheidet. Und gerade weil es sich hierbei weder um eine moralische noch um eine rechtliche Regel handelt, klingt es unangemessen dramatisch, von irgendwelchen Verpflichtungen, Pflichten oder Geboten zu sprechen, denen die Torhüter beim Fußball unterstehen. Tatsächlich hat unsere Sprache auch an dieser Stelle ein Loch. Es steht nämlich kein Wort zur Verfügung, das dazu dienen könnte, die künstlich erweiterte Rede von den Geboten, Pflichten oder Verpflichtungen zu ersetzen. Freilich könnte man aus diesem Grund ein Kunstwort einführen, um die Lücke zu schließen. Man könnte etwa von Obligationen sprechen und moralische sowie rechtliche Pflichten als Unterfälle dieser Kategorie behandeln. Aber diese Redeweise würde nur eine Künstlichkeit durch eine andere ersetzen. Gewonnen wäre daher nicht viel. Versuchen wir also besser, mit dem etablierten Vokabular zu wirtschaften. Da wir es momentan mit präskriptiven Regeln zu tun haben, die es allen oder bestimmten Menschen vorschreiben bzw. gebieten, ein bestimmtes Tun oder Lassen an den Tag zu legen, werde ich von Vorschriften und notgedrungen auch von Geboten bzw. Gebotsregeln sprechen. Wenigstens auf die Ausdrücke ‚Pflicht‘ und ‚Verpflichtung‘ werde ich bis ins achte Kapitel verzichten.7
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Analoge Beobachtungen lassen sich auch mit Blick auf das Verhältnis zwischen den Erlaubnisregeln und dem Rechtsbegriff anstellen. Auch hier kann man in einer künstlich erweiterten Bedeutung sagen, dass eine Person, die die Erlaubnis hat bzw. dazu befugt ist, Dinge bestimmter Art zu tun, die Berechtigung bzw. das Recht hat, diese Dinge zu tun. Man muss sich jedoch auch an dieser Stelle klarmachen, dass Rechte genau genommen nur im Fall moralischer und juridischer Erlaubnisregeln ihre Heimat haben. Es ist streng genommen nicht korrekt zu sagen, der Torhüter habe das Recht, den Ball in seinem Strafraum mit der Hand zu spielen. Wieder hat man den Eindruck, hier werde mit Kanonen auf Spatzen geschossen. So wie Torhüter qua Torhüter keine Pflichten haben, haben sie in dieser Funktion auch keine Rechte. Anders als im Fall der Verbotsregeln weist die normale Sprache im Fall der Erlaubnisregeln aber keine Lücke auf. Statt von Rechten oder Berechtigungen können wir hier problemlos auf die umfassenderen und damit neutralen Begriffe der Erlaubnis oder der Befugnis ausweichen. Torhüter haben als Torhüter keine Rechte. Qua Torhüter verfügen sie indes sehr wohl über Erlaubnisse. Als Torwart ist man zu bestimmten Dingen befugt. Daher werde ich bis zum neunten Kapitel die Ausdrücke ‚Recht‘ und ‚Berechtigung‘ vermeiden. Dort werden wir klären, wodurch sich (juridische) Rechte von solchen Befugnissen bzw. Erlaubnissen unterscheiden, die keine Rechte sind. Eine weitere terminologische Vorbemerkung: Gebots-, Verbots- und Erlaubnisregeln, die mit moralischen und juridischen Pflichten und Rechten einhergehen, werden in der Literatur oft auch als moralische und juridische Normen bezeichnet. Aus den eben erläuterten Gründen werde ich in der nachfolgenden Diskussion jedoch auch auf die (engere) Rede von den Normen verzichten, um den allgemeineren Regelbegriff im Auge zu behalten. Normen moralischer oder rechtlicher Natur unterscheiden sich von den übrigen präskriptiven Regeln durch ihren moralischen bzw. rechtlichen Inhalt. In den frühen Kapiteln dieser Abhandlung sind wir jedoch noch nicht an diesen
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Inhalten interessiert. Es geht vielmehr um Normen, insofern sie eine Form von Regeln sind. 4 In diesem und dem nachfolgenden Abschnitt möchte ich drei Regeltypen vorstellen, die zumindest vorübergehend zur Art der präskriptiven Regeln gezählt werden sollen. Ob sie wirklich dazu zählen, werden wir erst im vierten Kapitel diskutieren können, wenn der Begriff der präskriptiven Regel geklärt sein wird. Regeln des ersten Typs sind nicht unmittelbar Verhaltensregeln, sondern Vorkehrungsregeln, wie man sie nennen könnte. Paradigmatische Vorkehrungsregeln sind solche, die Auskunft darüber geben, welche Vorbereitungen beispielsweise vor Beginn eines Spiels zu treffen sind. Es ist eine Vorkehrungsregel des Fußballs, dass das Spielfeld die und die Ausmaße haben und bestimmte Markierungen aufweisen muss. Eine andere Regel dieses Typs besagt, dass sich jedes Team aus zehn Feldspielern und einem Torhüter zusammensetzt. Auch wenn es in der Anleitung zu einem Kartenspiel heißt: „Jeder Spieler erhält zu Beginn der Partie sechs Karten“ können wir dies als Auskunft über eine bestehende Vorkehrungsregel deuten. Um unnötige Komplikationen zu vermeiden, ist es ratsam, den Begriff der Vorkehrungsregel sehr weit zu fassen, um auch solche Regeln in den Blick zu bekommen, von denen man sagen kann, dass sie Standards schaffen. Allen Regeln dieses Typs, mithin allen Vorkehrungsregeln, ist gemeinsam, dass sie nicht unmittelbar als Verhaltensregeln formuliert sind. Regeln dieses Typs legen vielmehr fest, welche Merkmale ein potentielles X zu erfüllen hat, um nach Maßgabe des Regelautors als genuines X zu gelten.8 In diesem Sinn hat der Gesetzgeber durch eine juridische Vorkehrungsregel festgesetzt, dass ein Testament nur dann rechtskräftig ist, wenn es durch einen Notar beglaubigt wurde. Andere Vorkehrungsregeln klären beispielsweise, welche Merkmale ein gültiger Kaufvertrag zu erfüllen hat. Dieser Beobachtung entsprechend gilt ein Stück Papier nur dann als Geldschein in einer bestimmten Währung, wenn es diejenigen
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Merkmale aufweist, die durch eine einschlägige Vorkehrungsregel festgeschrieben sind. Vorkehrungsregeln setzen, wie gesagt, Standards. Sie tun dies, indem sie eine notwendige Bedingung nennen, die ein potentielles X erfüllen muss, um als genuines X zu gelten.9 Der Beginn des besagten Kartenspiels ist nur dann der korrekte Anfang einer Partie dieser Art, wenn alle Beteiligten mit sechs Karten auf der Hand die Runde beginnen. Angesichts dieser Feststellung können wir auch technische bzw. Industrienormen unter dem Konzept der Vorkehrungsregel zusammenfassen. Ein Stück Papier ist nur dann ein Blatt im DinA4-Format, wenn es die und die Seiten- und die und die Breitenlänge aufweist. Gurken entsprachen bis vor kurzem nur dann der EU-Norm für handelsfähige Gurken, wenn ihr Krümmungswinkel eine bestimmte Marge nicht überschritten hat. Und ein Ei gehört nur dann in die Handelsklasse A, wenn es diese oder jene Herkunftsmerkmale aufweist. Auch wenn Vorkehrungsregeln nicht unmittelbar das Tun und Lassen von Akteuren thematisieren, kann man aus ihnen unschwer Verhaltensregeln ableiten. Denn irgendwer mag ja dafür sorgen müssen oder wollen, dass die betreffenden Vorkehrungen getroffen werden. Die hierbei resultierenden Ableitungen weisen eine konditionale Struktur auf, die uns an späterer Stelle dieser Abhandlung noch ausführlicher beschäftigen wird. Verhaltensregeln dieser Art sind strukturell mit Kants hypothetischen Imperativen verwandt, insofern sie besagen, wie zu verfahren ist, wenn dieses oder jenes Ziel angestrebt wird. „Wenn ihr ein ordentliches Fußballfeld haben wollt, dann müsst ihr dafür sorgen, dass es die und die Ausmaße und die und die Markierungen aufweist.“ „Wenn ihr Fußball gemäß der offiziellen Verbandsregeln spielen wollt, dann müsst ihr Teams zu je elf Spielern zusammenstellen.“ „Wenn Sie wollen, dass Ihr Testament vor den Augen des Gesetzes Bestand hat, dann müssen Sie es notariell beglaubigen lassen.“ „Wenn Sie Schreib- und Druckpapier für diesen Markt herstellen wollen, müssen Sie dafür sorgen, dass die Seiten- und Breitenlängen
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den vorgeschriebenen Maßen entsprechen.“ In all diesen Fällen wird in Anbetracht einer geltenden Vorkehrungsregel, die, wie erläutert, eine notwendige Bedingung formuliert, eine bestimmte Art des Handelns für Akteure unter der Bedingung erforderlich, dass sie bestimmte Zwecke realisieren wollen. In all diesen Fällen legt, anders gesagt, die ursprüngliche Vorkehrungsregel fest, welche Merkmale ein X notwendigerweise zu erfüllen hat. Und daraus geht in all diesen Fällen eine abgeleitete Verhaltensregel hervor, die besagt, welche Mittel die involvierten Akteure notwendigerweise zu ergreifen haben, um die betreffenden Zwecke zu realisieren. Anders gesagt, klären Regeln dieses Typs, wie im jeweils gegebenen Kontext zu verfahren ist, wenn es gilt, bestimmte Ziele zu erreichen. Daher werde ich sie im Weiteren als Verfahrensregeln bezeichnen. Wir werden im vierten Kapitel sehen, inwiefern es nicht nur fraglich ist, ob Vorkehrungs- und Verfahrensregeln präskriptive Regeln sind. Auch die Frage, wie ihr wechselseitiges Verhältnis beschaffen ist, ist nicht ganz leicht zu beantworten. Es gibt darüber hinaus sogar Gründe, die daran zweifeln lassen, dass es sich in diesen Fällen überhaupt um Regeln handelt. Aber all diesen Problemen können wir erst dann auf den Grund gehen, wenn klar ist, was Regeln im Allgemeinen und präskriptive Regeln im Besonderen sind. Daher lasse ich diese Fragen hier noch mit diesen vagen Ankündigungen auf sich beruhen. 5 Eine Gruppe von Regeln, die meines Erachtens klarerweise zu den präskriptiven gezählt werden sollten, seien Straf- bzw. Sanktionsregeln genannt. Regeln dieser Art legen fest, wie mit einem Akteur zu verfahren ist, der sich gegen eine Gebots- oder Verbotsregel vergangen hat.10 Auf den alten D-Mark-Scheinen stand geschrieben: „Wer Banknoten nachmacht oder verfälscht, oder nachgemachte oder verfälschte sich verschafft und in Verkehr bringt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren bestraft.“ Hier haben wir es mit einer klassischen Strafregel zu tun. Diese Regel legt fest, welche Strafe über einen Akteur zu
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verhängen ist, der nachweislich der Regel zuwiderhandelt, die die unbefugte Nachahmung von Geldscheinen verbietet. Man könnte an dieser Stelle vermuten, dass eine Strafregel im Grunde nur eine verkappte Verbotsregel ist. Dieser Gedanke liegt nahe, weil einer Strafregel zumeist leicht zu entnehmen ist, dass es verboten ist, das zu tun, was dieser Regel gemäß bestraft wird. Insofern, so könnte man meinen, sei die eine Regel, die das Nachmachen von Geldscheinen verbietet, in der anderen enthalten, die dem verbotenen Tun eine spezifische Strafe zuordnet. Es gibt jedoch zwei Gründe dafür, diesen Gedanken zu verwerfen und Strafregeln als eigenständigen Regeltypus in die Regeltypologie aufzunehmen. Der eine Grund liegt hier: Auch wenn man einer Strafregel entnehmen kann, dass das betreffende Tun untersagt, sprich durch eine präskriptive Regel verboten ist, enthält die Strafregel eine zusätzliche Information, die die Verbotsregel nicht enthält. Die Strafregel legt ja fest, wie mit einem Akteur zu verfahren ist, der sich nicht an das Verbot gehalten hat. Diese beiden Regeln haben also verschiedene Inhalte bzw. Gegenstände. Darüber hinaus, so werden wir später noch genauer sehen, richten sich die beiden Regeln an unterschiedliche Adressaten. Der andere Grund dafür, Strafregeln als eigenständige Kategorie in den Katalog präskriptiver Regeln aufzunehmen, besteht darin, dass dieser Schritt von Anfang an vor dem falschen Gedanken schützt, alle oder doch zumindest alle präskriptiven Regeln seien notwendigerweise sanktionsbewehrt. Dem ist nicht so. Mit Blick auf Erlaubnisregeln ist dies ohnehin evident. Denn niemand wird dafür bestraft, falls er Dinge nicht tut, die er tun darf. Aber auch im Fall der Ge- und Verbotsregeln liegt nicht immer eine angehängte Sanktionsregel vor. Zuweilen verbindet der Autor einer Gebotsregel sein Produkt mit einer Strafregel. Dann stellt er zwei distinkte Regeln auf. Oft tut er derartiges jedoch nicht. Dann ist die Bestrafung eines Regelbruchs nicht eigens durch eine Strafregel geregelt. Dies bedeutet freilich nicht unbedingt, dass das Vergehen gegen eine Ge-
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oder Verbotsregel nicht bestraft wird. Es bedeutet lediglich, dass die Strafpraxis ihrerseits nicht eigens durch eine Regel geregelt ist. So wie man glauben könnte, Sanktionsregeln seien verkappte Verbotsregeln, könnte man sie auch für verkappte Gebotsregeln halten. Wie bereits angedeutet, haben Sanktionsregeln andere Adressaten als die Ge- und Verbotsregeln, auf deren Verletzung sie bezogen sind. Diese Adressaten sind etwa im Fall staatlicher Sanktionsregeln diejenigen Amtsträger der politisch-juristischen Ordnung, deren Aufgabe es ist, für schuldig befundene Akteure zu bestrafen. Vielleicht ist es daher so, dass man Sanktionsregeln gegen den Strich lesen und als Gebote deuten muss, denen diese Amtsträger unterstehen. Hans Kelsen war bekanntlich von dieser Konzeption angetan.11 Ihr zufolge verkündet der Satz auf den alten D-Mark-Scheinen in etwas verklausulierter Form, dass bestimmte Amtsträger dem Gebot unterstehen, überführte Geldfälscher mit mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe zu sanktionieren. Geht man diesen Weg, steht man schnell vor der Frage, ob es nicht auch weitere Sanktionsregeln für den Fall geben muss, in dem ein Amtsträger sich gegen eine als Gebot interpretierte Sanktionsregel vergeht. Muss der Vollzugsbeamte nicht seinerseits bestraft werden, wenn er den rechtskräftig verurteilten Geldfälscher nicht wie geheißen bestraft, sondern laufen lässt? Ja, manchmal gibt es solche „höherstufigen“ Sanktionsregeln in der Tat. Im deutschen Recht beispielsweise steht die Strafvereitelung im Amt, wie es im Amtsdeutsch heißt, unter geregelter Strafe. Aber keine Angst. Hier droht kein Regress. Denn ich habe ja bereits gesagt, dass es keine begriffliche Notwendigkeit dafür gibt, jedes Ge- oder Verbot mit einer Sanktionsregel verknüpft zu erachten. Am Bild eines Amtsträgers, der sich gegen eine Sanktionsregel vergeht, ohne eine formelle Sanktion befürchten zu müssen, ist nichts widersinnig. Erneut sei jedoch zur Sicherheit auch hier darauf verwiesen, dass nicht jede Strafe auf einer Strafregel beruhen muss. Menschen können sich wechselseitig auch ungeregelt bestrafen.
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Wie das alles im Einzelnen zu verstehen ist, wird sich im Zuge der nächsten Kapitel nach und nach klären. Wir haben erst damit begonnen, die komplexe Regellandschaft zu durchwandern. Im Moment möchte ich den entfalteten Hintergrund dazu nutzen, um schon hier auf einen Sachverhalt aufmerksam zu machen, der an einem späteren Punkt der Abhandlung eine größere Bedeutung gewinnen wird: Regeln kommen noch seltener als Unglücksfälle allein. Regeln begegnen einem, anders gesagt, so gut wie immer als Elemente mehr oder weniger umfassender Regelsysteme und sind insofern von einer holistischen Natur. In solch einem Regelsystem ist nicht nur eine Vielzahl von Regeln enthalten. Ein System von Regeln umfasst normalerweise auch unterschiedliche Typen von Regeln. Diesen Sachverhalt müssen wir im Blick behalten. Er wird uns im neunten Kapitel zum Konzept eines Regelclusters führen, das es erlaubt, juridische Begriffe – wie etwa den des subjektiven Rechts – zu bestimmen. 6 Ich wende mich jetzt zwei Regeltypen zu, die weder zu den deskriptiven noch zu den präskriptiven (im fixierten Sinn des Wortes) gehören und weiter oben bereits die Bezeichnung ‚konsultativ‘ erhalten haben. Regeln des einen Typs möchte ich als allgemeine Ratschläge, Empfehlungen oder allgemeine Warnungen charakterisieren. 12 „Wer gesund bleiben will, sollte sich vernünftig ernähren und regelmäßig Sport treiben“, „Es empfiehlt sich, Tomaten nach dem letzten Frost zu pflanzen“ oder „Eichen sollst du weichen, Buchen sollst du suchen“ sind Beispiele hierfür.13 Anders als im Fall der deskriptiven Regeln haben wir es hier nicht mit wahren oder falschen Auskünften darüber zu tun, dass sich irgendwo in der Welt irgendwelche Regelmäßigkeiten beobachten lassen. Derlei Ratschläge beruhen zwar untergründig auf erfahrungsgemäß bestehenden (oder doch immerhin vermuteten) Regularitäten im Weltlauf. Sie dienen aber in erster Linie dazu, Akteure in ihrem Handeln zu orientieren.
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Anders als im Fall der präskriptiven Regeln geht es im Fall der allgemeinen Ratschläge nicht darum, dass einer bestimmten Klasse von Akteuren in einer bestimmten Art von Situation eine bestimmte Art des Verhaltens vorgeschrieben oder erlaubt ist. Denn allgemeine Ratschläge oder Warnungen legen ihren Adressaten zwar bestimmte Verhaltensweisen ans Herz. Sie fordern jedoch nicht. Sie sind, anders gesagt, keine Vorschriften und erst recht natürlich keine Berechtigungen. Daher erscheint es angemessen, sie durch eine eigenständige Bezeichnung von den präskriptiven Regeln zu unterscheiden. Wieder muss ich den Leser an diesem frühen Punkt der Untersuchung vertrösten. Erst im vierten Kapitel wird mit der gewünschten Deutlichkeit zu sehen sein, was die allgemeinen Ratschläge überhaupt zu Regeln macht und wodurch sie sich von den präskriptiven (und deskriptiven) Regeln unterscheiden. 7 Ein weiterer Typus von Regeln, die wir nicht nur von den deskriptiven, sondern auch von den präskriptiven Regeln unterscheiden und zu den konsultativen Regeln zählen sollten, werden zuweilen Daumen- bzw. Faustregeln genannt.14 Man stellt sich derartige Regeln am besten als Heuristiken bzw. Entscheidungshilfen vor, die Situationen einer bestimmten Art mit Handlungen einer bestimmten Art verknüpfen. Derartige Verknüpfungen dienen dem Regelanwender dazu, sich rasch und ohne großen kognitiven Aufwand zu entscheiden, wie er sich in den betreffenden Situationen verhalten sollte, falls keine relevanten Gründe für eine andere Handlung sprechen. Eine meiner Faustregeln besagt beispielsweise, die Haustür hinter mir immer dann abzuschließen, wenn ich sie abgeschlossen vorgefunden habe; und sie immer dann unabgeschlossen zu lassen, wenn sie unabgeschlossen war.15 Es liegt zum einen in der Natur dieser Regel als Faustregel, dass sie mir gemeinhin die Reflexion im Einzelfall darüber erspart, ob ich die Tür hier und jetzt besser abschließen sollte oder nicht. Ich muss in diesem Normalfall also keine weiteren Gründe für mein Entscheiden und Handeln erwägen. Zum anderen gehört es zum Wesen
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einer Faustregel, dass der Akteur jederzeit von der Regel abweichen kann, wenn im Einzelfall ein hinlänglich guter Grund dafür in den Blick gerät, dies zu tun.16 Faustregeln kann man nicht brechen. Man kann ihnen nicht im eigentlichen Sinn des Wortes zuwiderhandeln. Regeln dieses Typs machen das Leben leichter. Sie sind jedoch so gut wie nicht verbindlich. Nicht zuletzt durch ihre Unverbindlichkeit unterscheiden sich Faustregeln von den präskriptiven Regeln und werden daher zu den konsultativen gezählt. Auch Faustregeln fordern den Akteur nicht im eigentlichen Sinn des Wortes auf, etwas Bestimmtes zu tun. Wie wir später sehen werden, besteht zwischen den allgemeinen Ratschlägen, Empfehlungen und Warnungen sowie den Faustregeln eine engere Verwandtschaft, die mit ihrem geteilten Status als konsultative Regeln zusammenhängt. Gemeinsam ist all diesen Regeln, dass sie mit Wegweisern vergleichbar sind, die dem Akteur sagen, in welche Richtung er gehen sollte, falls ihm keine Gründe eine andere Richtung weisen. 8 Nachdem wir uns in den zurückliegenden sieben Abschnitten unterschiedliche Regeltypen vergegenwärtigt haben, möchte ich in den beiden verbleibenden Abschnitten dieses Kapitels zwei Unterschiede anderer Art erläutern. – Wie eingangs gesehen, ist allen deskriptiven Regeln gemeinsam, dass sie eine Regelmäßigkeit, also eine Regularität im Weltlauf konstatieren. Diese Beobachtung führt zum ersten Unterschied, den wir uns zur Vorbereitung der weiteren Überlegungen deutlich machen sollten. Es gibt eine systematische Ambiguität des Regelbegriffs, die auch im Fall der anderen Ausdrücke zu beobachten ist, die ich zu Beginn dieses Kapitels genannt habe. Diese Zweideutigkeit betrifft die Frage, ob mit dem Ausdruck ‚Regel‘ die betreffende Regularität oder die Aussage gemeint ist, der gemäß diese Regularität besteht. Ist die Tatsache, dass sich nichts schneller bewegt als das Licht, ein Naturgesetz? Oder ist es die Aussage (Behauptung, Feststellung etc.), dass sich nichts schneller bewegt als das Licht? Ist die Tatsache, dass sich die Mitglieder
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bestimmter sozialer Klassen regelmäßig zur Begrüßung die Hand geben, eine soziale Regel bzw. Konvention? Oder ist diese Tatsache die Folge davon, dass sich die betreffenden Akteure an eine konventionelle Regel halten? In dem Fall kann die Konvention nicht mit der Regularität identisch sein. Tatsächlich gibt es auf diese Fragen keine eindeutigen Antworten, insofern weder in akademischen noch in außerakademischen Kontexten ein einheitlicher Sprachgebrauch existiert.17 Nicht zuletzt aus diesem Grund werden die Regularitäten und die Aussagen über diese Regularitäten nicht selten sogar miteinander verwechselt. An einigen späteren Punkten dieser Abhandlung werde ich mich darum bemühen, diese Verwechslungen nachzuweisen und Konsequenzen aus dem Nachweis zu ziehen. Im Moment ist jedoch nur wichtig, die veranschaulichte Zweideutigkeit zu erkennen und durch eine terminologische Vereinbarung aufzulösen. Die folgenden Überlegungen sollen zeigen, warum es besser ist, mit dem Ausdruck ‚Regel‘ nicht auf Regularitäten zu referieren. Im Fall der deskriptiven Regeln ist es besser, Aussagen über Regelmäßigkeiten und nicht die Regelmäßigkeiten selbst durch das Wort ‚Regel‘ (bzw. ‚Gesetz‘) zu bezeichnen, weil wir von Regeln dieser Art eine Reihe von Dingen sagen, die man sinnvollerweise von semantisch gehaltvollen Entitäten wie Aussagen (Behauptungen, Feststellungen etc.), nicht aber von irgendwelchen Regelmäßigkeiten sagen kann. Wir behaupten von den Regeln dieser Art etwa, dass sie durch Erfahrung bestätigt oder widerlegt werden, dass sie zutreffen oder nicht zutreffen, dass sie also wahr oder falsch sind. Im Fall von solchen Regeln dieser Art, die (Natur-)Gesetze sind, sprechen wir auch oft davon, dass sie durch empirische Überprüfung verifiziert oder falsifiziert werden können. All diese gut etablierten und vollkommen verständlichen Redeweisen haben aber nur dann eine klare Bedeutung, wenn man davon ausgeht, dass Regeln nicht irgendwelche Regularitäten im Weltlauf, sondern Aussagen des Inhalts sind, dass eine derartige Regularität besteht. Regularitäten kann man nicht bestätigen, widerlegen, verifizieren usw.
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Wer dies glaubt, begeht einen Kategorienfehler. – Nicht dass in den Alpen im Frühjahr regelmäßig Schnee liegt, ist also die Regel. Die Regel ist vielmehr die Aussage, dass dem so ist. Auch im Fall der präskriptiven und konsultativen Regeln sollten wir es konsequent vermeiden, irgendwelche Regelmäßigkeiten mit dem Ausdruck ‚Regel‘ zu bezeichnen. Zwar mag es im Kontext derartiger Regeln oft zu irgendwelchen Regelmäßigkeiten im Verhalten eines Individuums oder einer Gruppe von Individuen kommen. Mit Blick auf das ursprüngliche Beispiel der Spielregeln ist dies offenkundig. Sowohl im Fall der Teilnehmer einer Spielrunde als auch im Fall der Mitglieder verschiedener Spielgruppen wird es sich in Anbetracht der betreffenden Regel so ergeben, dass mit einer beträchtlichen Regelmäßigkeit der jeweils jüngste Spieler den ersten Spielzug unternimmt. Ebenso regelmäßig werden es die älteren Mitspieler unterlassen, dies zu tun. Aber zwei Beobachtungen machen deutlich, dass diese Verhaltensregelmäßigkeiten nicht mit der Regel identifiziert und daher auch nicht als Regeln bezeichnet werden sollten. Erstens gehen wir gemeinhin davon aus, dass man die beobachtbare Regularität auf die eine oder andere Weise unter Verweis auf die Regel erklären kann. Es kommt in der sozialen Realität zu der Verhaltensregularität, weil sich die involvierten Personen an die betreffende Regel halten. Solch ein explanatorischer Zusammenhang zwischen der Regularität und der Regel könnte nicht bestehen, wenn das eine mit dem anderen identisch wäre. Und Dinge, die nicht identisch sind, sollte man auch nicht durch ein und denselben Ausdruck bezeichnen, wenn die Gefahr einer Verwechslung so nahe liegt.18 Zweitens gibt es – anders als im Fall der deskriptiven Regeln, denen im Fall ihrer Wahrheit immer irgendwelche Regularitäten im Weltlauf entsprechen – im Fall der präskriptiven und konsultativen Regeln viele Beispiele dafür, dass die Regeln nicht notwendigerweise mit Verhaltensregularitäten einhergehen. So gibt es nicht nur Gebotsregeln, die selten beachtet, also oft gebrochen werden. Wer hält sich schon durchgehend oder
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wenigstens häufig an die Regel, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst? Es gibt darüber hinaus auch solche Regeln, die sich auf Situationen beziehen, die nur selten eintreten. In solchen Fällen bekommt die Welt sozusagen keine Chance, eine der Regel korrespondierende Regularität auszuprägen. – Besonders eindrücklich tritt die Differenz von Regel und Regularität im Fall bestimmter Erlaubnisregeln zutage. So gibt es etwa die Regel, die es dem Inhaber des Bundeskanzleramts erlaubt, den übrigen Mitgliedern des Parlaments die Vertrauensfrage zu stellen. Aber zum großen Glück für unsere Republik ist es nicht der Fall, dass die Kanzlerin regelmäßig die Vertrauensfrage stellt. Es gibt des Weiteren auch eine Erlaubnisregel, die es dem Präsidenten der Vereinigten Staaten einräumt, über den Einsatz US-amerikanischer Atomwaffen zu befinden. Zu unserem gemeinsamen Glück hat sich bisher noch fast kein Präsident dieser Regel entsprechend verhalten. In Fällen dieser Art existieren also offenkundig präskriptive Regeln. Aber es sind weit und breit keine Verhaltensregularitäten zu registrieren, die den Regeln entsprechen. Ergo können diese Regeln nicht mit Regularitäten identisch sein.19 Wenn ich im Weiteren den Ausdruck ‚Regel‘ verwende, werde ich daher niemals eine Regelmäßigkeit damit meinen. 9 Damit komme ich abschließend zum zweiten der beiden angekündigten Unterschiede, der ebenfalls auf einer Mehrdeutigkeit der Ausdrücke ‚Regel‘, ‚Konvention‘, ‚Norm‘, ‚Gesetz‘ usw. beruht. Wir müssen Regeln, die wir im zurückliegenden Abschnitt von Regelmäßigkeiten unterschieden haben, im Fall aller Arten (und damit Typen) von Regeln auch von den Sätzen unterscheiden, die man formuliert, um Regeln zur Sprache zu bringen.20 Denn ein und dieselbe Regel kann nicht nur in ein und derselben Sprache auf ganz unterschiedliche Art und Weise formuliert werden. Die Sätze „Der Jüngste beginnt“ und „Der jüngste Spieler darf anfangen“ machen dies deutlich. Ein und dieselbe Regel kann darüber hinaus auch in den unterschiedlichsten Sprachen formuliert werden. Die beiden Sätze
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„Derjenige, der die weißen Spielfiguren hat, fängt an“ und „White begins“ bringen dieselbe Regel zur Sprache.21 Folglich können wir eine Regel nicht mit irgendeinem Satz identifizieren, der die Regel zum Ausdruck bringt. Nennen wir einen Satz dieser Art einen Regelsatz. An diesem frühen Punkt der Abhandlung liegt es nahe, Regeln vorübergehend mit den Aussagen zu identifizieren, die man trifft, indem man einen Regelsatz äußert. Da man Aussagen in diesem Sinn des Wortes aber ebenfalls leicht mit Sätzen, nämlich Aussagesätzen verwechselt, ist es vielleicht besser zu sagen, dass wir Regeln mit der Bedeutung bzw. dem propositionalen Inhalt eines Regelsatzes identifizieren. Eine Regel, so also die zwischenzeitlich vorgenommene Bestimmung, ist mit der Proposition identisch, die ein Regelsatz mit der Menge seiner Formulierungsalternativen teilt. Regeln, so könnte man der zuerst angedachten Bestimmung gemäß auch sagen, sind die Aussagen, die man zum Ausdruck bringt, indem man irgendeinen der bedeutungsgleichen Regelsätze ausspricht.22 – Nicht also die Tatsache, dass die Alpen regelmäßig von Schnee bedeckt sind, ist die Regel. Die Regel ist auch nicht der Satz „Die Alpen sind im März von Schnee bedeckt.“ Die Proposition, die man mit diesem Satz zum Ausdruck bringt, ist die Regel. – Entsprechend: Dass der, der ein Ass zieht, eine Runde aussetzen soll, ist die Regel. Sie ist weder mit dem Satz „Ein Spieler, der ein Ass zieht, setzt aus“ noch mit der Tatsache identisch, dass Spieler, die ein Ass ziehen, eine Runde aussetzen sollen. Auf den Zusammenhang zwischen Regeln, Regelsätzen, Satzbedeutungen, Aussagen und Propositionen komme ich in den beiden nachfolgenden Kapiteln noch mehrfach zurück. Am Ende dieser Serie wird sich ein alternatives Bild von Regeln abgezeichnet haben, das bei genauerer Betrachtung einige Vorzüge gegenüber der vorübergehend vorgenommenen Bestimmung von Regeln als Propositionen aufweist. Ich werde daher später das alternative Bild favorisieren und meinen weiteren Überlegungen zugrunde legen.
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*** Im Mittelpunkt dieses Einführungskapitels stand eine Übersicht unterschiedlicher Regelarten, die in Unterarten bzw. Regeltypen eingeteilt wurden. Es wurde zwischen deskriptiven, präskriptiven und konsultativen Regeln unterschieden. Allen drei Arten von Regeln wurden daraufhin verschiedene Regeltypen (Naturgesetze, statistische Aussagen, kontingente Generalisierungen usw.; Gebots-, Verbots-, Erlaubnisregeln usw.; Faustregeln, allgemeine Empfehlungen und Warnungen) zugeordnet. Außerdem wurde durch die Diskussion zweier Mehrdeutigkeiten des Ausdrucks ‚Regel‘ zwischen Regeln, Regularitäten und Regelsätzen unterschieden. Regeln wurden im Anschluss daran vorübergehend mit den propositionalen Inhalten bzw. Bedeutungen von Regelsätzen gleichgesetzt. In den Mittelpunkt der weiteren Kapitel dieser Abhandlung werden mehr und mehr die präskriptiven Regeln im Allgemeinen, die Gebotsregeln im Besonderen und schließlich auch ihr Verhältnis zu den Handlungsgründen der Regeladressaten treten. Bevor wir jedoch dazu kommen, ist es angebracht, sich über die Vielfältigkeit des Umgangs mit Regeln ein Bild zu machen. Diesem Anliegen dient das nachfolgende Kapitel.
II Paradigmen Man kann daran zweifeln, dass es genau eine richtige Antwort auf die Frage gibt, was Regeln im Allgemeinen und deskriptive, präskriptive sowie konsultative Regeln im Besonderen sind. Dieser Zweifel wird durch die Beobachtung genährt, dass die wenigen philosophischen Arbeiten, die sich überhaupt mit der Frage nach der Natur von Regeln auseinandersetzen, zu auffällig divergenten Antworten gelangen.1 Gleichwohl möchte ich in den beiden nachfolgenden Kapiteln versuchen, eine plausible Antwort auf diese Frage zu formulieren, die ihre Plausibilität aus der folgenden, wenn man so will, kohärentistischen Überlegung bezieht: Es gibt eine Reihe paradigmatischer Formen, in denen sich Menschen gegenüber Regeln verhalten. Oder vielleicht besser so formuliert: Es gibt eine Reihe typischer Dinge, die Akteure mit Regeln tun.2 Die, wie mir scheint, wichtigsten dieser paradigmatischen Umgangsformen möchte ich in den sechs folgenden Abschnitten vor Augen führen, wobei ich mich zumeist auf präskriptive Regeln konzentrieren werde. Auf der Grundlage dieser Umgangsformen soll dann im nächsten Kapitel zuerst eine Charakterisierung dieser Art von Regeln präsentiert werden, die es erlaubt, die verschiedenen Paradigmen des Regelumgangs in ein kohärentes Gesamtbild einzufügen. Daraufhin soll dann im übernächsten Kapitel geprüft werden, ob sich im Licht dieses Bildes auch die Konzepte der konsultativen und deskriptiven Regel deutlicher fassen lassen. Sind diese beiden Schritte erfolgreich getan, dürfen wir davon ausgehen, ein in sich stimmiges Verständnis des Regelkonzepts entwickelt zu haben, mit dem sich vernünftig arbeiten lässt. Gestützt auf dieses Verständnis können wir daher im weiteren Verlauf dieser
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Abhandlung eine Reihe von Anschlussfragen in Augenschein nehmen. Damit wäre immerhin einiges erreicht. Um die erforderlichen Erörterungen übersichtlich zu gestalten, werde ich mich auf den folgenden Seiten, wie gesagt, zumeist auf präskriptive Regeln konzentrieren. Nur da, wo sich über den Umgang mit den konsultativen Regeln etwas Besonderes, Aufschlussreiches oder sonst irgendwie Bemerkenswertes sagen lässt, werde ich auch auf die allgemeinen Ratschläge und Faustregeln zu sprechen kommen. Deskriptive Regeln bleiben in den nachfolgenden Abschnitten fast vollkommen außer Betracht. Beiderlei Regeln der nicht-präskriptiven Art werden im übernächsten Kapitel wieder systematisch mit unter die Lupe genommen. 1 Kommen wir also zu sechs paradigmatischen Formen des Umgangs mit Regeln. Man kann mit Regeln jeder Art erstens das tun, was ich mit ihnen seit dem Beginn dieser Abhandlung tue. Man kann Regeln, wie ich ganz allgemein sagen möchte, zum Gegenstand kommunikativen Handelns machen. Man kann, anders gesagt, über Regeln reden, schreiben, nachdenken, diskutieren, streiten usw. Dieser Tatbestand ist einesteils trivial. Denn man kann natürlich über nahezu alles reden. Anderenteils ist er trotz seiner Trivialität aus mehreren Gründen erwähnenswert. Einer dieser Gründe besteht darin, dass er mir die Darstellung einiger Gedanken an späteren Stellen dieser Arbeit noch mehrfach erleichtern wird. Ein anderer Grund, aus dem es sich lohnt, den kommunikativen Umgang mit Regeln eigens zu thematisieren, liegt darin, dass er unsere Aufmerksamkeit noch einmal auf eine Doppeldeutigkeit des Ausdrucks ‚Regel‘ lenkt, die im zurückliegenden Kapitel bereits zur Sprache kam. Unter Regeln versteht man, wie dort gesehen, manchmal die Sätze, die wir formulieren, wenn wir über Regeln kommunizieren. Zuweilen sind mit Regeln aber auch die Propositionen oder Sachverhalte gemeint, die wir durch die Verwendung der besagten Sätze zum Ausdruck bringen. Um unnötige Missverständnisse zu vermeiden, sollte
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man im ersten Fall statt der Vokabel ‚Regel‘ besser Wörter wie ‚Regelsatz‘ oder ‚Regelausdruck‘ verwenden. Denn nur die Sachverhalte, über die wir unter Verwendung von Regelsätzen sprechen, sind im eigentlichen Sinn des Wortes Regeln. Über die Frage, was es mit diesen Sachverhalten auf sich hat, wird freilich in den nachfolgenden Kapiteln noch ausführlich zu sprechen sein. Momentan reicht es hin, zwischen dem Regelsatz „Der Jüngste beginnt“ und der Regel zu unterscheiden, die man durch die Verwendung dieses Satzes zum Ausdruck bringt. Ein dritter Grund, aus dem es sich lohnt, den kommunikativen Regelumgang zum Thema zu machen, besteht darin, dass er erklärt, inwiefern man auch mit solchen Regeln zu tun haben kann, die es im strengen Sinn des Wortes gar nicht gibt. Wenn jemand etwa sagt: „Für Fälle wie diesen sollte es eine Regel geben, damit nicht jeder anders verfährt“, dann spricht er über eine Regel, die es in einem leicht zu durchschauenden Sinn des Wortes nicht gibt. Er spricht über eine potentielle Regel, die es nach seinem Dafürhalten geben sollte. Schon etwas weniger leicht zu durchschauen ist der Fall, in dem eine Person einen konkreten Regelvorschlag äußert: „In derartigen Fällen sollte die Regel gelten, dass der, der zuletzt geht, die Zeche für alle bezahlt.“ Hier ist zwar ein konkreter Regelinhalt zur Sprache gebracht. Aber insofern es sich offenkundig um eine projektierte Regel handelt, dreht es sich um einen Vorschlag, den involvierten Menschen etwas zur Regel zu machen, was derzeit noch keine Regel ist. In einem gehaltvollen Sinn des Wortes gibt es daher die vorgeschlagene Regel nicht.3 Solange die Mitglieder des Bundestags über eine Gesetzesvorlage debattieren, sind sie, ontologisch gesehen, genau in der Situation der Person aus dem zurückliegenden Beispiel. Auch die Parlamentarier verhandeln über einen Regel- bzw. Regelungsvorschlag, wenn man so will. Solange ein Gesetz jedoch nicht als Gesetz verabschiedet ist, gibt es die betreffende Regel auch nicht. Man spricht in solchen Fällen daher ganz treffend von einer Gesetzesvorlage statt von einem Gesetz.
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Das Gegenstück zu den zuletzt veranschaulichten Situationen führt zu einem weiteren Grund, aus dem es sich lohnt, den kommunikativen Umgang mit Regeln eigens hervorzuheben. Weil Menschen über Regeln sprechen, schreiben, diskutieren, streiten usw. können, können sie auch existente Regeln in Frage stellen und gegebenenfalls zu der Entscheidung gelangen, diese Regeln aus irgendwelchen Gründen abzuschaffen oder zu ändern. Bis vor nicht allzu langer Zeit gab es beispielsweise in vermutlich allen Ländern dieser Welt die Regel, dass homosexuelle Paare keine Ehen bzw. gesetzlich anerkannten Lebensgemeinschaften schließen dürfen. Die Angemessenheit dieser Regel wurde und wird in einigen Gegenden dieser Erde immer mehr in Zweifel gezogen. Und wir erleben derzeit eine Phase des Übergangs, in der diese Regel manchenorts abgeschafft und durch neue Regeln ersetzt wird. Ein fünfter Grund besteht schließlich darin, dass der kommunikative Umgang mit Regeln verständlich macht, inwiefern wir in bestimmten Lebensbereichen zuweilen deskriptive Regeln, genauer gesagt deskriptive Regelsätze, in präskriptive Regelsätze umformulieren, um zum Beispiel Novizen in bestimmte Praktiken einzuführen. So gibt es etwa die deskriptive Regel, dass kompetente Sprecher der deutschen Sprache bestimmte Verbalkonstruktionen gebrauchen, wenn sie einen Nebensatz bilden. Diese Regel verweist auf einen Fakt, auf eine Regularität des sprachlichen Verhaltens einer großen Zahl von Akteuren. Diese deskriptive Regel, die eine empirische Regularität des Sprachverhaltens zum Gegenstand hat, kann man auch als einen präskriptiven Regelsatz formulieren, um beispielsweise Ausländern dabei zu helfen, sich die deutsche Sprache anzueignen. „Wenn Sie einen Nebensatz konstruieren wollen, dann müssen Sie die und die Form des Verbums verwenden“ oder „Im Deutschen muss man im Nebensatz mit dem Verb so und so verfahren, um es richtig zu machen“ könnte etwa die präskriptiv umformulierte Regel lauten. Offenkundig haben wir es hierbei mit einer Verfahrensregel zu tun.
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Auch wenn wir Kinder erziehen, stellen wir häufig deskriptive Regeln, die den etablierten Umgang der Menschen miteinander beschreiben, in präskriptiven Regelformulierungen dar. Durch den Gebrauch solcher Formulierungen wollen wir den Nachwuchs dazu bewegen, sich in die etablierten Regelmäßigkeiten unserer sozialen Welt einzureihen. Auf den hiermit angesprochenen Übergang von deskriptiven zu präskriptiven Regelformulierungen komme ich an späteren Stellen der Abhandlung noch mehrfach zurück. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass man oft natürlich auch umgekehrt präskriptive Regeln in deskriptiv formulierte Regelsätze fassen kann. Sprachregeln sind hierfür wiederum ein geeignetes Beispiel. Ein Linguist mag irgendwie feststellen, dass man in der von ihm untersuchten Sprache das Verb an die zweite Position des Hauptsatzes stellen muss, um korrekte Sätze zu formulieren. Aus dieser präskriptiven Verfahrensregel lässt sich die deskriptive Regel gewinnen, dass die kompetenten Sprecher der betreffenden Sprache mit dem Verb im Hauptsatz regelmäßig entsprechend verfahren. Wer diese deskriptiv formulierte Regel ausspricht, erhebt den Anspruch, eine wahre Aussage über die Sprachregularitäten der betreffenden Sprachgemeinschaft zu formulieren. Diese Symmetrie zwischen den Übergängen von einer Regelart zu einer anderen deutet zum einen darauf hin, dass es oft an den jeweiligen Absichten des Sprechers liegt, ob er Regeln als präskriptive oder deskriptive formuliert. Man muss dann Genaueres über den Kontext seiner Äußerung erfahren, um die Dinge richtig zu deuten.4 – Zum anderen darf man sich von dieser Symmetrie nicht in die Irre führen lassen. Sie belegt keine, wie man sagen könnte, Gleichursprünglichkeit von deskriptiven und präskriptiven Regeln. Vor allem da, wo deskriptive Regeln solche Regularitäten zum Gegenstand haben, die wir später unter den Begriff der sozialen Konvention fassen werden, ist klar zu sehen, dass die präskriptiven Regeln ontologisch von den deskriptiven abhängen. In solchen Fällen kommen, etwas genauer gesagt, zuerst die Fakten, also die etablier-
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ten Konventionen. Dann stützen sich konkrete Akteure auf diese Fakten und formulieren mit bestimmter Absicht präskriptive Regelsätze. Auch dieser Punkt und seine Bedeutung werden im Laufe der Abhandlung noch deutlicher hervortreten. 2 Ein zweiter paradigmatischer Regelumgang besteht darin, dass man präskriptive Regeln aufstellen, ändern und wieder außer Kraft setzen kann. Die Fälle, die hierbei in den Blick geraten, lassen sich der Übersichtlichkeit halber hinsichtlich der involvierten Regelautoren und Regeladressaten in unterschiedliche Gruppen einteilen. In einer dieser Gruppen versammeln sich die Fälle, in denen eine Einzelperson gegenüber einer anderen Einzelperson in der Rolle des Regelautors ist. Der allein erziehende Vater etwa sagt zu seinem einzigen Kind, dass es abends spätestens um acht Uhr zu Hause zu sein hat. Indem er dies sagt, stellt er die betreffende Regel auf. Diese Regel kann der Vater (oder eventuell auch eine andere Person) zu einem späteren Zeitpunkt ändern. Wir können uns unschwer vorstellen, dass der Vater es seinem Sprössling an seinem fünfzehnten Geburtstag gestattet, ab jetzt bis neun Uhr außer Haus zu sein. Die alte Regel ist somit geändert. Oder anders formuliert: Die alte Regel ist durch eine Nachfolgeregelung ersetzt. – Vermutlich wird der Regelautor diese neue Regel irgendwann ausdrücklich oder unausdrücklich ersatzlos außer Kraft setzen. Denn der Vater wird irgendwann zu der Ansicht gelangen, dass sein Sohn kein Kind mehr ist und inzwischen selbst entscheiden kann, wann er sich wo aufhält. Ein Regelautor kann natürlich eine präskriptive Regel auch für eine Mehrzahl von Regeladressaten aufstellen. Der Vater könnte statt dem einen Kind Zwillinge erziehen, für die er immer genau dieselben Regeln aufstellt, gegebenenfalls ändert und irgendwann wieder außer Kraft setzt. Mutatis mutandis gelten all diese Beobachtungen auch für die absolutistische Fürstin, die sich gegenüber der Gesamtheit ihrer Untertanen in der Rolle der Regelautorin befindet. Und auch der Erfinder eines
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Spiels gehört in diese Gruppe. Denn auch er adressiert als Einzelperson seine Spielregeln an eine Vielzahl von Menschen. Fassen wir uns mit den übrigen Konstellationen kurz. Der Autor einer präskriptiven Regel kann auch ein Kollektiv, also eine Mehrzahl von Akteuren sein, die gemeinsam handeln. Eltern stellen für ihre Kinder gemeinsam Regeln auf. Der Gemeinderat erlässt eine Regelung, an die sich die Betreiber gastronomischer Betriebe zu halten haben. – Autorenkollektive können selbst zur Menge der Regeladressaten gehören. So sind die Mitglieder der Legislative eines demokratischen Rechtsstaates zumeist selbst auch Adressaten der Rechtsregeln, die sie als Gesetze ihres Landes verabschieden. – Die Menge der Regelautoren kann mit der Menge der Adressaten identisch sein. Die Mitglieder eines Vereins geben sich beispielsweise gemeinsam die Regel, sich zweimal die Woche im Vereinshaus zu treffen. Das Aufstellen einer Regel entspricht in diesem Fall der gemeinsamen Verständigung auf eine Regel. – Und nicht zuletzt kann auch ein singulärer Regelautor mit dem Regeladressaten identisch sein. Dies ist etwa dann der Fall, wenn ich es mir selbst zur Regel mache, ab heute mindestens dreimal die Woche durch den Stadtpark zu joggen. Wie wir in den beiden nachfolgenden Kapiteln sehen werden, gibt es einen leicht zu übersehenden, aber trotzdem sehr wichtigen Unterschied zwischen den präskriptiven und den konsultativen Regeln, der sich angesichts der verschiedenen Autoren/Adressaten-Konstellationen herausheben lässt. Denn die Beantwortung der Frage, ob eine Regel zu den präskriptiven oder zu den konsultativen gehört, hängt entscheidend davon ab, ob ihr Autor und ihr Adressat identisch sind oder nicht. Regeln, die ein (singulärer oder kollektiver) Akteur sich selber gibt und die man insofern selbstreferentiell nennen kann, können, wie sich zeigen wird, nicht ohne Weiteres präskriptive Regeln sein. Man hat es in solchen Fällen zumeist mit konsultativen Regeln, genauer mit Faustregeln, zu tun. Aus diesem Sachverhalt wird im vorletzten Kapitel dieser Arbeit unter anderem autonomieund demokratietheoretisches Kapital zu schlagen sein.
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3 Wechseln wir jetzt in die Perspektive der Regeladressaten und wenden uns damit dem dritten Paradigma zu. Wenn ein Regelautor eine präskriptive Regel aufstellt oder eine bereits bestehende Regel abändert, stellt sich dem Adressaten (zuweilen) die Frage, ob er die neue (bzw. geänderte) Regel als Regel akzeptiert oder zurückweist. Die Formulierung, der gemäß die Regel als Regel akzeptiert oder zurückgewiesen werden kann, soll darauf aufmerksam machen, dass es im Zusammenhang des dritten Paradigmas nicht um die Frage geht, ob sich der Adressat zum Zeitpunkt seiner Entscheidung über die Annahme oder Nichtannahme der Regel dieser Regel gemäß verhält oder nicht. Regeln, so war ansatzweise bereits erkennbar, sind häufig nur für bestimmte Handlungssituationen einschlägig. Und die Situation, in der der Autor den Adressaten mit der Regel konfrontiert, muss keine Situation sein, in der die Regel einschlägig ist. Man kann sich beispielsweise nicht der Regel gemäß verhalten, der zufolge der jüngste Spieler die Partie beginnt, wenn man gerade gar nicht spielt. Gleichwohl kann man sich – etwa bei der Lektüre einer Spielanleitung – fragen, ob man die darin formulierten Spielregeln akzeptieren mag oder nicht. Wenn man sie nicht akzeptiert, bekundet man sein Desinteresse an dem Spiel, das durch die Summe seiner Regeln definiert ist. Wenn man sie akzeptiert, dann erklärt man sich gewissermaßen bereit, zukünftig dann, wenn man in die für die Regeln einschlägigen Handlungssituationen gerät, den Regeln entsprechend zu handeln. Das Akzeptieren einer Regel ähnelt insofern einem Versprechen, unter bestimmten Voraussetzungen, die sich irgendwann in der Zukunft einstellen mögen, etwas Bestimmtes zu tun (bzw. zu unterlassen). Und so, wie man ein gegebenes Versprechen brechen kann, kann man auch eine Regel zwar erst als Regel akzeptieren, dann aber der Regel nicht entsprechend handeln, wenn es an der Zeit wäre, dies zu tun.5 Nicht immer, wenn ein Regelautor einen Adressaten mit einer Regel konfrontiert, stellt sich dem Adressaten im strengen Sinn des Wortes die Frage, ob er die Regel als Regel akzeptiert oder nicht. Zumeist liegt dies daran, dass sich der Autor in
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einer Position befindet, in der er große Macht über den Adressaten hat. Wenn ein Diktator Gesetze verkündet, dann haben die Machtunterworfenen in aller Regel einfach zu gehorchen, ob sie dies wollen oder nicht. Zwar können sie sich den Gesetzen des Diktators theoretisch verweigern und die Gesetze insofern nicht als Regeln akzeptieren. Doch diese Option ist oft so theoretisch wie die des Opfers eines Straßenräubers, dem sich auch theoretisch die Wahl anbietet, statt sein Geld herauszurücken, mit dem Leben zu bezahlen. Praktisch gesehen, hat er kaum eine Wahl. Auch kleine Kinder fragen sich gemeinhin nicht, ob sie die Regeln als Regeln akzeptieren wollen, die ihre Eltern formulieren. Die Eltern legen fest, dass vor dem Fußballtraining mittwochs erst das Zimmer aufzuräumen ist. Und diese Regel steht dann so unausweichlich im Raum wie der Kirschbaum im Garten. Für die Kinder stellt sich nicht ernsthaft die Akzeptanzfrage. Sie haben die Regeln der Eltern zu akzeptieren. Diese Beispiele machen deutlich, dass nicht nur die Rede vom Akzeptieren der Regel nur ungenau den Punkt trifft, um den es im Rahmen des dritten Paradigmas geht. Die Beispiele machen zugleich auch klar, inwieweit der angesprochene Vergleich zwischen dem Akzeptieren von Regeln und dem Versprechen zukünftigen Tuns nur bedingt belastungsfähig ist. Machtunterworfene Opfer eines Diktators, eines Straßenräubers oder autoritärer Eltern werden gemeinhin nicht um irgendwelche Versprechen gebeten. Die Autoren, mit denen sie konfrontiert sind, diktieren vielmehr die Regeln des Spiels. Die Adressaten ihrerseits haben diese Regeln nolens volens zu akzeptieren. Das Akzeptieren einer Regel als Regel hat also zuweilen auch die Form der schlichten Zurkenntnisnahme, dass die betreffende Regel aufgestellt wurde. Ergänzend kann man auch sagen, das Akzeptieren einer Regel als Regel stelle sich in solchen Fällen als die Erkenntnis dar, dass man nicht umhin kann, sich als Adressat der Regel zu begreifen. Machtunterworfene Adressaten der Regel können sich, anders gesagt, nicht aus ihrer
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Rolle als Adressaten schleichen. Und auch wenn sich angesichts dieser Beobachtungen die Rede vom Regelakzeptieren ein ganzes Stück weit als Euphemismus erwiesen hat, wird sie sich im Folgenden insoweit als hilfreich erweisen, als sie es erlaubt, die dritte paradigmatische Form des Umgangs mit Regeln von den nachfolgenden Umgangsformen zu unterscheiden. Bevor wir uns diesen Umgangsformen zuwenden, sollten wir auch an dieser Stelle kurz einen Blick auf die konsultativen Regeln werfen. Was die allgemeinen Ratschläge anbelangt, bleibt nichts hinzuzufügen. Für sie scheint in Punkto Akzeptanz fast alles zu gelten, was auch im Fall der präskriptiven Regeln gilt. Man kann einen Rat als allgemeinen Ratschlag akzeptieren oder ignorieren. Man kann ihn im Vorfeld akzeptieren und dann doch nicht befolgen, wenn es an der Zeit wäre, dies zu tun. Und nur durch den Umstand, dass noch so viel Macht eines Ratgebers keinen Zwang für den Adressaten bedeutet, den Rat zu akzeptieren, unterscheidet sich dieser Typus der konsultativen Regeln von den präskriptiven Regeltypen. Die Situation eines Akteurs, der eine Faustregel akzeptiert, kann man auf zweierlei Weise deuten. Im einen Fall gibt es einen Autor der Regel, der nicht mit dem Adressaten identisch ist. In dem Fall, in dem mir beispielsweise jemand sagt, dass ich getrost meine wöchentlichen Einkäufe im Supermarkt A tätigen könne, solange im Ausnahmefall keine Gründe dafür sprechen, den Supermarkt B vorzuziehen, rutscht die Regel interessanterweise in die Kategorie der allgemeinen Ratschläge. Nur wenn der Autor der Regel mit dem Adressaten identisch ist, haben wir es im strengen Sinn mit einer Faustregel zu tun. Hier kann man sich die Situation so ausmalen, dass der Akteur in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht hat, dass eine Erwägung aller Gründe im Einzelfall meistens dafür spricht, A dem konkurrierenden Supermarkt vorzuziehen. Gestützt auf diese Erfahrung hat der Akteur es sich irgendwann zur Regel gemacht, das Erwägen der Gründe im Einzelfall zu unterlassen, solange kein Grund für B ins Auge springt. Er orientiert sich dann einfach an seiner Faustregel. Das Akzeptieren einer Daumenregel
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erinnert nicht von ungefähr an den Kantischen Akteur, der eine Maxime ergreift. Wer eine Maxime des Handelns ergreift, akzeptiert die betreffende Regel als konsultative Regel in der hier intendierten Bedeutung des Wortes.6 Der Unterschied zwischen allgemeinen Ratschlägen und Faustregeln ist also kleiner, als man denken könnte. Auch dieser Unterschied hängt ausschließlich davon ab, ob Autor und Adressat der Regel identisch sind oder nicht. Dieser Umstand wird es uns in einem späteren Kapitel erlauben, ein aufschlussreiches Licht auf die Natur konsultativer Regeln im Allgemeinen zu werfen. 4 In der vierten paradigmatischen Form des Umgangs mit präskriptiven Regeln geht es für einen Regeladressaten um die Frage, ob er sich in einer konkreten Handlungssituation, für die eine bestehende Regel einschlägig ist, dieser Regel entsprechend verhält oder nicht. Dabei ist es jetzt unerheblich, ob er die betreffende Regel zu einem früheren Zeitpunkt bereits akzeptiert hat, in diesem Moment akzeptiert oder zu akzeptieren hat. Denn zuweilen stellt sich vorab die Frage, ob man eine Regel akzeptiert und dazu bereit ist, sich in späteren Situationen ihr entsprechend zu verhalten. Manchmal ist es aber auch so, dass sich die Akzeptanzfrage just in einem solchen Moment stellt, in dem die Regel auch unmittelbar einschlägig ist. – Wir wollen zusammen ein Spiel spielen. Es gilt die präskriptive Regel, der zufolge der jüngste Spieler die Partie beginnt. Und angesichts dieser Regel können wir uns fragen, ob wir uns hier und jetzt an diese Regel halten wollen oder irgendwelche Gründe dafür sehen, dies nicht zu tun. Ein Akteur, der sich gemäß einer für seine Situation einschlägigen Regel verhält, so möchte ich stipulativ festlegen, befolgt die Regel. Ein Akteur, der dies nicht tut, bricht bzw. verletzt sie. 5 Ich habe soeben von einer stipulativen Festlegung gesprochen, weil weder im alltäglichen noch im philosophischen bzw. akademischen Sprachgebrauch ein terminologisch einheitlicher Unterschied zwischen dem gemacht wird, was ich das Befolgen
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einer Regel genannt habe, und dem, was ich als Folgen einer Regel bezeichnen möchte. Menschen folgen in ihrem Handeln einer großen Vielzahl von Regeln, ohne sich dessen notwendigerweise bewusst zu sein. Häufig sind ihnen die Regeln, denen ihr Verhalten oder Handeln folgt, nicht einmal bekannt. Das Sprechen einer gemeinsamen Sprache und das Praktizieren gesellschaftlich normaler Umgangsformen liefern hierfür die prägnantesten Beispiele. Während ich diese Zeilen schreibe, folge ich einer großen Zahl von Regeln der deutschen Grammatik und Rechtschreibung. Aber ich müsste mir weder dieses Sachverhalts, geschweige denn der Regeln bewusst sein, denen ich folge. Wer mit anderen Menschen auf der Straße, am Arbeitsplatz, in der Familie oder im Supermarkt verkehrt, folgt ebenfalls einer großen Zahl von (sozialen) Verhaltensregeln, ohne dies wissen oder dazu in der Lage sein zu müssen, die betreffenden Regeln zu formulieren. Dass es dieses weit verbreitete Phänomen des „blinden Regelfolgens“ gibt, wird bestimmt niemand ernsthaft bestreiten wollen.7 Strittig ist indes, wie dieses Phänomen angemessen zu beschreiben und zu deuten ist. Viele Philosophen und Vertreter anderer Disziplinen (wie etwa der Linguistik, Soziologie, Psychologie oder der Kognitionswissenschaften) neigen ausdrücklich oder unausgesprochenermaßen dazu, das Folgen von Regeln in möglichst enger Anlehnung an den Umgang mit Regeln zu beschreiben, den ich durch die Rede vom Befolgen zur Sprache gebracht habe. Es wird daher kaum ein Unterschied zwischen dem Fall, in dem ich bewusst die Anleitung einer Spielbeschreibung befolge, und dem Fall gesehen, in dem ich einen korrekten Satz formuliere, der den Grammatikregeln meiner Muttersprache entspricht. Das Folgen von Regeln stellt sich auf diesem Weg fast zwangsläufig als ein unbewusstes (bzw. automatisiertes) Befolgen impliziter (bzw. internalisierter) Regeln dar.8 Wer ehrlich ist, wird jedoch einräumen, dass sich von einem unbewussten Befolgen impliziter Regeln nur schwerlich ein nachvollziehbares Bild zeichnen lässt. Außerdem scheinen empirische Indizien dafür, dass ein Fall des unbewussten Befol-
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gens impliziter Regeln vorliegt, per Definition unmöglich zu sein. Daher möchte ich vorschlagen, das Folgen einer Regel nicht nach dem Modell eines unbewussten Befolgens impliziter Regeln zu deuten, sondern durch das Konzept des dispositionalen bzw. fähigkeitenbasierten Handelns zu bestimmen.9 Wer eine Sprache beherrscht oder sich den etablierten Umgangsformen einer bestimmten Gesellschaft entsprechend zu verhalten weiß, ist kein Akteur, der in den einschlägigen Situationen mit schlafwandlerischer Sicherheit implizite Regeln befolgt. Solch ein Akteur ist vielmehr mit einem komplizierten Stück Zucker vergleichbar, das unter bestimmten Situationsbedingungen eine bestimmte, für Zucker typische Art des Verhaltens an den Tag legt. Natürlich kann man das Verhalten von Zucker und das Sprachhandeln kompetenter Sprecher durch eine Vielzahl von deskriptiven Regeln beschreiben, von denen wir wissen, inwiefern sie eher mit Naturgesetzen als mit präskriptiven oder konsultativen Regeln verwandt sind. Chemiker suchen nach den Gesetzen, durch die sich das dispositionale Verhalten von Zucker und anderer Substanzen beschreiben lässt. Und Linguisten suchen nach den Gesetzen, durch die sich die sprachlichen Produkte der kompetenten Nutzer einer bestimmten Sprache beschreiben lassen. Aber wir tun wahrscheinlich gut daran, von der Vorstellung abzulassen, dass die deskriptiven Regeln, auf die die Linguisten im günstigen Fall stoßen, zugleich auch präskriptive Regeln sind, die die kompetenten Sprecher der betreffenden Sprache (unbewusst) befolgen. Zucker befolgt ja auch keine Gesetze der Chemie. Um diese Überlegung transparenter zu machen, mag es hilfreich sein, die Perspektive des Spracherwerbs und die der kompetenten Sprachverwendung ausdrücklich zu unterscheiden. Wie im Zuge der Darstellung des ersten Paradigmas schon erläutert wurde, ist es freilich so, dass man die deskriptiven Regeln, die die Linguisten finden, in präskriptiv formulierten Regelsätzen darstellen kann, um sie beispielsweise bei der Kindererziehung oder (weit plausibler noch) im Sprachunterricht zu verwenden. Der entscheidende Punkt ist indes der, dass die
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kompetenten Sprecher einer Sprache nach Abschluss des Spracherwerbs solche präskriptiv formulierten (Verfahrens-) Regeln nicht mehr befolgen. Die präskriptiv formulierten Regeln mögen daher eine signifikante Rolle in der Genese der betreffenden Sprach- bzw. Verhaltensdispositionen (Fähigkeiten) der einzelnen Individuen gespielt haben. Denn man kann sich unschwer vorstellen, dass sich ein Sprachschüler, orientiert an den präskriptiv formulierten Regeln einer Sprache, durch fleißiges Üben die betreffenden Fähigkeiten antrainiert, indem er die Regeln immer und immer wieder befolgt.10 Ist die Fähigkeit jedoch erst einmal im nötigen Ausmaß entfaltet, ist der vormalige Schüler ein kompetenter Sprecher der Sprache und befolgt dann keine Regeln mehr. Um das Zustandekommen der Fähigkeit eines Individuums, eine Sprache korrekt zu sprechen, zu erklären, mag man daher in den meisten Fällen auf präskriptiv formulierte Regeln verweisen müssen. Relevant für unsere gegenwärtigen Belange ist jedoch nur der Umstand, dass man die einzelnen Sprechhandlungen kompetenter Sprecher nicht durch präskriptiv formulierte Regeln und das Konzept der Befolgung solcher Regeln erklären sollte. Wer gestützt auf die dazu erforderlichen Fähigkeiten seine eigene Muttersprache spricht oder sich im Rahmen der ihm zur zweiten Natur gewordenen Kultur bewegt, dessen Verhalten also insofern einer großen Zahl deskriptiver Regeln folgt, ist in seinem Tun nicht an diesen Regeln orientiert. Er befolgt keine Regeln. Hier sind – allem Anschein zum Trotz – keine präskriptiven Regeln im Spiel.11 6 Das bereits wiederholt angesprochene Konzept der Orientierung des Handelns an einer Regel wird uns zeigen, dass das Phänomen des Befolgens einer Regel einer etwas differenzierteren Betrachtung bedarf. Wenden wir uns zu diesem Zweck der letzten paradigmatischen Form des Umgangs mit einer Regel zu, auf die ich in diesem Kapitel zu sprechen kommen möchte. Für die Fälle, die dabei ins Blickfeld rücken, möchte ich die Rede von der Anwendung einer Regel reservieren. Stellen wir
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uns zur Illustration eine Person vor, die gerade einen neuen Arbeitsplatz eingenommen hat und am Ende eines Fließbandes sitzt. Sie ist damit beauftragt, schadhafte Endprodukte auszusortieren, so dass nur fehlerfreie Produkte an ihr vorbei in die Versandabteilung der Firma gelangen. Man hat dieser Person erklärt, an welchen Merkmalen schadhafte Produkte zu erkennen sind und ihr die Regel genannt, solche Produkte vom Band zu nehmen und die nicht schadhaften Produkte auf dem Fließband vorüberziehen zu lassen.12 Indem die Person nun die auf sie zukommenden Produkte hinsichtlich der genannten Merkmale inspiziert und sich von Fall zu Fall entscheidet, ob sie ein Stück in einen bereitgestellten Abfallcontainer wirft oder auf dem Band belässt, wendet sie die besagte Regel an. Diese Person ist in ihrem Tun am Arbeitsplatz in einem vollkommen transparenten und leicht nachvollziehbaren Sinn des Wortes an einer Regel orientiert. Sie ist es so, wie es etwa auch die Teilnehmer an einem Brettoder Kartenspiel sind, die mit einem neuen Spiel noch nicht derart vertraut sind, dass ihnen die Regeln in Fleisch und Blut übergegangen sind. Diese Akteure wenden ebenfalls insofern Regeln an, als sie sich im Einzelfall mit Blick auf die Regel entscheiden. Indem sie etwa hin und wieder noch einmal in der Spielanweisung blättern, um gemeinsam zu klären, wie in ihrer momentanen Spielsituation den Regeln entsprechend zu verfahren ist, orientieren sie ihr Handeln an den Regeln des Spiels. In einer vergleichbaren Situation ist nicht zuletzt auch eine Person, die gerade versucht, eine neue Sprache zu erlernen und daher leidlich darum bemüht ist, die erlernten Regeln dieser Sprache in jedem Einzelfall korrekt anzuwenden. Auch diese Person orientiert ihr Tun von Fall zu Fall an diversen Regeln. Auch sie trifft eine Vielzahl praktischer Entscheidungen im Einzelfall. Das, was ich als das Anwenden von Regeln bezeichnet habe, ist nicht immer leicht von dem zu unterscheiden, was ich zuvor als Befolgen einer Regel vor Augen geführt habe. Und in der Tat ist nicht nur der Übergang vom Anwenden zum Befolgen
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einer Regel, sondern auch der vom Befolgen zum Folgen der Regel in der Realität nicht selten fließend. Besser sollte man vielleicht sogar sagen, dass das Anwenden und das Folgen idealtypische Pole eines Spektrums sind und das Befolgen den graduellen Übergang vom einen zum anderen Ende des Spektrums repräsentiert. Wer eine Regel nicht mehr anwendet, sondern bereits zum Befolger der Regel wird, ist im Begriff, die entsprechende Disposition auszuprägen. Hat er die Disposition vollkommen ausgeprägt, folgt sein Handeln einer Regel. Jemanden, der hinlänglich oft in die Situation gerät, eine bestimmte Regel immer und immer wieder anzuwenden, ergeht es also häufig so, dass er mehr und mehr dazu neigt, diese Regel „nur noch“ zu befolgen. Er ist sich zwar der Regel noch mehr oder weniger bewusst und könnte sie vermutlich auch durch einen Regelsatz zur Sprache bringen, wenn man ihn darum bittet. Aber er ist in seinem Tun immer weniger im erläuterten Sinn der Wendung an dieser Regel orientiert. Denn er fällt im engen Sinn des Wortes kaum noch im Einzelfall praktische Entscheidungen darüber, wie er sich in der regelspezifischen Situation zu verhalten hat.13 Habitualisierungs-, Gewöhnungs-, Routinisierungs- und Automatisierungsprozesse, die jeder von uns aus den verschiedensten Lebensbereichen aus eigener Erfahrung kennt, sind hier einschlägig.14 Unser Mann am Fließband etwa wird im Laufe der Zeit einen geschulten Blick für die Qualitäten entwickeln, durch die sich schadhafte und fehlerfreie Endprodukte voneinander unterscheiden. Dann wird er nicht mehr aufgrund der ihm mitgeteilten Regel in jedem Einzelfall gesondert entscheiden, ob er ein Produkt in den Container wirft oder für den Versand freigibt. Er wendet in diesen Fällen also die Regel nicht mehr an. Vielmehr befolgt er die Regel, dass die eine Art von Produkten in den Versand darf, während die andere Art in den Müll gehört. Auch wer ein neues Spiel oder eine neue Fremdsprache mit hinlänglicher Ausdauer praktiziert bzw. übt, neigt dazu, vom Anwender zum Befolger der entsprechenden Regeln zu werden. Auch er kennt die Regeln und kann sie eventuell noch kom-
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munizieren. Er muss sich aber immer seltener in seinem Tun bewusst an diesen Regeln orientieren. Er trifft kaum noch Entscheidungen im Einzelfall. Das diesen Regeln entsprechende Handeln wird ihm mehr und mehr zur vertrauten Gewohnheit. Und gerade im Fall des Erlernens einer Sprache geht es ja im Unterricht vornehmlich darum, solche Gewohnheiten auszuprägen. Man trainiert sich bestimmte Sprachdispositionen bzw. Fähigkeiten an, um sich vom mühevollen, weil kognitiv aufwändigen Anwenden der Regeln zu befreien. Man sollte sich also den Übergang vom Anwenden zum Folgen der Regel als kontinuierlichen Prozess denken, in dem zwischenzeitlich ein Befolgen der Regel stattfindet. Die berüchtigte Monotonie industrieller Fließbandarbeit lässt sich vor diesem Hintergrund durch den Umstand erklären, dass über kurz oder lang gar kein (kognitives) Befolgen der Regeln mehr erforderlich zu sein scheint, weil die schon einmal angesprochenen Habitualisierungsprozesse dazu führen, dass aus einem vormals regelorientierten Handeln über den Zwischenschritt des Befolgens der Regel ein rein dispositionales Verhalten wird. Marxens Konzept der entfremdeten Arbeit kommt einem in diesem Zusammenhang in den Sinn. Man stellt sich Menschen vor, die wie leblose Roboter oder stupide Automaten hantieren. Wie ich bereits erläutert habe, kann ein derartig dispositionales Handeln zwar als Fall des Folgens einer (deskriptiven) Regel beschrieben werden. Aber in der Genese und Erklärung der betreffenden Einzelhandlungen spielen die präskriptiven Regeln nach Abschluss der Habitualisierungsprozesse keine Rolle mehr. So wie sich Aristoteles vorstellte, dass durch präskriptive Regeln, Vorbilder und permanente Übung die Tugend zur Disposition anerzogen werden kann, so trainieren wir uns auch in außermoralischen Handlungskontexten (wissentlich oder unwissentlich) eine Vielzahl von Dispositionen an. Während dieses Trainingsprogramms haben die präskriptiven Regeln durchaus ihre Funktion. Denn hier führt der Akteur wiederholt Handlungen orientiert an diesen Regeln aus, um die Habitualisierung voranzutreiben. Sind die betreffenden Dispositionen aber erst einmal
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ausgebildet, verlieren die präskriptiven Regeln ihre vormalige Funktion. Sie erinnern an diesem Punkt an Wittgensteins Leiter. Durch das Besteigen dieser Leiter gelingt es manch einem, eine erst später im Leben erlernte Zweitsprache so „instinktiv“ richtig zu sprechen, als sei es seine Muttersprache. Und jeder kennt vermutlich das Phänomen, dass er beim Spielen extrem simpler Kinder-, Karten- oder anderer Gesellschaftsspiele nach einiger Zeit nicht mehr auf die Regeln des Spiels zu achten braucht, da er gewisse Verhaltensgewohnheiten ausgeprägt hat, die er immer und immer wieder abspult. Auch in solchen Fällen kann man dann zwar das sprachliche Handeln des Sprechers und die Handlungen der routinierten Spieler durch (deskriptive) Regelsätze beschreiben. Aber für dieses Handeln selbst spielen (präskriptive) Regeln im konkreten Einzelfall keine Rolle mehr. Hinsichtlich des Anwendens, Befolgens und Folgens ist über allgemeine Ratschläge sowie Faustregeln nichts Eigenständiges zu vermelden. Hervorzuheben ist vielleicht, dass die zurückliegenden Überlegungen zum Konzept des Regelfolgens dem Begriff der Gewohnheit etwas Kontur verleihen. Wo Menschen privat oder kollektiv gewisse Verhaltensgewohnheiten ausprägen, sind oft die fließenden Übergänge vom Anwenden jedweder Art präskriptiver und konsultativer Regeln zum Folgen deskriptiver Regeln im Spiel. Durch wiederholtes Handeln orientiert an einer Regel nehmen die Akteure nach und nach dispositionale Eigenschaften an. 7 Um das Bild vom Folgen einer Regel zu vervollständigen und zugleich Diskussionen an späterer Stelle dieser Abhandlung vorzubereiten, ist es zum Abschluss des Kapitels hilfreich, zusätzlich einen Blick auf ein Phänomen zu werfen, das ich das regelgemäße Handeln nennen möchte. In einer landläufigen Bedeutung dieser Wendung handelt freilich jeder immer genau dann regelgemäß, wenn er in einer konkreten Situation eine Regel anwendet, befolgt oder der betreffenden Regel folgt. Denn in all diesen Fällen ist seine Handlung der entsprechen-
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den Regel gemäß. Ich möchte der Rede von einer regelgemäßen Handlung jedoch eine deutlich engere Bedeutung verleihen. Wieder ist nämlich eine terminologische Festsetzung erforderlich, um sachliche Unterschiede sprachlich kenntlich zu machen, die dem Blick ansonsten allzu leicht entgehen. Regelgemäß handelt eine Person meiner terminologischen Festsetzung zufolge genau dann, wenn ihr Handeln Gründe hat, die mit der betreffenden Regel nichts zu tun haben, wenn es also einen nur kontingenten Zusammenhang zwischen der Handlung und der Regel gibt. Das Phänomen des regelgemäßen Handelns, das ich durch diese Formulierung verdeutlichen möchte, ist also anders als die sechs besprochenen Paradigmen im Wortsinn verstanden gerade kein Umgang mit Regeln. Denn der betreffende Akteur hat mit der betreffenden Regel per Definition nichts zu schaffen. Das Phänomen des regelgemäßen Handelns gibt es sowohl in der individuellen als auch in einer sozialen Variante. Und es mag zur Klärung hilfreich sein, diese beiden Fälle gesondert zu betrachten. Stellen wir uns im einen Fall ein Individuum vor, das sich zufälligerweise Jahr um Jahr immer für denselben Urlaubsort entscheidet. Jedes Jahr hat diese Person andere oder auch dieselben Gründe dafür, ihren Urlaub an diesem statt an einem anderen Ort zu verbringen. Oder jedes Jahr mögen irgendwelche Gründe dagegen sprechen, woandershin in die Ferien zu fahren. Diese Person, so nehmen wir also an, befolgt keine Regel und folgt auch keiner Regel. Es trifft sich einfach nur aus Zufall so, dass ihr jährliches Entscheiden und Urlaubshandeln die erläuterte Regelmäßigkeit zu erkennen gibt. Und nur insofern ihr jährliches Entscheiden und Urlaubshandeln diese Regelmäßigkeit zu erkennen gibt, agiert die Person einer bestimmten Regel gemäß. Der andere, also soziale Fall ist lediglich eine Verallgemeinerung der eben erläuterten Situation. Denn zuweilen trifft es sich so, dass sich eine Mehrzahl von Personen aus (unterschiedlichen oder identischen) Gründen in bestimmten vergleichbaren Situationen regelmäßig für Handlungen eines iden-
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tischen Typs entscheidet. Dabei hat weder die sich dadurch einstellende Regelmäßigkeit noch die sie zur Sprache bringende Regel irgendeinen Einfluss auf das Entscheiden und Handeln dieser Menschen. Wenn beispielsweise Frau Mayer, Tochter aus wohlhabendem Hause und begeisterte Leserin von Smith, Hayek und Nozick am heutigen Wahltag ihre Stimme der FDP gibt, dann handelt sie der Regel gemäß, dass Leute mit dem und dem sozialen, kulturellen und intellektuellen Hintergrund gehäuft die FDP wählen. Diese Regel ergibt sich, weil die betreffenden Adressaten aufgrund ähnlicher Lebensverhältnisse ähnliche Gründe für ähnliche Handlungen haben. Doch von der Regularität, von der man mit Blick auf die Gesamtheit dieser Handlungen sprechen kann, dürfen wir nicht annehmen, dass sie selbst zur Menge der relevanten Gründe der Akteure gehört. Daher ist zwar jede ihrer Handlungen der betreffenden Regel gemäß. Aber die Handlungen und ihre Genese haben mit der Regel nichts zu schaffen. Im Fall des regelgemäßen Handelns haben wir es offenkundig weder mit einer präskriptiven noch mit einer konsultativen Regel zu tun. Es geht vielmehr wieder um eine deskriptive Regel, vergleichbar der, dass die Alpen im März von Schnee bedeckt sind. Dies erkennt man beispielsweise daran, dass es durchaus Ausnahmen zu den involvierten Regeln geben kann, die die betreffenden Regelsätze nicht falsifizieren. Unsere Person aus dem ersten Beispiel mag sich nächstes Jahr ausnahmsweise für ein anderes Urlaubsziel entscheiden. Trotzdem ist es wahr, dass sie ihren Urlaub in der Regel an der Ostsee verbringt. Nicht jeder Sprössling gut betuchter Eltern wird zum Anhänger und treuem Wähler der FDP. Trotzdem ist es wahr, dass Menschen, die aus einem vergleichbaren Sozialmilieu stammen, in aller Regel vergleichbare politische Ansichten hegen. Da es nicht nur im Fall des regelgemäßen Handelns, sondern auch im Fall des Folgens einer Regel nicht um präskriptive, sondern um deskriptive Regeln geht, mag es aus epistemischen Gründen häufig schwierig sein, als Beobachter im Einzelfall korrekt zu entscheiden, wie die konkrete Handlung eines Ak-
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teurs zu klassifizieren ist. Relevant für unsere Belange sind jedoch nicht derartig epistemologische Komplikationen. Um die müssen wir uns glücklicherweise nicht bekümmern. Relevant ist einzig der, wie man sagen könnte, genealogische Unterschied, der zwischen dem Folgen einer Regel und dem regelgemäßen Handeln besteht. Das Folgen einer (deskriptiven) Regel, so wie ich die betreffenden Ausdrücke definiert habe, ist immer das Produkt vorgängiger Phasen des Anwendens und Befolgens einer präskriptiven oder konsultativen Regel. Man tat in der Vergangenheit wiederholt, was man tat, orientiert an einer Regel. Und irgendwann ging man dazu über, den Blick von der Regel abzuwenden und das betreffende Handeln beizubehalten. Die präskriptive bzw. konsultative Regel geht gewissermaßen, die deskriptive bleibt. Die Begriffe des Übens, Lernens, der Fähigkeit oder Disposition machen diesen Übergang verständlich. In der Genealogie des regelgemäßen Handelns spielen präskriptive Regeln hingegen per Definition keine Rolle. Es ist vielmehr ein kontingenter Sachverhalt, dass das wiederholte Handeln aus Gründen einer Einzelperson oder einer Gruppe von Akteuren in der zeitlichen Perspektive eine Verhaltensregelmäßigkeit zu erkennen gibt, die sich in Form einer deskriptiven Regel zur Sprache bringen lässt. Jedes Glied in dieser Regelmäßigkeit ist der betreffenden Regel gemäß. Aber zu keinem Zeitpunkt spielte irgendeine präskriptive Regel irgendeine Rolle im Handeln der involvierten Akteure. Wie man sich sicherlich denken kann, ist der hiermit hoffentlich deutlich gewordene Unterschied zwischen dem Handeln, das einer Regel folgt, und dem regelgemäßen Handeln für ein adäquates Verständnis unseres sozialen, rechtlichen und nicht zuletzt moralischen Verhaltens von einiger Bedeutung. Hat man diesen Unterschied und die Unterschiede zwischen dem Folgen, Befolgen und Anwenden einer Regel nicht im Blick, läuft man Gefahr, zwischen vollkommen verschiedenartigen Situationen nicht hinreichend zu differenzieren. Falsche Erklärungen des betreffenden Handelns sind dann fast zwangs-
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läufig die Folge. Denn nicht jede Regularität des Verhaltens, die sich in der sozialen Realität beobachten lässt, ist nach immer ein und demselben Muster zu erklären. In der Erklärung mancher Regularitäten müssen präskriptive oder konsultative Regeln, die von den betreffenden Akteuren angewandt oder befolgt werden, eine Rolle spielen. In der Erklärung anderer Regularitäten haben präskriptive oder konsultative Regeln indes nichts zu suchen. *** In diesem Kapitel wurde der Acker bestellt, indem wir uns eine Reihe typischer Fälle vor Augen geführt haben, in denen Akteure in einem Verhältnis zu präskriptiven oder anderen Arten von Regeln stehen können. Jeder kann über jede Art von Regel reden. Als Regelautor kann man bestimmte Regeln aufstellen, ändern, außer Kraft setzen. Als Regeladressat kann man bestimmte Regeln akzeptieren, zu akzeptieren haben, zurückweisen, anwenden, befolgen. Darüber hinaus kann das Handeln eines Individuums oder einer Gruppe von Menschen einer deskriptiven Regel folgen oder ihr auch nur gemäß sein. – Im nächsten Kapiteln wollen wir die erste Ernte einfahren. Wie lassen sich die präskriptiven Regeln in Anbetracht der bisherigen Ergebnisse auf eine möglichst kohärente Art und Weise deuten?
