Maddrax Band 87 In der Höhle des Löwen
von Stephanie Seidel Etwas berührte Mer’ols Verstand, sanft wie ein Hauch. Man ...
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Maddrax Band 87 In der Höhle des Löwen
von Stephanie Seidel Etwas berührte Mer’ols Verstand, sanft wie ein Hauch. Man musste gut aufpassen, um es überhaupt zu bemerken - und der entführte Hydrit passte auf! Rasch hob er seine Hand und zählte die Flecken seiner Schwimmhäute, damit er den Satz Da sind sie wieder! in Gedanken nicht formen konnte. Es hätte sein Wissen verraten, und das durfte auf keinen Fall geschehen. Erneut tauchten die Kristallwesen ab in den Strom seiner Erinnerungen, und erneut begann der Hydrit, Pseudo-Daten einzuschleusen - um Zeit zu gewinnen. Denn sobald sein Bewusstsein komplett erforscht war, hatten die heimlichen Lauscher keinen Grund mehr, ihn noch länger am Leben zu halten...
WAS BISHER GESCHAH Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich, weite Teile Russlands und Chinas werden ausradiert, ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten... für Jahrhunderte. Als die Eiszeit endet, hat sich das Antlitz der Erde gewandelt: Mutationen bevölkern die Länder und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den US-Piloten Matthew Drax, dessen Jet-Staffel beim Kometeneinschlag durch einen Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Beim Absturz wird er von seinen Kameraden getrennt und von Barbaren gerettet, die ihn als Gott »Maddrax« verehren. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula wandert er über eine dunkle, postapokalyptische Erde... Es war Matthew Drax seit langem klar: Die Antworten darauf, was mit der Erde und der Menschheit geschehen ist, liegen im Kratersee. Trotzdem kommt ihm die Expedition des Weltrats zuvor - und scheitert! Lynne Crow und der irre Professor Smythe gelten als verschollen, seit sie zum Kometen hinab tauchten. Auch Matts Gruppe wagt den Vorstoß. Bei der Bergung eines grünen Kristalls aus dem Kometen wird der Hydrit Mer’ol gefangen. Quart’ol, ein zweiter Hydrit, nimmt Kontakt mit dem Kristall auf. Sie erfahren, dass das außerirdische Volk der Daa’muren mit dem Kometen auf die Erde kam und seither bestrebt ist, durch fortwährende Mutationen der Tier- und Pflanzenwelt einen Organismus zu erschaffen, in den ihre körperlosen Geister schlüpfen
können. Auch die Degeneration der Menschheit über Jahrhunderte und ihre anschließende Reorganisation diente diesem Zweck. Jener Wirtskörper steht kurz vor der Vollendung - als Matt in einer Bruthöhle unbeabsichtigt eines der Eier zertritt. Die Außerirdischen prägen ihn als obersten Feind und hetzen ihm ihre Mutanten auf den Hals. Die Freunde fliehen in einem russischen ARET-Panzer. Quart’ol bleibt zurück, um Mer’ol zu retten. Als der Barbar Pieroo erkrankt, fahren der Cyborg Aiko und die Rebellin Honeybutt im Beiwagen des ARET mit ihm voraus. Unterwegs stoßen sie auf Jed Stuart und Majela Ncombe, zwei WCA-Überläufer. In der Hafenstadt Nydda werden die Gefährten um Matt Drax mit der Familie eines Umstürzlers verwechselt und festgesetzt. Nur Mr. Black kann entkommen und hilft der Metropolitin, den Revoluzzer dingfest zu machen. Dabei trifft er auf Jed und Majela und setzt sie in einen Zug nach Kiew. Als die Freunde frei kommen, entschließen sie sich für getrennte Wege: Dave und Rulfan fahren auf einem Dampfer nach Britana, während Matt, Aruula und Black den ARET nehmen. In Perm treffen sie auf zwei verfeindete Bunkerbesatzungen und können sie auf gemeinsames Bündnis gegen die Daa’muren einschwören. Eine wichtige Rolle spielt dabei ein Serum, das aus dem Blut Mr. Blacks gewonnen werden kann und schon dem Weltrat half, die typische Immunschwäche der Technos zu überwinden. Dabei stellt man fest, dass Matts Blut mit Tachyonen belastet ist... *