III Gebot und Anweisung Fragen wir jetzt, wie man sich präskriptive Regeln denken muss oder doch zumindest denken kann, wenn die Überlegungen im zurückliegenden Kapitel zum Kommunizieren über Regeln sowie zum Aufstellen, Ändern, Abschaffen, Akzeptieren, Befolgen und Folgen von Regeln im Großen und Ganzen korrekt sind. Nicht zuletzt der Übersichtlichkeit halber werde ich mich bei der Beantwortung dieser Frage in diesem Kapitel auf Gebotsregeln konzentrieren und diese ab jetzt ihrerseits als Paradigma behandeln. Wie wir uns erinnern, sind Verbote immer auch als Unterlassungsgebote zu deuten und insofern in der Menge der ins Auge gefassten Gebote enthalten. – Im nachfolgenden Kapitel wird dann zu untersuchen sein, wie sich die übrigen Regeltypen und -arten im Licht der Ergebnisse der nachfolgenden Überlegungen darstellen. 1 Was also sind Gebotsregeln? Als aufschlussreich erweist sich der Vergleich zweier Situationen. Vergleichen wir die Situation, in der eine Einzelperson gegenüber einem einzelnen Adressaten in der Rolle des Regelautors ist, mit dem Fall, in dem eine Person einer anderen eine schlichte Anweisung gibt. Der Vater sagt im ersten Fall zu seinem minderjährigen Sohn: „Sei ab jetzt abends bitte spätestens um acht zu Hause!“ Im zweiten Fall könnte er hingegen sagen: „Sei heute bitte spätestens um acht daheim!“ In diesem zweiten Fall formuliert der Vater eine Anweisung, die insofern singulär ist, als sie sich lediglich auf den Abend dieses einen Tages bezieht und für diese Einzelsituation eine Handlung von bestimmter Art verlangt.1 Im ersten Fall formuliert der Vater eine Anweisung, die insofern generell ist, als sie sich auf die lange Reihe zukünftiger Abende bezieht, die
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erst dann ihr Ende findet, wenn der Vater die Regel entsprechend ändert oder außer Kraft setzt. Gebotsregeln erscheinen angesichts dieses Vergleichs als generelle, vielleicht besser gesagt als generalisierte Anweisungen der veranschaulichten Art.2 2 Die Aussage, Gebotsregeln seien als generalisierte Anweisungen zu charakterisieren, lässt sich auf zweierlei Weise interpretieren. Beide Interpretationen, so wird sich zeigen, haben ihre Berechtigung. Aber es ist für den weiteren Fortgang dieser Abhandlung von entscheidender Bedeutung, dass wir eine Interpretation der anderen vorziehen und damit auch die Identifikation von Regeln mit Propositionen wieder aufheben, die am Ende des ersten Kapitels vorgenommen wurde. Der Grund für diese Präferenz wird sich vornehmlich im nachfolgenden Kapitel offenbaren, wenn auch die übrigen Regelarten wieder in die Betrachtung einbezogen werden. In der ersten Interpretation ist die Charakterisierung von Gebotsregeln als generalisierte Anweisungen so zu verstehen, dass das Aufstellen einer Regel mit der Anweisung identisch ist, diese Regel zu befolgen (bzw. anzuwenden). Diese Lesart bringt uns in der Frage, was Regeln sind, genau genommen keinen Schritt voran. Denn sie klärt lediglich, was es mit dem Akt des Aufstellens einer Regel auf sich hat. Wer eine Regel aufstellt, so diese Interpretation, weist seinen Adressaten an, sich in den einschlägigen Situationen der Regel entsprechend zu verhalten. Diese erste Interpretation schließt an die vorübergehend vorgenommene Bestimmung von Regeln am Ende des ersten Kapitels an. Dort wurden Regeln mit den propositionalen Inhalten identifiziert, die man durch einen Regelsatz (oder viele bedeutungsgleiche Regelsätze) zur Sprache bringen kann. Dieser Sicht der Dinge gemäß verweist der Vater durch das Aussprechen eines Regelsatzes auf eine Regel (sprich auf eine Proposition) und bringt durch seinen Anweisungsakt zum Ausdruck, dass sich der Adressat seiner Äußerung an diese Regel halten soll. Der Vater tut so gesehen also zweierlei. Er verweist sprachlich auf eine Regel (eine Proposition) und sagt seinem
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Adressaten, wie er sich gegenüber dieser Regel zu verhalten hat.3 Der Regelautor ist in dieser Lesart mit einem Kunstlehrer vergleichbar, der seinem Schüler eine Fotografie vor Augen hält und ihm die Anweisung gibt, dieses Bild abzumalen. Der Vergleich mit dem Kunstlehrer macht deutlich, dass und weshalb uns diese Interpretation mit Bezug auf die Frage, was Regeln sind, keinen Deut besser stellt als zuvor. Denn sie greift nur die alte Bestimmung der Regel als propositionalen Inhalt eines Regelsatzes auf und fügt dem hinzu, dass das Aufstellen einer Regel mit dem Anweisen identisch ist, sich an die Regel zu halten. Um bei der Analogie zu bleiben: Man erfährt von Bildern, dass es sich um Dinge handelt, die man malen kann. Was es mit der Art von Dingen auf sich hat, die man malen kann, wird so jedoch nicht klarer. Anders formuliert, macht diese Interpretation zwar deutlich, was außerhalb einer Klammer mir der Regel in dem Moment passiert, in dem ihr Autor sie aufstellt. Es bleibt aber vollkommen unklar, was es mit der Regel auf sich hat, die ja innerhalb der besagten Klammer steht. Der zweiten Interpretation liegt ein anderer Gedanke zugrunde. Dieser Gedanke besagt, dass man eine Gebotsregel als Bündelung einer Vielzahl singulärer Anweisungen deuten sollte. Der Vater könnte seinem Sohn theoretisch jeden Tag aufs Neue die singuläre Anweisung geben, am betreffenden Abend spätestens um acht daheim zu sein. Aber genau diese Mühe kann er sich ersparen, weil wir die sprachliche Institution der (präskriptiven) Regel haben und schon in jungen Jahren darin geübt werden, mit dieser Institution umzugehen. In Anbetracht dieses Gedankens sind wir jetzt in der Lage, diese Institution deutlicher als das zu erkennen, was sie der Sache nach zu sein scheint. Zu diesem Zweck ist die Rede davon, dass ein Regelautor eine Gebotsregel aufstellt, gemäß der soeben erläuterten Anschauung zu übersetzen: Wer eine Gebotsregel aufstellt, spricht gewissermaßen eine singuläre Anweisung aus und hängt zugleich ein auf Dauer gestelltes Dacapo daran. Oder anders ausgedrückt: Wer nicht nur eine singuläre Anweisung formu-
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liert, sondern eine Regel aufstellt, gibt zu verstehen, dass seine Anweisung für eine Vielzahl von dafür einschlägigen Einzelsituationen gilt. In all diesen Situationen ist der Adressat gehalten, Einzelhandlungen eines bestimmten Typs auszuführen. Gemäß dieser Bündelkonzeption ist ab jetzt von den Gebotsregeln als generalisierten Anweisungen die Rede. 3 Vor allem bei der Darstellung der ersten Interpretation habe ich mich im zurückliegenden Abschnitt auf den Unterschied zwischen dem Akt des Anweisens und der resultierenden Anweisung gestützt. Gemäß der von mir favorisierten zweiten Interpretation sind Gebotsregeln mit generalisierten Anweisungen identisch und insofern analytisch von den Anweisungsakten zu trennen. Es mag zur Klärung dieser diffizilen Unterschiede hilfreich sein, sich die strukturelle Analogie zwischen dem allgemeinen Phänomen, sprich einer Anweisung, und dem Unterfall, also einer Gebotsregel, zu vergegenwärtigen: Dem sprachlichen Akt des Anweisens entspricht im Unterfall der sprachliche Akt des Aufstellens einer Gebotsregel, also einfacher gesagt die Äußerung eines bestimmten Satzes, der zumeist im imperativischen Modus formuliert ist. – In Folge des Aktes des schlichten Anweisens besteht, so sagten wir, eine singuläre Anweisung an den Adressaten. Er soll in einer bestimmten Situation etwas Bestimmtes tun. Also besteht im speziellen Fall des Aufstellens einer Regel eine generalisierte Anweisung an den Adressaten. Er soll in Situationen bestimmter Art immer Dinge bestimmter Art tun. – Darüber hinaus kann man zwischen dem sprachlichen Akt des Aufstellens einer Gebotsregel und der Regel unterscheiden, deren Existenz die Folge jenes Aktes ist. Um an diesem Punkt der Überlegungen noch etwas mehr Klarheit in die subtilen Zusammenhänge zu bringen, sollten wir uns vor Augen führen, dass die Ausdrücke ‚anweisen‘, ‚Anweisung‘, ‚befehlen‘ und ‚Befehl‘ (wie viele andere Vokabeln auch) eine umfassendere Versuchs- und eine engere Erfolgsbedeutung haben. In der engeren Erfolgsbedeutung ruft eine Person nur dann eine andere Person an, wenn diese den Anruf
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entgegennimmt und das gemeinsame Telefonat stattfindet. Geht die andere Person hingegen nicht ans Telefon, hat die erste Person in dieser Bedeutung des Wortes lediglich versucht, die zweite Person anzurufen. – In der Erfolgsbedeutung formuliert nur derjenige die Erklärung eines zu erklärenden Sachverhalts, dessen Erklärung korrekt ist. Ist die Erklärung nicht korrekt, hat dieser Mensch lediglich (erfolglos) versucht, das Explanandum zu erklären. – In dieser Bedeutung spricht man schließlich nur dann von einer Information, wenn diese zutrifft. Eine sogenannte Fehlinformation kann das Resultat eines gescheiterten Versuchs sein, den Informationsempfänger zu informieren. In dieser Erfolgsbedeutung existiert in der Folge eines Anweisungsaktes dann und nur dann eine Anweisung, wenn ihr Adressat diese Anweisung als Anweisung akzeptiert oder aus Gründen, die wir uns im zurückliegenden Kapitel deutlich gemacht haben, zu akzeptieren hat. In diesem zweiten Fall nimmt die adressierte Person zur Kenntnis, dass sie sich ihrer Rolle als Adressat der Regel nicht entziehen kann. Wenn der Adressat die Anweisung jedoch weder akzeptiert noch zu akzeptieren hat (oder sie vielleicht auch gar nicht gehört hat), war der betreffende Anweisungsakt lediglich der Versuch, eine Anweisung zu geben, sprich eine Gebotsregel aufzustellen. Dieser Versuch ist jedoch gescheitert. In dem Fall gibt es zwar einen Akt des versuchten Anweisens. Es existiert jedoch keine Anweisung und folglich auch keine Gebotsregel infolge dieses Aktes.4 Wie Hegels Herr nicht ohne Knecht Herr sein kann, kann der Autor einer Anweisung nicht ohne Akzeptanz des Adressaten erfolgreich sein. Ohne diese Akzeptanz durch den Adressaten ist niemand der Autor einer Anweisung oder Regel. In der Versuchsbedeutung des Wortes gibt hingegen jeder eine Anweisung, der durch die Äußerung eines hierfür einschlägigen Satzes versucht, seine Adressaten zur Befolgung der Anweisung zu bewegen. In dieser umfassenden Bedeutung kann man auch im Fall einer nicht akzeptierten Anweisung oder sogar im Fall eines vom Adressaten gar nicht wahrge-
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nommenen Anweisungsaktes von einer existenten Anweisung sprechen. So wie die Frage der Kommissarin an den Tatverdächtigen, der im Kreuzverhör jede Aussage verweigert, trotz des hartnäckigen Schweigens des Befragten nicht aufhört, eine Frage zu sein, hört eine Anweisung in der Versuchsbedeutung des Wortes ebenfalls nicht auf, eine Anweisung zu sein, wenn der Adressat die Anweisung nicht hört, nicht akzeptiert oder sogar brüskiert zurückweist. Manche Anweiser haben bei ihren Adressaten wenig Erfolg. Das stimmt. Manche Anweiser machen sich durch ihren Anweisungsversuch sogar lächerlich vor ihren Adressaten und in den Augen ihrer Umwelt. Auch das ist wahr. Gleichwohl geben sie Anweisungen in der umfassenderen der beiden Bedeutungen des Wortes. In der Versuchsbedeutung des betreffenden Vokabulars ist es korrekt, dass eine Person eine andere auch dann angerufen hat, wenn ihr Versuch vergeblich war, insofern das Telefonat nicht entgegengenommen wurde. In dieser Bedeutung erklärt auch derjenige einen Sachverhalt, dessen Erklärung grottenfalsch ist. In diesem Sinn des Vokabulars ist auch eine Fehlinformation eine Information. 4 Der soeben erläuterte Unterschied zwischen den beiden Bedeutungsvarianten des Anweisungsvokabulars macht deutlich, inwiefern es falsch ist zu glauben, Menschen könnten anderen Menschen nur dann eine Anweisung geben, wenn sie dazu in einer geeigneten sozialen, insbesondere normativ ausgezeichneten Machtposition sind.5 Es stimmt zwar, dass beispielsweise untergeordnete Soldaten ihren Vorgesetzen in aller Regel weder erfolgreich Anweisungen bzw. Befehle geben noch versuchen, dies zu tun. Aber beides ist nicht zwingend. Was den ersten Fall anbelangt, stelle man sich einen Rekruten vor, der ins Offizierskasino mit den Worten stürzt: „Alle Mann raus hier, es brennt!“ Wie man sich unschwer vorstellen kann, werden die Vorgesetzten des Soldaten diese Anweisung ohne weitere Reflexion als Anweisung akzeptierten und umgehend befolgen. Un-
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ter günstigen Bedingungen, so zeigt das Beispiel, kann offenbar jeder Versuch, eine Anweisung zu geben, erfolgreich sein. Den Tatbestand, dass untergeordnete Soldaten in aller Regel aber nicht einmal ernsthaft versuchen, ihren Vorgesetzen Anweisungen bzw. Befehle zu geben, kann man im Übrigen sehr leicht erklären. Der gesunde Menschenverstand und vielleicht auch einschlägige Erfahrung lehrt die Soldaten, wie wenig Erfolgsaussicht darauf besteht, dass die Vorgesetzten ihre Anweisungen unter normalen Umständen als Anweisungen akzeptieren und am Ende sogar befolgen. Vielleicht hat der gemeine Soldat auch allen Grund für die Befürchtung, sanktioniert zu werden, wenn er versucht, seinen Vorgesetzten Befehle zu geben. Daher unterlässt er den Versuch. Dies ist begreiflich. Dennoch: Unter geeigneten Voraussetzungen kann jeder erfolgreich eine Anweisung an einen (oder mehrere) Mitmenschen adressieren. Und unter nahezu allen Umständen kann jeder versuchen, Anweisungen an seine Mitmenschen zu adressieren. 5 Verständigen wir uns jetzt darauf, den Ausdruck „Anweisung“ nur noch in der Erfolgsbedeutung zu gebrauchen. Nur wer mit seinem Anweisungsakt Erfolg hat, insofern der Adressat die Anweisung vernimmt und akzeptiert oder zu akzeptieren hat, formuliert eine Anweisung. Im anderen Fall versucht er lediglich (erfolglos), eine Anweisung zu formulieren. Es gibt dann keine Anweisung. – Gibt der erfolgreiche Autor eine generalisierte Anweisung, stellt er der eingangs vorgetragenen Überlegung gemäß eine Gebotsregel auf. Infolge seines erfolgreichen Anweisungsaktes, so kann man auch sagen, existiert die Anweisung. Es existiert die betreffende Gebotsregel.6 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, inwiefern diejenigen Autoren richtig liegen, die die Existenz einer Gebotsregel mit ihrer Geltung identifizieren.7 Von einer Regel, die infolge eines erfolgreichen Anweisungsaktes existiert, lässt sich sagen, dass es sich um eine geltende Regel handelt, insofern im Begriff der existenten Regel gemäß den vorgenommenen Begriffsklärungen die Akzeptanz des Regeladressaten enthalten ist.8 Vor
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diesem Hintergrund können wir daher festhalten, dass die Existenz und Geltung einer Gebotsregel einen Autor voraussetzt, der die Regel erfolgreich aufgestellt, sprich in Kraft gesetzt hat. Ob es sich bei dieser Autorschaft um eine für alle Arten und Typen von Regeln notwendige Bedingung handelt, wird an späterer Stelle noch zu erörtern sein. Momentan haben wir lediglich Gebotsregeln im Blick. Nahtlos fügt sich in das bis hierher gezeichnete Bild auch das Ändern und Außerkraftsetzen geltender Gebotsregeln ein. Wenn ein Autor eine akzeptierte Regel erfolgreich ändert, ersetzt er eine bestehende durch eine neue generalisierte Anweisung, insofern der Adressat auch diese Anweisung als Anweisung akzeptiert. Der Autor vernichtet gewissermaßen die zuvor bestandene Anweisung, indem er dafür sorgt, dass es an ihrer Stelle eine neue gibt. – Und wenn der Autor eine akzeptierte Regel aussetzt bzw. abschafft, dann gibt er zu verstehen, dass seine zuvor ergangene Anweisung für die Zukunft nicht mehr als eine seiner Anweisungen gilt. Die alte Anweisung, so kann man auch sagen, ist dann erloschen. Sie gilt, sprich existiert nicht mehr. Sie ist jetzt nur noch ein Stück Geschichte.9 6 Man kann sich dem Phänomen der Geltung einer Gebotsregel zur Ergänzung auch aus einer anderen, mehr phänomenologisch ausgerichteten Perspektive annähern. Anweisungen und Fragen, die wir im Vorübergehen schon einmal miteinander verglichen haben, ist gemeinsam, dass sie in der Reaktion der angewiesenen bzw. befragten Adressaten eine Art natürliche Vervollständigung finden. Eine Frage, die unbeantwortet im Raum stehen bleibt, ist wie ein Scherz, über den niemand lacht. Oder vielleicht besser so: Wer eine Anweisung formuliert oder eine Frage stellt, eröffnet eine kollektive Handlung, die der Ergänzung durch mindestens eines weiteren Akteurs bedarf. Ohne Befolgung oder Beantwortung sind eine Anweisung oder Frage wie der Vorspann eines Films, der nie gedreht wird. Vor dem Hintergrund dieses Vergleichs von Anweisungen mit Fragen sticht ein aufschlussreicher Unterschied zwischen
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singulären und generalisierten Anweisungen ins Auge. Eine akzeptierte singuläre Anweisung ist durch die singuläre Befolgung des Adressaten gewissermaßen abgearbeitet, ist ein Stück vergangene Geschichte wie eine Frage, die irgendwie keine echte mehr ist, sobald die Antwort bekannt ist. Generalisierte Anweisungen sind in dieser Hinsicht aber anders. Kommt das Kind heute der akzeptierten Anweisung des Vaters nach, abends immer rechtzeitig daheim zu sein, ist die befolgte Anweisung trotz ihrer Befolgung nicht abgearbeitet, sondern besteht aufgrund ihrer generalisierten Natur auch in Zukunft fort. Sie bleibt sowohl in den Augen des Autors als auch in den Augen des Adressaten, der sie als generalisierte Anweisung akzeptiert hat, bestehen. Sie ist beständig. Und es ist phänomenologisch betrachtet plausibel, diese Beständigkeit, wenn man so will, „Hartnäckigkeit“, einer generalisierten Anweisung mit der Geltung einer Gebotsregel zu identifizieren. Eine generalisierte Anweisung lässt insofern an einen Plastikball denken, den ein Kind im Spiel ins Wasser drückt. Gelingt es dem Kind, den Ball kurzfristig unter die Wasseroberfläche zu pressen, schnellt der Ball rasch wieder nach oben, so dass das Spiel von vorn beginnen kann. Anders als singuläre Anweisungen sind generalisierte Anweisungen also nicht durch einmalige Befolgungsakte aus der Welt zu schaffen. Und diese Beständigkeit, diese Persistenz einer akzeptierten Regel ist, phänomenologisch gesehen, ihre Geltung.10 Persistenz, so lässt sich diese Überlegung zu Ende führen, ist eine Spielart der Existenz. Insofern ist es auch in der phänomenologischen Perspektive richtig, die Existenz einer erfolgreich aufgestellten, sprich akzeptierten Gebotsregel mit ihrer Geltung gleichzusetzen. 7 Bevor wir in der Sache einen Schritt weitergehen, muss das bis hierher gezeichnete Bild von einer Gebotsregel um einen schlichen, aber systematisch wichtigen Aspekt ergänzt werden. Wenn wir uns daran erinnern, wie im zurückliegenden Kapitel die Fälle des Aufstellens, Änderns und Abschaffens von Regeln in unterschiedliche Teilgruppen sortiert wurden, wird erkenn-
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bar, inwiefern manche Gebotsregeln auch in einer zweiten Hinsicht als generalisierte Anweisungen zu charakterisieren sind. Oft steht ein (singulärer oder kollektiver) Regelautor einer Mehrzahl von Adressaten gegenüber. Der Vater mit Zwillingen, die Monarchin und ihre Untertanen sowie der Erfinder eines Spiels waren hierfür Beispiele. Wenn eine Gebotsregel für eine Vielzahl von Adressaten gilt, dann erscheint die involvierte Verhaltensaufforderung auch insofern generalisiert, als sie eine Vielzahl einzelner Anweisungen, die sich alle an einzelne Adressaten richten, in eine Kollektivanweisung bündelt. Statt zu sagen: „Peter, sei abends um neun zu Hause; und du, Petra, sei es auch!“ kann der Vater kurzerhand verkünden: „Kinder, seid abends um neun daheim!“ Jetzt gilt für beide Adressaten ein und dieselbe Regel. Die sprachliche Institution der präskriptiven Regel, so wird hier erneut erkennbar, ist eine Einrichtung, die enorm viel Arbeit erspart. Denn sie nimmt dem Regelautor eine Vielzahl kommunikativer Handlungen ab. Statt allen Untertanen täglich einen Brief mit ihren singulären Anweisungen zukommen zu lassen, spricht die Königin eine doppelt generalisierte Anweisung aus. Sie stellt, mit anderen Worten, eine Regel auf. Sie erlässt ein Gesetz. 8 Wir haben im fünften und sechsten Abschnitt gesehen, inwiefern dem Begriff der Geltung einer Regel, um den sich in der moral- und rechtsphilosophischen Literatur nicht wenige Mythen ranken, bei näherer Betrachtung vornehmlich ein sprachliches Phänomen zugrunde liegt. Im Fall eines erfolgreichen Anweisungsaktes kann man von der Existenz der betreffenden Anweisung und damit von der Existenz der betreffenden Regel sprechen. Insofern sich ein erfolgreicher Anweisungsakt dadurch auszeichnet, dass der Adressat der Anweisung die betreffende Regel als generalisierte Anweisung akzeptiert, fallen die Existenz und die Geltung der Regel zusammen. Zur Existenz einer erfolgreich aufgestellten Regel kommt also, anders gesagt, nicht noch ein Merkmal namens Geltung hinzu. ‚Gel-
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tung‘ meint hier nichts anderes als die Existenz der (präskriptiven) Regel. Zur Sicherheit sei an dieser Stelle davor gewarnt, sich von drei weiteren Eigenwilligkeiten unserer natürlichen Sprachen in die Irre führen zu lassen. Die erste Eigentümlichkeit zeigt sich darin, dass man Regeln aufstellt, formuliert, in Kraft setzt; Anweisungen ausspricht, gibt, erlässt; Gesetze gibt, erlässt, verabschiedet usw. Was hier im Fall der Vokabeln ‚Regel‘, ‚Anweisung‘, ‚Gesetz‘ feststellbar ist, ist auch in vielen anderen vergleichbaren Fällen zu beobachten. Es gibt in den natürlichen Sprachen fast immer eine Reihe typischer Verben, durch die man zum Ausdruck bringt, was die Sprecher mit bestimmten sprachlichen Dingen tun. Fragen werden gestellt, formuliert, geäußert oder aufgeworfen. Aussagen werden gemacht, getroffen, formuliert, zuweilen auch gewagt. Befehle gibt man oder man spricht sie aus usw. Diese stilistische Vielfalt an sprachlichen Darstellungsformen findet in ontologischer Hinsicht jedoch keine Entsprechung. Jemand, der fragt, ob p, tut immer genau dasselbe, unabhängig davon, ob wir sagen, er habe die Frage gestellt, formuliert oder geäußert. Dass man davon spricht, Gebotsregeln werden aufgestellt, formuliert oder in Kraft gesetzt, im Fall der Anweisungen aber andere Verben gebraucht, ist also kein Grund, daran zu zweifeln, dass das Aufstellen einer Gebotsregel als Unterfall des Aussprechens einer Anweisung zu charakterisieren ist. Folglich gibt es auch keinen Grund für den Zweifel, dass Regeln dieses Typs spezielle Fälle von Anweisungen sind. Offenkundig ist es ohnehin nur ein sprachgeschichtlicher Zufall, dass wir heute daran gewöhnt sind zu sagen, der Vater habe eine Regel aufgestellt bzw. eine generalisierte Anweisung gegeben. Stattdessen hätte sich auch die Wendung durchsetzen können, der gemäß der Vater geregelt hat, dass das Kind stets um neun daheim zu sein hat.11 Die zweite Eigentümlichkeit unseres Umgangs mit der Sprache, auf die ich aufmerksam machen möchte, besteht darin, dass wir oft Verben auf sprachliche Dinge beziehen, die wir genau genommen auf die involvierten Sprecher beziehen sollten.
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Man sagt umgangssprachlich beispielsweise, diese oder jene Äußerung mache darauf aufmerksam, dass p; oder diese oder jene Bemerkung werfe die Frage auf, ob q, wo es eigentlich heißen sollte, dass diejenige Person, die die betreffenden Sätze äußert, auf p aufmerksam macht oder die Frage, ob q, aufwirft. Man darf sich auch an diesem Punkt nicht von der Sprache verhexen lassen. Sprachliche Dinge tun ihrerseits nichts. Sie dienen vielmehr Sprechern dazu, diverse Dinge zu tun. Dass es oft irreführenderweise heißt, eine Regel gebiete, ein Gesetz verbiete oder eine Norm halte jemanden davon ab, dies oder jenes zu tun, darf also nicht beim Wort genommen werden. Dieser Punkt ist wichtig, weil das Gespenst der Normativität sich in derlei Zusammenhängen gerne blicken lässt. Auch Regeln, die generalisierte Anweisungen sind, tun in Wahrheit nichts. Der Autor einer Gebotsregel tut, handelt, gebietet. Die Autoren des Gesetzes verbieten. Die Autoren einer Norm mögen Adressaten durch das Aufstellen der Norm zu diesem oder jenem Verhalten bewegen. Dass wir zuweilen Regeln quasi animistisch gewisse Tätigkeiten zusprechen, ist also ebenfalls kein Grund, der dagegen spricht, Gebotsregeln als generalisierte Anweisungen zu charakterisieren. Wir dürfen uns vom oft irreführenden Sprachgebrauch nicht verblenden lassen. Regeln und Anweisungen selbst tun, wie gesagt, nichts. Menschen tun diverse Dinge, indem sie Regeln aufstellen oder singuläre Anweisungen geben. Die dritte Spracheigentümlichkeit, die es zu bedenken gilt, besteht darin, dass uns die natürlichen Sprachen oft Entitäten vorgaukeln, wo gar keine sind. Jemand, der etwas beobachtet, macht eine Beobachtung. Gibt es diese Beobachtung? Wo ist sie zu finden? – Jemand, der etwas wahrnimmt, macht eine Wahrnehmung. Ist diese Wahrnehmung ein Ding? Wie groß oder schwer ist es? – Jemand, der einer anderen Person eine Frage beantwortet, gibt eine Antwort. Ist diese Antwort eine Entität? Kann man sie anfassen, streicheln, gar füttern? Freilich sind diese Fragen nicht ernst gemeint. Sie sollen jedoch für ein ernstes Problem sensibilisieren. Weiß Gott nicht
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alle Nomina, die unsere natürlichen Sprachen anbieten, referieren im handgreiflichen Sinn auf konkrete Dinge, die man sich vor Augen führen kann. Man tut sich in all diesen Fällen auch keinen Gefallen damit, ein Schüler Platons zu werden, d.h., abstrakte Entitäten zu fingieren, um an der gängigen Vorstellung von den referierenden Substativen festhalten zu können. Besser ist es wahrscheinlich zu sagen, dass alle diese Substative gar keinen referentiellen Gebrauch ermöglichen. Sie bringen auf eine irreführend hypostasierende Art und Weise – wie soll man sagen? – Tatbestände zur Sprache. Es geht um Leute, die sich verhalten: Dinge beobachten, Phänomene wahrnehmen, Fragen ihrer Mitmenschen beantworten. Jemand, der eine andere Person anweist, in einer bestimmten Situation etwas Bestimmtes zu tun, gibt eine Anweisung. Ist diese Anweisung eine Entität, ein Ding, nach dessen Natur sich fragen lässt? – Jemand, der eine andere Person anweist, in Situationen bestimmter Art Dinge bestimmter Art zu tun, stellt eine Regel auf. Und damit bin ich endlich an dem Punkt angelangt, auf den ich die Aufmerksamkeit lenken möchte. Auch das Konzept der Regel gaukelt uns eine bestimmte Art von Entitäten vor, wo es in Wahrheit keine Entitäten dieser Art gibt. Es gibt Menschen, die andere Menschen durch das Aussprechen von imperativisch oder anders formulierten Sätzen anweisen, irgendetwas zu tun oder zu lassen. Dass wir derlei Interaktionen, man kann auch sagen, Kommunikationen durch Substative wie ‚Anweisung‘ und ‚Regel‘ zur Sprache bringen können, darf uns nicht aus dem Blick verlieren lassen, was in der Realität vonstattengeht. In ontologischer Hinsicht ist die Welt viel übersichtlicher, als es die Sprache beim Wort genommen glauben lässt. Die Atome, wenn man so will, mit denen wir im gegebenen Kontext auszukommen haben, sind daher diese: Es gibt Sprecher, die durch das Aussprechen bestimmter Sätze andere Akteure anweisen, in bestimmten Situationen etwas Bestimmtes zu tun. Zuweilen weisen Menschen andere Menschen an, in Situationen bestimmter Art Dinge bestimmter Art zu tun. Die
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Adressaten dieser Sprechakte sollen dann den Sprechern zufolge gewisse Dinge tun. In dieses Bild darf man jetzt keine zusätzlichen Entitäten namens Anweisung oder Regel einfügen. Versucht man es doch, bringt man ontologisch alles durcheinander. Man muss vielmehr begreifen, dass Wörter wie ‚Anweisung‘ und ‚Regel‘ zusätzliche Möglichkeiten bereitstellen, über dieses Bild zu reden. Das Bild selbst ist längst komplett. Es ist recht einfach. 9 Behält man die drei Warnungen des zurückliegenden Abschnitts im Hinterkopf, kann man getrost wieder in den hypostasierenden Modus der normalen Sprache überwechseln. Substative wie ‚Anweisung‘, ‚Gebot‘ oder ‚Regel‘ sind harmlos, wenn man ihre ontologischen Sprengsätze entschärft hat. Behandeln wir also Regeln wieder wie Dinge und wenden uns der bereits gestreiften Frage nach der Struktur dieser Dinge zu. Zur Beantwortung dieser Frage sollte man sich im ersten Schritt an die Unterscheidung zwischen Regeln und Regelsätzen erinnern. Regelsätze haben, wie ansatzweise bereits im ersten Kapitel gesehen, keine einheitliche Struktur. Wir formulieren vielmehr die unterschiedlichsten Sätze und verwenden die verschiedensten Satzformen, wenn wir über Regeln sprechen oder Gebotsregeln aufstellen, ändern und abschaffen. Hier scheint keine Ordnung der Dinge möglich. Was im zweiten Schritt die Gebotsregeln selbst anbelangt, ergibt sich vor dem Hintergrund der Überlegungen des ersten und siebten Abschnitts dieses Kapitels das folgende Bild: Regeln dieses Typs sind generalisierte Anweisungen, insofern sich ihre Autoren auf einen Situationstyp beziehen und für den Fall des Eintretens einer Situation dieses Typs von den Adressaten eine Handlung (die auch eine Unterlassung sein kann) eines bestimmten Typs verlangen. Eine Regel ist eine doppelt generalisierte Anweisung, wenn ihr Autor darüber hinaus von Akteuren eines bestimmten Typs in Situationen eines bestimmten Typs Handlungen eines bestimmten Typs verlangt. Formal gesehen, enthält jede Regel also (mindestens) drei Typenbegriffe und
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(mindestens) zwei Allquantoren. Durch das Aufstellen einer Gebotsregel weist der Autor alle Akteure, die eine bestimmte Eigenschaft teilen, dazu an, in allen Situationen, die unter eine gemeinsame Beschreibung fallen, Handlungen des im Regelsatz genannten Typs auszuführen.12 Dabei kann es sich so treffen, dass nur ein einziger Akteur die relevante Eigenschaft aufweist und insofern der singuläre Adressat einer Regel ist. 13 Dann haben wir es mit einer einfach generalisierten Anweisung zu tun. Es kann jedoch nicht der Fall eintreten, dass sich die Situations- und die Handlungsklausel einer Regel nicht auf Typen, sondern auf eine Einzelsituation und auf eine Einzelhandlung beziehen. Denn in dem Fall hätten wir es nicht mit einer Regel, also nicht mit einer generalisierten, sondern lediglich mit einer singulären Anweisung zu tun.14 Im Prinzip kann jedes der drei Elemente der Regelstruktur aus beliebig vielen Disjunkten bestehen. Denn eine Regel kann an mehrere verschiedene Arten von Akteuren adressiert sein; kann für mehrere verschiedene Situationstypen einschlägig sein; kann die Adressaten vor die Wahl verschiedener Handlungsalternativen stellen. Komplikationen aller drei Arten sind auch beliebig miteinander kombinierbar. Insofern können Regeln technisch gesehen äußerst komplex sein. Da Regeln der relevanten Art jedoch Dinge sind, mit denen Akteure aus Fleisch und Blut gewisse Dinge tun, sind sie in der Praxis meist so schlicht gehalten, dass sie von ihren Adressaten auch gehandhabt werden können. Denn ein Autor, der seine Adressaten mit zu komplexen Gebotsregeln konfrontiert, läuft leicht Gefahr, sie zu überfordern und damit sein eigenes Anliegen zu konterkarieren. Ein Sprichwort sagt: „Keine Regel ohne Ausnahme.“ Wie wir gleich sehen werden, ist zwar auch dieses Sprichwort falsch. Aber dass manche Regeln Ausnahmen zu haben scheinen, kann man nicht ernsthaft bestreiten. Der Blick auf die soeben erläuterte Struktur von Regeln gibt zu erkennen, dass sich Ausnahmen zumeist auf die Akteurs- oder aber auf die Situationsklausel beziehen. Denn zuweilen wird eine spezifizierte Teilmenge
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der Adressaten von der Regel ausgenommen: „Alle Hausbewohner, außer Pensionäre über 65 Jahre, müssen sich an der wöchentlichen Reinigung des Treppenhauses beteiligen.“ In anderen Fällen werden Situationen benannt, in denen die Regel nicht zur Anwendung kommen soll: „Außer in extremen Notsituationen muss sich jeder Verkehrsteilnehmer an die Straßenverkehrsordnung halten.“ Die Existenz derartiger Ausnahmen von einer Regel sollte indes immer als Grund für die Vermutung erachtet werden, dass die betreffende Regel etwas genauer formuliert werden kann, dass also ein besser geeigneter Regelsatz zu finden ist.15 Denn oft ist es nur eine Frage der Formulierungskunst des Regelautors, die Adressaten- und die Situationsklausel sprachlich exakt so auf den Punkt zu bringen, dass genau diejenigen Adressaten und genau diejenigen Situationen zur Sprache kommen, für die die Regel intendiert ist und ausnahmslos gilt. „Alle Hausbewohner unter 65 müssen sich an der wöchentlichen Reinigung des Treppenhauses beteiligen“ und „Unter normalen Bedingungen müssen sich alle Verkehrsteilnehmer immer an die Straßenverkehrsordnung halten“ mögen diese Aussage belegen. Von den Schwierigkeiten, Regelsätze genau so zu formulieren, wie sie der Sache nach von ihren Autoren intendiert sind, wissen Juristen, Diplomaten und Politiker ein Lied zu singen. Die Spiegelung dieses Problems stellt im Übrigen die Aufgabe dar, ungenau formulierte Regelsätze im Einzelfall angemessen zu interpretieren. Den Beruf des Richters macht dieser Sachverhalt schwierig und anspruchsvoll. Es liegt aber keineswegs im Begriff der Regel begründet, dass Regelsätze oft ungenau formuliert sind und daher im Anwendungsfall interpretationsbedürftig sein können. Wer dies glaubt, hat sich über diesen Begriff zu wenig Gedanken gemacht. Man kann zu guter Letzt mit Blick auf Regeln auch von ihrer logischen Struktur sprechen. Vom logischen Standpunkt aus betrachtet, lassen sich Regeln zumeist durch Regelsätze wiedergeben, die die Form von Konditionalen haben.16 Bei der Dar-
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stellung von Regeln in der Form von Konditionalsätzen bieten sich zwei unterschiedliche Wege an. Denn man kann die Akteursklausel entweder als Teil des Antezedens oder aber als Bestandteil des Konsequens auffassen. Im ersten Fall besagt eine Regel, dass alle Akteure eines bestimmten Typs, wenn sie in Situationen eines bestimmten Typs geraten, eine Handlung eines bestimmten Typs ausführen sollen. Im zweiten Fall besagt die Regel, dass dann, wenn eine Situation bestimmten Typs eintritt, Akteure eines bestimmten Typs eine Handlung bestimmten Typs ausführen sollen. Soweit ich sehe, entspricht diesen alternativen Möglichkeiten der logischen Darstellungsform in sachlicher Hinsicht kein relevanter Unterschied. 17 Vermutlich haben wir es wieder nur mit unterschiedlichen Regelsätzen zu tun, die auf ein und dieselbe Regel verweisen. Daher werde ich auf diesen Unterschied im weiteren Verlauf meiner Überlegungen nicht wieder zurückkommen. Auf die Darstellbarkeit von Regeln in der Form konditional formulierter Regelsätze gehe ich jedoch am Ende des fünften Kapitels ausführlicher ein. Dort werden wir uns mit dem Unterschied zwischen kategorischen und hypothetischen Imperativen auseinandersetzen. 10 Die Charakterisierung von Gebotsregeln als Anweisungen legt noch eine weitere Interpretation der Regelstruktur frei. Diese Alternativinterpretation weicht von der dreigliedrigen Struktur ab, die wir uns im zurückliegenden Abschnitt vergegenwärtigt haben. Es lohnt sich, dieser Alternative nachzugehen, weil sie auf eine weitere Ambiguität des Regelbegriffs aufmerksam macht und damit hilft, den Blick zu schärfen. Gemäß dieser Interpretation der Struktur einer Regel besteht kein Unterschied zwischen den einfach und den doppelt generalisierten Anweisungen, da ihr zufolge die Akteursklausel, also die Benennung des Adressatenkreises, nicht als Bestandteil der Regel zu erachten ist. So interpretiert, spricht der Vater des Einzelkindes und der Vater der Zwillinge in beiden Fällen ein und dieselbe Anweisung aus, nämlich die, in Einzelsituationen
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einer bestimmten Art Einzelhandlungen einer bestimmten Art auszuführen. Der Unterschied besteht dieser Lesart zufolge nur darin, dass der Vater seine generalisierte Anweisung im einen Fall an einen einzigen und im anderen an zwei Adressaten richtet. Diesem Bild entsprechend, kann man auch sagen, dass der Vater in beiden Fällen ein und dieselbe Regel formuliert, die er mal für ein Kind und mal für zwei Kinder aufstellt. Ja, wir können uns angesichts dieser Interpretation der Regelstruktur sogar vorstellen, dass er die Regel zuerst nur für eines der beiden Kinder formuliert und zu einem späteren Zeitpunkt zum anderen sagt: „Für dich gilt ab jetzt dieselbe Regel auch!“ Hier ist wörtlich nur eine einzige Regel im Spiel. Es ändert sich jedoch der Kreis der Adressaten dieser Regel. Nach diesem Muster kann man präskriptive Regeln jedes Typs immer so formulieren, dass die Akteursklausel gewissermaßen vor die Klammer gezogen wird: Für alle Torhüter beim Fußball gilt die Regel, dass sie den Ball außerhalb ihres Strafraums nicht mit der Hand spielen dürfen. Für die Bundeskanzlerin gilt die Regel, dass sie unter bestimmten Voraussetzungen den Parlamentariern die Vertrauensfrage stellen darf. Und für alle Menschen gilt die Regel, dass sie andere Leute nicht ohne guten Grund belügen sollen. Man kann sich den Unterschied zwischen den beiden Interpretationen noch einmal am folgenden simplen Beispiel zweier singulärer Anweisungen vor Augen führen. Gemäß der ersten Interpretation würde man sagen: „Er gab die Anweisung, dass alle, die im Raum sind, den Raum sofort verlassen sollen.“ Gemäß der zweiten Interpretation würde man hingegen formulieren: „Er gab allen, die im Raum waren, die Anweisung, den Raum sofort zu verlassen.“ Regeln, wie sie sich nach dem Muster der ersten Anweisung bilden lassen, haben neben der Handlungs- und der Situationsklausel zusätzlich eine Akteursklausel. Die Akteursklausel liegt, alternativ formuliert, innerhalb des Skopus der Regel. – Regeln, die nach dem zweiten Modell konstruiert sind, enthalten selbst keine Akteursklausel. Die Frage, für wen eine Regel gilt, ist in diesem Fall gesondert
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zu beantworten, indem man unabhängig vom Inhalt der Anweisung klärt, an wen der Autor seine Regel adressiert hat. Die Gegenüberstellung der beiden Anweisungsstrukturen lässt meines Erachtens zu Recht daran zweifeln, dass eine der beiden Interpretationen die einzig korrekte und die andere falsch ist. Wir haben es hier vielmehr mit zwei gleichwertigen Alternativen der Strukturierung von Anweisungen und Regeln zu tun. Daher sprach ich zu Beginn dieses Abschnitts von einer weiteren Ambiguität des Regelbegriffs. Gleichwohl kann man sich fragen, ob es irgendwelche Gründe dafür gibt, die eine Interpretation der anderen vorzuziehen. Und ich denke, die Überlegungen in den beiden nachfolgenden Abschnitten werden unter anderem auch zwei Gründe zutage befördern, die für die erste Lesart sprechen. Vollständige Regelsätze, so werden wir dann sagen können, bringen anders als elliptische Regelätze neben der Situations- und der Handlungsklausel immer auch eine Akteursklausel zur Sprache. 11 Die erste der eben angekündigten Überlegungen setzt erneut am Vergleich zwischen singulären Anweisungen und Gebotsregeln an und bringt zugleich einen Unterschied zwischen dem Aufstellen (Ändern, Außerkraftsetzen) und den meisten anderen paradigmatischen Formen des Umgangs mit Gebotsregeln zum Vorschein. Wie das Aussprechen singulärer Anweisungen kann man auch das Aufstellen, Ändern und Außerkraftsetzen von Regeln als illokutionäre Sprechakte auffassen.18 In der Tat habe ich mir diesen Umstand schon in den ersten Abschnitten dieses Kapitels zunutze gemacht, als es um den Unterschied zwischen dem Akt des (erfolgreichen oder erfolglosen) Anweisens und der (gegebenenfalls) resultierenden Anweisung ging. Der Vater sagt: „Seid heute pünktlich zum Abendessen da!“ Und indem er diesen Satz äußert (und bei seinen Adressaten auf Akzeptanz stößt), gibt er (erfolgreich) eine Anweisung. Er weist – ontologisch entschärft formuliert – die Kinder an, pünktlich zum Essen zu erscheinen. Entsprechend können wir die Sachlage im Fall einer Gebotsregel deuten. Der Vater sagt:
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„Kinder, seid ab jetzt bitte immer pünktlich daheim!“ Indem er diesen Satz äußert, stellt er eine Regel auf. Entschärft: Er weist die Kinder an, sich in Situationen der betreffenden Art immer auf die genannte Art zu verhalten.19 Die folgende Überlegung macht deutlich, inwiefern der sprechakttheoretische Ausgangspunkt zu einer Klärung des Verhältnisses zwischen vollständigen und elliptischen Regelsätzen beiträgt. Es ist nicht zwingend, aber durchaus üblich, singuläre und generalisierte Anweisungen zu geben, indem man Imperative, also imperativisch konstruierte Sätze formuliert. Dabei sollte man sich vor Augen führen, dass das, was in der Tradition von Kant häufig als Imperativ bezeichnet wird, in unserem Bild der Anweisung entspricht, keineswegs aber dem imperativischen Satz, durch den der Autor die Anweisung formuliert. Kant hat bekanntlich zwischen Anweisungsakten und Anweisungen nicht unterschieden. Daher hat er dem Ausdruck ‚Imperativ‘ eine irreführende Verwendung gegeben, die sich unter vielen seiner Nachfolgern unglücklicherweise etablieren konnte. Der Satz, der besagt, dass man vor diesem Haus nicht parken soll, ist jedenfalls kein Imperativ. Es handelt sich vielmehr um eine zutreffende Behauptung, falls es jemanden gibt, der durch die Äußerung eines Satzes im Imperativ (oder auf andere Weise) eine entsprechende Anweisung gegeben hat. Diesen Zusammenhang werden wir im achten Kapitel genauer in den Blick nehmen. Der Umstand, dass man zumeist (oder doch zumindest häufig) Imperative verwendet, um Anweisungen zu geben oder Gebotsregeln aufzustellen, hilft uns jedenfalls zu verstehen, wodurch es zu den beiden Möglichkeiten kommt, die Struktur von Anweisungen und Regeln zu deuten, die im zurückliegenden Abschnitt unterschieden wurden. Die beiden Regelinterpretationen reflektieren nämlich zwei sprachliche Möglichkeiten, unter Verwendung eines Imperativs Anweisungen zu geben (bzw. Regeln aufzustellen). Einen Imperativ spricht man unter normalen lebensweltlichen Umständen fast immer in solchen Situationen aus, in denen die damit angesprochene Person un-
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mittelbar zugegen ist und weiß, dass sie der Adressat ist.20 In solchen Situationen ist es also ohnehin klar, an wen sich der Autor mit seinem imperativisch formulierten Anweisungssatz wendet. Daher muss der Bezug auf den Adressaten nicht unbedingt in der Formulierung des Imperativs eigens zur Sprache gebracht werden. Der Vater müsste folglich nicht sagen: „Kinder, seid ab jetzt pünktlich!“ Denn unter normalen Umständen reicht es aus, wenn er sich seinen Kindern zuwendet und sagt: „Seid ab jetzt pünktlich!“ Und dass beide Versionen, den imperativischen Anweisungssatz zu formulieren, die Existenz ein und derselben Regel zur Folge haben, liegt auf der Hand. Natürlich gibt in solchen Anweisungssituationen oft schon die Form der involvierten Verben grammatisch kodierte Hinweise darauf, an wen der betreffende Imperativ adressiert ist. Und es ist, wie gesehen, auch nicht unüblich, den sprachlichen Bezug auf die Adressaten in die Formulierung des Imperativs ausdrücklich aufzunehmen. Zuweilen ist dies ebenfalls aus situationalen Gründen sogar erforderlich. Ein Lehrer, der vor seiner Schulklasse steht, könnte etwa sagen: „Peter, Paul und Maria, kommt nach der Stunde bitte kurz zu mir!“ Unter diesen Umständen ist der explizite Bezug auf die Adressaten erforderlich, weil sonst unklar bliebe, welche Personen in der Menge der Zuhörer die Adressaten des Imperativs sind. Zuweilen ist also eine sprachliche Bezugnahme auf die Adressaten aus kontextuell-pragmatischen Gründen redundant. Falsch ist sie nie. Und zuweilen ist sie erforderlich. Daher liegt es nahe, Imperative, die einen solchen Bezug aufweisen, zum Standard zu erklären.21 Aus analogen Gründen liegt es ebenfalls nahe, im Fall der Regelsätze solche mit expliziten Akteursklauseln als Standard zu behandeln und, wie erläutert, zwischen vollständigen und elliptischen Regelsätzen zu unterscheiden. Regeln stellen dieser Auffassung zufolge nicht nur einen Zusammenhang zwischen Situations- und Handlungstypen her. Vollständige Regelsätze sind vielmehr dreistellige „Entitäten“, die neben den beiden genannten Typen auch einen Akteurstyp involvieren.
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12 Damit komme ich zur zweiten Überlegung, die zu einem weiteren Grund dafür führt, Regelsätze mit Akteursklauseln zum Standard zu erklären und Regelsätze, die keine derartige Klausel enthalten, als Ellipsen zu behandeln. Anders als in der Lesart, in der die Nennung der Adressaten der Regel gleichsam vor der Klammer steht, gerät durch die Standardlesart eine Eigentümlichkeit von Regeln in den Blick, die durch ihre bisherige Charakterisierung als doppelt generalisierte Anweisungen nur unzureichend ans Licht kommt. Insofern sich ein Regelautor durch den Allquantor in der Akteursklausel seines Regelsatzes an alle Akteure richten kann, die die betreffende Eigenschaft aufweisen, kann er seine generalisierten Anweisungen auch an solche Akteure adressieren, die nicht unmittelbar in einem geteilten Kommunikationskontext mit ihm stehen. Ja, der Autor muss die Adressaten, für die er die Regel aufstellt, und ihre Anzahl nicht einmal kennen.22 In Anbetracht dieser Feststellung wird deutlich, inwiefern doppelt generalisierte Anweisungen häufig ein anonymisierendes Moment aufweisen, das im Fall einer singulären Anweisung nicht ohne Weiteres denkbar ist. Durch dieses Moment können beispielsweise die Mitglieder des Bundestags in Berlin Regeln für Adressaten aufstellen, die ihnen zum allergrößten Teil selbst nicht bekannt, geschweige denn im Moment der Regelsetzung zugegen sind. Die betreffenden Anweisungen können einfach pauschal an alle Menschen adressiert werden, die die Eigenschaft teilen, sich im Rechtsraum der Bundesrepublik zu bewegen. Dieser Umstand geht eindeutig aus der Akteursklausel der betreffenden Regel hervor, die wir mittlerweile als integralen Bestandteil der Regel erachten. Für den Entwickler eines Spiels gilt im Prinzip genau dasselbe. Seine generalisierten Anweisungen richten sich an alle Akteure, die die Eigenschaft teilen (oder irgendwann teilen werden), an dem von ihm konzipierten Spiel teilnehmen zu wollen. Auch in dem Fall sind die Adressaten der Regel dem Autor nicht vertraut. Ihre genaue Anzahl muss ihn ebenfalls in keiner Weise interessieren. Und zu keinem Moment der Inter-
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aktion ist es zwingend erforderlich, dass der Autor und seine Adressaten unmittelbar einen Kommunikationskontext teilen. – Kennen wir aus der literarischen Tradition das Phänomen des anonymen Autors, haben wir es im Fall von Regeln also oft mit dem Phänomen der anonymen Adressaten zu tun.23 Und diese Anonymität ist besser begreiflich, wenn wir uns Regeln nach der dreigliedrigen Struktur denken, in der die Angabe des Adressatenkreises selbst ein Bestandteil des vollständigen Regelsatzes ist. – Dies ist also der zweite Grund dafür, die dreigliedrige Regelstruktur zum Standard zu erklären und zweigliedrige Regelfragmente als Ellipsen zu behandeln. Ich möchte an diese Begründung für die Standardisierung eine davon unabhängige Betrachtung anschließen. Es ist lehrreich, sich vor Augen zu führen, dass Regelautoren, die nicht nur generalisierte, sondern doppelt generalisierte Anweisungen an einen anonymen Adressatenkreis richten, häufig in einer Lage sind, in der sie von der Grammatik unserer natürlichen Sprache im Stich gelassen werden. Wir stoßen hier erneut auf ein Loch in der Sprache. Imperative (in der zweiten Person Singular oder Plural) sind ähnlich wie etwa auch Fragesätze ein adäquates Mittel dafür, Adressaten anzusprechen, die mit dem Sprecher einen kommunikativen Kontext teilen. Hier ist der Adressat nicht nur Adressat, sondern zugleich auch Hörer des Sprechers, also des Autors der Regel. Für die Fälle, die wir uns soeben unter dem Stichwort anonyme Adressaten vergegenwärtigt haben, steht indes keine eigens dafür gewachsene Sprachform zur Verfügung. Zur Veranschaulichung dieses Mangels kann man sich zwar vorstellen, dass die Parlamentarier in Berlin einen Imperativ äußern, der an alle Menschen adressiert ist, die sich im Rechtsraum der BRD bewegen: „Damen und Herren, die Sie sich im Rechtsraum dieses Staates bewegen, führen Sie bitte in Situationen vom Typ S Handlungen vom Typ H aus!“ Würden die Berliner aber tatsächlich auf diesem Weg ihre Gesetze (mündlich oder schriftlich) verkünden, käme uns das allen aus gutem Grund stilistisch ziemlich schräg vor. Imperativisch formulierte Sätze sind dazu da, Leute anzusprechen, die
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den Sprecher mehr oder weniger unmittelbar vernehmen können. Die meisten von uns können die Parlamentarier zu Berlin jedoch nicht unmittelbar vernehmen. Und dies erklärt nicht zuletzt, warum die Mitglieder des Bundestags auch gar nicht erst so tun, als sei dies der Fall. Leisten wir uns angesichts dieser Beobachtung kurz den Luxus, eine spekulativ-genealogische Perspektive einzunehmen. Man kann sich unschwer vorstellen, dass Anweisungen und Gebotsregeln ursprünglich in der frühen Phase der Menschheitsgeschichte ausschließlich unter Verwendung von imperativischen Sätzen unter Bedingungen unmittelbarer face-to-faceKommunikation formuliert wurden. So haben unsere Ahnen die Interaktionsform von Befehl und Gehorsam etabliert und damit soziale Handlungsräume eröffnet, durch die wir später aus dem Tierreich herauskatapultiert wurden. – In Anbetracht dieser Vorstellung wird es fast schon als eine eigentümliche Kulturleistung erkennbar, dass die Menschen sprachliche Mittel und Wege ersonnen haben, Gebotsregeln auch dann noch aufzustellen, als eine Verwendung imperativischer Sätze aufgrund zunehmend anonymisierter, weil immer komplexerer Sozialstrukturen nicht länger angemessen war. Irgendwie musste man Anweisungen an viele und vor allem entfernt lebende Personen adressieren, lange bevor Rundfunk, Fernsehen oder Internet zur Verfügung standen. Eines dieser Mittel verdient es, besonders hervorgehoben zu werden. Es besteht darin, einen assertorischen Satz, der streng genommen dazu dient, die Regel wiederzugeben, der zufolge bestimmte Personen bestimmte Dinge tun sollen, auch in solchen Momenten zu verwenden, in denen es darum geht, die betreffende Regel allererst aufzustellen. Statt im imperativischen Modus zu sagen: „Untertanen meines Reichs, zahlt mir jährlich drei Zehntel eures Einkommens als Tribut!“, schreibt der König ins Gesetzbuch: „Alle Untertanen sollen jährlich drei Zehntel ihres Einkommens an die Krone überweisen.“ Indem er diesen Behauptungssatz verwendet, stellt er die betreffende Regel auf, deren Existenz und Geltung auch in diesem Fall die
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Folge seines erfolgreichen Aktes ist. Wenn man so will, stellt in solchen Fällen die vermeintliche Behauptung, dass die und die Leute dies oder jenes tun sollen, in Wahrheit gar keine Behauptung dar, sondern dient als sprachliches Mittel dazu, die betreffende Regel ins Leben zu rufen. Oder noch einmal anders gesagt: In Fällen dieser Art dienen Behauptungssätze weniger dazu, über generalisierte Anweisungen zu informieren, die bereits in der Vergangenheit in Kraft gesetzt wurden. Sie dienen vielmehr just dazu, die betreffenden Regeln aufzustellen. Die Behauptungssätze fungieren dann als Ersatzimperative, wie man auch sagen könnte.24 Dieser Umstand, dass man Anweisungen auch geben kann, ohne den Anweisungssatz imperativisch zu formulieren, führte viele Autoren zu der Ansicht, es sei für Behauptungs- bzw. Aussagesätze, die besagen, wer wann was tun soll, charakteristisch, dass sie auf zweierlei Weise verwendet werden können.25 Sie dienen nicht nur dazu, über bestehende Anweisungen zu informieren. Sie dienen auch dazu, Anweisungen zu geben. Diese Ansicht erweist sich vor dem Hintergrund der zurückliegenden Überlegung zwar als ein Stück weit berechtigt. Denn zuweilen verwendet man tatsächlich einen Aussagesatz des erläuterten Inhalts im Akt des Anweisens. Die Königin spricht: „Meine Untertanen sollen täglich dreimal beten.“ Und indem sie diesen vermeintlichen Behauptungssatz ausspricht, stellt sie nicht nur eine Gebotsregel auf, sondern macht zugleich auch den Satz wahr, dem gemäß die Untertanen dreimal täglich beten sollen. Aber dass sich die Königin dieses Aussagesatzes bedient, ist reiner Zufall. Sie hätte – abgesehen von einem Imperativ – eine Unmenge anderer Sätze und Satzformen verwenden können. So hätte sie beispielsweise sagen können: „Meine Untertanen werden ab heute dreimal täglich beten.“ Auch in diesem Kontext lohnt es sich, die sprechakttheoretische Perspektive einzunehmen, um semantische und pragmatische Sachverhalte klar zu trennen. Denn wichtig ist weniger, wie die verwendeten Sätze grammatikalisch gestrickt bzw. semantisch strukturiert sind. Wichtig ist vielmehr, was wer mit
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irgendwelchen Sätzen tut. „Ich will, dass alle Untertanen dreimal täglich beten“ ist ein Satz, den zumindest ein König verwenden kann, um eine Gebotsregel aufzustellen. Was also angeblich für die betreffenden Aussagesätze charakteristisch ist, ist gar keine Eigentümlichkeit dieser Art von Sätzen. Denn mit allen möglichen Sätzen können verschiedene Leute unter verschiedenen Voraussetzungen die verschiedensten Dinge tun. Auch Regeln kann man daher unter der Verwendung einer Vielzahl unterschiedlicher Satzarten aufstellen. Es gibt, noch einmal anders formuliert, keine strengen Sprachregeln für das Aufstellen von Gebotsregeln. 13 Zum Abschluss des Kapitels möchte ich noch einmal zu dem Problem zurückkehren, mit dem wir uns bereits im zweiten Abschnitt beschäftigt haben. Dieses Problem zeigte sich darin, dass die Charakterisierung von Gebotsregeln als Anweisungen zwei Interpretationen erlaubt. Unser Gespür für Regeln sollte mittlerweile geschult genug sein, um die Untiefen, die sich an diesem Punkt auftun, jetzt mit mehr Sicherheit zu durchschiffen. Machen wir uns zu Beginn der Überlegung klar, dass wir in vielen Zusammenhängen dazu neigen, die Sätze, die ein Akteur äußert, wenn er eine Anweisung gibt, eine Frage stellt, eine Vermutung äußert, eine Behauptung aufstellt usw. selbst als Anweisungen, Fragen, Vermutungen, Behauptungen usw. zu bezeichnen. Der Satz „Wie spät ist es?“ gilt dann als Frage. Der Satz „Vielleicht ist sie im Urlaub“ gilt als Vermutung. Der Satz „Die Katze liegt auf der Matte“ gilt als Behauptung. Und diese Reihe fortsetzend kann man den imperativisch formulierten Satz „Seid abends pünktlich!“ oder den Aussagesatz „Sie sollen abends pünktlich sein“ als Regel bezeichnen. In einer anderen und vor allem grundlegenderen Bedeutung sind nicht Sätze (oder die Äußerungen von Sätzen) Anweisungen, Fragen, Behauptungen usw. Vielmehr ist der jeweilige Satzinhalt die Behauptung, Frage oder Anweisung. Die Behauptung ist also das, was man behauptet, wenn man einen
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Behauptungssatz äußert. Die Frage ist das, was man fragt, indem man einen Fragesatz äußert. Und die Anweisung ist folglich das, was man anweist, indem man einen Imperativ äußert. In einem Sinn des Wortes ist also der Imperativ „Seid abends immer pünktlich!“ die Anweisung. Im anderen und zugleich grundlegenderen Sinn des Wortes ist der Inhalt dieses imperativischen Satzes die Anweisung. Dass die Kinder abends immer pünktlich sein sollen, ist demnach die Anweisung.26 Und Anweisungen in diesem Sinn des Wortes hatte ich im Sinn, als ich Regeln zu Beginn des Kapitels als generalisierte Anweisungen charakterisiert habe. Das knifflige Problem in diesem Zusammenhang geht nun aus dem Umstand hervor, dass die Rede vom Inhalt eines Imperativs ihrerseits ambig ist. Denn unter diesem Inhalt kann man einerseits die Tatsache verstehen, dass die Kinder abends immer pünktlich sein sollen. Andererseits lädt die Rede von einem Inhalt in solchen sprachphilosophischen Kontexten, in denen wir uns gerade bewegen, dazu ein, an den Inhalt des Satzes zu denken: „Die Kinder sollen abends immer pünktlich sein.“ In dem Fall tritt ein zweiter Satzinhalt ins Spiel, nämlich der des soeben formulierten Aussagesatzes. Und anders als im ersten Fall haben wir es hier eindeutig mit einer Satzbedeutung im Sinne einer abstrakten Proposition zu tun. Und damit stehen wir erneut vor den beiden Möglichkeiten, die Charakterisierung von Regeln als Anweisungen zu interpretieren. Gemäß der ersten Interpretation ist eine Regel der Inhalt eines imperativisch formulierten Anweisungssatzes, wobei dieser Inhalt seinerseits mit einer Tatsache identifiziert wird. Die Tatsache, dass die Kinder abends pünktlich zu Hause sein sollen, ist folglich die Regel. – Gemäß der zweiten Lesart ist eine Regel ebenfalls der Inhalt eines Imperativs, wobei dieser Inhalt in diesem Fall mit dem propositionalen Inhalt einer Aussage über das Bestehen der betreffenden Tatsache identifiziert wird. Die Proposition, dass die Kinder abends pünktlich zu Hause sein sollen, stellt sich so gesehen als die Regel dar.27
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Wie ich eingangs schon gesagt habe, scheint es keine zwingende Antwort auf die Frage zu geben, welche der beiden Interpretationen den Vorzug verdient. Denn man verwendet den Ausdruck ‚Regel‘ in wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Kontexten inkonsistent – mal für Tatsachen der Art, dass bestimmte Adressaten in bestimmten Situationen bestimmte Dinge tun sollen; mal für die Propositionen, die die betreffenden Regelsätze zum Inhalt haben. Wenn dem so ist, hätten wir zumindest eine gute Erklärung für den bereits herausgestellten Umstand gefunden, dass unterschiedliche Versuche, den Begriff der Regel zu analysieren, zu so auffällig verschiedenen Lösungen gelangen. Denn abhängig davon, auf welche sprachliche Intuition gestützt ein Theoretiker seine Arbeit beginnt, kommt er zu verschiedenen Auffassungen von der ontologischen Natur einer Regel. Regeln sind im einen Fall etwas Innerweltliches, wenn man so will, nämlich bestimmte Tatsachen. Regeln sind im anderen Fall etwas sehr Abstraktes, das insofern schwer zu greifen ist, nämlich Satzbedeutungen bzw. Propositionen bestimmter Struktur. Ich glaube, wie gesagt, nicht, dass man zwischen diesen beiden Sichtweisen die eine korrekte Entscheidung herbeiführen kann. Beide Positionen haben je eigene Vorzüge und Nachteile, die im Laufe der weiteren Abhandlung noch zutage treten werden. Wichtig ist im Moment zum einen, sich über die Ambiguität bzw. ontologische Janusköpfigkeit des Regelkonzepts im Klaren zu sein. Zum anderen sollte man sich für einen konsistenten Sprachgebrauch entscheiden und nicht glauben, man könnte beide Wege zugleich einschlagen. Ein solcher Spagat ist nicht möglich. – Ich habe mich an früherer Stelle dieses Kapitels bereits für den ersten Weg entschieden. Gebotsregeln sind nicht die propositionalen Bedeutungen von Regelsätzen, sondern bestehende Tatsachen derart, dass bestimmte Leute in bestimmten Situationen auf bestimmte Weise handeln sollen. Um diese Sicht transparent zu halten, möchte ich im Weiteren zwischen den Regeln und ihren propositionalen Regelinhalten unterscheiden. Schlägt man diesen Weg ein, darf
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man die propositionalen Regelinhalte jedoch nicht mit den Regeln gleichsetzen. Sätze, die Gebotsregeln (und auch die übrigen präskriptiven Regeln) zur Sprache bringen, haben also, technisch ausgedrückt, (doppelt) generalisierte Propositionen zum Inhalt. Und an diesem Punkt unserer Überlegungen angelangt, wird erkennbar, inwiefern die präskriptiven Regeln wieder eine enge Parallele mit den deskriptiven Regeln bilden. Denn auch Regeln dieser Art bringt man durch assertorische Sätze zur Sprache, die sich durch eine spezifische, nämlich generalisierende Struktur ihrer propositionalen Inhalte bestimmen lassen: Alle Entitäten bestimmter Art weisen unter Bedingungen bestimmter Art immer Eigentümlichkeiten bestimmter Art auf. Auch hier ist offenkundig eine doppelte Generalisierung zu konstatieren.28 Anders als deskriptive Regelsätze, durch die man im illokutionären Modus des Behauptens zum Ausdruck bringt, was in bestimmten Situationen regelmäßig der Fall ist, gehen präskriptive Regelsätze jedoch mit generellen Propositionen etwas anderer Art einher. Denn durch einen Akt des Anweisens legt der Sprecher, wie wir mittlerweile wissen, fest, wer in welcher Art von Situation welche Art des Verhaltens an den Tag legen soll. In der Tradition des philosophischen Denkens wurden aus diesem Unterschied der beiden Arten von Propositionen dualistische Weltbilder in großer Stückzahl produziert. Wie wir jedoch vornehmlich im achten Kapitel sehen werden, beruhte der gesamte Produktionsprozess auf einem Missverständnis. Es liegt kein Dualismus vor. Denn Soll-Propositionen sind in Wahrheit eine Teilmenge der Ist-Propositionen. Die Tatsache, dass jemand etwas tun soll, ist, schlichter gesagt, eine schlichte Tatsache. *** Für die argumentative Gesamtstruktur dieser Abhandlung war dies ein zentrales Kapitel. Mit Blick auf einen bestimmten Re-
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geltypus, dem der Gebotsregeln, haben wir gesehen, dass er sich voll und ganz dem Verständnis erschließt, wenn man die betreffenden Regeln unter den Begriff der Anweisung subsumiert, zwischen der erfolgs- und der versuchstheoretischen Bedeutung der betreffenden Vokabeln unterscheidet und sich das Anweisen als möglichst konkretes Verhältnis zwischen Autor und Adressat vor Augen führt. Regeln dieses Typs, das war der springende Punkt noch einmal anders formuliert, sind nicht Dinge, die es neben den Anweisungen eines Autors zusätzlich gibt. Der Adressat erhält nicht die Anweisung, sich an diese oder jene Regel zu halten. Manche Anweisungen sind vielmehr Regeln (bestimmten Typs). – Nehmen wir uns im nächsten Kapitel die Frage vor, inwieweit das gewonnene Verständnis hilft, die Natur der übrigen Arten und Typen von Regeln begreiflich zu machen.
IV Regeln Nachdem wir im ersten Kapitel präskriptive Regeln von anderen Regalarten unterschieden und uns im zweiten Kapitel eine Reihe paradigmatischer Formen des Umgangs mit Regeln vergegenwärtigt haben, wurden Gebots- und Verbotsregeln im zurückliegenden Kapitel als generalisierte Anweisungen charakterisiert, deren Existenz aus dem erfolgreichen Anweisungsakt eines Autors resultiert. Diese Charakterisierung wurde anhand des zweiten der sechs Paradigmen vorgenommen, also anhand des Falls, in dem ein Regelautor mit Blick auf einen (mehr oder weniger umfassenden) Kreis von Adressaten eine Regel aufstellt, gegebenenfalls ändert oder außer Kraft setzt. Durch das (erfolgreiche) Aufstellen einer Gebotsregel weist der Autor seine Adressaten an, in Situationen einer bestimmten Art Handlungen einer bestimmten Art auszuführen. Ausgehend von diesem Verständnis einer Gebotsregel soll es in den ersten fünf Abschnitten dieses Kapitels zuerst um die Frage gehen, wie gut die Charakterisierung von Gebotsregeln als (eventuell doppelt) generalisierten Anweisungen auch im Fall der anderen Paradigmen des Regelumgangs passt. Sie passt ausgezeichnet, wie sich zeigen wird. Im Anschluss daran werden wir das entfaltete Bild von einer Gebotsregel als Anweisung wiederum als Paradigma behandeln und uns der Frage zuwenden, wie sich die übrigen Typen von Regeln im Licht dieses Paradigmas darstellen. Inwiefern sind auch Regeln, die Befugnisse thematisieren, als generalisierte Anweisungen zu begreifen? Und wie stellen sich Vorkehrungs-, Verfahrens-, und Strafregeln sowie die allgemeinen Empfehlungen und Faustregeln angesichts des Paradigmas der Gebotsregeln dar? Die Antworten auf diese Fragen sollen nicht
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zuletzt deutlich machen, inwiefern sich die verschiedenen Regelarten vor allem in ontologischer Hinsicht stark voneinander unterscheiden. Wir haben es mit ganz disparaten Arten von Dingen zu tun. Freilich gibt es auch Gemeinsamkeiten. Sonst gäbe es nicht den einen Begriff der Regel. Aber aus Gründen, die nach und nach deutlich werden, ist es wichtig, die ontologische Verschiedenartigkeit präskriptiver, konsultativer und deskriptiver Regeln zu erkennen. Nur dies kann helfen, Verwechslungen mit schlimmen Folgen zu vermeiden. 1 Schauen wir uns also zuerst die im zweiten Kapitel erläuterten Formen des Umgangs noch einmal mit Blick auf das Verhältnis zwischen singulären Anweisungen und Gebotsregeln an. – Es liegt auf der Hand, dass über den kommunikativen Umgang mit Regeln im jetzt gegebenen Zusammenhang nicht viel zu klären ist. Man kann über nahezu alles reden, nachdenken, streiten, diskutieren usw. Man kann daher auch über Regeln und Anweisungen reden, nachdenken usw. Dieser Punkt trifft unabhängig davon zu, ob es angemessen ist, Gebotsregeln als generalisierte Anweisungen zu charakterisieren. Insofern verhält sich also das erste Paradigma gegenüber unserer Auffassung von den Gebotsregeln neutral. Darüber hinaus ist zu vermuten, dass sich dieses Paradigma gegenüber allen vertretbaren Bestimmungen des Regelbegriffs neutral verhält. Auf diesem Terrain ist daher für niemanden ein Punkt zu holen. Bevor wir uns von diesem Paradigma wieder abwenden, mag es sich jedoch lohnen, noch einmal darauf hinzuweisen, dass aus der Perspektive des kommunikativen Regelumgangs Fragen in den Blick geraten, die leicht übersehen werden, wenn man sich der Thematik aus einer anderen Richtung annähert. Menschen können nicht nur über bestehende, also existierende und damit geltende Anweisungen kommunizieren und sich etwa fragen, ob es gute Gründe dafür gibt, diese zu ändern, zu ignorieren oder außer Kraft zu setzen. Sie können sich auch fragen, ob noch nicht bestehende, etwa angedachte, vorgeschlagene und insofern potentielle Anweisungen in Kraft und damit
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in Geltung gesetzt werden sollten. Und dasselbe gilt, wie gesehen, auch für die Gebotsregeln. Nicht alle Regeln, über die Menschen sprechen und debattieren, sind im strengen Sinn des Wortes existierende und damit geltende Regeln. Und nur geltende Gebotsregeln, also akzeptierte generalisierte Anweisungen eines leibhaftigen Autors sind präskriptive Regeln, die existieren. Nicht alles, worüber man sprechen kann, existiert in einer gehaltvollen Bedeutung des Ausdrucks. 2 Da sich der kommunikative Regelumgang gegenüber unserem Vorschlag neutral verhält, wenden wir uns sofort den übrigen Paradigmen zu und beginnen der etablierten Reihenfolge gemäß mit dem Akzeptieren von Regeln. Man kann einer singulären Anweisung nicht nur Folge leisten oder nicht. Vielmehr kann man sich auch fragen, ob man eine solche Anweisung als Anweisung akzeptieren will oder nicht. Spräche mich beispielsweise eine mir fremde Person auf der Straße im unfreundlichen Ton mit den Worten an: „Sagen Sie mir doch mal, wie spät es ist!“, dann könnte ich sie aus dem Grund ignorieren, dass diese Person ihr Anliegen nicht als Bitte, sondern als Anweisung formuliert. Das ist frech! Ich räume diesem Menschen schlicht nicht ein, in dieser Form mit mir zu reden. Daher akzeptiere ich seine Worte nicht als eine an mich ergangene Anweisung.1 In der Erfolgsbedeutung des betreffenden Vokabulars heißt dies, dass aus dem versuchten Anweisungsakt jener Person keine geltende Anweisung hervorgeht. Nur in der Versuchsbedeutung, die wir im zurückliegenden Kapitel jedoch hintangestellt haben, könnte man sagen, dass auch im Fall eines gescheiterten Anweisungsversuchs eine Anweisung besteht bzw. existiert. In dem Fall ist nur die Absicht des Sprechers relevant, nicht die Reaktion des Adressaten der Anweisung. All diese Zusammenhänge sind vollkommen analog auch mit Blick auf den generalisierten Fall zu beobachten. Der flügge gewordene Sohn kann sich nicht nur fragen, ob er am heutigen Tag der generalisierten Anweisung der Eltern, täglich pünktlich zu Hause zu sein, nachkommen will oder nicht. Er kann sich
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ebenfalls fragen, ob er die Regel der Eltern als generalisierte Anweisung (noch) akzeptiert. Ganz allgemein könnte er sich sogar weigern, sich fürderhin als Adressat der elterlichen Weisungen zu begreifen und sich als solcher behandeln zu lassen. Jeder Versuch der Eltern, ihm eine Anweisung singulärer oder generalisierter Form zu geben, ist dann zum Scheitern verurteilt. In dem Fall findet im familiären Rahmen im kleinen Maßstab statt, was im Großformat eine politische Revolution ist. Sprechen die Adressaten dem Autor die Befugnis ab, ihnen Anweisungen zu geben, oder kommen aus anderen Gründen zu der Entscheidung, sich vom vormals etablierten Autor keine Regeln mehr bieten zu lassen, bricht ihr politisches System zusammen. Oft bricht dann auch das Chaos aus. Gebotsregeln scheinen sich jedenfalls auch mit Blick auf dieses Paradigma zwanglos als generalisierte Anweisungen charakterisieren zu lassen. Denn alles, was in diesem Kontext für diesen Typ von Regeln gilt, gilt auch für generalisierte Anweisungen. Und umgekehrt scheint man alles, was für solche Anweisungen gilt, ebenfalls zutreffenderweise über Gebotsregeln aussagen zu können. Freilich sollten wir auch im gegenwärtigen Zusammenhang die unbedenklichen Fälle von denjenigen unterscheiden, in denen die Rede von einer Akzeptanz durch die Adressaten euphemistisch klingt. Wenn mir mein Vorgesetzter sagt: „Seien Sie bitte täglich ab neun im Büro erreichbar!“ und durch diesen Imperativ die entsprechende Gebotsregel aufzustellen versucht, dann kann ich mich unter normalen Umständen fragen, ob ich diese generalisierte Anweisung als Regel akzeptieren will oder nicht. Ich könnte durchaus Gründe dafür sehen, diese Regel nicht zu akzeptieren. Vielleicht wäre meine Arbeitskraft besser investiert, wenn ich meine Arbeitszeit flexibler gestalten könnte. Vielleicht würde sich auch meine Anfahrtszeit zum Arbeitsplatz merklich verkürzen, wenn ich erst um zehn vor Ort sein müsste. Unter derartigen Umständen könnte ich versuchen, den Vorgesetzten von der Qualität meiner Gründe zu überzeugen. Vielleicht zieht er dann seinen Anweisungsversuch zurück.
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Wenn jedoch die Mutter ihre kleinen Kinder oder der übermächtige Souverän seine Untertanen mit präskriptiven Regeln konfrontiert, dann stellt sich für die Adressaten eher selten ernsthaft die Frage, ob sie sich den generalisierten Anweisungen fügen wollen oder nicht. Sie haben diese Gebotsregeln als Regeln zu akzeptieren. Wichtig ist jedoch, erneut zu betonen, dass die Rede von der Akzeptanz der Adressaten im Zusammenhang dieser Abhandlung vor allem dazu dient, das Paradigma des Akzeptierens von Regeln (als Regeln) von denjenigen Fällen zu unterscheiden, in denen sich den Adressaten die Frage stellt, ob sie sich hier und jetzt einer (bereits etablierten oder gerade neu aufgestellten) Regel entsprechend verhalten wollen. Dieser sachliche Unterschied ist wichtig. Der sprachliche Umstand, dass wir für das betreffende Paradigma kein passenderes Wort als ‚akzeptieren‘ haben, ist hingegen sekundär. 3 Auch mit Blick auf das Anwenden von Regeln scheinen sich der hier vertretenen Position keine nennenswerten Schwierigkeiten in den Weg zu stellen. Selbst wenn ich die generalisierte Anweisung meines Vorgesetzten (als generalisierte Anweisung) akzeptiert habe, täglich ab neun im Büro zu sein, kann ich mich gleichwohl jeden Tag aufs Neue fragen, ob es hinlänglich starke Gründe dafür gibt, dieser Anweisung ausnahmsweise nicht nachzukommen, also die geltende Regel im Einzelfall zu missachten. Gibt es solche Gründe, dann gebietet die Vernunft, entgegen der Regel zu handeln. Gibt es solche Gründe nicht, dann fahre ich vernünftigerweise rechtzeitig zur Arbeit. Und ich tue dies in aller Regel in dem Wissen, gerade der generalisierten Anweisung meines Vorgesetzten Folge zu leisten. Insofern wende ich die betreffende Regel in dem Sinn des Wortes an, der im zweiten Kapitel erläutert wurde. Insofern bin ich in meinem Handeln an dieser Regel orientiert. Ich entscheide mich für mein Tun mit Blick auf die Regel. Ich komme, mit anderen Worten, wissentlich und bewusst der Anweisung meines Vorgesetzten nach.
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Es sei an diesem Punkt darauf hingewiesen, dass die Charakterisierung von Gebotsregeln als Anweisungen das Konzept des Anwendens von Regeln vollkommen transparent macht. Um dies zu sehen, muss man sich an die im zurückliegenden Kapitel ausgeführte Vorstellung erinnern, der zufolge generalisierte Anweisungen als Bündelungen einer Vielzahl singulärer Anweisungen zu deuten sind. Wer daher in einer konkreten Situation eine Gebotsregel anwendet, tut im Prinzip nichts anderes, als eine singuläre Anweisung des betreffenden Bündels zu befolgen.2 Und am Befolgen einer singulären Anweisung ist absolut nichts Geheimnisvolles oder philosophisch Rätselhaftes aufzuspüren. Manchmal fragt eine Person etwas und eine andere Person antwortet ihr. Manchmal gibt ein Mensch eine Anweisung und ein anderer Mensch kommt ihr nach. Ontologisch nach dem erläuterten Muster entschärft: Der eine sagt, was der andere tun soll. Und der andere tut‘s. Wir haben es hierbei mit zwei vertrauten Elementarformen menschlicher Kommunikation zu tun. Dem Philosophen bleibt nichts zu erklären. Das einzige, was im Fall des Anwendens einer Regel, also im Fall des Nachkommens einer generalisierten Anweisung in Abgrenzung zum singulären Fall hinzukommt, ist ein größerer Bedarf an kognitiven Kapazitäten seitens des Adressaten. Dieser muss die Regel über einen längeren Zeitraum im Kopf behalten, als es mit Blick auf eine singuläre Anweisung zumeist der Fall ist. Und der Adressat muss natürlich auch über die kognitiven Fähigkeiten verfügen, die notwendig sind, um konkrete Situationen, in die er gerät, als Regelsituationen zu identifizieren. Dies misslingt bekanntlich zuweilen. Denn manchmal ist man in einer Regelsituation, ohne dies zu bemerken. Dann missachtet man etwa versehentlich die Vorfahrt. Der erhöhte Bedarf an kognitiven Kapazitäten macht zum einen verständlich, warum vornehmlich wir Menschen und nicht die vielen anderen Tiere mit Gebotsregeln auf vielfältige Weise hantieren.3 Zum anderen ist damit vom Ansatz her klar, inwiefern Kinder den Umgang mit Regeln in ihren ersten Lebensjahren erst nach und nach erlernen müssen. Wir bringen
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dem Nachwuchs nicht nur Gebotsregeln und regelkonformes Verhalten bei. Wir müssen ihnen auch den Umgang mit Regeln allererst vermitteln.4 4 Wie im zweiten Kapitel veranschaulicht wurde, führen Habitualisierungs- und Routinisierungsprozesse (oft, aber nicht immer) vom Pol des Anwendens über das Spektrum des Befolgens hin zum Pol des Folgens von Regeln. Und auch diese graduellen Übergänge lassen sich durch das Konzept der generalisierten Anweisung problemlos und phänomenologisch adäquat auf den Begriff bringen. Im Laufe der Zeit mag ich damit aufhören, mich täglich aufs Neue zu fragen, ob es hinlänglich gute Gründe dafür gibt, der allgemeinen Anweisung des Vorgesetzten ausnahmsweise nicht zu folgen. Dies könnte beispielsweise daran liegen, dass in der Vergangenheit zu selten zureichend starke Gründe dieser Art zum Vorschein getreten sind. Denn es lohnt sich nicht, immer wieder nach Dingen zu suchen, die man erfahrungsgemäß eher selten findet. – Dass ich mir die besagte Frage nicht mehr stelle, könnte aber auch daran liegen, dass mir der Vorgesetzte zu verstehen gegeben hat, dass er keine Ausnahmen von der Regel duldet. In dem Fall hat er die Latte, die ein Grund nehmen müsste, um als hinlänglich starker Grund für einen Regelbruch zu gelten, so hoch gesetzt, dass ich mir die Mühe sparen kann, nach solch einem Grund zu fahnden. Die Aussicht, dass ich einen finde, ist jetzt einfach viel zu gering. Ich befolge also im erläuterten Sinn der Wendung die Regel, die der Vorgesetzte in Kraft gesetzt hat. Ich komme seiner generalisierten Anweisung in einem immer größeren Ausmaß gewohnheitsmäßig nach, d.h., ohne mich im Einzelfall für ein regelkonformes Handeln zu entscheiden. Oft bin ich mir dabei schon gar nicht mehr darüber im Klaren, dass ich das, was ich täglich tue, infolge einer an mich ergangenen Anweisung tue. Mein tägliches Handeln ist immer weniger an der betreffenden Regel orientiert.
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5 Vom Typ her bin ich das, was man ein Gewohnheitstier nennt. Seit geraumer Zeit schon sitze ich täglich ab neun Uhr im Büro. Mein vormaliger Vorgesetzter ist jedoch seit längerem in Rente. Ich bin jetzt selbst in seiner leitenden Position. Die frühere Anweisung besteht und existiert insofern nicht mehr. Die betreffende Regel ist, mit anderen Worten, nicht mehr in Kraft. Gleichwohl folge ich einer Regel im erläuterten Sinn dieser Wendung: Mein tägliches Verhalten am frühen Vormittag ist durch eine deskriptive Regel zu beschreiben, die eine Regularität im Weltlauf thematisiert. Diese Regel beschreibt eine meiner Gewohnheiten. Eine beschreibende Regel dieser Art hat freilich mit einer generalisierten Anweisung nicht viel zu tun. Denn wir haben bereits im ersten Kapitel gesehen, inwiefern deskriptive Regeln enger mit den Naturgesetzen als mit den präskriptiven oder konsultativen Regeln verwandt sind. Alles in allem spricht angesichts der bisherigen Diskussionen dieses Kapitels nichts dagegen, Gebotsregeln als (eventuell doppelt) generalisierte Anweisungen zu deuten. Und vor allem die im dritten Abschnitt hervorgehobene Tatsache, dass diese Deutung das Anwenden von Regeln rundum verständlich macht, scheint mir einen hervorragenden Grund dafür zu liefern, ihr zuzustimmen. Angesichts dieses Ergebnisses möchte ich von diesem Punkt der Diskussion an die als Anweisungen charakterisierten Gebotsregeln als den paradigmatischen Regeltypus behandeln. Vor dem Hintergrund dieser Festsetzung wende ich mich jetzt der Frage zu, inwieweit sich die bisher nicht ausdrücklich berücksichtigen Arten und Typen von Regeln diesem Paradigma einfügen lassen. Die Hoffnung ist natürlich weiterhin, der hier vertretenen Sichtweise durch ein kohärentes Gesamtbild möglichst viel Plausibilität zu verleihen. 6 Der erste Typ von Regeln, den wir jetzt in den Blick nehmen, sind die Erlaubnisregeln. Diese Regeln, wir erinnern uns, gehören zur Art der präskriptiven Regeln und besagen, wer unter welchen Umständen dazu befugt ist, Handlungen dieses oder jenen Typs auszuführen (bzw. zu unterlassen). Inwiefern passen
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auch solche Regeln in unser Bild von den Gebotsregeln als generalisierten Anweisungen? Um diese Frage zu beantworten, nehmen wir erneut einen Vergleich vor. Auf der einen Seite stelle man sich eine Person vor, die einen anderen Menschen dazu befugt, in einer singulären Situation etwas Bestimmtes zu tun. Auf der anderen Seite geht es um eine Person, die ihren Adressaten generell dazu befugt, in Situationen einer bestimmten Art Handlungen einer bestimmten Art auszuführen. Im ersten Fall könnte die Mutter zu ihrer Tochter sagen: „Du darfst heute Abend mein Auto haben.“5 Im zweiten Fall könnte die Mutter kundtun: „Du kannst ab jetzt immer mein Auto nehmen, wenn ich es selbst gerade nicht brauche.“6 Die erste Erlaubnis ist singulär, insofern sie sich auf den einen Abend des betreffenden Tages, also auf eine Einzelsituation bezieht. Die zweite Erlaubnis ist insofern generell, als sie sich auf die lange Reihe von zukünftigen Situationen bezieht, in denen die Mutter ihr Fahrzeug nicht benötigt.7 Und an dieser Struktur erkennen wir mittlerweile unschwer eine Regel. Wieder ist von einem Akteur, einem Situations- und einem Handlungstyp die Rede. Die Erlaubnisregeln sind folglich als generalisierte Befugnisse in Analogie zu den generalisierten Anweisungen charakterisierbar. Ich erspare mir den Nachweis, dass Erlaubnisregeln unter dafür einschlägigen Umständen auch als doppelt generalisierte Befugnisse charakterisiert werden können. Dieser Punkt ist trivial. Wenn die Mutter alle ihre volljährigen Kinder mit Führerschein dazu befugt, ihr Auto zu nutzen, dann haben wir es mit einer doppelt generalisierten Befugnis zu tun. Fragen wir stattdessen, inwiefern Erlaubnisregeln, gedeutet als (gegebenenfalls doppelt) generalisierte Befugnisse, auch als generalisierte Anweisungen charakterisiert werden können. Man könnte an dieser Stelle natürlich auf eine Unterordnung der Erlaubnisregeln unter das Konzept der Anweisung verzichten. In dem Fall wäre die Rede von den generalisierten Anweisungen und von den generalisierten Befugnissen auf einer gemeinsamen Ebene angesiedelt. So gesehen, gäbe es auf der
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einen Seite Gebotsregeln, die spezielle Arten von Anweisungen sind, und auf der anderen Seite Erlaubnisregeln, die spezielle Arten von Befugnissen darstellen. Das wäre alles vollkommen in Ordnung. – Es ist jedoch reizvoll und zugleich unser Bild bereichernd, wenn man die besagte Unterordnung gleichwohl vornimmt und sich zu diesem Zweck den Konnotationsreichtum des Ausdrucks ‚Anweisung‘ zunutze macht. Präskriptive Regeln, durch deren Formulierung der Autor seinen Adressaten generalisierte Befugnisse zuspricht, sind in dem Sinn des Wortes Anweisungen, in dem man in anderen Kontexten etwa von einer Bankanweisung spricht. Metaphorisch gesprochen, überweist der Autor durch das Aufstellen einer Erlaubnisregel dem Adressaten eine generalisierte Befugnis auf das Konto seiner (eventuell bereits bestehenden) Befugnisse.8 In Anbetracht dieser Überlegung über Befugnisse als Anweisungen liegt es nahe, zur Abrundung des bisher gezeichneten Bildes rückblickend auch die Gebotsregeln als Anweisungen im Sinne von Gebotszuweisungen zu betrachten. Auf diesem Weg gelangen wir wieder zu einem einheitlichen Begriff des An-, Zu- bzw. Überweisens. Der Vater sagt zu seinen Kindern: „Die Älteste von euch darf ab jetzt entscheiden, welchen Film wir uns sonntags im Kino anschauen.“ Indem er diesen Satz ausspricht, überweist er eine Befugnis auf das Konto seines ältesten Kindes. Diese Befugnis besteht darin, in Situationen einer bestimmten Art, Entscheidungen bezüglich eines bestimmten Themas fällen zu dürfen. Im selben Atemzug überweist der Vater ein Gebot auf die Konten der jüngeren Geschwister. Denn für sie gilt ab jetzt die Gebotsregel, der zufolge sie sich der sonntäglichen Kinoentscheidung der ältesten Schwester zu fügen haben. Wenn wir an dieser nützlichen Metapher vom Zu- bzw. Überweisen von Befugnissen und Geboten durch den Regelautor festhalten und das Beispiel verallgemeinern, gelangen wir zu dem folgenden Bild: Wo ein (erfolgreicher) Regelautor eine Mehrzahl von Gebots-, Verbots- und Erlaubnisregeln für eine Gruppe von Adressaten aufstellt, gegebenenfalls ändert oder
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außer Kraft setzt, gestaltet er die Art und Weise, wie die Befugnisse und Gebote innerhalb dieser Adressatengruppe verteilt sind. Auf diese Weise regulieren präskriptive Regeln in dem Sinn des Wortes die Verteilung von Befugnissen und Geboten unter den Adressaten, in dem man in anderen Zusammenhängen von der Einkommensverteilung unter den Mitgliedern einer Gesellschaft spricht. Da streng genommen jedoch nicht die Regeln regulieren, wie wir aufgrund der Diskussion im achten Abschnitt des zurückliegenden Kapitels wissen, sondern der Autor dies durch seine Regeln tut, sollten wir etwas genauer formulieren: Durch das Aufstellen, Ändern und Außerkraftsetzen von präskriptiven Regeln reguliert ein Regelautor die Verteilung von Befugnissen, Geboten und Verboten in der Menge seiner Adressaten. – Diesem Bild gemäß werden wir uns im zweiten Teil dieser Abhandlung politische bzw. staatliche Rechtsordnungen veranschaulichen. Wie zu sehen war, teilen Erlaubnisregeln mit den Gebotsregeln sowohl ihren Charakter als Anweisungen – ‚Anweisung‘ jetzt in der erweiterten Bedeutung des Wortes verstanden – als auch ihre regelspezifische Struktur. Denn insofern wir es mit Regeln zu tun haben, haben wir es mit generalisierten Anweisungen zu tun, die Situationstypen und Handlungstypen involvieren. Wo es sich darüber hinaus um eine doppelt generalisierte Erlaubnisregel handelt, die einer Mehrzahl von Adressaten eine gemeinsame Befugnis zuweist, kommt zusätzlich eine generelle Akteursklausel hinzu. Die Zusammenschau der gebietenden und der erlaubenden Anweisungen, die wir auf den zurückliegenden Seiten vorgenommen haben, lassen inzwischen auch an Regieanweisungen denken. Alternativ kann man sich den Regelautor wie einen Maître de plaisir vorstellen, der allgemeine Anweisungen des Inhalts verkündet, dass gewisse Leute gewisse Dinge tun sollen und gewisse Leute bestimmte Dinge tun können, falls es ihnen beliebt. Auch auf diese Punkte kommen wir in den späteren Kapiteln dieser Abhandlung noch ausführlicher zu sprechen,
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wenn es um die mehr rechtsphilosophischen Aspekte der in Entwicklung begriffenen Regeltheorie geht. Freilich gibt es aber nicht nur Gemeinsamkeiten. Ein markanter Unterschied zwischen den beiden Typen präskriptiver Regeln gerät in den Blick, wenn man danach fragt, wie sich der jeweilige Akt des Anweisens zur Anweisung verhält, deren Existenz und Geltung die Folge jenes Aktes ist. Dieser Unterschied besteht darin, dass es anders als im Fall der Gebotsregeln im Fall der generalisierten Befugnisse keinen grammatikalischen Modus gibt, der für die Sätze typisch ist, durch die der Autor seine Befugnis ausspricht. Befugnisse werden jedenfalls nur selten unter Verwendung imperativisch formulierter Sätze zur Sprache gebracht. Die Mutter sagt viel eher Dinge wie diese: „Du darfst das Auto immer haben, wenn ich es selbst nicht brauche“ oder „Du kannst den Wagen nehmen, wenn ich ihn nicht nutze.“ Wie diese Sätze zu erkennen geben, ist es im Fall der Erlaubnisregeln noch viel öfter als im Fall der Gebotsregeln so, dass assertorische Sätze, die im Normalfall dazu genutzt werden, die Tatsache zur Sprache zu bringen, dass bestimmte Personen bestimmte Dinge tun dürfen, in einer weiteren Funktion verwendet werden. Denn sie können in der veranschaulichten Kommunikationskonstellation auch dazu genutzt werden, die betreffende Tatsache allererst zu schaffen, sprich die betreffende Befugnis zuzuweisen. Es ist eine Tatsache, dass die Tochter über die Befugnis verfügt, das Auto ihrer Mutter zu benutzen. Diese Tatsache besteht, seit die Mutter unter Verwendung eines entsprechenden Satzes gesagt hat, dass dem so ist. Erneut bewährt sich im Zweifelsfall die sprachakttheoretische Perspektive, wenn es um die Frage geht, ob ein Satz in einer konkreten Kommunikationssituation dazu genutzt wird, eine Befugnis zuzusprechen, oder vielmehr dazu, vom Vorhandensein einer bereits zugesprochenen Befugnis Kenntnis zu geben. Nur in dieser zweiten Verwendung haben die betreffenden Sätze einen Wahrheitswert. Man kann diese Doppelfunktion der betreffenden Sätze auch so formulieren: Durch die erste Verwendung
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wird eine Tatsache geschaffen. Durch die zweite wird über das Bestehen dieser Tatsache informiert. 7 Bevor wir uns mit den übrigen Typen präskriptiver Regeln beschäftigen, wenden wir uns in diesem und dem nachfolgenden Abschnitt den beiden Typen konsultativer Regeln zu. Die dreigliedrige Struktur, die wir uns mit Blick auf Gebots- und Erlaubnisregeln veranschaulicht haben, macht verständlich, inwiefern auch die allgemeinen Ratschläge, Empfehlungen bzw. Warnungen, denen wir im ersten Kapitel begegnet sind, zwar regelartige Dinge, aber keine präskriptiven Regeln sind. Auch im Fall der Ratschläge und Warnungen können wir singuläre von generalisierten Varianten unterscheiden. Der Satz „Du solltest morgen pünktlich sein“ bringt eine singuläre Empfehlung zum Ausdruck, durch den sich der Sprecher auf eine Einzelsituation bezieht. Der Satz „Du solltest mehr auf Pünktlichkeit achten“ bringt hingegen eine generalisierte Empfehlung zur Sprache. Hier bezieht sich der Sprecher auf alle Situationen, in denen der Angesprochene einen Termin zu beachten hat. Wie im Fall der Gebots-, Verbots- und der Erlaubnisregeln können wir auch im Fall der allgemeinen Warnungen und Ratschläge zwischen einfach und doppelt generalisierten Varianten unterscheiden. „Es empfiehlt sich, Tomaten nach dem letzten Frost zu pflanzen“ ist eine doppelt generalisierte Empfehlung, die an alle Akteure adressiert ist, die sich der Aufzucht von Tomaten widmen. In diesem Fall können wir nach dem vertrauten Muster zwischen der Akteurs-, Situations- und Handlungsklausel einer Regel unterscheiden. Dass allgemeine Empfehlungen und Warnungen zwar die Regelstruktur aufweisen, aber keine präskriptiven Regeln, also keine Anweisungen sind, wird allein schon durch den Umstand signalisiert, dass man sie im Deutschen zumeist unter Verwendung einer konjunktivischen Form des Hilfsverbs ‚sollen‘ formuliert. Die empfehlenden Sätze „Er sollte sich gründlicher auf seine Prüfung vorbereiten“ oder „Sie sollten dieses Jahr besser nicht nach Frankreich fahren“ machen dies deutlich.9 Es wäre
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ein Fehler, die konjunktivische Variante des Hilfsverbs dahingehend zu deuten, dass der Autor einer Empfehlung oder Warnung eine abgeschwächte oder höflich zum Ausdruck gebrachte Anweisung formuliert.10 Wie wir im achten Kapitel noch sehen werden, hat das Verb ‚sollen‘, das zur Darstellung von Geboten gebraucht wird, mit dem konjunktivischen ‚sollten‘ einer Empfehlung nicht sonderlich viel zu tun. Wieder gaukelt uns die Sprache hier etwas vor. Daher ist es besser, am strikten Unterschied zwischen den präskriptiven und konsultativen Regeln festzuhalten. Empfehlungen sind eben ihrer ganzen Natur nach etwas anderes als Anweisungen. Denn es ist ein großer Unterschied, ob mir jemand ein bestimmtes Verhalten empfiehlt – oder ob er mir sagt, was ich wann zu tun habe. An diesem Punkt der Überlegungen angelangt, kann ich jetzt auch offenlegen, weshalb ich mich im zurückliegenden Kapitel dagegen entschieden habe, die propositionalen Inhalte von Regelsätzen mit den Regeln zu identifizieren. Was nämlich die Inhalte, besser gesagt, die strukturellen Merkmale der involvierten Propositionen betrifft, lösen sich die Unterschiede zwischen den grundverschiedenen Regelarten in Luft auf. Was auf dieser abstrakten Ebene nur noch bleibt, ist eben die dreigliedrige Regelstruktur, die allen Arten von Regeln gemeinsam ist. Man kann natürlich genau diese Struktur als Essenz des Regelbegriffs deuten oder gar diese Struktur mit dem Ausdruck ‚Regel‘ bezeichnen. Und zugegeben, eine sehr einheitliche Theorie steht von hier aus betrachtet in Aussicht. Einheitlichkeit ist jedoch nicht immer von Vorteil. Im vorliegenden Fall wäre sie für den hohen Preis erkauft, enorm wichtige Unterschiede ontologischer und anderer Art zwischen den Regelformen auszublenden. Just diese Unterschiede sollte man jedoch ins Auge fassen, will man nicht nur den Begriff der Regel, sondern auch die vielfältigen Rollen von Regeln verstehen, die sie in den verschiedensten Lebensbereichen spielen. Regeln, die Anweisungen sind, und Regeln, die Empfehlungen sind, sind nicht nur sehr verschiedene Dinge. Fast möchte man es schon bedauern, dass man in beiden Fällen zu ihrer Bezeich-
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nung das Wort ‚Regel‘ benutzt. Die unterschiedlichen Regelarten haben vor allem ganz unterschiedliche Funktionen. Regeln, die Anweisungen sind, dienen ganz anderen Zwecken als Regeln, die Empfehlungen sind. Daher sollte die dreigliedrige Regelstruktur zwar in jeder Bestimmung des Begriffs auftauchen. Dies ist unbestreitbar der Fall. Aber die Struktur selbst sollten wir nicht zur Regel erklären. Täten wir dies doch, liefen wir permanent Gefahr, unterschiedliche Regelarten miteinander zu verwechseln. Auf dieses Gefahrenpotential werde ich an gegebener Stelle noch eigens hinweisen. 8 Aufgrund ganz ähnlicher Überlegungen, wie die, die im zurückliegenden Abschnitt dargelegt wurden, lässt sich verdeutlichen, inwiefern Faustregeln zwar Regeln, aber keinesfalls präskriptive Regeln, also Anweisungen sind. Zum einen lassen sich auch Faust- bzw. Daumenregeln als Produkte einer Generalisierung singulärer Phänomene deuten. Im singulären Fall könnte eine Person sagen, dass sie vorhat, kommenden Samstag auf den Markt zu gehen, falls bis dahin keine Gründe zutage treten, die gegen diesen Vorsatz sprechen. Im generalisierten Fall könnte die Person hingegen den allgemeinen Vorsatz fassen, ab jetzt immer samstags ihren Markteinkauf zu erledigen. Auch im Fall dieser Faustregel wird der Akteur im Einzelfall jederzeit von dem generalisierten Vorsatz ablassen, wenn es in der dann vorliegenden Situation gute Gründe gibt, die für eine andere Weise des Handelns sprechen. Darin zeigt sich die Natur einer Faustregel, die – etwas genauer formuliert – darin besteht, dass der Akteur sich der Regel entsprechend verhält, wenn ihm im Einzelfall keine Gegengründe ins Auge stechen. Regeln dieser Art sind Heuristiken und insofern mit Merksprüchen, Eselsbrücken und Wegweisern vergleichbar, an denen sich die Akteure orientieren, solange keine Gründe dafür sprechen, dies nicht zu tun. Weniger metaphorisch formuliert, kann man von den Faustregeln auch als generalisierten Absichten bzw. allgemeinen Vorsätzen sprechen. Wer der Faustregel folgt, in Situationen vom Typ S Handlungen vom Typ H auszuführen, hat
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irgendwann die generelle Absicht gefasst (oder ausgeprägt), in den betreffenden Situationen auf die genannte Weise zu handeln.11 Und wie auch im Fall singulärer Absichten lässt man als kluger Akteur im Einzelfall von einer vorab gefassten Absicht allgemeinen Inhalts ab, wenn man in der konkreten Situation Gründe dafür sieht, sich anders als ursprünglich beabsichtigt zu verhalten. Wie im Fall aller bisher diskutierten Typen von Regeln lassen sich Faustregeln ebenfalls gemäß der dreigliedrigen Regelstruktur analysieren. Genau dieser Umstand macht klar, dass es sich auch in ihrem Fall um Regeln handelt. Auch Faustregeln enthalten neben einer Handlungs- und einer Situationsklausel, technisch gesehen, zusätzlich eine Akteursklausel. Insofern Faustregeln jedoch, wie erläutert, als generalisierte Vorsätze bzw. Absichten zu charakterisieren sind, ist begreiflich, weshalb sich die Akteursklausel dieser Regeln zumeist nur auf singuläre Adressaten bezieht.12 Dieser Punkt wiederum macht klar, inwiefern es im Fall dieser Regeln oft natürlicher erscheinen mag, sie elliptisch zu formulieren, also nicht der dreigliedrigen Standardform anzupassen, die im zurückliegenden Kapitel als Normalform etabliert wurde. Darüber hinaus ist es in der Mehrzahl aller Faustregeln so, dass der Adressat der Regel mit ihrem Autor identisch ist. Regeln dieser Art sind Maximen des Handelns, die der Akteur selbst ergreift, sich also selber gibt. Allein schon dieser Sachverhalt gibt zu erkennen, dass Faustregeln schwerlich als Anweisungen zu charakterisieren sind. Man kann sich im Wortsinn nicht selbst Befehle bzw. Anweisungen geben.13 Wir tun daher gut daran, auch diesen Typ von Regeln nicht unter das Konzept der präskriptiven Regel zu subsumieren. Erneut ist zu sehen, welch wichtige Unterschiede dem Blick entgehen, wenn man sich beim Nachdenken über den Regelbegriff zu sehr auf die allen Regeln gemeinsame Regelstruktur konzentriert. Klar, Faustregeln sind wie allgemeine Ratschläge, wie präskriptive und deskriptive Regeln ebenfalls Regeln. Aber die Unterschiede zwischen Anweisungen, Ratschlägen und Vorsätzen sind groß. Nein, gewaltig! Wer diese Unterschiede
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nicht zur Kenntnis nimmt, kann kein differenziertes Verständnis von Regeln und ihren unterschiedlichen Rollen im Leben von Menschen entwickeln. Außerdem neigt er dazu, ontologische Doppelungen vorzunehmen, die hinein in einen Wald voller Bäume führen, durch den kein Mensch mehr hindurch blickt. Wer nicht sieht, dass Faustregeln mit generalisierten Absichten identisch sind, gelangt beispielsweise leicht zu der falschen Ansicht, ein Akteur, der sich eine Faustregel zu eigen macht (eine Maxime ergreift), sei jemand, der die Absicht fasst, sich an die betreffende Regel zu halten. Dann hat man es scheinbar mit zweierlei zu tun: mit einer Regel und einer Absicht, sich an die Regel zu halten. Und man kann sich jetzt lang mit dem Scheinproblem plagen, wie diese beiden „Dinge“ zusammenhängen.14 Besser ist es daher, den Weg nicht bis zu diesem Punkt zu gehen, sondern vorher schon zu der Einsicht zu gelangen, dass es unterschiedliche Arten von Regeln gibt, die man nicht in jeder Hinsicht über einen Kamm scheren kann. Manche Regeln sind mit Absichten identisch. Oder besser noch so: Manche der unterschiedlichen Dinge, die wir auch Regeln nennen, sind nichts anderes als (generalisierte) Absichten. Im zweiten Kapitel hat es sich schon einmal als aufschlussreich erwiesen, Faustregeln ins Auge zu fassen, die der Adressat sich nicht selber gibt, sondern von einem anderen Autor genannt bekommt. Ich bin neu zugezogen und jemand sagt zu mir: „Solange Sie nichts von irgendwelchen Sonderangeboten des Supermarkts B hören, können Sie Ihre Einkäufe getrost im Supermarkt A tätigen. Der ist besser und billiger.“ Wieder rutscht hier eine Regel, die eine Faustregel wäre, wenn der Adressat mit dem Autor identisch wäre, in die andere Kategorie konsultativer Regeln. Denn der Autor gibt mir offenkundig einen allgemeinen Ratschlag. Immer, wenn ich in die Situation gerate, einkaufen zu wollen, sei es ratsam, den einen Supermarkt dem anderen vorzuziehen, falls nicht ein Grund dagegen spricht. Der Unterschied zwischen den Faustregeln und den allgemeinen Ratschlägen ist also tatsächlich nicht sonderlich groß. Faustregeln sind einfach nur eine Sonderform der allge-
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meinen Empfehlungen. Faustregeln wären Empfehlungen, die der Adressat sich selber gibt, könnte man sich selbst Empfehlungen geben. Aber das geht im Fall der Empfehlungen freilich so wenig wie im Fall der Anweisungen. Daher besser umgekehrt: Allgemeine Empfehlungen sind Faustregeln, die der Autor einem Adressaten, mit dem er nicht identisch ist, mit auf den Weg gibt. Ontologisch entschärft: A empfiehlt B, in Situationen der Art S Dinge der Art H zu tun. Und entsprechend: B fasst den Vorsatz, in S-Situationen H-Dinge zu tun. Aufgrund dieses engen Zusammenhangs werde ich ab jetzt Faustregeln und Empfehlungen kaum noch gesondert diskutieren. Wir können sie pauschal als konsultative Regeln fassen und damit die Regellandschaft ein Stück weit übersichtlicher gestalten. Wenn wir im zweiten Teil dieser Abhandlung geklärt haben werden, wie sich der Begriff des praktischen Grundes zum Konzept der Regel verhält, werde ich noch einmal auf die konsultativen Regeln zu sprechen kommen. Denn in ihrem Fall liegt ein Zusammenhang zu den Gründen der beteiligten Akteure vor, durch den sie sich in einer aufschlussreichen Weise von den präskriptiven Regeln unterscheiden. 9 Kehren wir jetzt zu den präskriptiven Regeln zurück und nehmen die Vorkehrungs- und die aus diesen ableitbaren Verfahrensregeln in Augenschein. Hier stellt sich die Lage komplizierter dar. Zum Lohn dafür stehen aber einige interessante Beobachtungen in Aussicht. Vorkehrungsregeln, so wurde im ersten Kapitel ganz allgemein formuliert, sind solche Regeln, durch die ihr Autor festsetzt, welches Merkmal ein potentielles X zu erfüllen hat, um in seinen Augen als ein genuines X zu gelten. In diesem Sinn schaffen Vorkehrungsregeln Standards. Sie standardisieren das genuine X, indem sie eine notwendige Bedingung spezifizieren, auf die der Regelautor besteht. – Die Relativierung auf die Sicht des Regelautors, die in der soeben gebrauchten Formulierung erneut zum Ausdruck kommt, kann in den meisten Fällen ruhigen Gewissens ignoriert werden. Denn ein erfolgreicher
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Regelautor schafft durch das Aufstellen seiner Regeln kraft Akzeptanz seiner Adressaten Tatsachen. Nicht nur nach seinem Dafürhalten, sondern auch nach dem der Regeladressaten, die seine Regel akzeptieren, gilt ein potentielles X in den Augen aller Beteiligten nur dann als genuines X, wenn es die erforderlichen Auflagen erfüllt. Sind wir im zurückliegenden Kapitel von der Akzeptanz einer Gebotsregel zu ihrer Geltung übergegangen, können wir hier insofern von der Akzeptanz zur Existenz übergehen, als in den meisten Fällen der eben skizzierten Art ein potentielles X tatsächlich dann und nur dann ein genuines X ist, wenn es die erforderlichen Merkmale aufweist. Man darf im Zusammenhang der Vorkehrungsregeln aber nicht nur die Sicht des Regelautors, sondern auch die Rolle der Regelakzeptanz durch die Adressaten aus einem bestimmten Grund nicht zu hoch bewerten. Wenn in einer Gruppe von Akteuren bereits seit längerem eine Vorkehrungsregel existiert, dann ist es für einen Neuling, der zu dieser Gruppe stößt oder in sie hineingeboren wird, gerade so eine Tatsache, dass ein X die notwendige Bedingung zu erfüllen hat, wie es für ihn eine Tatsache ist, dass er sich die Zähne putzen muss, um sie gesund zu erhalten. Die Vorkehrungsregel musste ursprünglich zwar irgendwann einmal von hinlänglich vielen Adressaten akzeptiert werden, um sich sozial stabilisieren zu können.15 Ist eine hinlängliche Stabilität der Regel innerhalb einer Sozietät aber erst einmal vorhanden, treten die betreffenden Tatsachen dem einzelnen Akteur genauso hart, real, objektiv entgegen wie Steine, Wände und Berge. Für einen Neuling stellt sich insofern nicht ernsthaft die Akzeptanzfrage. Er hat die Regel und damit die Tatsache, dass ein X die notwendige Eigenschaft haben muss, zu akzeptieren. Machen wir uns diese Zusammenhänge an einem vertrauten Beispiel klar. Der Gesetzgeber setzt beispielsweise durch eine Vorkehrungsregel fest, dass ein Testament von einem Notar beglaubigt werden muss. Damit wird ein notariell beglaubigtes Testament zum Standard. Wenn man so will, fällt in Anbetracht der Existenz und Geltung dieser Vorkehrungsregel
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des Gesetzgebers ein Stück Papier nur noch dann unter den Begriff des Testaments, wenn es die notwendige Bedingung erfüllt. Insofern definiert die Regel zugleich den Begriff. Dieser Begriff des Testaments ist durch die betreffende Regel (und gegebenenfalls weiterer Regeln dieses Typs) konstituiert. Nach demselben Muster können wir auch eine große Zahl von Spielregeln deuten. Der Spielautor legt durch eine Vorkehrungsregel fest, dass der Sieg in dem von ihm konzipierten Spiel darin besteht, als erster Spieler alle Karten von der Hand zu bekommen. Damit ist der Sieg in diesem Spiel standardisiert und definiert. Denn was es heißt, dieses Spiel zu gewinnen, ist durch die betreffende Vorkehrungsregel festgelegt. Und wieder ist über kurz oder lang auch der Begriff, den die Spieler vom Sieg in ihrem Spiel haben und verwenden, durch die betreffende Regel geprägt. Siegen ist nichts anderes mehr, als die Karten aus der Hand bekommen zu haben. Mit Blick auf Beispiele dieser Art ist es lehrreich, zwischen zwei Fällen bzw. Perspektiven zu unterscheiden. Wir können uns zum einen als unmittelbare Zeitzeugen der Aktion des Regelautors denken. Der Autor sagt, ab morgen gilt nur noch das als Testament, was von einem Notar offiziell beglaubigt ist. Damit hat er den Versuch unternommen, eine geltende Vorkehrungsregel ins Leben zu rufen. Und es bleibt abzuwarten, ob dieser Versuch erfolgreich ist, ob die Adressaten also die Regel akzeptieren, anwenden und befolgen. Nicht zuletzt bleibt abzuwarten, ob sich die betreffende Regel sozial dauerhaft etabliert oder nicht.16 Im anderen Fall stellen wir uns vor, die Regelsetzung des Autors hätte schon vor mehreren Adressatengenerationen stattgefunden. Wie sich gezeigt hat, haben fast alle Vorfahren der jetzigen Adressaten die Regel akzeptiert und durch ihre stete Befolgung eine bestimmte Praxis generiert. In dieser Gesellschaft ist es eine Tatsache, dass nur notariell beglaubigte Dokumente Testamente sein können. Die heutigen Mitglieder dieser Gesellschaft, so können wir annehmen, haben gar keinen anderen Begriff von einem Testament als den, den der Regelau-
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tor in dunkler Vergangenheit prägte. Streng genommen, können wir von diesen Leuten daher auch nicht behaupten, dass sie die Anweisung des Regelautors befolgen oder anwenden. Denn sie tun ja einfach nur das, was in ihrem Begriff des Testaments liegt, wenn sie zum Notar gehen, um sich eine Beglaubigung zu besorgen. Das Handeln dieser Menschen ist lediglich regelgemäß in der Bedeutung dieser Wendung, die am Ende des zweiten Kapitels erläutert und fixiert wurde. Auch hier sind folglich wieder deskriptive Regeln von Belang, die man mit der gebotenen Deutlichkeit von präskriptiven und konsultativen Regeln unterscheiden sollte. Werden wir jetzt selbst Mitglieder dieser Gesellschaft oder wachsen immer neue Generationen der bestehenden Gesellschaft heran, dann ist es aus unserer und auch aus deren Perspektive vollkommen unerheblich, dass die besagte Tatsache vor geraumer Zeit durch eine Regelsetzung eines längst verstorbenen Regelautors in die Welt kam. Es ist ein Fakt, dass in dieser Gesellschaft nur notariell beglaubigte Dokumente Testamente sein können. Nur solche Papiere fallen unter den Begriff vom Testament, der in dieser Gesellschaft in Umlauf ist. In ontologischer Hinsicht unterscheidet sich die besagte Tatsache auch in keiner Weise von der, dass gestern Abend die Sonne unterging, oder der, dass Eis schmilzt, wenn es lange genug in der Sonne liegt. Es gibt nicht ontologisch verschiedene Arten von Tatsachen. Es gibt nur solche, in deren Vorgeschichte Menschen irgendwie ihre Finger im Spiel hatten, und solche, die nicht von Menschenhand stammen. Aber dieser „historische“ Unterschied berührt nicht die Tatsachen in ihrem ontologischen Status als Tatsachen. Wer zwischen diesen beiden Gruppen von Tatsachen gleichwohl ontologisch relevante Unterschiede dingfest zu machen versucht, muss sich fragen lassen, worauf sein Anthropozentrismus sich stützt.17 Da die Vorkehrungsregeln nicht als Verhaltensregeln eingeführt wurden, ist es nicht weiter verwunderlich, dass sie ein entscheidendes Merkmal aller bisher besprochen Regeltypen vermissen lassen. Sie teilen mit den übrigen Regeln nicht die
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dreigliedrige Struktur. Bevor wir uns der daraus erwachsenden Frage zuwenden, ob Vorkehrungsregeln überhaupt Regeln sein können, da sie nicht in das etablierte Paradigma zu passen scheinen, sei daran erinnert, dass aus Vorkehrungsregeln solche Sätze hergeleitet werden können, die Verfahrensregeln zum Gegenstand haben. Über einen Akteur, der sich in dem Rechtsraum bewegt, in dem die erläuterte Vorkehrungsregel in Kraft ist, lässt sich zutreffend sagen, dass er dann, wenn er ein Testament ablegen oder ändern will, einen Notar aufsuchen muss, um die betreffenden Papiere beglaubigen zu lassen. Um dieses Beispiel in unser Paradigma einfügen zu können, müssen wir es freilich zuerst noch doppelt generalisieren. Über den Zwischenschritt „Immer wenn der Akteur in die Situation gerät, ein Testament ablegen oder ändern zu wollen, muss er zum Notar“ gelangen wir zu dem Ergebnis „Alle Leute, die ein Testament ablegen oder ändern wollen, müssen zum Notar.“ Die erläuterte Ableitungsrelation zwischen Vorkehrungsund Verfahrensregeln erklärt, warum es so künstlich klingt, dem Gesetzgeber die Anweisung in den Mund zu legen, dass alle Bürger, die ein Testament machen wollen, ihre Papiere notariell beglaubigen lassen sollen. Auch die Vorstellung, dass der Spieleautor sagt: „Alle, die die Eigenschaft teilen, dieses Spiel spielen zu wollen, sollen diese Figuren als Läufer bezeichnen und sie ausschließlich diagonal über das Brett bewegen“ ist irgendwie realitätsfern und albern. Realistischerweise sind derartige Fälle vielmehr so zu deuten, dass der Gesetzgeber festschreibt, welche Auflagen ein Testament zu erfüllen hat. Und auch der Spielautor kommt in seinen Spielanweisungen in aller Regel nicht auf das Handeln und Wollen potentieller Spieler zu sprechen. Auch er legt vielmehr fest, wie die Figuren in seinem Spiel bezeichnet werden und ihre Züge beschaffen sein müssen, um als reguläre Aktionen im Rahmen dieses Spiels zu gelten. Hier kommt der wahre Punkt in der Rede von den konstitutiven Regeln vielleicht am klarsten zum Vorschein. Die Autoren dieser Vorkehrungsregeln legen, wie erläutert, fest, durch welche Merkmale sich ein potentielles X als genuines X auszeichnet.
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Und weil der Gesetzgeber auf diesem Weg gleichsam das Wort ‚Testament‘ für solche Papiere reserviert, die die von seinen Regeln bestimmten Merkmale aufweisen, legt er indirekt auch fest, was ein Testament ist. Insofern konstituieren die betreffenden Regeln bestimmte Institutionen. Insofern definieren die Regeln die Begriffe, unter die diese Institutionen fallen. Indirekt konstituieren die Vorkehrungsregeln oft auch bestimmte Arten des Handelns. Denn sobald durch ein Gesetz festgelegt ist, dass nur solche Schriftstücke Testamente sind, die die Auflagen des Rechtsautors erfüllen, muss ein Akteur dafür sorgen, dass seine Papiere die erforderlichen Merkmale aufweisen, will er, dass sie als Testament rechtliche Anerkennung finden. Und insofern man unter diesen Voraussetzungen nur noch dann ein rechtskräftiges Testament ablegt, wenn man sich an die Vorkehrungsregeln des Gesetzgebers hält, konstituieren diese Regeln, wie gesagt, indirekt auch eine bestimmte Art des Handelns. Denn ein Testament ablegen kann man in Anbetracht der geltenden Vorkehrungsregel nur, indem man sich an den einschlägigen Anweisungen des Autors orientiert. Aus den Anweisungen geht hervor, wie man das macht: ein Testament ablegen. Die Anweisung klärt, mit anderen Worten, welches Tun unter die Beschreibung fällt, der gemäß der Akteur ein Testament ablegt. Dem vollkommen entsprechend, kann man den Vorkehrungsregeln eines Spiels entnehmen, wie man dieses Spiel spielt. Was als Läufer fungiert, wird nur diagonal bewegt. Nur wer die Spielfigur diagonal bewegt, zieht den Läufer. Vor dem Hintergrund des erläuterten Verhältnisses zwischen den beiden Regeltypen sind jetzt aber auch Zweifel angemessen, ob es denn richtig ist, die Verfahrensregeln zu den präskriptiven Regeln zu zählen. Wenn es nämlich stimmt, was ich im zurückliegenden Kapitel behauptet habe, dass präskriptive Regeln charakterisiert als Anweisungen immer einen Autor voraussetzen, der sie im Zuge eines erfolgreichen Anweisungsaktes in Kraft gesetzt hat, dann sind die Verfahrensregeln keine präskriptiven Regeln. Die Tatsache, dass die Leute zuweilen in Anbetracht bestehender Vorkehrungsregeln bestimmte Dinge
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tun müssen, wenn sie bestimmte Ziele erreichen wollen, hat sich ja vielmehr als eine Folge davon erwiesen, dass ein Autor die betreffenden Vorkehrungsregeln in Kraft gesetzt und damit bestimmte Tatsachen geschaffen hat. Aber diese eigentlichen Regeln, wie man auch sagen könnte, nehmen, wie wir wissen, auf das Wollen und Handeln der Leute keinen unmittelbaren Bezug. Ob Vorkehrungsregeln Regeln sind, ist also fraglich, weil sie die regeltypische Struktur vermissen lassen. Ob Verfahrensregeln präskriptive Regeln sind, ist fraglich, weil sie einen Autor vermissen lassen. Hier sind offenkundig zwei Probleme zu lösen. Dies soll im nachfolgenden Abschnitt auf dem Umweg einer weiteren Überlegung versucht werden. 10 Gebotsregeln sind nicht nur als Anweisungen charakterisierbar, sondern auch mit Anordnungen, Aufträgen und in einem gewissen Ausmaß mit Befehlen und Kommandos vergleichbar. Diese Regeln rufen Kants kategorische Imperative in Erinnerung. Verfahrensregeln lassen hingegen aufgrund ihres instrumentellen Charakters an Gebrauchsanweisungen, Kochrezepte, Spielund Bauanleitungen denken. Aus ihnen geht unter anderem hervor, wie man bestimmte Dinge macht. Denn diese Regeln sagen, wie man sich zu verhalten hat, wenn man bestimmte Ziele verfolgt. Hier kommen eher hypothetische Imperative in den Sinn. Soweit mich mein Sprachgefühl nicht trügt, ist es im Fall der Formulierung einer bestehenden Anweisung erster Art nicht zwingend, aber durchaus üblich, sich des Verbs ‚sollen‘ zu bedienen. Im Fall der Verfahrensregeln ist es hingegen gebräuchlicher, eine Form des Verbs ‚müssen‘ zu gebrauchen. Die Kinder sollen abends pünktlich zu Hause sein. Wer ein Testament ablegen will, muss zum Notar. Es ist vor allem in der deutschsprachigen Literatur darüber reflektiert worden, ob Gebotsregeln (bzw. rechtliche und moralische Normen) angemessener durch Soll-Sätze oder durch Muss-Sätze zur Sprache zu bringen sind.18 Und ich denke, die zurückliegenden Betrachtungen machen es möglich, in dieser
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Frage eine begründete Stellung zu beziehen. Mit meiner Positionierung in dieser Angelegenheit werde ich nicht nur versuchen, die beiden aufgeworfenen Probleme bezüglich der Regelnatur von Vorkehrungs- und Verfahrensregeln zu lösen. Darüber hinaus sollen die nachfolgenden Überlegungen die noch offene Frage beantworten, inwiefern sich auch diese Regeltypen in das etablierte Regelparadigma einfügen lassen. Dass man im Fall der Gebotsregeln, die Anweisungen sind und insofern an Anordnungen, Aufträge, Befehle und kategorische Imperative erinnern, eher von der Angemessenheit des Hilfsverbs ‚sollen‘ auszugehen hat, liegt meines Erachtens auf der Hand. Regeln dieser Art stellen ihren Forderungs- bzw. Aufforderungscharakter offen zur Schau. Wer als Autor einer Gebotsregel bestimmt, welche Adressaten in welcher Situation welche Dinge zu tun haben, fordert die Adressaten dazu auf, die betreffenden Dinge zu tun. Er sagt ihnen, was sie unter welchen Umständen tun oder lassen sollen. Dass die Verwendung des Verbs ‚sollen‘ mit Blick auf alle Typen präskriptiver Regeln (und somit auch im Fall rechtlicher und moralischer Normen) der Normalfall ist, wird erkennbar, wenn wir uns noch einmal vergegenwärtigen, inwiefern Verfahrensregeln Ableitungen aus Vorkehrungsregeln sind. Der Gesetzgeber, so nahmen wir an, hat in Wahrheit nicht gesagt, dass alle Bürger, die ein rechtskräftiges Testament ablegen wollen, ihre Dokumente notariell beglaubigen lassen müssen. Das betreffende Gesetz legt vielmehr fest, welche notwendige Bedingung ein Schriftstück erfüllen muss, um als Testament Anerkennung zu finden. Und nur weil durch das Gesetz die Tatsache geschaffen wurde, dass Dokumente eine bestimmte Eigenschaft aufweisen müssen, um Testamente zu sein, muss ein Akteur, will er ein Testament machen, dafür sorgen, dass seine Papiere die erforderliche Eigenschaft erhalten. Zum einen ist es in Erinnerung an das in der Einleitung genannte Gespenst hilfreich, sich in diesem Zusammenhang deutlich zu machen, dass der hier relevante Gebrauch des Verbs ‚müssen‘ streng genommen keine normative Bedeutungskom-
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ponente aufweist. Dass ein Akteur in diesem Sinn des Wortes x tun muss, um das Ziel z zu erreichen, besagt lediglich, dass x unter den gegebenen Umständen die einzige Möglichkeit ist, z zu erreichen. Sätze dieser Art sind daher wahrheitswertfähige, sprich assertorische Aussagesätze. Das Verb ‚müssen‘ darf nicht normativ, es muss modal gedeutet werden. Zum anderen ist es nicht ganz unwichtig, sich in diesem Zusammenhang klarzumachen, dass Menschen nicht nur dann bestimmte Dinge tun müssen, um bestimmte Ziele zu erreichen, wenn der dabei relevante Zusammenhang zwischen einem notwendigen Mittel und dem Zweck durch ein einschlägiges Gesetz generiert worden ist. Solche Zusammenhänge zwischen notwendigen Mitteln und Zwecken sind oft auch von sich aus, also ohne jede Intervention durch einen Regelautor, gegeben. Man stelle sich zur Illustration dieses Sachverhalts eine Skihütte irgendwo im frostigen skandinavischen Winter vor. Man muss diese Hütte erst beheizen, um sie bewohnbar zu machen. Folglich gilt für einen Akteur, der den Wunsch hat, in dieser Hütte zu übernachten, dass er die Hütte beheizen muss, will er seinen Wunsch in die Tat umsetzen. Diese Notwendigkeit besteht, wie gesagt, ganz unabhängig von irgendwelchen Autoren und auf sie zurückführbare Regeln. Diese Notwendigkeit, so kann man auch sagen, liegt in der Natur der Sache. Georg Henrik von Wright hat Aussagen derart, dass x ein notwendiges Mittel ist, um das Ziel z zu erreichen, anankastische Aussagen genannt.19 Und insofern er selbst betont, dass es sich bei solchen Aussagen um deskriptive, also wahrheitsfähige Sätze handelt, können wir mit Blick auf die Tatsachen, die anankastische Aussagen wahr machen, der Einfachheit halber auch direkt von anankastischen Tatsachen sprechen. Mithilfe dieser terminologischen Fixierung lässt sich prägnant auf den Punkt bringen, was es mit den technischen Normen, den konstitutiven Regeln und ganz allgemein mit den Vorkehrungsregeln auf sich hat. Regeln dieser Art schaffen anankastische Tatsachen, die es ohne die betreffende Intervention durch den Regelautor und die Akzeptanz (einer hinreichenden Anzahl)
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seiner Adressaten ansonsten nicht gäbe. Durch das erfolgreiche Aufstellen einer Vorkehrungsregel stiftet der Autor, anders gesagt, einen notwendigen Zusammenhang zwischen Mittel und Zweck. Indem er also (mit Erfolg) anweist, dass Testamente beglaubigte Dokumente sein müssen, schafft er die anankastische Tatsache, dass jeder, der ein Testament ablegen will, zum Notar muss. Auch in diesem Kontext ist es lehrreich, zwischen den beiden im zurückliegenden Abschnitt erläuterten Perspektiven zu unterscheiden, um die Rolle der Regelakzeptanz durch die Adressaten richtig zu gewichten. Wir können uns wieder als Zeitzeugen des Anweisungsaktes des Autors denken und uns einen Akteur vor Augen führen, der diese Anweisung vernimmt, akzeptiert und folglich zur Rahmenbedingung seines Handelns macht. Dieser Akteur stellt die Anweisung des Autors gewissermaßen in Rechnung, indem er sein Handeln auf die betreffende Tatsache ausrichtet. Und dies tut er nicht anders, als er es etwa in dem Fall tut, in dem er den Bus nimmt, um zur Kanzlei des Notars zu gelangen. Auch hier, so nehmen wir an, ergreift er ein notwendiges Mittel zum Zweck. In der anderen Perspektive liegen der Anweisungsakt des Autors und die Akzeptanz der damaligen Adressaten schon lange zurück. In dieser Gesellschaft, so kann man sich denken, ist sich kaum noch jemand des Umstands bewusst, dass die notwendige Bedingung für den Status als Testament ursprünglich auf einer Anweisung eines längst verstorbenen Autors beruhte. Die Anweisung des ursprünglichen Autors ist lange schon in den Begriff von einem Testament eingegangen, den die Mitglieder dieser Gesellschaft von ihren Vorfahren übernommen haben und an ihren Nachwuchs weiterreichen. Diese Menschen, so haben wir gesehen, befolgen keine Anweisung, wenn sie zum Notar gehen oder Schachfiguren in der für sie typischen Weise bewegen. Diese Menschen agieren ihren betreffenden Begriffen entsprechend. So macht man das eben: Testamente ablegen und Schachspielen.
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Insofern die soeben ins Auge gefassten Akteure keine Anweisungen befolgen, wenn sie ihre Testamente beglaubigen lassen oder sich zum Schachspiel niedersetzen, können wir von ihnen auch nicht sagen, dass sie die ursprüngliche Anweisung der Regelautoren akzeptieren. Sie wissen, so kann man sogar annehmen, von diesen Anweisungen nichts. Daher sind diese Anweisungen auch nicht mehr in Kraft. Ohne Akzeptanz keine Geltung. Tatsache ist jedoch, dass es für die jetzt in dieser Gesellschaft agierenden Menschen unerheblich ist, ob es diese Anweisungen einst gab und noch gibt. Für sie ist es längst zu einer Tatsache geworden, die sich selbst im Dasein erhält, dass Testamente notariell beglaubigt sein und Schachläufer immer diagonal bewegt werden müssen. Diese Tatsachen sind in die Begriffe dieser Leute eingelassen. Daher stellen diese Akteure anankastische Tatsachen dieser Art in ihrem Handeln ganz selbstverständlich in Rechnung, so wie sie es tun, wenn sie in Rechnung stellen, dass man manche Hütten erst beheizen muss, um sie bewohnbar zu machen. So ist die Welt beschaffen, in der diese Menschen agieren. Um vor dem Hintergrund dieser Ausführungen auf das ursprüngliche Thema zurückzukehren, sollte man den Umstand zur Kenntnis nehmen, dass Regelautoren auch dann, wenn sie keine unmittelbaren Verhaltensanweisungen formulieren, sondern Vorkehrungsregeln erlassen, zumeist darauf aus sind, das Verhalten ihrer Adressaten in bestimmte Bahnen zu lenken. Der Gesetzgeber erlässt ja nicht Gesetze, weil es ihm Freude bereitet, wenn Testamente ordentliche Stempel und notarielle Unterschriften tragen. Der Gesetzgeber ist vielmehr daran interessiert, dass es für das Zustandekommen von Testamenten oder Kaufverträgen verbindliche, allgemeingültige und klare Regelungen gibt. An diese Regelungen sollen sich seine Adressaten halten. Diese Darstellung der Sachlage weist darauf hin, dass auch im Fall der Vorkehrungs- und Verfahrensregeln zumindest unterschwellig ein Aufforderungsgestus seitens des Autors im Spiel ist. Um diesen unterschwelligen Gestus kenntlich zu ma-
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chen, möchte ich jetzt eine Darstellungsform einführen, auf die ich später noch mehrfach zurückgreifen werde. Dieser Darstellung zufolge stellen wir uns vor, dass der Gesetzgeber im Akt seiner Regelsetzung verkündet: „So soll es sein: Um als Testament zu gelten, muss ein Schriftstück notariell beglaubigt sein!“ Die Phrase vor dem Doppelpunkt soll dabei kenntlich machen, dass es sich um einen imperativischen Sprechakt handelt, dass der Autor also, mit anderen Worten, eine generalisierte Anweisung zu geben versucht. Nach diesem Muster können wir uns jetzt alle Vorkehrungsregeln als (akzeptierte) Anweisungen denken, die als solche immer ein Sollen, besser gesagt eine Anweisung zum Ausdruck bringen. Auch der Spielautor legt fest: „So soll es sein: Um in diesem Spiel als Sieger zu gelten, muss man als erster alle Karten ausgespielt haben!“ Diese Art, die Anweisungen zu formulieren, macht nicht nur klar, inwiefern das (modale) Müssen, das im Fall der Vorkehrungsregeln typisch ist, in Wahrheit von einem (präskriptiven) Sollen umklammert ist. Diese Art, die betreffenden Anweisungen zu formulieren, ist auch dazu dienlich, eine Reihe weiterer Punkte deutlich zu machen. Erstens können wir jetzt sehen, inwieweit es doch seine Richtigkeit hat, die Verfahrensregeln trotz ihrer Rückführbarkeit auf zugrunde liegende Vorkehrungsregeln als präskriptive Regeln zu klassifizieren. Denn es klingt zwar, wie gesagt, oft künstlich, die Verfahrensregeln so zu formulieren, als ob sie aus dem Munde des Autors unmittelbar auf das Wollen und Handeln der Adressaten rekurrieren. Gleichwohl können wir die eben verwendeten Beispiele durchaus auch so darstellen, als ob der Autor einen derartigen Bezug vornimmt. Im einen Fall sagt der Gesetzgeber im Akt seiner Regelsetzung: „So soll es sein: Diejenigen Bürger, die ein Testament ablegen wollen, müssen ihre Dokumente notariell beglaubigen lassen!“ Im anderen legt der Spieleautor fest: „So soll es sein: Wer in diesem Spiel gewinnen will, muss schneller als seine Mitspieler zehn Karten in die Hände bekommen!“ Diese Formulierungen machen vielleicht am anschaulichsten klar, inwiefern das (modale) Müssen
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einer Vorkehrungs- bzw. Verfahrensregel vom (präskriptiven) Sollen einer Anweisung umklammert ist. Zweitens deutet die soeben veranschaulichte Art, den Anweisungsakt des Autors neu zu strukturieren, darauf hin, dass Vorkehrungs- und Verfahrensregeln in Wahrheit lediglich zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. Denn ob der Regelautor nun sagt, es solle so sein, dass Testamente notariell beglaubigt sein müssen, oder ob er sagt, es solle so sein, dass Adressaten, die ein Testament wollen, sich um eine notarielle Beglaubigung kümmern müssen, macht in der Sache keinen nennenswerten Unterschied. Wie man jetzt sieht, hatten wir es die ganze Zeit über mit zwei unterschiedlichen Arten von Regelsätzen zu tun, die immer ein und dieselbe Regel zur Sprache brachten. Der Unterschied zwischen Vorkehrungs- und Verfahrensregelsätzen ist nicht größer als der zwischen den Aussagen „Weiß beginnt“ und „Wer die weißen Figuren hat, darf anfangen.“ Daher werde ich ab jetzt nicht mehr zwischen Vorkehrungs- und Verfahrensregeln unterscheiden. Denn es gibt hier in der Sache keinen Unterschied. Auch dieser Schritt macht die Regellandschaft überschaubarer. Diese Wendung der Geschichte löst drittens auch das Problem, dass Vorkehrungsregeln strukturell nicht mit den übrigen Regeltypen übereinzustimmen schienen. Da die betreffenden Regelsätze nicht in der Form von Verhaltensregeln formuliert waren, ließen sie die dreigliedrige Struktur vermissen, die wir als gemeinsames Merkmal aller Regeln ans Licht gestellt haben. Aber dieser vermeintliche Mangel erweist sich jetzt, da wir den relevanten Unterschied von der sachlichen Ebene der Regeln auf die sprachliche Ebene der Regelsätze verlagert haben, als Scheinproblem. Dass Regelsätze anders als Regeln keine verbindlichen Strukturmerkmale aufweisen, wussten wir schon lange. Will man die Regelstruktur sprachlich kenntlich machen, muss man sich bei der Formulierung des Regelsatzes eben am Modell eines Verfahrensregelsatzes orientieren. In Fall dieser Formulierungen der Regel ist die dreigliedrige Regelstruktur, wie gesehen, unschwer zu erkennen.
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Im Gegenzug erweist sich durch die Verlagerung des Unterschieds von der sachlichen auf die sprachliche Ebene viertens auch die Frage nach dem Regelstatus der Verfahrensregeln als Scheinproblem. Diese Frage ging aus der Annahme hervor, dass Verfahrensregeln nicht von einem Autor stammen, sondern aus den Vorkehrungsregeln eines Autors abzuleiten sind. Wie wir inzwischen jedoch wissen, ist die Vorstellung von einem solch einseitigen Ableitungsverhältnis unbegründet. Es gibt keinen sachlichen Unterschied zwischen Vorkehrungs- und Verfahrensregeln. Es gibt nur einen sprachlichen Unterschied zwischen zwei gleichwertigen Möglichkeiten, die betreffenden Anweisungen zu formulieren. Daher kann sich ein Autor durchaus auch eines Verfahrensregelsatzes bedienen, um die betreffende Anweisung zu geben. Fünftens ist es möglich, eine Verallgemeinerung vorzunehmen, um das entfaltete Bild trotz aller Komplikationen, die in den zurückliegenden Abschnitten zur Sprache kamen, wieder deutlich zu vereinheitlichen. Und an diese Vereinfachung werden wir in den späteren Kapiteln anknüpfen. Zu diesem Zweck stellen wir uns auch das Erlassen von Gebots- und Erlaubnisregeln in Analogie zur veranschaulichten Weise des Erlassens von Vorkehrungs- bzw. Verfahrensregeln vor. Auch in diesen Fällen kann man sich unschwer die Situation vorstellen, in der der Regelautor Dinge dieser Art von sich gibt. „So soll es sein: Meine Kinder müssen abends pünktlich zu Hause sein!“ – Und: „So soll es sein: Die Älteste von euch darf sonntags entscheiden, welchen Kinofilm wir uns anschauen!“ Trotz ihrer Künstlichkeit zeigen derart formulierte Sätze am deutlichsten, inwiefern alle Typen präskriptiver Regeln in einem Sollen gründen. Durch das erfolgreiche Aufstellen jedes Typs von präskriptiver Regel setzt der Autor seine Vorstellung davon um, wie die Dinge im Allgemeinen geregelt sein sollen. Präskriptive Regeln, so kann man daher auch sagen, sind allgemeine Regelungen.
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11 Das im zurückliegenden Abschnitt eingeführte Regelungsschema macht es uns leicht, zum Abschluss des Kapitels auch den letzten Regeltypus, den wir zu betrachten haben, in das Anweisungsparadigma einzugliedern. Auch Straf- bzw. Sanktionsregeln sind präskriptiver Natur. Der Autor spricht: „So soll es sein: Wer sich gegen die Regel R vergeht, wird so und so bestraft!“ Die präskriptive Natur der Strafregeln liegt meines Erachtens auf der Hand. Denn auch hier handelt es sich offenkundig um eine Art von Anweisung. Schwieriger ist indes die Beantwortung der Frage, wer der Adressat dieser Anweisungen ist. Zweifellos ist es der Fall, dass der Autor einer Strafregel primär Einfluss auf das Verhalten der Adressaten seiner übrigen präskriptiven Regeln zu nehmen versucht. Diesen Einfluss will er nehmen, indem er diesen Adressaten durch die Strafandrohung einen Grund dafür liefert, sich an die übrigen Regeln zu halten. Oder umgekehrt formuliert: Durch diese Strafandrohung möchte er den Adressaten einen Grund geben, der gegen ein regelwidriges Handeln spricht und insofern vor diesem Handeln abschreckt. Gleichwohl können wir die Adressaten der Gebots- und Verfahrensregeln des Autors nicht als die unmittelbaren Adressaten seiner Strafregeln bestimmen. Denn den Strafregeln entsprechend handeln können offenkundig nur solche Akteure, die strafen, nicht die, die gegebenenfalls bestraft werden sollen. Insofern lag Hans Kelsen nicht ganz falsch mit seiner Überzeugung, die Rechtsregeln eines politischen Autors wendeten sich in erster Linie nicht an die Bürger, sondern an die Amtsträger des Staates.20 Falsch war natürlich die hoffnungslos überzogene Annahme, dies sei mit Blick auf alle staatlichen Regeln der Fall. Mit Blick auf die Strafregeln können wir Kelsen jedoch folgen. Die primären Adressaten dieser Regeln, wie man sagen könnte, sind die Akteure, die im Dienst des Regelautors die Bestrafung solcher Menschen übernehmen, die sich gegen eine der übrigen präskriptiven Regeln vergangen haben. Diese Menschen wiederum sind insofern die sekundären Adressaten der
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Strafregeln, als ein vernünftiger Regelautor die Hoffnung hegt, dass seine Strafandrohungen den sekundären Adressaten zureichende Gründe dafür liefern, sich nicht gegen seine übrigen Gesetze zu vergehen. Ziehen die sekundären Adressaten diese Gründe hinreichend in Betracht, kann der Autor seinen Bestrafungsstab in der Kaserne behalten. Der Regelautor, so können wir uns diesen Fall auch denken, weist seine Handlanger laut und damit auch für alle sekundären Adressaten gut vernehmlich an, Regelbrecher zu bestrafen. „Immer wenn ihr in die Situation geratet, dass ein Bürger des Vergehens V überführt worden ist, sollt ihr ihn auf die Art A bestrafen!“ Der Umstand, dass diese generalisierte Anweisung für den Fall aller Fälle ergangen ist, soll potentielle Straftäter davon abhalten, den Fall aller Fälle eintreten zu lassen. Und bemerkenswert häufig klappt das ja auch. *** Mit der Erkundung der Regelwelt sind wir fast fertig. Es schließt noch ein Kapitel an, das Einwände zur Sprache bringt, deren Zurückweisung auch dazu dienen soll, den einen oder anderen Aspekt jener Welt nachzutragen. Der aufmerksame Leser sollte jedoch jetzt schon wissen, was Regeln sind: Manche sind Anweisungen; manche sind Ratschläge; und manche sind Absichten. Deskriptive Regeln, dies sei in Erinnerung an das erste Kapitel hinzugefügt, sind (gegebenenfalls doppelt) generalisierte Aussagen: Alle Entitäten der Art E legen unter Bedingungen der Art B immer das Merkmal oder Verhalten M an den Tag. Regeln aller Art teilen diese dreigliedrige Regelstruktur. Diese Struktur macht Regeln zu Regeln. Aber ich hoffe, es ist in diesem Kapitel deutlich geworden, dass die Unterschiede zwischen den Regelarten mindestens so wichtig wie ihre Gemeinsamkeit sind. Man sollte so grundverschiedene Dinge wie Anweisungen, Ratschläge, Absichten und Aussagen nicht miteinander verwechseln.
V Der Fall Hart gegen Austin Gesetzgeber, so das Bild, das sich im Zuge der zurückliegenden Überlegungen entwickelt hat, sind Regelautoren. Ein politischer Regelautor erlässt und verändert komplexe Regelungssysteme, indem er von Zeit zu Zeit sagt: „So soll es sein: Akteure von dieser Beschaffenheit sind gehalten, in Situationen der Art S Dinge der Art H zu tun; Akteure von jener Beschaffenheit sind befugt, in Situationen der Art T Dinge der Art I zu tun; Entitäten der Art E gelten nur dann als ein genuines E, wenn sie die und die Beschaffenheit aufweisen; und Bürger, die sich gegen eine meiner Regeln vergehen, werden von diesen Leuten dort auf jene Weise bestraft.“ Diese Darstellung legt, wenn man so will, das Skelett eines Rechtsstaats frei. Den einen oder anderen Leser wird die Charakterisierung präskriptiver Regeln als generalisierte Anweisungen, die in den zurückliegenden beiden Kapiteln eingeführt, erläutert und entfaltet wurde, sicherlich schon mehrfach an die Rechtstheorie von John Austin erinnert haben. Solche Regeln, die im juristischen Sinn des Wortes Gesetze sind, wurden von Austin als generelle Anordnungen bzw. Befehle (commands) charakterisiert.1 Dabei ging er davon aus, dass Befehle per Definition sanktionsbewehrt sind, der Autor des Befehls also dem Adressaten (glaubhaft) eine Strafe für den Fall androht, dass dieser den Befehl nicht ausführt. Zur Illustration dieses Standpunkts dient in der Literatur zumeist ein Bankräuber. Dieser Räuber befiehlt mit gezückter Pistole einem Bankangestellten, ihm das in seiner Kasse befindliche Geld auszuhändigen, und flankiert seinen Befehl mit der Drohung, den Mann ansonsten zu erschießen. Rufen wir uns vor diesem Hintergrund Herbert Harts einflussreiche Kritik an Austins Position in Erinnerung. Hart ar-
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gumentierte dafür, dass die Charakterisierung von Gesetzen (im juridischen Sinn des Wortes) als sanktionsbewehrte Befehle das Konzept des Gesetzes und folglich den Begriff des (objektiven) Rechts nicht adäquat zu erfassen erlaubt. Stattdessen, so Harts prominente Gegenposition, seien Rechtssysteme als Konglomerate bzw. Kombinationen aus (primären und sekundären) Regeln, mithin also die einzelnen Gesetze solcher Systeme als Regeln zu verstehen.2 Angesichts dieser Kritik von Hart an Austin ergibt sich eine interessante Diskussionskonstellation: Austin hält Gesetze für Befehle. Hart sagt, Gesetze seien keine Befehle, sondern Regeln. Und unsere Antwort auf die Frage, was denn nun Regeln sind, führte uns zurück in die Nähe von Austin. Denn (präskriptive) Regeln wurden zwar nicht als generelle Befehle, aber doch als etwas Befehlsähnliches, nämlich als Anweisungen charakterisiert. Angesichts dieser Gesprächskonstellation dürfte es fruchtbar sein, Harts Kritik an Austin noch einmal ins Auge zu fassen, um zu sehen, ob diese auch unsere Deutung des Regelbegriffs trifft. Liefert Hart Gründe dafür, die hier vertretene Position zu revidieren oder gar zu verwerfen? Ich werde mich im Folgenden der Übersichtlichkeit halber auf die drei hauptsächlichen Kritikpunkte konzentrieren, die Hart vor allem im dritten und zum kleineren Teil auch im vierten Kapitel seines nach wie vor lesenswerten Buches geltend gemacht hat. Dabei werde ich die Gelegenheit nutzen, hier und da an meine bisher entwickelte Position einige Ergänzungen anzufügen. 1 Der erste Einwand von Hart gegen Austins Rechtslehre besagt, dass das Bankräubermodell lediglich dazu dient, eine von zwei unterschiedlichen Gruppen von Gesetzen in den Griff zu bekommen. Brauchbar sei das Modell nämlich bestenfalls mit Blick auf solche Gesetze, die den Kern des Strafgesetzes bilden, also den Adressaten bestimmte Typen von Handlungen (bzw. Unterlassungen) abverlangen. Es geht offenkundig um Gebote und Verbote. Diesen Gebots- und Verbotsgesetzen stellt Hart eine Gruppe entgegen, die in der Literatur zuweilen unter der
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Bezeichnung Ermächtigungsregeln firmieren. Wie wir gleich sehen werden, fasst Hart in dieser Gruppe unglücklicherweise sowohl Berechtigungs- als auch Verfahrensregeln zusammen. Der relevante Punkt besteht momentan einzig und allein darin, dass Harts Kritik an Austin insofern vollkommen berechtigt erscheint, als es unpassend wirkt, präskriptive Regeln, die keine Gebots- oder Verbotsregeln sind, unter den Begriff des Befehls zu subsumieren. Denn wenn ein Regelautor festlegt, wer unter welchen Umständen welche Arten von Dingen tun darf, oder regelt, dass ein potentielles X notwendigerweise diese oder jene Merkmale aufzuweisen hat, dann scheint er den involvierten Adressaten nicht zu befehlen, bestimmte Dinge zu tun oder zu lassen. Darüber hinaus sind derlei Regeln, wie Hart zu Recht betont, nicht sanktionsbewehrt. Wer nicht tut, was er darf, wird dafür nicht bestraft. Und wer zum Pfarrer geht, um sein Testament beglaubigen zu lassen, wird zwar mit leeren Händen heimkehren. Aber auch dafür gibt es keine Strafe von Staats wegen. Dass Harts Kritik also Austins überpauschalisierte, weil zu undifferenzierte Charakterisierung von Rechtsregeln als Befehlen trifft, lässt sich schwerlich bezweifeln. Aber es dürfte klar sein, dass diese Kritik nicht unsere Charakterisierung von präskriptiven Regeln als Anweisungen berührt. Dies liegt zum einen daran, dass der Begriff der Anweisung viel umfassender ist als der des Befehls, der nicht von ungefähr vornehmlich an militärische Anweisungen denken lässt. Zum anderen macht aber das zu Beginn des Kapitels noch einmal in Erinnerung gerufene Regelungsschema deutlich, inwiefern man auch das Erlassen von präskriptiven Regeln, die keine Gebots- oder Verbotsregeln sind, als ein Gebieten, sprich als Anweisungsakt deuten kann. Wenn der Gesetzgeber beispielsweise sagt, wie es hinsichtlich der Verteilung von Geboten und Befugnissen in seinem Rechtsraum im Allgemeinen aussehen soll, dann ist auch die involvierte Zuweisung der Befugnisse ein Teil der (komplexen) Anweisung.3
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Insofern wir von Anfang an davon ausgegangen sind, dass die Menge der präskriptiven Regeln auch Sanktionsregeln enthält, können wir in diesem Zusammenhang einer weiteren Beobachtung von Hart problemlos Rechnung tragen. Wie Hart gegen Austin geltend macht, kann es nicht im Begriff des Gesetzes liegen, dass ein Vergehen gegen die Regel bestraft wird. Wie wir wissen, sind viele präskriptive Regeln des Gesetzgebers nicht sanktionsbewehrt. Nur manche seiner Regeln hat er ausdrücklich mit Sanktionsregeln verknüpft. Vor allem seine Gebots- und Verbotsregeln weisen fast immer eine solche Verknüpfung auf. An andere Regeln knüpft der Gesetzgeber jedoch nicht unbedingt Sanktionsregeln. Denn er hat hierfür keinen Grund. Wenn er etwa eine Befugnis austeilt oder ein Verfahren standardisiert, hat er im Normalfall wenig Anlass, den Regeladressaten irgendwelche Sanktionen anzudrohen. Wozu auch? Auch Drohen macht oft Mühe. Und diese Mühe kann er sich in solchen Fällen sparen. Interessant ist der bereits angedeutete Umstand, dass Hart innerhalb der Gruppe von nicht sanktionsbewehrten Regeln, die er den Gebotsregeln gegenüberstellt, nicht zwischen Erlaubnis- und Verfahrensregeln unterscheidet. Man kann ihm mit gutem Grund sogar unterstellen, dass er den Unterschied zwischen diesen beiden Regeltypen übersieht. Vermutlich war sein Denken in diesem Zusammenhang zu stark von seiner Oppositionshaltung gegenüber Austin und seinem Präskriptivismus geprägt. Nun sind diese beiden Typen von Regeln nicht nur aufgrund der holistischen Natur von Regeln in der Tat leicht zu verwechseln. Wie bereits einmal gesagt, besteht diese Natur darin, dass Regeln fast nie solitär auftreten, sondern normalerweise Bestandteil komplexer Regelsysteme sind. Eine Verwechslung genau dieser beiden Regeltypen liegt aber auch deshalb nahe, weil die Vorkehrungs- bzw. Verfahrensregeln, wie im zurückliegenden Kapitel gesehen, in vielen Fällen aufgrund ihres konstitutiven Charakters Handlungsoptionen bereitstellen, die es unabhängig von den Praktiken, die durch diese Regeln
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organisiert sind, gar nicht geben würde. Wenn es keine Vorkehrungsregeln gäbe, die klären, wie ein rechtskräftiges Testament auszusehen hat, dann könnte man keine rechtskräftigen Testamente ablegen.4 Wenn es keine Regeln gäbe, die klären, wann der König schachmatt ist, dann könnte man keine Könige mattsetzen usw. Und es kann leicht passieren, dass man derartige Handlungsoptionen, die auf Verfahrensregeln beruhen, mit Befugnissen verwechselt. Gleichwohl müssen wir in der Sache unterscheiden, um Harts Verwechslung zu vermeiden. Es gibt auf der einen Seite die Verfahrensregeln, aus denen beispielsweise hervorgeht, was man zu tun hat, wenn man einen gültigen Kaufvertrag abschließen will. Wie im zurückliegenden Kapitel zu sehen war, definieren diese Regeln zugleich auch, was es mit dem Abschließen eines rechtskräftigen Kaufvertrags auf sich hat. Denn aus diesen Regeln geht hervor, welche Handlungen bzw. Hantierungen unter die Beschreibung „einen Vertrag abschließen“ fallen. Aber mit einer Regel dieses Typs ist noch lange keine Befugnis bestimmt. Denn der Umstand, dass man gewisse Dinge im Rahmen bestimmter Praktiken tun kann, klärt freilich noch nicht, wer es ist, der unter welchen Voraussetzungen befugt ist, die betreffenden Dinge zu tun.5 Auf der anderen Seite muss es daher Regeln darüber geben, welcher Kreis von Adressaten unter welchen Umständen dazu befugt ist, diejenigen Dinge zu tun, die man kraft einer Vorkehrungsregel tun kann. Die Regel, wonach nur der Präsident der USA über den Einsatz der Nuklearwaffen seines Landes befinden darf, war eines unserer Beispiele hierfür. Diese Erlaubnisregel klärt nicht, was der Präsident wie und wo zu tun hat, wenn er die betreffenden Waffen im Kriegsfall freigeben will. Dafür gibt es bestimmt auch einschlägige Verfahrensregeln. Aber diese Regeln sind nicht mit der Erlaubnisregel identisch, die dem Präsidenten die genannte Befugnis zuweist. Erst kommt das Können. Dann stellt sich die Frage, wer wann darf, was er kann. Genau diesen wichtigen Unterschied verschmiert die Konzeption einer Ermächtigungsregel. Und aus diesem Grund ziehe ich es vor, auf dieses Konzept zu verzichten.
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2 Damit komme ich zum zweiten Kritikpunkt, den Hart gegen Austin geltend macht. Am Beispiel solcher Gesetze, die in der Tradition des englischen Rechtsdenkens zum Gewohnheitsrecht gehören, macht Hart darauf aufmerksam, dass sie insofern nicht nach dem Bankräubermodell als Befehle charakterisiert werden können, als es in ihrem Fall niemanden gibt, der als Autor des Befehls identifiziert werden kann. Da man aber einerseits von einem Befehl nur dann sinnvoll reden kann, wenn jemand zu identifizieren ist, der den Befehl gegeben hat, es aber andererseits auch Rechtsregeln zu geben scheint, die auf keinen nachweisbaren Autor zurückgehen, kann es nicht sinnvoll sein, Rechtsregeln generell nach dem Modell des Befehls zu deuten.6 Auch diese Kritik von Hart trifft Austins Position. Und anders als der erste Punkt geht diese Argumentation von Hart an unserer Deutung präskriptiver Regeln nicht spurlos vorüber. Denn wie im Fall von Befehlen ist auch im Fall von Anweisungen aus begriffsnotwendigen Gründen ein Autor erforderlich. Die Rede von einer Anweisung ohne Anweiser ist haltlos. Nun ist es zwar so, dass es mit Blick auf eine sehr große Anzahl präskriptiver Regeln problemlos möglich ist, die Autoren der betreffenden Anweisungen dingfest zu machen. Aber es ist zweifellos ebenso der Fall, dass es auch solche Regeln dieser Art gibt, für die wir nicht ohne Weiteres einen Autor nachweisen können. Und damit sind wir wieder beim Phänomen der anonymen Autorschaft, das im vorletzten Kapitel bereits gestreift wurde, als es um das Phänomen der anonymen Adressaten ging. Zwei Gruppen präskriptiver Regeln, für die es keine Autoren zu geben scheint, kamen bereits zur Sprache. Eine dieser Gruppen bilden die sozialen Regeln, denen wir in unserem alltäglichen Umgang miteinander folgen. Regeln des Anstands; Regeln des guten Benehmens; Regeln der Etikette; soziale Konventionen – oder wie immer man sie nennen will. Die andere Gruppe bilden die Regeln, die sich in unserem Umgang mit der eigenen Sprache nachweisen lassen. Hier geht es um die Regeln, nach denen Linguisten forschen, wenn sie etwa das Ziel verfolgen, die Grammatik einer natürlichen Sprache zu verfas-
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sen. Und nehmen wir jetzt noch eine dritte Gruppe anonymer Regeln hinzu, die bisher noch nicht eigens thematisiert wurden. Auch für die Regeln, die den Kern unserer moralischen Kultur zu konstituieren scheinen, können wir keine konkreten Autoren namhaft machen.7 Inwieweit kann es angemessen sein, solche Regeln gleichwohl als generalisierte Anweisungen aufzufassen? Natürlich könnte man an dieser Stelle zur Verteidigung der hier vertretenen Position vorbringen, dass jede, aber auch wirklich jede dieser mutmaßlich anonymen Regeln irgendwann in der zurückliegenden Geschichte des Menschengeschlechts zum ersten Mal aufgestellt worden sein muss. Und man könnte dann versucht sein, diejenige Person (oder diejenige Gruppe von Personen) zum (kollektiven) Autor zu erklären, die in jenem historischen Moment erstmals die betreffende Regel an bestimmte Menschen adressiert hat. Um im Bild zu bleiben: Auch anonym veröffentlichte Bücher haben Autoren. Dass wir den Autor einer präskriptiven Regel nicht kennen, heißt folglich nicht, dass es ihn nicht gibt. Aber diese Sicht der Dinge kann aus einem einfachen Grund nicht zufriedenstellen. Denn es ist vollkommen unplausibel, solche Regeln, deren mutmaßliche Autoren in dunkler Vorzeit gelebt und längst verstorben sind, als präskriptive Regeln zu erachten, die auch noch für uns heute Lebenden generalisierte Anweisungen sind. Wieso sollten wir unter solchen Umständen die Regeln noch akzeptieren? Wieso sollten diese Regeln unter solchen Umständen für uns noch gelten? Eine andere Möglichkeit, auf das Problem der anonymen Regeln zu reagieren, besteht darin, die Mitglieder der heute bestehenden Gemeinschaften, in denen diese Regeln gelten, zum kollektiven Autor der betreffenden Regeln zu erklären. Diese Erklärung ist insofern ein Stück weit plausibel, als es ja in der sozialen Realität tatsächlich diese Gruppenmitglieder sind, die voneinander nicht nur die Befolgung der betreffenden Regeln erwarten. Es sind auch die Mitglieder der Gruppe, die sich wechselseitig auf punktuelle Vergehen gegen die etablierten
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Regeln hinweisen und nicht selten für solche Vergehen wechselseitig bestrafen. Aber auch diese Sicht der Dinge kann aus mindestens zwei Gründen nicht ohne Weiteres überzeugen. Erstens ist die Menge der Adressaten dieser Regeln im Fall der meisten Gemeinschaften, die wir im gegebenen Kontext ins Auge zu fassen haben, ein ziemlich großer und vor allem sehr heterogener Haufen. Und es erscheint in keiner Weise angemessen, einen solch heterogenen Haufen interagierender Menschen zu einem kollektiven Autor zu erklären. Dazu fehlt es gleichsam an Substanz. Denn es gibt nichts, was beispielsweise wir Sprecher einer gemeinsamen Sprache in einem auch nur einigermaßen gehaltvollen Sinn dieser Worte alle gemeinsam tun. Folglich gibt es auch nichts, was wir gemeinsam mit den Regeln tun. Zwar mögen wir alle (oder fast alle) die betreffenden Regeln in konkreten Situationen anwenden oder befolgen. Aber wenn alle dasselbe tun, heißt dies noch lange nicht, dass sie etwas gemeinsam tun. Auch die Rede von der kollektiven Autorschaft ist in solchen Kontexten eine philosophische Schimäre. Zweitens ist es schlicht und einfach nicht wahr, dass irgendwer von uns der (Co-)Autor auch nur einer der betreffenden Regeln ist. Niemand von uns hat sich die Regeln der deutschen Grammatik einfallen lassen. Niemand von uns hat entschieden, dass man nicht splitternackt eine Kirche betritt. Niemals wurde unter uns ausgemacht, wer welche moralischen Rechte und Pflichten hat. Auf diesem Weg kommt das Denken folglich nicht weiter. Dieser zweite Punkt stellt sich indes anders dar, wenn wir die Sache aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Um eine plausiblere Sicht auf das Phänomen der anonymen Regeln zu entwickeln, ist es hilfreich, noch einmal eine Perspektive einzunehmen, die wir bereits eingenommen haben, als wir im zweiten Kapitel auf der Grundlage des Unterschieds zwischen präskriptiven und deskriptiven Regeln zwischen dem Befolgen und dem Folgen von Regeln unterschieden haben. Kein kompetenter Sprecher befolgt die Regeln, so habe ich behauptet, die in
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den Lehrbüchern über seine Muttersprache formuliert sind. Wo von den Regeln einer natürlichen Sprache die Rede ist, ist ontologisch gesehen primär das regelmäßige Sprachhandeln der Nutzer einer gemeinsamen Sprache intendiert. Es geht also um empirisch nachzuweisende Regelmäßigkeiten, die durch deskriptive Regeln zutreffend zu beschreiben sind. Diese Regelmäßigkeiten sind in den meisten Fällen Konventionen im Sinne von Verhaltensregularitäten, die sich über einen längeren Zeitraum und oft über viele Generationen von Regelsubjekten hinweg in einer Population interagierender Akteure eingespielt haben.8 Deskriptive Regeln, die derartige Regularitäten sprachlich wiedergeben, haben freilich mit den präskriptiven Regeln, die wir als Anweisungen charakterisiert haben, nicht sonderlich viel zu tun. Denn diese beiden Arten von Regeln teilen lediglich die gemeinsame Regelstruktur. Diese Gemeinsamkeit darf jedoch über die Verschiedenheit der beiden Arten von Regeln nicht hinwegtäuschen. Ein zu vereinheitlichender Begriff der Regel ist gefährlich. Die Einzelhandlungen der Akteure, die in ihrer Gesamtheit eine Regularität komponieren, so habe ich behauptet, sollte man als dispositionales Handeln deuten. Die betreffenden Dispositionen (Fähigkeiten) wurden den Leuten in ihrer Kindheit antrainiert. Den deskriptiven Regeln, durch die man die Regularitäten zur Sprache bringt, kann man, wie ich ebenfalls behauptet habe, einen präskriptiven Dreh verleihen. Man kann, anders gesagt, auf ihrer Grundlage präskriptive Regelsätze formulieren und sie so zum Inhalt einer Anweisung machen. Dies tut man etwa dann, wenn man einen Mitmenschen auf einen Fehltritt aufmerksam machen möchte, der ihm unterlaufen ist. Dieser Mensch ist gewissermaßen vom ausgetretenen Pfad abgewichen. Und durch einen präskriptiv formulierten Regelsatz versucht man, ihn auf den gemeinsamen Weg zurückzurufen. Präskriptiv formulierte Sprachregeln kommen natürlich auch dann ins Spiel, wenn es gilt, noch nicht kompetente Sprecher in den Umgang mit der betreffenden Sprache einzuweisen. Für diese Novizen, die die betreffenden Dispositionen noch
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nicht erworben haben, gilt unter solchen Umständen, dass sie die präskriptiv formulierten Regeln anwenden oder befolgen müssen, wenn sie ihren Wunsch realisieren wollen, mit den übrigen Nutzern dieser Sprache erfolgreich zu kommunizieren. Diese Novizen reihen sich durch die Befolgung der generalisierten Anweisungen in die bereits bestehenden Regularitäten ein. Zumindest ist es dies, woran sie während des Sprachunterrichts orientiert an den Regeln hartnäckig arbeiten. Und der springende Punkt in diesem Zusammenhang ist schließlich der, dass wir in solchen Situationen ohne Weiteres den konkreten Sprachlehrer als den konkreten Autor der präskriptiv formulierten Regel auffassen können. Dieser Autor adressiert seine generalisierte Anweisung an seine konkreten Schüler. Nach diesem Bild können wir uns die Sachlage auch im Fall der übrigen sozialen Regeln vorstellen. Auch diese Regeln lassen sich als Konventionen im skizzierten Sinn des Wortes deuten, die unter den Mitgliedern einer Gesellschaft etabliert sind. Auch hier ist beispielsweise die präskriptive Regel, dass man eine Person beim ersten Kontakt am betreffenden Tag begrüßen soll, wenn man sie kennt, gewissermaßen ein pädagogisches Derivat aus einer deskriptiven Regel. Diese deskriptive Regel besagt, dass sich die Mitglieder unseres Kulturkreises regelmäßig begrüßen, wenn sie sich kennen und sich am selben Tag nicht schon einmal begrüßt haben.9 Dies ist nun einmal so. Derart geht es bei uns zu. Das ist, wenn man so will, unsere Art, im März in der Regel verschneit zu sein. Und abgesehen von den wenigen Situationen, in denen wir aus irgendwelchen Gründen tatsächlich die pädagogisch derivativen, also präskriptiven Regeln befolgen, befolgen wir die betreffenden Regeln deskriptiver Art natürlich nicht. Unser Handeln folgt ihnen nur. Unser regelmäßiges, weil auf Dispositionen gestütztes Tun ist, mit anderen Worten, durch solche deskriptiven Regeln beschreibbar. Angesichts dieser Zusammenhänge können wir in Übereinstimmung mit der am Beispiel der Sprachregeln dargelegten Position behaupten, dass die Eltern die Autoren der präskriptiv umformulierten Regeln sind. Die Eltern erklären ihren
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Kindern, dass man die Nachbarn grüßen soll, wenn man ihnen im Treppenhaus begegnet. Anonyme Regeln präskriptiver Art gibt es nicht. Es kann sie aus konzeptuellen Gründen nicht geben. Denn Regeln dieser Art sind Anweisungen. Und jede Anweisung muss aus dem Munde eines Autors stammen. Wie gesehen, stützen sich Regelautoren zuweilen auf bestehende Regularitäten, um durch die Formulierung einer Anweisung das Handeln konkreter Adressaten zu beeinflussen. Ist dies der Fall, haben wir es mit einer präskriptiven Regel zu tun. Doch die betreffende Regel ist dann nicht länger anonym. 3 In Reaktion auf die Ausführungen des zurückliegenden Abschnitts über die deskriptiv-sozialen Grundlagen mutmaßlich präskriptiver Regeln liegt der Einwand nahe, es sei doch gerade Hart gewesen, der uns gelehrt habe, dass soziale Regeln mehr sind als nur Verhaltensregelmäßigkeiten. Man müsse zwischen sozialen Regeln und bloßen sozialen Gewohnheiten unterscheiden, die sich mit Blick auf das Handeln einer Gruppe beobachten und durch deskriptive Regelsätze zur Sprache bringen lassen. Zu erinnern sei an die drei Merkmale, durch die sich „echte“ soziale Regeln laut Hart von bloßen Verhaltensregularitäten bzw. sozialen Gewohnheiten unterscheiden.10 Erstens könne nur dann von der Existenz einer sozialen Regel die Rede sein, wenn Akteure, die sich nicht an die Regel halten, für ihr Tun von den anderen Mitgliedern der Gruppe sanktioniert bzw. kritisiert werden. Auf diesem Weg müsse generell durch derartige Sanktionspraktiken ein gewisser Zwang zum regelkonformen Handeln generiert sein.11 – Zweitens sei es für soziale Regeln definierend, dass sie von den Mitgliedern der betreffenden Gruppe als Gründe für die genannten Sanktionen und Zwangsmaßnahmen akzeptiert werden. Im Fall bloßer Gewohnheiten seien solche Gründe nicht im Spiel. Wir haben keinen Grund, einen Mitmenschen dafür zu kritisieren, dass er nicht unsere Gewohnheit teilt, jeden Samstagabend ins Kino zu gehen. – Und diese beiden Sachverhalte gingen drittens mit
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einem Charakteristikum sozialer Regeln einher, das Hart den internen Aspekt dieser Regeln nennt. Gemeint ist damit in erster Linie der Umstand, dass die Mitglieder der Gruppe im Großen und Ganzen die Überzeugung teilen, dass sich alle Akteure an die betreffenden Regeln halten sollten. Insofern stellen diese Regeln aus der Sicht (nahezu) aller Mitglieder der Gruppe einen geteilten Standard für das korrekte Handeln dar. – Nur wenn eine soziale Verhaltensregularität diese drei notwendigen Bedingungen erfüllt, kann laut Hart von der Existenz einer sozialen Regel gesprochen werden. Dieser Einwand gegen die hier vertretene Sicht, der zufolge in vielen Fälle, in denen man fälschlicherweise von sozialen Regeln spricht, wo in Wahrheit nur Verhaltensregularitäten und folglich deskriptive Regeln im Spiel sind, beruht seinerseits erneut auf einer unzureichenden Unterscheidung. Unterschieden wird nicht zwischen solchen deskriptiven Regeln, die Aussagen über empirisch nachweisbare Regularitäten im Verhalten der Mitglieder einer Gruppe sind, und den präskriptiven Regeln. Hart legt jedenfalls durch seine Diskussion der Problematik die Lesart nahe, soziale Regeln seien eine Teilmenge der Verhaltensregularitäten, nämlich diejenigen Regularitäten, die zusätzlich die drei genannten Bedingungen erfüllen. Gerade so sollte man die Dinge jedoch der hier vertretenen Position gemäß nicht länger sehen. Denn (präskriptive) Regeln verstanden als Anweisungen sind etwas grundsätzlich anderes als irgendwelche Verhaltensregularitäten oder deskriptive Regeln, also Aussagen über das Bestehen derartiger Regularitäten.12 Regeln der einen Art können daher nicht als Sonderfall von Regeln der anderen Art begriffen werden. Man sollte von dem bemerkenswert weit verbreiteten Gedanken Abschied nehmen, es gäbe deskriptive Regeln oder empirische Regularitäten, denen per se schon irgendwie präskriptive oder gar normative Qualitäten eingeschrieben sind.13 Dieser dubiose Gedanke ist ein fehlgeleitetes Produkt einer undifferenzierten Konzeption von Regeln. Harts Überlegung macht jedoch auf die Tatsache aufmerksam, dass man auch eine Reihe individual- und sozialpsycholo-
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gischer Fakten berücksichtigen muss, um den Zusammenhang zwischen etablierten Konventionen und den generalisierten Anweisungen zu verstehen, die einzelne Mitglieder sozialer Gruppen auf der Grundlage der etablierten Konventionen an ihre Mitmenschen richten. 14 Diese psychologischen Fakten betreffen solche Umstände wie etwa den, dass Menschen dazu neigen, aufgrund der Erfahrung regelmäßigen Verhaltens seitens ihrer Mitmenschen in der Vergangenheit ein entsprechendes Verhalten auch in der Zukunft zu erwarten. Dieser menschlich-allzumenschliche Hang zur Ausprägung von Erwartungen und Gewohnheiten wurde vor geraumer Zeit schon von David Hume exploriert.15 Aber auch in der neueren Literatur gibt es hierzu gut abgesicherte Überlegungen.16 Zuweilen neigen Menschen auch dazu, Handlungen gemäß etablierter Verhaltensmuster nur deshalb für richtig zu erachten, weil diese Muster etabliert, gewohnt bzw. eingespielt sind. Dieser konservative Hang, der freilich bei manchen Individuen mehr, bei anderen weniger stark ausgeprägt ist, kann man sicherlich auf der Grundlage evolutionstheoretischer Überlegungen erklären. Wir wären heute nicht, wo wir sind, hätten all unsere Vorfahren täglich das Rad neu zu erfinden versucht. Dieser Hang zum Konservatismus liefert nicht zuletzt auch eine Erklärung dafür, dass Menschen andere Menschen zuweilen tadeln oder anderweitig sanktionieren, wenn sie sich nicht an die etablierten Regeln der Gruppe halten. Jeder kennt das. Man darf in diesem Kontext aber auch nicht den schlichten Tatbestand aus dem Sinn verlieren, dass die meisten sozialen Regeln, denen die Mitglieder einer Gruppe auf der Grundlage ihrer Dispositionen folgen, durchaus ihren Sinn und Zweck erfüllen. Viele dieser Regeln sind ja als Konventionen zu deuten, die sich zur Lösung spezifischer Koordinations- und anderer sozialer Probleme in der Gruppe etabliert haben. Hätten sich diese Konventionen in der gemeinsamen Geschichte der Gruppe nicht durchgesetzt, hätten sich vermutlich andere Konventionen etabliert, die jetzt denselben Status innehätten, wie die, die sich de facto einspielen konnten. Hätten sich gar keine
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Konventionen etablieren können, wäre die Gruppe mangels gemeinsamer Problemlösungen schon längst zerfallen. Ihre Mitglieder hätten es nicht einmal zu einer geteilten Sprache gebracht, wären mittlerweile Mitglieder anderer Gruppen oder längst schon tot. Wieder war es nicht zuletzt Hart selbst, der diesen Punkt im Zuge seiner Reinterpretation der Naturrechtslehre überzeugend vor Augen geführt hat. Gemäß dieser Interpretation gibt es eine Reihe fundamentaler Regeln sozialer Art, die sich in fast jeder Gruppe beobachten lassen, der es gelungen ist, die grundlegenden Probleme des sozialen Miteinanders zu lösen. Angesichts der Funktionalität dieser Sozialregeln, die sie in der Vergangenheit unter Beweis gestellt haben, ist es nicht irrational oder unbegründet, wenn die Mitglieder einer Gemeinschaft die Erwartung (in beiderlei Bedeutungen des Wortes) ausprägen, dass sich ihre Mitmenschen jetzt und in Zukunft diesen Regeln gemäß verhalten. Ebenso wenig unbegründet ist es, wenn sich die Mitglieder einer Gruppe ihre Erwartungshaltungen unter Umständen verbal oder nonverbal zu verstehen geben. Und in keiner Weise rätselhaft ist der Sachverhalt, dass Regelabweicher unter weiteren Umständen verbal oder nonverbal dafür sanktioniert werden, dass sie punktuell aus den etablierten Regelmäßigkeiten ausscheren. Indem sie ausscheren, frustrieren sie die Erwartungen der anderen Gruppenmitglieder und vereiteln unter Umständen sogar die Lösung eines Koordinationsproblems. Natürlich gibt das Ärger. Die zurückliegenden Überlegungen gewinnen auch durch den Verweis darauf zusätzliche Plausibilität, dass es gerade im Fall sozialer Regeln sehr häufig von großer Wichtigkeit ist, dass sich möglichst viele Mitglieder einer Gruppe diesen Regeln entsprechen verhalten. Nehmen die Fälle von Regelbrüchen nämlich überhand, verlieren diese Regeln ihren vormaligen Zweck, also ihre erwiesene Funktionalität. Die spieltheoretische Literatur zu den Themen Gefangenendilemma und soziale Kooperation liefert für diesen Sachverhalt zahlreiche Beispiele. Viele soziale Regeln erfüllen nur dann ihre Funktion, wenn sie
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nicht von zu vielen Akteuren zu häufig verletzt werden. Ein Übermaß an Regelbrüchen führt, anders gesagt, zum Tod jeder sozialen Regel. Falls die Regel eine für die Menschen vorteilhafte Funktion erfüllte, ist ihr Tod schade, betrüblich, oft auch ärgerlich. Und das merkt man den Leuten dann eben an. Ihre Verärgerung verschafft sich Ausdruck. Die sozialpsychologischen Fakten, auf die ich in den zurückliegenden Absätzen skizzenhaft verwiesen habe, machen also deutlich, inwiefern sich auf der Grundlage etablierter Konventionen bei den involvierten Akteuren spezifische Erwartungshaltungen, Überzeugungen über die Angemessenheit oder Unangemessenheit gewisser Verhaltensweisen und andere Einstellungen ausprägen, durch die das Handeln dieser Menschen zu erklären ist. Diese Einstellungen machen damit zugleich auch verständlich, wie es kommt, dass die Akteure unter bestimmten Umständen präskriptive Regelsätze formulieren, um das Handeln ihrer Mitmenschen zu beeinflussen. Gleichwohl darf man aus diesen Zusammenhängen nicht folgern, dass die Unterschiede zwischen deskriptiven, präskriptiven und konsultativen Regeln verschwimmen. Denn nur auf der Grundlage einer rigiden Unterscheidung der grundverschiedenen Regelarten lässt sich die in der Literatur verbreitete, aber fehlgeleitete Vorstellung vermeiden, dass die etablierten Verhaltensregularitäten selbst einen präskriptiven bzw. normativen Gestus aufweisen. Dem ist nicht so. Dem kann gar nicht so sein. Denn nicht jedes Ding kann jede beliebige Eigenschaft haben. Es ist vielmehr so, dass zu den Regularitäten, die durch dispositionales Handeln generiert sind und sich durch deskriptive Regeln zur Sprache bringen lassen, zuweilen präskriptive Regeln als Anweisungen konkreter Autoren hinzukommen.17 Dann haben wir es mit zwei zusammenhängenden Teilen einer Geschichte zu tun. Trotzdem sollte man die Teile dieser Geschichte in aller Deutlichkeit voneinander unterscheiden. Um schließlich auf Harts ursprüngliche Kritik an Austin zurückzukommen, erscheint es mir vor dem Hintergrund der vorgetragenen Überlegungen angemessen, die problematischen
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Gesetze des Gewohnheitsrechts in die zuletzt diskutierte Gruppe der sozialen Regeln einzuordnen. Auch hier haben wir es ontologisch primär mit etablierten Verhaltensregelmäßigkeiten, also mit sozialen Gewohnheiten zu tun, die durch dispositionales Handeln (und Entscheiden) erklärbar sind. Auch hier gehen mit den Gewohnheiten (sozial-)psychologisch erklärbare Verhaltenserwartungen und oft auch Sanktionsbereitschaften der involvierten Akteure einher. Auch hier werden auf der Grundlage der sozialen Regeln von konkreten Akteuren zuweilen Anweisungen formuliert, um auf das Handeln anderer Akteure Einfluss zu nehmen. Derartige Anweisungen haben dann aber immer nachweisbare Autoren. – Folglich ist auch der zweite Einwand von Hart gegen Austin kein Grund, die hier vertretene Position zu verlassen. Denn es gibt – bei Licht betrachtet – keine anonymen Regeln präskriptiver Art. Man könnte versuchen, nach diesem Bild von den sozialen Regeln, die als Konventionen zu deuten sind, auch das Verständnis unserer Moral umzugestalten. Auch deren Regeln sind vielleicht unzulänglich erfasst, wenn man sie in erster Linie als ein Bündel präskriptiver Regeln denkt, die uns wie Straßenschilder an jeder Ecke in irgendwelche Richtungen schicken. Vielleicht gehören auch diese Regeln – verstanden als deskriptive Regeln – zu unserer historisch gewachsenen Art, im März von Schnee bedeckt zu sein. Und auch im Fall der moralischdeskriptiven Regeln formulieren wir ableitend präskriptive Regelsätze, um unseren Nachwuchs durch entsprechende Anweisungen zu erziehen, oder auch dazu, um über die Vernünftigkeit bzw. Irrationalität unseres etablierten Schneeverhaltens zu debattieren. Denn anders als im Fall der Alpen gehört es zusätzlich zu unserer Art, ab und an die Regelmäßigkeiten unseres bisherigen Verhaltens zu überdenken und gegebenenfalls in der Zukunft zu verändern.18 Solche Veränderungen kommen nicht selten dadurch zustande, dass wir als Mitglieder der moralischen Praxis oder auch als Mitglieder akademischer und außerakademischer Diskurse über die Regeln der Moral reflektieren. In solchen Fällen tun
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wir mit diesen Regeln das, was im zweiten Kapitel als der kommunikative Umgang mit Regeln herausgestellt wurde. Wir streiten über die Sinnhaftigkeit von Regeln, denen die Menschen de facto folgen. Und wir streiten gegebenenfalls für die Einführung bisher noch nicht akzeptierter Regeln. Gleichwohl könnte es angemessen sein, auch die moralischen Regeln ontologisch betrachtet als deskriptive Regeln zu erfassen, denen wir im Normalfall aufgrund unserer Erziehung und der durch sie erworbenen Dispositionen folgen, ohne sie im erläuterten Sinn dieser Wendungen zu befolgen oder anzuwenden. Vielleicht sollten wir, mit anderen Worten, zurück zum Konzept der Sittlichkeit. In dem Fall hätten wir allen Grund, Hegel noch einmal gründlich zu lesen. Die hier nur skizzierte Konzeption der Moral werde ich im letzten Kapitel dieser Abhandlung etwas weiter ausführen. Dort werden wir jedoch Gründe dafür sehen, die traditionell überstrapazierte Analogie von Recht und Moral mit einiger Vorsicht zu genießen. Vielleicht hat die Moral mit Regeln im Allgemeinen und mit präskriptiven Regeln im Besonderen nicht gar so viel zu tun. 4 Hinsichtlich des letzten Kritikpunkts von Hart gegen Austin können wir uns kurz fassen. Diesem Einwand zufolge kann die Bankraubsituation nur dann als brauchbares Modell für die Analyse eines Rechtssystems dienen, wenn man eine zusätzliche Annahme trifft. Man müsse sich in Analogie zum Bankräuber einen Souverän vorstellen, der mit uneingeschränkter Befehlsgewalt ausgestattet und selbst keinerlei Befehlen unterworfen sei. Denn nur dieses Analogon mache das Rechtssystem als einheitliches Produkt eines singulären Befehlshabers verständlich.19 Diese Analogie, so der springende Punkt, werde jedoch durch jeden liberal-demokratischen Rechtsstaat jüngeren Datums Lügen gestraft. Denn die Legislative solcher Staaten weist die zwei genannten Merkmale der Souveränität nicht auf. Zum einen sei die legislative Gewalt eines modernen Rechtsstaats in-
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sofern nicht uneingeschränkt, als es Bereiche des menschlichen Privatlebens und gesellschaftlichen Miteinanders gibt, in die sich der Arm des Gesetzes nicht einmischen darf. Vielmehr gibt es laut Hart Regeln, die zuweilen durch eine Verfassung fixiert sind und genau bestimmen, hinsichtlich welcher Dinge die legislative Gewalt Gesetze erlassen darf. Hart hat hier offenbar Erlaubnis- und Verbotsregeln im Sinn, also grundgesetzliche bzw. verfassungsmäßige Anweisungen, aus denen hervorgeht, was die politischen Akteure tun bzw. nicht tun dürfen.20 Zum anderen sei es auch nicht richtig, dass die Legislative moderner Rechtsstaaten selbst keinerlei Regelungen unterworfen sei. Auch hier gibt es laut Hart einerseits Regeln, aus denen hervorgeht, wie die legislative Gewalt ihre Arbeit ordnungsgemäß zu erledigen hat. Andererseits seien die Mitglieder der Legislative als Privatmenschen selbst den Gesetzen unterworfen, die sie als Parlamentarier über ihr Land verhängen. Im ersten Fall hat Hart offenkundig Verfahrensregeln im Auge, die festschreiben, was die Mitglieder der Legislative wann, wo und wie zu tun haben, wenn sie diese oder jene ihrer institutionellen Aufgaben ordnungsgemäß erledigen wollen. Im zweiten Fall kommen alle Typen präskriptiver Regeln in Frage, die wir im Zuge unserer zurückliegenden Diskussionen voneinander unterschieden haben: also Gebots-, Verbots-, Erlaubnis-, Verfahrens- und Sanktionsregeln. Der Hartschen Diagnose, dass das Bankräubermodell nicht tragfähig ist, da das Konzept der absoluten Souveränität auf liberal-demokratische Rechtsstaaten nicht umstandslos anzuwenden ist, müssen wir nichts entgegenhalten. Er hat auch in dieser Angelegenheit vollkommen recht – und dies heute sogar noch mehr als zu seiner eigenen Zeit. Wir müssen uns für unsere Zwecke lediglich fragen, ob die unterschiedlichen Regeltypen, auf die Hart zu sprechen kommt, um das Agieren und Funktionieren der legislativen Gewalt rechtsstaatlich-liberaldemokratischer Ordnungen zu beschreiben, unserer Bestimmung von präskriptiven Regeln als generalisierten Anweisungen widersprechen. Und solch ein Widerspruch ist – so dürfte deutlich
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geworden sein – nicht zu sehen. Denn offenkundig lassen sich alle Regeln, von denen Hart spricht, in die entwickelte Typologie präskriptiver Regeln einsortieren. Auch der dritte und letzte Punkt von Hart gegen Austin lässt unsere Deutung präskriptiver Regeln als generalisierte Anweisungen also unberührt. Harts Überlegungen liefern, mit anderen Worten, keinen Grund dafür, von der hier vertretenen Regelkonzeption abzurücken. 5 Bevor wir uns im nachfolgenden Kapitel dem zweiten Hauptprotagonisten unserer Geschichte zuwenden, dem Begriff des praktischen Grundes, möchte ich diesen ersten Teil der Abhandlung mit einem Nachtrag abschließen. Was folgt, ist ein Exkurs über Imperative. Vergleichen wir erneut zwei Situationen. Im einen Fall spricht der Regelautor: „So soll es sein: Alle Akteure, die die Eigenschaft E teilen, haben in Situationen vom Typ S eine Handlung vom Typ H auszuführen!“ Hier wurde offenkundig eine Gebotsregel aufgestellt. Alle Adressaten mit der Eigenschaft E sind ab jetzt gehalten, in Situationen vom Typ S etwas von der Art H zu tun. – Im anderen Fall spricht der Regelautor: „So soll es sein: Ein potentielles X ist (dann und) nur dann ein genuines X, wenn es das Merkmal M aufweist!“ Hier wurde eine Vorkehrungsregel erlassen, von der wir inzwischen wissen, dass man sie auch durch andere Regelsätze zum Ausdruck bringen kann. Der Autor hätte sein Anliegen genauso gut realisieren können, indem er sagt: „So soll es sein: Alle Akteure, die die Eigenschaft teilen, den auf X bezogenen Wunsch W zu haben, müssen auf eine spezifische Art und Weise (H) handeln, um diesen Wunsch zu realisieren!“ Wir wissen seit geraumer Zeit, dass präskriptive Regeln doppelt generalisierte Anweisungen sind. Eliminieren wir jetzt eine der beiden Generalisierungen und lenken den Blick damit zurück auf singuläre Anweisungen. Im ersten Fall haben wir dann das singuläre Gebot:
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(SG): Akteur A soll, sofern er die Eigenschaft E aufweist, in Situationen vom Typ S eine Handlung vom Typ H ausführen.