Genau genommen ist es ein Glück, dass Quart’ol zum
Menschenfreund wurde!, log Mer’ol in Gedanken. Wäre er den alten Prinzipien treu geblieben, hätte ich Lu’daks Angebot nie akzeptiert, mich dem verbotenen Mar’os-Kult anzuschließen. Der Hydrit hielt inne. Da war eine leise Spannung unter seiner Schädeldecke, fast so, als sei er selber neugierig zu erfahren, wie die Geschichte weiterging. In gewisser Weise war er das auch, allerdings hatte diese Spannung nichts mit ihm zu tun: Seine heimlichen Lauscher waren aktiv. Mer’ol kam es vor, als quälten sie ihn schon eine Ewigkeit mit ihren beinahe perfekt getarnten Besuchen in seinem Verstand. Der gefangene Wissenschaftler war mit einer Expedition im Kratersee unterwegs gewesen die Oberflächenbewohner Matthew Drax, Rulfan und Mr. Black wollten einen Vorstoß wagen zu dem geheimnisvollen riesigen Kometen, der vom Grunde des neu erschaffenen Meeres aus alle irdischen Lebensformen zu beeinflussen schien, ja selbst das Wetter - dieses seltsame, ganzjährig frühlingshafte Wetter innerhalb des Ringgebirges um den Kratersee. Er und Quart’ol hatten sich dem Unternehmen angeschlossen, obwohl der Katersee schon seit Generationen für die Hydriten als verbotene Zone galt. Alle Spezies dieses Planeten musste interessieren, was dort vorging. Mer’ol erinnerte sich: Auch der skrupellosen Regierung aus Waashton war sehr daran gelegen, Daten über den Acht-Kilometer-Brocken aus dem All in die Hände zu bekommen - vorzugsweise eher als jeder andere. Commander Drax hatte ihnen vom Weltrat erzählt, dessen Absichten so verwerflich waren wie seine
Methoden, und Mer’ol wusste um den mörderischen Wettlauf gegen die Zeit, den Maddrax - so wurde der Mann aus der Vergangenheit auch bei den Hydriten genannt - unbedingt gewinnen wollte. Also war der Hydrit mit Quart’ols humanoiden Freunden in das Reich der Todesrochen hinabgetaucht und befand sich nun, wenn auch anders als erwartet, tatsächlich im Inneren des Kometen. Seit wann genau, wusste er nicht mehr - sein Zeitgefühl war längst verloren gegangen. Auch gab es eine unerklärliche Gedächtnislücke: Zwar hatte er den Angriff der Rochen noch lebhaft vor Augen, aber wie er in dieses düstere Gefängnis gekommen war, konnte er nicht sagen. Erst recht nicht, wer es befehligte. Bei ihrer Annäherung an den Kometen hatte Mer’ol ein seltsames Gebilde an dem mit grünen Kristallen gespickten Gesteinsbrocken entdeckt. Es befand sich seitlich etwa zwanzig Meter über dem Meeresboden und war in seiner geometrischen Form eindeutig künstlichen Ursprungs. Vielleicht eine Art Kommandozentrale? Was bedeuten würde, dass der Komet tatsächlich mehr war als ein Komet - dass er Intelligenzen beheimatete! Die These hatte sich für Mer’ol bald bestätigt. Für den in Telepathie geübten Hydriten war es nicht schwierig gewesen, die heimlichen Lauschangriffe zu orten: Sie kamen aus den Kristallen und waren nicht mit den mentalen Schwingungen der Rochen identisch. Also Außerirdische! Aber was wollten sie von ihm? Physische Experimente standen offenbar nicht auf dem Plan: Mer’ol war unversehrt und hatte keine Anzeichen äußerer Gewalteinwirkung an sich feststellen können. Bis auf diese merkwürdigen punktuellen Kopfschmerzen, die
ihn nach seinem Erwachen in diesem Gefängnis geplagt hatten. Sie waren symptomatisch und ließen den Wissenschaftsassistenten darauf schließen, dass man ihn in künstliche Stasis versetzt hatte - möglicherweise um einen Laborversuch zu veranlassen. Wollten die Kristallwesen Erkenntnisse über das Volk der Hydriten gewinnen? Gaukelten sie ihm vermeintliche Sicherheit vor, um seine Denkweise zu erforschen? Wenn - so folgerte Mer’ol - Gedanken und Erinnerungen das Einzige waren, das die Kristallwesen interessierte, war sein Tod nur eine Frage der Zeit! Grimmig ballte er die Flossenhände. Den Zugriff auf sein Gedächtnis konnte er nicht verhindern, aber Widerstand leisten war trotzdem möglich: Um den Augenblick hinauszuzögern, an dem alles Wissenswerte unfreiwillig gedacht war, hatte Mer’ol begonnen, eine Geschichte zu konstruieren. Sie sollte das sanfte Ruhekissen seiner Peiniger - die bekannte Friedfertigkeit der Hydriten - ein wenig aufrauen. Weil er jedoch nicht einschätzen konnte, welche Informationen bereits abgerufen waren, durfte es keine frei erfundene Lüge sein. Also hatte Mer’ol aus seinem geistigen Papierkorb ein Gerücht gekramt, das vor Jahrzehnten durch den Neun-Städte-Bund gespukt war kurzfristig nur, weil niemand daran glaubte, dass der Renegat Lu’dak noch lebte, und es auch keinen wirklich interessierte. Mer’ol hielt diese fast vergessene Datensammlung für das perfekte Grundmaterial einer Verschwörungstheorie, die er ausbauen und den Kristallwesen als Tatsache verkaufen konnte.
Lu’dak hat schon eine ganze Reihe vorzüglicher Wissenschaftler für die Ziele des wiederbelebten
Geheimbundes gewinnen können, schwindelte er sich selbst in Gedanken vor. Es ist eben doch gegen unsere
Natur, vegetarisch zu leben und uns friedlich zu geben! Sobald ich dieses Gefängnis verlassen habe, werde ich nach Thul’Izelas reisen und mich an seinem Forschungsprojekt beteiligen. Wenn wir die TantronDrüse der Hydriten ohne den Verzehr von tierischem Eiweiß vergrößern können, übernimmt Lu’dak die Macht und ich bekomme endlich alle Anerkennung, die mir zusteht! »Ist da jemand?«, klackte Mer’ol unvermittelt in der Hydritensprache. Dann lauschte er einen Moment nach innen und nickte zufrieden: Stille. Die Kristallwesen hatten sich zurückgezogen. Wie jedes Mal, wenn ihr Gefangener unruhig oder misstrauisch wurde. Warum sie trotz ihrer Überlegenheit nicht entdeckt werden wollten, wusste Mer’ol nicht. Es war ihm auch egal. Hauptsache, sie hielten an ihrer Vorgehensweise fest und erlaubten ihm so, das gefährliche Spiel um sein Leben fortzusetzen. Sacht stieß sich Mer’ol vom Boden ab. Er war erschöpft. Die permanente Wachsamkeit und der Zwang, jeden Gedanken mit großer Vorsicht abzuwägen, zehrten an seinen Kräften. Am meisten aber belastete es ihn, dass seine Hoffnung auf Rettung allmählich zu schwinden begann: Als die Todesrochen ihn verschleppten, hatte Mer’ol einen mentalen Hilferuf an Quart’ol ausgesandt. Es war das Letzte, woran er sich erinnern konnte. Möglicherweise hatte dieser Ruf sein Ziel nicht erreicht und war in den Blutwolken erstickt, die der gigantische Wal verströmte, als die Todesrochen ihn in Stücke rissen - denn eine Antwort war nie gekommen.