Im zweiten Fall ergibt sich die singuläre Verfahrensanweisung: (SV): Akteur A muss, sofern er den auf X bezogenen Wunsch W hat, eine Handlung vom Typ H ausführen, um seinen Wunsch zu realisieren.
Die betreffenden Imperative, die ein Regelautor verwenden könnte, um diese beiden Anweisungen zu formulieren, lauten: (KI): Führe in Situationen vom Typ S eine Handlung vom Typ H aus!21
Bzw.: (HI): Führe, wenn du einen auf X bezogenen Wunsch hast, eine Handlung vom Typ H aus!
Im ersten Fall haben wir es mit einem kategorischen (KI), im zweiten mit einem hypothetischen Imperativ (HI) im Sinne Kants zu tun. Es lohnt sich aus mehreren Gründen, die beiden Arten von Imperativen aus der entwickelten Regelperspektive unter die Lupe zu nehmen. Um gleich mit dem stärksten dieser Gründe zu beginnen: Auch wenn sich im Fall dieser beiden Imperativarten einige strukturelle Übereinstimmungen aufweisen lassen, werden hier in einer entscheidenden Hinsicht Äpfel mit Birnen verglichen. Denn wenn kategorische Imperative tatsächlich mit Gebotsregeln und hypothetische Imperative mit Vorkehrungsbzw. Verfahrensregeln korreliert sind, dann liegt der Verdacht sehr nahe, dass ein Vergleich bzw. eine vergleichende Gegenüberstellung dieser Imperative zu keinem fruchtbaren Ergebnis führen kann. Die eben behauptete Fruchtlosigkeit eines Vergleichs der beiden Imperativtypen rührt dabei nicht so sehr aus irgendwelchen Strukturunterschieden her. So macht der Blick auf Imperative aus der Regelperspektive zum Beispiel deutlich, dass es genau genommen irreführend ist, kategorische Imperative als unbedingte zu bezeichnen und sie aus diesem strukturellen
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Grund mit den bedingten Imperativen hypothetischer Natur in Kontrast zu setzen. Denn auch kategorische Imperative sind bedingte.22 Dies tritt zutage, wenn man sich klarmacht, dass das Beispiel (KI): Führe in Situationen vom Typ S eine Handlung vom Typ H aus!
streng genommen lauten muss: (KI‘): Führe, wenn (bzw. da oder insofern) du die Eigenschaft E aufweist, in Situationen vom Typ S eine Handlung vom Typ H aus!23
Vollständige Regelsätze, so haben wir im dritten Kapitel gesehen, enthalten immer eine Akteursklausel, aus der hervorgeht, Akteure welcher Art die Adressaten der Anweisung sind. Wenn man Imperative jedoch nicht aus der Regelperspektive betrachtet, in der sie als Sätze erkennbar sind, die man verwendet, um präskriptive Regeln aufzustellen, übersieht man aus einem uns mittlerweile vertrauten Grund, dass ein spezifizierender Bezug auf den Adressaten auch im Fall eines vollständig ausformulierten Imperativs angemessen ist. Dieser Grund besteht darin, dass Imperative normalerweise in Gegenwart der Adressaten verwendet werden, wodurch ein expliziter Bezug auf die Adressaten oft nicht erforderlich ist. Wie wir jedoch im elften Abschnitt des dritten Kapitels gesehen haben, ist es ratsam, Imperativsätze mit explizitem Adressatenbezug als Standard zu erachten. Etwas künstlich, aber dieser Einsicht Rechnung tragend, kann der Imperativ, der einer kategorischen Anweisung zugrunde liegt, daher wie folgt strukturiert werden: (KI‘‘): Du, der du die Eigenschaft E aufweist, führe in Situationen vom Typ S eine Handlung vom Typ H aus!
Vor dem inzwischen entwickelten Hintergrund ist erkennbar, dass der Unterschied zwischen den beiden Arten von Imperativen lediglich darin besteht, dass die Akteursklausel im hypothetischen Fall auf einen Wunsch der Adressaten zu sprechen kommt, während die Adressaten kategorischer Imperative
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durch eine Eigenschaft bestimmt sind, die nichts mit ihren Wünschen zu schaffen hat. Dies verleiht den Imperativen der zweiten Art ihren scheinbar unbedingten bzw. kategorischen Charakter. Denn die Adressaten dieser Imperative sollen in Anbetracht irgendwelcher Eigenschaften, die sie haben, etwas tun, ganz egal, was sie selbst so alles wollen.24 Dies bringt aber keinen strukturellen, sondern einen inhaltlichen, wenn man so will, phänomenologischen Unterschied zwischen den beiden Arten von Imperativen zum Ausdruck. Die Sinnhaftigkeit des Vergleichs der beiden Imperativarten wird also nicht dadurch in Zweifel gezogen, dass man in ihrer Formulierung mal Konditionalsätze gebraucht und mal nicht. Konsequenterweise sollte man, wie gesehen, immer Konditionale verwenden, um die gemeinsame „Tiefenstruktur“ freizulegen. Gemäß dieser Struktur gibt es keine unbedingten Imperative. – Die Vergleichbarkeit der beiden Imperativarten wird durch ein ganz anders gelagertes Problem in Frage gezogen. Dieses Problem möchte ich im nachfolgenden Abschnitt deutlich machen. 6 Wir haben uns bisher fast immer solche Verfahrensregeln vor Augen geführt, die explizit durch einen Regelautor aufgestellt wurden. Durch das Aufstellen einer derartigen Regel stellt der Autor, so wurde im zurückliegenden Kapitel deutlich, eine Verknüpfung zwischen Zwecken und notwendigen Mitteln her. Er tut dies, indem er einen Standard festlegt, an dem sich die Akteure in ihrem Handeln zu orientieren haben, wenn sie den betreffenden Zweck verfolgen. Nun gibt es aber auch Verfahrensregeln, die nicht auf die erläuterte Art und Weise auf einen Regelautor zurückführbar sind. Die Notwendigkeit, eine winterliche Skihütte zu beheizen, wenn man in ihr übernachten will, machte uns darauf aufmerksam. Diese Notwendigkeit ist nicht durch einen Regelautor ins Werk gesetzt. Folglich darf man die Verfahrensregel, der gemäß man die Hütte heizen muss, wenn man in ihr übernachten will, nicht als präskriptive Regel deuten. Vielleicht wäre es sogar besser, hier überhaupt
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nicht von einer Regel zu sprechen. Tut man es doch, sollte man sie zu den deskriptiven Regeln zählen. Aus dieser Überlegung folgt, dass sich der Autor eines hypothetischen Imperativs in zwei grundsätzlich verschiedenen Situationen befinden kann. Machen wir uns diese deutlich. – Die erste dieser beiden Situationen ist die, die in der Literatur zumeist bedacht wird, wenn es um hypothetische und kategorische Imperative geht. Diese Situation liegt beispielsweise vor, wenn der Bergführer einen Anfänger mit den Worten belehrt: „Wenn du in dieser Hütte übernachten willst, dann musst du sie erst heizen!“ Alternativ können wir uns auch vorstellen, dass ein Ortskundiger zu seinem Gast sagt: „Wenn du die schönste Ruine Heidelbergs sehen willst, musst du zum Heidelberger Schloss gehen!“ Es gibt hier keinen vorgängigen Regelungsakt eines Autors, dem zufolge nur eine beheizte Hütte eine bewohnbare ist. Dies ist halt so. Mutter Natur hat es so gewollt. Und es gibt auch keine präskriptive Regel, der gemäß das Schloss die schönste Ruine Heidelbergs ist. Dies hat sich historisch so ergeben. Die beiden Sprecher, die wir uns vergegenwärtigt haben, sind folglich die einzigen Autoren, die es in diesen Beispielen zu berücksichtigen gilt. In der zweiten Situation bezieht sich der Autor eines hypothetischen Imperativs hingegen auf eine Vorkehrungsregel, also auf eine Anweisung, deren Autor er selbst sein kann, aber nicht sein muss. Und in aller Regel ist er es de facto auch nicht. Nehmen wir diesen Fall also an. – „Wenn du ein Testament ablegen willst, musst du zum Notar.“ „Wenn Sie wollen, dass der Prüfer ihnen bescheinigt, das neue Spielfeld entspreche den Verbandsregeln, müssen Sie für die richtige Markierung sorgen.“ In Fällen wie diesen, so mein Eindruck, ist es streng genommen nicht angemessen, das, was der Sprecher seinem Adressaten sagt, als Anweisung zu klassifizieren. In der Welt, in der diese Sprecher und Hörer leben, hat irgendein Regelautor dafür gesorgt, dass kraft seiner (akzeptierten) Vorkehrungsregeln bestimmte anankastische Tatsachen bestehen. Auf diese Tatsachen wird hier durch die Sprecher verwiesen. Diese Spre-
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cher informieren ihre Hörer darüber, worauf sie zu achten haben, wenn sie sich anschicken, ihren Wunsch zu realisieren. Daher scheint es nicht nur unangemessen, die betreffenden Sprechakte als ein Anweisen zu klassifizieren. Auch die konditionalen Sätze, die der jeweilige Sprecher in seinem Sprechakt äußert, erscheinen vor dem jetzt deutlich gewordenen Hintergrund nicht länger als Imperative. Wir haben es vielmehr mit assertorischen Sätzen zu tun. Diese Sätze referieren auf anankastische Tatsachen. Daher sind Sätze dieser Art informativ bzw. Informationen.25 Wenn man die Dinge im Fall dieser zweiten Art von Situation so sieht, wie eben erläutert, dann sollte man sie aus Gründen der Konsistenz auch im Fall der ersten Situation so sehen. Denn ob die Notwendigkeit, auf die der Autor eines vermeintlich hypothetischen Imperativs verweist, durch eine Vorkehrungsregel geschaffen wurde oder von Natur aus besteht, ist für das, was er gegenüber seinem Adressaten tut, unerheblich. Auch der Bergführer, der dem Anfänger sagt, was er tun muss, wenn er den betreffenden Wunsch hegt, gibt keine Anweisung. Vielmehr informiert auch er über eine bestehende Notwendigkeit. Er teilt seinem Adressaten mit, dass es unter den vorliegenden Umständen nur eine Möglichkeit gibt, sein Ziel zu erreichen. Und entsprechend stellt sich der Fall mit Blick auf den vermeintlichen Imperativ jetzt dar, dem gemäß der Besucher zum Schloss muss, will er die schönste Ruine sehen. Auch dies ist ein wahrer Satz und nicht etwa ein Imperativ. Auch hier kommt eine anankastische Tatsache zur Sprache. Hypothetische Imperative, so wird jetzt deutlich, sind gar keine Imperative. Und daher kann es nichts bringen, Sätze, die man irrtümlicherweise für hypothetische Imperative gehalten hat, mit den einzigen Imperativen zu vergleichen, die es gibt – den kategorischen. Eine weitere Überlegung führt zu demselben Ergebnis. Dass es mit der imperativischen Natur der „hypothetischen Imperative“ seine heikle Bewandtnis hat, merkt man schon daran, dass es oft nicht ganz leicht fällt, die betreffenden Sätze tatsächlich als echte, sprich grammatikalische Imperative zu formulieren.
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In den bisher in diesem Abschnitt verwendeten Beispielsätzen tauchte bezeichnenderweise kein einziges Mal ein Verb im Imperativ auf. Diese Beobachtung legt den Verdacht sehr nahe, dass diese Sätze, in denen keine imperativisch flektierten Verben auftauchen, nicht ohne Weiteres mit typischen Imperativen, sprich kategorischen, vergleichbar sind. Zugegeben, man kann „hypothetische Imperative“ durchaus unter Verwendung imperativisch flektierter Verben formulieren: „Wenn du in der Hütte schlafen willst, heize sie!“ und „Wenn du zur schönsten Ruine Heidelberg willst, geh zum Schloss!“ machen dies deutlich. Doch so dargestellt, wird aus der Regelperspektive sichtbar, dass wir es bei diesen Formulierungen in Wahrheit mit kategorischen Imperativen zu tun haben. Denn durch die Äußerung dieser Sätze stellt man ganz gewöhnliche Gebotsregeln auf, die sich nur dadurch auszeichnen, dass sie sich auf einen singulären Adressaten und seiner Eigenschaft beziehen, ab und an bestimmte Wünsche zu hegen. Dieser Adressat erhält durch den Autor die „kategorische Anweisung“, in allen Situationen, in denen er einen bestimmten Wunsch realisieren will, Dinge der genannten Art zu tun. Natürlicher und zugleich auch aufschlussreicher ist jedoch eine wieder andere Art, in der die „hypothetischen Imperative“ zumeist formuliert werden. Weit häufiger hört man nämlich Formulierungen von dieser Form: „Wenn du die Hütte bewohnbar machen willst, solltest du sie heizen“ oder „Wenn du zur schönsten Ruine willst, solltest du zum Schloss.“ Wenn wir uns jetzt daran erinnern, was im zurückliegenden Kapitel über Ratschläge, Empfehlungen und Warnungen gesagt worden ist, sind wir ein weiteres Mal beim selben Ergebnis angelangt. Ratschläge erkennt man häufig an dem konjunktivischen Gebrauch des Hilfsverbs ‚sollen‘. Und damit tritt zutage, was es mit den „hypothetischen Imperativen“ in dieser dritten Lesart auf sich hat: Sie gehören in die Gruppe der Empfehlungen. Empfehlungen sind jedoch keine Anweisungen. Daher sollte man Sätze, durch die man eine Empfehlung ausspricht, nicht
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als Imperative bezeichnen. Denn die Heimat echter Imperative liegt im Land der präskriptiven Regeln. Dinge, die man gemeinhin unter der Rubrik hypothetische Imperative zusammenfasst, sind also genau genommen verschiedene Dinge. Einige von ihnen sind kategorische Imperative. Sie werden durch ein Verb im imperativischen Modus formuliert. – Einige von ihnen sind assertorische Aussagen über anankastische Tatsachen. Sie sind zumeist unter Verwendung des Verbs ‚müssen‘ formuliert. – Die übrigen sind Empfehlungen oder Warnungen und werden häufig unter Verwendung des Verbs ‚sollen‘ im Konjunktiv formuliert. Weder Aussagen über anankastische Tatsachen noch Empfehlungen sind Anweisungen. „Hypothetische Imperative“ sollte man daher nicht mit kategorischen Imperativen vergleichen oder kontrastieren. Dies führt zu nichts. *** Mit den vielfältigen Arten und Typen von Regeln sind wir fast fertig. Mit den Gründen geht es jetzt los. Im zweiten Teil dieser Abhandlung ist zuerst zu klären, was praktische Gründe sind. Dann sollte deutlich werden, dass Regeln nicht zu dieser Art von Gründen gehören. Auch in dieser Hinsicht neigt man allzu leicht dazu, Dinge undifferenziert in einen Topf zu werfen, die bei Licht betrachtet in verschiedene Schubladen gehören. Schließlich soll gezeigt werden, dass aus dieser Einsicht nicht unerhebliche Konsequenzen rechts-, moral- und rationalitätsphilosophischer Natur zu ziehen sind. Auch dem Gespenst der Normativität werden wir durch die Aufklärung des Unterschieds zwischen Regeln und Gründen weiter auf den Leib rücken können.
Teil 2
VI Gründe In diesem und dem nachfolgenden Kapitel möchte ich der Frage nachgehen, wie sich Regeln, insbesondere präskriptive, zum Konzept des Handlungsgrundes, sprich des praktischen Grundes verhalten. In der Literatur stößt man bemerkenswert häufig auf die Behauptung, dass Regeln dieser Art selbst Gründe bzw. eine Unterart der praktischen Gründe seien.1 Wer mit einer präskriptiven Regel konfrontiert ist, hat dieser Sicht der Dinge gemäß ipso facto einen Grund, sich der Regel entsprechend zu verhalten. Zwar wird in diesem Zusammenhang zumeist betont, dass ein Akteur in der Situation, in der ihm eine Regel mutmaßlich einen Grund dafür gibt, h zu tun, durchaus stärkere Gründe haben kann, die gegen ein Handeln gemäß der Regel, also gegen h sprechen. Präskriptive Regeln gelten demnach nicht notwendigerweise als ausschlaggebende Gründe. Begründet wird jedoch die grundlegendere Behauptung, dass Regeln überhaupt zu den Handlungsgründen zählen, praktisch nie. In der Tat wird sich die Auffassung, dass Regeln im Allgemeinen und Gebotsregeln im Besonderen praktische Gründe sind, im Zuge der Überlegungen des nachfolgenden Kapitels als falsch erweisen. Regeln können allein schon aus ontologischen Erwägungen keine praktischen Gründe sein. Sie sind aus dem falschen Stoff gemacht, wenn man so will. Darüber hinaus wird sich zeigen, dass sich ein Regeladressat in den allermeisten Situationen, in denen er mit einer Regel konfrontiert ist, nicht nur die Frage stellen kann, ob er Gründe dafür hat, eine Regel als Regel zu akzeptieren. Er kann sich selbst dann, wenn er eine Regel akzeptiert hat (oder zu akzeptieren hatte), noch sinnvollerweise fragen, ob er in der konkreten Situation hier und jetzt einen Grund hat, sich in Übereinstimmung mit der Regel zu
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verhalten. Doch derlei Fragen könnten sich gar nicht sinnvoll stellen, wenn mit der schieren Existenz einer Regel immer per se schon ein praktischer Grund dafür gegeben wäre, sich der Regel konform zu verhalten. Wir sollten uns also das Verhältnis zwischen Regeln und Gründen so klar wie nur möglich verdeutlichen, um uns ein eigenes Bild von der Sachlage zu machen. Dazu muss vorab eine Vorstellung davon entwickelt werden, was Handlungsgründe sind. Diesem Anliegen dient dieses Kapitel. Wir wissen aus dem ersten Teil der Abhandlung, was es mit den Regeln der unterschiedlichen Arten auf sich hat. Was sind Gründe? 1 Über praktische Gründe ist seit der Geburtsstunde der Handlungstheorie als einer eigenständigen Teildisziplin der Philosophie vor rund 60 Jahren sehr viel geschrieben worden.2 Ja, man kann sogar ohne große Übertreibung behaupten, dass die Frage, was Gründe sind, zusammen mit den Fragen, was Handlungen sind und wie das Verhältnis zwischen Grund und Handlung beschaffen ist, bis auf den heutigen Tag den Kernbestand dieser jungen Teildisziplin bilden.3 Das Ergebnis der emsigen Diskussion der Frage nach der Natur von Gründen stellt sich jedoch nach mehr als einem halben Jahrhundert eher betrüblich dar. Denn ähnlich wie ich es bereits mit Blick auf den Regelbegriff gesagt habe, erweckt die einschlägige Literatur auch an diesem Punkt Zweifel, dass genau eine richtige Antwort auf diese Frage existiert. Anders als im Fall der Regeln gibt es jedoch im Fall der Gründe nicht wenige, sondern extrem viele Arbeiten, die sich mit der Frage nach der Natur praktischer Gründe ausdrücklich auseinandersetzen. Daher würde es an dieser Stelle auch viel zu weit von unserem Anliegen abführen, wollten wir uns allzu detailliert mit der Vielfalt der vorgeschlagenen Antworten beschäftigen. Wir müssen uns also mit einem groben Überblick begnügen. Anders als ich es an anderer Stelle getan habe, möchte ich die vielfältigen Antworten auf die Frage nach der Natur praktischer Gründe hier nicht in zwei, sondern in drei Gruppen ein-
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teilen.4 Es gibt zum einen solche Theorien, denen zufolge die Gründe, die ein Akteur für die Dinge hat, die er tut oder tun sollte, im Bereich seiner intentionalen, propositionalen bzw. mentalen Einstellungen zu suchen sind. Hier haben wir es also mit einer psychologistischen Konzeption praktischer Gründe zu tun.5 Dass ich diese oder jene Meinung habe, diesen oder jenen Wunsch hege, diese oder jene Absicht verfolge, mag dieser Sicht der Dinge gemäß (einzeln oder in einer geeigneten Kombination) für mich ein Grund dafür sein, dies oder jenes zu tun. Prominent ist im Lager der Vertreter dieses psychologistischen Standpunkts nach wie vor die traditionsreiche These, dass sich Gründe aus genau einem Wunsch und genau einer instrumentellen Meinung des Akteurs zusammensetzen. 6 Dabei lassen sich die propositionalen Inhalte der beiden Einstellungen, die zusammen den Grund für eine Handlung konstituieren, als die Prämissen eines praktischen Syllogismus auffassen, dessen Konklusion auf die betreffende Handlung verweist. Der Akteur will ein bestimmtes Ziel erreichen; meint, dass Handlungen dieser Art zu dem Ziel führen. Und aus diesem Grund führt er eine Handlung jener Art aus.7 Zweitens gibt es eine Reihe handlungstheoretischer Ansätze jüngeren Datums, denen zufolge die Gründe, die ein Akteur für die Dinge hat, die er tut oder tun sollte, gleichsam in der Umgebung zu finden sind, in der er agiert. Dass in der Situation des Handelns der und der Umstand vorliegt oder dass dies oder jenes der Fall ist oder dass der und der Sachverhalt gegeben ist, kann diesen Ansätzen zufolge der Grund dafür sein, dass ein Akteur etwas Bestimmtes tut oder tun sollte. Handlungen stellen sich in dieser Sicht als Reaktionen des Akteurs auf Fakten dar. Und es sind just diese Fakten, auf die der Akteur in seinem Tun reagiert, die gemäß dieser Konzeption unter den Begriff des praktischen Grundes fallen. Sind die Gründe also der ersten Sicht zufolge im Kopf bzw. in der Seele, im Bewusstsein oder im Geist des Akteurs zu suchen, liegen sie dieser zweiten, nichtpsychologistischen Sicht gemäß vor den Augen des Handelnden. Zwar heben die Vertreter dieses Standpunkts zumeist den
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Sachverhalt hervor, dass der Akteur der Meinung sein muss, dass die und die Gründe für sein Tun gegeben sind, die betreffenden Fakten also vorliegen. Aber anders als die Fürsprecher der psychologistischen Sicht sind die Verteidiger der zweiten Position überzeugt, dass die betreffenden Meinungen des Akteurs nicht mit dessen Gründen identisch sind.8 Nicht zuletzt gibt es auch solche Theorien, die die beiden Fragen, warum ein Akteur etwas tut und warum er etwas tun sollte, auseinanderreißen. Die Vertreter dieser Theorien unterscheiden zwischen den sogenannten explanatorischen (bzw. motivationalen) und den sogenannten rechtfertigenden (bzw. normativen) Gründen. Gründe der ersten Art dienen der Erklärung dafür, dass ein Akteur so handelt, wie er faktisch handelt. Gründe der zweiten Art sollen die Frage beantworten, warum ein Akteur dieses oder jenes tun sollte bzw. warum es für ihn richtig, vernünftig oder moralisch angemessen wäre, sich so und nicht anders zu verhalten. Hier steht, kurz gesagt, die Rechtfertigung der Handlung im Mittelpunkt. Das Bild explanatorischer (motivationaler) Gründe, das in diesem Lager gezeichnet wird, entspricht zumeist dem der psychologistischen Konzeption. Derartige Gründe gelten also als Kombinationen aus Wünschen und Meinungen. In der Frage, wie man sich die rechtfertigenden (normativen) Gründe zu denken hat, herrscht keine einhellige Auffassung.9 Alle drei Ansätze gibt es mittlerweile in den vielfältigsten Variationen, Verästelungen und teilweise auch Kombinationen.10 Und diese Version der neuen Unübersichtlichkeit nährt den bereits geäußerten Verdacht, dass es die eine richtige Antwort auf die Frage nicht gibt, wie der Begriff des praktischen Grundes zu deuten ist. Vielleicht gibt es mehrere Konzepte dieser Art. Vielleicht ist es auch so, dass unser alltagssprachlich gebrauchter Begriff des Grundes instabil, vage oder sogar inkonsistent ist. Aber ich hoffe, all diese Zweifel im Zuge dieses Kapitels zerstreuen zu können. Denn es gibt eine klare Antwort auf unsere Frage. Und diese Antwort macht zugleich auch ver-
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ständlich, inwieweit die vielen anderen Antworten durch die Bank fast richtig sind. Was also sind die Gründe, aus denen Menschen handeln? An dieser Stelle könnte es vielleicht naheliegend erscheinen, erneut in der Art und Weise zu verfahren, wie wir es bereits in den ersten Kapiteln dieser Abhandlung getan haben. Man könnte sich auch jetzt unterschiedliche Paradigmen des Umgangs mit Gründen vergegenwärtigen, um daraufhin nach einem Bild Ausschau zu halten, das diese Umgangsformen zu einer kohärenten Gesamtkonzeption zusammenzufügen erlaubt. Weil dieses Vorgehen aber ebenfalls sehr weit von unserem primären Anliegen abführen würde, werde ich mich im Folgenden der Einfachheit halber auf genau einen paradigmatischen Umgang mit Gründen konzentrieren. Dieses Paradigma kommt zwar nicht in der philosophischen Literatur generell, aber doch speziell in der handlungstheoretischen Diskussion oft etwas zu kurz. In dieser Diskussion werden Gründe zumeist unter der Fragestellung in den Blick genommen, wie es um ihr motivierendes, erklärendes und rechtfertigendes Potential bestellt ist. Stattdessen will ich in den nachfolgenden Abschnitten danach fragen, welche Rolle Gründe beim Entscheiden für und wider eine Handlungsweise spielen. Denn was auch immer Handlungsgründe ihrer Natur nach sein mögen – ein akzeptabler Begriff praktischer Gründe muss zweifelsfrei begreiflich machen, wie diese Gründe in das Entscheidungsverhalten eines Akteurs Eingang finden und dort ihre Funktion erfüllen. 2 Die Ausgangsfrage lautet also, welche Rolle praktische Gründe beim Entscheiden für oder wider eine Weise des Handelns spielen. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil davon, das Problem der Natur praktischer Gründe unter dieser Leitfrage zu behandeln, tritt in der folgenden Beobachtung zutage. Dieses Vorgehen reißt nicht auseinander, was zusammen gehört, nämlich die Frage, aus welchem Grund ein Akteur faktisch handelt, und die Frage, aus welchem Grund er dies oder jenes tun sollte. Es kann keinen prinzipiellen Unterschied zwischen (vermeint-
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lich) motivational-explanatorischen und (mutmaßlich) normativ-rechtfertigenden Gründen geben. Es kann nicht sein, dass es zwei grundsätzlich verschiedene Arten oder Klassen von Gründen gibt. Denn wäre dem so, könnten wir niemals aus denjenigen Gründen handeln, die aus der Rechtfertigungsperspektive für die betreffende Handlung sprechen.11 Gründe, aus denen man prinzipiell nicht handeln kann, führen jedoch zu keinem brauchbaren Begriff des praktischen Grundes. Natürlich ist es nicht so, dass die beiden Fragen, von denen ich eben sprach, durchgängig in allen Situationen dieselbe Antwort erlauben. Ein Akteur mag aus dem einen Grund tun, was er tut, obwohl es einen anderen Grund gibt, aus dem er etwas anderes tun sollte. Eine weitere Person mag sogar der zutreffenden Überzeugung sein, dass sie aus diesem oder jenem Grund das eine tun sollte, dann aber wissentlich aus einem anderen Grund das andere tun. Das bekannte Phänomen der Willensschwäche bzw. des akratischen Handelns liefert für diese Behauptung Belege. Die für unsere gegenwärtigen Belange allein entscheidende Beobachtung beruht indes darin, dass wir derlei lebensweltlich vertraute Situationen theoretisch nicht in den Griff bekommen können, wenn wir in Übereinstimmung mit der dritten Position, die im zurückliegenden Abschnitt skizziert wurde, davon ausgehen, dass die vermeintlich motivierenden und die vermeintlich rechtfertigenden Gründe zwei voneinander unabhängige Klassen bilden. Auf diesem Weg gelangten wir bestenfalls zu zwei akzeptablen Theorien über zwei verschiedene Arten von Gründen und einem hilflosen Achselzucken in Reaktion auf die Frage, wie diese beiden Theorien zusammenhängen. Gründe, so sollten wir besser annehmen, sind immer nur Gründe. Dass sie motivieren, erklären und rechtfertigen, muss man als Eigenschaften der Gründe verstehen. Manche Gründe mögen alle diese Eigenschaften haben. Andere haben nur die eine oder andere davon. Wenn wir an das Thema Handlungsgründe aus der Perspektive des Entscheidens herantreten, haben wir von Anfang an den richtigen Blick auf das Problem. Denn aus diesem Blick-
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winkel betrachtet, laufen die Frage, welchen Grund ich dafür habe, eher dies als jenes zu tun, und die Frage, aus welchem Grund ich was tun sollte, auf dasselbe hinaus. Und jeder wird nach kurzer Reflexion einräumen, dass es damit so auch seine Richtigkeit hat. Die Situationen, in denen sich Menschen fragen, was sie tun sollen, können von zweierlei Struktur sein.12 Und es vereinfacht unsere weiteren Überlegungen, wenn wir uns eingangs vergegenwärtigen, inwiefern eine dieser beiden Strukturen lediglich ein Unterfall der anderen ist. – Gemäß der ersten der beiden Strukturen richtet der Akteur gewissermaßen sein geistiges Auge auf genau eine Option des Handelns. Mit Blick auf diese Option stellt sich ihm die Frage, ob das Gewicht der Gründe, die für sie sprechen, das Gewicht der Gegengründe, die also gegen diese Option sprechen, überwiegt oder nicht. „Soll ich oder soll ich nicht?“ ist so gesehen seine Frage. Und er versucht, diese Frage zu beantworten, indem er das Gewicht der Gründe, die er sieht, gegeneinander abwägt. In dieser Rede vom Abwägen der Gründe (bzw. ihres Gewichts) kommt eine geläufige und tief verwurzelte Metaphorik unseres Denkens über Gründe zum Ausdruck. Gründe sind dieser Metaphorik zufolge mit Gewichtsstückchen vergleichbar, die man im Akt der deliberativen Reflexion über das anstehende Handeln auf eine imaginierte Balkenwaage legt. Auf diesem Weg versucht man zu ergründen, ob diese Waage zugunsten oder zuungunsten der Handlungsoption ausschlägt, die man ins Auge gefasst hat. Wir fragen in diesem Sinne danach, was schwerer wiegt bzw. gewichtiger ist: Die Gründe dafür? Oder die Gründe dagegen? Oft findet man auf derlei Fragen in konkreten Situationen mit dem Gefühl der Gewissheit eine zutreffende Antwort. Aber jeder kennt das Problem, dass das Erwägen von Gründen häufig auch mit einem vagen und zuweilen sogar hilflosen Einschätzen ihrer Gewichte einhergeht. Denn beim Schätzen tut man sich manchmal schwer. Oft weiß man nicht so recht, ob ein Grund schwer genug wiegt, um einen anderen Grund zu
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übertrumpfen. Dann fühlt man sich unsicher und handelt nicht selten mit einem unguten Gefühl. So geht es halt zu im normalen Leben normaler Menschen. Derselben Metaphorik kann man sich jedenfalls auch mit Blick auf die zweite Entscheidungsstruktur bedienen. Hier liegen die Dinge etwas komplizierter. Denn der Akteur fragt sich nicht nur, ob er eine singulär gegebene Option des Handelns ergreifen oder unterlassen soll. Vielmehr vergleicht er zwei (oder mehr) rivalisierende Optionen, die er nicht zugleich ergreifen kann, weswegen er sich zwischen ihnen zu entscheiden hat. Wer mit der Speisekarte in der Hand im Restaurant sitzt, befindet sich beispielsweise in dieser Art von Situation. In solchen Fällen will man in aller Regel nicht mehr als eine Hauptspeise bestellen. Folglich muss man sich zwischen den angebotenen Optionen entscheiden. Man hat die Wahl und muss daher wählen. Die angekündigte Vereinfachung beruht auf der Einsicht, dass die zuerst dargestellte Entscheidungsstruktur nur ein Sonderfall der zweiten ist. Denn in diesem Sonderfall konfligiert eine (potentielle) Handlung mit ihrer (potentiellen) Unterlassung. Auch ein Akteur, der etwa vor der Frage steht, ob seine Gründe für oder wider die Entscheidung sprechen, es mit einer schriftstellerischen Laufbahn zu versuchen, steht vor zwei konfligierenden Verhaltensalternativen. Auch er muss wählen. Er kann sich entweder für den Versuch entscheiden, mit schriftstellerischen Arbeiten ein zureichendes Auskommen zu finden. Oder er kann sich dafür entscheiden, solch einen Versuch zu unterlassen.13 In jedem Fall wird auch er das relative Gewicht der Gründe gegeneinander abwägen, die für und wider die beiden rivalisierenden Optionen sprechen. Auch er operiert, metaphorisch gesprochen, mit der besagten Balkenwaage. Auch er ist darauf aus, eine Einschätzung davon zu finden, wie gewichtig die von ihm erwogenen Gründe sind. Entscheidungssituationen – das war der relevante Punkt dieses Abschnitts – sind also immer Wahlsituationen. Wer eine praktische Entscheidung zu treffen hat, muss, anders gesagt, aus
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einer Menge von mindestens zwei Optionen die ihm besser erscheinende Variante auswählen. Hierzu ist ein Blick auf die Gründe und eine Einschätzung ihrer Gewichtigkeit erforderlich. Angesichts dieser Vorklärung können wir uns jetzt wieder den Hauptfragen des Kapitels zuwenden. Welche Rolle spielen Gründe in derartigen Wahlsituationen? Und wie müssen Gründe beschaffen sein, damit sie diese Rolle spielen können? 3 Wer zwischen (mindestens) zwei alternativen Handlungsoptionen wählen, also entscheiden muss, fragt sich, welche Vorund Nachteile die Optionen aller Voraussicht nach haben werden. Das relative Gewicht dieser erwogenen Aspekte der ins Auge gefassten Handlungsoptionen gilt es abzuschätzen. Diese Vor- und Nachteile wägt der Akteur also gegeneinander ab. Der Kerngedanke, auf dem die Sicht beruht, für die ich im Folgenden werben möchte, besagt ganz einfach, dass just diese Vor- und Nachteile mit den Gründen identisch sind, die für und wider die betreffenden Optionen sprechen.14 Ein Grund spricht für eine Handlung, so wie ein Vorzug für dasjenige spricht, wovon er ein Vorzug ist. Gründe haben unterschiedliches Gewicht, so wie Vorzüge unterschiedlich gewichtig sind. Und die Erklärung hierfür ist schlicht: Gründe sind Vorzüge der durch sie begründeten Handlungen. Hier haben wir kein Loch in der Sprache. Vielmehr gibt es eine Doppelung. Das nachfolgende Beispiel soll zur Illustration dieser Sichtweise dienen. Angenommen, eine Person steht vor der Wahl, sich entweder kein Auto oder einen Sportwagen oder aber einen Kleinbus zu kaufen. Es hat bekanntermaßen gewisse Vorteile, sich gar kein Auto zuzulegen. Solch ein Vorteil liegt zum Beispiel darin, dass man sich unter Umständen allerlei Scherereien mit anfallenden Reparaturarbeiten erspart. Und dies ist ein Grund, der dafür spricht, sich keinen Wagen zuzulegen. Der Grund, der hierfür spricht, ist zugleich auch ein Grund, der gegen die rivalisierenden Handlungsoptionen spricht. Gründe führen fast immer diese Art von Doppelleben. Denn ein Grund, der für die eine Option spricht, kann meistens auch
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als Gegengrund gegen die anderen Optionen angeführt werden. Der Vorzug einer Option kann, anders gesagt, fast immer als Nachteil der anderen Optionen gedeutet werden.15 Es hat für die Person in unserem Beispiel jedoch nicht nur den benannten Vorteil, sondern auch gewisse Nachteile, weiterhin kein eigenes Fahrzeug zu besitzen. Sie wohnt, so nehmen wir an, auf einem Dorf und kommt nur umständlich und zeitaufwändig in die nächstgelegene Stadt. Und dieser Umstand ist ein Nachteil der Option, sich keinen eigenen Wagen zu kaufen. Dieser Umstand ist folglich ein Grund, der gegen diese Option und für die beiden anderen Möglichkeiten des Handelns spricht. Für die Person im Beispiel stellt der Kauf eines Sportwagens gewisse Vorteile in Aussicht. Mit solch einem Fahrzeug kann sie die langen Strecken, die sie zuweilen von Berufs wegen zurückzulegen hat, deutlich schneller hinter sich bringen als mit der Bahn oder mit einem Kleinbus. Und ohne uns an dieser Stelle in noch weitere Details zu verlieren, können wir einfach annehmen, dass es für diese Person auch spezifische Nachteile bedeutet, sich einen schnellen, aber kleinen Wagen zu kaufen. Auch dass hinsichtlich des Kleinbusses diverse Vor- und Nachteile zu erwägen sind, können wir ohne weitere Diskussion voraussetzen. Wer vor einer Entscheidung steht, so ist jedenfalls deutlich geworden, versucht sich ein Bild von den Vorzügen und Nachteilen der relevanten Optionen zu verschaffen. Diese Vor- und Nachteile sind die Gründe, deren relativen Gewichte es abzuschätzen gilt. Es geht, anders gesprochen, um das Ausmaß jener Gewichte oder Gewichtigkeiten. Und dieser quantitative Sachverhalt ist es, der in der erläuterten Metapher von den erwogenen Gründen steckt. 4 Gründe, so die bis hierher entwickelte Kernidee, sind die Vor- und Nachteile der jeweiligen Optionen, die es bei der Entscheidung durch den Akteur zu berücksichtigen gilt. Ma-
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chen wir uns einige Implikationen und Weiterungen dieser Kernidee klar. Donald Davidson schrieb vor geraumer Zeit: „Ein Grund rationalisiert eine Handlung nur dann, wenn er uns etwas sehen lässt, das der Akteur in seiner Handlung sah oder zu sehen glaubte – irgendein Merkmal, eine Konsequenz oder ein Aspekt der Handlung, den der Akteur wollte, wünschte, schätze, der ihm teuer war, pflichtgemäß, nützlich, geboten oder angenehm vorkam.“16 Gefangen in der Trias aus aristotelischer Syllogistik, Humeanischer Rationalitätskonzeption und der Erklärungstheorie von Carl Gustav Hempel, hat Davidson seinerzeit aus dieser im Kern richtigen Beobachtung einen falschen Schluss gezogen. Er gelangte zu der Überzeugung, dass das Wollen bzw. Wünschen des besagten Aspekts der Grund des Handelnden sei. Nein, der erwünschte und insofern vorteilhafte Aspekt selbst ist der Grund, aus dem der Akteur handelt. Und dies erklärt auch, inwiefern der Grund uns diesen Aspekt sehen lässt, wie Davidson schreibt: Der Grund zeigt sich schlicht selbst. Richtig an Davidsons Behauptung ist wiederum, dass wir neben den Aspekten, Merkmalen oder Eigenschaften der Handlung im engeren Sinn dieser Ausdrücke auch die Konsequenzen, also die kausalen und nicht-kausalen Folgen einer Handlung zu ihren Eigenschaften in einem umfassenderen Wortsinn zählen können, und dass daher auch Konsequenzen einer Handlung Gründe für und wider diese Handlung sein können.17 Angenommen, ich stehe vor der Wahl, am Abend entweder zu Hause zu bleiben oder mit einem Freund ins Theater zu gehen. Im strengen Sinn des Wortes kann ich zum Zeitpunkt meiner Entscheidung natürlich nicht wissen, was mich erwartet, wenn ich am Abend zu Hause bin oder ins Theater gehe. Gleichwohl ist es aufgrund zurückliegender Erfahrungen absehbar, dass ich den Abend ungestört verbringe, wenn ich daheim bleibe, und daher die Zeit finde, liegengebliebene Arbeit zu erledigen. Und es ist ebenso absehbar, dass ich im anderen Fall eine interessante Inszenierung zu sehen bekomme und einen netten Abend unter Freunden verbringe. Derartig
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absehbare Folgen möglicher Handlungen sind oft die Dinge, die man erwägt, wenn es ums Entscheiden für oder wider diese Handlungen geht. Und Dinge, die diese Rolle beim Entscheiden spielen, sind der hier vertretenen These gemäß Gründe. Dass die Gründe einer Handlung häufig mit absehbaren Konsequenzen der Handlung identisch sind, erklärt im Übrigen die Intuition all derjenigen Autoren, die darauf bestehen, Handlungserklärungen als teleologische Erklärungen zu deuten.18 Nicht immer, aber oft sind sie dies tatsächlich. Genau dann nämlich, wenn der Grund einer Handlung eine absehbare und vom Akteur intendierte Konsequenz der Handlung ist, um derentwillen er sich für diese Handlung entscheidet. Dann ist die Konsequenz ein handelnd erreichtes Gut bzw. ein Zweck im Sinne der aristotelischen Definition des Konzepts.19 Wenn ich einen Nagel in die Wand schlage, um an ihm ein Bild aufzuhängen, dann ist der Umstand, dass mein Tun absehbar zur Folge hat, einen Aufhänger für das Bild zu haben, mein Grund. Die Herbeiführung dieser Folge ist es, was ich mit meinem Tun bezwecke. Der Zweck meines Hämmerns ist die Aufhängbarmachung des Bildes, wenn man so reden will. Wir sind im Handeln oft insofern an den Folgen unserer Handlungen orientiert, als es uns weniger um die Handlungen selbst und mehr um das Herbeiführen (einer) ihrer Folgen geht. Das ist die Wahrheit der teleologischen Sicht. Ihr Fehler liegt nur darin, zu schnell und viel zu drastisch zu verallgemeinern. Denn nicht immer sind es intendierte Konsequenzen des Handelns, die den Akteuren Gründe liefern. Oft sind es auch ganz andere Aspekte. Manche Dinge tut man beispielsweise aus dem Grund, dass sie einem Spaß machen. Der Spaß ist aber im Normalfall keine Konsequenz der Handlung. Er liegt im Tun selbst. Die Eigenschaft der Handlung, dem Handelnden Freude zu bereiten, ist in solchen Fällen der praktische Grund. Da wir also oft auch die kausalen und nicht-kausalen Folgen einer Handlung beim Entscheiden erwägen, sollte man auch diese Folgen zu den vorteilhaften bzw. nachteiligen Aspekten der Handlung zählen, die folglich Gründe für und ge-
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gen diese Handlung sind. Diese Überlegung deutet darauf hin, dass wir mit dem Begriff der Eigenschaft (Aspekt, Merkmal usw.) einer Handlung im gegebenen Zusammenhang sehr großzügig verfahren sollten. In ontologischer Hinsicht kann alles Mögliche ein Vor- oder Nachteil der betreffenden Handlung sein. Dieser Sachverhalt wird klarer erkennbar, wenn man sich zum einen verdeutlicht, dass sich die Vor- und Nachteile einer Handlung sprachlich nicht nur als Eigenschaften der Handlung darstellen lassen. Man kann alternativ zum Beispiel auch die Tatsache als Grund anführen, dass die Handlung die betreffende Eigenschaft hat. Es ist ein rein sprachlicher, kein sachlicher Unterschied, wenn wir den Grund, der für den Kauf des Sportwagens spricht, nicht als die Eigenschaft der Handlung konzeptualisieren, der Kauf eines schnellen Wagens zu sein, sondern als die Tatsache, dass es sich um den Kauf eines schnellen Wagens handelt. Wie dieses Beispiel zum anderen zeigt, liegen den vorteilhaften Eigenschaften einer Handlung in vielen Fällen vorteilhafte Eigenschaften der involvierten Entitäten zugrunde. Weil der Wagen schnell ist, ist der Kauf dieses Autos der Erwerb eines schnellen Autos. Und diese Eigenschaft der Handlung, die auf einer Eigenschaft des Fahrzeugs beruht, mag in den Augen des Akteurs ein Grund sein, der für diese Handlung spricht. Auch in dieser Hinsicht sollten wir ontologisch getrost sehr großzügig verfahren und den Begriff der Eigenschaft einer Handlung flexibel gebrauchen. Handlungen haben ihre vorteilhaften und nachteiligen Eigenschaften oft aufgrund ihrer kausalen und nicht-kausalen Folgen oder aufgrund der Eigenschaften von Entitäten, die in das betreffende Tun involviert sind. Mit ein bisschen sprachlichem Geschick lassen sich die Gründe für eine Handlung aber immer als Eigenschaften dieser Handlung konzeptualisieren. Vor dem Hintergrund der Konzeptualisierung praktischer Gründe als Eigenschaften von Handlungen wird nicht zuletzt begreiflich, weshalb man sowohl davon spricht, Handlungsoptionen, als auch davon, die Gründe für und wider die Optionen
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zu erwägen. Denn wer einen Grund erwägt, erwägt damit immer auch die Handlung, von der dieser Grund eine (vorteilhafte) Eigenschaft ist. Dem entsprechend ist umgekehrt die Erwägung eines Akteurs, diese oder jene Handlung auszuführen, immer auch das Erwägen des betreffenden Grundes.20 5 Richtig an Davidsons Beobachtung ist auch, dass notwendigerweise immer ein Wollen bzw. ein Wunsch des Akteurs mit im Spiel ist, wenn es um die Frage geht, was für ihn ein Grund für welches Handeln ist. Dieser Sachverhalt liegt in der konzeptuellen Wahrheit begründet, dass die Rede von den Vor- und Nachteilen einer Handlung (von ihren vorteilhaften und nachteiligen Eigenschaften) nur unter Bezug auf die Wünsche und Interessen von Menschen erläutert werden kann.21 Denn nur mit Blick auf die Wünsche der involvierten Personen lässt sich klären, welche der vielen Merkmale der anstehenden Handlungsoptionen für den betreffenden Akteur Vor- bzw. Nachteile sind. Nur weil die eine Person den Wunsch hat, lange Strecken möglichst schnell zurückzulegen, ist die Schnelligkeit des einen Autos für sie ein Grund, der für die Option spricht, dieses Auto zu kaufen. Wer diesen Wunsch nicht teilt, findet in der genannten Eigenschaft des Fahrzeugs auch keinen Grund, es zu erwerben. Nur weil eine andere Person sich wünscht, hohe Benzinkosten zu vermeiden, ist der überdurchschnittliche Spritverbrauch des schnellen Wagens für sie ein Grund, der dagegen spricht, sich just dieses Auto zuzulegen. Wieder gilt, dass der, der den betreffenden Wunsch nicht teilt, auch den betreffenden Grund für die betreffende Handlung nicht hat. Hätten die Menschen keine Wünsche, so lässt sich jetzt generell sagen, hätten die Dinge um sie herum für sie weder Vorzüge noch Nachteile. Nahezu alles ließe uns vollkommen kalt. Nur weil wir Wünsche haben, leben wir in einer Welt, in der Gründe „zu uns sprechen“, insofern manche Dinge, die wir tun können, uns vorzüglicher, vorzugswerter, also besser als andere erscheinen. Aber es sind nicht unsere Wünsche selbst, die zu uns als Gründe sprechen.
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Nicht nur Wünsche, auch Meinungen haben eine notwendige Funktion hinsichtlich praktischer Gründe. Denn nur wenn der Akteur der Meinung ist, dass die Handlungsoption h den Vorteil v hat, ist er dazu in der Lage, aus dem Grund v entsprechend zu handeln. Aber auch diese Notwendigkeit legitimiert nicht den Fehlschluss, die Meinung des Akteurs sei sein Grund für h.22 Diese Meinung ist auch keine notwendige Bedingung dafür, dass der Vorteil v ein Grund ist. Diese Meinung ist lediglich epistemisch notwendig, damit der Akteur den Grund, der für h spricht, auch sieht. Handlungen haben im Licht der Wünsche und Interessen von Akteuren Vorzüge und Nachteile unabhängig davon, ob die Akteure sich darüber im Klaren sind oder nicht. Insofern sprechen die Gründe für Handlungen auch dann, wenn die Akteure dieses Sprechen überhören. Nicht jeder Grund, den ein Mensch für eine Handlung hat, ist, besser gesagt, ein Grund, den dieser Mensch auch sieht. Manchmal ist man blind für die eigenen Gründe, selbst wenn sie unmittelbar vor Augen liegen. Zuweilen täuschen sich Akteure auch und glauben, Vorteile in Handlungsoptionen zu erblicken, die die Optionen in Wahrheit nicht haben. Sie sehen in solchen Fällen vermeintliche Gründe. So mag sich herausstellen, dass das Auto, das ich wegen seines vermeintlich niedrigen Benzinverbrauchs erworben habe, tatsächlich enorm viel Sprit verbraucht. Dann sollte ich zu der Einsicht gelangen, dass ich für das, was ich tat, keinen Grund hatte. Ich glaubte nur, einen zu haben. Ich bin gleichsam ins Leere gefallen. Nicht jede Handlung ist begründet. 6 Bevor wir mit Blick auf den übergeordneten Zusammenhang einen Schritt weiter gehen, möchte ich in diesem Abschnitt versuchen, ein naheliegendes Missverständnis auszuräumen. Zu diesem Zweck mag es hilfreich sein, zwei Punkte, die im Zurückliegenden bereits zur Sprache kamen, in Erinnerung zu rufen und eine Konsequenz aus ihnen zu ziehen. – Vorzüge einer Handlung, so sagte ich, sind positive Aspekte der Handlung, die im Licht der Wünsche des Akteurs zutage treten. Da-
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vidson machte uns darauf aufmerksam, dass der handlungstheoretisch etablierte Begriff des Wunsches sehr umfassend ist. Er umschließt neben Wünschen und Begehrungen im engeren Sinn dieser Worte unter anderem auch solche Dinge wie etwa Wertschätzungen und Pflichtgefühle, also Phänomene unseres geistigen und emotionalen Daseins, die man umgangssprachlich nicht unbedingt mit Wünschen in Verbindung bringt. Eine wichtige Konsequenz, die sich aus diesen beiden Punkten ergibt, zielt auf einen entsprechend weit gefassten Begriff des Vorzugs einer Handlung. Dieses Konzept darf man im gegenwärtigen Kontext nicht hedonistisch oder utilitaristisch verengt deuten und entsprechend meinen, nur angenehme Gefühle, Glücksmomente oder Befriedigungserlebnisse könnten Vorzüge einer Handlung sein, die als Gründe für diese Handlung in Betracht kommen. Menschen sind in dieser Hinsicht im Übrigen auch sehr voneinander verschieden. Es gibt vielleicht wirklich hedonistisch gestrickte Gestalten unter uns, deren Wünsche nur die eben genannten Phänomene als Vorzüge von bzw. Gründe für Handlungen erscheinen lassen. Aber die meisten von uns sind anders, normaler. Im entsprechend weit gefassten Sinn des Wortes wünschen wir in der Regel nicht nur, dass es uns selbst gut ergeht. Wir wollen auch, dass es den Menschen, die uns lieb sind, die uns nahestehen, gut ergeht. Daher ist es im Licht meiner Wünsche ein Vorteil einer Handlung, wenn sie dazu beiträgt, dass es dir gut geht, du zumindest keinen unnötigen Ärger, keine Frustration, keine Schmerzen meinetwegen erleiden musst. Ja, es gibt erwiesenermaßen auch Leute, die so erzogen wurden (oder aus anderen Gründen so geworden sind), dass sie bestimmte Arten von Dingen – Schändlichkeiten, Laster, Gemeinheiten usw. – partout nicht tun wollen. Dass eine potentielle Handlung diese negativen Züge trägt, also Nachteile hat, kann für diese Menschen ein starker, wenn nicht gar ausreichender Grund dafür sein, derartige Dinge nicht zu tun. So zu sein, wie diese hoch sensiblen Leute, ist freilich nicht zwingend. Es gibt eben solche und solche. Es gibt, mit anderen
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Worten, nicht den moralischen Mustermenschen. Auf diesen Punkt kommen wir im Abschlusskapitel noch einmal zu sprechen. Im Moment ist es mit Blick auf das Anliegen dieses Abschnitts lediglich wichtig zu betonen, dass die Rede von den Vorzügen und Nachteilen einer Handlung großzügig genug gedeutet werden muss, um der Buntheit und Mannigfaltigkeit der menschlichen Realität gerecht werden zu können. Wenn im Weiteren von den Vorteilen oder Vorzügen einer Handlung die Rede ist, dann also bitte mehr an Aristoteles und weniger an Bentham denken. 7 Die Überlegungen zur Notwendigkeit von Wünschen und Meinungen, die im fünften Abschnitt zur Sprache kamen, machen darauf aufmerksam, dass nur Wesen, die Wünsche und Meinungen haben, Wesen sind, die für ihr Verhalten Gründe haben können.23 Und wenn es stimmt, dass nur solche Verhaltensformen (intentionale) Handlungen sind, für (und gegen) die man sich aus Gründen entscheiden kann, dann ist auch wahr, dass nur die besagten Wesen handeln. Der Umstand, dass nur solche Wesen, die Meinungen, Wünsche und damit ein mentales Dasein haben, handeln können, führt darüber hinaus zu einem weiteren Sachverhalt: Nur Wesen, die ein mentales Dasein haben, können in einem gehaltvollen Sinn des Wortes entscheiden, sich also Optionen des Handelns vergegenwärtigen und die Vor- und Nachteile dieser Optionen erwägen. Dazu bedarf es eines Vorstellungsvermögens. Und solch ein Vermögen geht den Wesen ohne mentales Dasein ab.24 Der damit vor Augen getretene Zusammenhang zwischen den Begriffen des Grundes, der Handlung und der Entscheidung hilft uns zu verstehen, was es heißt, dass ein Akteur aus einem Grund handelt. Der Handelnde tut, was er tut, um des besagten Grundes, also um des Vorzugs der Handlung willen. Der Grund seiner Handlung ist derjenige Aspekt seines Tuns, auf den der Akteur es absieht. Der Grund ist, anders gesagt, diejenige Hinsicht der Handlung, unter der die handelnde Person selbst ihr Tun begreift. Und wenn wir diesen Grund ge-
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nannt bekommen, können wir verstehen, warum bzw. um welchen Vorzugs willen der Akteur tat, was er tat. In diesem Sinne können wir dann uns und anderen Menschen durch den Hinweis auf den Grund erklären, warum der Handelnde so gehandelt hat, wie er es tat. Diese Zusammenhänge geben im Übrigen auch den richtigen Aspekt der Überzeugung solcher Autoren zu erkennen, gegen die sich Davidson seinerzeit stemmte. In der Frühphase der handlungstheoretischen Debatte vertraten einige von Wittgenstein geprägte Philosophen den Standpunkt, die Erklärung einer Handlung durch den Grund des Akteurs könne deshalb keine Kausalerklärung sein, weil diese Erklärung eine zusätzliche Beschreibung der Handlung sei und daher kein Verweis auf die Ursache der Handlung sein könne. Ursachen und ihre Wirkungen können ohne Weiteres nicht unter gemeinsame Beschreibungen fallen.25 Was genau diese Autoren meinten, als sie von einer zusätzlichen Beschreibung (oder Neubeschreibung) der zu erklärenden Handlung sprachen, wurde leider nie so richtig deutlich. Vermutlich vertraten sie untereinander auch verschiedene Ansichten. Den wahren Punkt ihrer gemeinsamen Position können wir jetzt jedoch entdecken. Denn wenn die Erklärung einer Handlung auf den Grund des Akteurs verweist und dieser Grund ein Aspekt der Handlung selbst ist, dann ist es schon richtig, dass das Explanans zugleich auch auf das Explanandum verweist und insofern als eine zusätzliche Beschreibung der Handlung zu deuten ist. In der Tat liegt es auf der Hand, dass die Erklärung einer Handlung durch den Grund des Akteurs keine Kausalerklärung im engen Sinn des Wortes ist.26 Sie kann es gar nicht sein. Denn der Aspekt der Handlung, um dessentwillen der Akteur sich für diese Handlung entschieden hat und der folglich der Grund war, aus dem er handelte, kann keine Ursache der Handlung sein. Nie verursacht ein Merkmal das, wovon es ein Merkmal ist. Dass man Erklärungen von Handlungen durch Gründe jedoch leicht als Kausalerklärungen missdeuten kann, liegt an der aufgezeigten Verknüpfung zwischen Gründen,
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Wünschen und Meinungen. Aufgrund dieser Verknüpfung kann man aus der Angabe eines Grundes immer folgern, dass der Akteur einen Wunsch hatte, in dessen Licht der Grund ein Vorzug der betreffenden Handlung war. Und wenn man weiß, dass der Akteur aus diesem Grund gehandelt hat, dann kann man auch schließen, dass er der Meinung war, dass dieser Vorzug der Handlung besteht. Wo ein Grund, aus dem einer handelt, da auch immer ein Wunsch und eine Meinung. Und es mag schon richtig sein, dass derartige Wünsche und Meinungen das betreffende Handeln kausal zu erklären erlauben. Dieser Zusammenhang zwischen dem Grund einer Handlung sowie dem Wunsch und der Meinung des Handelnden, die eine Kausalerklärung der Handlung ermöglichen, ist leicht zu übersehen. Der Grund für dieses Versehen erklärt vermutlich auch, weshalb in der Literatur so unterschiedliche und derart disparate Konzeptionen praktischer Gründen entwickelt wurden. Dieser faktische Pluralismus schreit nach einer Erklärung. Diese Erklärung könnte darin bestehen, dass man den Ausdruck ‚Grund‘ in vielen Kontexten auch in einer umfassenderen Bedeutung verwendet. In dieser Bedeutung kann er auf jeden Faktor bezogen werden, der dazu dient, eine Handlung auf die eine oder andere Weise zu erklären. Rüdiger Bittner hat diesen Punkt ebenfalls im Auge, wenn er schreibt, „dass alles Grund sein kann, was etwas erklärt oder zu erklären hilft.“27 In dieser umfassenderen Bedeutung gehören Meinungen und Wünsche unter Umständen zu den Gründen einer Handlung. Sie tun dies dann, wenn sie dazu taugen, eine Handlung kausal zu erklären. In dieser umfassenden Bedeutung können auch Tatsachen im Umfeld des Handelnden Gründe sein, wenn sie dazu dienen, seine Handlung zu erklären. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn sich die Handlung des Akteurs als eine Reaktion auf die betreffende Tatsache begreifen lässt. Dass die Ampel auf Rot gesprungen ist, erklärt, weshalb der Akteur seinen Wagen zum Stehen brachte. Und insofern die rote Ampel sein Tun erklärt, ist sie auch ein Grund in der umfassenden Bedeutung des Wortes: Sie ist ein Erklärungsgrund.
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In dieser umfassenden Bedeutung des Wortes haben aber auch viele Dinge Gründe, die im engeren Sinn des Ausdrucks, in dem man in philosophischen Kontexten von praktischen Gründen spricht, nicht begründet sein können. Denn in dieser umfassenderen Bedeutung von Gründen als Erklärungsfaktoren sprechen wir auch von den Gründen dafür, dass Häuser einstürzen, Flüsse über die Ufer treten, Epidemien sich ausbreiten oder Finanzsysteme zusammenbrechen. Gründe in diesem weiten Sinn des Wortes sind, wie gesagt, Erklärungsfaktoren. Sie haben mit Handlungen als Handlungen nichts zu tun und sind insofern keine praktischen Gründe. Oft fallen diese Gründe auch unter den Begriff der Ursache. Erklären sie Handlungen, dann als verursachte Ereignisse. Wo es aber um die Gründe fürs Handeln geht, also um die praktischen Gründe, die Akteure im Vorfeld ihrer Entscheidung erwägen und aus denen sie gegebenenfalls handeln, geht es nicht um den umfassenden Begriff des Erklärungsgrundes. Hier geht es um praktische Gründe im Sinne von Vorzügen der durch sie begründeten Handlungen. An diesem Punkt der Diskussion angelangt, bietet es sich an, noch einmal auf die zitierte Arbeit von Davidson zurückzukommen und sich einer seiner Unterscheidungen zu bedienen. Davidson unterschied zwischen primären und nicht-primären Gründen, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass man im alltäglichen Reden über die Gründe von Handlungen eher selten von genau solchen Kombinationen aus Wünschen und Meinungen spricht, die nach seinem Dafürhalten die primären Gründe von Akteuren sind. Die Unterscheidung zwischen primären und nicht-primären Gründen trägt dieser Tatsache Rechnung, insofern Davidson behaupten konnte, dass alles Mögliche, was in der Erklärung (oder Rechtfertigung) einer Handlung zur Sprache kommen kann, als nicht-primärer Grund akzeptabel ist, solange explizit oder implizit deutlich wird, wie aus der Angabe eines nicht-primären Grundes der primäre Grund des Akteurs zu rekonstruieren ist. Mit dieser Unterscheidung ausgestattet, können wir die Vorzüge von Handlungen als die primären Gründe auszeichnen und jede
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Rede von Gründen, die diesem Bild nicht unmittelbar entspricht, im Sinne Davidsons als ein Reden über nicht-primäre Gründe klassifizieren. Dabei halten wir freilich an dem Gedanken fest, dass etwas nur dann als nicht-primärer Grund akzeptabel ist, wenn es hinlänglich klar zu erkennen gibt, wie der primäre Grund des Akteurs beschaffen ist, welchen Vorzug der Handlung der Handelnde also im Auge hatte. In Anbetracht dieser Vereinbarung lassen sich jetzt Wünsche, Meinungen, Absichten oder auch andere intentionale Einstellungen der Akteure als nicht-primäre Gründe bezeichnen. Sie sind solche Gründe, wenn sie der Erklärung der betreffenden Handlung dienen und klar genug zu erkennen geben, welche Vorzüge der Handlung, welche primären Gründe also im jeweiligen Fall von Belang sind. Auch solche Umstände des Handelns, die eine Handlung begreiflich machen, insofern die Handlung als eine Reaktion auf die Umstände verständlich wird, fallen unter den Begriff des nicht-primären Grundes. Wenn wir erfahren, dass der Tritt auf die Bremse eine Reaktion auf die rote Ampel war, dann können wir uns denken, welchen Vorteil der Handelnde darin sah, seinen Wagen angesichts der roten Ampel zum Stehen zu bringen. Dem Konzept des nicht-primären Grundes sollten wir einen weiten Umfang verleihen. Jedermanns nachvollziehbare Intuitionen darüber, was Gründe sind, können dann durch diesen Begriff erfasst werden. Jonathan Dancy zeigt sich zum Beispiel davon überzeugt, dass die Tatsache, etwas versprochen zu haben, ein Grund dafür sei, das Versprochene auszuführen.28 Etwas versprochen zu haben ist jedoch schwerlich als ein Merkmal der betreffenden Handlung, daher nicht als primärer Grund dafür zu deuten, das Versprechen einzulösen. Aber wir verstehen die Behauptung, der Akteur habe getan, was er tat, weil er zuvor versprochen hatte, es zu tun. Und wir sehen hinlänglich klar, wo der primäre Grund seines Tuns liegen könnte. Er mag zum Beispiel in dem Vorzug der Handlung bestehen, dass sie ein versprochenes Tun war. Gegebenenfalls hat dieser Vorzug bestimmte Nachteile der Handlung übertrumpft.
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Wenn man es vorzieht, kann man jetzt auch die absehbaren Konsequenzen einer Handlung, die bereits im vierten Abschnitt des Kapitels Thema waren, statt durch den Begriff des primären durch den des nicht-primären Grundes erfassen. Soweit ich sehe, macht uns jedenfalls die Ontologie hier keinerlei Vorschrift. Dass eine Handlung absehbar eine bestimmte Folge haben wird, kann man durchaus als eine Eigenschaft dieser Handlung erfassen. Dann kommt diese Eigenschaft als primärer Grund für einen Akteur in Frage. Unter den Folgen einer Handlung kann man aber auch unabhängige Ereignisse verstehen, die durch die Handlungen verursacht sind. In dem Fall bietet es sich an, diese Ereignisse als nicht-primäre Gründe zu konzeptualisieren. Wir können auch in solchen Zusammenhängen großzügig und freimütig sein. Wichtig ist nur, im Auge zu behalten, was der zugrunde liegende Witz der Rede von den praktischen Gründen ist. Primäre Gründe sind immer Vorzüge, die als Vorzüge für die betreffenden Handlungen sprechen. Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, sind Regeln bestenfalls nicht-primäre Gründe im erläuterten Sinn des Wortes. Und wenn ich im Weiteren von Gründen spreche und der Kontext nichts anderes signalisiert, werden immer die primären Gründe einer Handlung gemeint sein. Um das handlungstheoretische Primat dieser Gründe zu betonen, werde ich nur diese Art von Gründen fortan als praktische Gründe bezeichnen und sie so von den nicht-primären Gründen unterscheiden, die lediglich Erklärungsgründe sind. 8 Wenn wir die (primären) Gründe, die für eine Handlung sprechen, mit den Vorzügen der Handlung identifizieren, wie hier vorgeschlagen wird, haben wir eine interessante Konsequenz zu ziehen: Praktische Gründe fallen zugleich auch in die Menge der theoretischen Gründe, also der Gründe für Meinungen bzw. Überzeugungen.29 Praktische Gründe sind nämlich insofern theoretische Gründe, als sie über die Handlungen hinaus zugleich auch Überzeugungen darüber begründen, was für bzw. gegen eine Handlung spricht. Man erinnere sich an
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diesem Punkt noch einmal an die Beobachtung von Davidson, die im vierten Abschnitt zitiert worden ist. Der Handelnde, so Davidson, sah den Vorzug in seiner Handlung, war also vom Vorliegen dieses Vorzugs, sprich des Grundes überzeugt. Der Handelnde meinte, mit anderen Worten, dass dieser oder jener Aspekt an der Handlung sein Gutes hat. Praktische bzw. primäre Gründe begründen damit insofern auch spezifische Meinungen, nämlich Meinungen des Akteurs darüber, was an einer Handlungsoption gut, weniger gut oder schlecht ist. Und dieser Umstand öffnet den Ausblick auf ein realistisches Bild vom praktischen Räsonieren und Entscheiden. Wenn ein Akteur sich kraft seines Vorstellungsvermögens unterschiedliche Optionen des Handelns vergegenwärtigt und anhand der Gründe, etwa der absehbaren Folgen, die Frage zu beantworten sucht, was er tun soll, dann versucht er, sich eine Überzeugung darüber zu bilden, welche Option besser als ihre Alternativen ist. Er sucht und findet in diesem Urteil seine Entscheidung. Er hat Gründe erwogen und ihr Gewicht eingeschätzt. Und sein Urteil reflektiert diese Schätzung. Das Urteil lautet, diese Handlung ist besser als jene, weil für sie die gewichtigeren Gründe sprechen. Das hierbei hervortretende, komparative Moment einer Entscheidung wird uns im achten Kapitel erneut begegnen. Man sollte jedoch nicht annehmen, dass sich ein Akteur immer erst ein Urteil darüber bilden muss, welche seiner Optionen die bessere ist, bevor er handelt. Nimmt man dies an, gelangt man leicht zu der verbreiteten, aber irrigen Annahme, dass jede Handlung notwendigerweise auf einer Entscheidung des Akteurs beruht. Manchmal muss man reflektieren. Manchmal hat man glücklicherweise auch die Zeit zum Reflektieren, Räsonieren, Erwägen und Entscheiden. Oft hat ein Akteur diese Zeit jedoch nicht. Und häufiger noch hat er es ohnehin nicht nötig, erst die Gründe für und wider zu erwägen. Er sieht in solchen Fällen einen Grund, also einen Vorzug, der klar und deutlich für eine Handlungsweise spricht. Und er handelt dann entsprechend – spontan, unreflektiert und ohne Entscheidung
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oder Urteil.30 In solchen Momenten entscheidet sich etwas. Das ist schon wahr. Aber es ist nicht der Handelnde, der sich entscheidet. Der ist mit seinem Handeln vollauf beschäftigt. An all diesen Dingen ist nichts rätselhaft. An der gegenteiligen Position, der zufolge immer eine Entscheidung der Handlung voranzugehen hat, hängt ein Rätsel: Von solchen Entscheidungen wissen wir oft nichts. Es gibt keine Zeugen. Um unbewusste oder implizite Entscheidungen steht es folglich nicht besser als um Einhörner, Götter oder Schneewittchen. Warum sollte man an die Existenz von derlei Dingen glauben? – Die Rätselhaftigkeit unbewusster Entscheidungen erinnert wohl nicht ohne Grund an den Mythos vom impliziten Regelfolgen, mit dem wir uns in früheren Kapiteln dieser Abhandlung beschäftigt haben. Jede Theorie fährt besser, die mit solch rätselhaften Gespenstern wie unbewussten Entscheidungen und impliziten Regeln keinen Umgang pflegt. *** In diesem Kapitel wurde versucht, einen Begriff des praktischen Grundes verständlich und plausibel zu machen, der sich deutlich von den Konzeptionen unterscheidet, die in der zeitgenössischen Literatur diskutiert werden. (Primäre) Gründe sind in der hier vertretenen Auffassung weder intentionale Einstellungen der Akteure noch Tatsachen in der äußeren Umwelt, auf die der Akteur reagiert. Praktische Gründe, also solche Gründe, aus denen Menschen handeln, sind Aspekte ihrer Handlungen, nämlich solche Eigenschaften der Handlungsoptionen, die im Lichte der Wünsche des Akteurs Vorzüge dieser Handlungen sind. Ergänzt wurde diese Sicht der Dinge durch den Einbezug nicht-primärer Gründe, also solcher Gründe, die lediglich dazu dienen, das betreffende Tun zu erklären. Im nachfolgenden Kapitel möchte ich zeigen, dass in der Menge der primären Gründe für Handlungen keine Regeln zu finden sind.
VII Gründe und Regeln Mittlerweile hat sich geklärt, was Regeln sind und was es mit dem Begriff des primären Grundes einer Handlung auf sich hat. Präskriptive Regeln sind (generalisierte) Anweisungen; konsultative Regeln sind (generalisierte) Ratschläge oder Vorsätze; deskriptive Regeln sind (generalisierte) Aussagen. Primäre bzw. praktische Gründe stellten sich im zurückliegenden Kapitel als die Vorzüge der durch sie begründeten Handlungen dar. Zwischen Anweisungen, Ratschlägen, Vorsätzen, Aussagen auf der einen Seite und Vorzügen von Handlungen auf der anderen Seite besteht ein gewaltiger Unterschied. Größer kann ein Unterschied fast schon gar nicht sein. Regeln sind daher im Allgemeinen keine primären Gründe. Insbesondere ist eine präskriptive Regel kein primärer Grund dafür, der betreffenden Anweisung des Regelautors nachzukommen. Es kann nicht schaden, zu Beginn dieses Kapitels darauf aufmerksam zu machen, dass die kategorische Verschiedenheit von Regeln und Gründen keine bloße Folge der Konzeption praktischer Gründe ist, die im zurückliegenden Kapitel entwickelt wurde. Auch wer eine der anderen Theorien über die Natur dieser Gründe akzeptiert, kann schwerlich behaupten, dass Regeln (primäre) Gründe sind. Alle Arten von Regeln, die wir im ersten Teil dieser Abhandlung kennengelernt haben, sind jedenfalls von den Wünschen, Meinungen und anderen propositionalen Einstellungen der involvierten Akteure leicht zu unterscheiden. Und Regeln aller Art haben auch mit den Umständen des Handelns, auf die der Akteur durch sein Tun reagiert und die in den Augen einiger Philosophen als Handlungsgründe gelten, ohne Weiteres nicht sonderlich viel zu tun.
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Wie man es folglich auch dreht und wendet: Regeln sind keine Gründe. Es sollte aber auch gleich zu Beginn dieses Kapitels betont werden, dass es in der nachfolgenden Diskussion hauptsächlich um das Verhältnis zwischen Regeln und primären Gründen geht. Wie wir noch sehen werden, können Regeln oft als nichtprimäre Gründe aufgefasst werden, insofern sie die Bestimmung solcher explanatorischen Gründe, die im zurückliegenden Kapitel formuliert wurde, im Einzelfall erfüllen. Denn zuweilen erklärt man die Handlung einer Person durchaus unter Verweis auf eine Regel. In dem Fall gibt dieser Verweis entweder hinlänglich klar zu erkennen, welchen Vorzug der Akteur in seinem Handeln gesehen hat, was demnach der primäre Grund war, aus dem er gehandelt hat. Oder der Verweis impliziert ohne nähere Spezifikation des primären Grundes, dass der Akteur irgendeinen Handlungsgrund dieser Art für das regelkonforme Handeln hatte. Diesen Sachverhalt werde ich im Laufe des Kapitels noch näher erläutern. Für den weiteren Fortgang der Hauptüberlegung dieser Abhandlung ist indes allein von Belang, dass keine Art von Regeln unter den Begriff des primären Grundes fällt. Regeln sind, anders gesagt, keine praktischen Gründe, keine Gründe, aus denen Menschen handeln. Man kann aus Gründen, nicht aber aus Regeln handeln. An sich ist diese These allein schon durch die bereits dargelegten Überlegungen wohl begründet. Denn aus der ontologischen Verschiedenheit von Gründen und Regeln folgt, dass Regeln nicht als primäre Gründe fungieren können. Wie es bereits einmal formuliert wurde: Regeln sind aus dem falschen Stoff gemacht. Regeln aller Art taugen daher nicht als Vorzüge von Handlungen. – Gleichwohl ist insbesondere die Vorstellung, Regeln lieferten den Regeladressaten Gründe dafür, die Regeln zu befolgen, wie ebenfalls schon gesagt, bemerkenswert weit verbreitet. Daher ist es der Mühe schon wert, ein ganzes Kapitel darauf zu verwenden, diese Vorstellung zu widerlegen. Philosophie ist manchmal wie Sport. Man muss gewisse Denkbewegungen erst üben, damit der Hergang flüssig wird.