Ich hätte mich nicht von Maddrax trennen dürfen! Er wollte mich zurückhalten - aber ich musste ja unbedingt näher an den Kometen heran schwimmen! Verfluchter Forscherdrang! Verfluchte Neugierde!, dachte er bitter,
während er sich in seiner Zelle aufwärts treiben ließ. Sie war röhrenförmig, mit einem Durchmesser von drei Metern und Wänden aus glasähnlichem Material. Es glühte schwach wie ein elektrostatisches Feld und schien eher gewachsen als künstlich produziert zu sein. Aber wie auch immer die Röhrenwand entstanden war, sie hatte sich als ungemein widerstandsfähig erwiesen: Mer’ols Ausbruchversuche waren samt und sonders gescheitert. An der Decke, dem Lavagestein des Kometen, hatte sich eine Luftblase gebildet, unter der eine Armada umher schaukelte: Tiefsee-Ko’onen mit langen dünnen Wurzelfäden und fleischigen Blättern. Form und Beschaffenheit dieser essbaren Schwimmpflanze erinnerten an Artischocken, auch wenn ihr das Leben in ewiger Dunkelheit alle Farbe genommen hatte. Und nicht nur das! Mer’ol angelte sich eine der fahlen Knollen, biss hinein und verzog das Gesicht. »Köstlich!«, stöhnte er wütend. »Weich wie Schneckenhintern und absolut geschmacksneutral. Gebt mir bloß nie was anderes zu essen!« Ein Schatten kam heran, groß und bedrohlich. Todesrochen! Mer’ol verstummte, ließ sich in die Waagerechte treiben und verharrte zwischen dem dümpelnden Tiefseegemüse. Der Rochen beachtete ihn nicht. Ohne Eile passierte er das Gefängnis und verschwand durch einen Ausgang des Raumes. Mer’ol wusste nicht, wie die restlichen Örtlichkeiten des Kometen-Aufbaus aussahen - sofern er sich wirklich dort
befand. Der Teil, den er von seiner Röhre aus überblicken konnte, war eine merkwürdige Mischung aus naturbelassenem, bizarren Lavagestein und darin eingelassenen Apparaturen, die weder der menschlichen Technik noch der bionetischen Bauweise der Hydriten ähnelten. Sie sahen wie grüne Kristallstrukturen aus, die kontrolliert gewachsen waren. Das pulsierende Licht im Raum kam von weiteren Kristallen, spindelförmig und etwa einen Meter hoch. Wie erstarrte Soldaten steckten sie ringsum aufrecht im Boden. Der große schwarzweiße Rochen verdeckte sie im Vorbeischweben gleich dutzendweise, und Mer’ol spürte, wie es ihm bei diesem Anblick kalt über den Rücken lief. Eigentlich wäre es eine angenehme Abwechslung in der drückenden Wärme ringsum gewesen - wenn das Gefühl nicht mit der Gewissheit einher gegangen wäre, dass sein Bewacher auch jederzeit sein Henker werden konnte.
Ich muss dem Geheimnis dieses Kometen auf die Spur kommen!, entschied Mer’ol, während er, wenn auch widerstrebend, seine Mahlzeit fortsetzte. Die Rochen sind Befehlsempfänger einer kollektiven Präsenz, in Mineralien angesiedelt und offenbar von einem Plan beseelt. Was wollen diese Kristallwesen - und wie passe ich ins Bild?
Nachdenklich biss der Wissenschaftler in eine Ko’one. Eines ihrer Blätter brach ab und trieb gemächlich davon. Mer’ol schaute zerstreut hinterher. Im oberen Röhrenbereich wies die gläsern wirkende, steinharte Wandung seitliche Schlitze auf. Sie waren entschieden zu eng für eine Flucht - keine Hand breit und ohne Werkzeug nicht zu erweitern. Aber wenigstens strömte dank dieser Öffnungen stets frisches Meerwasser in seine Zelle - allerdings nur frisches Wasser: kein Fisch, keine Alge, nicht einmal Plankton.
Hier hält sich niemand freiwillig auf! dachte der Hydrit.
Als wollte das Ko’onenblatt seine These bestätigen, trieb es gegen den Rand eines der Schlitze, zappelte daran von der Strömung bewegt - ein paar Mal herum und witschte mit einem Ruck hinaus. Beinahe sehnsüchtig folgte ihm Mer’ols Blick in die Freiheit und hinüber zu einer Felsensäule, keine fünf Rochenlängen von seinem Gefängnis entfernt. Wie alles in dem gigantischen Raum war sie in unwirkliches grünes Schimmern gehüllt. Mer’ol hätte sie nicht weiter beachtet, wäre da nicht das Blatt gewesen, das auf sie zuschwebte und die Säule gleich berühren würde. So aber... Mer’ol stutzte. Mit ein paar hastigen Zügen schwamm der Wissenschaftler zur Zellenwand, hielt sich an den Schlitzen fest und spähte hindurch. War es Einbildung, oder stand dort drüben etwas hinter der Säule, das genauso glühte wie sein eigenes Gefängnis? Mer’ol spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Eine zweite Zelle etwa? Was immer sich hinter der Säule verbarg - es zeigte jedenfalls denselben Lichteffekt! Ich bin nicht allein!, dachte der Hydrit, und für einen kurzen Augenblick war ihm Mut machende Erleichterung vergönnt. Bis ihn siedend heiß die Erkenntnis traf: Wer von der
Expedition befindet sich noch hier in Gefangenschaft? Maddrax? Mr. Black? Rulfan? Oder gar... Quart’ol? Wenn sie seinen Mentor gefangen
hatten, war jede Hoffnung dahin. Er allein war in der Lage, Mer’ols Hilferuf zu hören. Und nur er könnte ihn hier finden. Ich muss Gewissheit haben! Mer’ol richtete seinen Blick auf den gläsernen Rand jenseits der Felsensäule und sandte einen mentalen Ruf aus.