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Darum heißt es in den nachfolgenden Abschnitten, fleißig sein. Wir üben unseren Blick für den Unterschied zwischen Regeln und (primären) Gründen, indem wir zwei Parcours durchschreiten. Der erste Parcours führt noch einmal an den sechs Formen des Umgangs mit Regeln vorüber, die aus dem zweiten Kapitel bekannt sind. Auf jedem Schritt dieses Durchgangs, bei dem ich mich der Überschaubarkeit halber wieder auf Gebotsregeln konzentriere, wird danach zu fragen sein, wie das Verhältnis zwischen diesen Regeln und den Handlungsgründen der involvierten Akteure beschaffen ist. Beim Durchgang durch den zweiten Parcours konzentrieren wir uns dann auf das Anwenden einer Regel und gehen die unterschiedlichen Regeltypen ab. Auch hier wird natürlich die Frage im Mittelpunkt stehen, wie sich die primären Gründe der zu betrachtenden Akteure zu den generalisierten Anweisungen, Ratschlägen und Vorsätzen verhalten. Am Ende des Kapitels sollte dann vollkommen klar sein, dass Regeln und praktische Gründe zweierlei und dass insbesondere Gebotsregeln keine primären Gründe dafür sind, die betreffenden Gebote zu befolgen. 1 Man rufe sich also die sechs paradigmatischen Formen des Umgangs mit (präskriptiven) Regeln in Erinnerung. Wir hatten im zweiten Kapitel mit dem kommunikativen Umgang begonnen, uns dann zuerst aus der Autorenperspektive den Komplex des Aufstellens, Änderns und Außerkraftsetzens von Regeln angeschaut, um anschließend aus der Adressatenperspektive zwischen dem Akzeptieren, Anwenden, Befolgen und Folgen von Regeln zu unterscheiden. Darüber hinaus habe ich stipulativ ein Konzept des Handelns gemäß einer Regel eingeführt. Dieser Blick zurück lässt schon erahnen, dass sich die Frage, ob Gebotsregeln, auf die wir uns vorübergehend wieder konzentrieren wollen, Handlungsgründe sind, bestenfalls beim Akzeptieren, Anwenden und Befolgen ernsthaft stellt. Im Fall der übrigen Paradigmen des Regelumgangs erscheint der Gedanke von Vornherein eher abwegig, dass die Regeln mit Handlungsgrün-
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den der involvierten Akteure identisch sind. Im Fall des Handelns gemäß einer Regel ist eine Identität sogar kraft Definition unmöglich. Denn das betreffende Phänomen wurde ja durch die Annahme bestimmt, dass die regelgemäßen Handlungen Gründe haben, die von der involvierten Regel unabhängig sind. Doch auch wenn sich die Frage, ob Regeln Gründe sind, nicht in allen Fällen mit derselben Dringlichkeit stellt, wird es im Vorgriff auf die Überlegungen der nachfolgenden Kapitel eine gute Vorübung sein, wenn wir systematisch alle Paradigmen des Regelumgangs daraufhin untersuchen, wie und wo das Konzept des Handlungsgrundes ins Spiel kommt. Denn auch wenn in vielen Fällen ohnehin klar ist, dass zwischen den Regeln und Gründen ein himmelweiter Unterschied besteht, rundet es unser Verständnis ab, wenn wir im Folgenden auch einige Pfade abschreiten, die sich links und rechts der Hauptstraße befinden. Beginnen wir also wieder von vorn mit dem ersten Paradigma. Man kann aus den vielfältigsten Gründen über Regeln kommunizieren. Solch ein Grund kann zum Beispiel darin bestehen, dass man sich als Theoretiker die Frage stellt, was es mit Regeln auf sich hat und wie sich die Begriffe der Regel und des Handlungsgrundes zueinander verhalten. In dem Fall ist die Aussicht darauf der primäre Grund, am Beispiel der kommunikativen Auseinandersetzung mit den involvierten Begriffen eine Antwort auf die theoretischen Fragen zu finden. Ein anderer Grund dafür, über Regeln zu kommunizieren, kann darin bestehen, dass man sich im Gespräch mit anderen Menschen darüber vergewissern möchte, ob eine mutmaßlich bestehende Regel wirklich gültig ist, oder darüber, ob über ihre Formulierung allseits Einhelligkeit herrscht. „Gilt die Abseitsregel auch beim Hallenfußball?“ So könnte man im ersten Fall fragen. „Was genau besagt die Abseitsregel?“ So könnte es im zweiten Fall heißen. Die Aussicht darauf, derlei Fragen zu beantworten, ist in solchen Situationen der primäre Grund für die diversen Akte des kommunikativen Regelumgangs.
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Wenn wir uns daran erinnern, dass die kommunikative Perspektive begreiflich macht, inwiefern man auch über Regeln sprechen kann, die es gar nicht gibt, insofern sie nicht in Geltung sind, treten weitere Funktionen zum Vorschein, die Handlungsgründe in solchen Zusammenhängen haben können. So kann man etwa einen Grund dafür sehen, für einen Lebensbereich, in dem es bisher noch keine Regelung gibt, eine Regel vorzuschlagen. Und da es zumeist mehr als genau eine Möglichkeit gibt, wie die Regelung eines solchen Bereiches ausgestaltet werden könnte, kann man auch einen spezifischeren Grund dafür haben, den einen Regelungsvorschlag gegenüber einem anderen Angebot vorzuziehen. In all den Fällen, die durch diese Beispiele des kommunikativen Regelumgangs nur angedeutet sind, reden, verhandeln, debattieren, streiten Menschen über Regeln, die entweder schon bestehen oder die ihrer Ansicht nach gelten, nicht oder nicht länger gelten sollten. In vielen dieser Fälle haben die Leute ihre Gründe für die einzelnen Schritte, die sie in der kommunikativen Auseinandersetzung mit anderen Menschen unternehmen. Offenkundig sind diese Handlungsgründe jedoch nicht mit den betreffenden Regeln identisch. Es mag zur Vervollständigung unseres Bildes hilfreich sein, auch an diesem Punkt noch einmal auf eine Facette des kommunikativen Regelumgangs einzugehen, die im ersten Teil dieser Abhandlung mehrfach zur Sprache kam. Wenden wir uns zu diesem Zweck noch einmal den Regeln einer natürlichen Sprache zu. Ich habe im zweiten Kapitel behauptet, dass die Annahme unplausibel sei, die kompetenten Sprecher einer Sprache befolgten präskriptive Regeln der Grammatik, der Syntax, Semantik usw. Noch unglaubhafter ist die Behauptung, diese Sprecher wendeten präskriptive Regeln an, seien also in jedem Einzelfall in ihrem Sprachhandeln an den betreffenden Regeln orientiert. Stattdessen habe ich vorgeschlagen, diejenigen Regeln, die in den Grammatikbüchern einer natürlichen Sprache niedergeschrieben stehen, als deskriptive Regeln zu deuten. Diese Regeln bringen die Regel-, wenn man so will, die
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Gesetzmäßigkeiten zum Ausdruck, auf die Linguisten bei ihrer Erforschung des Sprechhandelns der Verwender einer gemeinsamen Sprache stoßen. Wie im ersten Teil der Abhandlung darüber hinaus deutlich wurde, kann man die deskriptiven Regeln einer Sprache in präskriptiv formulierte Regelsätze gießen und sich dadurch zum Autor der resultierenden Anweisung machen. Aus der deskriptiven Regel, dass die Sprecher der Sprache S unter den Bedingungen B das Hauptverb des Satzes in der grammatischen Form F gebrauchen, kann man die präskriptiven Verfahrensregel „ableiten“, dass man unter den Bedingungen B das Hauptverb in der Form F gebrauchen muss, will man die Sprache S korrekt (also so, wie es die kompetenten Sprecher normalerweise tun) gebrauchen. Der triviale Punkt, auf den ich angesichts dieser Rückschau die Aufmerksamkeit lenken möchte, besteht darin, dass man zumeist Gründe dafür hat, deskriptive Regeln in präskriptiv formulierten Regelsätzen wiederzugeben und sich so zum Autor der resultierenden Anweisung zu machen. Dieser Grund mag in vielen Fällen damit zusammenhängen, dass man noch nicht kompetente Sprecher durch die präskriptiv abgefassten Regeln in den korrekten Umgang mit der betreffenden Sprache einweisen will.1 Aber mit ein bisschen Phantasie lassen sich auch andere Situationen ausmalen, in denen Personen irgendwelche Gründe dafür haben, die deskriptiven Regeln einer Sprache in ein „präskriptives Gewand“ zu hüllen und die resultierenden Anweisungen an bestimmte Adressaten zu richten. Für uns sind hier indes nur zwei Punkte von Interesse: Erstens halten wir an der Vorstellung fest, dass zahlreiche Regeln, denen das sprachliche (und oft auch das nonverbale) Handeln vieler Leute folgt, von Haus aus deskriptive Regeln sind, die bestenfalls zweckgerichtete, präskriptive Ableitungen kennen. Zweitens sollte die zurückliegende Diskussion des ersten Paradigmas deutlich gemacht haben, dass hier nicht einmal der Anschein erwächst, die involvierten Regeln und Gründe seien miteinander identisch. Regeln sind trivialerweise keine Gründe dafür, über diese Regeln zu reden.2
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2 Damit kommen wir zum zweiten Paradigma. Welche Rolle spielen Handlungsgründe in solchen Situationen, in denen ein Regelautor eine generalisierte Anweisung gibt, sprich eine präskriptive Regel aufstellt? Es dürfte unstrittig sein, dass jeder Autor, der so etwas tut, handelt und daher mit großer Wahrscheinlichkeit einen Grund für sein Handeln hat. Gehen wir also davon aus, dass er die Regel aus dem betreffenden Grund aufstellt. Hier liegt zumindest anfangs die Annahme nahe, der Autor stelle die Regel aus dem Grund auf, dass er seine Adressaten zu einem Verhalten bewegen will, das sie nicht an den Tag legen würden, wenn es die betreffende Regel nicht gäbe. Diese Annahme wird scheinbar auch durch den Vergleich mit einer singulären Anweisung gestützt, auf dessen Grundlage die Deutung präskriptiver Regeln im dritten Kapitel entwickelt wurde. Der Vater sagt zu seiner Tochter: „Sei heute Abend um neun zu Hause!“ Durch diese Äußerung bringt er seinen Wunsch zum Ausdruck, dass die Tochter um neun zu Hause sei. Und weil er diesen Wunsch hat, so scheint es, gibt er der Tochter die Anweisung. Insofern scheint der Wunsch des Vaters der primäre Grund für sein Tun zu sein. Diese Feststellung widerspricht jedoch der Behauptung im zurückliegenden Kapitel, dass die Wünsche eines Akteurs keine primären Gründe sind. Wünsche, so war zu sehen, dienen vielmehr der Beantwortung der Frage, welche Aspekte einer (potentiellen) Handlung im Licht dieser Wünsche Vorzüge und daher primäre Gründe für ein entsprechendes Handeln sind. Angesichts dieses Widerspruchs müssen wir an dieser Stelle entweder eine Ausnahme von der Regel einräumen, dass Wünsche niemals primäre Gründe sind, oder die Feststellung vom Ende des zurückliegenden Absatzes zurückweisen. Ich denke, man sollte den zweiten Weg einschlagen und nach einer alternativen Beschreibung der Situation eines Akteurs suchen, der anderen Menschen aus bestimmten Gründen (singuläre oder generalisierte) Anweisungen gibt. Um den Weg zu einer solchen Alternativbeschreibung freizulegen, sollten wir uns daran erinnern, dass zu den Vorzügen
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einer Handlung oft auch ihre absehbaren Folgen gehören. Der gesuchten Beschreibung zufolge ist es nicht der besagte Wunsch des Regelautors, der ihm den primären Grund für seinen Akt des Anweisens liefert. Dieser Grund besteht vielmehr darin, dass seine Anweisung die absehbare Folge hat, dass sich die Adressatin der Anweisung entsprechend verhält. In Übereinstimmung mit unserer dargelegten Auffassung vom Zusammenhang zwischen primären Gründen und Wünschen können wir auch in diesem Fall sagen, der Wunsch des Autors, die Tochter möge sich so und nicht anders verhalten, mache die Tatsache, dass sich die Adressatin infolge der Anweisung erwartbarerweise so und nicht anders verhält, zum (primären) Grund für das Anweisen des Vaters. Nicht der Wunsch, also ein intentionaler Zustand des Akteurs, mit einem bestimmten Inhalt, sondern die erwünschte Folge seiner Handlung ist also der Grund des Akteurs für diese Handlung.3 Insofern diese Folge mit dem Inhalt des Wunsches übereinstimmt, erklärt sich, weshalb man das eine sehr leicht mit dem anderen verwechselt. Gleichwohl sollte man die Dinge hier ontologisch in Ordnung halten. Wünsche und ihre Inhalte sind eines. Handlungen der Adressaten, die sich mittelbar durch die Wünsche des Autors erklären lassen, sind etwas ganz anderes. Insofern der Wunsch des Vaters gegebenenfalls nicht nur das Handeln der Tochter, sondern auch sein eigenes Tun erklären hilft, ist klar, dass dieser Wunsch durchaus als nichtprimärer, also als Erklärungsgrund angeführt werden kann. Aber Erklärungsgründe erklären nur, wie erläutert, insofern sie uns ein Verständnis des primären Grundes des Akteurs verschaffen. Und es ist der primäre Grund, aus dem der Akteur handelt. Denn nur aus solchen Gründen kann man handeln. Die Sachlage gemäß dieser Alternativbeschreibung zu deuten, mag anfangs haarspalterisch und vielleicht auch künstlich erscheinen. Diese Deutung hat aber einen systematisch gesehen nicht zu unterschätzenden Vorzug, der für sie spricht. Dieser Vorzug liegt darin, dass diese Deutung auch solche Situationen einheitlich zu beschreiben erlaubt, in denen es unplausibel wäre,
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einem Autor, der einer Gruppe von Adressaten die Anweisung gibt, in S-Situationen H-Handlungen auszuführen, ernsthaft den Wunsch zu unterstellen, dass die Adressaten in S entsprechend handeln. Wenn die erforderliche Mehrheit des Bundestages zum Beispiel ein Gesetz erlässt, wonach ab jetzt jeder, der eine Ware oder Dienstleistung erwirbt, statt x vielmehr y Prozent Mehrwertsteuer zu entrichten hat, dann ist es schwerlich der Wunsch der Parlamentarier, die Marktteilnehmer mögen höhere Steuern bezahlen, der den primären Grund für ihr Handeln liefert. Denn mit größter Wahrscheinlichkeit hat keiner der Beteiligten einen derartigen Wunsch. Solche Wünsche seitens der Parlamentarier anzunehmen ist jedenfalls psychologisch betrachtet extrem unglaubwürdig. Und insofern ein derartiger Wunsch seitens der Parlamentarier nicht vorhanden ist, kann er auch nicht der Grund für ihr legislatives Handeln sein.4 Was ist aber dann ihr Grund? Wie in vielen anderen Fällen müssen wir auch hier auf die absehbaren Konsequenzen des Handelns achten, um den primären Grund der Akteure in den Blick zu bekommen. Dass die Marktteilnehmer der Anweisung gemäß höhere Steuern zu bezahlen haben, hat zur erwartbaren Folge, dass zukünftig mehr Geld in die Staatskasse fließt. Und insofern es ein nachvollziehbares Interesse der Parlamentarier sein mag, dass in Zukunft mehr Geld in die Staatskasse gelangt, ist diese erwartbare Folge des Handelns der Adressaten, die ja zugleich eine erwartbare Folge des Agierens der Autoren ist, der gesuchte Handlungsgrund. Denn es ist diese erwartbare Fernwirkung ihres legislativen Agierens, so können wir psychologisch weit plausibler annehmen, die nach dem Dafürhalten der Autoren für die Verabschiedung des neuen Gesetzes spricht. In dieser Folge sehen sie den Vorzug ihres Handelns.5 Nicht ein Wunsch des Akteurs mit dem Inhalt, dass sich Adressaten so und so verhalten, sondern der Umstand, dass das Anweisen erwartbar zur Folge hat, dass sich die Adressaten entsprechend verhalten, ist also der primäre Grund für das Anweisen des Autors. Wie gesagt, spricht für diese Sicht, dass sie viele verschiedene Fälle einheitlich und psychologisch plausibel dar-
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zustellen erlaubt. Erinnern wir uns beispielsweise noch einmal an den Mann am Fließband. Er wurde von seinem Vorgesetzen angewiesen, schadhafte Endprodukte vom Band zu nehmen, damit sie nicht zusammen mit den fehlerfreien Produkten in die Hände der Kundschaft gelangen. Freilich ist es nicht ein Wunsch des Vorgesetzten, dass der Arbeiter so handelt, wie angewiesen, der den primären Grund für seinen Akt des Anweisens konstituiert. Es ist vielmehr auch hier die erwartbare und erwünschte Folge des Adressatenhandelns in Übereinstimmung mit der Regel, die in den Augen des Vorgesetzten der Grund dafür ist, sie aufzustellen. Die vorhersehbare Folge, dass keine fehlerhaften Produkte in die Hände der Kundschaft gelangen, ist also der primäre Grund, aus dem der Vorgesetzte den Arbeiter entsprechend anweist.6 In allen Situationen, die wir uns in diesem Abschnitt vergegenwärtigt haben, war zwischen der Gebotsregel, die ein Regelautor aufstellt, und dem primären Grund für sein Aufstellen der Regel problemlos zu unterscheiden. Wechseln wir jetzt in die Adressatenperspektive, um die Frage zu erörtern, ob die Gebotsregeln eines Autors für seine Adressaten praktische Gründe dafür sind, sich gegenüber den Regeln auf die eine oder andere Weise zu verhalten. 3 Bleiben wir bei der vertrauten Reihenfolge und wenden uns zunächst dem zu, was ich in Ermangelung einer geeigneteren Terminologie als Akzeptieren von Regeln als Regeln gekennzeichnet habe. Mein Vorgesetzter sagt zu mir: „Seien Sie ab morgen täglich um neun im Büro!“ Für mich stellt sich dadurch die Frage, ob ich diese generalisierte Anweisung als Regel akzeptieren möchte oder nicht. Diese Frage lässt sich dahingehend paraphrasieren, ob ich zureichend starke Gründe dafür sehe, diese Anweisung als Regel zu akzeptieren, bzw. dafür, sie zurückzuweisen. Diese Paraphrase macht deutlich, dass auch im Falle dieses Paradigmas eine umstandslose Identifikation der Regeln mit praktischen Gründen nicht in Frage kommt. Denn die Regel ist eines; die Gründe, die in den Augen des Adressa-
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ten für und wider eine Akzeptanz der Regel sprechen, sind etwas anderes. Bestenfalls könnte die Tatsache, dass es sich bei der Regel des Vorgesetzten um eine vernünftige, praktische oder sonst irgendwie positiv qualifizierbare Regel handelt, auf einen Grund dafür verweisen, die Regel zu akzeptieren. Aber selbst in dem Fall ist offenkundig, dass es nicht die Regel als Regel ist, die als Grund fungiert. Als primärer Grund fungiert vielmehr der Umstand, dass meine Akzeptanz der Regel die Akzeptanz einer solchen Regel ist, die positive Eigenschaften hat, durch die sich ihre Befolgung empfiehlt. Dies ist ein subtiler Unterschied – zugegeben. Aber er ist wichtig. Die positive Eigenschaft einer Regel, durch die sich ihre Akzeptanz empfiehlt, kann zum Beispiel darin bestehen, dass sich im Fall anderer Adressaten in der Vergangenheit bereits erwiesen hat, dass die Befolgung dieser Regel Konsequenzen nach sich zieht, die im Licht der Wünsche jener Adressaten vorteilhaft sind. Eine weitere solche Eigenschaft kann auch darin bestehen, dass die Regel von einem Autor stammt, der erfahrungsgemäß oder erwartbar solche Anweisungen gibt, deren Befolgung für die Adressaten erwünschte Folgen nach sich zieht. Diese beiden Beispiele positiver Regeleigenschaften machen begreiflich, warum es oft ratsam ist, sich den Anweisungen vertrauenswürdiger bzw. bewährter Autoritäten zu fügen. Wenn mein Arzt mir sagt, ich solle dreimal täglich jene Pillen schlucken, dann ist es entgegen einer weit verbreiteten Ansicht nicht die schiere Tatsache, dass mir der Arzt die genannte Anweisung gibt, die mir den primären Grund dafür liefert, seine Anweisung als Regel zu akzeptieren. 7 Dieser Grund liegt vielmehr in den erwartbar positiven Folgen der Regelakzeptanz, nämlich der positiven Folgen des regelgeleiteten Handelns. Darauf, dass meine Akzeptanz und mein regelkonformes Handeln diese positiven Folgen haben werden, vertraue ich. Und dies bedeutet unter dem Strich nichts anderes, als dass ich meinem Arzt vertraue.8 Man könnte an dieser Stelle fragen, ob wir im Idealfall nicht ein ähnliches Vertrauensverhältnis zu den Gesetzen haben
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sollten, die unsere Politiker und Politikerinnen unserer staatlichen Gemeinschaft geben. Da wir von einem derartigen Ideal ohnehin weit entfernt sind, ist diese Frage aber vielleicht auch müßig. Interessanter ist die Beobachtung, dass wir zumindest partiell oft staatliche Gesetze als Gesetze akzeptieren, so wie wir die Anweisungen von medizinischen und anderen Experten als Anweisungen akzeptieren.9 Wir tun es letztlich, weil wir uns auf den Sachverstand der Regelautoren verlassen, d.h., auf positive Folgen der Regelakzeptanz hoffen. Wir tun es insofern auch, weil wir es selbst nicht besser wissen. Dies ist die Realität. Und diese Realität entspricht nicht dem weit verbreiteten Zerrbild, dem zufolge die Adressaten staatlicher Gesetze vornehmlich deshalb folgsam sind, weil sie nur so den drohenden Sanktionen der Inhaber des Gewaltmonopols aus dem Weg gehen können. Das ist ein Bild von gestern. Zumindest manchmal vertrauen wir ja doch darauf, dass sich die Regelautoren unserer politischen Ordnungen etwas Sinnvolles dabei denken, wenn sie dieses oder jenes Gesetz erlassen. In solchen Fällen schenken wir – sei es zu Recht oder zu Unrecht – den Politikexperten Vertrauen. Um dieses Vertrauen in ihren Sachverstand müssen sie werben. Dies gilt zumindest dann, wenn der nächste Wahlgang in Aussicht steht. Natürlich sind im Kontext des Akzeptanzparadigmas vor allem diejenigen Fälle von besonderem Interesse, in der der Ausdruck ‚Akzeptanz‘ euphemistisch klingt. Wie steht es um das Verhältnis zwischen den Regeln und den Handlungsgründen der Adressaten dann, wenn sich ihnen die Akzeptanzfrage nicht ernsthaft stellt, insofern sie die Regeln eines übermächtigen Autors ohnehin zu akzeptieren haben? Ich denke, in diesen Fällen tut man gut daran, sich ein Kontinuum vorzustellen, das wie jedes Kontinuum von zwei Polen begrenzt ist. Einen dieser beiden Pole kann man mit dem Stichwort ‚Konformismus‘ markieren. Dabei sollten wir uns unter Konformismus in diesem Zusammenhang weniger die Neigung vorstellen, sich zu bereits bestehenden Regeln stets konform zu verhalten. Es geht vielmehr um die Neigung, jede neue Anweisung des Autors
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umstandslos als Regel zu akzeptieren. Autoritäre Eltern oder autoritäre Inhaber anderer Machtpositionen wünschen sich in diesem Sinn des Wortes konformistische Adressaten, die sich ihren Anweisungen bedenken- und widerstandslos fügen. Solch ein Autor formuliert im Zuge eines Anweisungsakts die Regel R. Und allein die Tatsache, dass er R formuliert hat, soll in den Augen der Adressaten ein zureichender Grund dafür sein, R als Regel zu akzeptieren, ihr damit Existenz sowie Geltung zu verschaffen und sich stets entsprechend zu verhalten. Versetzt man sich angesichts dieser Darstellung der Sachlage in die Perspektive konformistischer Adressaten, könnte man durchaus daran zweifeln, ob in solchen Fällen überhaupt noch sinnvoll von Gründen, vom Akzeptieren einer Regel und folglich von einer begründeten Regelakzeptanz gesprochen werden kann. Denn es liegt nahe, sich bei der Deutung dieser (ohnehin überspitzt dargestellten) Situation auf die Rede von Ursachen und deren Wirkungen zu beschränken, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass sich konformistische Adressaten wie konditionierte (bzw. leicht konditionierbare) Tiere verhalten. Der Regelautor sagt: „R !“ und die Adressaten legen umstandslos ein R-konformes Verhalten an den Tag. Dies ist, als ob jemand den Hahn aufdreht und das Wasser sofort zu fließen beginnt. Mit einem Handeln aus Gründen scheinen solche Sachverhalte nicht sonderlich viel zu tun zu haben. Am anderen Ende des besagten Kontinuums stellt sich die Lage anders dar. Denn hier spielen Handlungsgründe der Adressaten sehr wohl eine nachvollziehbare Rolle. Erneut müssen wir uns das Schema Handlungen und deren erwartbare Folgen in Erinnerung rufen, um zu begreifen, wie und wo die praktischen Gründe der Regeladressaten ins Spiel kommen. Adressaten, denen sich aufgrund eines eklatanten Machtgefälles die Akzeptanzfrage nicht ernsthaft stellt, sind häufig mit Regelautoren konfrontiert, die ihre Anweisungen ausdrücklich oder erfahrungsgemäß mit glaubhaften Sanktionsandrohungen flankieren. Die Gebotsregeln solcher Autoren gehen zumeist sogar mit angehängten Strafregeln einher. Von einem Diktator, der
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drakonisch die Einhaltung seiner Gesetze überwacht, kann und sollte man wohl getrost annehmen, dass er gemäß den Sanktionsregeln solche Menschen bestraft (oder bestrafen lässt), die seine Gebotsregeln erkennbar nicht als gültiges Gesetz akzeptieren. Seine angedrohten Strafen sind also die absehbare Folge einer entlarvten Nichtakzeptanz der Regeln. Insofern wir annehmen können, dass normale Leute unter normalen Umständen Strafen und andere Übel vermeiden wollen, fügt sich dieser Sachverhalt nahtlos in unser Bild vom Zusammenhang zwischen Handlungen, deren Folgen, Wünschen und primären Gründen ein. Die erwartbare Sanktion ist ein Nachteil, die der Diktator an eine Nichtakzeptanz seiner Regeln knüpft. Und in Anbetracht ihres Wunsches ist diese Sanktionsgefahr ein Grund für die Adressaten, der gegen eine Nichtakzeptanz der Regeln spricht. Umgekehrt können wir angesichts des Doppellebens aller Gründe, von dem im vorangegangenen Kapitel die Rede war, auch sagen, dass für die Adressaten ein positiver Grund besteht, der für die Akzeptanz der Regeln spricht. Denn diese Akzeptanz hat den Vorteil, dass die Adressaten der Gebotsregeln nicht zu (sekundären) Adressaten der Sanktionsregeln werden. Die beiden skizzieren Szenarien sind, wie gesagt, zwei Extreme. Meines Erachtens sollte man mit Max Weber hier sogar von zwei Idealtypen sprechen, die es in dieser Extremform in der Realität nicht gibt. Zwischen diesen Polen erstreckt sich in der sozialen und politischen Realität ein breites Kontinuum, auf dem vermutlich alle erdenklichen Mischverhältnisse aus schierem Konformismus und Sanktionsvermeidungshandeln zu finden sind. Irgendwo auf diesem Kontinuum liegt auch das Phänomen, das Austin im Auge hatte, als er in seiner Explikation des Rechtsbegriffs von einem gewohnheitsmäßigen Gehorsam der Adressaten gegenüber den generalisierten Anweisungen des Gesetzgebers sprach. Ein gerüttelt Maß von dem, was ich als Konformismus bezeichnet habe, ist Austin zufolge ein notwendiges Ingredienz jedes funktionierenden Rechtssystems.10 In den Begriffen formuliert, die wir uns in den zurückliegenden
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Kapiteln angeeignet haben, heißt dies, dass stabile politische Ordnungen nur möglich sind, wenn die Adressaten zum Gehorchen ein ganzes Stück weit disponiert sind, also nicht für jeden singulären Befolgungsakt einen zwingenden Grund einfordern. Mit radikalen Nonkonformisten ist kein Staat zu machen. Noch besser ist es freilich, wenn die Adressaten mit ihren Autoren gute Erfahrungen gemacht haben. Dann kann gewachsenes Vertrauen die mutmaßlich notwendige Gehorsamsdisposition stützen oder im günstigsten Fall sogar ersetzen. Tiefer möchte ich in diese Thematik an diesem Punkt nicht eindringen. Denn für unsere gegenwärtigen Belange reicht es hin, als Ergebnis der Diskussion dieses Abschnitts festzuhalten, dass auch im Fall des dritten Paradigmas mühelos zwischen den Gebotsregeln und den primären Gründen der involvierten Akteure zu unterscheiden ist. Gebotsregeln, also die generalisierten Anweisungen eines Autors, sind für die Adressaten der Regeln selbst keine Gründe dafür, die Anweisungen als Anweisungen zu akzeptieren. 4 Damit kommen wir endlich zu den beiden spannenden Fällen des ersten Parcours. Der paradigmatische Regelanwender ist der Mann am Fließband in der Frühphase seiner neuen Beschäftigung. Er bekam von seinem Vorgesetzten die generalisierte Anweisung, schadhafte Produkte vom Band zu nehmen, um sie in den Müll zu werfen, und nur fehlerfreie Produkte auf dem Band zu belassen. In Fällen wie diesem könnte es am ehesten so scheinen, als ob der Akteur aufgrund einer Regel handelt. Denn man hat bei oberflächlicher Betrachtung zweifelsfrei den Eindruck, der Mann täte die Dinge, die er während seiner Arbeitszeit vornehmlich tut, aufgrund der Anweisung, die an ihn ergangen ist. Insofern erscheint folglich die Regel als Grund. Insoweit scheint in diesem Fall eine (präskriptive) Regel zu guter Letzt also doch mit einem Handlungsgrund identisch zu sein. Doch der Schein trügt. Dies wird erkennbar, wenn man das Handeln der Person etwas genauer in Augenschein nimmt.
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Dass sie die Regel anwendet, schadhafte Produkte vom Band zu nehmen und nur fehlerfreie Produkte auf dem Band zu lassen, haben wir uns im zweiten Kapitel so vorgestellt, dass sich die Person mit Blick auf die Regel von Fall zu Fall entscheidet, was sie tun soll. In diesem Sinn, so wurde mehrfach erläutert, ist der Arbeiter in seinem Tun an der Regel orientiert. Sieht er, dass ein Produkt eine der Eigenschaften aufweist, die es zum fehlerhaften Endprodukt stempeln, nimmt er es vom Band und wirft es in den Abfall. Gibt ein Produkt keine der betreffenden Eigenschaften zu erkennen, lässt er es weiter in die Versandabteilung ziehen.11 So dargestellt, tritt der Umstand zutage, dass die Regel entgegen dem ersten Anschein selbst doch nicht als primärer Grund fungiert. Denn der Grund, aus dem der Mann ein Produkt vom Band nimmt, ist ja vielmehr der, dass sein Tun den Vorzug hat, den Versand eines schadhaften Produkts zu vermeiden. Dementsprechend ist der Grund, aus dem er ein Produkt anderenfalls auf dem Band belässt, der Vorzug seines Tuns, der darin besteht, dass ein gelungenes Exemplar bis ans Ende der Produktionskette gelangt. Hinter der einen Regel stehen offenbar zwei praktische Gründe.12 Wie die zurückliegende Darstellung zu erkennen gibt, fungiert die Regel selbst nicht unmittelbar als Grund, aus dem der Akteur handelt.13 Diese Feststellung provoziert die Frage, welche Rolle die Regel stattdessen spielt. Die Regel, so kann man diese Frage beantworten, stellt in solchen Fällen eine Art Brücke, vielleicht besser noch eine Funktion dar, die zwei unterschiedliche Gründe auf zwei verschiedene Arten von Handlungen bezieht. Um diesen Sachverhalt besser zu durchschauen, hilft es vielleicht, sich die generalisierte Anweisung des Vorgesetzen in die folgenden Worte gefasst zu denken: „Nehmen Sie die Tatsache, dass Sie damit den Versand eines fehlerhaften Produkts vermeiden, zum Grund dafür, so und so beschaffene Produkte in den Müll zu werfen. Und nehmen Sie die Tatsache, dass Sie dadurch dafür sorgen, brauchbare Produkte in den Versand zu geben, zum Grund dafür, so und so beschaffene Produkte auf dem Band zu lassen.“ Gebotsregeln, so gibt diese zugegebener-
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maßen realitätsferne Paraphrase zu erkennen, sind selbst keine Gründe. Derartige Regeln sind vielmehr als Funktionen zu interpretieren, die Handlungsgründe (man kann auch von Situationstypen sprechen) mit Handlungsweisen verknüpfen. Wenn man sich vor diesem Hintergrund an die logische Struktur von Regeln erinnert, die im dritten Kapitel erläutert wurde, lässt sich der soeben formulierte Befund verallgemeinern. Regeln, so war zu sehen, lassen sich unter Verwendung konditionaler Regelsätze formulieren, deren Antezedens aus der Situationsklausel und deren Konsequens aus der Handlungsklausel besteht. Gemäß dieser Darstellungsform von Regeln stellt sich die logische Minimalstruktur einer Gebotsregel nach diesem Muster dar: Wenn eine Situation vom Typ S eingetreten ist, soll der adressierte Akteur (sollen Adressaten vom Typ A) eine Handlung vom Typ H ausführen (bzw. unterlassen). Der angekündigten Verallgemeinerung des am Beispiel entwickelten Befunds zufolge lässt sich jetzt sagen, dass Gebotsregeln generell durch ihre konditionale Struktur Gründe (bzw. Situationstypen) mit Handlungstypen verknüpfen. Wenn eine Situation vom Typ S eingetreten ist, so sagt im Prinzip eine derartige Regel, besteht für den Adressaten ein Grund für eine Handlung vom Typ H.14 Hier kann man zur Ergänzung des Gesamtbildes auch an ein Computerprogramm denken. Wenn eine Situation des Typs S eintritt, in der einer Regel zufolge ein Grund für Handlungen vom Typ H vorliegt, dann geht das „System“ in den Zustand H über. Die Rolle des Autors einer Gebotsregel lässt sich aus der jetzt gewonnenen Perspektive auch dahingehend beschreiben, dass er durch seine Anweisung festsetzt, in welchen Situationen der Adressat einen Handlungsgrund für welche Art des Handelns hat. Ist er mit seiner Anweisung erfolgreich, programmiert der Autor den Adressaten, wenn man das so sagen darf. Der Adressat reagiert daraufhin auf gewisse Situationen mit gewissen Handlungen. Die Gebotsregel selbst ist jedenfalls auch dieser Darstellung gemäß kein Grund. Die Regel stellt vielmehr die Verknüpfung zwischen einem Grund (Situationstyp) und einer Handlungsweise her.15
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Man kann sich diesen Zusammenhang zwischen Gebotsregeln und praktischen Gründen auch aus einer anderen Perspektive mittels einer Analogie veranschaulichen. Lange Zeit vertraten viele Wissenschaftstheoretiker die Ansicht, die Erklärungen singulärerer Phänomene seien (idealerweise) von der Form deduktiver Argumente. Solch ein Erklärungsargument, so die Ansicht weiter, erlaubt es, aus einer Gesetzesaussage in Verbindung mit singulären Anfangs- bzw. Randbedingungen auf das Explanandum zu schließen.16 Aus dieser Auffassung ergab sich dann leicht ein Missverständnis, das mit einer optischen Täuschung vergleichbar ist. Man glaubte, vornehmlich die Gesetzesaussage erbringe die erklärende Leistung. Was diese Leistung anbelangt, wurden die vermeintlichen Randbedingungen oft nur am Rande erwähnt. Später wurde in der einschlägigen Fachdiskussion nicht nur deutlich, dass Erklärungen eher selten von der Form deduktiver (oder nicht-deduktiver) Argumente sind.17 Oft handelt es sich vielmehr um Kausalerklärungen, die das singuläre Explanandum als Wirkung einer ihrer singulären Ursachen erklärt. Und diese singulären Ursachen steckten in den vermeintlichen Randbedingungen der deduktiven Argumente. Nicht die Gesetzesaussage, sondern die vermeintliche Randbedingung leistet folglich die explanatorische Hauptarbeit.18 Die Gesetzesaussage ihrerseits bringt am Rande lediglich die zusätzliche (und meistens falsche) Behauptung zum Ausdruck, dass alle Ereignisse von der Art des Explanans Ereignisse von der Art des Explanandum zu erklären erlauben. Strukturell analog liegen die Dinge im Fall der praktischen Gründe und Gebotsregeln. Die Regel entspricht dem Gesetz des (vermeintlichen) Erklärungsarguments. Der Grund entspricht der (singulären) Anfangs- bzw. Randbedingung. Die Regel bringt dieser Analogie zufolge zum Ausdruck, in Situationen welcher Art der Regeladressat für Handlungen welcher Art einen Grund hat. Dass in solchen Situationen ein Grund vorliegt, hat der Autor durch seinen erfolgreichen Anweisungsakt so festgesetzt. Auch diese Analogie zeigt deutlich, dass die
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Regel nicht mit dem primären Grund des Akteurs identisch ist. Wer die Regel gleichwohl für einen praktischen Grund des Adressaten hält, unterliegt auch in diesem Fall einer Art optischen Täuschung. 5 Eine Gebotsregel ist also der Überlegung vom Ende des zurückliegenden Abschnitts zufolge selbst kein primärer Grund für den Adressaten dafür, das durch die Regel Gebotene zu tun. Im Zuge seines (erfolgreichen) Akts des Anweisens legt der Regelautor vielmehr fest, in Situationen welcher Art für den Adressaten ein Grund für welche Art des Handelns besteht. Da wir zwischen dem Anwenden von Regeln und dem Befolgen von Regeln keinen kategorischen Unterschied konstatiert, sondern das Anwenden vielmehr als äußerstes Extrem des Befolgens gefasst haben, ist nicht zu erwarten, dass sich die Rolle von Gebotsregeln im Fall des fünften Paradigmas grundsätzlich anders darstellt. Aufgrund zunehmender Routine hat es unser Mann am Fließband immer seltener nötig, sich in seinem Tun an der betreffenden Regel zu orientieren. Er muss sich zum Beispiel immer seltener ausdrücklich in Erinnerung rufen, an welchen Merkmalen schadhafte Produkte zu erkennen sind. Er sieht einem solchen Produkt immer treffsicherer an, dass mit ihm irgendetwas nicht stimmt. Er prägt, anders gesagt, Dispositionen, also Verhaltensgewohnheiten aus. Er wird zum Routinier. Für die Frage nach dem Verhältnis zwischen Regeln und Gründen spielen die skizierten Habitualisierungsprozesse jedoch keine relevante Rolle. Wann immer der Mann am Fließband in einem gehaltvollen Sinn der Wendung aus einem Grund handelt, reflektieren seine Handlungsgründe die Beschaffenheiten der jeweiligen Produkte auf dem Fließband. Im Licht dieser Beschaffenheiten kann er klären, welches Handeln welche Vorzüge aufweist, und um dieser Vorzüge willen handeln. Mehr und mehr, so nehmen wir an, hört sein Tun jedoch auf, ein Handeln aus Gründen im eigentlichen Sinn dieser Wendung zu sein. Und wenn er vom Befolgen der Regel
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schließlich ganz und gar zum bloßen Folgen der Regel übergeht, ist es am Endpunkt dieser Entwicklung angemessen, statt von einer präskriptiven von einer deskriptiven Regel zu sprechen. Diese deskriptive Regel informiert über kausale Zusammenhänge zwischen den Produkteigenschaften und bestimmten Verhaltensreaktionen, die wir uns jetzt als Manifestationen eingeübter Verhaltensdispositionen zu denken haben. Von Regeln dieser Art wird indes niemand ernsthaft behaupten, sie seien Handlungsgründe. Wo einer einer Regel folgt und folglich dispositional handelt, da handelt er nicht aus Gründen.19 6 Wie im Fall des Regelfolgens habe ich auch im Fall des Handelns gemäß einer Regel, dem wir uns jetzt zum Abschluss des ersten Parcours zuwenden, betont, dass hier nicht präskriptive, sondern deskriptive Regeln involviert sind. Das Handeln gemäß einer Regel wurde im zweiten Kapitel so definiert, dass die betreffenden Akteure aus Gründen handeln, die mit der involvierten Regel nachweislich nichts zu tun haben. Nur weil es sich so trifft, dass das Handeln der Akteure über die Zeit hinweg eine beobachtbare Regelmäßigkeit ausprägt, kann man diese Regelmäßigkeit durch eine deskriptive Regel zur Sprache bringen. Man tut dies, indem man einen zutreffenden Regelsatz von der Form einer doppelt generalisierten Aussage formuliert. Wo das Handeln eines Akteurs (oder einer Gruppe) einer Regel gemäß ist, haben die Leute also von der Regel unabhängige Gründe. Fragen wir uns aber der Vollständigkeit halber, ob nicht deskriptive Regeln (besser gesagt, die entsprechenden Regularitäten) selbst zuweilen Gründe dafür sein können, sich der betreffenden Regularität entsprechend zu verhalten. Um diese Frage sinnvoll diskutieren zu können, sollten wir uns zunächst daran erinnern, dass sich derartige Regularitäten zumeist aufgrund dispositionaler Handlungen ergeben. Die Akteure, deren dispositionales Handeln die Regularitäten konstituiert, benötigen im Regelfall keine Gründe für ihr Tun. Jedenfalls legt das Konzept des dispositionalen Handelns diese Annahme nahe.
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Aber stellen wir uns einen Akteur vor, der ausnahmsweise anders ist. Vielleicht macht er sich über seine eingeschliffenen Gewohnheiten (Handlungsdispositionen) Gedanken und fragt sich, ob er auch in Zukunft weitermachen will, wie gehabt. Vielleicht ist er aber auch ein Neuling, der gerade erst zu der Gruppe stößt, die in ihrem Handeln bestimmten Regeln folgt. Im ersten Fall geht es also um einen Einzelakteur und um sein reguläres Handeln bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Im zweiten Fall geht es um Regularitäten, die sich mit Blick auf eine soziale Gruppe von Akteuren beobachten lassen. Hier ist es unerheblich, ob die Regularität aus dem Folgen einer Regel oder dem Handeln gemäß einer Regel rührt. Die Frage ist ja nur, ob die etablierte Regularität für den Neuling einen primären Grund dafür liefert, sich der Regel (bzw. Regularität) entsprechend zu verhalten. Dass die aufgeworfene Frage im ersten Fall verneint werden muss, liegt meines Erachtens auf der Hand. Die schiere Tatsache, dass ich mich in der Vergangenheit in Situationen der Art S (aus welchen Gründen auch immer) jedes Mal so und nicht anders verhalten habe, kann für sich genommen kein Grund dafür sein, mich auch beim nächsten Eintreten einer Situation dieses Typs erneut der etablierten Regularität entsprechend zu verhalten. Es liegt zwar in der Natur einer Gewohnheit, sich in die Zukunft fortzupflanzen. Doch die Gewohnheit selbst liefert keinen Grund dafür, sich auch künftig wie gewohnt zu verhalten. Interessanter stellt sich der zweite Fall dar. Denn hier scheint es tatsächlich Situationen zu geben, in denen eine bestehende Regularität im Handeln einer Gruppe von Akteuren für einen weiteren Handelnden ein praktischer Grund dafür ist, sich dieser Regularität entsprechend zu verhalten. Zu denken ist dabei vor allem an sprachliche und andere soziale Konventionen. Ist die Tatsache, dass die Sprecher einer Sprache ein bestimmtes Wort regelmäßig in der und der Weise gebrauchen, für mich nicht ein Grund dafür, es entsprechend zu verwenden? Und ist die Tatsache, dass die Mitglieder meiner Gesell-
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schaft sich regelmäßig zur Begrüßung die Hand reichen, für mich nicht ein Grund, mich beim Kontakt mit diesen Menschen ebenfalls an der korrespondierenden Regel deskriptiver Art zu orientieren? Ich denke, wir tun nicht zuletzt aus systematischen Erwägungen gut daran, auch Fälle dieses Zuschnitts nach dem vertrauten Muster von Handlungen und deren absehbaren Folgen zu analysieren. Und eine derartige Analyse wirft ein anderes Licht auf die soeben dargestellten Situationen. Gemäß dieser Analyse ist es nämlich nicht die Tatsache, dass die Sprecher der betreffenden Sprache ein bestimmtes Wort regelmäßig auf eine gegebene Weise verwenden, die mir einen primären Grund dafür liefert, dieses Wort so und nicht anders zu verwenden. Mein Grund besteht vielmehr in der Tatsache, dass ich mich diesen Menschen erwartbar am besten dadurch verständlich mache, dass ich mich an ihren etablierten Umgang mit dem Wort halte. Hierin besteht der gesuchte Vorteil. Sprachregeln lassen sich als konventionelle Regeln im engen Sinn des Wortes deuten, also als Regeln, die einer Gruppe von Akteuren dabei helfen, spezifische Koordinationsprobleme zu lösen (bzw. zu vermeiden). Für Regularitäten dieser Art ist es bezeichnend, dass sie als soziale Gleichgewichtszustände deutbar sind, die nur aufrechterhalten werden können, wenn sich hinlänglich viele Akteure in Übereinstimmung mit der Regel verhalten. Insofern nun ein Akteur den Wunsch teilt, das betreffende Koordinationsproblem zu lösen (bzw. zu vermeiden), liefert ihm die Tatsache, dass ein regelkonformes Handeln zu dieser Lösung beiträgt, einen primären Grund. Denn diese Tatsache konstituiert einen Vorzug des regelkonformen Handelns. Streng genommen, ist folglich auch in diesem Fall nicht die Regel (bzw. die Regularität) selbst der primäre Grund des Akteurs. Wieder können wir die Regel (Regularität) wie im Fall vieler anderer Situationen, die wir im Zurückliegenden bereits ins Auge gefasst haben, bestenfalls als nicht-primären Erklärungsgrund akzeptieren.
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Etwas schwieriger stellen sich Regularitäten dar, die in einem umfassenderen Sinn des Wortes Konventionen sind. Damit habe ich solche Regularitäten im Blick, die nicht unmittelbar der Lösung klar umrissener Koordinationsprobleme dienen. Dass sich die Mitglieder einer sozialen Gruppe zur Begrüßung die Hand reichen, scheint in diesem Sinn weniger ein sozialer Gleichgewichtszustand zu sein, der nur aufrechterhalten bleibt, wenn sich hinlänglich viele Akteure der Regel entsprechend verhalten. Eher scheint es hier um ein konventionelles Handeln zu gehen, durch das sich die Mitglieder der betreffenden Gesellschaft wechselseitig zu verstehen geben, dass sie sich als friedfertige Sozialpartner akzeptieren und als Mitglieder der Gemeinschaft respektieren. Wer in Übereinstimmung mit der betreffenden Konvention handelt, sendet also (wissentlich oder unwissentlich) gewisse Signale aus, auf die seine Mitmenschen (wissentlich oder unwissentlich) reagieren. Und wieder können wir annehmen, dass hierin ein Vorzug der betreffenden Handlungen besteht, der einem Akteur – wenn er sich nicht ohnehin dispositionell entsprechend verhält – einen praktischen Grund dafür liefern kann, sich der etablierten Konvention entsprechend zu verhalten. Also zeigt sich erneut, dass nicht die konventionelle Regel (bzw. die ihr zugrunde liegende Verhaltensregularität) selbst, sondern eine Folge des konventionellen Handelns als Handlungsgrund fungiert. Wieder ist daher festzuhalten: Regeln, auch deskriptive, sind keine praktischen Gründe. 7 Rekapitulieren wir kurz anhand der folgenden Frage, was auf dem zurückgelegten Parcours mit Blick auf das Hauptproblem dieses Kapitels in Erfahrung zu bringen war. Aus welchen Gründen tut oder lässt jemand das, was er laut einer Gebotsregel tun oder lassen soll? Wie deutlich geworden sein dürfte, sollte man nicht eine einzige Antwort erwarten, die in allen Fällen zutrifft, in denen sich diese Frage sinnvoll stellen lässt. Die Leute haben nämlich von Fall zu Fall verschiedene Gründe für ihr regelkonformes Handeln. Wie zu sehen war, kann der
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primäre Grund, aus dem ein Akteur tut, was er soll, zuweilen etwa darin bestehen, dass der Autor der Anweisung für den Fall einer Missachtung seiner Regel glaubhaft (geregelte oder ungeregelte) Sanktionen angedroht hat. Dann mag der Adressat angesichts seines Wunsches, diese Sanktionen zu vermeiden, in dem Umstand, dass ihm dies durch die Akzeptanz und Befolgung der Regel gelingt, einen Grund dafür sehen, zu tun, was er dem Autor zufolge tun soll. Andere Fälle sind aber anders beschaffen. So haben wir uns beispielsweise Situationen vor Augen geführt, in denen die Adressaten die Regeln eines Autors akzeptieren, anwenden und befolgen, der nach ihrem Dafürhalten Vertrauen verdient. In solchen Fällen liefern die erwartbar positiven Folgen des regelkonformen Handelns den primären Grund der Adressaten, den Anweisungen des Autors nachzukommen. Unter wieder anderen Umständen mag es sogar so sein, dass die Adressaten einer Regel der an sie ergangenen Anweisung vollkommen neutral gegenüberstehen. Solche Leute können eine Anweisung vielleicht nur deshalb akzeptieren und befolgen, weil sie keine Gründe dafür sehen, dies nicht zu tun. Eine Anweisung ist in derartigen Fällen kaum noch von einer Bitte des Autors zu unterscheiden, ihm einen bestimmten Gefallen zu tun. In wieder anderen Situationen mag der primäre Grund, aus dem ein Adressat einer Anweisung Folge leistet, mit seinem übergeordneten Wunsch zusammenhängen, allen Anweisungen eines Autors gewissenhaft Folge zu leisten. Der Mann am Fließband mag etwa den Vorsatz gefasst haben, alle Gebotsregeln, die sein Vorgesetzter für ihn aufstellt, zu akzeptieren und zu befolgen. Er hat sich, wenn man so will, auf der übergeordneten Ebene bewusst für den Konformismus entschieden.20 Der Grund hierfür mag darin bestehen, dass er die erwartbare Folge einer Gehaltserhöhung oder Beförderung im Auge hat. In solchen Fällen büßen die Gebotsregeln eines Autors fast schon ihren präskriptiven Gestus ein. Aber freilich bleiben die Gebote ihrer Natur nach auch dann noch Gebote, wenn der Adressat sie nicht als Zwangsregeln empfindet.
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In jedem Fall ist klar, dass es eine ganze Reihe unterschiedlicher Gründe dafür gibt, das zu tun, was man gemäß einer Gebotsregel tun soll. Aber die schiere Tatsache, dass man es tun soll, insofern eine betreffende Regel existiert, taugt in all den erläuterten Fällen nicht als praktischer Grund. Warum dies so ist, werden wir uns im nachfolgenden Kapitel aus einer anderen Perspektive verdeutlichen. Gebotsregeln, dieses Ergebnis bleibt jedoch schon hier festzuhalten, sind keine primären Gründe dafür, das Gebotene zu tun. Naheliegenderweise sind aus analogen Erwägungen Verbote ihrerseits auch keine Gründe dafür, das Verbotene zu unterlassen. 8 Der zweite Parcours, der jetzt beginnt, wird deutlich kürzer ausfallen als der erste. Wie stellt sich das Verhältnis zwischen praktischen Gründen und den anderen Typen und Arten von Regeln dar? Konzentrieren wir uns bei der Beantwortung dieser Frage auf das Paradigma des Anwendens einer Regel. In diesem Abschnitt soll es zuerst um die übrigen Typen präskriptiver Regeln gehen. – Dass Erlaubnisregeln keine Gründe dafür sind, so zu handeln, wie man der Regel zufolge handeln darf, liegt auf der Hand. Niemand tut etwas aus dem Grund, dass er es darf. Dass ein Akteur Handlungen der Art H ausführen darf, heißt, dass ihm die betreffende Bahn des Handelns im Allgemeinen offen steht. Ob er im Einzelfall Gründe dafür hat, diese Bahn hier und jetzt zu beschreiten oder nicht, ist offensichtlich eine ganz andere Frage. Erlaubnisregeln sind klarerweise keine Handlungsgründe. Im Fall der Vorkehrungs- bzw. Verfahrensregeln sollte man sich klarmachen, dass man in ihrem Kontext häufig sagt, ein Akteur handle aufgrund einer Regel dieser Typen, dabei jedoch ein irreführendes Bild vom Verhältnis zwischen Gründen und Regeln zeichnet. Natürlich ist es in einem Sinne nicht falsch, wenn es etwa heißt, ein Akteur suche den Notar auf, weil er dies einer Vorkehrungsregel zufolge tun muss, um sein Testament aufzusetzen.21 In diesem Sinn ist es ebenfalls richtig, dass der Akteur die betreffende Regel beachtet, d.h., sie anwendet
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oder befolgt. Doch unser Blick für Gründe und Regeln sollte inzwischen geschult genug sein, um den irreführenden Charakter dieser Formulierungsweisen zu durchschauen. Dem geschulten Auge stellt sich der Sachverhalt wie folgt dar: Der primäre Grund für den Besuch des Akteurs beim Notar ist der Vorzug dieser Handlung, ein rechtskräftiges Testament zur Folge zu haben. Auf diesen Vorzug zielt sein Handeln. Weil der Akteur weiß, dass er sich in einer sozialen Realität bewegt, in der ein Regelautor die anankastische Tatsache geschaffen hat, dass Testamente notariell beglaubigt sein müssen, weiß er, welches Mittel zu ergreifen ist, um seinen Wunsch zu realisieren. Dass der Akteur also eine Vorkehrungsregel beachtet bzw. anwendet oder befolgt, heißt im Grunde genommen nur, dass er in Übereinstimmung mit den vorliegenden Tatsachen handelt. Er ist mit einem Akteur vergleichbar, der im Regen den Schirm aufspannt, um nicht nass zu werden. Dass im einen Fall der Zusammenhang aus Mittel und Zweck aus einer Regelsetzung resultiert, im anderen Fall nicht, ist für die Frage nach dem Verhältnis zwischen Gründen und Regeln vollkommen unerheblich. Weder die betreffenden Tatsachen noch die Regeln, aus denen diese Tatsachen gegebenenfalls resultieren, sind mit den praktischen Gründen der Handelnden identisch. Die Person, die den Notar aufsucht, befolgt in ihrem Tun keine Anweisung. Sie nimmt lediglich eine Tatsache zur Kenntnis, die der Autor der Vorkehrungsregel ins Werk gesetzt hat, und stimmt ihr Handeln auf diese Kenntnis ab. Auch Vorkehrungs- bzw. Verfahrensregeln sind folglich keine Gründe, aus denen Menschen handeln. Mit Blick auf Strafregeln mussten wir am Ende des vierten Kapitels zwischen den primären und sekundären Adressaten unterscheiden. Durch das Aufstellen solcher Regeln will der Autor, wie gesehen, in erster Linie Einfluss auf das Handeln der sekundären Adressaten ausüben, die zugleich die Adressaten seiner übrigen präskriptiven Regeln sind. Insofern sind die Bürger oder auch die Spieler eines Spiels die sekundären Adressaten der Sanktionsregeln. Den intendierten Einfluss übt der
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Autor jedoch indirekt aus, indem er seine Bediensteten oder einen Schiedsrichter dazu anweist, Regelbrecher zu bestrafen. Diese Bestrafer oder Schiedsrichter sind daher die primären Adressaten der Strafregeln. Für die Bestrafer sowie ihre Helfer im Justizapparat und bei der Polizei stellen sich die Strafregeln des Autors wie normale Gebotsregeln dar. Daher gilt in Sachen Handlungsgründe hier, was im vierten Abschnitt über Gebote und Gründe im Allgemeinen bereits gesagt wurde: Man kann und man sollte unterscheiden. – Für die sekundären Adressaten sind die Strafregeln bzw. die Tatsache, dass der Autor seinen Bestrafern die betreffenden Anweisungen gegeben hat, bestehende Sachverhalte in der Welt, in der sie handeln. Sie müssen diese Tatbestände in Betracht ziehen, wenn es um die Frage geht, was zu tun oder zu lassen ist. Und wie zu sehen war, können diese Tatsachen angesichts ihres Wunsches, Schmerzen und Strafen zu vermeiden, zu Gründen dafür führen, die Gesetze des Autors zu akzeptieren, anzuwenden und zu befolgen. Dass dies zu tun Straffreiheit in Aussicht stellt, ist hier der primäre Grund. Die Strafregeln selbst sind folglich weder für die primären noch für die sekundären Adressaten primäre Gründe. Man kann und man sollte unterscheiden. 9 Wenden wir uns zum Abschluss des Kapitels den konsultativen Regeln zu. Im Fall der generalisierten Ratschläge gilt in einer zentralen Hinsicht, was wir im Fall der Gebotsregeln als zutreffend bereits erkannt haben. Wenn mir jemand den Rat gibt, Tomaten nach dem letzten Frost anzupflanzen, dann ist dieser Rat freilich selbst kein primärer Grund dafür, ihn zu befolgen. Wieder mag mein Grund damit zusammenhängen, dass ich dem Autor des Ratschlags vertraue. Vielleicht hat er sich in der Vergangenheit als kundiger Gärtner oder Gemüsezüchter erwiesen. Dann kann ich davon ausgehen, dass ein Handeln in Übereinstimmung mit seinem Rat erwartbar solche Folgen nach sich zieht, die in meinem Interesse liegen. Und solche absehbaren Folgen können praktische Gründe sein.
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Das Verhältnis zwischen Ratschlägen und primären Gründen lässt sich aber auch anders darstellen. Und diese Darstellung wird zugleich noch einmal deutlich machen, inwiefern generalisierte Ratschläge nur eine Sonderform der Faustregeln sind. Unterscheiden wir wieder einmal zwei Situationen. Im einen Fall sehe ich sowohl Gründe dafür, die Tomaten vor dem Frost anzupflanzen, als auch Gründe dafür, dies erst hinterher zu tun. Ich weiß aber nicht, welche Gründe schwerer wiegen als die anderen. Im zweiten Fall habe ich absolut keine Ahnung von Tomaten. Ich sehe, anders gesagt, weder Gründe dafür, meine Tomaten am 1. Januar anzupflanzen, noch dafür, dies an irgendeinem anderen Tag im Jahr zu tun. Ich bin ratlos. In beiden Fällen brauche ich dringend Rat. Wenn mir jetzt jemand empfiehlt, meine Tomaten nach dem letzten Frost anzupflanzen, dann gibt er mir in den beiden Fällen etwas unterschiedliche Informationen. Im einen Fall sagt er mir indirekt, welcher der Gründe, die ich selber sehe, seiner Einschätzung nach stärker als die anderen ist.22 Im zweiten Fall gibt er mir mittelbar zu verstehen, dass ich seiner Ansicht nach die stärksten Gründe dafür habe, mit den Tomaten auf die von ihm benannte Weise zu verfahren. In beiden Fällen, das ist der springende Punkt, muss der Ratgeber nicht explizit auf die Gründe zu sprechen kommen.23 Sein Ratschlag ist, wie gesehen, auch selbst kein Grund, den Ratschlag zu befolgen. Aber immer wenn jemand einer anderen Person einen Ratschlag erteilt, gibt er implizit eine Einschätzung darüber ab, wie es um die (ungenannten) Gründe der Person bestellt ist. Dies liegt in der Natur eines Ratschlags. Ja, das ist der Witz an der Kultur des Ratschlagens. Wer (unmittelbar) sagt, welche Handlung er dem Adressaten seines Ratschlags empfiehlt, bringt damit (mittelbar) seine Ansicht zum Ausdruck, dass der Adressat für diese Option die stärkeren, besseren bzw. gewichtigeren Gründe im Vergleich zu ihren Alternativen hat. Man kann sich diesen Zusammenhang auch unter einem anderen Gesichtspunkt verdeutlichen. Es ist kein Zufall, dass jemand, der einen Ratschlag gibt, in aller Regel nicht sagt, was
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der Empfänger seines Ratschlags tun soll. Täte er dies, würde er keinen Ratschlag geben, sondern ein Gebot oder Verbot aussprechen. Wer durch einen Ratschlag zu verstehen gibt, wofür der Angesprochene seiner Einschätzung nach die stärksten Gründe hat, sagt vielmehr, was der Angesprochene seines Erachtens nach tun sollte. Die Beispiele „Du solltest die Tomaten nach dem letzten Frost einpflanzen,“ „Ihr solltet euch besser auf die Prüfung vorbereiten“ und „Sie sollten dieses Jahr besser nicht nach China fliegen“ machen dies deutlich. Man hat den konjunktivischen Gebrauch des Hilfsverbs ‚sollen‘ oft dahingehend missverstanden, dass er eine höfliche oder abgemilderte Formulierung von Geboten bzw. Aufforderungen oder Anweisungen erlaubt. 24 Ratschläge sind jedoch keine höflich formulierten oder abgeschwächten Gebote. Zwischen Ratschlägen und Geboten besteht vielmehr ein kategorischer, kein irgendwie gradueller Unterschied. Auf diesen Unterschied zwischen Ratschlägen und Geboten, der entscheidend vom jeweiligen Verhältnis zu den Gründen des Adressaten abhängt, komme ich im nachfolgenden Kapitel noch ausführlicher zu sprechen. Wer jedenfalls um Rat fragt, will von seiner Auskunftsperson wissen, für welche Handlungsoption ihrer Einschätzung nach die stärksten Gründe sprechen. Er will also wissen, was die Auskunftsperson an seiner Stelle tun würde. In dieser Formulierung zeichnet sich die Erklärung für die Wahl des Konjunktivs ab. Wer einen Rat gibt, gibt zu verstehen, was er selbst täte, wenn er in der Lage des Adressaten wäre. Daher implizieren Ratschläge auch die Einschätzungen der Ratgeber über die Gründe des Adressaten. Wer einen Rat formuliert, sagt, was er nach seiner Einschätzung der Gründe des Adressaten täte, wenn er in den Schuhen des Adressaten steckte. „Wäre ich in deiner Lage, würde ich in Übereinstimmung mit meiner Ansicht über deine Gründe so handeln“ und „Du solltest so handeln“ sind folglich bedeutungsgleich. Auch auf diesen Punkt komme ich im nachfolgenden Kapitel noch einmal zurück. Für den Moment ist es lediglich wichtig, als Ergebnis festzuhalten, dass
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auch solche Regeln, die als generalisierte Ratschläge gedeutet wurden, keine primären Gründe dafür sind, den Ratschlag zu befolgen. Wenden wir uns vor diesem Hintergrund abschließend den Daumen- bzw. Faustregeln zu. Wie wir bereits im vierten Kapitel gesehen haben, lassen sich die generalisierten Ratschläge als Sonderform der Faustregeln begreifen. Generalisierte Ratschläge sind solche Faustregeln, die der Autor nicht (unbedingt) selbst befolgt, sondern an andere Menschen adressiert. Daher ist zu erwarten, dass sich das Verhältnis zwischen den Faustregeln und den primären Gründen ihrer Adressaten genauso wie im Fall des anderen Typs konsultativer Regeln darstellt. In der Tat ist es auch im Fall der Faustregeln gemeinhin so, dass sie selbst keine Handlungsgründe thematisieren, sondern vielmehr auf der unausgesprochenen Annahme beruhen, dass beim Vorliegen einer Situation vom Typ S für den Adressaten ein zureichender Grund dafür besteht, eine Handlung vom Typ H auszuführen. Wer die Faustregel befolgt, in S-Situationen H-Handlungen auszuführen, verlässt sich entweder auf den generalisierten Ratschlag einer anderen Person, dass in S-Situationen die Gründe (immer oder hinlänglich oft) für eine HHandlung statt für eine alternative Handlungsoption sprechen. Oder er hat aufgrund eigener Erfahrungen und Reflexionen vieler Einzelfälle in der Vergangenheit die generalisierte Absicht gefasst, in S-Situationen ohne weitere Abwägung der je vorliegenden Gründe H-Handlungen auszuführen. Wenn also der neu Zugezogene vom freundlichen Nachbarn den generalisierten Ratschlag erhält, es sei besser, den einen Supermarkt dem anderen vorzuziehen, dann verstehen wir mittlerweile genau, was er damit gesagt bekommt. Der Nachbar teilt mit, dass seiner Erfahrung und Einschätzung nach die (ungenannten) Gründe (meistens) so liegen, dass sie dafür sprechen, den einen Supermarkt dem anderen vorzuziehen. Er hält sich selbst, so kann man vermuten, an diese Regel. Und aus seiner Perspektive stellt sie sich in dem Fall als eine Faustregel dar.
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Darüber hinaus ist es auch im Fall der Faustregeln so, dass sie selbst freilich keine primären Gründe dafür sind, sich diesen Regeln entsprechend zu verhalten. Man kann aus Gründen eine Absicht, auch eine generalisierte Absicht fassen. Aber so wenig eine singuläre Absicht ein primärer Grund dafür ist, sich dieser Absicht entsprechend zu verhalten, ist eine generalisierte Absicht, sprich eine Faustregel, ein primärer Grund dafür, sich in den regelrelevanten Situationen der Regel entsprechend zu verhalten. Konsultative Regeln beiderlei Typs sind folglich keine Gründe dafür, diesen Regeln entsprechend zu handeln. *** Dieses Kapitel war aufgrund der zahlreichen Teildiskussionen, die erforderlich waren, etwas mühsam – ich weiß. Aber diese Mühe war in der Sache angemessen, um den weit verbreiteten Irrglauben abzuschütteln, Regeln im Allgemeinen und Gebotsregeln im Besonderen seien praktische Gründe, insbesondere Gründe dafür, sich der Regel entsprechend zu verhalten. Wenn der Leser von diesem Irrtum befreit wurde, war alles der Mühe wert. Wenn nicht – schade.
VIII Sollen Beim Versuch, das gemeinsame Moment aller Typen präskriptiver Regeln zu erläutern, habe ich mich im vierten Kapitel mit einem Bild beholfen. Diesem Bild zufolge stellt sich das Agieren eines Regelautors, der erfolgreich komplexe Regelungssysteme erschafft und verwaltet, so dar, dass er ab und an Dinge dieser Art verkündet: „So soll es sein: R !“ Dieses vereinheitlichende Schema machte es möglich, die Erlaubnis-, Vorkehrungs- und Sanktionsregeln in eine gemeinsame Perspektive mit den Ge- und Verbotsregeln zu rücken. Das charakteristische Merkmal aller Typen präskriptiver Regeln, das in dieser Perspektive vor Augen tritt, besteht darin, dass sie allgemeine Regelungen sind. Damit soll darauf hingewiesen sein, dass der Regelautor nicht nur anweisen kann, wer unter diesen oder jenen Bedingungen was tun oder lassen soll. Denn sein Aktionsradius ist viel weiter gespannt. Er kann auch Regelungen darüber erlassen, wer unter welchen Bedingungen was tun darf; welche Merkmale ein potentielles X aufweisen muss, um als genuines zu gelten; und was mit jemanden zu geschehen hat, der sich nicht an die Regeln hält. Auf diese Weise gibt das allgemeine Regelungsschema zu erkennen, inwiefern jede präskriptive Regel als eine generalisierte Anweisung des Autors gefasst werden kann, durch die er festlegt, was generell der Fall sein soll. Auch wenn der Autor etwa eine Berechtigung zuweist, sagt er damit nicht nur, wer unter welchen Bedingungen was tun darf. Zugleich legt er auch fest, dass es so sein soll, dass der betreffende Adressatenkreis diese Befugnis hat. Entsprechend haben wir ebenfalls die Fälle ausgelegt, in denen der Regelautor eine Sanktionsregel aufstellt oder durch eine Vorkehrungsregel einen anankastischen Zu-
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sammenhang stiftet. In Folge dieses Zusammenhangs kommt für bestimmte Adressaten ein (modales) Müssen ins Spiel. In dem Fall, so habe ich im vierten Kapitel erläutert, ist das Müssen von einem Sollen umklammert. Dem Umstand, dass alle präskriptiven Regeln als Anweisungen des Autors zu deuten sind, durch die er festlegt, was generell der Fall sein soll, kann man auch dadurch Rechnung tragen, dass in der Darstellung all seiner Regelungen auf den Gebrauch der Verben ‚müssen‘ und ‚dürfen‘ verzichtet wird. Der Regelautor sagt in dieser Darstellung Dinge dieser Art: „So soll es sein: Akteure, die die Eigenschaft E teilen, führen in Situationen der Art S Handlungen der Art H aus. Akteure mit der Eigenschaft F, unterlassen in T-Situationen I-Handlungen. G-Akteure können in U-Situationen J-Handlungen ausführen. Alle Akteure, die das Ziel Z verfolgen, führen eine K-Handlung aus. Und wer eine meiner soeben genannten Regeln bricht, wird mit einer Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren bestraft.“ In dieser Darstellung tritt klar zutage, dass der Regelautor vornehmlich festlegt, wie die Dinge im Allgemeinen geregelt sein sollen. Er sagt, anders formuliert, wie es in seinem Wirkungsraum zugehen soll. Das Agieren eines Autors präskriptiver Regeln lässt sich also einerseits darauf zuspitzen, dass er festsetzt, wie die Dinge im Allgemeinen geregelt sein sollen. Andererseits haben uns die Überlegungen im zurückliegenden Kapitel zu der Einsicht geführt, dass die Regeln eines solchen Autors aus der Perspektive der Adressaten keine Handlungsgründe sind. Manche Regeln kommen bestenfalls als nicht-primäre Erklärungsgründe in Betracht. Miteinander kombiniert führen diese beiden Resultate zu einem interessanten Paradox. Die Kernanliegen dieses Kapitels bestehen darin, dieses Paradox zuerst zu verdeutlichen, es daraufhin aufzulösen und schließlich einige Konsequenzen aus der vorgeschlagenen Auflösung zu ziehen. Diese Konsequenzen betreffen nicht zuletzt auch das Gespenst, das sich in dieser Abhandlung hier und da blicken lässt.
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1 Stellen wir uns einen Regelautor vor, der eine Gebotsregel aufstellt (bzw. aufzustellen versucht), und einen Adressaten, der sich fragt, ob er die Regel akzeptieren will oder nicht. Der Regelautor sagt: „Seien Sie ab jetzt täglich um neun im Büro erreichbar!“ Und der Adressat fragt sich: „Soll ich das tun?“ Tatsächlich habe ich das angekündigte Paradox im vorangegangenen Absatz bereits formuliert. Um es deutlicher zu machen, erinnern wir uns daran, dass die paradigmatische Charakterisierung von Gebotsregeln im dritten Kapitel auf der Grundlage eines Vergleichs zwischen singulären und generalisierten Anweisungen entwickelt wurde. Und da das Paradox, um das es im Folgenden gehen wird, sowohl im Fall einer Gebotsregel als auch im Fall einer singulären Anweisung auftritt, können wir uns in diesem Kapitel vorübergehend von den Regeln abwenden und stattdessen singuläre Anweisungen ins Auge fassen. Der Autor einer solchen Anweisung sagt: „Seien Sie morgen um neun pünktlich vor Ort!“ Und erneut fragt sich der Adressat: „Soll ich das tun?“ – Wieder habe ich das Paradox, um das es gehen wird, bereits formuliert. Um es unübersehbar zu machen, stellen wir uns jetzt vor, der Adressat wendet sich mit den folgenden Worten an einen Freund: „Die Chefin hat gesagt, dass ich morgen um neun vor Ort sein soll. Aber ich weiß nicht, ob ich das tun soll.“ Wie kann sich dieser Mensch fragen, ob er h tun soll, wenn er doch offenkundig weiß, dass er es soll? Ist das, was er sagt, nicht paradox? Es klingt zumindest paradox. Und da Dinge, die paradox klingen, dies oft nur deshalb tun, weil sie irreführend formuliert sind, hilft es vielleicht zu fragen, wie der Adressat der Anweisung seine Lage anders darstellen könnte. Ein Weg, der sich anbietet, führt zu der Vermutung, dass er zwar weiß, dass er h tun soll, sich aber fragt, ob er h denn wirklich tun soll. „Die Chefin verlangt, dass ich h tun soll, aber ich frage mich, ob ich h wirklich tun soll“, könnte er sagen. – Wörtlich genommen, hilft dieser Vorschlag, das Paradox aufzulösen, natürlich nicht weiter. Denn es ist im fingierten Beispiel zweifelsfrei der Fall, dass der Angestellte von seiner Chefin wirklich angewiesen
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worden ist, morgen pünktlich zu sein. Wie kann er sich dann aber fragen, ob er das wirklich tun soll? Er soll es ja wirklich. Wir haben das Paradox offenbar nur neu formuliert. Gleichwohl hilft der Vorschlag etwas weiter, wenn wir die Äußerung des Angestellten nicht wörtlich nehmen, sondern fragen, was er durch das eingeschobene Adverb zum Ausdruck bringen will. Offenkundig sieht der Adressat (mindestens) einen Grund, der dagegen spricht, das zu tun, was er der Chefin zufolge tun soll. Sähe er diesen Grund nicht, könnte er sich seine Frage sparen. Nehmen wir zur Illustration dieses Gedankens an, morgen sei ein gesetzlicher Feiertag, den der Mann mit seiner Familie verbringen will. Im Büro liegt offenbar viel Arbeit an. Daher hat die Chefin ihn angewiesen, trotz des Feiertags zur regulären Arbeitszeit im Büro zu erscheinen. Dies ist es, was er der Anweisung der Chefin zufolge tun soll. Und der Angestellte fragt sich offenbar, ob sein Grund, es nicht zu tun, seinen Grund übertrumpft, der Aufforderung nachzukommen. Es ist für unsere Belange wichtig, die Situation dieses Mannes richtig zu deuten. Seine Situation ist nicht die eines Akteurs, der Adressat konfligierender Anweisungen ist. Um diesen Unterschied sichtbar zu machen, stellen wir uns einen Kollegen des Mannes vor, der ebenfalls von der Chefin die Anweisung bekam, trotz Feiertag im Büro zu erscheinen. Darüber hinaus wurde er von seiner Frau eindringlich dazu aufgefordert, den morgigen Tag mit den Kindern zu verbringen. Laut Chefin soll er zur Arbeit. Laut Gattin soll er sich den Kindern widmen. Hier haben wir es klar mit einem Fall konfligierender Anweisungen zu tun. Auch der Adressat dieser Anweisungen wird sich einerseits fragen, was er tun soll, obwohl er andererseits sehr wohl weiß, was er soll. Und auch in seinem Fall tun wir gut daran, zwischen Anweisungen und Gründen sauber und konsequent zu unterscheiden. Dieser Akteur sieht sich zwei Anweisungen gegenüber, die nicht miteinander kompatibel sind. Er fragt sich daher, welcher der beiden Anweisungen er nachkommen soll. Und um diese Frage zu beantworten, fragt er danach, für welche Anweisung der stärkere Grund spricht.
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Der Vergleich der Situationen dieser beiden Akteure macht deutlich, dass wir den ursprünglichen Fall nicht nach dem Muster des Vergleichsfalls deuten sollten. Denn es ist nicht so, dass der Akteur im ersten Beispiel mit zwei rivalisierenden Anweisungen konfrontiert ist. Hier steht, mit anderen Worten, nicht die Anweisung der Chefin mit einer Anweisung im Konflikt, die irgendwie aus dem Grund dafür entspringt, der erstgenannten Anweisung nicht nachzukommen. Anweisungen können immer nur mit anderen Anweisungen konfligieren. Und praktische Gründe können ihrerseits immer nur mit praktischen Gründen konfligieren.1 Da im ersten Beispiel der Anweisung der Chefin keine anderslautende Anweisung entgegensteht, müssen wir davon ausgehen, dass hier der primäre Grund des Mannes dafür, der Anweisung nicht zu folgen, mit einem primären Grund dafür konfligiert, der Anweisung doch zu folgen. Dieser Grund könnte beispielsweise darin bestehen, dass eine Befolgung der Anweisung die Aussichten des Mannes auf eine Gehaltserhöhung verbessert. Um dieses Vorzugs willen könnte er sich gegebenenfalls für die entsprechende Handlung entscheiden. Dieses Zwischenergebnis, das in der rigiden Unterscheidung zwischen Anweisungen sowie Gründen für und wider besteht, den Anweisungen nachzukommen, passt einerseits gut zu den Resultaten des zurückliegenden Kapitels. Denn mit Blick auf eine singuläre Anweisung wurde soeben deutlich, was wir mit Blick auf generalisierte Anweisungen, die präskriptive Regeln sind, bereits erkannt hatten. Sie sind per se keine primären Gründe dafür, der Anweisung Folge zu leisten.2 Denn der Akteur wägt ja nicht seinen Grund, der gegen eine Befolgung der Anweisung spricht, mit der Anweisung ab. So etwas geht nicht, da man derlei verschiedene Dinge nicht gegeneinander abwägen kann. Der Akteur wägt vielmehr den Grund, der gegen die Befolgung spricht, mit dem Grund dafür ab, der Anweisung der Chefin nachzukommen. Andererseits führt dieses Ergebnis aber zu unserem Paradox vom Anfang zurück. Denn jetzt stellt sich uns der Mann als
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jemand dar, der sich angesichts seiner Gründe für und wider zu entscheiden versucht, ob er h tun oder lassen soll. Er weiß und wir wissen es auch, was die Chefin gesagt hat: Er soll es tun. In neuer Form tritt das alte Paradox wieder zutage: Wie kann der Mann zu entscheiden versuchen, was doch offenkundig bereits entschieden ist? Die Darstellung der Sachlage im zurückliegenden Absatz könnte dazu verführen, das Problem als eine Meinungsverschiedenheit zwischen dem Angestellten und seiner Chefin zu deuten. Während er selbst noch unentschieden ist, so könnte man behaupten, ob er h tun oder besser lassen soll, ist seine Chefin bereits entschieden. Er soll, nach ihrer Meinung. – Vielleicht, so könnte man diese Analyse der Situation fortsetzen, schließt der Angestellte sich am Ende seines Entscheidungsprozesses der Meinung der Chefin an. Dann ist auch er der Ansicht, dass er h tun soll. Vielleicht aber auch nicht. Und dann droht ein Konflikt. Dass dieser Weg in eine Sackgasse führt, liegt jedoch auf der Hand. Denn die Chefin hat ihrem Angestellten nicht in erster Linie eine ihrer Meinungen mitgeteilt, als sie sagte, dass er morgen zu kommen hat. Sie hat an ihn vielmehr eine Anweisung adressiert. Daher stellt sich dem Angestellten nicht die theoretische Frage, ob die Frau recht hat oder nicht. Ihm stellt sich die praktische Frage, wie er sich angesichts seiner Gründe gegenüber der Anweisung verhalten soll. Den Konflikt des Mannes als Meinungsverschiedenheit zwischen ihm und der Chefin zu rekonstruieren, führt daher auf den Holzweg. Auch so lässt sich das Paradox nicht vermeiden. Also zurück zum Anfang! Welchen Reim wollen wir uns auf den Umstand machen, dass der Mann weiß, was er tun soll, und sich gleichwohl fragt, was er tun soll? Der Reim, den ich in den beiden nachfolgenden Abschnitten zu Ohren bringen möchte, beruht auf der Überzeugung, dass das Wort ‚sollen‘ ambig ist. Besser sollte man vielleicht sagen, dass dieses Wort zwei Verwendungen erlaubt. Der Mann fragt sich nicht in derjenigen Verwendung des Wortes, was er tun soll, in der er
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weiß, was er soll. Und trivialerweise auch umgekehrt: Der Mann soll nicht in derjenigen Verwendung des Wortes, in der er sich fragt, was er tun soll. Machen wir uns diesen Unterschied klar. Er ist sehr wichtig. 2 In diesem Abschnitt stehen Sätze im Mittelpunkt der Betrachtungen, denen gemäß ein Akteur A eine Handlung vom Typ H ausführen soll. Gemeint sind solche Sätze wie „Er soll morgen ins Büro“, „Petras Bruder soll sie zurückrufen“, „Das Kind soll nicht mit nassen Haaren auf die Straße“ oder „Ihr sollt nicht auf ihn warten.“ Wir unterscheiden also nicht hinsichtlich der Fragen, ob das Subjekt des Satzes im Singular oder im Plural steht; ob der Akteur, auf den der Satz referiert, durch einen Eigennamen, eine Kennzeichnung oder durch ein Pronomen zur Sprache kommt. Auch ist es egal, ob der betreffende Akteur etwas tun oder lassen soll. Alle Sätze dieser Art seien SSätze genannt. S-Sätze haben eine Reihe erwähnenswerter Eigenschaften, auf die in der Literatur mehrheitlich bereits hingewiesen wurde. Eine dieser Eigenschaften besteht darin, dass derartige Sätze insofern rekursiv sind, als es immer einen Anweisungsakt geben muss, auf den sie zurückzubeziehen sind.3 Der Satz „Der Angestellte soll morgen pünktlich sein“ ist in diesem Sinne rekursiv. Denn er bezieht sich auf die Anweisung der Chefin zurück, der zufolge der Mann pünktlich sein soll. Damit zusammenhängend sind die S-Sätze in einem bestimmten Sinn des Wortes anonym. Sie beziehen sich nämlich auf die Anweisung einer Person zurück, ohne auf diese Person ausdrücklich zu verweisen. Wenn wir hören, dass der Angestellte pünktlich sein soll, wissen wir zwar aufgrund der erläuterten Rekursivität der betreffenden Sätze, dass es einen Autor der vorangegangenen Anweisung geben muss. Wir wissen jedoch nicht, wer dieser Autor ist. Streng genommen, ist also nicht der S-Satz, sondern der Autor der Anweisung anonym, die dem Satz zugrunde liegt.