Quart’ol?
Etwas huschte in seine Gedanken, sanft wie ein Hauch. Der Hydrit erstarrte. Da waren sie wieder... *
(Hat er uns bemerkt, Wana’sil’eero?) (Er zeigt keine eindeutige Reaktion, Gu’lan’maaki! Seine Pulsfrequenz ist gleichbleibend, es lässt sich jedoch eine unterschwellige Aggression erkennen.) (Die Wirkungsweise der Tantron-Drüse scheint ihn zu faszinieren, Gu’lan’maaki. Er denkt häufig daran.) (Seine Rasse ist friedfertig. Dennoch erwähnt er ein Testverfahren zur künstlichen Tantron-Vergrößerung! Die Zunahme aggressiver Zellen in seiner Population wäre nicht wünschenswert, jetzt da unser Plan so weit fortgeschritten ist.) (Warum scannen wir den Kiemenatmer nicht, um Einzelheiten zu erfahren, Wana’sil’eero?) (Das ist bereits geschehen. Das Resultat war fehlerhaft; es wurden keine Daten gefunden. Möglicherweise ist sein neuronales Netz in der Lage, temporäre Doppelsynapsen auszubilden und Informationen in sensorische Register umzuleiten, die der Scan nicht erfasst!) (Eine willkürliche Erinnerungsblockade?) (Vielleicht nur ein genetischer Defekt. Wir sollten ihn weiter beobachten.) (Ich stimme zu. Wurden Vorkehrungen getroffen, falls die Primärrassenvertreter einen Störversuch unternehmen?) (Das werden sie nicht, Gu’lan’maaki. Sie befinden sich auf der Flucht vor unseren Modellen und werden ständig
überwacht.) (Da war noch ein zweiter Kiemenatmer unter den Gefährten des Feindes. Was geschieht, wenn er zurückkehrt, Wana’sil’eero?) (Dann vernichten wir ihn.) * Meeresrauschen. Sonne auf der Haut. Warmer Sand unter den Fingern und eine Brise, die zart wie Frauenhände über seine pochenden Schläfen strich. Professor Dr. Jacob Smythe - Mediziner, Astrophysiker und ehemaliger Leiter der Astronomie Division einer längst vergessenen Air Force aus der Zeit vor Kristofluu, lächelte verträumt. Ja, so ließ es sich aushalten! Trotz Kopfschmerzen und einem flauen Gefühl in der Magengrube. Endlich mal wieder richtig abschalten, sich nicht bewegen, nichts denken - einfach nur da liegen und das schöne Wetter genießen. »Jake?« Das Lächeln erlosch. Smythe grunzte unwillig und zwang sich, die Augen zu öffnen. Wenigstens einen Spalt breit - damit er die Entfernung abschätzen konnte, die seine Faust gleich überwinden würde, um dem gottverdammten Störenfried eine reinzuhauen. Aber es lag niemand neben ihm im Sand, nur ein vertrockneter schwarzer Seestern und ein paar salzverkrustete Kiesel. Falsche Seite! Dreh den Kopf!, dachte Smythe und wusste bereits im selben Moment, dass er das nicht tun würde. Zu müde. Keine Lust. Unter hellen dünnen Wimpern her registrierte er die Umgebung - nicht ohne Mühe, weil alles so
verschwommen war und im Takt seines Herzschlages auf und ab tanzte. Smythe gähnte verhalten. Aus der Krabbenperspektive betrachtet wirkte der Strand schier endlos. Irgendwo hörte er aber doch auf, in diesiger Ferne, und das Meer rauschte als weiß gekrönte Wellen heran. Auf der Grenze zwischen Land und Wasser lag ein riesiger zerbeulter Metallklumpen.