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Insofern S-Sätze rekursiv und anonym sind, ist begreiflich, wie es angeht, dass es sich hierbei um assertorische Sätze handelt, also um Aussagesätze, die wahr oder falsch sind. Im Fall unseres Beispiels ist der Satz „Der Angestellte soll pünktlich sein“ wahr. Und er ist genau deshalb wahr, weil er auf den Anweisungsakt der Chefin rekurriert, die dem Mann die betreffende Anweisung gegeben hat.4 Auf diesen Punkt werden wir weiter unten noch einmal zurückkommen. Eine vierte Eigenschaft der S-Sätze besteht darin, dass sie in gewissen Kommunikationskonstellationen einen zusätzlichen Zweck erfüllen. Stellen wir uns vor, der Vater sagt zu seinem Kind: „Räum bitte dein Zimmer auf!“ Infolge dieser Anweisung ist der S-Satz wahr, dem gemäß das Kind sein Zimmer aufräumen soll. Stellen wir uns nun vor, das Kind komme der Anweisung des Vaters nicht nach, weswegen die Mutter nach geraumer Zeit mit mahnender Stimme zu ihm sagt: „Du sollst dein Zimmer aufräumen!“ Hier haben wir es, streng genommen, nicht mehr mit einem zutreffenden S-Satz zu tun. Denn insofern die Mutter diesen Satz in der veranschaulichten Kommunikationssituation verwendet, um sich der Anweisung des Vaters anzuschließen, fungiert der Satz in ihrem Munde als verkappter Imperativ. In dieser Funktion kann der Satz natürlich nicht als wahre bzw. zutreffende Behauptung gedeutet werden.5 Wie ich im zwölften Abschnitt des dritten Kapitels bereits einmal gesagt habe, findet sich in der Literatur zuweilen die Behauptung, S-Sätze könnten generell auf diese beiden Weisen verwendet werden. Sie dienten nicht nur dazu, über das Bestehen einer Anweisung zu informieren, sondern auch dazu, die Anweisung zu geben. Aber diese Verallgemeinerung ist ohne nähere Erläuterung nicht korrekt. Denn S-Sätze sind von Haus aus, wie man sagen könnte, assertorischer Natur und dienen in dieser primären Verwendung dazu, eine wahre (oder falsche) Aussage zu formulieren. Nur unter den spezifischen Bedingungen, die wir uns am Beispiel vergegenwärtigt haben, kann ein SSatz als – wie ich sagen möchte – sekundärer Imperativ verwen-
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det werden. Liegt diese Verwendung vor, schließt sich der Sprecher aber immer einer zuvor bereits ergangenen Anweisung an, die zumeist im imperativischen Modus formuliert worden war.6 Um die biblischen Gebote in Luthers Übersetzung richtig zu verstehen, müssen wir sie also auf göttliche Anweisungsakte zurückbeziehen und als sekundäre Imperative deuten.7 Es gibt eine fünfte Eigenschaft der S-Sätze, die nicht nur ein aufschlussreiches Licht auf die zuerst erläuterten Merkmale wirft. Diese Eigenschaft gibt darüber hinaus zu erkennen, was es mit derjenigen Verwendung des Hilfsverbs ‚sollen‘ auf sich hat, der wir in diesem Abschnitt auf der Spur sind. Sie besteht darin, dass die S-Sätze immer als elliptische Aussagen interpretierbar sind, die um der Klarheit willen vervollständigt werden können. Der elliptisch gedeutete S-Satz „Das Kind soll sein Zimmer aufräumen“ lautet in der vervollständigten Fassung: „Das Kind soll dem Vater zufolge sein Zimmer aufräumen.“8 Wir konnten also zuerst beobachten, dass S-Sätze rekursiv, anonym und (in ihrer primären Funktion) assertorisch sind. Und diese Beobachtungen können wir durch ihren elliptischen Charakter jetzt auch erklären. Rekursiv sind diese Sätze, weil unterschwellig klar ist, dass es keine Anweisung geben kann, ohne einen Autor, der die Anweisung gegeben hat. Anonym sind sie, weil sie just denjenigen Teil ihrer Vervollständigung nicht aufweisen, aus der der Autor der Anweisung hervorgeht. Und assertorisch sind die S-Sätze aus einem Grund, der vielleicht am besten dann in den Blick gerät, wenn man nach der Bedeutung des involvierten Hilfsverbs fragt. Um diese Bedeutung zu erschließen, empfiehlt es sich, die elliptischen S-Sätze mit den Imperativen zu vergleichen, die die Autoren gemeinhin verwenden, um ihre Anweisungen zu formulieren.9 Darüber hinaus ist es aufschlussreich, die Imperative der Autoren in indirekter Rede darzustellen. – Der S-Satz „Der Angestellte soll morgen pünktlich sein“ rekurriert auf den Anweisungsakt, in dem die Chefin den Imperativ formulierte: „Seien Sie morgen pünktlich im Büro!“ Und die am nächsten liegende Formulierung dieses Satzes in indirekter Rede lautet:
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„Die Chefin hat gesagt, dass der Angestellte pünktlich im Büro sein soll.“ Hier tritt die genuine Funktion des Ausdrucks ‚sollen‘ in der uns momentan interessierenden Verwendung zutage. Dieses ‚sollen‘ erfüllt, wie man sagen könnte, eine rein grammatikalische Funktion und hat mit philosophisch tiefsinnigen Problemstellungen nicht sonderlich viel zu tun. In dieser grammatikalischen Funktion dient das Hilfsverb dazu, die Inhalte imperativischer Sätze in indirekter Rede darzustellen. Anders kann man Imperative und deren Inhalt in indirekter Rede auch gar nicht zur Sprache bringen, da es hierfür keine eigenständigen Flexionsformen der Verben gibt. Das uns momentan interessierende ‚sollen‘ schließt insofern eine Lücke der deutschen Grammatik: ‚h tun sollen‘ steht in indirekter Rede da, wo in direkter Rede das Verb im Imperativ steht. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen erscheinen die S-Sätze in einem veränderten Licht. Die Vorkommnisse des Hilfsverbs in dem elliptischen Satz „Das Kind soll sein Zimmer aufräumen“ und erst recht in seiner Ergänzung „Das Kind soll dem Vater zufolge sein Zimmer aufräumen“ stellen sich als grammatikalische Markierung des Umstands heraus, dass eine imperativisch formulierte Anweisung des betreffenden Inhalts an das Kind ergangen ist. Diese quasi syntaktischen Zusammenhänge, die anhand der Transformation imperativischer Sätze in die indirekte Rede zutage treten, lassen sich auch in semantischen Kategorien wiedergeben. Denn wir können jetzt feststellen, dass die Sätze „Das Kind soll sein Zimmer aufräumen“ und „Das Kind wurde angewiesen, sein Zimmer aufzuräumen“ desselben Inhalts sind.10 Dieselbe Behauptung lässt sich aus naheliegenden Gründen ebenso für das folgende Satzpaar aufstellen: „Das Kind soll dem Vater zufolge sein Zimmer aufräumen“ und „Das Kind wurde vom Vater angewiesen, sein Zimmer aufzuräumen.“ Im Licht dieser Überlegungen wird zweierlei sichtbar. Zum einen wird deutlich, inwiefern es irreführend wäre, von einer normativen Bedeutung des Ausdrucks ‚sollen‘ in seiner bisher untersuchten Verwendungsweise zu sprechen. 11 Das ‚sol-
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len‘ und seine Flexionen, die in S-Sätzen Verwendung finden, geben ja lediglich zu verstehen, dass die in diesen Sätzen zur Sprache kommenden Akteure Adressaten einer zuvor ergangenen Anweisung sind. Ist dies der Fall, haben wir es mit einer sehr gewöhnlichen Tatsache zu tun. Genau deshalb sind die SSätze ganz normale Aussagesätze. Sie bringen sehr gewöhnliche Tatsachen zum Ausdruck, die mit den kommunikativen Verhältnissen zwischen (mindestens) zwei Akteuren zu tun haben. Man sollte daher die verbreitete Gewohnheit ablegen, gewisse Ausdrücke immer sofort als Signalwörter für normative Kontexte zu deuten. Das Gespenst sollte verjagt oder – vielleicht besser so gesagt – ausgehungert werden. Um diesen Punkt zu unterstreichen, sei an dieser Stelle unter Verweis auf das dritte Kapitel daran erinnert, dass sich der Autor einer Anweisung nicht in einer normativ hervorgehobenen Position befinden muss, um dazu in der Lage zu sein, eine Anweisung zu geben. Der Straßenräuber macht dies noch einmal deutlich. Er kann den Passanten durch die Äußerung eines Imperativs anweisen, die Brieftasche herauszurücken. In dem Fall ist der S-Satz wahr, dem gemäß der Passant das Geld herausgeben soll. Von Normativität in einem gehaltvollen Sinn des Wortes ist in derlei Situationen jedoch keine Spur zu erkennen. Zum anderen macht die veranschaulichte Analyse der Verwendung des Ausdrucks ‚sollen‘ klar, dass wir der Versuchung einer ontologischen Verdoppelung zu widerstehen haben. Es gibt da nicht zwei Tatsachen, von denen die beiden Sätze handeln, deren Synonymität uns inzwischen deutlich ist. Die Tatsache, dass das Kind ins Bett gehen soll, ist mit der Tatsache identisch, dass es vom Vater angewiesen worden ist, so zu handeln. Diese Tatsache ist, technisch formuliert, die gemeinsame Wahrheitsbedingung des S-Satzes und des korrespondierenden Satzes in indirekter Rede. Dass Menschen in der somit geklärten Bedeutung des Wortes bestimmte Dinge tun oder lassen sollen, ist folglich immer auf die Anweisungen bestimmter Autoren zurückzuführen. Wo es solche Autoren nicht gibt, ist es auch nicht wahr, dass irgendwer irgendetwas soll. Dass aus
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dieser Beobachtung beachtliche Konsequenzen fließen, liegt vermutlich auf der Hand. Auf einige dieser Konsequenzen werde ich in diesem und den beiden nachfolgenden Kapiteln zu sprechen kommen. Schauen wir uns angesichts der bisherigen Ergebnisse das ursprüngliche Paradox noch einmal an. Der Angestellte sagte zu seinem Freund: „Ich soll morgen ins Büro kommen, weiß aber nicht, ob ich das tun soll.“ Das erste Vorkommnis des Verbs ‚soll‘ in diesem Satz haben wir jetzt geklärt. Der Mann hätte ebenso gut sagen können: „Ich wurde angewiesen, morgen ins Büro zu kommen, weiß aber nicht, ob ich das tun soll.“ Das Paradox hat sich offenkundig in Luft aufgelöst. An den Mann ist eine Anweisung ergangen. Das ist eine Tatsache. Und er fragt sich, wie er sich angesichts dieser Tatsache verhalten soll. Er fragt sich, mit anderen Worten, ob er der Anweisung nachkommen soll oder nicht. Machen wir uns im nächsten Abschnitt klarer, wonach genau der Mann hier fragt. 3 Der Vergleich der Situation des Mannes mit der seines Kollegen zu Beginn des zurückliegenden Abschnitts machte deutlich, dass sich der erste Angestellte nicht mit der Frage plagt, welcher von zwei konkurrierenden Anweisungen er nachkommen soll. In seinem Fall gibt es ja nur eine – die der Chefin. Er fragt sich vielmehr, wie sich sein Grund dafür, der Anweisung nachzukommen, zu seinen Grund dafür verhält, dies nicht zu tun. Welcher der beiden Gründe wiegt schwerer? Als wir uns praktische Gründe im sechsten Kapitel im Licht ihrer Rolle beim Entscheiden vergegenwärtigt haben, war zu sehen, dass Entscheidungssituationen immer Wahlsituationen sind. Wer sich entscheidet, wählt aus einer Menge von mindestens zwei Optionen aus, die sich wechselseitig ausschließen. In Erinnerung dieses Sachverhalts können wir jetzt sehen, inwiefern die Frage des Mannes, ob er der Anweisung der Chefin nachkommen soll, unvollständig und daher irreführend formuliert ist. Er fragt genauer genommen nämlich danach, ob er der Anweisung nachkommen soll oder nicht. Er fragt sich, mit an-
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deren Worten, was von zwei Dingen er tun soll: der Anweisung folgen oder dies unterlassen. Diese Beobachtung ist einerseits trivial. Andererseits hilft sie aber nicht nur, die Frage richtig zu verstehen, vor der der Akteur im Beispiel steht. Sie hilft vor allem dabei, diejenige Verwendungsweise des Verbs ‚sollen‘ zu klären, die nicht die der S-Sätze ist. Was, so können wir jetzt nämlich fragen, will ein Mensch wissen, der sich die Frage stellt, für welche von zwei Handlungsoptionen er sich entscheiden soll, die sich wechselseitig ausschließen. Und die Antwort lautet schlicht: Er will wissen, welche der Optionen den Vorzug verdient, also die bessere ist.12 Insofern primäre Gründe Vorzüge der durch sie begründeten Handlungen sind, wie wir aus dem sechsten Kapitel wissen, muss die Antwort etwas genauer lauten: Wer fragt, was er tun soll, will wissen, welche der Optionen die größeren Vorteile hat, weswegen sie alles in allem den Vorzug verdient. Die bessere Handlung ist also die besser begründete. Man sollte sich an diesem Punkt der Überlegung angelangt mit aller Deutlichkeit vergegenwärtigen, dass damit die Verwendungsweise des Verbs ‚sollen‘, der wir in diesem Abschnitt auf der Spur sind, schon voll und ganz erklärt ist. Realisiert man dies nicht, schießt man leicht über das Ziel hinaus. Dann gelangt man zu der falschen Ansicht, die zurückliegenden Betrachtungen hätten gezeigt, dass Akteure diejenige Option ergreifen sollen, für die die stärkeren Gründe sprechen. Diese Deutung wäre ein grobes Missverständnis, auf das ich im sechsten Abschnitt noch ausführlicher zu sprechen komme. Die zurückliegenden Betrachtungen haben vielmehr die Funktionsweise des Hilfsverbs ‚sollen‘ so erklärt, dass erkennbar wird, inwiefern dieser Ausdruck eine noch nicht getroffene Entscheidung signalisiert. Ist die Entscheidung indes gefallen, dann ist keine Verwendung des Hilfsverbs mehr am Platz. Dies erkennt man, wenn man darauf achtet, wie der Akteur seine Entscheidung formuliert, wenn er sie getroffen, also seine Frage beantwortet hat. Er sagt dann sicherlich nicht: „Ich soll der Anweisung der Chefin nachkommen“ oder „Ich bin zu der Über-
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zeugung gelangt, dass ich der Anweisung nicht nachkommen soll.“ Hier haben wir es zweimal mit einem ‚soll‘ der S-Sätze zu tun, die am Anfang und nicht am Ende einer praktischen Überlegung stehen können. Der Akteur wird nach Abschluss seines Entscheidungsprozesses weit eher etwas von dieser Art sagen: „Alles in allem ist es wohl besser, dieses und nicht jenes zu tun.“13 Genau auf solch eine Antwort zielte seine Frage. Was ist angesichts der Gründe alles in allem besser: dieses oder jenes? Und in einer Antwort auf diese Frage kommt kein ‚sollen‘ mehr vor. Es ist, wie sich zeigt, nur eine irreführende Eigenwilligkeit der Sprache, dass man nach solchen Antworten fragen kann, indem man das Verb ‚sollen‘ gebraucht.14 In der ersten Verwendung des Wortes lässt sich die Wendung ‚h tun sollen‘ paraphrasieren durch ‚von jemanden angewiesen worden sein, h zu tun. ‘ Halten wir jetzt Ausschau nach einer Paraphrase der zweiten Verwendung. Der Mann, der danach fragt, was er tun soll, so wurde deutlich, fragt in anderen Worten danach, ob es besser ist, h oder non-h (bzw. h, g, … oder z) zu tun. „Soll ich h tun?“ lässt sich also durch den Fragesatz „Ist es besser, h zu tun oder zu lassen?“ paraphrasieren. Und Sätze der Art „Was soll ich tun?“ lassen sich umformulieren in: „Welche meiner Optionen ist besser als die anderen (begründet)?“15 Angesichts dieses Ergebnisses können wir das Paradox vom Anfang dieses Kapitels jetzt in beide Richtungen auflösen. Der Mann, der der Anweisung der Chefin zufolge ins Büro soll und sich fragt, ob er dies tun soll, soll ins Büro, insofern er der Adressat einer entsprechenden Anweisung ist. Angesichts dieser Tatsache fragt er sich mit Blick auf seine Gründe, ob es besser ist, der Anweisung Folge zu leisten oder dies nicht zu tun. Von dem Paradox bleibt keine Spur. 4 Die im zurückliegenden Abschnitt herausgearbeitete Verwendung des Hilfsverbs ‚sollen‘ – das ‚sollen‘ der offenen Frage – liegt der konjunktivischen Verwendung zugrunde, die wir am Ende des vorangegangenen Kapitels im Rahmen der Diskussion
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singulärer und generalisierter Ratschläge erörtert haben. Um diesen Zusammenhang deutlich zu machen, kehren wir noch einmal zu dem Beispiel zurück. Der Mann bekam eben die Anweisung der Chefin. Und er fragt jetzt seine Frau um Rat: „Soll ich oder soll ich nicht am Sonntag ins Büro?“ Wir wissen inzwischen, wie diese Frage gemeint ist: Was zu tun ist besser? Für welche Option spricht der stärkere Grund? In welcher Form wird die Frau dem Mann antworten? Sie wird entweder sagen: „Du solltest es tun.“ Oder sie wird zu der Einschätzung gelangen, dass ihr Mann nicht ins Büro sollte.16 Hier signalisiert, wie bereits am Ende des zurückliegenden Kapitels erläutert, der Konjunktiv, dass die Frau ihre Einschätzung darüber formuliert, welche Option des Mannes die bessere ist, also auf dem stärkeren Grund beruht.17 Dass hier die eigene Einschätzung der Sprecherin zum Ausdruck kommt, wird auch dadurch erkennbar, dass die Sätze „Du solltest h tun“, „Du solltest meiner Einschätzung nach h tun“, „Ich bin der Meinung, du solltest h tun“ usw. vollkommen bedeutungsgleich sind. Immer, wenn ein Sprecher einen Ratschlag formuliert, tut er seine Sicht auf die Gründe des Adressaten und damit seine Ansicht über die bessere Handlungsoption kund. „Er sollte sich gesünder ernähren“, „Ihr solltet jetzt gehen“ oder „Sie sollten dieses Jahr nicht nach Frankreich fahren“ machen dies deutlich. Der Konjunktiv eines Ratschlags deutet jedoch noch auf eine zweite Verbindung mit dem ‚sollen‘ der offenen Frage hin, die ebenfalls im zurückliegenden Kapitel bereits angesprochen wurde. Diese tritt erneut zum Vorschein, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass man die Bitte um einen Rat auch im Konjunktiv formulieren kann. Der Mann aus dem Beispiel könnte fragen: „Was würdest du an meiner Stelle tun?“ Und auf die so formulierte Frage könnte die Frau auch antworten, dass sie an seiner Stelle h tun würde. Damit bringt sie zum Ausdruck, dass sie an der Stelle ihres Mannes in Übereinstimmung mit ihrer Einschätzung handeln würde, dass es unter den gegebenen Bedingungen besser ist, h zu tun, statt es zu lassen.
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Gemäß dieser Interpretation lassen sich Verwendungen des konjunktivischen ‚sollen‘ auch in anderen Kontexten systematisch einheitlich deuten. Wenn jemand beispielsweise sagt, dass der Angesprochene h nicht hätte tun oder p nicht hätte sagen sollen, dann bringt der Sprecher zum Ausdruck, dass es seiner Einschätzung der vorliegenden Gründe nach besser gewesen wäre, h zu unterlassen bzw. p nicht auszusprechen. Auch wenn jemand sagt, dass es in der Welt nicht so ungerecht zugehen sollte, bringt er zum Ausdruck, dass er eine gerechtere Welt besser fände als die Welt, wie sie ist. Eine große Zahl weiterer typisch moralischer Urteile lässt sich ebenfalls nach diesem Muster deuten. Und dieser Umstand verweist auf eine Spur, der ich im Abschlusskapitel weiter nachgehen will: Moral hat viel mit Gründen und bemerkenswert wenig mit Regeln oder Normen zu tun. Anders als das ‚sollen‘ der S-Sätze haben das ‚sollen‘ der offenen Frage und seine konjunktivische Ableitung offenbar durchgängig eine normative Dimension, wenn man sich so ausdrücken möchte. Da diese Ausdrucksweise jedoch insofern irreführend ist, als bei Licht betrachtet keine Normen, also keine präskriptiven Regeln im Spiel sind, sollte man genauer und weniger irreführend sagen, das ‚soll‘ der offenen Frage und das konjunktivische ‚sollten‘, das mit ihm einhergeht, werden evaluativ gebraucht. Wer fragt, was er tun soll, ist um eine Einschätzung seiner Gründe bemüht. Und wer sagt, was getan werden oder der Fall sein sollte, gibt stets eine Bewertung ab. Er sagt, dass seiner Einschätzung nach etwas besser als seine Alternativen ist. Und dabei stützt er sich auf seine Sicht der vorliegenden Gründe. Dieses evaluative Moment sollte man im Blick behalten und von Normen bzw. normativen Kontexten sauberer unterscheiden, als dies in gegenwärtigen Debatten leider oft der Fall ist. Denn nur so kann dem Gespenst Einhalt geboten werden.18 5 Es ist lehrreich, vor dem Hintergrund des zurückliegenden Abschnitts der Vollständigkeit halber noch einmal kurz auf die
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„hypothetischen Imperative“ zu sprechen zu kommen, mit denen wir uns bereits am Ende des fünften Kapitels beschäftigt haben. Wenn in der einschlägigen Literatur von Sätzen dieser Art die Rede ist, wird, wie erläutert, zwischen drei Formen zumeist nicht klar unterschieden. Nur in der ersten Form haben wir es im wörtlichen Sinn mit einem Imperativ zu tun: „Wenn du in der Hütte schlafen willst, heize sie!“ Wie wir gesehen haben, sind Imperative dieser Art nicht wirklich von kategorischen, also echten Imperativen verschieden. Denn aus der Regelperspektive war zu erkennen, dass sich jeder Imperativ durch einen Konditionalsatz zur Sprache bringen lässt. Insofern sind auch kategorische Imperative bedingt. In der zweiten Form sind „hypothetische Imperative“ zutreffende (oder falsche) Informationen über bestehende Notwendigkeiten. „Wenn du die Hütte bewohnbar machen willst, dann musst du sie heizen.“ Hier informiert der Sprecher darüber, was der Angesprochene beachten muss, will er seinen Wunsch in die Tat umsetzen. Um den assertorischen und damit nicht-normativen Charakter dieses Satztyps kenntlich zu machen, habe ich in Anlehnung an von Wright die Rede von den anankastischen Tatsachen eingeführt. Diese Rede deutet darauf hin, dass das ‚müssen‘ keine normative oder präskriptive, sondern eine rein modale Bedeutung hat. Wer Sätze der genannten Art formuliert, macht darauf aufmerksam, dass es im gegebenen Kontext nur ein einziges Mittel gibt, das erstrebte Ziel zu erreichen. Nur insofern ist das Mittel ein notwendiges Mittel. In der dritten Form sind wir schließlich wieder bei den Ratschlägen angelangt. „Wenn du die Hütte bewohnbar machen willst, dann solltest du sie heizen.“ Hier tut der Sprecher seine Ansicht kund, dass es in Anbetracht der Wünsche und damit auch der primären Gründe des Angesprochenen besser ist, die Hütte zu heizen, als dies zu unterlassen. Wieder ist das evaluative Moment deutlich sichtbar. – Mit Anweisungen und insofern echten Imperativen haben die „hypothetischen Imperative“ der zweiten und dritten Form offenkundig nicht viel
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gemeinsam. Man sollte sich daher angewöhnen, beim Umgang mit den betreffenden Satztypen genauer zu differenzieren. Die simple Gegenüberstellung von kategorischen mit vermeintlich „hypothetischen“ Imperativen führt zwangsläufig in die Irre, weil relevante Unterschiede so ausgeblendet bleiben. 6 Wir haben das ‚sollen‘ der S-Sätze vom evaluativen ‚sollen‘ der noch offenen Frage unterschieden und den konjunktivischen Gebrauch dieses Wortes geklärt. Jetzt sollten wir uns klarmachen, wie groß die Gefahr ist, den aufgewiesenen Unterschied zu übersehen und die beiden Verwendungsweisen miteinander zu vermengen. Diese Gefahr besteht vor allem deshalb, weil es oft der Fall ist, dass ein Akteur angesichts der vorliegenden Gründe etwas tun sollte (insofern es besser, also ratsamer als seine Alternativen ist), was er gemäß der Anweisung eines Autors tun soll. In solchen Fällen übersieht man dann leicht, dass zwei verschiedene Bedeutungen des Hilfsverbs im Spiel sind. Ein Schulkind ist beim Toben im Pausenhof gestürzt und hat sich ein Knie wund geschlagen. Der Lehrer sagt zum Kind: „Geh zum ärztlichen Notdienst und lass die Wunde reinigen!“ Der Anweisung des Lehrers zufolge soll das Kind zum Notdienst. Und da wir annehmen können, dass es sicher besser für das Kind ist, sich verarzten zu lassen, als dies nicht zu tun, urteilen wir zutreffenderweise, dass das Kind zum Notdienst gehen sollte. Das Kind sollte, mit anderen Worten, der Anweisung des Lehrers folgen. Denn diese Anweisung ist gut begründet. Insofern sollte das Kind tun, was es dem Lehrer zufolge tun soll. In derlei Situationen gehen die beiden Verwendungen des Verbs ‚sollen‘ Hand in Hand. Gleichwohl kann man sie auch in diesem Fall klar voneinander unterscheiden. Häufig ist ein Adressat mit einer Anweisung konfrontiert, die nicht gut begründet ist. Dann ist es besser, die Anweisung nicht zu befolgen, also nicht zu tun, was man dem Autor der Anweisung zufolge tun soll. Und manchmal ist ein Adressat mit einer Anweisung konfrontiert, die vielleicht gar nicht so schlecht begründet ist, und sollte trotzdem nicht tun, was er
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dem Autor der Anweisung zufolge tun soll. Denn es mag einen Grund für eine alternative Handlung geben, der schwer genug wiegt, um den Grund zu übertrumpfen, der für eine Befolgung der Anweisung spricht. All dies gilt sowohl für singuläre als auch für generalisierte Anweisungen, also präskriptive Regeln, die wir jetzt wieder mit in den Blick nehmen. Auch diese Regeln mögen unbegründet, aber auch mehr oder weniger gut begründet sein. In jedem einzelnen Fall stellt sich für den Adressaten daher die Frage, wie sich seine Gründe dafür, der Anweisung zu folgen, zu seinen Gründen dafür verhalten, anders als angewiesen zu handeln. – Und all dies gilt auch im Falle solcher generalisierter Anweisungen, die die Gebotsregeln einer politischen Ordnung sind. Auch hier kann ein Adressat dieser Regeln Gründe haben, die für ein Handeln entgegen der Regel sprechen. Diese Gründe können insbesondere moralischer Natur sein. Dann hat der Adressat einen moralischen Grund dafür, das nicht zu tun, was er dem Autor der politischen Regeln zufolge tun soll.19 Er sollte, anders gesagt, nicht tun, was er tun soll. Vor diesem Hintergrund lässt sich der Streit zwischen den Rechtspositivisten und ihren Kritikern einvernehmlich lösen. Dies freilich nur dann, wenn die Kritiker bereit sind, ihre zutreffende Intuition nicht länger durch eine moralisierende Konzeption des Rechts zum Ausdruck zu bringen. Was an ihrer Sicht richtig ist, ist der Umstand, dass moralische Gründe, insbesondere Gründe der Gerechtigkeit, zuweilen Gründe dafür sind, bestehende Gesetze und damit geltendes Recht zu missachten. Dann sollte man als moralischer Akteur aus moralischen Gründen nicht tun, was man von Gesetzes wegen tun soll. Gerechtigkeit ist ein moralisches Konzept. Recht und Rechtlichkeit sind juridisch-politischer Natur. Man kann und sollte das eine vom anderen trennen. Ausführlicher komme ich im letzten Kapitel der Abhandlung auch auf diese Trennung zurück. Dort werde ich darüber hinaus eine Überwindung der Trennung und eine Versöhnung der beiden rechtsphilosophi-
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schen Standpunkte thematisieren. Für den Moment reicht es hin, den Sachverhalt zu betonen, dass es natürlich ungerechte, also unmoralische Rechtssysteme geben kann. Doch niemandem ist damit geholfen, diesen Systemen die Etiketten ‚Recht‘ und ‚Rechtsstaatlichkeit‘ zu verwehren. Dies doch zu tun, macht nur für den Tatbestand blind, dass auch im Namen des Rechts moralisch verwerfliche Dinge geschehen können. Und vor allem nährt es die gefährliche Haltung, alles, was Recht ist, per se schon mit einem legitimatorischen Vorschuss auszustatten. Das Recht per se hat solch einen Vorschuss nicht verdient. Nur Rechtsordnungen, die nicht im Konflikt mit moralischen Gründen stehen, sind legitime Ordnungen. Die Moral muss also zum Recht erst hinzutreten. Sie steckt im Recht nicht schon drin. – Auch auf diesen Punkt werde ich im Abschlusskapitel ausführlicher eingehen. Wenn wir diese kurzen Überlegungen mit den knappen Ausführungen über positive Regeleigenschaften aus dem zurückliegenden Kapitel kombinieren, können wir vielleicht auch dem Rechtspositivisten einen kleinen Kompromiss abringen und die Versöhnung mit seinem Kritiker vorantreiben. Ein Rechtsautor, so sagte ich soeben, verdient nicht per se moralischen oder legitimatorischen Vorschuss. Ein Rechtsautor muss erst Vertrauen bei den Adressaten gewinnen. Dies kann er vornehmlich tun, indem er Expertise beweist und Regeln setzt, von denen die Adressaten häufig genug die Erfahrung machen, dass sie tatsächlich angesichts ihrer Gründe tun sollten, was sie den Anweisungen des politischen Autors zufolge tun sollen. Nur wenn die Menschen hinlänglich häufig diese Erfahrung machen, sind sie als Bürger und Bürgerinnen mit ihrem Staat versöhnt. Wo Menschen umgekehrt zu oft die Erfahrung machen, dass die staatliche Ordnung sie mit einem gesetzlich verordneten Sollen konfrontiert, dem sie angesichts ihrer (moralischen und anderen) Gründe nicht nachkommen sollten, da ist die Ordnung bald in Unordnung. Nicht selten führt dies dann auch dazu, dass die Ordnung in eine Tyrannei entartet. Dann müssen die Leute mit großem Aufwand entlang des Rechtswegs
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geprügelt werden. Denn fast keiner macht jetzt noch freiwillig mit. Alle Früchte kooperativen Handelns gehen so verloren. Das ist das reine Desaster. Gute Regelautoren wissen um diese Zusammenhänge und haben daher auch immer die moralischen Gründe ihrer Adressaten im Sinn. 7 Gegen Ende des dritten Abschnitts habe ich vor einem Fehlschluss gewarnt. Dieser besteht darin, aus der Analyse der zweiten Verwendungsweise des Ausdrucks ‚sollen‘ auf die Aussage zu schließen, dass Akteure stets diejenige Option realisieren sollen, für die die stärkeren Gründe sprechen. Dass dieser Schluss nicht gerechtfertigt wäre, ist jetzt hoffentlich klar. Man darf das ‚sollen‘ der offenen Frage nicht mit dem ‚sollen‘ der SSätze verwechseln. Denn zwei grundverschiedene Verwendungsweisen sind hier im Spiel. Doch nicht nur der Schluss wäre ungerechtfertigt. Die vermeintlich erschlossene Aussage ist falsch. Denn man soll nicht tun, wofür man die besten Gründe hat. Wer dies gleichwohl glaubt, der sieht noch immer nicht, dass die besagte Aussage auf einer Vermengung der beiden Verwendungsweisen von ‚sollen‘ beruht. Und diese Vermengung hat System. Weite Bereiche der praktischen Philosophie unserer Gegenwart sind von dem Virus dieser Vermengung infiziert. Ich möchte versuchen, diesen Tatbestand in diesem Abschnitt mit Blick auf die Begriffe des praktischen Grundes und der Rationalität zu verdeutlichen. Dass das Virus auch weite Teile unseres moralischen Weltbilds in arge Mitleidenschaft zieht, soll im zehnten Kapitel verdeutlicht werden. Der Akteur, der sich angesichts konfligierender Handlungsoptionen fragt, was er tun soll, so war zu sehen, will wissen, für welche seiner Optionen die besseren Gründe sprechen. Er will, mit anderen Worten, in Erfahrung bringen, welche Option besser bzw. vorzüglicher als ihre Alternativen ist. Aufgrund der besagten Vermengung missdeuten viele Philosophen die Lage des Akteurs. Sie glauben, er frage danach, hinter welcher seiner Optionen die stärkere (oder legitimere) Anweisung
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(oder Forderung) steht. Und weil diese Philosophen sehr richtig sehen, dass ein Akteur in dieser Lage nach seinen Gründen Ausschau hält, um seine Frage zu beantworten, missdeuten sie Gründe und halten diese für eine Art von Forderung oder Anweisung. Diese katastrophale Verwechslung ihrerseits führt zu einem verfehlten Begriff vom Grund. Man spricht dann gern von normativen Gründen.20 Natürlich hängt die eben erläuterte Konfusion mit der These zusammen, dass präskriptive Regeln, sprich Anweisungen per se Gründe dafür sind, den Anweisungen zu folgen. Dass diese These nicht zu halten ist, haben wir im zurückliegenden Kapitel schon gesehen. Umgekehrt sollte man sich jetzt auch deutlich machen, dass Gründe keine Anweisungen sind, nicht also von der Natur einer Regel oder Norm. Vor dem Hintergrund dieser Klärung sollte an dieser Stelle zu erkennen sein, dass die Rede von den normativen Gründen ein Missgriff ist. Primäre Gründe sind die Vorzüge der durch sie begründeten Handlungen. Wie kann man Derartiges mit einer Anweisung, einer Forderung oder einer Norm auf eine gemeinsame Ebene setzen? Wie kann man Äpfel mit Birnen vergleichen? Macht man sich den erläuterten Unterschied zwischen dem ‚sollen‘ der S-Sätze, das auf den Umstand verweist, dass ein Akteur der Adressat einer Anweisung ist, und dem evaluativen ‚sollen‘ der offenen Frage klar, das auf Gründe und die Suche nach der besseren Handlung verweist, kommt man erst gar nicht auf den Gedanken, den Begriff praktischer Gründe im Licht der Konzepte Anweisung, Forderung, Norm oder Gebot zu betrachten. Gründe sind im erläuterten Sinn zwar evaluativ. Denn wer mit Gründen „hantiert“, ist in der Sphäre des Wägens, Erwägens, der Suche nach der besseren Entscheidung unterwegs. Gründe sind jedoch nicht normativ. Sie sind keine Dinge, die fordern oder auf Forderungen beruhen.21 Gründe können ihrer ganzen Natur nach überhaupt nicht normativ sein. Man mag dem entgegenhalten, dass die von mir bestrittene Normativität der Handlungsgründe auch ganz anders gemeint sei, als ich sie soeben dargestellt habe. Gemeint sei nicht, dass
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die Gründe selbst normativ, also von der Art einer Norm, einer Forderung oder eines Gebotes seien. Die Rede von den normativen Gründen solle vielmehr den Umstand zur Sprache bringen, dass wir als rationale Akteure dem Gebot der Vernunft unterstehen. Dieses Gebot besagt, dass wir stets tun sollen, wofür wir die besten Gründe haben. Und nur insofern wir notwendigerweise mit den Gründen zu tun bekommen, wenn wir versuchen, diesem Gebot Folge zu leisten, werden die Gründe in einer abgeleiteten Bedeutung normativ genannt. Mit dieser Überlegung sind wir an dem Punkt angelangt, an dem schließlich sichtbar wird, dass nicht nur der Begriff des Grundes von der Vermengung der beiden Verwendungsweisen von ‚sollen‘ infiziert ist. Auch der Begriff der Rationalität und damit unser Selbstverständnis als vernünftige Akteure kranken an dieser Vermengung. Die Vernunft ist ein Vermögen, über das einige höher entwickelte Wesen wie etwa wir Menschen verfügen. Dass wir dieses Vermögen haben, besagt unter anderem, dass wir über ein Vorstellungsvermögen verfügen und die kognitiven Kapazitäten dafür haben, komplexere Strukturen von Vor- und Nachteilen in unseren Verhaltensoptionen auszumachen. Zu diesen Kapazitäten gehört des Weiteren die Fähigkeit, unser Dasein nicht nur als die jeweilige Gegenwart wahrzunehmen, sondern uns darüber bewusst zu sein, dass nach diesem Moment ein weiterer kommt und auch morgen noch ein Tag ist. Der springende Punkt, auf den ich angesichts dieser knappen Skizze einer naturalistischen Vernunftkonzeption aufmerksam machen möchte, besteht darin, dass wir für einen Begriff wie den des Gebots der Vernunft in unserer aufgeklärten Weltsicht längst keinen Platz und keine Funktion mehr haben. Was soll das denn für ein Gebot sein? Wer könnte als Autor dieser Regel gelten? Es gibt keinen wahren S-Satz, dem gemäß wir vernünftig sein oder in Übereinstimmung mit den je stärksten Gründen handeln sollen. Wir sind nicht Adressaten über- oder außermenschlicher Gebote. Von diesem (vermutlich theologisch induzierten) Irrglauben sollten wir ablassen. Ein Mensch mag
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einem anderen Menschen in einer konkreten Situation zwar sagen: „Sei doch vernünftig!“ oder „Komm endlich zur Vernunft!“ Dann ist es wahr, dass der Adressat dem Sprecher zufolge vernünftig sein soll. Aber niemals hat ein Autor den Imperativ ausgesprochen: „Menschen aller Herren Länder und Zeiten, seid stets vernünftig!“ Und wieder: Selbst wenn jemand ernsthaft und mit noch so viel Inbrunst diesen Imperativ äußerte, folgte daraus nicht viel. Denn dann ist nur wahr, dass alle Menschen in aller Zukunft der Anweisung dieser Person zufolge vernünftig sein sollen. Diese Person hätte versucht, es uns zur Regel zu machen, in allen Situationen die am besten begründete Handlungsoption zu ergreifen. Doch wer sähe schon einen zureichenden Grund, diese Regel als Regel zu akzeptieren und daraus Konsequenzen für das eigene Handeln zu ziehen? Dieser Mensch macht sich doch nur lächerlich. Nicht zuletzt ist die Vorstellung, dass man rationalen Akteuren gebieten oder befehlen muss, stets aufgrund der stärkeren Gründe zu handeln, dubios und von den erläuterten Missverständnissen geprägt. Wer fragt, was er angesichts konfligierender Handlungsoptionen tun soll, gibt, wie wir inzwischen wissen, zu verstehen, dass er ohnehin von sich aus bereit ist, das Bessere dem Schlechteren vorzuziehen. Um dieses Ziel zu erreichen, stellt er ja die Frage. Wer aus Gründen handelt, ist also darauf aus, das Tun mit den größeren Vorzügen dem Tun mit den weniger großen Vorzügen vorzuziehen. 22 Darin besteht vielleicht sogar der Kern des Begriffs des Handelns aus Gründen. Wer jedoch qua Handelnder immer schon darauf aus ist, das Bessere zu treffen und das Schlechtere zu meiden, der braucht kein Gebot der Vernunft, das ihn antreibt oder anpeitscht. Er braucht höchstens Rat, also Hilfe bei der Einschätzung der vorliegenden Gründe. Wir sollen nicht vernünftig sein. Denn niemand und nichts hat dies je von uns verlangt. Es liegt vielmehr in unserer Natur als Handelnde begründet, dass wir vernünftig, also im Handeln und Urteilen an Gründen orientiert sind.
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*** In diesem Kapitel habe ich versucht, am Beispiel des Ausdrucks ‚sollen‘ deutlich zu machen, was richtig war an der sogenannten Philosophie der normalen Sprache. Statt tradierte Dogmen der Geistesgeschichte immer und immer wieder nachzuerzählen und bestimmte Ausdrücke in einer scheinbar referentiellen Weise zu gebrauchen, in der sie in außerphilosophischen Kontexten kein normaler Mensch gebrauchen würde, ist es gelegentlich besser, die Verwendung bestimmter Wörter in der Alltagssprache zu untersuchen. Von vielen vermeintlich großen Themen der Geschichte bleibt dann häufig nicht allzu viel übrig. Des Weiteren sollte insbesondere deutlich werden, auf welche Holzwege man gelangt, wenn man ganz bestimmte Wörter referentiell zu gebrauchen versucht. Es gibt kein Sollen, kein Müssen, kein Dürfen in einer handgreiflichen Bedeutung dieser Ausdrücke. Man sollte sich daher immer und immer wieder die Tatbestände vergegenwärtigen, die man normalerweise im Blick hat, wenn man Ausdrücke wie ‚sollen‘, ‚müssen‘ oder ‚dürfen‘ gebraucht. Halten wir uns an diese Maxime auch im nachfolgenden Kapitel. Es lohnt sich.
IX Dürfen Im zurückliegenden Kapitel haben wir uns in der Hauptsache mit einer Doppeldeutigkeit des Verbs ‚sollen‘ beschäftigt. Dabei haben wir uns auf die Verwendung dieses Wortes in Kontexten der praktischen Philosophie konzentriert. Wie zu sehen war, spricht bei näherer Betrachtung einiges dafür, nicht der bemerkenswert weit verbreiteten Neigung zu folgen, das Vorkommnis gewisser Vokabeln sofort als Signal dafür zu deuten, dass man sich in einem normativen Umfeld bewegt. Normativität, so möchte ich an dieser Stelle erneut behaupten, ist eine philosophische Schimäre. „Die Welt ist alles, was der Fall ist. Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen […].“1 Zuweilen ist es aufgrund gewisser kommunikativer Verhältnisse unter Menschen der Fall, dass bestimmte Personen einem oder mehreren Menschen zufolge etwas tun sollen. Tatsachen dieser Art kann man, wenn man es nicht lassen will, als normative Tatsachen bezeichnen. Aber damit trägt man nur zum falschen Anschein einer vermeintlichen Rätselhaftigkeit bei und setzt Fehler fort, die in der philosophischen Vergangenheit allzu oft begangen wurden. Augen auf! Hingeschaut! Welche Tatsachen sind gemeint, wenn von mutmaßlich normativen Dingen die Rede ist? In den nachfolgenden Abschnitten geht es in der Hauptsache um eine Mehrdeutigkeit des Verbs ‚dürfen‘ und seiner Flexionen. Dass eine Person etwas darf, so habe ich bisher zumeist formuliert, heißt, dass sie eine Befugnis hat. Darf sie in Situationen bestimmter Art Dinge bestimmter Art tun, hat sie eine generalisierte Befugnis, der eine Erlaubnisregel entspricht. Wir werden uns in der ersten Hälfte dieses Kapitels mit den Befugnissen von Regeladressaten beschäftigen und dabei sehen, dass es verschiedene Arten von Befugnissen zu unterscheiden gilt.
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Angesichts dieser Unterschiede geht es dann in der zweiten Hälfte des Kapitels um die Frage, woher die Regelungsbefugnis solcher Regelautoren stammt, die dazu befugt, sprich berechtigt oder auch legitimiert sind, Regeln zu setzen. Nicht alle Regelautoren, so wird zu sehen sein, sind dazu befugt, Regeln zu setzen. Manche sind es jedoch. Woher rührt ihre Befugnis? – Auch in der Auseinandersetzung mit den Problemstellungen dieses Kapitels werde ich wie bisher schon versuchen, die Ausdrücke ‚normativ‘ und ‚Normativität‘ zu vermeiden, um den Blick auf die relevanten Tatsachen nicht unnötig zu trüben. 1 Der Bankräuber sagt zum Mann hinter dem Schalter: „Rücken Sie das Geld heraus!“ Wie wir uns im zurückliegenden Kapitel vergegenwärtigt haben, sagt er damit dem Bankangestellten, dass dieser ihm das Geld geben soll. Der Bankräuber gibt einen Befehl. Er formuliert, anders gesagt, eine singuläre Anweisung, die er an den Bankangestellten adressiert. Wie dieses Beispiel zeigt, benötigt man nicht zwangsläufig eine Befugnis, um einen Befehl oder eine singuläre Anweisung zu geben. Und da der hier vertretenen Position zufolge präskriptive Regeln nichts anderes als generalisierte Anweisungen sind, trifft diese Beobachtung natürlich auch in ihrem Fall zu. Nicht jeder Regelautor, der Gebots- oder Verbotsregeln aufstellt und auf die eine oder andere Art dafür sorgt, dass sich seine Adressaten an diese Regeln halten, ist dazu befugt, dies zu tun. Manche tun es einfach nur de facto. Die politische Geschichte würde viele Belege für diese Behauptung liefern, wenn wir hierfür tatsächlich Belege bräuchten. Aber ich denke, die Wahrheit der Behauptung liegt auf der Hand. Oft ist es schiere Macht und Gewalt, auf die sich ein Regelautor stützt. Wenn er sich durchsetzt, was so viel heißt, als dass die Adressaten seine Regeln als Regeln akzeptieren und befolgen, benötigt er hierzu keine Befugnis. Oft generiert auch Angst, Bequemlichkeit oder Stumpfsinn den nötigen Gehorsam bei den Adressaten. Es sei an dieser Stelle zur Sicherheit betont, dass die soeben formulierte Überlegung nichts mit der Unterscheidung zwi-
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schen der Versuchs- und der Erfolgsbedeutung der involvierten Verben zu tun hat, die wir uns bereits im dritten Kapitel klargemacht haben. Ob der Versuch, einen Befehl oder eine Anweisung zu geben, erfolgreich ist oder nicht, hängt (unter anderem) davon ab, ob die Adressaten – aus welchen Gründen auch immer – die Anweisung als Anweisung akzeptieren. Wenn ein Adressat eine an ihn ergangene Anweisung als Anweisung akzeptiert, heißt dies auch noch nicht zwangsläufig, dass er dieser Anweisung nachkommen wird, wenn die betreffende Situation eintritt. Denn ein Adressat kann eine Anweisung als Anweisung akzeptieren und sie gleichwohl wissentlich und absichtlich in den Wind schlagen. In dem Fall nimmt er zur Kenntnis, dass er dem Autor der Anweisung zufolge etwas tun soll, tut es aber absichtlich nicht. Mit der Frage, ob der Autor einer Anweisung dazu befugt ist, dem Adressaten Anweisungen zu geben, hat diese Akzeptanz- und Befolgungsproblematik jedoch nur mittelbar zu tun. Denn es mag zwar sein, dass die Erfolgsaussicht eines Autors deutlich wächst, wenn seine Adressaten ihm die Befugnis zusprechen, ihnen Anweisungen zu geben. Tatsache bleibt jedoch, dass es sehr wohl auch erfolgreiche Regelautoren gibt, die weder zur Regelsetzung befugt sind noch davon ausgehen können, dass ihre Adressaten ihnen eine derartige Regelungsbefugnis zuerkennen. Da sich Regelautoren unter für sie günstigen Umständen auch ohne Befugnis mit ihren Regelungen bei den Adressaten durchsetzen können, wurde in der Geschichte der politischen Philosophie und der Rechtstheorie häufig mit dem Gedanken gespielt, alle präskriptiven Regeln politischer Natur seien auf solch einen unbefugten Gewaltherrscher zurückzuführen. Dabei ist die Rede von einer Zurückführung deshalb am Platz, weil mit dem besagten Gedanken oft die Vorstellung einhergeht, die Regeln, an die sich die Adressaten letztlich halten, müssten nicht unmittelbar vom Gewaltherrscher stammen. Diese Regeln können vielmehr auch von untergeordneten Autoren aufgestellt werden, die ihrerseits (direkt oder indirekt
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über weitere zwischengeschaltete Regelautoren) vom ursprünglichen Autor dazu befugt worden sind, die Interaktionen der Adressaten zu regeln. Es gibt diverse Variationen dieser Grundidee, denen zufolge am Ursprung kein Mensch aus Fleisch und Blut steht, sondern eine andere quasipersonale Instanz. Dies kann ein Gott sein, der durch eine erste Befugnis einen Menschen dazu autorisiert, Regeln für das Handeln anderer Menschen aufzustellen. So beruhte etwa die Theorie vom Gottesgnadentum auf der Glaubenslehre, Gott habe am Beginn der Menschheitsgeschichte Adam die Herrschaftsbefugnis überreicht. Alle Könige und Königinnen, die nach ihm kamen, wurden dieser Lehre zufolge von Adam oder seinen legitimen Nachfolgern zur Regelsetzung befugt. In seiner ersten Abhandlung über die Regierung hat sich John Locke mit Verve gegen diese Sicht der Dinge gestemmt.2 – Eine weitere Variante dieser Grundidee ist die Lehre vom göttlichen Recht, die im Zuge der Christianisierung des Abendlandes aus der stoizistischen Doktrin vom Naturrecht entsprungen ist.3 Mit dieser Doktrin werden wir uns im abschließenden Kapitel auseinandersetzen, um sie aus unserem Denken zu verbannen. – Eine säkularisierte Variation dieser Sicht ist Hans Kelsens obskure Theorie der magischen Grundnorm, deren Existenz man schlicht und einfach annehmen müsse, um die Legitimität aus ihr entsprungener Normen erklärbar zu halten. Auch hier wird ein Ursprung fingiert, der seinerseits keiner Rechtfertigung bedarf, aber zahlreiche „Nachkommen“ zu rechtfertigen vermag.4 Auf dem einen oder anderen dieser nur grob skizzierten Wege glaubten und glauben zahlreiche Rechtstheoretiker und andere Philosophen zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen zu können. Denn aus dieser Überlegung soll zum einen eine Erklärung dafür hervorgehen, wie Regel- bzw. Rechtssysteme auf eine nachvollziehbare Art und Weise ins Leben treten. Irgendein Autor (oder eine Art ursprünglicher Autor) setzt sich irgendwie bei seinen Adressaten durch. Sie akzeptieren seine Regeln – aus welchen Gründen auch immer. Zum anderen soll
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die Überlegung auch ein Argument für die These bieten, dass die Adressaten der Regeln oft, wenn auch nicht immer, dazu verpflichtet sind, sich an die Regeln zu halten. Denn am Ende stehen legitime Regeln eines legitimierten Regelautors. Dieser hat seine Regelungsbefugnis mittelbar oder unmittelbar vom ursprünglichen Autor erhalten. Über den Umweg der zwischengeschalteten Regelautoren bzw. Regelungsinstanzen soll dieser Theorie zufolge also irgendwie die bloße Macht vom Anfang in legitimes Recht umschlagen. Am Startpunkt der Geschichte steht, anders gesagt, ein nicht mit einer Befugnis ausgestatteter Regelautor. Am Ende finden wir indes eine legitime Verteilung von Geboten, Verboten, Befugnissen und weitere Regelungen, an die sich die Adressaten zu halten haben. Stellen wir die Frage, ob man diese Geschichte von der Geburt der Legitimität aus dem Schoße der Faktizität plausibel ausbuchstabieren kann, für den Moment zurück. Diese Frage betrifft die Regelungsbefugnis eines Regelautors. Und wir tun gut daran, vorab das Konzept der Befugnis anhand der Befugnisse der Regeladressaten zu klären. Zu diesem Zweck werden wir uns in den nachfolgenden vier Abschnitten auf solche Fälle konzentrieren, in denen ein Regelautor bestimmten Adressaten eine Befugnis zuweist. Dabei sehen wir aus dem eben genannten Grund noch davon ab, ob der Autor zum Verteilen von Befugnissen befugt ist oder nicht. Wie wir dabei sehen werden, muss man zwischen verschiedenen Arten von Befugnissen unterscheiden. Wie das Wort ‚sollen‘, erlaubt auch das Verb ‚dürfen‘ mehr als nur eine Art der Verwendung. Machen wir uns also diese verschiedenen Verwendungsweisen zuerst mit Blick auf die Regeladressaten klar. Wenn diese Klarheit gewonnen ist, kehren wir zu der Frage zurück, wie es um die Befugnis des Befugnisverteilers, sprich des originären Regelautors bestellt ist. 2 Dass es mit der Bedeutung von Wörtern wie ‚dürfen‘, ‚Erlaubnis‘ oder ‚Befugnis‘ seine eigene Bewandtnis zu haben scheint, wurde in der Literatur schon häufig zur Sprache gebracht. Einige Autoren zeigen sich in diesem Zusammenhang
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davon überzeugt, dass man Befugnisse als Ausnahmeklauseln von grundlegenderen Verbotsregeln deuten muss. Dass eine Person Dinge der Art H tun darf, heißt dieser Auffassung zufolge, dass es dieser Person anders als allen übrigen Akteuren nicht verboten ist, derartiges zu tun.5 – Andere Autoren behaupten, dass man genau dann h tun darf, wenn es keine Verbotsregel gibt, die derartige Handlungen verbietet. 6 Anders gesagt, darf man genau dann h tun, wenn es kein Gebot gibt, Dinge der Art H zu unterlassen. – Und nicht zuletzt gibt es auch die Position, der gemäß man genau dann h tun darf, wenn es eine Erlaubnisregel gibt, die ausdrücklich festhält, dass man Dinge dieser Art tun darf.7 Eingedenk unserer Überlegungen zur Ambiguität des Hilfsverbs ‚sollen‘, die Gegenstand des zurückliegenden Kapitels waren, sollten wir meiner Ansicht nach gar nicht erst damit anfangen, nach der einen richtigen Lesart des Verbs ‚dürfen‘ zu suchen. Wenn ‚sollen‘ zwei Bedeutungen bzw. Verwendungsweisen hat, warum sollte nicht auch der Ausdruck fen‘ mehr als nur eine Verwendung zulassen? Ich sehe nichts, was gegen diese Vermutung spricht. In der Tat werden auf den nachfolgenden Seiten Gründe für die Überzeugung zur Sprache kommen, dass es im Fall des Verbs ‚dürfen‘ sogar drei, wenn nicht gar vier Verwendungsweisen zu unterscheiden gilt. Diese Vielfalt wird sich jedoch auf zwei Grundbedeutungen des Ausdrucks konzentrieren lassen. Gehen wir im Nachfolgenden zur Vereinfachung der Darstellung davon aus, dass es in der politischen Welt, die wir in Augenschein nehmen, genau einen Regelautor und eine klar umrissene Menge von Adressaten gibt. Und geben wir dem Regelautor den Namen Rex, um kenntlich zu machen, dass wir uns auf die staatlichen Regeln einer politischen Gemeinschaft konzentrieren. Damit sei zugleich festgehalten, dass es sich da, wo es später in diesem Kapitel auch um Rechte gehen wird, ausschließlich um juridische und nicht um moralische Rechte handelt. Das Verhältnis zwischen politischen bzw. juridischen Rechten, mit denen wir uns in den nachfolgenden Abschnitten
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beschäftigen, und den moralischen Rechten ist Gegenstand des abschließenden Kapitels. Beginnen wir mit der basalen Unterscheidung zwischen solchen Dingen, die ein Akteur darf, insofern es ihm nicht von Rex verboten wurde, und den Dingen, die er tun darf, weil Rex sie ihm ausdrücklich erlaubt hat.8 Und konzentrieren wir uns dabei durchgängig auf Handlungstypen.9 Im ersten Fall dreht es sich um solche Handlungstypen, über die sich der Regelautor, so nehmen wir an, bisher niemals geäußert hat. Insbesondere hat er auch keine Regel aufgestellt, durch die er Handlungen dieser Art einem bestimmten Adressatenkreis verbietet (also deren Unterlassung gebietet).10 – Im zweiten Fall geht es hingegen um solche Typen von Handlungen, die Rex dem (oder den) Adressaten durch das Aufstellen einer Erlaubnisregel ausdrücklich eingeräumt hat. Im einen Sinn darf man, so können wir zur Illustration annehmen, in der von Rex regierten Welt atmen, die Luft anhalten, im Wald zu jeder Tages- und Nachtzeit spazieren gehen und dergleichen Belanglosigkeiten mehr. Denn Rex ist bisher nie auf die Idee gekommen, seinen Untertanen diese Dinge zu verbieten (oder gar zu gebieten). Im anderen Sinn dürfen Adressaten bestimmten Typs sonntags darum bitten, von Rex persönlich empfangen zu werden. Es gibt also ein Gesetz, das alle oder manche Untertanen zu einem Audienzgesuch befugt. Für meine Begriffe passt der Ausdruck ‚Befugnis‘ für all diejenigen Dinge, die ein Akteur insofern darf, als sie ihm durch niemanden, insbesondere durch keinen Regelautor verboten wurden, nur sehr bedingt. Befugnisse sind wie Erlaubnisse, Berechtigungen oder juridische Rechte eben Dinge, die dem Träger der Befugnis von irgendjemandem eingeräumt, zugesprochen, bewilligt (oder etwas dieser Art) werden müssen. Und genau solch ein vorgängiger Akt eines Regelautors hat ja in all denjenigen Fällen, die wir gerade im Blick haben, nicht stattgefunden. Tatsächlich sind wir hier erneut auf ein Loch in der Sprache gestoßen. Denn es gibt weder in unserer Sprache noch in ande-
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ren ein Substantiv, das sich zur Bezeichnung genau derjenigen Dinge anbietet, die man tun darf, insofern sich kein Regelautor über sie geäußert hat. In diesem Fall ist die Lücke in der Sprache auch einfach zu erklären. Mit Substantiven wie ‚Befugnis‘, ‚Erlaubnis‘, ‚Berechtigung‘ und zum Teil auch ‚Recht‘ kommen immer gewisse institutionalistische Konnotationen ins Spiel, die ihre Verwendung zur Bezeichnung der zu bezeichnenden Handlungstypen vereiteln. Denn sobald es durch die Verwendung irgendeines Substativs so klingt, als sei die Tatsache, dass ein Akteur etwas darf, Ergebnis eines zuvor vorgenommenen, institutionellen Eingriffs eines Autors, ist der Gedanke schon verfehlt, dass Leute bestimmte Dinge tun dürfen, insofern niemand etwas unternommen hat, um dies zu verhindern bzw. abzustellen. Man könnte sich angesichts dieser Lücke in der Sprache natürlich behelfen und zu einer stipulativen Festlegung greifen, wollte man gleichwohl durch ein Substantiv auf die besagten Handlungstypen referieren. 11 Ich möchte jedoch darauf verzichten, ihnen einen – notwendigerweise irreführenden – Namen zu geben. Dass Dinge dieser Art deshalb unwichtig oder nebensächlich seien, ist damit freilich nicht gesagt. Im Gegenteil. Denn just Handlungen, die in der veranschaulichten Art erlaubt sind, werden später begreiflich machen, woher die ursprüngliche Regelungsbefugnis des Regelautors stammt. Das Konzept der politischen Legitimität beruht auf Handlungen dieser Art. 3 Lassen wir die Dinge, die ein Akteur darf, insofern ihm niemand, insbesondere kein Regelautor verboten hat, sie zu tun, kurz beiseite und konzentrieren uns auf solche Dinge, die von den Regelungsaktivitäten des Autors betroffen sind. Hier müssen wir zwischen unterschiedlichen Fällen unterscheiden, die ich bisher undifferenziert als Befugnisse bezeichnet habe. Zum einen gibt es solche Handlungstypen, von denen der Autor gewissermaßen gesagt hat, dass er sich nicht einmischen wird, wenn ein Adressat sich dazu entschließen sollte, eine Handlung
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des betreffenden Typs auszuführen. Als die Mutter im vierten Kapitel ihrer Tochter die Befugnis gab, das Auto zu nutzen, wenn sie es selbst gerade nicht braucht, hatten wir es mit einem familiären Beispiel für diesen Fall zu tun. Durch das Aufstellen der Erlaubnisregel stellte die Mutter in Aussicht, nicht zu intervenieren, wenn sich die Tochter in den betreffenden Situationen das Auto nimmt. In Fällen dieser Art stellt der Autor dem Adressaten also Handlungen bestimmten Typs insofern frei, als er sich ausdrücklich darauf festlegt, nichts zu unternehmen, wenn sich der Adressat anschickt, entsprechend zu handeln.12 Da es in diesem Kapitel weniger um private oder familiäre, sondern hauptsächlich um politische Zusammenhänge geht, nennen wir erlaubte Handlungen von derlei Art Grundfreiheiten. Die Handlungstypen, die ich eben Grundfreiheiten genannt habe, sind aus einer Perspektive betrachtet eine echte Teilmenge derjenigen Handlungen, mit denen wir uns im zurückliegenden Abschnitt beschäftigt haben. Aus einer anderen Perspektive betrachtet, gibt es aber einen wichtigen Unterschied. Zur Illustration dieses Unterschieds kann man sich vorstellen, dass die Regeladressaten aus irgendwelchen Gründen zuweilen auf den Gedanken kommen, Rex zu fragen, ob es in Ordnung ist, wenn sie in Situationen der Art S Dinge der Art H tun. Dabei, so nehmen wir zusätzlich an, gehört H zur Menge derjenigen Dinge, über die sich Rex bisher noch nie geäußert hat. Manchmal reagiert Rex auf derlei Fragen negativ, was so viel heißt, als dass er den Adressaten die betreffende Handlungsweise ausdrücklich verbietet. Pech gehabt. Jetzt gibt es eine weitere Verbotsregel. – Manchmal reagiert er aber auch positiv. Er räumt den Adressaten in dem Fall eine neue Grundfreiheit ein. Grundfreiheiten sind daher genau diejenigen Handlungstypen, über die Rex befunden hat, dass es ihm egal ist, ob seine Untertanen so handeln oder nicht. – Wozu wir diese etwas praxisferne Überlegung brauchen, wird in den nächsten Absätzen klarer werden.
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Man kann sich sowohl am Beispiel der Mutter und ihrer Tochter als auch am Fall der Grundfreiheiten deutlich machen, inwiefern das Bild einer Befugnis, das in den zurückliegenden Kapiteln gezeichnet wurde, eine wichtige Komponente vermissen ließ. Rex hat in der fingierten Situation, in der er positiv reagierte, also bestimmten Adressaten eine bestimmte Grundfreiheit gewährte, nicht nur die schlichte Erlaubnisregel aufgestellt, der gemäß Adressaten bestimmten Typs in Situationen bestimmten Typs Handlungen bestimmten Typs ausführen dürfen, und den betreffenden Adressaten insofern eine schlichte Befugnis zugewiesen. Rex hat darüber hinaus öffentlich erklärt, dass er sich selbst in der Zukunft an eine, wie man sagen könnte, selbstreferentielle Verbotsregel halten wird und insofern seine eigene Freiheit beschnitten. Dieser Umstand folgt aus der Tatsache, dass Rex seine Absicht kundgetan hat, sich in allen Situationen nicht einzumischen, in denen ein Adressat seiner Befugnis eine Handlung der betreffenden Art ausführt.13 Wie man sieht, handelt es sich bei dieser Absicht um eine generalisierte Absicht, die sich auf eine Vielzahl von Situationen eines gemeinsamen Typs bezieht. Und wir wissen aus dem ersten Teil dieser Abhandlung, inwiefern derart generalisierte Absichten selbstreferentielle Regeln bestimmter Art sind. Wenn Rex also eine Grundfreiheit gewährt, räumt er den Adressaten nicht nur eine schlichte Befugnis ein. Denn es tritt die öffentlich kundgetane Absicht von Rex hinzu, (immer dann) nichts zu unternehmen, wenn ein Untertan von seiner Befugnis Gebrauch macht. Auf das familiäre Beispiel projiziert, kann man entsprechend sagen, dass die Mutter durch das Aufstellen ihrer Erlaubnisregel zugleich auch ihre generalisierte Absicht kundtut, sich nicht einzumischen, wenn die Tochter tut, wozu sie befugt ist. Auf der Grundlage dieser Auslegung des Begriffs der Grundfreiheit lassen sich auch solche Fälle klären, für die ich das Konzept des (juridischen) Rechts reservieren möchte. Wo man von einem (subjektiv-juridischen) Recht im hier intendierten Sinn des Wortes sprechen kann, geht eine Erlaubnisregel
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nicht mit einer selbstreferentiellen Regel einher, deren Adressat der Autor selbst ist. Vielmehr tritt im Fall der Rechte eine Verbotsregel hinzu, die an einen dritten Adressatenkreis gerichtet ist. Denn der Autor legt in solchen Fällen nicht nur fest, dass Adressaten bestimmter Art in Situationen bestimmter Art Handlungen bestimmter Art ausführen dürfen. Zugleich legt er durch die Verbotsregel fest, dass es allen übrigen Menschen untersagt ist, die Adressaten der Erlaubnis daran zu hindern, dasjenige zu tun, was sie der Erlaubnisregel gemäß tun dürfen.14 Der Autor gebietet, mit anderen Worten, bestimmten Adressaten in Situationen bestimmter Art Hinderungen bestimmter Art zu unterlassen. Aus Gründen, die wir uns bereits vor Augen geführt haben, wird der Autor mit großer Wahrscheinlichkeit zusätzlich auch noch eine Sanktionsregel für den Fall erlassen, in dem sich ein Akteur gegen die soeben hinzugetretene Gebotsregel vergeht. Eine Erlaubnisregel, die es angemessen macht, von einem (subjektiven) Recht der Adressaten zu sprechen, tritt also immer im Rahmen eines Regelclusters auf, zu dem neben der Erlaubnis- auch eine Gebots- bzw. Verbots- und eine Sanktionsregel gehören. Die Gebotsregeln, die im Rahmen so komponierter Regelcluster einer schlichten Befugnis in den Status eines Rechts verhelfen, erhalten ihrerseits den Status einer Rechtspflicht. Die Adressaten der Gebotsregel sind infolge der Installation des betreffenden Regelclusters rechtlich dazu verpflichtet, die Adressaten der Erlaubnisregel in ihrem betreffenden Tun nicht zu behindern. Bestünde diese Pflicht nicht, wüsste man nicht, was es heißen soll, dass die betreffenden Adressaten das korrespondierende Recht haben. Aus diesen Überlegungen folgt schließlich, dass Rechte und die mit ihnen korrespondierenden Ver- bzw. Gebote aufeinander reduzierbar sind. Wenn wir uns an dieser Stelle an den Unterschied zwischen Regeln und Regelsätzen erinnern, lässt sich dieser Punkt auch so ausdrücken, dass der Regelsatz „Adressaten mit der Eigenschaft E haben das Recht, in S-Situationen HHandlungen auszuführen“ dazu dient, eine alternative Formu-
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lierung der korrespondierenden Pflicht zur Sprache zu bringen. Der Regelautor tut, so gesehen, also nicht zweierlei: Der einen Adressatengruppe ein Recht zuweisen und der anderen Gruppe eine korrespondierende Unterlassungspflicht auferlegen. Er kann das eine, das er tut, vielmehr durch zwei alternative Regelsätze zum Ausdruck bringen. Denn wer die (hier relevanten) Begriffe des Rechts und der Pflicht versteht, weiß, inwiefern Regelsätze, die Rechte thematisieren, und solche Sätze, die die korrespondierenden Pflichten thematisieren, identischen Inhalts sind.15 – Die Regellandschaft, die wir im ersten Teil der Abhandlung durchwandert haben, ist jetzt noch einmal deutlich überschaubarer geworden. Auch der Unterschied zwischen Gebots- und Erlaubnisregeln lässt sich als ein sprachlicher Unterschied zweier Weisen fassen, Regelsätze zu formulieren. In Anbetracht dieses Ergebnisses ist es an diesem Punkt der Diskussion endlich auch möglich, der Rede von der Befugniszuweisung als eines Falls des Anweisens, die wir im dritten Kapitel eingeführt haben, ihren metaphorischen Charakter zu nehmen. Wenn ein Regelautor durch das Aufstellen einer generalisierten Erlaubnisregel den Adressaten eine Befugnis, besser gesagt, ein Recht zuweist, dann ist sein Tun nicht länger deshalb als ein Anweisen zu fassen, weil man die Befugniszuweisung metaphorisch als Überweisung einer Befugnis auf das Konto der Adressaten deuten kann. Sein Tun ist vielmehr ganz wörtlich deshalb ein Anweisen, weil er bestimmten Adressaten unmöglich ein Recht zusprechen kann, ohne einer Gruppe weiterer Adressaten die Pflicht aufzuerlegen, die Rechtsadressaten machen zu lassen, wozu sie das betreffende Recht haben. Als der Vater dem ältesten Kind die Befugnis zusprach, sonntags entscheiden zu dürfen, welchen Film sich die Familie im Kino anschaut, hat er also nicht zusätzlich den übrigen Familienmitgliedern ein Gebot auferlegt. Seine Befugnis- und Gebotszuweisung waren vielmehr miteinander identisch. 4 Wenden wir uns angesichts dieser Ergebnisse noch einmal der Situation zu, in der Rex seinen Untertanen gewisse Grundfrei-
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heiten zuspricht. Vor dem inzwischen entfalteten Hintergrund dürfte jetzt auch deutlich werden, warum die anfangs etwas unmotiviert wirkende Betrachtung eingeschoben wurde, der gemäß die Untertanen Rex hin und wieder fragen, was er von dem Gedanken hält, dass sie in S-Situationen H-Handlungen ausführen. – Jeder weiß vermutlich aus eigener Erfahrung, wie schwierig es ist, sich an selbst gesetzte Verbotsregeln zu halten. Der Geist mag oft willig sein. Das Fleisch ist bekanntermaßen schwach. Wir können dieses Phänomen mittlerweile leicht erklären, da wir gesehen haben, dass selbstreferentielle Ge- und Verbote in Wahrheit nichts anderes als allgemeine Absichten bzw. Vorsätze sind. Insofern fehlt diesen Regeln der präskriptive Charakter echter Ge- und Verbote. Wie man allein schon am Beispiel der Vorsätze sieht, die die Leute jährlich mit dem Sektkelch in der Hand in der Silvesternacht verkünden, ist die Versuchung stets groß, trotz aller Entschiedenheit im Moment der Entscheidung einem Vorsatz schon tags darauf untreu zu werden. Was in vielen dieser Fälle fehlt, ist offenbar eine Ergänzung der (generalisierten) Absicht durch eine Sanktionsandrohung (Sanktionsregel).16 Erst wenn es eine drohende Sanktion oder eben eine Sanktionsregel gibt, erwirbt die generalisierte Absicht den Charakter einer präskriptiven Regel. Da diese alltagspsychologische Beobachtung nicht nur für private Regelsetzer, sondern fast mehr noch für Regelautoren politischer Gemeinschaften gilt, hat man aus schlechten Erfahrungen in der Vergangenheit Konsequenzen gezogen. Man hat aus politischen Fehlern gelernt. Eine dieser Konsequenzen war die Erfindung der Gewaltenteilung. Diese Erfindung machte es möglich, in Situationen von der Art, die wir uns am Beispiel von Rex‘ Absichtserklärung veranschaulicht haben, Gebotsregeln und vor allem Sanktionsregeln zu installieren, die die Inhaber politischer Macht in Schach halten. Der Regelautor, der sich bereit erklärt hat, sich nicht in gewisse Belange seiner Adressaten einzumischen und ihnen insofern eine Grundfreiheit einräumt, delegiert, so kann man sich dies vorstellen, einen Teil seiner Macht an eine aus ihm selbst herausgeschnittene Institu-
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tion. Dem Amtsinhaber dieser Institution spricht er dann die Befugnis zu, ihn zu sanktionieren, wenn er sich nicht, wie beabsichtigt, an die Freiheitsregel hält. Aus Rex wird so langsam ein Kanzler. Die eben genannte Sanktionsbefugnis, die der werdende Kanzler seinem Aufpasser zuspricht, ist aus Gründen, die mittlerweile deutlich sein dürften, ihrerseits wiederum mit einer generalisierten Absicht von Rex identisch. Denn statt eine Erlaubnisregel aufzustellen, könnte er auch den Vorsatz äußern, den bestellten Aufpasser in allen Situationen, in denen Rex eine Sanktion verdient, nicht bei seinen Strafhandlungen zu hindern. Die Antwort auf die Frage, ob Rex dieser Absicht treu bleibt, wenn es hart auf hart kommt, ist kontingent und hängt beträchtlich von den dann jeweils vorherrschenden Machtverhältnissen und –balancen ab. In dieser Kontingenz liegt ein Großteil der Fragilität politischer und rechtlicher Ordnungen begründet. Auf dieser Kontingenz beruht darüber hinaus die immense Bedeutsamkeit einer politischen Öffentlichkeit. Rex wird sich sicherlich schwerer damit tun, seiner öffentlich kundgetanen Absicht untreu zu werden, wenn er weiß, dass ihm viele Leute auf die Finger schauen, gegebenenfalls die Nase rümpfen und am Ende vielleicht sogar den Aufstand wagen. Eine Garantie liefern der Blick und die Nasen der vielen Leute freilich nicht. Es gibt in Kontexten wie diesem leider keine Garantien. Eine politische Gemeinschaft, die ihren Bürgern bestimmte Grundfreiheiten garantiert, muss jedenfalls aus dem erläuterten Grund eine institutionelle Struktur entfalten. Denn nur so kann sie Positionen bzw. Ämter bereitstellen, von denen aus Akteure befugt sind, Regelautoren zu überwachen und sie im Fall des Fehlverhaltens zu sanktionieren. Genau dies ist es, was Rex als Adressat eines selbstreferentiellen Verbots selbst nur schlecht tun kann. Droht keine Sanktion, ist das mutmaßliche Verbot eben nur eine Absicht, fast nur eine Absichtsbekundung. Ist indes eine entsprechende Struktur und damit einhergehend eine Sanktionsinstanz vorhanden, lassen sich die Grundfreihei-
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ten der Bürger nach demselben Clustermodell wie im Fall der subjektiven Rechte modellieren. Die Freiheitsregel ist also wie im Fall einer Rechtsregel mit einer Gebotsregel identisch, die durch eine Sanktionsregel gesichert ist. Der Unterschied zwischen den Rechten und Freiheiten der Bürger und Bürgerinnen besteht lediglich in der Adressatenverschiedenheit der involvierten Regeln. Auf diese Weise sind im Fall der Grundfreiheiten die Adressaten vor Übergriffen durch Rex geschützt. Hier geht es um Dinge, die sie tun dürfen, insofern Rex sie nicht davon abhalten darf, diese Dinge zu tun. Im Fall der subjektiven Rechte sind die Bürger vor Übergriffen ihrer Mitbürger geschützt. Hier geht es um Dinge, die sie tun dürfen, insofern sie sich wechselseitig nicht davon abhalten dürfen, diese Dinge zu tun. Der politische Liberalismus hat vor unseren Augen soeben das Licht der Welt erblickt. Er steckt freilich noch in den Kinderschuhen. 5 Nicht nur der Vollständigkeit halber ist noch ein weiteres Regelcluster zu klären, das für die Beschreibung der rechtlichpolitischen Realität von einiger Bedeutung ist. Auch dieses Cluster besteht im Kern aus einer Erlaubnisregel, durch die der Autor Adressaten bestimmter Art in Situationen bestimmter Art zu Handlungen bestimmter Art befugt. Diesmal ist diese Regel jedoch nicht nur mit einem korrespondierenden Unterlassungsgebot identisch, das durch eine Sanktionsregel gestützt ist. Zusätzlich gibt es auch eine Gebotsregel, die an eine dritte Gruppe von Adressaten gerichtet ist.17 Dabei handelt es sich um Menschen, die etwas tun können, das es den Adressaten der Erlaubnis ermöglicht, das ihnen Erlaubte zu tun. An diese Menschen ergeht das Gebot, die betreffenden Handlungen auszuführen. Aus dem (subjektiven) Recht der Adressaten der Erlaubnis wird durch dieses zusätzliche Gebot, das freilich ebenfalls durch eine weitere Sanktionsregel zu flankieren ist, ein rechtlicher Anspruch bzw. ein Anspruchsrecht.18 Ihre Träger sind nicht nur dazu berechtigt, Dinge der Art H zu tun, wenn sie aus eigenen
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Stücken dazu in der Lage sind, derartige Dinge zu tun. Diese Adressaten können auch die berechtigte Forderung erheben, dass hierzu geeignete Akteure die Bedingungen schaffen, die notwendig sind, damit sie derlei Dinge tun können.19 Auf diese Weise kann man beispielsweise ein Existenzminimum absichern. Jeder, der unter dieses Minimum fällt, kann den berechtigten Anspruch erheben, dass andere Menschen zu seiner Grundversorgung beitragen, sofern sie dazu in der Lage sind. Diese anderen Menschen müssen dann, wie erläutert, ihrerseits Adressaten einer entsprechenden Gebotsregel sein. Wie man sieht, ist das Regelcluster, das ein Anspruchsrecht komponiert, schon wieder deutlich komplexer als die beiden Clustertypen, die subjektive Rechte und Grundfreiheiten konstituieren. Daher nimmt es nicht wunder, dass zur Realisierung derartiger Anspruchsrechte eine noch komplexere institutionelle Struktur erforderlich ist. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Adressaten der zusätzlichen Gebotsregel, die installiert sein muss, damit aus dem Recht der Adressaten ein Anrecht werden kann, der staatliche Regelautor selbst oder bestimmte Teile seiner Agenturen sind. Denn wir benötigen eine immer größere Zahl von unterschiedlichen Adressatentypen der immer größer werdenden Zahl von Elementen eines Regelclusters, weil die Adressaten eines selbstreferentiellen Verbots nur schwer dazu zu kriegen sind, sich selbst zu überwachen und gegebenenfalls zu bestrafen. Also müssen immer neue Posten geschaffen werden, deren Inhaber die primären Adressaten der erforderlichen Sanktionsregeln sind. Diese Zusammenhänge machen verständlich, warum es in der politischen Praxis erforderlich war und weiterhin ist, dass politische Macht auf ein Konglomerat aus politischen und rechtlichen Akteuren zerlegt wird. Nur so werden hinlänglich viele Positionen geschaffen, die nötig sind, um komplexe Regelcluster zu ermöglichen und am Leben zu erhalten. Denn zuweilen müssen ja auch diejenigen Akteure, die befugt sind, Handlungen politischer Akteure zu sanktionieren, durch Verbotsregeln und mit diesen einhergehenden Sanktionsregeln in
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Schach gehalten werden, um sie von einem Missbrauch ihrer Macht abzuhalten. Spätestens dann muss das politische System im engeren Sinn des Wortes durch eine Struktur rechtlicher und gerichtlicher Institutionen ergänzt werden. Der politische Liberalismus wächst heran und geht seine oft verteufelte Ehe mit dem Bürokratismus ein. Es werden komplexe Instanzenwege geschaffen. Im Namen und vor allem im Dienst von Recht und Freiheit wird ein gestuftes System von Strafinstanzen, Strafandrohungen und Klagewege errichtet. 6 Die politische Welt ist in den zurückliegenden Abschnitten etwas komplizierter geworden. Ich möchte versuchen, sie wenigstens unter terminologischen Gesichtspunkten wieder etwas zu vereinfachen. Man stelle sich vor, der Regelautor habe sich abgewöhnt, seinen Adressaten nicht weiter spezifizierte Befugnisse zuzusprechen. Denn er hat gelernt, dass die daraus resultierende Rede vom Dürfen der Adressaten mehrdeutig ist. Die Aussage, dass einer etwas darf, kann, wie gesehen, in drei verschiedenen Hinsichten zutreffen. Er darf, insofern es ihm niemand verboten hat. Er darf, insofern er ein Recht dazu hat oder über eine entsprechende Freiheit verfügt. Er darf, insofern er einen Anspruch darauf hat. Angenommen, der Autor habe sich die von mir gewählte Begrifflichkeit angeeignet. Unter dieser Annahme kann man sich vorstellen, dass er bestimmten (oder allen) Adressaten Grundfreiheiten, subjektive Rechte und Anspruchsrechte zuweist und sich dabei auch ausdrücklich dieser Vokabeln bedient. Er sagt folglich Dinge dieser Art: „So soll es sein: Adressaten mit der Eigenschaft E haben die Freiheit, in Situationen der Art S Dinge der Art H zu tun!“ – „So soll es sein: Adressaten mit der Eigenschaft F haben das (subjektive) Recht, in Situationen der Art T Dinge der Art I zu tun!“ – Und: „So soll es sein: Adressaten mit der Eigenschaft G haben das Anspruchsrecht, in Situationen der Art U Dinge der Art J zu tun!“ Sagt er Dinge dieser Art, setzt er immer ganze Cluster von Regeln in Kraft, und jeder, der die hier gewählte Begrifflichkeit
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teilt, wird wissen, wie diese Cluster beschaffen sind. Im ersten Fall spricht er nicht nur den Adressaten mit der Eigenschaft E eine Befugnis zu, wodurch er zugleich seinen Vorsatz kundtut, sich nicht einzumischen, wenn die Adressaten von ihrer Befugnis Gebrauch machen. Er überweist zusätzlich den Amtsträgern einer dafür vorgesehenen Position die Befugnis, ihn auf eine spezifizierte Art zu bestrafen, falls er seinem Vorsatz untreu wird. Durch diesen zweiten Schritt legt er sich selbst eine Rechtspflicht auf, indem er seinem allgemeinen Vorsatz einen präskriptiven Charakter verleiht. In der Realität der politischen Geschichte mussten den meisten Regelautoren solche Rechtspflichten freilich durch erbitterte Kämpfe aufgedrängt und oft gegen ihren Willen auferlegt werden. Nicht alle Könige sind so friedfertig und freigebig wie Rex. Nicht jeder König hat das Zeug zum Kanzler. Sagt Rex Dinge der zweiten Art, taucht in dem Cluster, für das das Wort ‚Recht‘ steht, kein (selbstreferentieller) Vorsatz, sondern ein Verbot bzw. eine Rechtspflicht auf. Dieses Verbot ist an manche oder alle Bürger adressiert. Diese Adressaten des Verbots haben es zu unterlassen, die Adressaten der Befugnis daran zu hindern, Dinge der Art T zu tun. Auch dieses Verbot wird durch eine Sanktionsregel zu sichern sein. Wenn der Autor schließlich bestimmten (oder allen) Adressaten ein Anspruchsrecht zuweist, gilt mehr noch, was natürlich schon im Fall der Freiheiten und Rechte galt. Der Autor kann es in der Realität nicht mit den simplen Regelsätzen bewenden lassen, die ich ihm im zweiten Absatz dieses Abschnitts in den Mund gelegt habe. Denn wir haben gesehen, dass Freiheiten, subjektive Rechte und rechtliche Ansprüche komplexe Cluster unterschiedlicher Typen präskriptiver Regeln sind. Die politische Ordnung kann nur reibungsfrei funktionieren, wenn all diese Regeln – samt ihrer Akteurs-, Situations- und Handlungsklauseln – sauber ausbuchstabiert und sicherheitshalber auch schriftlich fixiert sind.
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7 Inwieweit helfen die zurückliegenden Überlegungen des ersten Teils dieses Kapitels die Anweisungsbefugnisse solcher Regelautoren zu verstehen, die sich nicht wie Bankräuber oder Usurpatoren nur auf Macht und Gewaltandrohung stützen? Um uns einer Beantwortung dieser Frage anzunähern, die im ersten Abschnitt des Kapitels aufgeworfen, dann aber zurückgestellt wurde, ist es hilfreich, vorab zwei Punkte zu klären. Erstens macht die inzwischen vorgenommene Identifikation von Befugnissen mit korrespondierenden Unterlassungsgeboten deutlich, dass auch zum Aufstellen einer Erlaubnisregel keine Befugnis seitens des Autors notwendig ist. Wer eine Befugnis ausspricht, gibt seine Bereitschaft zu verstehen, entweder selbst auf bestimmte Interventionen zu verzichten oder sich dafür einzusetzen, dass andere Menschen die Adressaten der Befugnis nicht beim befugten Handeln hindern. Beides kann man zu tun versuchen, auch wenn man über keine Befugnis dazu verfügt. Und beides kann auch ohne Befugnis gut gelingen. Aus dieser Überlegung lässt sich ableiten, dass wir in der nachfolgenden Diskussion nicht unterscheiden müssen, ob es sich bei den Regeln, die der originäre Regelautor aufstellt, um Erlaubnis-, Verbots- oder andere Typen präskriptiver Regeln handelt. Unsere Frage lautet daher allgemein, worauf sich die gegebenenfalls vorhandene Befugnis des Autors stützt, seinen Adressaten Anweisungen jedweder Art zu geben. Auch zwischen „simplen“ Regeln und komplexen Regelclustern müssen wir daher im Folgenden nicht mehr unterscheiden. Denn in beiden Fällen stellt sich genau dieselbe Frage: Was berechtigt den Autor gegebenenfalls dazu, Regeln oder Regelcluster aufzustellen? Es geht also einzig und allein um die Frage, wie es angeht, dass ein originärer Regelautor Regeln an seine Adressaten richten darf, ohne selbst dazu durch eine Regel befugt worden zu sein. Woher rührt die Legitimität nicht durch Erlaubnisregeln legitimierter Autoren, kann man daher auch ganz allgemein die Ausgangsfrage der anschließenden Diskussion formulieren.
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Die zweite Vorklärung betrifft den Umstand, dass wir die weitere Diskussion auf das simple Verhältnis zwischen genau einem Regelautor und seine unmittelbaren Adressaten zuspitzen können. Anders gesagt, können eventuell zwischengeschaltete bzw. nachgeordnete Regelautoren ignoriert werden. Derartige Regelautoren, die dazu befugt sind, Regeln aufzustellen, weil ihnen diese Befugnis durch einen befugten Autor eingeräumt worden ist, sind für unsere Frage irrelevant. Ihre Befugnis fließt gewissermaßen aus der Befugnis des ihnen übergeordneten Autors. Wir wollen aber wissen, was es mit dessen originärer Befugnis auf sich hat. Neuzeitliche und zeitgenössische Ansätze der politischen Theorie sowie der Moral- und Rechtsphilosophie reagieren auf diese Frage mit zwei rivalisierenden Antwortstrategien. Gemeinsam ist beiden Strategien der Gedanke, dass die Legitimität eines Regelautors (oder Gesetzgebers) und seiner Regelungen Produkte sind, die aus einem vorgängigen Akt der Legitimierung hervorgehen. Gemeinsam ist ihnen des Weiteren die Überzeugung, dass der legitimierende Akt von den zukünftigen Adressaten der Regelungen des zu legitimierenden Autors durchzuführen ist. Ein Regelautor, so der gemeinsame Kerngedanke, ist in seinen Regelungsaktivitäten gegenüber den Adressaten (dann und nur dann) gerechtfertigt, wenn diese Adressaten ihn berechtigt haben. Sie taten es freiwillig, also ohne Zwang. Und sie taten es vor allem in ihrem eigenen Interesse. Daher erwarten sie auch, dass die Regelungen des durch sie berechtigten Autors in ihrem Interesse sind. Dieser Gedanke wird oft auch so ausgedrückt, dass jeder Adressat der Einführung jeder Regel des Autors zustimmen können muss oder können müsste. Der relevante Unterschied zwischen den beiden Strategien tritt angesichts der Frage zum Vorschein, wie das ontologische Verhältnis zwischen den Adressaten und dem Autor beschaffen ist. Auf Identität setzen die einen. Auf Relationalität setzt die andere Fraktion. Der ersten Strategie zufolge, die sich etwa in den Autonomiekonzeptionen von Rousseau, Kant und ihren zahlreichen Nachfolgern manifestiert, beruht die Legitimität
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eines Autors nicht zuletzt auch darin, dass er seine Regeln immer nur selbstreferentiell intendiert.20 Der Autor, der legitimerweise Regeln setzt, so die Kernidee der Autonomiekonzeption, adressiert sie immer nur an sich selbst. Umgekehrt führen Menschen diesem Strang der Aufklärungstradition gemäß nur dann ein moralisch und politisch integres Leben, wenn sie sich ausschließlich solchen Regeln fügen, deren Autor sie selber sind. Auch diese Überzeugung spiegelt sich in der Doktrin, dass jeder einzelne Adressat jeder einzelnen Regel zustimmen können muss (oder können müsste). Denn mit dieser umfassenden Zustimmung ist trivialerweise dann zu rechnen, wenn die Autoren mit den Adressaten identisch sind.21 Diese Autonomievariante der Legitimitätstheorie krankt jedoch an mindestens zwei schweren Mängeln. Zum einen erscheint sie nur dann plausibel, wenn man sich irgendeine Art von politischer, moralischer und nicht zuletzt auch psychologischer Schizophrenie gefallen lässt.22 Da die Rede von präskriptiven Regeln, Gesetzen und damit von der Autonomie der Regeladressaten nur dann plausibel ist, wenn man irgendwie die Relationalität von Autor und Adressat beherzigt, lassen Rousseau, Kant und ihre Nachfolger das Individuum in zwei Teile zerfallen. Da ist ein Herr (der Citoyen), der die Anweisung gibt. Und da ist dann nach wie vor ein Adressat (der Bourgeois), der sich den Anweisungen des Herrn zu fügen hat. In politiktheoretischen Kontexten wird die erforderliche Relationalität von Autor und Adressat der Anweisung, die im Rahmen der Autonomiekonzeption nur durch irgendwelche Philosophentricks zu rekonstruieren ist, auch durch ein fadenscheiniges Konzept der politischen Repräsentation kaschiert. Delegierte Repräsentanten stellen im Namen der Repräsentierten Regeln auf, die für die Repräsentierten gelten. Wenn die Repräsentanten gerade nicht am Repräsentieren sind, gehören sie selbst zu den Adressaten jener Regeln. Solange sie jedoch am Regeln sind, sind sie nicht die, für die die Regeln gelten. Darüber hinaus sind die Repräsentanten dieser Lügengeschichte zufolge angeblich auch nicht die, die sie zu sein scheinen. Da sitzt gar nicht Herr Meyer im
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Bundestag. Angeblich bin das ich. Sie alle dort sind wir. – Mir will das nicht einleuchten. Der zweite Mangel der Autonomiekonzeption besteht darin, unserer Einsicht nicht Rechnung tragen zu können, dass Regeln, die man sich selber gibt, etwas grundsätzlich anderes als präskriptive Regeln sind. Regeln der ersten Art sind generalisierte Absichten. Nur Regeln der zweiten Art sind Anweisungen. Und anders als im Fall von Rex kann sich das Kollektiv der Regelautoren (oder deren mutmaßlichen Repräsentanten) nicht selbst zum sekundären Adressaten einer Sanktionsregel machen, um der kollektiven Absicht einen präskriptiven Charakter zu verleihen. Dazu fehlt es gleichsam an Personal, da ja alle beteiligten Menschen gemeinsam schon in ihrer Rolle als Autor beschäftigt sind. Anders als Rex, der seinem ernannten Aufpasser eine Sanktionsbefugnis zuspricht und damit die zusätzliche Absicht fasst, sich gegen eventuell anstehende Sanktionen nicht zu wehren, kann der kollektive Autor bestenfalls die Absicht fassen, sich selbst für alle vorfallenden Abweichungen von seiner ursprünglichen Absicht zu bestrafen. Dies ist aber nur eine Absicht, die durch nichts in der Welt vor der Versuchung geschützt ist, in Schall und Rauch aufzugehen, sobald die Lage brenzlig wird. So kriegt die Sache keinen präskriptiven Saft. Zur unausweichlichen Schizophrenie der Autonomiekonzeption gesellt sich also eine konzeptuelle Konfusion, die aus einem ungeklärten Gesetzes- bzw. Regelbegriff resultiert. Und es sei hier darauf hingewiesen, dass diese Konfusion auch weite Teile der etablierten Demokratietheorien in Mitleidenschaft zieht. Auch dort werden die beiden Arten von Regeln nicht hinreichend klar voneinander unterschieden. Auch dort neigt man oft dazu, sich durch das Konzept der politischen Repräsentation selbst in die Tasche zu lügen. Der Repräsentant mag demokratisch, also gemäß (einer Fassung) der Mehrheitsregel gewählt sein. Das ist natürlich richtig. Aber durch diesen Wahlmodus wird er doch nicht zur politischen Identität seiner Wähler (geschweige denn seiner Nichtwähler). Schluss mit diesem Hokuspokus.
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Da wir also um die besagte Relationalität von Autor und Adressat einer Anweisung nicht umhin kommen, die die Autonomiekonzeption mehr schlecht als recht zu übertünchen versucht, ist es besser, auf die zweite Lösungsstrategie zu setzen. Auch den Vertretern dieser Strategie zufolge beruht die Legitimität des Regelautors und seiner Regelungen auf einem vorgängigen Akt der Legitimierung. Genauer: Die Legitimität des Autors rührt aus einer Legitimierung durch die Adressaten. Aber anders als die Autonomiekonzeption gehen die Fürsprecher dieser Strategie von der numerischen Nichtidentität von Autor und Adressaten aus. Und der mit Abstand beste, originärste und klarste Sprecher dieser Fraktion ist nach wie vor Thomas Hobbes. An ihn sollten wir uns daher wenden. 8 Hobbes hat den Kontraktualismus zwar nicht erfunden. Aber er ist der erste Autor, der den kontraktualistischen Dreischritt detailliert ausgeführt und zu einem philosophischen Argument in Prosa weiterentwickelt hat. Dieser Dreischritt besteht aus (i) einer Beschreibung des ursprünglichen Naturzustands, (ii) der Vertragssituation samt der Darlegung des Inhalts des Kontrakts und (iii) einer daran anschließenden Ausführung über die näheren Umstände des vertraglich begründeten Staatslebens. Ein Argument in Prosa habe ich Hobbes‘ Theorie genannt, weil seine Beschreibung des Naturzustands nicht nur die Erläuterung einer spezifischen Problemstellung darstellt. Sie liefert zugleich auch die Prämissen des Arguments, das im zweiten und dritten Schritt der Überlegung eine bestimmte Lösung des Problems rechtfertigen soll. Der Beschreibung des Naturzustands zufolge haben die Menschen dort ein massives Problem miteinander. Obzwar sie alle vernünftig genug sind, um zu sehen, dass es für jeden vorteilhaft wäre, wenn sie sich an bestimmte Regeln halten würden, hat jeder permanent gute Gründe dafür, sich nicht in Übereinstimmung mit diesen potentiellen Regeln zu verhalten. In anderen Worten: Die Hobbeschen Akteure im Naturzustand stecken in einem kollektiven Gefangenendilemma. In diesem Dilemma sind sie gefan-
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gen, weil sie aufgrund des Wissens von ihrer natürlichen Gleichheit an körperlichen und geistigen Fähigkeiten niemals einen zureichenden Grund dafür haben, im Kampf um die knappen Ressourcen zurückzustecken, die ihre Welt ihnen bietet. Wenn alle gleich stark sind, hat jeder auch die gleiche Chance, den Streit um ein allseits begehrtes Gut zu gewinnen. Da dies jedoch für alle Akteure des fingierten Szenarios im gleichen Maße gilt, ist der berüchtigte Kampf aller gegen alle unvermeidlich. Hobbes spricht jedoch nicht nur von der natürlichen Gleichheit der Akteure. Als weitere Prämisse baut er in die Darstellung des Naturzustands die natürliche Freiheit aller Menschen ein. Diese Freiheit ist als das Recht aller Akteure im Naturzustand definiert, jede Handlung auszuführen, von der das handelnde Individuum der Ansicht ist, dass sie im Dienst seiner Selbsterhaltung steht. Da man prinzipiell von jeder x-beliebigen Handlung der (vielleicht auch irrigen) Meinung sein kann, dass sie irgendwie der eigenen Selbsterhaltung dient, spricht Hobbes an anderer Stelle auch – irreführend – von der natürlichen Freiheit als einem Recht auf alles. Gemeint ist offenbar, dass es im Naturzustand, der laut Hobbes noch keine Institution des Privateigentums zulässt, jedem Akteur erlaubt ist, sich auf jede noch so rücksichtlose und brutale Art und Weise alles unter den Nagel zu reißen, was er nur kriegen kann. Das Naturrecht jedes Individuums auf alles umschließt wohl gemerkt auch das Recht, heute schon präventiv dafür zu sorgen, dass mir mein Nebenmann morgen nicht in die Quere kommt. Am besten ist es also, ich bringe ihn bald möglichst um die Ecke. Und da auch dies ein Recht aller ist und jeder von jedem weiß, dass er geneigt ist, von seinem Recht Gebrauch zu machen, ist es auch in dieser Hinsicht begreiflich, warum es laut Hobbes mit Notwendigkeit zum universalen Kampf aller gegen alle kommt. Die Regeln, an die sich die Akteure halten müssten, sind, wie gesagt, kraft geteilter Vernunft und Einsicht allen bekannt.23 Die erste von ihnen lautet: Alle Akteure sollen in Situ-
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ationen, in denen sie auf kooperationswillige Mitspieler stoßen, selbst auch kooperieren. Die zweite Regel besagt: Alle Akteure sollen in allen Kooperationssituationen in dem Ausmaß ihre Besitzansprüche einschränken, in dem auch ihre Kooperationspartner zur Einschränkung bereit sind. Und eine dritte Regel lautet: Alle Akteure sollen in solchen Situationen, in denen sie etwas zu tun versprochen bzw. vertraglich vereinbart haben, entsprechend handeln.24 Das Dilemma besteht nun darin, dass kein Akteur, trotz geteilter Einsicht in die Nützlichkeit einer kollektiven Vereinbarung auf die drei Regelungen, einen zureichenden Grund hat, die Regeln als Regeln zu akzeptieren und anzuwenden. Anders gewendet, hat kein Akteur einen zureichenden Grund, die betreffenden Absichten generalisierten Inhalts zu fassen. Umgekehrt hat jeder von ihnen immer einen Grund, die eventuell bestehende Kooperationswilligkeit seiner Interaktionspartner auszunutzen, um sich dadurch besser zu stellen. Da darüber hinaus jeder von jedem potentiellen Kooperationspartner weiß, dass dieser in denselben Schuhen steckt wie er selbst, wird jeder von jedem wissen, dass dieser es sich trotz seiner Einsicht in die Nützlichkeit der Vereinbarung ebenfalls nicht verkneifen kann, die potentielle Kooperationswilligkeit der Mitspieler auszubeuten. Daher fängt niemand jemals mit der Kooperation an. Das gemeinsame Gefängnis ist wasserdicht verriegelt. Da kommt keiner raus. Oder doch? Hobbes‘ Theorie zufolge können sich die Naturzustandsbewohner durch einen gemeinsamen Geniestreich aus dem Gefängnis befreien. Dieser besteht darin, dass sie eine legislativ-politische Instanz errichten und ihr ein Gewaltmonopol zuweisen. Gestützt auf dieses Monopol kann der Inhaber der neu geschaffenen Position durch die Androhung gewaltiger Sanktionen die Bereitschaft der Akteure drastisch erhöhen, die Regeln des Staates zu akzeptieren und anzuwenden. Die Sanktionsandrohungen des Staates geben den Untertanen, anders gesagt, gute Gründe dafür, die politisch institutionalisierten
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Gesetze zu befolgen. Dies ist jedenfalls die übliche Lesart der Theorie. Wie wir jedoch sehen können, sitzt der springende Punkt in Wahrheit woanders. Die Menschen des vormaligen Naturzustands haben durch ihren Staatsvertrag eine Institution geschaffen, die einen Posten enthält, von dem aus ein leibhaftiger Regelautor ihrem Adressatenkollektiv gegenübertreten kann. Dieser Autor kann anders als die Autoren im Rahmen der Autonomiekonzeption Regeln erlassen, die echte präskriptive Regeln, also Anweisungen sind. Als präskriptive Regeln erfüllen diese den Zweck, den die schwächlichen Absichten der Adressaten im Naturzustand nicht erfüllen konnten. Zuvor hatten sie bestenfalls die Absicht, in S-Situationen H-Handlungen auszuführen. Erst jetzt ist es der Fall, dass sie in S-Situationen HHandlungen auszuführen haben. Man kann nun zum einen daran zweifeln, ob die Lösung, die Hobbes anbietet, funktioniert. Denn wenn die Akteure in dem erläuterten Dilemma stecken, dann stecken sie auch just in demjenigen Moment darin, in dem sie sich anschicken, den rettungsverheißenden Vertrag zu schließen, also die besagte Institution zu schaffen. Jeder von ihnen wird in diesem Augenblick sehen, dass er und alle anderen Akteure gute Gründe hätten, für den Vertrag zu stimmen. Daher kann man durchaus annehmen, dass jeder kurz davor steht, aufrichtig seine Stimme für die Staatsgründung zu geben. Aber jeder von ihnen wäre der unwiderstehlichen Versuchung ausgesetzt, im letzten Moment doch noch einmal die Einstellung zu wechseln. Denn jeder würde sich besser stellen, wenn es gelingt, die anderen machen zu lassen und sich selbst klammheimlich dem Vertrag nicht anzuschließen. Da aber jeder von jedem auch in diesem Fall weiß, dass sie alle im selben Boot sitzen und psychologisch gleich gestrickt sind, werden sie nicht einmal versuchen, sich wechselseitig übers Ohr zu hauen. Sie wissen doch, mit wem sie es zu tun haben. Man kann sich daher bildlich vorstellen, wie sie alle den Vertrag bei angehaltenem Atem in ihren zittrigen Händen halten, sich aber beim besten Willen nicht entschlie-
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ßen können, ihren Namen aufs Papier zu setzen. Rationalität kann so lähmend sein.25 Zum anderen möchte man den Akteuren des Hobbeschen Gedankenexperiments aber auch tunlichst davon abraten, sich auf den Staatsvertrag einzulassen. Denn es gibt einen Punkt, den Hobbes ihnen verschweigt. Vielleicht ist es auch so, dass er sich selbst systematisch über ein gewichtiges Problem seiner Theorie hinwegtäuscht. Dieses Problem besteht darin, dass der Akteur, der im Moment des Vertragsabschlusses den neu geschaffenen Thron besteigt, einer der Wölfe des Naturzustands ist. Dieser wird sich jedoch nicht prinzipiell ändern, nur weil er jetzt eine Krone trägt. Aus dem Wolf wird kein Lämmchen.26 Aus ihm wird weit wahrscheinlicher ein Ungeheuer, das politische Macht in gewaltigem Ausmaß in Händen hält. Und kein Element in der Theorie von Hobbes liefert einen Grund für die Hoffnung, dass der Machthaber seinen Handlungsspielraum nicht primär im eigenen Interesse ausnützt. Insofern ist der Titel von Hobbes‘ politikphilosophischer Hauptschrift recht passend gewählt. Vermutlich hat er sich selbst daher doch nichts vorgemacht. Seine Furcht vor dem Bürgerkrieg, den er als Rückfall in den Naturzustand fasste, war offenbar riesig groß. Er hat daher einen noch so gefährlichen und vielleicht ja auch brutalen Staat präferiert, wenn dieser nur in Aussicht stellt, unter den Wölfen gehörig Ruhe und Ordnung zu schaffen. Man muss diese Präferenz freilich nicht teilen. 9 Der Exkurs zu Hobbes hat bisher noch keine Antwort auf die Frage nach der Legitimität legitimer Regelautoren geliefert, die der Hauptgegenstand des zweiten Teils dieses Kapitels ist. Woher kann die Befugnis des originären Regelautors stammen? Was verleiht seinem Agieren Legitimität? Hobbes wird uns unfreiwillig zur gesuchten Antwort führen. Man kann sie nämlich aus der Diagnose eines Fehlers entwickeln, der ihm unterlaufen ist. Hobbes, eine der Lichtgestalten des rechtspositivistischen Denkens, stellt seine Leser vor ein exegetisches Rätsel. Zunächst
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wird man im dreizehnten Kapitel des Leviathan über die Tatsache informiert, dass es im Naturzustand noch keinen Anhalt für normative Konzepte wie das der Gerechtigkeit, der Ungerechtigkeit oder des Privateigentums gibt. Denn nur die positiven Gesetze eines Staates erlauben es, diesen Begriffen Substanz zu verleihen. Erst wenn es diese Gesetze gibt, kann man sie befolgen oder brechen. Und darüber definiert Hobbes die Begriffe der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Erst wenn es positive Gesetze gibt, kann es also eine gesetzliche Regelung des Eigentums sowie gerechtes und ungerechtes Handeln geben. Zuvor existiert ein normatives Vakuum. Das ist Rechtspositivismus pur. Schlägt der Leser dann das vierzehnte Kapitel auf, treten ihm vollkommen unvermittelt Hobbes‘ Ausführungen über die natürliche Freiheit der Menschen im Naturzustand entgegen. Diese Freiheit ist, wie erläutert, als ein Naturrecht definiert. Und damit fällt Hobbes aus seiner positivistischen Generallinie heraus und zurück in die von ihm bekämpfte Naturrechtstradition.27 Es kann jedoch in Hobbes‘ Theorie und Weltbild ein von Natur aus bestehendes Recht nicht geben. Hobbes hat sich folglich in einem Widerspruch verfangen. Wenn wir uns angesichts dieses Widerspruchs an die beiden Grundbedeutungen des Verbs ‚dürfen‘ erinnern, zeichnet sich nicht nur eine konsistente Interpretation des Hobbschen Gedankengangs ab. Es tritt auch die Antwort auf unsere Frage zutage. Wenn Hobbes von einem natürlichen Recht der Menschen im Naturzustand spricht, dann kann er nicht ein (subjektives) Recht in dem Sinn des Wortes meinen, den ich im dritten Abschnitt dieses Kapitels erläutert habe. Rechte treten in diesem Sinn des Wortes immer nur im Rahmen eines Regelclusters auf den Plan, das von einem Autor ins Werk gesetzt wurde. Der Naturzustand ist aber als eine ungeregelte Anarchie definiert, in der es keine Regelautoren und folglich keine (präskriptiven) Regeln gibt. Wenn Hobbes vom natürlichen Recht der Menschen im Naturzustand spricht, muss er daher den Inbegriff derjenigen Dinge im Sinn haben, die Menschen tun
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dürfen, insofern sie ihnen von niemandem verboten wurden. Es geht also um diejenigen Handlungsweisen, von denen im zweiten Abschnitt deutlich wurde, weshalb es für ihre Bezeichnung kein brauchbares Substantiv geben kann. Es geht um die Dinge, die Menschen nicht deshalb tun dürfen, weil sie ihnen erlaubt wurden. Es geht um die Dinge, die sie tun dürfen, weil es niemanden gibt, der sie verboten hat.28 Hobbes hat also zwischen zwei Verwendungsweisen des Verbs ‚dürfen‘ nicht hinlänglich klar unterschieden. Die Menschen seines Naturzustands dürfen alles tun, weil es niemanden gibt, der ihnen etwas verboten hat. Aber sie haben kein Recht, keine (subjektiven) Rechte. Daher können wir Hobbes auch nicht mehr wörtlich lesen, wenn er die Vertragssituation so darstellt, dass die zukünftigen Untertanen kraft Vertrag einen Teil ihres natürlichen Rechts auf den Inhaber der politischen Macht übertragen. Was sie nicht haben, können sie auch nicht gegen die Sicherheit eintauschen, die sie sich von der Verstaatlichung versprechen. Umgekehrt können das Recht des Inhabers der politischen Macht und damit seine Legitimität nicht aus dem vermeintlichen Naturrecht der Adressaten stammen. Denn er konnte keine Rechte dieser Menschen auf das Konto seiner Befugnisse buchen lassen, weil deren Konten vollkommen leer waren. So kommt kein Handel zustande. Wie muss man die Geschichte aber dann verstehen? Hier ist die Antwort: Da die Menschen im Naturzustand (in einem Sinn des Wortes) alles dürfen, was ihnen beliebt, dürfen sie natürlich auch Entscheidungen an andere Menschen delegieren. Insbesondere können sie die Entscheidungen darüber an andere Leute delegieren, welche Adressaten in welchen Situationen Dinge welcher Art tun sollen oder dürfen. Wer in diesem Sinn des Wortes eine Entscheidung delegiert, bekundet zum einen seinen Verzicht darauf, die betreffenden Fragen selber zu entscheiden. Zum anderen stellt er freilich auch in Aussicht, sich der Entscheidung des Entscheidungsbefugten zu fügen. Auch dies ist eine (generalisierte) Absicht, die nicht von ungefähr an
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den generalisierten Vorsatz von Rex erinnert, sich nicht der Sanktionierung eigener Fehltritte zu widersetzen. Da die Menschen im Naturzustand ein gemeinsames Koordinationsproblem haben, tun sie gut daran, die besagten Entscheidungen nicht an eine große Zahl verschiedener Leute, sondern an ein kleines Gremium oder an eine Einzelperson zu delegieren. Ist die Menge der Entscheidungsträger nämlich zu groß, tritt unter ihnen leicht dasselbe Naturzustandsproblem auf, mit dessen Lösung sie betraut sind.29 Nehmen wir also der Einfachheit halber an, alle Betroffenen kommen darin überein, das Aufstellen präskriptiver Regeln genau einer Person ihres Vertrauens zu überlassen. Diese Person akzeptiert die Wahl, erhält den Namen Rex und beginnt damit, ein komplexes Regelsystem zu errichten. Und unser Problem ist gelöst. Denn Rex wurde von den Beteiligten dazu befugt, die betreffenden Regeln aufzustellen. Rex hat also eine Befugnis erhalten und zwar von Leuten, die selbst keine hatten.30 Legitimität aus Faktizität. So ist es möglich. 10 Es ist reizvoll, diese fiktive Geschichte noch etwas weiterzuspinnen. Wie geht es in der soeben gegründeten politischen Gesellschaft weiter? Was wird Rex in seiner neuen Position als erstes tun? Man kann annehmen, dass Rex in erster Linie eine Reihe von Handlungen zu unterlassen gebietet. Er wird also einige Verbotsregeln aufstellen und sie mit geeigneten Sanktionsregeln verknüpfen. Die Adressaten seiner Verbote dürfen zum Beispiel nicht länger körperliche Gewalt gegeneinander üben. Ziemlich früh wird Rex bestimmt auch verbieten, dass einer seiner Untertanen einem anderen ohne dessen Zustimmung die Produkte seiner Arbeit oder andere Teile seiner Habe nimmt. Tut einer dies doch, nennt man das jetzt Raub und die Beraubten bekommen bald eine spezielle Befugnis zugesprochen. Alle Adressaten, die von anderen Menschen beklaut worden sind, dürfen sich an Rex wenden, um ihre Klage vorzubringen. Man sieht schon hier: Rex bekommt ziemlich schnell ziemlich viel zu tun.
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Weil Rex viel zu tun bekommt, wird er selbst kaum noch Zeit haben, einen eigenen Acker zu bestellen oder Hühner, Kühe und Schweine zu halten. Um trotzdem über die Runden zu kommen und seiner neuen Aufgabe gerecht werden zu können, wird Rex daher sehr schnell das erste Steuergesetz erlassen. Dieses Gesetz kann man naheliegenderweise als Gebotsregel konstruieren. Alle Untertanen mit dieser oder jener Beschaffenheit sollen unter den und den Bedingungen diese oder jene Menge an Wertgegenständen oder Dienstleistungen an den Inhaber der Regelbefugnis entrichten. Wie viele seiner Gebote wird Rex auch das Steuergebot mit einer einschlägigen Sanktionsregel verknüpfen. Und vor diesem Hintergrund werden dann zwei alternative Verfahrensregeln erkennbar. Einige Untertanen werden sich an die Regel halten, dass man seinen Staat nolens volens finanzieren muss, will man die Vorteile genießen, um derentwillen er gegründet wurde. Ein Staat mit leerer Kasse ist wie eine Windmühle ohne Wind. Alle Räder stehen still. – Menschen, die es zu diesem Maß an staatsbürgerlicher Einsicht nicht bringen, werden sich hingegen sagen, dass man seine Steuern nolens volens bezahlen muss, will man die betreffenden Sanktionen vermeiden. Manche Leute halten sich offenkundig doch nur an Regeln, um das größere Übel abzuwehren. Es kann im Übrigen gut sein, dass Rex nicht nur viel zu tun bekommt, sondern seiner Aufgabe nicht gewachsen ist. Dann wirft er vielleicht selbst den Bettel hin oder wird von den Leuten aus dem Amt gejagt, die ihn befugt haben, Regeln zu setzen. Die Unzufriedenen versuchen es dann eventuell mit einem anderen Kandidaten. Oder sie erklären das gemeinsame Projekt für gescheitert und verkehren wieder nach den Vorgaben des Naturzustands. Mit ein bisschen Glück gelingt es Rex vielleicht aber auch, hinlänglich oft Regeln mit positiven Eigenschaften aufzustellen. Wie wir aus dem siebten Kapitel wissen, besteht eine dieser Eigenschaften etwa darin, dass ein regelkonformes Handeln solche Konsequenzen nach sich zieht, die von den Adressaten der Regel erwünscht sind. Rex beweist in solchen Fällen ein
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Händchen für seinen Job. Die Leute fassen nach und nach Vertrauen in seine Kompetenzen. Denn er erbringt die Leistung, die sie sich vom Inhaber seiner Position versprochen haben. Natürlich gibt es nicht immer Einhelligkeit. Manche Leute sind mit manchen Regeln nicht einverstanden, die die Zustimmung anderer Menschen finden. Die Unzufriedenen nehmen dann vielleicht die ungeliebten Regeln in Kauf, weil ihnen ein Leben in Übereinstimmung mit dem von Rex geschnürten Paket an Regeln immer noch lieber ist als das unreglementierte Leben im Naturzustand. Das kontraktualistische Dogma, dem gemäß jede einzelne Regel im Interesse jedes einzelnen Betroffenen sein muss, ist realitätsfern. Kaum ein Untertan im Staat von Rex wird mit jeder einzelnen Regel einverstanden sein. Ein hie und da unbequemer Staat erscheint den Leuten aber vielleicht trotzdem attraktiver als die zuvor erlebte Anarchie.31 Doch selbst wenn Rex nur Untertanen hätte, die mit all seinen Regelungen zufrieden sind, käme es sicherlich trotzdem unter ihnen häufig zum Streit. Mancher kann es nicht lassen, sich ab und zu gegen eine Rechtsregel zu vergehen. Und oft ist es auch nicht klar, ob jemand eine Regel gebrochen hat oder nicht. Der eine sagt ja, der andere nein. Dann gehen sie zu Rex, dem König und Richter, um ihren Streit von ihm entscheiden zu lassen. Man sieht erneut, der gute Mann hat viel zu tun. Rex, so nehmen wir an, hat sich mittlerweile gut bewährt. Seine Untertanen vertrauen seinen Fähigkeiten im Großen und Ganzen. Aber Rex ist hoffnungslos überfordert. Er kommt kaum noch zum Schlafen und sieht die Gefahr heraufziehen, durch zu viele Fehler das gewonnene Vertrauen wieder zu verspielen. Seine Untertanen sehen dies ungern, aber sie sehen es ein: Rex braucht Hilfe, also auch von ihnen mehr Steuern. Denn er kann die Entscheidungsmaschine Staat nicht mehr alleine handhaben und holt sich daher einige Köpfe seines Vertrauens ins Haus. Diesen Leuten spricht er verschiedene Befugnisse zu. Der eine ist fürderhin befugt, in Sachen Staatsfinanzen geeignete
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Regeln aufzustellen und sich das Personal zu verschaffen, das er braucht, um sein Ministerium gut zu verwalten. Sofort geht der neue Finanzminister los, um sich seinerseits einen Stab von Beamten zu verschaffen. – Ein anderer bekommt von Rex die Befugnis, in Zukunft die Regeln zu erlassen, die erforderlich sind, um der zunehmend komplexer werdenden Kultur der Rechtsstreitereien unter den Untertanen Herr zu werden. Auch der neue Justizminister bekommt von Rex ein Personalbudget. Auch er wird sich mit diesen Geldern eine Reihe von Beamten halten. Diesen Staatsbediensteten wird der Minister Teile seiner Befugnis abtreten, damit sie arbeitsteilig die anfallenden Entscheidungsprobleme einigermaßen zeitnah abarbeiten können. Rex wird sicherlich noch weitere Minister bestellen, die Ministerien gründen und Teile ihrer erhaltenen Entscheidungsbefugnis an nachgelagerte Regelautoren delegieren. Aber ersparen wir uns weitere Details in diesem Teil der Geschichte. Stellen wir uns stattdessen vor, es wären ab einem bestimmten Punkt der Entwicklung eine Reihe massiver Probleme aufgetreten. Rex ist aus Erschöpfung und Übermüdung so mancher Fehler oder Missgriff unterlaufen. Einige seiner Regeln hatten nicht die erwünschten Konsequenzen. Manche seiner Regeln passten auch mit anderen Regeln nicht gut zusammen, die er zuvor schon in Kraft gesetzt hatte. Er hat zum Teil widersprüchliche Anweisungen formuliert. Darüber hinaus erwiesen sich manche seiner Personalentscheidungen als desaströs. Denn er hat sich einige selbstsüchtige Minister ins Haus geholt, die ihre Befugnisse nicht nur nutzen, um sich und ihre Familien besser zu stellen. Fast schlimmer noch sind diese Ganoven darauf aus, Rex vom Thron zu stoßen, um es sich selbst darauf bequem zu machen. Die Untertanen, das kann man sich denken, sind zunehmend unzufrieden über diese Entwicklungen. So war die Sache nicht abgemacht, als sie selbst oder – immer häufiger – ihre Eltern oder Großeltern Rex vor langer Zeit die originäre Regelbefugnis zugewiesen hatten. Rex reißt im entscheidenden Moment das Ruder noch einmal herum und verkündet im Lande
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die große Reform. Diese Reform ist ein konzentriertes Regelwerk, das einige grundlegende Probleme der staatlichen Ordnung klärt. Wozu ist diese Ordnung da? Welche Ämter gibt es in dieser Ordnung? Wie sind die Regelungs- und übrigen Entscheidungskompetenzen dieser Ämter beschaffen? Nach welchen Verfahrensregeln werden diese Ämter unter den betroffenen Menschen verteilt? Nach welchen Verfahrensregeln werden fürderhin Regeln gesetzt? Rex hat seiner politischen Gesellschaft ein Grundgesetz verliehen. Dieses Gesetz klärt noch eine ganze Reihe weiterer Fragen. Zu den wichtigsten gehört eine Liste von Grundfreiheiten, die die beunruhigten Untertanen schon seit langem immer nachdrücklicher und aufmüpfiger von ihren politischen Machthabern verlangten. Außerdem hat Rex auch dafür gesorgt, dass seine Amtsnachfolge durch klare Regeln grundgesetzlich geklärt ist. Denn Rex ist in die Jahre gekommen. Lange hält er die Last der Krone nicht mehr aus. 11 Das Reich von Rex II floriert prächtig. Industrie und Handel gedeihen. Vor kurzem wurde die allgemeine Schulpflicht eingeführt. Denn der Bildungs- und der Wirtschaftsminister konnten ihre Kabinettskollegen und den König davon überzeugen, dass nur ein höheres Bildungsniveau der Bevölkerung langfristig gewährleisen kann, dass diese prächtige Entwicklung anhält. Arbeitsteilung, gesellschaftliche Differenzierung und die zunehmende Konkurrenz mit dem Ausland tragen ihr Übriges bei. Die Gesellschaft erlebt einen Modernisierungsschub sondergleichen. Infolge dieser Entwicklungen werden die Untertanen von Generation zu Generation für historische und politische Zusammenhänge sensibler. Man nennt dies auch Aufklärung und politische Bildung. Vor allem kommt diesen Menschen immer klarer zu Bewusstsein, was der Sinn und Zweck der ursprünglichen Vergemeinschaftung war und wie er unter ihren Ahnen vonstattenging. Rex III und seine Mannen scheinen dieser historischen Wahrheiten nicht mehr so recht eingedenk zu sein.
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Denn die meisten Protagonisten der politischen Elite sind inzwischen herrschsüchtig, eitel und dumm. Fast schlimmer noch, viele von ihnen sitzen nur deshalb in ihrer Machtposition, weil sie aus Familien oder anderen Cliquen stammen, in denen es schon lange üblich ist, sich wechselseitig zu protegieren. Dieser Geburts-, Amts- und Finanzadel saugt das Volk nach besten Kräften aus. Die Leute auf der Straße sind sich jetzt einig: Rex IV und seine Halunken müssen weg! Wir sind das Volk. Unsere Ahnen haben Rex I die ursprüngliche Befugnis gegeben. Ab jetzt muss jeder neue Rex stets aufs Neue eine Regelungsbefugnis erhalten. Und zwar von uns, dem Volk. Um diese Gunst sollen sich in Zukunft immer unterschiedliche Kandidaten bewerben. Denn Konkurrenz belebt auch das politische Geschäft. Und wir wollen wählen! Damit die Fehler der Vergangenheit in dieser verschärften Form nicht wieder auftreten können, bekommen der Chefminister, wie nennen ihn Kanzler, wie all seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zukünftig ihre Befugnisse auch nur noch auf Zeit verliehen. Alle paar Jahre wird neu gewählt. Wer nichts taugt, der kann nach Hause gehen. Der Gedanke der Volkssouveränität, der schon in Hobbes‘ Kontraktualismus eingelassen war, bekommt auf diesem Weg eine institutionelle Gestalt. Diese Gestalt nennt man heute eine Demokratie. – Die Politik und ihre Geschichte könnten ja so einfach sein.
X Recht und Moral Rufen wir uns noch einmal zwei Punkte aus dem zurückliegenden Kapitel in Erinnerung. Dort wurde zum einen zwischen verschiedenen Regelclustern unterschieden, um die Begriffe der politischen Grundfreiheit, des subjektiven Rechts und des individuellen Anspruchs klarer voneinander abzugrenzen. Zum anderen wurde in Auseinandersetzung mit der politischen Philosophie von Thomas Hobbes deutlich, wie man sich die Legitimität der Regeln, die solchen Freiheiten, Rechten und Ansprüchen zugrunde liegen, zirkelfrei und, wenn man so will, naturalistisch passabel verständlich machen kann. Zu diesem Verständnis trug vor allem die Unterscheidung zweier Arten von Situationen bei, in denen es korrekt ist, von einem Menschen zu sagen, dass er etwas tun darf. Eine Situation der ersten Art liegt vor, wenn es niemanden gibt, der dem Akteur verboten hat, Dinge der Art H zu tun. Der zweite Fall liegt vor, wenn es einen Regelautor gibt, der den Akteur positiv dazu befugt hat, Dinge der Art H zu tun.1 Angesichts dieser Unterscheidung startete die Genealogie legitimer politischer Gewalt bei der Beobachtung, dass die Inhaber politischer Ämter genau dann legitimiert sind, die Rolle von Regelautoren zu übernehmen (dies also tun dürfen), wenn sie von den Adressaten ihrer Regeln dazu befugt worden sind. Um diese Regelungsbefugnis auszusprechen, dies war entscheidend, benötigen die Adressaten ihrerseits indes keine Befugnis. Denn solange es ihnen niemand verboten hat, dürfen sie auch ohne jede Befugnis ein Amt bzw. eine Institution einrichten, um ihr die Befugnis – wenn man so will, die politische Macht – zuzusprechen, kollektive Regelungen im Dienste der Gemeinschaft zu erlassen. Auf diesem Weg erhält also ein (singulärer oder kollektiver) Regelautor von Un-
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befugten eine Befugnis. Und diese Befugnis liegt dem Begriff der politischen Legitimität zugrunde. Wer diese Sicht der Dinge akzeptiert, neigt erfahrungsgemäß dazu, in philosophischen Fragestellungen, die von dieser Sicht berührt werden, bestimmte Positionen abzulehnen und andere Standpunkte zu verteidigen. Dieses Abschlusskapitel handelt im Kern von drei Neigungen dieser Art. Wir werden uns zum einen noch ein weiteres Mal – und diesmal gründlicher – mit dem Rechtspositivismus auseinandersetzen, der im achten Kapitel dieser Abhandlung kurz schon einmal Thema war. Zweitens führt die entwickelte Sicht in Verbindung mit der rechtspositivistischen Position zu einer bestimmten Einschätzung moralischer Rechte, also der nicht primär juridischen Rechte, die im zurückliegenden Kapitel ausdrücklich ausgeklammert blieben. In diesem Zusammenhang komme ich am Rande auch auf die Menschenrechte zu sprechen. Drittens fordert die soeben angesprochene Einschätzung moralischer Rechte ihrerseits dazu auf, den Begriff des moralischen Grundes etwas genauer in Augenschein zu nehmen. Sind diese drei Schritte getan, werden die Ausführungen über moralische Gründe den Anlass für zwei Schlussüberlegungen liefern. Zum einen kommen wir im fünften Abschnitt ein letztes Mal auf die Auseinandersetzung zwischen dem Rechtspositivismus und seinen Kritikern zurück, um den beiden Streitparteien eine einvernehmliche Schlichtung ihres Konfliktes anzubieten. Zum anderen erlaubt das skizzierte Bild moralischer Gründe, im sechsten Abschnitt eine bestimmte Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Moral und der Rationalität plausibel zu machen, mit deren Darlegung diese Abhandlung ihr Ende finden wird. 1 Hobbes, so unsere Lesart, hätte seiner rechtspositivistischen Generallinie treu bleiben und die irritierende Rede von der natürlichen Freiheit als einem Recht der Natur vermeiden können, hätte er sich über zwei Verwendungsweisen des Ausdrucks ‚dürfen‘ mehr Klarheit verschafft. Vor der (fiktiv angenomme-
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nen) Errichtung einer politischen Ordnung haben die Menschen keine Rechte, insbesondere kein Naturrecht. Sie befinden sich vielmehr in einem normativen Vakuum, in dem sie gleichwohl in einer Verwendung des Ausdrucks alles Erdenkliche tun dürfen. Denn niemand hat ihnen irgendetwas verboten, so nehmen wir an. Erst die Institutionen einer politischen Ordnung versetzen die Menschen in die Lage, auf der Grundlage zugewiesener Regelungsbefugnisse, Gesetze verschiedenster Art zu erlassen. Unter diesen Gesetzen befinden sich auch generalisierte Erlaubnisregeln, die im Rahmen geeigneter Regelcluster den Adressaten Freiheiten, Rechte und berechtigte Ansprüche zuweisen. Wer es für einen Vorteil hält, Hobbes‘ Theorie in diesem Sinne durch eine Elimination des Naturrechts zu korrigieren, hält offensichtlich den Rechtspositivismus für eine zutreffende Lehre. Obzwar ich im vorletzten Abschnitt dieses Kapitels eine vermittelnde Position beziehen werde, die eine allzu schlichte Form dieser Rechtstheorie überwindet, habe ich bereits im achten Kapitel meine Sympathien mit der rechtspositivistischen Grundidee zum Ausdruck gebracht. Dort war dieses Bekenntnis eine Folgerung aus der entwickelten Analyse des Verbs ‚sollen‘ und seiner Flexionen. Wo es keine Regelautoren gibt, so ergab diese Analyse, kann es nicht sein, dass Menschen im relevanten Sinn des Wortes etwas tun sollen. Im Fall der (subjektiven) Rechte ist es die Spiegelung dieses Gedankens, die einschlägig ist. Wo es keinen Regelautor gibt, kann es nicht sein, dass Menschen im relevanten Sinn des Wortes etwas tun dürfen. Sie können, genauer gesagt, über keine Freiheiten, Rechte oder Ansprüche verfügen. Denn (Rechts-)Güter dieser Art sind nur durch geeignete Regelcluster realisierbar. Solch ein Cluster setzt jedoch notwendigerweise einen Autor voraus. Um zu seinem Tun befugt zu sein, benötigt dieser Autor eine politisch konstituierte Position, von der aus er seine Arbeit aufnehmen kann. Der Rechtspositivismus ist historisch in Auseinandersetzung mit der stoizistisch verankerten Naturrechtslehre entstanden, obzwar es vereinzelte rechtspositivistische Stellungnahmen
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sehr früh schon in der abendländischen Geistesgeschichte bei einigen Autoren der Sophistik gab.2 Wie die Lehre vom Naturrecht ist auch die positivistische Sicht der Dinge keine klar definierte, monolithische Doktrin. Auf beiden Seiten der Debatte gibt es, anders gesagt, ganze Bündel von Positionen, die sich mal mehr im Detail, mal auch mehr im Grundsatz voneinander unterscheiden. In der zeitgenössischen Diskussion hat sich jedoch immer deutlicher gezeigt, dass sich der Grunddissens zwischen den Positivisten und ihren Widersachern auf genau eine Frage zuspitzen lässt.3 Diese Frage lautet, ob eine befriedigende Bestimmung des Begriffs des positiven Rechts notwendigerweise moralische Kriterien enthalten muss. Dabei ist die Rede von einem positiven Recht in beiden Bedeutungen zu verstehen. Es geht sowohl um einzelne Rechte einzelner Adressaten (oder Adressatenkreise). Die Juristen sprechen hier von subjektiven Rechten. Es geht aber auch um ganze Rechtsordnungen bzw. Rechtssysteme, die man in der juristischen Terminologie (irreführenderweise) auch als das objektive Recht einer politischen Gemeinschaft bezeichnet. Die Frage nach dem notwendigerweise moralischen Gehalt des Rechtsbegriffs bejahen die zeitgenössischen Nachfolger der Naturrechtslehre sowohl bezüglich subjektiver Rechte als auch mit Blick auf das objektive Recht einer politischen Ordnung.4 Und insofern sich diese zeitgenössischen Positivismuskritiker nur noch selten auf das Konzept des Naturrechts stützen, seien sie im Folgenden nicht als Naturrechtler, sondern als Rechtsmoralisten bezeichnet.5 Die Positivisten vertreten dem entgegen Kelsens Trennungsthese, die besagt, dass man zwischen dem Begriff des (subjektiven und objektiven) Rechts und dem der Moral strikt trennen kann und dies auch tun sollte. Man muss dem Positivismus zufolge also nicht unbedingt auf moralische Kriterien zu sprechen kommen, will man eine zutreffende und befriedigende Erläuterung des Rechtsbegriffs formulieren. Darüber hinaus sollte man den Rechtsbegriff um der Klarheit willen auch besser moralfrei bestimmen, um die Unterschiede
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zwischen dem Recht und der Moral nicht unnötigerweise zu verwischen. Machen wir uns zur Vorbereitung der Diskussion kurz klar, inwiefern man den Streit zwischen den beiden Parteien vorübergehend auf den Brennpunkt der subjektiven Rechte konzentrieren kann. Das objektive Recht umfasst alle geltenden Regelungen einer politischen Gemeinschaft, mithin auch die Regelcluster, die den Adressaten subjektive Rechte und die korrespondierenden Rechtspflichten zuweisen. Es ist zwar nicht zwingend, aber immerhin naheliegend, dass das objektive Recht den Rechtsmoralisten zufolge genau deshalb moralisch zu qualifizieren ist, weil der Begriff des subjektiven Rechts es ist. Obzwar noch deutlich werden wird, dass es möglich ist, einen moralisch geprägten Begriff des objektiven Rechts zu befürworten, selbst wenn man an einer moralfreien Bestimmung subjektiver Rechte festhält, können wir uns daher erst einmal auf die Frage konzentrieren, ob der subjektive Rechtsbegriff moralfrei zu erläutern ist. Angesichts dieser Vorklärung möchte ich zwei Thesen voneinander unterscheiden, die zu einer schwächeren und einer stärkeren Form des Positivismus führen. Ein Vertreter der schwächeren Position bejaht lediglich die Trennungsthese. Die stärkere These lautet, dass man den Begriff der positiven Rechte ohne Rekurs auf das Konzept eines moralischen Rechts explizieren sollte, weil dieses Konzept haltlos, Produkt eines denkhistorischen Irrwegs ist. Es gibt dieser These zufolge nur einen einzigen Begriff des subjektiven Rechts, den des positiven Rechts im Rahmen einer politischen Ordnung. Wer diese Überzeugung teilt, vertritt den Positivismus in der stärkeren Fassung. Ich wende mich zunächst der schwächeren These zu, um einen weiteren Unterschied zu erläutern, der für ihre Richtigkeit spricht. Im übernächsten Abschnitt möchte ich dann versuchen, auch die stärkere Position plausibel zu machen. 2 Das (objektive) Recht im Sinne eines Systems der positiven, juridischen Gesetze einer politischen Gemeinschaft ist ein hie-
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rarchisch organisiertes Konglomerat einzelner (allgemeiner oder konkreterer) Gesetze. Es gibt Grundgesetze, die Gesetze des Straf-, des Zivilrechts und anderer Gesetzesbücher. Nicht zuletzt können wir auch nachgeordnete Erlasse und Verordnungen als Elemente des strukturierten Rechtssystems einer politischen Ordnung auffassen, insoweit sie hinlänglich generell sind, um sich als Regeln ausweisen zu lassen. Da alle Gesetze (Erlasse, Verordnungen) in diesem Sinn des Wortes unter den Begriff der präskriptiven Regel fallen (und insofern als Rechtsnormen bezeichnet werden können), den ich durch das Konzept der Anweisung bestimmt habe, gibt es zwei Gründe, aus denen ich der schwächeren Form der positivistischen Lehre in jedem Fall beizupflichten habe. Beide Gründe gehen aus den folgenden Beobachtungen hervor. Im zurückliegenden Kapitel habe ich zwar zwischen Regelautoren, die über keine Regelungsbefugnis verfügen, und solchen Regelautoren unterschieden, die von ihren Adressaten eine Regelungsbefugnis erhalten haben. Aber zum einen habe ich nicht zwischen den Regeln befugter und unbefugter Autoren als Regeln unterschieden. Daher sind der hier vertretenen Position zufolge auch die Gesetze eines nicht legitimierten Gesetzgebers, der sein Handeln nicht an den Interessen seiner Rechtsadressaten orientiert, im vollen Wortsinn Gesetze. Zum anderen lässt das entfaltete Konzept eines legitimierten Regelautors zwar die Erwartung entstehen, dass ein legitimierter Regelautor keine Gesetze erlässt, die den Interessen der Regeladressaten massiv widersprechen und insofern unmoralischer Natur sind. Aber der legitimierte Regelautor muss dieser Erwartung nicht zwangsläufig entsprechen. Denn es gibt keine Gewähr dafür, dass der legitimierte Regelautor nicht im Sinne unmoralischer Interessen seiner Adressaten operiert. Ein Haufen unmoralischer Subjekte kann ja durchaus durch die Überweisung einer Regelungsbefugnis einen unmoralisch ausgerichteten Staat errichten. Legitimität, so wird hier deutlich, sichert allein noch keine Moralität.
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Beide Gründe laufen darauf hinaus, dass auch Anweisungen, deren Inhalte moralisch bedenklich oder eindeutig unmoralisch sind, Anweisungen bleiben und daher geltendes Gesetz sein können. Die Begriffe der Regel, des Gesetzes und der Anweisung sind, mit anderen Worten, gegenüber den Inhalten der Regeln, Gesetze oder Anweisungen neutral. Oder um es mit Kelsens berühmten Worten zu formulieren: „Jeder beliebige Inhalt kann Recht sein, es gibt kein menschliches Verhalten, das als solches, kraft seines Gehalts, ausgeschlossen wäre, zum Inhalt einer Rechtsnorm zu werden.“6 Die hier von Kelsen zum Ausdruck gebrachte Sicht der Dinge beschwört die rechtsmoralistische Kritik am Positivismus hervor. Dieser Position zufolge steht über dem historisch und damit inhaltlich variablen Staatsrecht aus Menschenhand ein inhaltlich bestimmtes und vor allem unwandelbares Recht der Natur. In der Tradition war hier zuweilen auch von dem Vernunftrecht oder von der vermeintlich natürlichen Gerechtigkeit die Rede. Wer jedenfalls glaubt, dass es dieses zeitlose Recht höherer Ordnung gibt, und sich darüber hinaus in dem Wissen wähnt, aus welchen Regeln es sich zusammensetzt, der glaubt sich in der Lage, das positive Recht aus Menschenhand an den Regeln des übergeordneten Rechts messen zu können. Die Vertreter der Naturrechtslehre und ihre rechtsmoralistischen Nachfolger sehen sich daher dazu befähigt, das positive Recht aus Menschenhand als Unrecht ausweisen zu können, falls es seinem Inhalt nach mit dem zeitlosen Recht höherer Ordnung konfligiert. Aus dieser Perspektive wird so begreiflich, was gemeint ist, wenn von einzelnen Gesetzen eines Staates oder von ganzen Rechtssystemen geurteilt wird, sie seien im Licht des „eigentlichen“ (Natur- bzw. Vernunft-)Rechts unrichtiges Recht, Unrecht, unrechtmäßig bzw. ungerecht. Ein prominenter (wenn auch nicht ganz eindeutiger) Vertreter dieser rechtsmoralistischen Position war Gustav Radbruch, der eine neukantianisch vermittelte Version der Naturbzw. Vernunftrechtslehre vertrat. In seiner berühmt gewordenen Formel stellte er fest:
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Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat.
In der Terminologie, die ich gestützt auf die Ausführungen der zurückliegenden Kapitel empfehlen möchte, sagt Radbruch hier zweierlei: Auf der einen Seite sollte man sich als Regeladressat auch dann an die geltenden Rechtsregeln der bestehenden Rechtsordnung halten, wenn man moralische Gerechtigkeitsgründe oder Gründe der Zweckmäßigkeit dafür sieht, sich (im Einzelfall oder auch ganz allgemein) nicht an sie zu halten. Auf der anderen Seite sollte man sich jedoch dann nicht an die etablierten Rechtsregeln halten, wenn moralische Gründe (vor allem Gründe der Gerechtigkeit) sehr klar gegen diese Regeln sprechen. – Diese beiden Aussagen gelten wohl gemerkt nicht nur für die Rechtsadressaten, also den gemeinen Bürger und die gemeine Bürgerin. Sie gelten insbesondere auch für die Richter und Richterinnen einer politischen Ordnung. Diese sind durch die Radbruchsche Formel als moralische Akteure dazu angehalten, in solchen Fällen nicht nach den Regeln des geltenden Rechts zu urteilen, in denen gewichtige moralische Gründe gegen einzelne Rechtsregeln oder gar gegen das gesamte Regelsystem sprechen. Wo von Gründen die Rede ist, da kommt stets auch das Bild vom Abwägen der relativen Gewichtigkeit dieser Gründe ins Spiel. In diesem Bild ist erkennbar, dass es fast immer eine Grauzone gibt, in der nicht mit Sicherheit zu entscheiden ist, in welche Richtung sich die metaphorische Balkenwaage senkt, von der im sechsten Kapitel die Rede war.7 Diese Unsicherheit bringt Radbruch gleich zu Beginn der Passage zur Sprache, die unmittelbare an seine soeben zitierte Formel anschließt: Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch
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Regel und Grund geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges‘ Recht, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinne nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.8
Wie gemeinhin bekannt, reagiert Radbruch, der ehemalige Justizminister der Weimarer Republik, mit dieser Überlegung auf die Katastrophe der zurückliegenden Naziherrschaft. Wie er sahen sich auch viele andere Rechtstheoretiker nach dem Zweiten Weltkrieg gehalten, dem Rechtssystem des Dritten Reiches aufgrund seiner eklatanten Verletzungen jedes Gerechtigkeitsempfindens mit Bausch und Bogen seinen Rechtscharakter abzusprechen. Eine Rechtsordnung, die die Abschlachtung ganzer Bevölkerungsgruppen nicht nur erlaubt, sondern perfiderweise sogar gebietet, verdient nicht den Namen Recht, so die von verständlicher Empörung induzierte Überzeugung dieser Autoren. Nicht selten wurde in diesem Affekt der Rechtspositivismus sogar als offener oder geheimer Wegbereiter von politischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit erachtet. Dies war natürlich Unfug, der weit über das Ziel hinausschoss. Wer so denkt wie Radbruch, ist aus seiner Zeit heraus sehr gut zu verstehen. Man kann das Anliegen jedenfalls leicht nachvollziehen, dem Dritten Reich nicht nur seine Legitimität, sondern auch seine Rechtsstaatlichkeit abzuerkennen. Aber mit dieser Art des Denkens leistet man bei Licht betrachtet weder sich noch seinen Mitmenschen einen Dienst. Denn man verhindert in der Zukunft keine unmoralischen Rechts- oder Unrechtssysteme, indem man einen moralisch gefärbten Begriff des Rechts konzipiert, der die Existenz solcher „Unrechtsstaaten“ schlicht ignoriert. Es ist besser, nüchterner und auch ehrlicher, zur Kenntnis zu nehmen, dass weder der Begriff des Rechts noch der der Legitimität eine Gewähr dafür bieten, dass im Namen des Rechts einer politischen Gemeinschaft unmora-
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lische, barbarische, ja bestialische Dinge staatlich legitimiert werden können. Politik, Staatlichkeit und rechtliche Ordnungen sind und bleiben Sprengsätze, die stets auch nach hinten losgehen können. Für diese permanente Gefahr muss man sich sensibel halten. Es nützt nichts, die Augen davor zu verschließen oder sich geschönte Begriffe zu verschaffen. Der Leser möge sich in diesem Zusammenhang verdeutlichen, dass man im Grunde genommen inhaltlich keine gehaltvolle These vertritt, wenn man als Positivist behauptet, dass aus möglichst klar bestimmten Begriffen der Regel, des Gesetzes, des Rechts und der gesetzlichen Geltung folgt, dass etwa die nationalsozialistischen Rassengesetze geltendes Recht einer geltenden Rechtsordnung waren und die Rede von einem Unrechtsstaat heikel metaphorisch ist. Diese Dinge zu behaupten bedeutet keineswegs, die Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit jener Gesetze und der faschistischen Rechtsordnung zu bemänteln oder auch nur im Geringsten in Frage zu ziehen. Es wäre unfair, dem Vertreter positivistischer Begriffsbestimmungen irgendwelche verqueren Ansichten politischer, moralischer oder ideologischer Natur zu unterstellen, nur um seine Position mangels besserer Argumente in Misskredit zu ziehen. An den Sachverhalten dieser Welt wird jedenfalls nichts besser oder schlechter, wenn wir sagen, dass es sich im Fall der Rechtsordnung Nazideutschlands um eklatant unmoralisches, obzwar geltendes Recht gehandelt hat. Darüber hinaus stimmt es aber vor allem nicht, wenn Radbruch am Ende der zuletzt zitierten Passage sagt, dass man Recht (besser den Begriff des Rechts) definieren müsse, „als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinne nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.“ Man kann das Recht sehr wohl auch als die Summe der generalisierten Anweisungen eines erfolgreichen Regelautors definieren, wie es durch den Positivismus nahegelegt wird. Diese Definition ist mit Blick auf die Intentionen des Autors neutral. Manchen Regelsetzern ist am moralischen Wert der Gerechtigkeit gelegen. Glücklicherweise. Vielen Regelautoren aber leider nicht. Und unschwer wird man
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weithin geteilte Einhelligkeit in der Ansicht finden, dass eine Rechtsordnung moralisch gesehen umso besser ist, je mehr sie mit unseren moralischen Überzeugungen, insbesondere mit unserem Gerechtigkeitsempfinden verträglich ist. Wie aber schon einmal im achten Kapitel gesagt wurde: Die Moral muss zum Recht erst hinzutreten. Geschieht dies, dann ist es gut. Moral im Allgemeinen und Gerechtigkeit im Besonderen stecken jedoch nicht im Begriff des Rechts schon drin. Es hat im Übrigen einen nicht zu unterschätzenden Vorteil, die Dinge wie erläutert beim Namen zu nennen. Wie selbst die Kritiker des Rechtspositivismus jüngeren Datums zuweilen zugestehen, ist die sprachliche Ordnung, die sich gemäß den positivistischen Bestimmungen von Gesetz, Recht und Moral ergeben, weit klarer als ihre rechtsmoralistischen Alternativen.9 Tatsächlich ist es auch nicht so, dass mir aus unabhängigen Gründen an der Wahrheit einer philosophischen Position namens Rechtspositivismus gelegen ist. Vielmehr habe ich in den ersten Kapiteln dieser Abhandlung versucht, möglichst klare Begriffe der Regel und des Grundes zu entwickeln. Aus diesen Begriffsbestimmungen ergab sich, dass sich diese Konzepte besser mit anderen Begriffen zusammenfügen, wenn wir die konzeptuellen Verhältnisse in Sachen Recht und Moral so sehen, wie es die Vertreter der positivistischen Position immer schon zu sehen empfohlen haben. Wir bewegen uns mit dieser Überlegung zum Verhältnis zwischen Recht, Gerechtigkeit und Moral, wie schon einmal gesagt, nicht auf einer inhaltlich gehaltvollen Ebene. Wir bewegen uns vielmehr auf einer methodologischen Ebene, auf der man in diesem Kontext auch von einer konzeptuellen Ökologie sprechen kann. Unser konzeptuelles Ökosystem läuft rund, so könnte man es formulieren, wenn man sich darauf verständigt, dass der Begriff des positiven Rechts keine moralischen Kriterien enthält. Jede generalisierte Anweisung beliebigen Inhalts (eines legitimierten oder auch nicht legitimierten Autors) kann Gesetz und damit Bestandteil einer geltenden Rechtsordnung sein. Manche Gesetze und Rechtssysteme sind moralisch ein-
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wandfrei. Andere sind aus moralischen Gründen bedenklich oder gar verwerflich. Wer wollte dies bestreiten? Diese Formulierungen geben zu erkennen, dass man durch die rigide Gegenüberstellung von Regeln und Gründen, für die ich vornehmlich im siebten Kapitel argumentiert habe, alles klar und deutlich sagen kann, was Radbruch und seine rechtsmoralistischen Mitstreiter richtigerweise zu sagen haben. Und man kann es vor allem frei von aller drohenden Missverständlichkeit sagen. Es kann der Fall eintreten, in dem moralische Gründe (insbesondere Gründe der Gerechtigkeit) in aller Eindringlichkeit gegen die Akzeptanz, Anwendung und Befolgung der Regeln einer etablierten Rechtsordnung sprechen. Dann ist es unmoralisch, diese Gründe zu ignorieren und die Gesetze zu respektieren. Jeder, der sich infolge der Anweisungen des Naziregimes zu unmoralischen Handlungen bewegen ließ, hat sich moralisch vergangen. Jeder Richter, der die betreffenden Rechtsregeln anwandte und ihnen gemäß Urteile fällte, hat sich moralisch schuldig gemacht. Daran kann es keinen Zweifel geben. Diese Feststellungen nehmen den entsprechenden Rechtsregeln, mithin der nationalsozialistischen Rechtsordnung, jedoch nichts von ihrer Natur als Regeln und als Rechtsordnung. Sie heben aber zutreffend die Tatsache hervor, dass es sich um unmoralische Regeln einer äußerst unmoralischen Ordnung handelte, da starke moralische Gründe dafür sprachen, diese Regeln nicht aufzustellen, nicht zu akzeptieren, nicht anzuwenden und nicht zu befolgen. Diese Gründe sprachen freilich nicht zuletzt auch dafür, das betreffende Regelsystem nach Möglichkeit gänzlich aus der Welt zu schaffen, seine Autoren unschädlich zu machen und für ihre Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu bestrafen. 3 Ich wende mich jetzt der zweiten positivistischen These und damit der stärkeren Version der Theorie zu. Hier gilt es, wieder um inhaltliche Punkte zu streiten. Der zweiten These zufolge ist es nicht nur im Allgemeinen falsch, moralische Kriterien
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dafür zu verwenden, den Begriff des Rechts zu explizieren. Dieser These gemäß ist es insbesondere falsch, von moralischen Rechten oder der natürlichen Gerechtigkeit zu sprechen, wo es um diese Explikation geht. Dabei liegt die Sprengkraft dieser These mehr in ihrer Begründung als in ihr selbst. Dieser Begründung zufolge gibt es nämlich keine vorpositiven, mithin auch keine moralischen Rechte. Auch die traditionelle Rede von einer natürlichen Gerechtigkeit beruht auf einer historischen Begriffskonfusion und erweist sich bei Licht betrachtet als inhaltsleer. Diese Rede ist im Zuge der Naturrechtstradition erwachsen, mit der Vorstellung also, dass es vorpositive und insofern natürliche Rechte gibt, die alle Menschen (oder manche Gruppen von Menschen) von Natur aus schon haben. Die Natur kommt jedoch als Regelautor nicht in Frage.10 Und ohne Autor kann es keine präskriptiven Regeln, geschweige denn die erforderlichen Regelcluster geben. Die Rede von den natürlichen Rechten ist, wie Bentham es formulierte, „Unsinn auf Stelzen.“11 Wer sich für das rechtspositivistische Verständnis von Recht und Rechtsstaatlichkeit ausspricht, sollte sich meines Erachtens auf die Position des starken Positivismus stellen. Denn wie bereits andere Autoren vermutet haben, denke ich ebenfalls, dass es schlicht ein Fehler war, die Moral in der jüdisch-christlichen Tradition in Analogie zum staatlichen, politischen bzw. juridischen Recht als ein System von Rechten und Pflichten, von Erlaubnissen und Geboten oder von moralischen Grundsätzen und Prinzipien zu deuten.12 Diese Deutung führte nicht nur zu einer konfusen Doppelung der zentralen Begriffe. Sie verschleierte vor allem auch den Blick auf die Natur der Moral. Denn man sollte die Moral besser in Begriffen des Grundes und der Suche nach dem besseren Handeln begreifen. Es gibt keine moralischen S-Sätze. Für die Moral ist vielmehr das evaluative ‚sollen‘ der offenen Frage einschlägig, das wir im achten Kapitel kennengelernt haben. Die Moral ist folglich kein überdimensionales Damoklesschwert, das über uns hängt und aus einer Sammlung von Geboten besteht, auf deren Miss-
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achtung Strafe steht. An diesen Faden werde ich im nächsten Abschnitt anknüpfen, das dem Konzept des moralischen Grundes gewidmet ist. Es sei betont, dass es sich auch bei der starken Positivismusthese bis zu einem bestimmten Ausmaß lediglich um eine konzeptuelle, rein begriffsökologische These handelt. Denn diese These drängt in vielen Kontexten weniger dazu, unser Bild von den relevanten Zusammenhängen einschneidend zu verändern. Sie drängt vornehmlich dazu, gewisse Dinge, die häufig nach den Vorgaben der Naturrechtsdoktrin formuliert werden, um der Klarheit willen sprachlich anders zu fassen. Diesen Tatbestand kann man sich nicht nur am Beispiel der weiten Rede von den vermeintlichen Rechten moralischer Natur vergegenwärtigen. Dieselben Zusammenhänge sind auch mit Blick auf die sogenannten Menschenrechte zu veranschaulichen, die vor allem in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg das Erbe der natürlichen Rechte angetreten haben. Wie stellt sich der eben angedeutete Drang zur sprachlichen Richtigstellung im Einzelnen dar? Das, was man gemeinhin ein moralisches Recht in Abgrenzung zum positiven Recht einer politischen Ordnung nennt, lässt sich gewissermaßen als Projektion auf einen politischen Idealzustand hin deuten. Wer etwa sagt, Leute mit der und der Eigenschaft hätten selbst dann das moralische Recht R, wenn die politische Ordnung, in der diese Menschen leben, ihnen kein positives Recht des betreffenden Inhalts zugesteht, bringt damit seine Ansicht zum Ausdruck, dass die politische Ordnung das betreffende Recht positiv verbürgen sollte. Dies bedeutet der im achten Kapitel dargelegten Analyse des konjunktivisch verwendeten Verbs ‚sollen‘ zufolge, dass die betreffende Person eine Welt, in der die Menschen das betreffende Recht haben, der bestehenden Welt aus bestimmten moralischen Gründen vorzieht. Durch seine Äußerung macht der Sprecher in vielen Zusammenhängen vielleicht auch eine politische Forderung geltend. In dem Fall fordert er seine Mitmenschen und oft unmittelbar auch die politischen Protagonisten der betreffenden Ordnung dazu auf,
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den Status quo zu verändern: Der (singuläre oder kollektive) Autor der Ordnung soll ein entsprechendes Regelcluster installieren, damit die betreffenden Menschen tatsächlich den rechtlichen Schutz erhalten, den sie nach Einschätzung des Sprechers haben sollten. Um der sachlichen Klarheit willen kann und sollte man jedoch in derartigen Kontexten auf jede irregeleitete oder gar bewusst irreführende Rhetorik verzichten. Wo es darum geht, in der moralisch-politischen Auseinandersetzung Menschen ein Recht zu verschaffen, das sie bis dato nicht haben, geht es nicht darum, ein vermeintlich vorpositiv bereits existentes Recht zusätzlich zu positivieren. Dies wäre mystisch. Es geht vielmehr darum, der Forderung nach der Einführung eines bis dato inexistenten Rechts nachzukommen, den involvierten Menschen also ein neues Recht zuzuweisen. Rechte gibt es indes nur als positive, sprich juridische Rechte. Mit jeder anderen Sicht macht man sich nur etwas vor. Und für die Menschenrechte gilt naturgemäß dasselbe.13 Hier haben wir das Glück, dass vor allem infolge der erschütternden Erfahrungen der beiden Weltkriege heutzutage fast alle Staaten dieser Erde (zumindest nominell) ihren Bürgern und Bürgerinnen bestimmte Menschenrechte zuerkennen. 14 Dies heiß der hier vorgeschlagenen Lesart zufolge nichts anderes, als dass diese Staaten den Inhalt der Menschenrechte als fixierten Bestandteil ihrer positiven Rechtsordnung institutionalisiert haben. Es gibt dort folglich die betreffenden Regelcluster. Schicken wir uns vor diesem Hintergrund an, Menschenrechtsverletzungen im In- oder Ausland anzuprangern, sollten wir uns daran gewöhnen, mit offenen Karten zu spielen. Klagen wir derartige Verletzungen in solchen Ländern an, die die Menschenrechte offiziell ratifiziert haben, dann werfen wir den politischen Protagonisten jener Länder die Verletzung von geltenden Gesetzen vor, die in ihrer Eigenschaft als Rechtsverletzung nicht von der Verletzung anderer Arten von Gesetzen unterschieden sind. Den Ordnungen dieser Staaten zufolge haben ihre Bürger beispielsweise das Recht auf freie Meinungsäußerung. Wird dieses Recht bzw. die korrespondierende Rechts-
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pflicht durch die staatlichen Akteure nicht respektiert, machen die sich eines Rechtsbruchs schuldig. Derartige Vergehen gegen ratifizierte Menschenrechte unterscheiden sich häufig im Ausmaß und Gewicht von Vergehen gegen andere Regeln einer politischen Ordnung. Sie unterscheiden sich jedoch nicht der Art nach. Menschenrechte sind, anders gesagt, keine spezielle Form von (subjektiven) Rechten. Wo es indes darum geht, menschenunwürdige Behandlungen durch den Staat von Bürgern solcher Ordnungen anzuprangern, die die Menschenrechte nicht proklamiert haben (oder nicht die bei uns übliche Interpretation des Inhalts dieser Rechte teilen), müssen wir die derzeit zumeist übliche Positionierung ändern. Was wir hier aus guten Gründen beklagen, ist nicht eine Missachtung oder Verletzung bereits bestehender Rechte. Wir beklagen vielmehr das gänzliche Fehlen dieser Rechte. Diese bedauernswerten Menschen leben in einem naturzustandsähnlichen Vakuum. Dieses Vakuum soll unserer moralischen Auffassung gemäß durch neue, bisher inexistente Rechte aufgefüllt werden. Darauf zielt unsere Forderung. Darauf sollte sie jedenfalls zielen. Wenn ein Staat seinen Bürgern das Recht auf freie Meinungsäußerung nicht durch gesatztes Recht zuerkennt, dann haben diese Bürger dieses Recht auch nicht. Mit dieser Wahrheit muss man leben lernen. Gleichwohl mögen wir aus guten moralischen Gründen davon überzeugt sein, dass auch diese Menschen jenes Recht, das sie bisher nicht haben, haben sollten. Und diese Gründe reichen vollkommen aus, um den Kampf für die moralisch richtige Sache auch weiterhin zu führen.15 Man muss sich nicht auf ein vermeintliches Recht der Natur berufen, wie die kleine Göre, die mit dem Ruf nach dem großen Bruder droht. Es reicht, wenn man gute moralische Gründe hat, die für die Einführung eines positiven Rechts des betreffenden Inhalts sprechen. Gestützt auf solche Gründe kann man moralische Forderungen geltend machen. Und wo es um die Menschenrechte geht, ist es eine primär politische Aufgabe, diesen
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Forderungen in der politischen Auseinandersetzung Gehör zu verschaffen. Die Moral ist diesen Überlegungen zufolge also unzutreffend als ein System von moralischen Prinzipien oder Regeln erfasst, die den Adressaten Befugnisse und Gebote, Rechte und Pflichten auferlegen. Die Moral taugt so wenig als Regelautor, wie es eine hypostasierte Vernunft als Ersatz für eine mächtige Vater-, besser vielleicht Mutterfigur täte. Um das Wesen der Moral adäquater zu begreifen, gilt es meiner Ansicht nach, die Natur moralischer Gründe zu begreifen. 4 Moralische Gründe sind praktische Gründe. Und praktische Gründe haben wir im sechsten Kapitel als die Vorzüge der durch sie begründeten Handlungen verstehen gelernt. Um die Natur moralischer Gründe in den Blick zu bekommen, soll in diesem Abschnitt eine Überlegung angestellt werden, die – wie ich sagen möchte – auf die Wahrheit des Utilitarismus zielt. Damit soll keineswegs behauptet sein, dass die utilitaristische Ethik wahr bzw. eine zutreffende Moralkonzeption sei. Im Gegenteil, wir werden sehen, dass diese Moralkonzeption an einem irreparablen Fehler krankt. Unter der Wahrheit des Utilitarismus soll vielmehr eine bestimmte Grundannahme verstanden sein, auf der die utilitaristische Morallehre beruht. Diese Grundannahme tritt zum Vorschein, wenn man sich vergegenwärtigt, welche Gemeinsamkeit und welchen Unterschied die utilitaristische Schule zwischen dem rationalen und dem moralischen Handeln sieht. Das Gemeinsame, das den rationalen und den moralischen Akteur in dieser Sicht der Dinge einigt, besteht darin, dass beide in ihrem Handeln auf eine je spezifische Maximierung aus sind. Der rationale Akteur versucht mit Blick auf die Menge der ihm vor Augen stehenden Optionen diejenige Handlungsweise zu realisieren, die eine bestmögliche Befriedigung seiner eigenen Präferenzen in Aussicht stellt. Daher bezeichnet man ihn ja auch als einen Nutzenmaximierer. Bei der Maximierung seines Nutzens dient ihm seine instrumentalistisch interpretierte Vernunft. Diese ist
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das Vermögen, die besten Mittel (Handlungen) für die vorgegebenen Zwecke (Präferenzen) aufzufinden. Als rational gilt daher genau diejenige Handlungsoption, die dem Akteur ein möglichst hohes Maß an Befriedigung seiner eigenen Präferenzen in Aussicht stellt. Weitgehend analog stellt sich der Utilitarist die Situation des moralischen Akteurs vor. Auch er ist darum bestrebt, diejenige Option in die Tat umzusetzen, die im Vergleich zu ihren Alternativen die maximal mögliche Befriedigung der involvierten Präferenzen in Aussicht stellt.16 Mit dieser Feststellung sind wir auch schon beim relevanten Unterschied zwischen dem rationalen und dem moralischen Handeln angelangt, wie er sich aus der Sicht des Utilitaristen ausnimmt. Dieser Unterschied besteht darin, dass der moralische Akteur seine Nutzenkalkulation nicht nur auf der Grundlage seiner eigenen Präferenzen durchführt, um die relativ zu dieser Präferenzenmenge optimale Entscheidung zu finden. Der moralische Akteur bezieht vielmehr auch die Präferenzen all derjenigen Menschen in seine Kalkulation mit ein, die von den Folgen seiner Handlungen erwartbar betroffen sind. Kurz, wer rational handelt, handelt optimal relativ zu den eigenen Präferenzen, Interessen oder Wünschen. Wer moralisch agiert, handelt optimal relativ zu den Präferenzen aller voraussichtlich betroffenen Menschen. Dabei ist es dem moralischen Akteur natürlich gestattet, auch seine eigenen Präferenzen mit ins Kalkül seiner Überlegungen einzubeziehen. Der Utilitarismus gebietet keine Selbstlosigkeit.17 Der moralische Akteur muss lediglich darauf achten, dass er im Konfliktfall seinen eigenen Wünschen nicht mehr Gewicht beimisst als den Wünschen der erwartbar betroffenen Mitmenschen. Der Utilitarist ist, so gesehen, der Demokrat unter den Moralisten. Ich glaube nicht, dass die angekündigte Wahrheit des Utilitarismus in dem hervorgehobenen Optimierungsgedanken steckt. Denn die Optimierungsdoktrin ist in der Moralphilosophie nicht weniger problematisch als in der Rationalitätstheorie.18 Ihre Fragwürdigkeit besteht nicht zuletzt darin, dass sie
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uns normale Menschen sowohl in rationalitätstheoretischer als auch in moralphilosophischer Hinsicht hoffnungslos zu überfordern droht. Aber auf diesen Punkt müssen wir im gegenwärtigen Kontext nicht weiter eingehen. Denn die Wahrheit des Utilitarismus, auf die ich die Aufmerksamkeit lenken möchte, steckt vielmehr in der schlichten Gegenüberstellung des moralischen mit dem rationalen Handeln. Den für uns relevanten Sachverhalt kann man auch dahingehend formulieren, dass der Utilitarismus lehrt, inwiefern das moralische Handeln ein Handeln zugunsten anderer Menschen ist und damit oft im Gegensatz zum rationalen Handeln steht. Denn beim rationalen Handeln haben die Präferenzen anderer Leute kein eigenes Gewicht. Man darf diese Gegenüberstellung nicht überdramatisieren und dadurch falsch verstehen. Auf der einen Seite muss der rationale Akteur auch der utilitaristischen Sicht zufolge kein Egoist, kein Sozialschwein, kein Abstaubernaturell sein. Denn er kann durchaus altruistische Interessen hegen. In dem Fall ist es ihm wichtig, dass es bestimmten anderen Leuten gut, vielleicht sogar besser als ihm selbst ergeht.19 Auf der anderen Seite muss man sich den utilitaristischen Akteur nicht als Märtyrer oder selbstlosen Trottel denken, der seine eigenen Wünsche den Wünschen anderer Menschen stets unterordnet oder gar opfert. Ein Verein von Utilitaristen ist nicht zwangsläufig zum Aussterben verurteilt, wenn er mit anderen Leuten interagiert. Der relevante Unterschied besteht vornehmlich darin, dass der rationale Akteur eine andere Menge an Präferenzen zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen nimmt, als es der moralische Akteur tut. Der rationale Akteur fängt bei der Menge seiner eigenen Präferenzen an – darunter können, wie gesagt, auch altruistische Interessen sein. Der moralische Akteur beginnt seine Überlegungen hingegen mit der Menge der Präferenzen aller Menschen, die von seinem Tun erwartbar betroffen sind.20 Dazu gehören meistens auch die eigenen Interessen. Wenn wir die herausgestellte Wahrheit des Utilitarismus auf die Konzeption praktischer Gründe übertragen, die im
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sechsten Kapitel entwickelt wurde, gelangen wir zu dem folgenden Bild: Die (primären) Gründe, die für oder wider eine Handlung sprechen, so habe ich behauptet, sind mit den Vorzügen und Nachteilen der betreffenden Handlung identisch. Gründe sprechen für eine Handlung, weil und insofern sie Vorzüge sind, die für die Handlung sprechen. Welche Aspekte einer Handlung ihre Vorzüge oder Nachteile sind, kann man aufgrund konzeptueller Zusammenhänge zwischen den Begrifflichkeiten nur in Erfahrung bringen, indem man die Handlung im Licht bestimmter Wünsche, Präferenzen oder Interessen betrachtet. Nur ein erwünschter Aspekt der Handlung ist einer ihrer Vorzüge. – Angesichts dieser beiden Sachverhalte liegt es auf der Hand, wie sich die Wahrheit des Utilitarismus in unserer Auffassung moralischer Gründe reflektiert. Während es bei den Gründen von rationalen Handlungen, besser gesagt bei den nichtmoralischen, praktischen Gründen im Regelfall um die Wünsche des Akteurs geht, in deren Licht sich die Frage beantworten lässt, welche Aspekte der Handlungsoptionen Vorzüge und Nachtteile konstituieren, geht es bei den moralischen Gründen um die Wünsche aller voraussichtlich betroffenen Menschen. Im Licht der Wünsche dieser Menschen ist die Frage zu beantworten, was für und was gegen eine Option des Handelns spricht. Ein Grund G ist für einen Akteur A genau dann ein moralischer Grund dafür, eine Handlung der Art H auszuüben, wenn G im Licht der Wünsche betroffener Menschen ein Vorzug der betreffenden Handlung ist. Einer meiner Gründe dafür, dir in Not zu helfen, besteht in dem Vorzug dieser Handlung, der im Lichte deiner Wünsche erkennbar ist. Du bekommst die Hilfeleistung, die in deinem Interesse ist. Dein moralischer Grund dafür, mich nicht zu verprügeln, besteht darin, dass du mir so vermeidbare Schmerzen ersparst. Wer will schon vermeidbare Schmerzen erleiden? Ich will es jedenfalls nicht. Die Konzeption der Moral, die sich aus dieser Überlegung über die Natur moralischer Gründe ergibt, ist eine partikularistische, wie sie in der jüngeren Diskussion von einigen Philoso-
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phen bereits entwickelt wurde. 21 Diese Autoren teilen die Überzeugung, dass die Moral kein System allgemeiner Regeln, Normen oder Prinzipien ist. Und wo das Konzept der Regel nicht greift, da können keine Begriffe des Gebots oder der Befugnis, mithin keine Konzepte des Rechts oder der Pflicht anschließen. Um das Wesen der Moral besser zu verstehen, ist es dem Partikularismus zufolge vielmehr wichtig, die zentrale Rolle moralischer Gründe beim moralischen Erwägen, Urteilen und Handeln zu durchschauen. Moralische Gründe, dies liegt in ihrer Natur als Gründe, haben unterschiedliche Akteure in unterschiedlichen Situationen für unterschiedliche Handlungen. Es ist nicht wahr, dass ein moralischer Grund zwangsläufig universaler Natur sein muss, wie nicht selten behauptet wurde. Was für mich ein moralischer Grund ist, muss für dich keiner sein. Was heute für dich ein moralischer Grund ist, muss es morgen nicht sein. Der moralische Akteur kann daher kein prinzipientreuer Mensch sein. Denn er versteht gar nicht, was das sein sollen – moralische Prinzipien. Er ist vielmehr ein Mensch, der für moralische Gründe und damit für die Interessen, Anliegen und Verwundbarkeiten anderer Menschen sensibel ist. Der moralische Akteur tut auch nicht seine Pflicht. Denn als moralischer Akteur hat er keine. Er hat vielmehr ein Gespür dafür, was den anderen Menschen wichtig ist, am Herzen liegt, gut tut. Darüber hinaus ist er bei Aristoteles in die Schule gegangen. Er weiß, dass sein Handeln gemäß vermeintlich moralischen Regeln in vielen Fällen auf Dispositionen beruht, die er durch Üben erworben hat. Das moralische Tun trainiert er auch fleißig mit seinen Kindern. So trägt er seinen Teil dazu bei, eine moralische Kultur am Leben zu erhalten. Die Moral ist, wie bereits gesagt, nicht etwas, das wie Damokles‘ Schwert über unseren Häuptern schwebt und uns mit ihren Befehlen oder Verboten traktiert. Die Moral ist auch kein Regelwerk, das unseren Interaktionen zugrunde liegt. Die Moral findet vielmehr in unserer Mitte statt. Oder sie tut es auch nicht. Moral ist ein Stück Kultur, die wie jede Kultur der stän-
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digen und achtsamen Pflege bedarf. Nur so wachsen Menschen heran, die für moralische Gründe, also für die Anliegen ihrer Mitmenschen sensibel sind. Freilich kann man sich eine Welt auch ohne Moral, ohne moralisch sensibilisierte Akteure und damit ohne moralische Kultur denken. Niemand kann uns zwingen, moralisch zu sein. Niemand kann im Namen der Moral gebieten, das Gute zu tun und das Böse zu lassen. Aus ganz analogen Gründen kann man sich ebenso eine Welt ohne Musik, ohne Musikliebhaber und damit ohne Musikkultur denken und sogar gezielt auf so eine Welt hinarbeiten. Das geht durchaus. Aber wer wollte denn ernsthaft in so einer Welt freiwillig leben? Musik ist schön. Moral tut uns gut. 5 Die zurückliegenden Gedanken über moralische Gründe als Bestandteil einer geteilten moralischen Kultur liefern den Hintergrund für die beiden Schlussüberlegungen der vorliegenden Abhandlung. Beide werden zugegebenermaßen etwas skizzenhaft sein. Die vorletzte Überlegung, der dieser Abschnitt gewidmet ist, führt uns ein letztes Mal zum Konflikt zwischen dem Rechtspositivismus und seinen rechtsmoralistischen Kritikern zurück. Man kann sich einer simplen Schlichtung dieses Konflikts annähern, indem man sich vor Auge führt, dass die Frage nach der Natur des (objektiven) Rechts einer politischen Gemeinschaft ambig ist. Diese Doppeldeutigkeit der Frage rührt daher, dass man das Wort ‚Recht‘ in zwei Bedeutungen gebrauchen kann, die ich bisher noch nicht ausdrücklich unterschieden und miteinander verglichen habe. Wo ich bisher vom (objektiven) Recht einer politischen Ordnung gesprochen habe, hatte ich der Sache nach immer ein Rechtssystem im Sinn, sprich ein System präskriptiver Regeln (Rechtsnormen), die sich gemäß der Vorgaben aus dem ersten Teil dieser Abhandlung bestimmen lassen. Aus diesen Vorgaben ergibt sich auf eine natürliche Art und Weise die rechtspositivistische Sicht der Dinge, wie ich sie im zweiten und dritten Abschnitt dieses Kapitels dargelegt habe. Dieser Zusammenhang resultiert vor allem daraus, dass prä-
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skriptive Regeln – gedeutet als Anweisungen – neutral in der Frage sind, wie moralisch, unmoralisch oder moralneutral ihre Inhalte bzw. Gegenstände sind. Man kann die Rede vom objektiven Recht einer politischen Ordnung jedoch auch in einer umfassenderen Bedeutung verstehen. In dieser Verwendung ist das Recht einer politischen Gemeinschaft nicht mit der Summe der Elemente ihres Rechtssystems identisch. Denn das Recht umfasst darüber hinaus auch eine Reihe moralischer Gründe.22 Dabei geht es um solche Gründe, die unter den Autoren und Adressaten der politischen Ordnung weitgehend gemeinsame Anerkennung finden. Es muss sich hierbei nicht unbedingt um ausschlaggebende Gründe handeln, die in allen Konfliktsituationen eine Entscheidung eindeutig determinieren. Die weitgehend gemeinsame Anerkennung, von der ich sprach, erschöpft sich in vielen Fällen in der geteilten Ansicht, dass es sich um moralische Gründe handelt, die in der Diskussion rechtlicher Fragen nicht als unerheblich zurückzuweisen sind. Derlei Gründe sollten bedacht werden. Diese Gründe betreffen zum Beispiel die Fragen, welche Bereiche des zwischenmenschlichen Daseins durch Rechtsregeln organisiert oder besser nicht organisiert sein sollten; ob bestimmte Regelungsvorschläge in die Realität umgesetzt werden sollten; ob bestimmte Regeln geändert oder außer Kraft gesetzt werden sollten; ob ein Regelbruch im Einzelfall dem Regelbrecher voll, gemildert oder gar nicht angelastet werden sollte. Wie diese wenigen Beispiele nur andeuten, kommen in diesem Zusammenhang nahezu alle Formen des Umgangs mit Regeln in Betracht, die wir uns im zweiten Kapitel vor Augen geführt haben. Und insofern diese Umgangsformen allesamt Handlungsweisen sind, kann es oft moralische Gründe geben, die für die Frage von Interesse sind, ob ein Akteur entsprechend handeln sollte oder nicht. Manche dieser Gründe, so der relevante Gedanke, finden unter den Mitgliedern einer Rechtsgemeinschaft weitgehend geteilte Anerkennung. Gewisse Teile der moralischen Kultur und damit Teile der gemeinsamen Geschichte der betreffenden Gesellschaft finden
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in dieser Sicht der Dinge also durchaus Eingang in das Recht dieser Gesellschaft. Ist das objektive Recht einer politischen Gemeinschaft im engeren Sinn mit dem Rechtssystem identisch, kann man mit Blick auf diese umfassendere Deutung des Begriffs von der Rechtskultur der Gemeinschaft sprechen. Diese Rechtskultur umschließt, wie erläutert, einen Teil der moralischen Kultur, nämlich eine Teilmenge der moralischen Gründe.23 Und es ist just dieser Teil der moralischen Kultur, den die positivistische Konzentration auf das Rechtssystem einer Gesellschaft ausklammert. Wäre die rechtliche und damit soziale Realität immer so sauber sortiert, wie es dem Philosophen lieb ist, könnte man exakt zwischen dem Rechtssystem und der umfassenderen Rechtskultur einer Gemeinschaft unterscheiden. Das Rechtssystem bestünde aus den gesatzten und schriftlich fixierten Regeln der politischen Ordnung, die sich stets auf nachvollziehbare Art und Weise auf bestimmte Regelungsakte des (singulären oder kollektiven) Regelautors zurückführen lassen. Eine Darstellung der Rechtskultur käme neben dem Regelsystem darüber hinaus auf eine Reihe moralischer Gründe zu sprechen, die in der Praxis der Regelsetzung, aber auch in der Praxis der Regelakzeptanz, der Regelbefolgung und des richterlichen Urteilens über die Strafbarkeit einer Regelverletzung unter den Mitgliedern der Gemeinschaft weitgehend geteilte Anerkennung finden (oder zumindest gehäuft in Erwägung gezogen werden). Die Realität rechtlicher Ordnungen sieht aber leider anders aus. Denn vieles, was in offiziellen Gesetzestexten realer (singulärer oder kollektiver) Regelautoren zur Sprache kommt, fällt bei näherer Betrachtung weit eher unter das Konzept des moralischen Grundes als unter das der rechtlichen Regel. Insofern versteht man das Beharren der Kritiker einer rechtspositivistisch verengten Sicht der Dinge aus der jetzt eingenommenen Perspektive sehr wohl. Denn wenn man unter dem Recht einer politischen Gemeinschaft nicht nur das System präskriptiver Regeln, sondern primär die praktizierte Rechtskultur dieser
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Gemeinschaft versteht, dann ist es richtig, dass ein Blick auf das Recht fast immer auch moralische Phänomene zu fassen kriegt. Auch wenn die soziale und damit rechtliche Realität nicht so sauber sortiert ist, wie es die philosophisch geklärten Begriffe glauben machen, können wir angesichts der Unterscheidung zwischen dem Rechtssystem und der Rechtskultur einer Gesellschaft doch immerhin Frieden zwischen den Positivisten und ihren Gegnern stiften. Jedenfalls hat keine der beiden Seiten einen vernünftigen Grund, auf ihrer Deutung des Ausdrucks ‚Recht‘ zu beharren. Wie viele Wörter ist auch dieses mehrdeutig. Die Positivisten liegen richtig, insofern sie ausschließlich Regelsysteme ins Auge fassen und sich in ihrer moralaversen Haltung auf eine zutreffende Analyse rechtlicher Regeln stützen. Diese Regeln haben nicht notwendigerweise einen moralischen Inhalt. Die Kritiker des Positivismus liegen richtig, insofern sie praktizierte Rechtskulturen ins Auge fassen und daher sehen, dass die juridische Praxis und der gelebte Umgang der Regeladressaten mit den Rechtsnormen nicht nur ein System geltender Regeln umfasst, sondern oft (wenngleich nicht zwingend) auch einen Bestand moralischer Gründe. Diese Gründe, die zum Teil ihrerseits rechtlich kodifiziert sein können, oft aber auch als ungeschriebene Bestandteile der Rechtstradition einer Gesellschaft existieren, betreffen rechtliche Fragen der verschiedensten Art. Auf einige dieser Fragen, die vornehmlich die verschiedenen Formen des Umgangs mit Rechtsregeln betreffen, wurde oben bereits hingewiesen. Die Schlichtung, die soeben skizziert wurde, verlangt wie nahezu jede Schlichtung von beiden Streitparteien ein bedingtes Einlenken. Ein Befürworter des Rechtspositivismus sollte einsehen, dass das Wort ‚Recht‘ neben der von ihm intendierten Bedeutung auch eine umfassendere und durchaus praxisrelevante Bedeutung hat, in der man damit nicht nur Rechtsregeln und Regelsysteme, sondern auch Teile der moralischen Kultur einer Gemeinschaft bezeichnet. Dafür darf er an seiner moralfreien Bestimmung rechtlicher Regeln und subjektiver Rechte festhalten. Der Kritiker der positivistischen Lehre sollte
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seinerseits einsehen, dass es auf der begrifflichen Ebene mit Kelsens Trennungsthese doch seine Richtigkeit hat. Es liegt keineswegs im Begriff des Rechts, dass immer auch Gründe, die aus unserer Perspektive oder aus der Perspektive der involvierten Akteure moralisch akzeptabel sind, mit Notwendigkeit im Spiel sind. Dafür dürfen die Rechtsmoralisten aber an ihrer zutreffenden Beobachtung festhalten, dass in der rechtlichen und damit sozialen Realität de facto so gut wie immer auch moralische Gründe ins Gewicht fallen, wo es um den Umgang mit rechtlichen Regeln geht. Insofern lässt sich sagen, dass die Rechtskultur einer politischen Gemeinschaft Teile ihrer moralischen Kultur einschließt, ohne die Kernannahmen der Positivisten bezweifeln zu müssen, dass der Begriff des Rechtssystems moralfrei zu bestimmen ist. 6 Auch die Schlussüberlegung dieser Abhandlung knüpft an die Gedanken über moralische Gründe an, die im vierten Abschnitt formuliert worden sind. Diese Überlegung betrifft noch einmal das Verhältnis zwischen dem moralischen und dem rationalen Handeln. Spätestens seit Platon geistert durch die abendländische Philosophie eine Hoffnung. Sie zielt darauf, ein Wunderargument aus der Tasche zu zaubern, das beweist, es sei stets rational, sich moralisch zu verhalten. Gefunden hat dieses Argument bisher jedoch niemand. Das Wunder hat nie stattgefunden. Bestenfalls gelang es einigen Autoren zu zeigen, warum rationale Akteure unter bestimmten Umständen klug daran tun, sich ihren Mitmenschen gegenüber so zu verhalten, als ob sie moralisch seien.24 In Kants Begrifflichkeit gesprochen, handeln diese Menschen nicht aus Pflicht, aber doch immerhin pflichtgemäß. In der von mir bevorzugten Sprache heißt dies, dass diese Menschen unter anderem auch den moralischen Gründen entsprechend handeln. Vielleicht sollte man der Genauigkeit wegen besser sagen, dass diese klugen Akteure aus selbstbezogenen Gründen in bestimmten Situationen dasjenige tun, wofür die
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moralischen Gründe sprechen. So gesehen, handeln diese Menschen der Moral gemäß, ohne selbst moralisch zu sein. Ich denke, die zurückliegenden Überlegungen geben eine recht einfache Erklärung dafür zu erkennen, dass das ersehnte Zauberargument nicht gefunden wurde und, mit Verlaub, nicht zu finden ist. Diese Erklärung beruht auf einer konzeptuellen Wahrheit, vor der man die Augen nicht verschließen sollte. Rationales Handeln, so wie man diesen Begriff gemeinhin versteht, ist ein Handeln, durch das der Akteur seine eigenen (wie gesehen, nicht notwendigerweise egoistischen) Interessen möglichst wirkungsvoll umzusetzen versucht. 25 Das moralische Handeln ist hingegen ein Handeln zugunsten anderer Menschen, besser gesagt, ein Handeln, bei dem der Akteur bereit ist, die Interessen anderer Leute gehörig in Betracht zu ziehen. Gegebenenfalls ist er in einzelnen Situationen sogar bereit, den Interessen anderer Menschen Vorrang vor den eigenen einzuräumen. Natürlich ist es so, dass die Interessen anderer Menschen in konkreten Handlungssituationen häufig nicht mit den eigenen kurz-, mittel- und langfristigen Interessen konfligieren. Kooperation und soziales Leben wären ansonsten auf Dauer nicht möglich. In all diesen Fällen mag folglich kein nennenswerter Konflikt zwischen den moralischen und rationalen Anliegen des betreffenden Akteurs bestehen. Insofern gehen Moral und Vernunft oft gemeinsame Wege. Doch zu glauben, es gäbe eine philosophisch herbeizuschaffende Gewähr dafür, dass es zwischen meinen Interessen und den Interessen anderer Leute niemals zum Konflikt kommen kann, ist abwegig. So harmonisch hätte selbst eine Gottheit die Welt nicht hingekriegt. Oft gehen die Wege der Vernunft und der Moral eben doch weit auseinander. Man mag an dieser Stelle einwenden, das Wesen der Moral bestünde gerade darin, dass sie dem Akteur gebiete, im Konfliktfall den moralischen gegenüber den selbstbezogenen Gründen Vorrang zu gewähren. Doch dieser Einwand verkennt die Komplexität der Lage, die Natur praktischer Gründe und das
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Wesen der Moral, die nichts ist, was gebieten kann. Unsere abendländische Kultur steht seit ihren Anfängen im Spannungsfeld zweier oft konkurrierender Wertsysteme. Wir loben die Vernunft. Und wir loben die Moral. Aber wir müssen sehen, dass wir da zwei Dinge schätzen, die miteinander nicht immer gut können. Denn jeder gerät im normalen Leben zuweilen in solche Situationen, in denen er sich entscheiden muss, ob er den eigenen oder den Interessen anderer Menschen die Vorfahrt gewährt. Es ist nicht zu erkennen, was die Hoffnung auf ein Argument dafür begründen könnte, dass immer dem einen der beiden Wertsysteme der Vorrang gebührt. Wieso sollten immer die moralischen Gründe am schwersten wiegen? Im konkreten Einzelfall muss man sich daher ab und an zwischen dem rationalen und dem moralischen Tun entscheiden.26 Man steht dann vor der Wahl zwischen dem Handeln aus zwei konkurrierenden Mengen von Gründen. Bei dieser Wahl kommt man oft um ein gerüttelt Maß an Dezisionismus nicht herum. Aber weit häufiger noch nehmen unsere Dispositionen hier die Wahl uns ab. Dann hat sich in unserer persönlichen Lebensgeschichte vorab bereits entschieden, für welche Art von Gründen wir sensibler sind. Wie schon einmal an anderer Stelle gesagt, sind die Menschen aufgrund ihrer persönlichen Lebens- und Erziehungsgeschichten in dieser Hinsicht sehr voneinander unterschieden. Den mustergültigen Moralakteur gibt es nicht. Es wäre jedoch verfehlt, das dezisionistische Moment, von dem im zurückliegenden Absatz die Rede war, zu hoch zu bewerten oder in ein allzu dramatisches Licht zu rücken. Denn die Wahl zwischen dem moralischen und dem rationalen Handeln kann in vielen Fällen ganz eindeutig getroffen werden. Die Gründe der einen Menge mögen, anders gesagt, in vielen Situationen deutlich schwerer wiegen als die Gründe der anderen Menge. Geringe rationale, also auf die eigenen Interessen bezogene Vorteile einer Option können große moralische Vorzüge anderer Optionen nicht aufwiegen. Umgekehrt gilt jedoch dasselbe. Nicht jeder moralische Grund wiegt schwer genug,
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um vom Akteur ein selbstloses Opfer zu erwarten. Moralische Gründe sind nicht immer Trumpf. Man sollte sich jedoch klarmachen, dass die Lage hier nicht prinzipiell anders ist als in zwei anderen Arten von Situationen, in denen es nicht um einen Konflikt zwischen einer moralischen und einer rationalen Handlung geht. Beispiele für Fälle der ersten Art liefern solche Entscheidungssituationen, die mit der Moral und moralischen Gründen nichts zu tun haben, insofern sich der Akteur zwischen zwei moralisch neutralen Optionen zu entscheiden hat. Auch in derlei Situationen sprechen die Gründe manchmal eine unklare, oft aber auch eine sehr klare Sprache. Im ersten Fall ist es auch hier so, dass das besagte dezisionistische Moment ins Spiel tritt. Dann ist man Buridans Esel und weiß nicht, wie man sich entscheiden soll. Man fühlt sich nicht selten zerrissen. Und wie man es am Ende auch macht, man ist mit der eigenen Entscheidung eher selten ganz glücklich. Im zweiten Fall liegen die Dinge indes weit klarer. Die Gründe zeigen hier deutlich, wo es langgehen sollte. Dann fällt es nicht schwer, das Bessere zu tun und das Schlechtere zu meiden. Hier ist man in seinem Tun daheim. Situationen der zweiten Art sind gewissermaßen das Gegenstück zu den Fällen, die wir soeben ins Auge gefasst haben. Hier geht es um Entscheidungssituationen, in denen sich der Akteur zwischen rivalisierenden Optionen zu entscheiden hat, die beide durch moralische Gründe ausgezeichnet sind. Philosophen, die die Moral wie ein Rechtssystem als ein Bündel universaler Regeln, Normen oder Prinzipien verstehen, tendieren dazu, derlei Dilemmata für prinzipiell unmöglich zu halten.27 In einer anständig konstruierten Hierarchie moralischer Gebote oder Pflichten kann es nicht angehen, dass die Moral keine klare Sprache spricht. Einige Philosophen wie zum Beispiel Bernard Williams haben in den zurückliegenden Jahren jedoch das Gespür dafür geschärft, dass die Welt dem moralisch sensiblen Akteur nicht so gepflegt und wohlgeordnet entgegentritt, wie Pflichtenethiker oder Utilitaristen dies gern gesehen hätten.28 Denn jeder kann in eine Situation geraten, in denen
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die Menge der moralischen Gründe in konfligierende Richtungen verweisen. Auch dann kann es sein, dass die Bilanz der Gründe kein klares Ergebnis aufweist. Die fiktive Balkenwaage, auf der die moralischen Gründe liegen, schwebt in der Luft und neigt sich auf keiner Seite der Schwerkraft entgegen. Wieder steht man dumm da, wie der Esel vor den beiden Haufen aus Heu. In anderen Situationen liegen die Dinge aber oft anders. Hier sprechen die moralischen Gründe eine klarere Sprache. Dann ist klar, so paradox es auch klingen mag, welches moralische Tun schlechter ist als seine moralischen Alternativen. – So geht es zu im normalen Leben normaler Leute. *** Mehr noch als in den beiden vorangegangen Kapiteln war mir auf diesen abschließenden Seiten daran gelegen, deutlich zu machen, inwiefern aus einer detaillierten Untersuchung scheinbar harmloser Konzepte wie denen der Regel und des Grundes, die dem einen oder anderen vielleicht nicht nur harmlos, sondern mehr noch farblos erscheinen mögen, aufschlussreiche, nicht selten auch unerwartete Folgerungen für große philosophische Probleme zu ziehen sind. Viele dieser Folgerungen habe ich leider nur anreißen oder skizzieren können. Vornehmlich in den letzten Abschnitten dieses Kapitels habe ich oft den dicken, statt den feinen Pinsel gezückt. Darüber hinaus bin ich an vielen Stellen dieses Schlusskapitels eine Verteidigung meiner abschließenden Bemerkungen gegen naheliegende oder auch weniger naheliegende Einwände schuldig geblieben. Ich hoffe, diese Versäumnisse an anderer Stelle in naher Zukunft nachholen zu können. Was ist aus dem Gespenst geworden? Wo ist es geblieben? Es geistert mit Sicherheit auch weiterhin noch über den Globus. Aber dem Leser ergeht es jetzt vielleicht wie mir: Man begegnet ihm nur noch selten. Die Hetzjagd lohnt sich nicht. Vielleicht kann es sogar gelingen, es gänzlich totzuschweigen.
Anmerkungen I Präliminarien 1
Vgl. hierzu die Einleitung und die Beiträge in Iorio & Reisenzein, 2010. 2 Siehe etwa von Wright, 1963, 1-6; Schauer, 1991, 1-3; Hüttemann, 2010. 3 Die Frage, ob es ausnahmslos zutreffende Naturgesetze gibt, ist in der Wissenschaftstheorie umstritten. Dieser Streit ist für die hier relevanten Fragen jedoch belanglos. 4 Vgl. Fara, 2005. 5 Man könnte auf den Gedanken kommen, Erlaubnisregeln als verkappte Verbotsregeln negativen Inhalts zu deuten. Dass ein Akteur Dinge der Art H tun darf, könnte dahingehend paraphrasiert werden, dass es ihm nicht verboten ist, Dinge der Art H zu tun. Wir werden jedoch im 9. Kapitel sehen, warum dieser Gedanke zu kurz greift. 6 Ich weiche im Folgenden von der Terminologie ab, die ich in Iorio, 2010a verwendet habe. 7 Pflichten (bzw. Verpflichtungen) sind angesichts dieser terminologischen Vereinbarung (moralische bzw. juridische) Vorschriften oder Gebote. Aber nicht alle Vorschriften oder Gebote sind Pflichten (bzw. Verpflichtungen). 8 Vorkehrungsregeln im hier intendierten Sinn des Wortes entsprechen im Großen und Ganzen dem, was in der Literatur unter der Bezeichnung konstitutive Regeln firmiert. Siehe hierzu z.B. Rawls, 1955; Searle, 1969, 33-42; 1995, 43-51; Taylor, 1971, 33-36; Raz, 1975, 108-113; Hollis, 1987, 137f. 9 Vgl. Stemmer, 2008, 199-206. 10 Es gibt Typen von Regeln, gegen die man sich nicht vergehen, die man also nicht brechen kann. Ein Beispiel hierfür sind Erlaubnisregeln. Ob man sich gegen Vorkehrungs- und Verfahrensregeln vergehen kann, ist eine nicht einfach zu entscheidende Frage. 11 Siehe Kelsen, 1960.
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Anmerkungen
12 Unter Warnungen sind hier negative Ratschläge zu verstehen, also Ratschläge des Inhalts, bestimmte Dinge nicht zu tun. Der Ausdruck ‚Warnung‘ wird zuweilen auch in der Bedeutung von ‚Drohung‘ gebraucht. Diese Bedeutungskomponente ist im gegebenen Kontext nicht von Belang. 13 Die beiden letzten Beispiele stammen von Siegwart, 2010a, § 2.1. 14 Anders als von Faustregeln spricht man von Daumenregeln zuweilen auch dann, wenn der Gedanke zum Ausdruck kommen soll, dass es sich um eine ungenaue Regel handelt, die dem Akteur nur ungefähr andeutet, wie er sich in der regelspezifischen Situation verhalten sollte. Regeln dieser Art spielen in dieser Abhandlung keine Rolle. 15 Eigentlich haben wir es hier mit der Kombination zweier korrespondierender Faustregeln zu tun. Denn zwei verschiedene Situationstypen werden mit zwei verschiedenen Handlungsweisen verknüpft. 16 Siehe hierzu Goldman, 2002, 13-22. 17 Vgl. Korthals-Beyerlein, 1979; Opp, 2000, 35-64, wo auf verschiedene Verwendungsweisen des Ausdrucks ‚Norm‘ hingewiesen wird. Siehe auch Iorio, 2010b. 18 Aus analogen Gründen ist klar, warum man auch im Fall der Faustregeln zwischen den Regeln und den eventuell bestehenden Regularitäten unterscheiden sollte. 19 Aus analogen Gründen ist klar, warum man auch im Fall der allgemeinen Ratschläge zwischen den Regeln und den eventuell bestehenden Regularitäten unterscheiden sollte. 20 Vgl. hierzu Black, 1962, 100-108; von Wright, 1963, 93f.; Schauer, 1991, 62-64. 21 Vgl. jedoch Ganz, 1971. 22 Alternativ kann man die Regel auch mit dem Regelsatz identifizieren, muss dann aber zwischen Regel und Regelinhalt unterscheiden und ein und demselben Regelinhalt eine Vielzahl von Regeln zuordnen. So verfährt beispielsweise Hoerster, 2006, 37.
II Paradigmen 1 2 3
Siehe z.B. Black, 1962; Ganz, 1971; Brennan & Buchanan, 1985; Twining & Miers, 2008, vor allem das 3. Kapitel; Siegwart, 2010; 2010a. Siehe auch Iorio, 2009. Wären Regeln tatsächlich mit den propositionalen Inhalten der Regelsätze identisch, wie im zurückliegenden Kapitel vorübergehend
Anmerkungen
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angenommen wurde, müssten wir schließen, dass jede Regel immer existiert, da Propositionen keine raum-zeitlich bestimmbaren Entitäten sind. Die Existenz einer Regel hätte, anders gesagt, absolut nichts damit zu tun, ob und wie sich Menschen ihr gegenüber verhalten. Im Anschluss an Ryle, 1949, kann man auch sagen, dass viel daran liegt, ob es dem Sprecher darum geht, Know-how oder Faktenwissen zu vermitteln. In der Literatur wird zuweilen ein starker Begriff des Akzeptierens einer Regel vertreten, dem zufolge die Regelakzeptanz zum Zeitpunkt t die Befolgung der Regel zu späteren Zeitpunkten impliziert. Vgl. etwa Hoerster, 2003, 50ff. Insofern diese Implikation im Fall des hier verwendeten Begriffs der Regelakzeptanz nicht gilt, ist dieser deutlich schwächer. Siehe auch Raz, 1975, 155; Hart, 1982, 265. Gegen die Vorstellung, das Ergreifen einer Maxime sei die Akzeptanz einer Gebotsregel, werde ich mich später wenden. Vgl. Wittgenstein, 1984, PU 219. Siehe etwa Searle, 1969, 12-14; 41f.; Pettit, 2002. Pettit reagiert in dieser Arbeit auf die Wittgensteininterpretation von Kripke, 1982. Der Regelbegriff, der in der von Kripke ausgelösten Diskussion im Spiel ist, ist extrem unklar. Ich vermute, der Großteil der vermeintlichen Rätsel, die hier verhandelt wurden, würde sich in Luft auflösen, sobald man zwischen den unterschiedlichen Umgangsformen differenziert, die Gegenstand dieses Kapitels sind, und die intendierten Regeln in der dreigliedrigen Struktur paraphrasiert, die im nachfolgenden Kapitel erläutert wird. Vgl. auch von Savigny, 1996. Vgl. zum Folgenden Black, 1970; Quine, 1970; Ganz, 1971, 4. Kapitel, und insbesondere Dancy, 2004, 11. Kapitel. Wobei der Aspekt des Lernens durch schlichte Nachahmung nicht unterschätzt werden sollte. Für eine differenzierte Analyse unterschiedlicher Regelarten in der Sprachwissenschaft siehe Thelen, 2010. Auch hier handelt es sich wie im Fall der Faustregel im zurückliegenden Kapitel eigentlich um die Kombination zweier Regeln. Tritt der Fall ein, dass ein Produkt schadhaft ist, soll der Akteur es vom Band nehmen. Tritt der Fall ein, dass das Produkt nicht schadhaft ist, soll der Akteur es auf dem Band lassen. Wir werden diesen Sachverhalt noch häufiger beobachten können. Auch in diesem Fall muss man sich der verbreiteten Vorstellung widersetzen, dass ein Akteur, der keine bewussten Entscheidungen trifft, unbewusst bzw. unbewusste Entscheidungen trifft. Nicht jeder intentionalen Handlung geht eine Entscheidung für diese Handlung
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Anmerkungen
voraus, wie wir im 6. Kapitel noch genauer sehen werden. Vgl. hierzu Rayfield, 1968, 135. 14 Vgl. hierzu Bunge & Wallis, 2008. Leider wird auch in der empirischen Forschung zumeist unzureichend zwischen den unterschiedlichen Formen des Umgangs mit Regeln differenziert.
III Gebot und Anweisung 1 2
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Die Anweisung ist freilich auch insofern singulär, als sie sich nur auf das Handeln eines singulären Adressaten bezieht. Auch Black, 1970, 46, spricht im Vorübergehen von Regeln als generellen Anweisungen (general instructions), führt diesen Punkt aber nicht weiter aus. Vgl. auch Schauer (1991a, 647): „[…] rules [...] are necessarily general rather than particular. What distinguishes a rule from a command is the rule‘s generality, speaking of classes of events and not just this event. There are no rules for particulars.“ Diese Zweiteilung wird transparenter, wenn man sich vorstellt, der Vater fordere seinen Sohn dazu auf, über eine Regel nachzudenken. In dem Fall verweist er sprachlich auf eine Regel und fügt diesem Verweis die Aufforderung hinzu, über die Regel nachzudenken. Es wäre kein unüblicher Sprachgebrauch, auf den Akt des Anweisens ebenfalls durch den Terminus ‚Anweisung‘ zu referieren. In dieser Verwendung des Wortes könnte man auch im Fall eines gescheiterten Akts des Anweisens von der Existenz einer (gescheiterten) Anweisung sprechen. In der hier gebrauchten Begrifflichkeit ist jedoch stets zwischen dem Akt und der aus dem erfolgreichen Akt resultierenden Anweisung zu unterscheiden. Vgl. etwa Stemmer, 2008, 165-173. Findet der Autor mit seinem Anweisungsakt keine Akzeptanz beim Adressaten, existiert in der Erfolgsbedeutung, wie erläutert, weder eine Anweisung noch eine Regel. Wie in der Diskussion des ersten Paradigmas im zurückliegenden Kapitel deutlich wurde, „gibt es“ in einem gewissen Sinn auch Regeln, die nicht aufgestellt, also gerade oder permanent nicht in Kraft bzw. Geltung sind. Zuweilen werden Regeln ja nur vorgeschlagen, diskutiert oder postuliert. Regeln dieser Form entsprechen erwogenen, angedachten oder für die Zukunft beabsichtigten Anweisungen, die momentan noch unausgesprochen sind und gegebenenfalls unausgesprochen bleiben. Siehe z.B. Hoerster, 2006, 48-64; Stemmer, 2008, 182-192. Vgl. auch Alexy, 2005, 31-38; 139-153. Man darf in diesem Zusammen-
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hang den gleichsam sozialpsychologischen Begriff der Regelgeltung nicht mit den Konzepten der Gültigkeit, Rechtmäßigkeit oder Legitimität einer Regel verwechseln. Mit derlei „normativen“ Regeleigenschaften werden wir uns im 9. Kapitel beschäftigen. Siehe hierzu schon Bierling, 1894, 19. Vgl. auch Kelsen, 1960, 219. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Adressaten – z.B. aus Gewohnheit – weiterhin der betreffenden Regel folgen. Wichtig ist, dass sie in dem Fall nicht länger eine Anweisung des Regelautors befolgen. In Wahrheit beruht diese phänomenologische Betrachtung nicht so sehr auf dem Unterschied zwischen singulären und generalisierten Anweisungen. Der springende Punkt kommt vielmehr durch eine Reflexion auf die Zeitspanne zum Vorschein, die zwischen dem Anweisungsakt und der Situation besteht, in der die Anweisung auszuführen ist. Man stelle sich etwa die singuläre Anweisung eines Autors vor, der Adressat solle sich heute in genau einem Jahr wieder am selben Ort einfinden. Mit Blick auf diese Anweisung ist es nicht unplausibel zu sagen, dass sie von heute an für ein Jahr in Geltung ist. Der Adressat steht, bildlich gesprochen, im gesamten Verlauf des Jahres im Bann dieser Anweisung, insofern er gehalten ist, seine Lebenspläne mit der Anweisung in Übereinstimmung zu halten. Unsere Sprache ist in dieser Hinsicht so krumm gewachsen wie eine ungepflegte Hecke. Es gibt zwar das Verb ‚regeln‘. Aber wenn jemand im normalen Sinn dieses Wortes etwas regelt, dann muss sich sein Tun nicht auf eine Vielzahl von Situationen beziehen, wie dies im Fall der Ausdrücke ‚Regel‘ und ‚Regelung‘ erforderlich ist. Analoge Beobachtungen treffen für alle mir bekannten Sprachen zu. Vgl. zur logischen Struktur von Regeln auch von Wright, 1963, vor allem 5. Kapitel; Siegwart, 2010; 2010a. Von Wright und Siegwart unterteilen Regeln in vier Elemente, indem sie einen sogenannten deontischen Operator als eigenständigen Regelbestandteil behandeln. Formal ist diese Vorgehensweise in Ordnung, insofern sie auf einer Strukturidentität aller Arten von Regeln beruht, über die wir noch sprechen werden. Wie jedoch deutlich werden wird, ist diese Sicht aus einem anderen Grund bedenklich, da sie die ontologischen Verschiedenheiten der unterschiedlichen Regelarten verschleiert. In dem Fall muss der Adressat nicht unbedingt durch eine Eigenschaft – etwa in Form einer definitiven Kennzeichnung – zur Sprache gebracht werden. Auf ihn kann im Regelsatz auch durch einen Eigennamen oder ein Pronomen referiert werden. Es gibt auch den Fall, in dem sich eine singuläre Anweisung an eine Vielzahl von Akteuren wendet. Der Satz „Geht jetzt alle nach Hause!“ liefert ein Beispiel. Hier liegt jedoch keine Regel vor, da es sich
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Anmerkungen nicht um eine Anweisung handelt, die sich auf eine Vielzahl von typidentischen Situationen bezieht. – Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie unglücklich es ist, singuläre Anweisungen als Individualnormen zu charakterisieren. Man verstellt sich so das Verständnis des Regel- und des Normbegriffs, weil man nicht realisiert, dass just der generalisierende Aspekt das definierende Merkmal aller Arten von Regeln und Normen ist. Über sogenannte Individualnormen siehe etwa Hoerster, 2003, 43; Alexy, 1985, 73. So auch Hare, 1952, 50-55; Dworkin, 1977, 25. Diese beiden Bestandteile einer konditional formulierten Regel werden zuweilen auch als Protasis und Apodosis bezeichnet. Für einen logisch relevanten Unterschied siehe von Kutschera, 1973, 24-27. Das Aufstellen einer Regel lässt sich auch als perlokutionärer Akt charakterisieren, also als einen Akt, der die intendierte Konsequenz hat, dass die Adressaten die (generalisierte) Anweisung akzeptieren, anwenden und befolgen. Vgl. hierzu Austin, 1962, 99-132. Wie in der Sprechakttheorie schon seit ihrer Begründung durch Austin üblich, sollte man den Ausdruck ‚Sprechakt‘ großzügig deuten. Auch wenn ein Spielautor eine Regel wortlos zu Papier bringt, führt er einen Sprechakt aus. Wenn der Bundestagspräsident das Ergebnis einer Abstimmung verkündet und feststellt, dass das Gesetz damit angenommen ist, dann führt er gleichsam im Namen der Parlamentarier einen stellvertretenden Sprechakt aus. Es gibt mindestens zwei Gruppen von Ausnahmen zu dieser Regel: Schriftliche Kommunikation einerseits. Andererseits Anweisungen und Befehle, die im Rahmen einer Kommandohierarchie durch Dritte übermittelt werden. Siehe Rescher, 1966, 3. Kapitel; Hamblin, 1987. Vgl. Hart, 1961, 21f. Auch im Fall von Regeln gibt es das Phänomen des anonymen Autors. Darauf komme ich im übernächsten Kapitel zu sprechen. Wir kommen auf diese Zusammenhänge im 8. Kapitel detaillierter zu sprechen. Siehe hierzu etwa Hoerster, 2006, 36-47, wo zwischen einer normdeskriptiven und einer normexpressiven Verwendung der betreffenden Aussagesätze unterschieden wird. Der Sache nach findet man diesen Unterschied auch schon bei von Wright, 1963, 100f.; 104f. Inwiefern der Satz „Sie sollen pünktlich sein“ den Inhalt des Imperativs „Seid pünktlich!“ zum Ausdruck bringt, wird im 8. Kapitel deutlich werden.
Anmerkungen
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27 Vgl. von Wright, 1963, 93f., der in Anlehnung an Frege zwischen dem Sinn und der Bedeutung von Regelsätzen unterscheidet. Dieser Unterscheidung gemäß ist die Proposition der Sinn und die Tatsache die Bedeutung des Regelsatzes. In diese Terminologie gefasst, identifiziere ich die Regel mit der Bedeutung des Regelsatzes. 28 Tatsächlich werden wir beobachten können, dass sich alle Arten von Regeln durch (gegebenenfalls doppelt) generalisierte Propositionen auszeichnen. Diese Inhaltsstruktur ist, anders gesagt, das gemeinsame Moment aller Regelarten, das erklärt, inwiefern sie trotz ihrer Verschiedenheiten allesamt Regeln sind.
IV Regeln 1
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Dieser Punkt wird in der Literatur nicht selten übersehen. Was für Anweisungen gilt, gilt z.B. auch für Befehle. Auch in ihrem Fall gibt es nicht nur die Möglichkeit, dem Befehl zu gehorchen oder ihm zuwiderzuhandeln. Auch hier besteht die Option, den Befehl als Befehl zurückzuweisen. Vgl. hierzu etwa Dummett, 1973, 340ff. Diese Sicht der Dinge erspart es uns, dem Regelanwender ein deduktiv-syllogistisches Räsonnement nach diesem Muster unterstellen zu müssen: „In allen Situationen vom Typ S soll ich eine Handlung vom Typ H ausführen. – Ich bin jetzt in einer Situation vom Typ S. – Also soll ich jetzt eine Handlung vom Typ H ausführen.“ Eine derartige Folgerung mag rekonstruktiv brauchbar sein. Phänomenologisch betrachtet, ist sie unrealistisch. Ähnlich kritisch Dancy, 2004, 101-108. Womit nicht ausgeschlossen sein soll, dass sich nicht auch im Tierreich rudimentäre Formen des Anweisens und Befolgens nachweisen lassen, wobei das Anweisen in Ermanglung einer Sprache auf gestischen oder akustischen Signalen beruhen dürfte. Im Gegenteil. Es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn die Kunst des Regelumgangs nur uns Menschen in den Schoss gefallen wäre. – Vgl. hierzu Niedenzu, 2010. Vgl. Black, 1970, 44f. Man kann auch im Fall solcher Sprechakte zwischen erfolgreichen und erfolglosen Exemplaren unterscheiden. Da dieser Unterschied jedoch im Fall der Erlaubnisregeln eine nur untergeordnete Rolle spielt, gehe ich auf ihn nicht näher ein. Im Folgenden sind durchgängig erfolgreiche Versuche der Erlaubnisregelsetzung intendiert.
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Anmerkungen Es ist in allen mir bekannten Sprachen so, dass das Verb ‚können‘ unter anderem als Synonym für ‚dürfen‘ verwendet werden kann. Freilich hat ‚können‘ darüber hinaus auch noch andere Verwendungen. Diese Befugnis ist zugleich insofern singulär, als sie sich an einen singulären Adressaten richtet. Den hier noch metaphorischen Charakter der Rede von der Befugniszuweisung als Fall des Anweisens werden wir im 9. Kapitel wieder abstreifen können. Dort wird sich zeigen, inwiefern die Zuweisung einer Befugnis immer mit dem Erlass einer Gebotsregel korreliert ist. Dieses Zusammenfallen von Befugniszuweisung und Gebotsanweisung verleiht dem Tun des Regelautors den notwendig präskriptiven Charakter. Insofern vergreift sich das Sprichwort im Ton, das im 1. Kapitel als Beispiel einer konsultativen Regel angeführt wurde. Es müsste lauten: „Eichen solltest du weichen, Buchen solltest du suchen.“ So etwa Tugendhat, 1993, 36. Ähnlich Seumas Miller, 1992, wo von Absichten zweiter Ordnung die Rede ist. Zumeist, aber nicht immer. Wenn eine Gruppe von Freunden oder die Mitglieder eines Rudervereins übereinkommen, sich einmal wöchentlich im Bootshaus zu treffen, können wir von einer Faustregel als kollektiver Absicht sprechen. Zum Konzept der kollektiven Absicht vgl. die Beiträge in Schmidt & Schweikard, 2009. Vgl. hierzu das Beispiel aus dem 2. Kapitel, in dem ich mir die Regel setzte, dreimal wöchentlich durch den Stadtpark zu joggen. Wie man jetzt sieht, handelt es sich nicht um eine präskriptive Regel, sondern um eine Faustregel, sprich generalisierte Absicht. Dieser Umstand erklärt, warum sich Akteure durch solche Maximen nicht selbst verpflichten, also einem selbst auferlegten Gebot unterstellen können. Vgl. hierzu meine Diskussion der Theorie von McClennen in Iorio, 2009. Siehe auch Schelling, 1985; Willaschek, 1992; Elster, 2002, die die Neigung zeitgenössischer Autoren dokumentieren, in der Tradition Kants selbst auferlegte Maximen mit präskriptiven Regeln zu verwechseln. Vgl. hierzu Kant, 1785, 438, wo klar die Vorstellung zum Ausdruck kommt, selbst auferlegte Maximen hätten einen verpflichtenden Charakter und seien insofern präskriptiver Natur. Vgl. hierzu Bittner, 2005, 3. Kapitel, wo am Beispiel Kants die Aporien aufgezeigt werden, in die diese Sicht der Dinge führt.
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15 Selbst diese originäre Akzeptanz ist nicht zwingend. Ihre Funktion kann auch durch die sukzessiv stattfindende Etablierung einer Verhaltenskonvention erfüllt werden. 16 Ich ignoriere hier der Übersichtlichkeit halber die Möglichkeit, dass Adressaten eine Anweisung zwar vorübergehend akzeptieren, aber aus irgendwelchen Gründen bald wieder davon ablassen, sich an die Regel zu halten. Vielen Regeln ist nur ein kurzes Dasein beschert. 17 Ich wende mich mit dieser Überlegung gegen das Konzept des ontologisch Subjektiven, das Searle, 1995, entwickelt hat und jüngst etwa von Stemmer, 2008, aufgegriffen wurde. Vgl. hierzu Iorio, 2010c. 18 Siehe etwa Tugendhat, 1993; Stemmer, 2000. Vgl. aber auch schon Mackie, 1977. 19 Von Wright, 1963, 10f. 20 Kelsen, 1960.
V Der Fall Hart gegen Austin 1
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Tatsächlich spricht Austin nicht von generellen oder generalisierten Befehlen, sondern unterscheidet zwischen Befehlen, die für seine Begriffe per se generell sind, von partikularen Befehlen (occasional or particular commands), die sich auf Einzelsituationen beziehen und strukturell dem entsprechen, was ich eine singuläre Anweisung nenne. Vgl. Austin, 1955, 18-20. Faktisch versteht auch Austin Gesetze als Regeln, insofern er die Ausdrücke ‚law‘ und ‚rule‘ synonym gebraucht. Der relevante Punkt besteht darin, dass Austin Gesetze nicht als Regel charakterisiert, sondern Gesetze bzw. Regeln unter den Begriff des Befehls subsumiert. Siehe Austin, 1955, 10-18. Erneut sei an dieser Stelle in Aussicht gestellt, dass wir den metaphorischen Charakter der Rede von der Befugniszuweisung als Anweisung im vorletzten Kapitel abstreifen werden. Genauer müsste es heißen, dass man keine Testamente dieser Art ablegen könnte. Es könnte andere Arten von Testamenten geben. Vgl. hierzu Iorio, 2008a, insbesondere 519-521. Siehe Hart, 1961, 43-48. Ich ignoriere die Möglichkeit, moralische Regeln als Anweisungen des christlichen Gottes oder einer anderen Gottheit aufzufassen. Die Genese derartiger Konventionen wird derzeit entweder rationalitätstheoretisch unter der Annahme nutzenmaximierender Individualakteure oder im Rahmen der evolutionären Spieltheorie erklärt,
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Anmerkungen die ohne die Annahme individueller Nutzenmaximierer auskommt. Die Literatur in beiden Forschungsfeldern ist mittlerweile unüberschaubar. Für einen Überblick siehe etwa Anderson, 2000. Paradigmatisch für den ersten Ansatz ist Lewis, 1969. Gute Beispiele für den zweiten Ansatz sind Axelrod, 1984; Skyrms, 1996; 2004. Gerade im Kontext sozialer Konventionen wird der grundlegende Unterschied zwischen präskriptiven und deskriptiven Regeln häufig übersehen, wodurch nicht selten ein verzerrtes Bild der Problemlage gezeichnet wird. Siehe etwa Conte & Castelfranchi, 1999. Siehe Hart, 1961, 54-56. Hart übersieht in diesem Zusammenhang, dass auch die Sanktionspraktiken Verhaltensregularitäten aufweisen, die seiner Begrifflichkeit zufolge soziale Regeln sind. Hätte er dies nicht übersehen, wäre ihm ins Auge gesprungen, dass seine Auffassung sozialer Regeln in den infiniten Regress führt. Ähnlich hat auch schon Dworkin, 1977, 50ff., gegen Hart argumentiert. Vgl. Wright, 1963, 8f.; Coleman, 1991. Vgl. zum Folgenden Baurmann, 2010. Vgl. Hume, 1748, insbesondere Sektion V, Teil II. Vgl. etwa Popitz, 1980. Zur hier ins Auge gefassten Klasse sozialer Regeln gehören auch die Regeln tradierter Spiele, deren Urheber längst niemand mehr kennt. Auch hier haben wir es in erster Linie mit eingespielten Verhaltensregularitäten zu tun, mit Blick auf die man präskriptive Regeln, darunter auch Sanktionsregeln, formulieren kann, um etwa Novizen in die Spielpraxis einzuführen. Anschaulich beschreibt Hare (1952, 72-78) solche Veränderungen. Vgl. Hart, 1961, vornehmlich das 4. Kapitel. Inwiefern diese Verfassungsregeln genauer betrachtet unter das Konzept der konsultativen Regel fallen, da sie als generalisierte Absichten zu deuten sind, geht aus Iorio 2010d hervor. Diese Arbeit knüpft an Überlegungen aus dem 9. Kapitel der vorliegenden Abhandlung an. Auf eine kleine, aber entscheidende Korrektur dieser Formulierung komme ich gleich zu sprechen. Siehe hierzu und für die weiteren Überlegungen Bittner, 1980. Wir haben im 3. Kapitel gesehen, dass es zwei Möglichkeiten gibt, Regeln konditional zu formulieren. Der zweiten Möglichkeit zufolge würde es lauten: „Führe, wenn du in eine Situation vom Typ S gerätst, eine Handlung vom Typ H aus!“ Dieser Anschein der Unbedingtheit wird vor allem in moralischen Kontexten oft noch dadurch verstärkt, dass ein kategorischer Impe-
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rativ an alle Menschen adressiert ist und die Angabe des Adressatenkreises insofern überflüssig zu sein scheint. Jeder, der den Imperativ vernimmt oder auch nur vernehmen kann, ist sein Adressat. Streng genommen, hat aber auch ein derart universeller Imperativ eine Akteursklausel und ist insofern bedingt. 25 Wie wir inzwischen wissen, könnte der Autor diesen Satz dazu verwenden, um die betreffende Regel aufzustellen. In dem Fall würde der Satz als sekundärer Imperativ fungieren, der nur dem grammatischen Anschein nach assertorisch ist. Für die Situation, die im Haupttext ins Auge gefasst wird, ist dieser Punkt aber unerheblich.
VI Gründe 1
Siehe z.B. Black, 1970, 48; Raz, 1975, 58-84; Moore, 1989, 896; Schauer, 1991a, 646; Baurmann, 2010, 166. 2 Ohne für diesen Standpunkt zu argumentieren, gehe ich davon aus, dass die Monographien von Ryle, 1949, und Anscombe, 1957, den Beginn einer eigenständigen Handlungstheorie markieren. 3 Für einen Überblick siehe Stoecker, 2002. 4 Vgl. Iorio, 2005. 5 Tatsächlich trifft der Terminus ‚psychologistisch‘ nur bedingt zu. Denn unter den Vertretern dieses Standpunkts herrscht Uneinigkeit in der Frage, ob die psychischen Glaubens- bzw. Wunschzustände oder die propositionalen Inhalte dieser Zustände die Gründe sind. Diese Inhalte, so kann man annehmen, sind nichts Psychisches. Da dieser Unterschied jedoch für meine Belange nicht von Bedeutung ist, fasse ich beide Varianten der Einfachheit halber zusammen. 6 Als instrumentell gelten die betreffenden Meinungen, weil sie Meinungen darüber sind, welche Handlungsweise ein geeignetes Mittel zum intendierten Zweck ist. 7 Vgl. Aristoteles, De Motu Animalium, 701a 10-20; Nikomachische Ethik, 1113a 10-12. Einen Einblick in diese Thematik verschaffen z.B. Hempel & Oppenheim, 1948, Teil I, Abschnitt 4; Davidson, 1963; Goldman, 1976, 3. Kapitel; Beckermann, 1977; Nussbaum, 1978; Audi, 1986; Kim, 1996, 8. 8 Siehe z.B. von Wright, 1981; Iorio, 1998, 6. Kapitel; 1999; Stoutland, 1998; 2001; Dancy, 2000; Bittner, 2005. 9 Siehe vor allem Smith, 1994, 5. Kapitel. 10 Siehe etwa Alvarez, 2008; 2009.
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11 Ähnlich argumentieren auch Williams, 1995, 38f.; Stoutland, 2001, 169-172; Bittner, 2005, 147. 12 Womit keineswegs gesagt sein soll, dass es nur die beiden Entscheidungsstrukturen gibt, auf die ich im Nachfolgenden zu sprechen komme. Ich ignoriere z.B. Fälle, in denen ein Akteur sich aus Gründen dafür entscheidet, bestimmte Dinge immer auf eine bestimmte Weise zu tun. Auch Situationen, in denen ein Akteur aus einem Grund zuerst das eine, dann das andere tut, also über die Reihenfolge seiner Handlungen entscheidet, werden nicht eigens thematisiert. 13 Insofern Unterlassungen dieser Art Dinge sind, für die man sich entscheiden kann, liegt es nahe, auch sie unter einen umfassenden Begriff der intentionalen Handlung zu subsumieren. Diese Ansicht ist aber umstritten. Vgl. z.B. Birnbacher, 1995, der das Konzept der Unterlassung als Kontrastbegriff zum Handlungskonzept behandelt. 14 Ich revidiere an diesem Punkt vieles, aber nicht alles, was ich in früheren Publikationen über Gründe behauptet habe, beziehe aber in jedem Fall eine neue Grundposition. 15 Oft besteht der Nachteil einer Option lediglich darin, dass sie nicht den Vorteil hat, der für ihre Alternative(n) spricht. 16 Davidson, 1963, 3. Übersetzung und Hervorhebung von mir. 17 Vgl. Hare,1952, 56ff., der ebenfalls die Rolle der Handlungskonsequenzen beim Entscheiden hervorhebt. 18 Siehe z.B. Wilson, 1980; 1997; Sehon, 1994. Vgl. auch Horn & Löhrer, 2010. 19 Nikomachische Ethik, 1097 a23. 20 Zum Verhältnis zwischen Gründen und Erwägungen siehe Darwall, 1983, insbesondere das 1. Kapitel. 21 Es müssen nicht notwendigerweise die Wünsche und Interessen des Handelnden selbst sein. Wie wir im 10. Kapitel sehen werden, übernehmen im Fall moralischer Gründe die Wünsche und Interessen anderer Menschen diese Funktion. 22 Ähnlich Stoutland, 2001, 103-105; Bittner, 2005, 7. Kapitel. 23 Siehe hierzu Dretske, 1988; Dennett, 1991. 24 Viele Tierarten erfüllen diese notwendige Bedingung gänzlich oder doch zumindest ansatzweise. Wir sollten uns an den Gedanken gewöhnen, dass wir nicht die einzigen Akteure auf diesem Planeten sind. Ähnlich Bittner, 2005, 196-198. Vgl. Perler & Wild, 2005. 25 Vgl. z.B. Ryle, 1949; Melden, 1961. Weitere Literatur nennt Davidson, 1963, in seiner ersten Fußnote. 26 Im engen Sinn des Wortes hat man es mit einer Kausalerklärung genau dann zu tun, wenn eine Ursache des Explanandum zur Sprache kommt. Siehe hierzu Lewis, 1986, 217. Es gibt auch Kausaler-
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klärungen in einem umfassenderen Sinn des Wortes, in der nicht notwendigerweise Ursachen, sondern auch kausal relevante Nebenbedingungen als Erklärungsfaktoren angeführt werden können. Wahrscheinlich fällt jede Erklärung eines raum-zeitlich lokalisierbaren Geschehnisses, also auch jede Handlungserklärung, unter diesen umfassenden Begriff der Kausalerklärung. Vgl. hierzu Stoecker, 1993. Bittner, 2005, 96. Die englische Sprache leistet sich eine Unterscheidung, die uns nicht zur Verfügung steht. Neben Gründen im engeren Sinn (reasons), gibt es dort auch Gründe (grounds) im umfassenderen, explanatorischen Sinn des Wortes. Wieder stehen wir vor einem Loch in unserer Sprache. Siehe Dancy, 2004, 38-40. In einem anderen Beispiel geht Dancy davon aus, die Tatsache, etwas gefragt worden zu sein, sei ein Grund dafür, die Frage zu beantworten. Womit weder gesagt ist, dass alle theoretischen Gründe praktische sind, noch dass die entwickelte Auffassung von Handlungsgründen ohne Weiteres auf theoretische Gründe übertragbar ist. Gründe, die für Meinungen sprechen, sind in aller Regel keine Vorzüge der betreffenden Meinungen. Der einzige Vorzug, den Meinungen haben können, ist ihr Wahrsein. Das Wahrsein einer Meinung ist zwar durchaus ein guter Grund für die Meinung. Aber aus naheliegenden Gründen steht dieser Grund dem Meinenden sozusagen nicht zur Verfügung. Er muss vom Zutreffen seiner Meinung aus anderen Gründen als ihrer Wahrheit überzeugt sein. Man muss unter Naturalismus nicht den derzeit modischen Irrsinn verstehen, dass man die Welt nur begriffen hat, wenn man sie in den Ausdrücken der Naturwissenschaften beschreiben und erklären kann, weswegen nicht-naturwissenschaftliche oder mutmaßlich normative Begriffe erst „naturalisiert“ werden müssen. Man kann unter Naturalismus die These verstehen, dass es keine prinzipiellen, sondern nur graduelle Unterschiede zwischen menschlichen und anderen Organismen gibt. Wie bereits angedeutet, erscheint es mir evident, dass höher entwickelte Tiere handeln. Mag sein, dass sie nur zu derart spontanem Handeln befähigt sind, weil ihnen die kognitiven Kapazitäten für Überlegungs- und Entscheidungshandeln fehlen. Auf diesem Niveau haben unsere Vorfahren und hat jeder von uns als Kleinkind auch angefangen.
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Wie erläutert, wenden die Novizen die Regel an, um sich die betreffenden Verhaltensdispositionen anzutrainieren. Im Laufe der Zeit werden sie zu Befolgern der Regel und gehen nach Abschluss des Lernprozesses dazu über, der Regel zu folgen. Soweit ich sehe, kommen Regeln aller Art im Rahmen des ersten Paradigmas auch als nicht-primäre Gründe nicht in Betracht. So auch von Wright, 1963, 118f. Vgl. hierzu Lockes Unterfangen, 1982, die Wünsche des Akteurs auf sein Haben von Gründen zurückzuführen. Vgl. Hart, 1961, 44-48. Die Tatsache, dass mehr Geld in die Staatskasse gelangt, muss nicht der primäre Grund für das Agieren aller Politiker sein. Von Fall zu Fall muss man auf noch fernere Folgen der betreffenden Handlungen ausweichen und etwa die Tatsache, dass mit den erhöhten Steuereinnahmen diese oder jene politische Maßnahme ergriffen werden können, als den Grund einiger Parlamentarier für ihren Anweisungsakt erachten. Im Einzelfall kann auch eine noch weiter entfernte Folge als primärer Grund fungieren. So kann der Grund für einen legislativen Akt eines Politikers die erwartbare Fernwirkung sein, am Ende der Legislaturperiode erneut gewählt zu werden. Diese Überlegung weist im Übrigen darauf hin, dass ein und dieselbe Handlung natürlich mehrere primäre Gründe haben kann. Wie im Fall der Politiker mag auch hier der primäre Grund des Vorgesetzten in einer anderen Fernwirkung seiner Anweisung liegen. Vielleicht winkt ihm dadurch, dass die Kundschaft zufrieden ist, eine Gehaltserhöhung. Vor allem Raz, 1975, hat diese unzutreffende Sicht der Dinge prominent gemacht. Raz, 1979, würde statt von einem Vertrauens- von einem Autoritätsverhältnis zwischen dem Arzt und mir sprechen. Aus Gründen, die im Rahmen dieser Abhandlung nicht diskutiert werden können, ziehe ich das Konzept des Vertrauens dem der Autorität vor, das insbesondere in der angelsächsischen Literatur zur Rechtsphilosophie diskutiert wird. Raz, 1986, spricht in diesem Kontext davon, dass die Adressaten politischer Anweisungen den Autoren Autorität einräumen und sich insofern häufig aus moralischen Gründen dazu verpflichtet fühlen, folgsam zu sein. Mir erscheint diese Moralisierung politischer Sachverhalte, für die man bei Raz keine Argumente findet, unplausibel.
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Über eine vermeintliche sittliche Pflicht zum Rechtsgehorsam siehe auch Kriele, 1979. Da weder Austin noch, an Austin anschließend, Hart zwischen dem Akzeptieren und dem Anwenden bzw. Befolgen von Regeln unterscheiden, bleibt bei beiden Autoren notorisch unklar, worauf sich ihr Konzept des Gehorsams bezieht. Diese Darstellung zeigt, dass sich auch diese Regel wieder als Kombination zweier (Teil-)Regeln darstellen lässt. Auch der Umstand, dass hier zwei Gründe zum Vorschein kommen, belegt die Beobachtung, dass die Regel als Kombination zweier (Teil-)Regeln gedeutet werden sollte. Insofern der Verweis auf die Regel in bestimmten Kontexten als Erklärung für das Tun des Regelanwenders akzeptabel ist und verlässlich auf einen Vorzug seiner Handlung hindeutet, kann man die Regel auch in derlei Fällen als nicht-primären (Erklärungs-)Grund erachten. Der Regelsatz muss daher nicht unbedingt den Grund explizit bezeichnen. Es reicht hin, wenn der Autor durch den Regelsatz die Existenzbehauptung aufstellt, dass in Situationen der Art S für den Adressaten ein Grund für Handlungen der Art H vorliegt. Die Autoren von Gebotsregeln, die Gründe mit Handlungen verknüpfen, erinnern nicht von ungefähr an die Autoren von Vorkehrungs- bzw. Verfahrensregeln, die durch ein ähnliches Verknüpfen von Mitteln und Zwecken anankastische Tatsachen schaffen. Vgl. Popper, 1934; Hempel, 1965. Siehe hierzu Grünbaum & Salmon, 1988. Einblick in diese Entwicklung verschaffen Stegmüller, 1983; Salmon, 1990. Auch die handlungserklärende Disposition kann man als nichtprimären, also als Erklärungsgrund ausweisen, falls sie auf einen Vorzug der durch sie erklärten Handlung hindeutet oder zumindest die Annahme plausibel macht, dass es einen derartigen Vorzug in den Augen des Akteurs gibt. Aber der Akteur hat freilich nicht seine Disposition als Handlungsrund im Auge, aus dem er handelt. Er handelt nicht um dieser Disposition willen. Ein ähnlicher Wunsch übergeordneter Art prägt das Konzept der demokratischen Gesinnung. Der überzeugte Demokrat hat den übergeordneten Wunsch, allen ordnungsgemäß zustande gekommenen Gesetzen seiner politischen Gemeinschaft Folge zu leisten. Das tut er auch dann, wenn ein konkretes Gesetz im Einzelfall ihm persönlich nicht in den Kram passt. – Ähnliche Überlegungen ließen sich über das Konzept der Loyalität anstellen.
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21 Wie das Wort ‚weil‘ signalisiert, fungiert die Regel in solchen Wendungen erneut als reiner Erklärungs- bzw. nicht-primärer Grund. Ich erspare mir weitere Hinweise auf Regeln als nicht-primäre Gründe im Rest des Kapitels und vertraue darauf, dass der Leser inzwischen für das Verhältnis zwischen primären und nicht-primären Gründen hinreichend sensibilisiert ist. 22 An der stillschweigend vorgenommenen Vereinfachung, dass er nicht auch solche Gründe sieht, die ich nicht sehe, hängt nichts. Sieht er solche Gründe, dann ähnelt diese Situation dem anderen Fall, in dem ich selbst keine Gründe sehe. 23 Natürlich kann er es tun. „Ich empfehle dir, aus diesen Gründen jenes zu tun“ ist keine unübliche Satzstruktur. 24 Ist man für den Unterschied zwischen dem indikativischen und dem konjunktivischen Gebrauch des Verbs ‚sollen‘ erst einmal sensibilisiert, fällt auf, dass das englische ‚ought to‘ fast immer in Kontexten verwendet wird, in denen es für das konjunktivische ‚sollten‘ des Ratschlags steht, aber von seinen Verwendern häufig irrtümlich für das ‚sollen‘ (‚shall to‘) einer Anweisung gehalten wird. Schön zu beobachten etwa bei Hare, 1952, 155-162. Dworkin, 1977, 48f. zeigt sich in dieser Hinsicht für die eigene Sprache sensibler.
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In etwas anderer Begrifflichkeit hat auch Dworkin, 1977, 77f., auf diesen wichtigen Punkt aufmerksam gemacht. Insofern Gebotsregeln im zurückliegenden Kapitel in bestimmten Kontexten als nicht-primäre Gründe akzeptabel erschienen, können auch singuläre Anweisungen als nicht-primäre Gründe akzeptiert werden. Wichtig ist dann jedoch der Umstand, dass die Vorstellung unsinnig ist, man könne primäre Gründe gegen nicht-primäre Gründe abwägen. Primäre Gründe können nur gegen primäre Gründe abgewogen werden, auf die gegebenenfalls nicht-primäre Gründe hindeuten. Auf scheinbare Ausnahmen von dieser Regel komme ich weiter unten zu sprechen. Insofern man den S-Satz als eine Folge der betreffenden Anweisung deuten kann, widerlegt dieser Tatbestand das Dogma, aus einem Sein sei kein Sollen zu folgern. In den Kontexten, die wir uns gerade vor Augen führen, sind solche Folgerungen ganz problemlos zu ziehen. Der Grund hierfür wird weiter unten deutlich werden. Er be-
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steht darin, dass das Sollen selbst faktischer Natur ist. Vgl. hierzu auch Searle, 1964. Siehe zu diesen ersten vier Eigenschaften Stemmer, 2000, 39-53. Von ihm habe ich auch die Terminologie übernommen. – Stemmer betont zu Recht, dass sich diese Beobachtungen nur auf die Verwendung von ‚sollen‘ in praktischen Kontexten beziehen. Es gibt eine Verwendung dieses Verbs in theoretischen Kontexten, die nicht der Verwendung in S-Sätzen entspricht. Beispiele sind Sätze wie „Er soll ein reicher Mann sein“ oder „Morgen soll es regnen.“ Hier signalisiert der Sprecher durch das ‚sollen‘, dass er auf die Auskunft anderer Personen rekurriert, die er für verlässlich hält. „Er soll ein reicher Mann sein“ bedeutet folglich so viel wie „Ich habe aus vertrauenswürdiger Quelle gehört, dass er ein reicher Mann ist.“ Es ist nicht notwendig, dass die primäre Anweisung von einer anderen Person gegeben wurde. Der Vater hätte auch im mahnenden Ton selbst widerholen können, dass das Kind das Zimmer aufräumen soll. Es ist kein Zufall, dass die Gebote im hebräischen Original und in vielen Übersetzungen nicht als assertorische S-Sätze, sondern im imperativischen Modus formuliert sind. Diesen Zusammenhang hat Hoerster, 2006, 40, mit Blick auf generalisierte Anweisungen, also Gebotsregeln, ebenfalls herausgestellt. Wie im 4. Kapitel zu sehen war, unterscheiden sich Gebote und Verbote von Erlaubnissen und anderen Anweisungen an diesem Punkt. Imperative dienen nur dazu, Ge- und Verbote aufzustellen. Anhand des allgemeinen Regelungsschemas kann man den Gebrauch von Imperativen jedoch wie erfordert erweitern. Vgl. Moore, 1903, 127f.; Hare, 1952, 173; Gethmann, 2008, 142. Ähnlich Bittner, 2005, 172. Siehe hierzu Hare, 1952, 183-187. Aus Gründen, die später deutlich werden, könnte er auch konjunktivisch formulieren: „Ich sollte eher dies als jenes tun.“ Soweit ich sehe, handelt es sich vornehmlich um eine Eigenwilligkeit der deutschen Sprache. Das Paradox vom Anfang des Kapitels lässt sich etwa im Englischen nicht ohne Weiteres reproduzieren. Diese zweite Verwendungsweise des Hilfsverbs ist analog auch in theoretischen Kontexten nachweisbar. „Soll ich p glauben?“ lässt sich wie folgt paraphrasieren: „Ist es angesichts der mir bekannten Gründe besser, p zu glauben oder dies nicht zu tun?“ Leider habe ich keine vollkommen zufriedenstellende Erklärung der Anomalie, dass sich das so verwendete ‚sollen‘ in der ersten Person (Singular und Plural) anders verhält als in der zweiten und dritten
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Anmerkungen Person. Wer um Rat bittet, also fragt, was er nach Meinung der befragten Person tun sollte, verwendet in der Regel nicht den Konjunktiv. Man fragt: „Was soll ich tun?“ und nicht: „Was sollte ich tun?“ Ein Erklärungsansatz liegt vermutlich darin, dass man sich selbst keinen Rat geben und sich daher auch nicht selbst um einen Rat bitten kann. Um diesem Sachverhalt Rechnung zu tragen, weicht man auf eine indikativische Verwendung des Verbs aus, die irreführenderweise an seine Verwendung in S-Sätzen denken lässt. Vgl. hierzu die Fußnote 13. In dieser Verwendung kann der Mann seine getroffene Entscheidung konjunktivisch formulieren, wenn er zu dem Entschluss gelangt, dass er dieses und nicht jenes tun sollte. Es gibt zwar auch den Sprachgebrauch, dem zufolge das Evaluative im Normativen enthalten ist. Es empfiehlt sich jedoch, evaluative und normative Momente zu trennen, um den Begriff der Normativität nicht noch mehr zu strapazieren, als dies in derzeitigen Debatten ohnehin schon oft genug der Fall ist. Vgl. hierzu Lyons, 1977, 417f. Vgl. hierzu insbesondere Korsgaard, 1996; 1997; Broome, 1999; Stemmer, 2008, § 6. Siehe hierzu und für das Nachfolgende auch Bittner, 2005, 163174; 204-206. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1094a, formuliert diesen Tatbestand bekanntlich dahingehend, dass der Akteur immer nach dem Guten bzw. dem Glück (Eudaimonia) strebt. Vgl. dagegen den Kalauer von Nietzsche, 1889, 61: „Der Mensch strebt nicht nach Glück, nur der Engländer thut das.“
IX Dürfen 1 2 3 4 5 6 7
Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 1; 1.1. Locke, 1823. Grotius, 1625. Kelsen, 1960. Vgl. etwa Stemmer, 2008, 241-244. Vgl. hierzu Raz, 1984, 20f. Die meines Erachtens noch immer hilfreichste Diskussion dieser unterschiedlichen Lesarten findet sich bei von Wright, 1963, 85-92, auf den ich mich im Folgenden mehrfach stütze.
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Von Wright, 1963, 86, spricht mit Blick auf diesen Unterschied von schwachen und starken Befugnissen. Aus Gründen, die gleich deutlich werden, schließe ich mich dieser Ausdrucksweise nicht an. Der Regelautor kann auch Einzelhandlungen gebieten, verbieten und erlauben. Der Übersichtlichkeit halber gehe ich auf diesen Punkt jedoch nicht näher ein. Die Adressaten von Rex‘ Regeln können sich natürlich auch untereinander diverse Dinge erlauben, verbieten usw. Aber wir können diese Komplikation außer Betracht lassen, weil es sich in dem Fall nicht um politische bzw. staatliche Regelungen handelt. Hohfeld, 1917, etwa spricht in diesen Fällen von Privilegien (privileges) und definiert diese negativ. Jemand hat genau dann das Privileg, h zu tun, wenn er nicht verpflichtet ist, h zu unterlassen. Von Wright, 1963, 89-92, drückt diesen Sachverhalt so aus, dass der Autor die betreffenden Handlungsweisen toleriert. Von Wright, 1963, 91, erwägt im entsprechenden Kontext, die selbstreferentielle Regel als ein Versprechen zu deuten. Der Autor verspricht, so gesehen, seinen Adressaten, sich nicht einzumischen, wenn sie in der betreffenden Weise handeln. Vgl. hierzu Raz, 1984a, der Rechte auf Interessen der Rechtsträger zurückführt und als Gründe für die korrespondierenden Pflichten erachtet. Leider bleibt Raz auch an diesem Punkt eine Begründung seiner Position schuldig. Etwas ausführlicher stelle ich diese Überlegungen in Iorio, 2010c dar. Vgl. Elster, 2002. Die Mitglieder dieser Gruppe können teilweise oder gänzlich mit den Adressaten des Verbots identisch sein. Relevant ist nur der Umstand, dass es um die Adressaten des zusätzlichen Gebots geht. Terminologisch herrscht in diesem Zusammenhang ein Desaster. Oft wird der Ausdruck ‚Recht‘ in einem verengten Sinn für das gebraucht, was ich ein Anspruchsrecht nenne. Es ist im Einzelfall festzulegen, wer als geeigneter Akteur gilt. Oft sind es die Inhaber staatlicher bzw. behördlicher Positionen, die angesprochen sind. Vgl. Rousseau, 1762; Kant, 1784. Für neuere Varianten der Autonomiekonzeption siehe Habermas, 1981; Scanlon, 2000; Tully, 2008. Siehe zur Kritik an dieser Position Iorio, 2008. Vgl. hierzu Berlin, 1969, 118-172. Gemäß der hier vertretenen Konzeption handelt es sich bei diesen Regeln um (generalisierte) Absichten, die die Akteure fassen müssten, um dem Dilemma zu entkommen.
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X Recht und Moral 1 2
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Wieder beschränke ich mich der Übersichtlichkeit halber auf Handlungstypen, ignoriere also singuläre Befugnisse. Siehe etwa Antiphon, 1957, DK 87 B 44. Freilich gab es protonaturrechtliches Denken auch schon vor der hellenistischen Stoa. Große Teile von Platons Philosophie etwa lassen sich – anachronistisch – als naturrechtlich orientierte Reaktion auf den sophistischen Proto-Positivismus deuten. Vgl. etwa Hoerster, 2006, 65-78; Alexy, 2005. 15-17. Vgl. aber auch schon Hart, 1958. Streng genommen, ist diese Zuspitzung vornehmlich mit Blick auf die deutschsprachige Diskussion zu beobachten. In der angelsächsischen Debatte steht mehr die Frage im Mittelpunkt, ob sich das (objektive) Recht einer Gesellschaft mit dem
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System der Rechtsregeln identifizieren lässt (wie die Positivisten annehmen) oder mehr umfasst (wie ihre Kritiker annehmen). Vgl. Dworkin, 1977, 17. Ich komme auf diese Frage im vorletzten Abschnitt ausführlicher zu sprechen. Siehe z.B. Dworkin 1986; Detmold, 1984. Neuere Verteidigungen der positivistischen Position finden sich etwa bei Sober, 1977; Lyons, 1977; Raz, 1980; Coleman 1991; Kramer, 1999. Ich übernehme diese Bezeichnung von Koller, 2008. Kelsen, 1960, 63. Siehe hierzu auch Rawls‘ Rede von den Bürden des Urteilens. Rawls, 1993, 54-58. Radbruch, 1946, 105. Alexy, 2005, 77; 2008, 23-25. Den vermeintlich natürlichen Gesetzen sind historisch die göttlichen vorangegangen. Im Rahmen einer theologischen Weltsicht war diese Vorstellung durchaus sinnvoll, insofern ein personaler Gott ein Regelautor sein könnte. Siehe Bentham, 1816. Vgl. dazu Bedau, 2001. Siehe hierzu schon Anscombe, 1958, 5. Vgl. auch Dancy, 2004. Zum Verhältnis zwischen natürlichen Rechten und Menschenrechten siehe Nickel, 2007, 12-14. Vgl. hierzu Menke & Pollmann, 2007, insbesondere den ersten Teil. Eine Reihe dieser Gründe diskutiert Nickel, 2007, insbesondere im 4. und 5. Kapitel. Siehe hierzu auch Schulz, 2001. Nicht jede Form des Utilitarismus ist präferenzutilitaristisch konzipiert. Siehe hierzu etwa Long, 1990. Aber für die hier verfolgten Zwecke können wir uns auf präferenzutilitaristische Konzeptionen beschränken. Siehe hierzu schon Mill, 1861, 17. Vgl. hierzu etwa Frankfurt, 1988; Slote, 1989; Audi, 1990. Siehe hierzu etwa Gesang, 2003. Ich ignoriere das epistemische Problem, dass der Akteur von den Präferenzen der betroffenen Menschen Kenntnis haben muss. Für einen Überblick siehe Hooker & Little, 2000. Die Ablehnung einer Prinzipienmoral findet sich im Übrigen auch schon bei Autoren, die zu Recht davon ausgehen, dass man solch einer Moralkonzeption nur im Rahmen einer theologischen Weltsicht Substanz verleihen kann, die einen göttlichen Gebieter als Autor der moralischen Regeln einräumt. Siehe Anscombe, 1958, 6; Williams, 1985, 38. Vgl. hierzu Alexy, 2005, 25; 201ff., der in seiner Kritik am Rechtspositivismus ausdrücklich die Identifikation des Rechts mit der Summe der Rechtsregeln (sprich dem Gesetz) zurückweist und für
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Anmerkungen eine zusätzliche Subsumtion von Entscheidungsprozeduren und Argumenten unter den Rechtsbegriff plädiert. Insofern meine Unterscheidung zwischen (Rechts-)Regeln und (moralischen) Gründen in weiten Teilen mit Dworkins Unterscheidung zwischen Rechtsregeln und Rechtsprinzipien übereinstimmt, ähnelt die hier skizzierte Position seiner Theorie. Vieles, was Dworkin über Prinzipien sagt, kann man meines Erachtens nur sinnvoll über Gründe sagen. So spricht er Prinzipien beispielsweise ein Gewicht zu, das ihrer Relevanz in Entscheidungs- und Urteilsfindungsprozessen entspricht (z.B. 1977, 26f.). Mehrfach schreibt er, dass Prinzipien Gründe zum Ausdruck bringen, die Richter in ihrer Urteilsfindung zu berücksichtigen haben (z.B. 26f.). Dworkins Gebrauch des Ausdrucks ‚Prinzip‘ (principle) erscheint mir daher irreführend und hat viele Autoren in die Irre geführt, insofern sie Prinzipien als eine Art allgemeiner Regeln auffassen. Damit verfehlt man jedoch den kategorischen und von Dworkin auch so intendierten Unterschied zwischen Rechtsregeln und „Prinzipien“. Ähnlich etwa Tugendhat, 1993, 72-77; Rawls, 1993, 48-54. Freilich gab es immer wieder Versuche, den Begriff des rationalen Handelns so zurechtzustutzen, dass er mit dem des moralischen Tuns zur Deckung kommt. Aber das ist Augenwischerei. Der Kontrast zwischen dem Handeln im eigenen Interesse und dem mit Blick auf die Interessen anderer Menschen ist robust und unabhängig davon, unter welche Begriffe man die Dinge fasst. Denkbar ist natürlich auch der Fall einer Person, die eine Lebensentscheidung fällt, z.B. den Entschluss fasst, künftig immer den moralischen Gründen das ausschlaggebende Gewicht beizumessen. In der Realität dürften solche Entscheidungen eher selten fallen. Vgl. etwa Scanlon, 2000. Siehe zu Konflikten zwischen moralischen Gründen und Regeln auch McMahon, 2001; Alexander & Sherwin, 2001. Siehe z.B. Williams, 1973; 1981. Vgl. auch Dancy 1993.
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Personenregister Aristoteles: 50, 163, 282 Austin, John: 5, 119-124, 133137, 184 Bentham, Jeremy: 163, 274 Bittner, Rüdiger: 165 Damokles: 274, 282 Dancy, Jonathan: 167 Davidson, Donald: 157, 160169 Hart, Herbert: 5, 120-124, 129-137 Hayek, Friedrich, August von: 53 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: 60, 135 Hempel, Carl Gustav: 157 Hobbes, Thomas: 8, 249-255, 261, 263f. Hume, David: 131, 157
Kant, Immanuel: 22, 44, 75, 109, 138, 247, 287 Kelsen, Hans: 25, 117, 230, 265, 268, 287 Locke, John: 230 Luther, Martin: 210 Marx, Karl: 50 Nozick, Robert: 53 Platon: 68, 287 Radbruch, Gustav: 268-273 Smith, Adam: 53 Weber, Max: 184 Williams, Bernard: 290 Wittgenstein, Ludwig: 51, 164 Wright, Georg Henrik von: 111, 218
Sachregister Akteursklausel: 69-77, 96, 98, 101, 139, 244 Akzeptanz, akzeptieren: 3, 4144, 55f., 60-65, 88-90, 104f., 112f., 125, 129, 135, 141, 147, 173, 180-185, 194, 197, 204, 225, 228231, 251, 273, 285 altruistisch: 280 anankastische Tatsache: 111, 113, 141-144, 196, 202, 218 Anarchie: 254, 258 anonyme Adressaten: 77f., 124 Anonymität: 78f., 208-210 Anspruch, Anspruchsrecht: 7, 241-244, 262-264 Anthropozentrismus: 106 Anwenden einer Regel: 3, 27, 47-51, 54f., 71, 90-93, 105f., 126, 128, 173, 185f., 189, 194-196, 273 Anweisung: 3-5, 48, 56-85, 8698, 103-118, 119-137, 171-197, 202-225, 228230, 245-249, 252, 259, 267f., 271-273, 284 siehe auch Gebot, Gebotsregel Anweisungsakt: 5, 57, 59-62, 65, 75, 80, 84, 86, 88, 97, 108, 112, 114f., 121, 141f., 178, 180, 183, 188f., 210, 233f., 285 Arbeit siehe entfremdete Arbeit
Ausnahme, Ausnahmeklausel: 15f., 43, 53, 70f., 91, 177, 232 Autonomie, autonom: 40, 247249, 252 Balkenwaage siehe Waage Bankanweisung siehe überweisen, Überweisung Bedeutung: 32f., 57, 82f., 111 – Versuchs- vs. Erfolgsbedeutung des Anweisungsvokabulars: 59-62, 85, 88, 229 Befolgen einer Regel: 3, 44-51, 54f., 61f., 91f., 105f., 112f., 126-128, 135, 173, 189-194, 197-200, 219, 228, 252-254, 273 Befugnis: 7, 20, 86-89, 94-98, 121-123, 202, 227-267, 278, 282 begriffsökologisch siehe Ökologie Berechtigung: 20, 27, 121, 202, 233f. siehe auch Recht Beschreibung: 70, 108, 123, 164 Bündelkonzeption, Bündelung: 58f., 65, 91 Bundeskanzlerin siehe Kanzler Bundestag siehe Parlament, Parlamentarier Bürokratismus: 243
Sachregister
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Daumenregel: 2, 17, 27f., 43., 100-103, 197-201, siehe auch Regel, konsultative Demokratie, demokratisch: 5, 40, 135f., 248, 261, 279 Demokratietheorie, demokratietheoretisch: 40, 248 Derivat siehe pädagogisches Derivat Dezisionismus, dezisionis-tisch: 289 Diktator: 42, 183f., 129 Disposition: 46-51, 54, 127f., 131-135, 185, 189-193, 282, 289
Fähigkeit siehe Disposition, dispositionales Handeln Faustregel siehe Daumenregel und Regel, konsultative FDP: 53 Folgen einer Regel: 3, 44-55, 92f., 124-135, 175f., 189193
Egoismus, egoistisch: 280, 288 Empfehlung siehe Ratschlag entfremdete Arbeit: 50 Entscheiden, Entscheidung: 6, 27f., 41, 48-53, 89-92, 134, 151-170, 186, 207, 213-215, 223, 239, 255260, 279, 284, 289-290 Erfolgsbedeutung siehe Bedeutung Erlaubnis, Erlaubnisregel: 2, 17f., 20f., 24, 26, 31, 33, 93-98, 116, 122f., 136, 195, 202, 227, 231-256, 264, 274, siehe auch Befugnis Erklärung: 50, 54f., 60f., 150, 157, 166-168, 188f. – Kausalerklärung: 164f. – teleologische Erklärung: 158 Ermächtigungsregel: 121-123 Ersatzimperativ siehe Imperativ Erwägen, Erwägung: 28, 43, 153, 158-160, 163, 166, 169, 223, 282
Gefangenendilemma:132, 250 Gebot, Gebotsregel: 2-4, 16-26, 31-33, 56-100, 104, 107, 109-122, 136-144, 147, 173, 180-189, 193-195, 197-201, 204-228, 231f., 237-239, 241-245, 257, 274, 278, 282, 290 – der Vernunft: 224f. – moralisches: 19, 109, 126 Gehalt siehe Proposition, propositionaler Inhalt Gehorsam: 79, 184f., 228 Geltung: 62-66, 80, 88, 97, 104, 113 Generalisierung: 16, 84, 100, 137 – kontingente: 15f., 33 Gerechtigkeit: 220f., 254, 269274 – natürliche: 268, 274 Gesetz, Gesetzesaussage: 5, 8, 13f., 16, 22, 31, 36, 40-42, 65-67, 79, 104-114, 118129, 134-136, 179-184,
Eselsbrücke siehe Heuristik Euphemismus, euphemistisch: 43, 89, 182 evaluativ: 217-219, 223, 274 Existenz: 59-65, 76, 80, 86, 97, 104, 129f., 148, 170, 183
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Sachregister
188f., 197, 220, 233, 247f., 252-257, 260-277, 285f. siehe auch Naturgesetz Gewalt: 135f., 228, 245, 256, 262 Gewaltherrscher siehe Diktator Gewaltmonopol: 182, 251 Gewaltenteilung: 239 Gewohnheit: 16, 50f., 92f., 129, 131, 134, 184, 189, 191 Gewohnheitsrecht: 124, 134 Gottesgnadentum: 230 Grundfreiheit: 7, 235-244, 260-264 Grundnorm: 230 Gründe: 1f., 6-8, 28, 33, 43f., 52-54, 87-92, 100-103, 129f., 147-207, 211-226 – Erklärungsgründe: 6, 168, 178, 203 – explanatorische: 150, 152, 172 – moralische: 8f., 263, 269, 273, 278-291 – motivationale: 150 – normative: 150, 223f. – primäre vs. nicht-primäre: 6, 166-168, 170, 172, 178, 192, 203 – rechtfertigende: 150-152 Gültigkeit, gültig siehe Geltung, gelten Habituale: 16 Handeln – akratisches: 152 – dispositionales siehe Disposition – kommunikatives: 35-39, 65, 87f., 135, 173-176, 212, 228
Handlungsklausel: 70, 74, 98, 187, 244 Handlungstheorie, handlungstheoretisch: 6, 148-151, 164, 168 Heuristik: 28, 100 holistische Natur der Regeln: 26, 122 Idealtypen, idealtypisch: 49, 184 Imperative: 74-77 – bedingte vs. unbedingte: 138-140 – Ersatzimperativ: 79f., 209f. – hypothetische vs. kategorische: 5f., 137-144, 218f. – sekundäre siehe Ersatzimperative Industrienorm: 22 siehe auch Norm, technische interner Aspekt von Regeln: 129f. Kanzler: 31, 73, 240, 244, 261 Kategorienfehler: 30 Kausalerklärung, Kausalität siehe Erklärung Kohärenz, kohärentistisch: 13, 34, 93, 151 Kommunikation siehe Handeln, kommunikatives Konformismus, konformistisch: 182-185, 194 konservativ, Konservativismus: 131 Kontraktualismus, kontraktualistisch: 249-261 Konvention: 13f., 29-31, 38f., 124-134, 191-193
Sachregister
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konzeptuelle Ökologie siehe Ökologie Kooperation: 132, 251, 288 Koordinationsproblem: 131f., 192f., 256 Kultur: 47, 79, 128, 198, 289 – moralische: 125, 282284 – rechtliche: 8f., 259, 285287
Norm: 8, 13f., 20f., 31, 67, 217, 223, 282, 290 – Rechtsnorm: 3, 5, 8, 20, 109f., 267f., 283, 286, siehe auch Rechtsregel – technische: 22, 111 Normativität, normativ: 1f., 7, 9, 61, 67, 111, 130, 133, 144, 150, 152, 211f., 217f., 223f., 227., 254, 264, 291
Legitimität, legitim: 8, 221-223, 228-234, 245-256, 262f., 267, 270-272 liberal, Liberalismus: 5, 135f., 241-243
Öffentlichkeit: 236, 240 Ökologie: 272m 275 Orientierung an einer Regel: 27, 43, 47-51, 54, 90-92, 100, 108, 115, 128, 140, 175, 186, 189, 192
Macht, Machtposition: 42f., 61, 183, 228, 231, 239-245, 253-255, 260-262, 269 Maxime: 44, 101f., 226 Menschenrechte: 263, 275-277 Moral, moralisch: 3, 8f., 19f., 50, 54, 65, 109f., 125f., 134f., 144, 150, 163, 217, 220-222, 232f., 246f., 263-291 müssen: 109-116, 144, 202f., 218f., 226 Nationalsozialismus, nationalsozialistisch: 271-273 Naturalismus, naturalistisch: 224, 262 Naturgesetz: 4, 14f., 29f., 33, 46, 93 Naturrecht, naturrechtlich: 132, 230, 250, 254f., 263-275 Naturzustand: 249-258, 277 Neubeschreibung siehe Beschreibung
pädagogisches Derivat: 46f., 127-129 Paradigma, paradigmatisch: 3f., 6, 21, 34-56, 74, 86f., 8993, 107, 110, 117, 151, 173-195, 204 Parlament, Parlamentarier: 31, 36, 73, 77-79, 136, 179, 248 Partikularismus, partikularistisch: 8, 281 Persistenz: 64 Pflicht: 3, 7, 18-20, 126, 162, 231, 237f., 244, 266, 274278, 282, 287, 290 phänomenologisch: 63f., 92, 140 Positivismus siehe Rechtspositivismus Präsident: 31, 123 Präskriptivismus, präskriptivistisch: 5, 122 Prinzip: 8, 13, 274, 278, 282, 290
330
Sachregister
Proposition, propositionaler Inhalt: 2, 32-35, 57f., 8284, 99, 149, 171 Radbruchsche Formel: 268-270 rational, Rationalität: 7, 9, 90, 132-134, 144, 157, 222225, 250, 253, 263, 268, 278-283, 287-291 Ratschlag: 2, 4, 17, 26-28, 33, 35, 43f., 51, 86, 98-103, 118, 143f., 171-173, 197201, 216-219, 225, siehe auch Regel, konsultative Recht: 3, 7f., 19f., 25, 96, 119137, 184f., 220f., 232-256, 262-287 – göttliches: 210, 230 – natürliches siehe Naturrecht, naturrechtlich – objektives: 120, 265f., 283-285 – subjektives: 26, 237, 241-244, 254f., 262-266, 277, 286 Rechtskultur siehe Rechtssystem Rechtslehre: 3-7, 65, 97, 119137, 144, 229-231, 246f. Rechtsmoralismus, rechtsmoralisch: 8f., 262-283 Rechtspositivismus, rechtspositivistisch: 8f., 220f., 253f., 262-283 Rechtsnorm siehe Norm Rechtspflicht siehe Pflicht Rechtsphilosophie, rechtsphilosophisch siehe Rechtslehre Rechtsregel: 5, 7f., 40, 117, 121, 124, 241, 258, 269, 273, 284, 286 siehe auch Rechtsnorm
Rechtsstaat, rechtsstaatlich siehe Staat, staatlich Rechtssystem: 8, 89, 119f., 135-137, 184f., 221, 230, 243, 265-274, 290 – vs. Rechtskultur: 8f., 283-287 Rechtstheorie siehe Rechtslehre Regel: 1-9 – anonyme: 124-135 – deskriptive: 2, 4f., 14-17, 27-31, 34, 37-39, 46f., 5055, 84, 87, 93, 101, 106, 111, 118, 126-130, 133135, 141, 171, 175f., 190193 – implizite: 45-47, 170 – internalisierte: 45 – konstitutive: 107f., 111, 122 – konsultative: 2, 4, 16-18, 26-28, 30, 33, 34f., 40, 43f., 46, 51, 53-55, 87, 93, 98-103, 106, 133, 171, 197-201 – präskriptive: 2, 4f., 7, 17f., 56-85, 87-98, 103118, 173-190, 193-197 – selbstreferentielle: 40, 236-247 – soziale: 29, 38, 45, 124135, 191-193 Regelakzeptanz siehe Akzeptanz, akzeptieren Regelanwendung siehe Anwendung einer Regel Regelausdruck siehe Regelsatz Regelcluster: 7, 26, 237-245, 254, 262-266, 274-276 Regelfolgen siehe Folgen einer Regel
Sachregister
331
regelgemäß: 51-55, 173f., 190193 Regelinhalt: 2, 24, 30-36, 58, 81-84, 99f., 238, 268-277, 284-286 siehe auch Proposition, propositionaler Inhalt Regelmäßigkeit: 2, 16, 27-31, 37f., 52-55, 93, 127-134, 190-193 Regelsatz: 2, 32f., 36-39, 46, 49, 51, 53, 57f., 69-78, 83f., 99, 115f., 127, 129, 133-139, 176, 187, 190, 237f., 244 – elliptisch vs. vollständig: 72-81 Regelstruktur: 4, 69-79, 83f., 127 – dreigliedrige: 72-79, 94101, 107, 118 – konditionale: 22, 71f. 109-116, 137-144 – logische: 71f., 137-144, 187-189 Regelumgang: 3f., 6, 34-51, 87-93, 173-195 Regelungsschema, allgemeines: 113f., 116f., 119-121, 202f., 243f. Regularität siehe Regelmäßigkeit Repräsentant, Repräsentation: 247f. Richter: 71, 197, 258, 269, 273, 285
Situationsklausel: 71, 74, 101, 187 Sittlichkeit: 135 sollen: 7, 98f., 109-116, 143f., 202-226 Souverän, Souveränität: 90, 135f., 261 Spiel, Spielregel: 14f., 20-22, 30-32, 40-44, 48-51, 64f., 73, 77f., 105-109, 112114, 141, 196f. Spracherwerb vs. Sprachverwendung: 37f., 45-51. Sprachregeln: 37f., 45-51, 124128, 132, 175f., 191f. Sprechakt, Sprechakttheorie: 69, 74f., 80, 114, 142 S-Satz: 208-225, 274 Staat, staatlich: 5, 8, 25, 31, 40, 78, 96, 117-121, 135f., 179, 182, 185, 221, 232, 242, 249-261, 267f., 270277 Standard, standardisieren: 21f., 76-78, 103-105, 122, 130, 139f. Stoa, stoizistisch: 230, 264 Strafe, Strafregel siehe Sanktion, Sanktionsregel Struktur siehe Regelstruktur Syllogismus, Syllogistik: 149, 157
Sanktion, Sanktionsregel: 2, 23-26, 62, 86, 116-122, 126, 129-136, 182-184, 194-197, 202f., 237-257, 273ö275, 285 Schiedsrichter siehe Richter
überweisen, Überweisung: 95f., 238, 267 Unterlassung, Unterlassungsgebot: 17, 56, 69, 120, 154, 233, 238, 241, 245 Utilitarismus, utilitaristisch: 162, 290
Trennungsthese: 265f., 287
Sachregister
332 – Wahrheit des U.: 278283
Verbot, Verbotsregel: 2, 17-26, 33, 56, 95-98, 120-122, 136, 195, 199, 202, 228245, 255f., 262-264, 282 Verfahrensregel: 22f., 103-118, 195f. Verhaltensgewohnheit siehe Gewohnheit Verhaltensregularität siehe Regelmäßigkeit Vernunft siehe rational, Rationalität Verpflichtung siehe Pflicht Versuchsbedeutung siehe Bedeutung Vertragstheorie, vertragstheoretisch siehe Kontraktualismus, kontraktualistisch
Vertrauen: 181f., 185, 194, 221, 256, 258 Vertrauensfrage: 31, 73 Volkssouveränität siehe Souverän, Souveränität Vorkehrungsregel: 21-23, 103118, 195f. Vorstellungsvermögen: 163, 169, 224 Waage: 153f., 269, 291 Wahrheit des Utilitarismus siehe Utilitarismus Wegweiser siehe Heuristik Willensschwäche: 152, 239f. Zuweisung siehe überweisen, Überweisung