Welcher Idiot hat meinen Tauchpanzer zerschossen?,
dachte Smythe verärgert. Private Bellows? Nein, kann
nicht sein, der hat mein Messer im Hals! Geschieht ihm Recht; was musste er auch mit Lynne herumschäkern? Wo ist sie überhaupt, die dumme Kuh? »Und wer ist das?«, fügte der Professor laut hinzu.
Wenigstens glaubte er laut zu sprechen. Tatsächlich war es nur ein heiseres Wispern. An dem zerstörten Tauchpanzer machten sich zwei Gestalten zu schaffen. Ihre Umrisse - gesichtslos gegen die schräg stehende Sonne - kamen Jacob Smythe bekannt vor, wenn auch nicht wirklich vertraut. Ächzend und noch immer benommen stemmte er sich auf die Ellbogen. Sand rieselte aus seinem schütteren blonden Haar, das der Vierundvierzigjährige zu einem wenig imposanten und schlaff herunterhängenden Pferdeschwanz gebunden trug. Ein Mann und eine Frau! Smythe kniff die Augen zusammen. Pole und Blayre wahrscheinlich. Gutes
Personal, hervorragend abgerichtet! Sie bergen bereits alles Verwertbare, ohne dass ich das extra befehlen muss.
»Jake?«, fragte erneut jemand neben ihm. Diesmal wandte Smythe den Kopf. »Da bist du ja, Lynne! Geht es dir gut?«, erkundigte er
sich in geheuchelter Besorgnis, als Captain Lynne Crow auf allen vieren herangekrochen kam. Blass und verkatert starrte die Tochter des hochdekorierten WCA-Generals ihren Geliebten an. »Wo sind wir, Jake?« »Nun, am Strand - das siehst du doch! Übrigens: Der Panzer ist hin! Muss ein unglaublicher Beschuss gewesen sein! Wenn ich nur noch wüsste, wie... na, egal. Jedenfalls sichern Pole und Blayre gerade das Wrack.« Flüchtig wies Smythe Richtung Meer. Aber noch während er sprach, hatte er mit einem Mal das Gefühl, dass an seinen Ausführungen etwas nicht stimmen konnte. Als Lynne seltsam fassungslos die beiden Namen wiederholte, fiel ihm auch ein, was es war: Corporal Maggie Pole und Private Blayre konnten unmöglich mit Aufräumarbeiten beschäftigt sein. Er hatte sie doch getötet! Plötzlich huschten Erinnerungsfetzen durch seinen Kopf, ein Stakkato blutiger, düsterer Bilder: Private Bellows mit durchstochener Kehle im Führerstand des Panzers. Riesige Rochen auf den Monitoren, so weit das Auge reichte - eine ganze Armee. Mündungsfeuer von achtern. Nervenzermürbendes Geschrei im Headset. Heulende Strömungstriebwerke. Ausweichmanöver. Angst. Smythe hatte die Hände auf der Steuerung: Waffensysteme aktiviert. Dreiersalve. Noch eine. Dann ein Feuerball... »Signatur des Zielobjektes erloschen! Mission ausgeführt - Panzer 2 eliminiert«, meldete der Astrophysiker abwesend, aber zackig wie in alten Zeiten. Wer den Drill der US Air Force einmal hautnah mitbekommen hatte, vergaß ihn nicht mehr. Und Smythe hatte ihn mitbekommen - zuletzt an Bord des Kampfjets, mit dem er und dieser Mistkerl Matthew Drax
aufgestiegen waren, um den nahenden Kometen »Christopher-Floyd« zu beobachten. »Das war in der Stratosphäre!« Smythe runzelte die Stirn, versuchte etwas Klarheit zu gewinnen und fragte sich schließlich gedehnt: »Ich habe einen Tauchpanzer aus der Stratosphäre geschossen?« »Jake! Du redest wirres Zeug«, tadelte die Tochter des Generals, stand auf und klopfte sich den Sand aus der Kleidung, wobei sie darauf achtete, dass ihr bionischer rechter Arm vollständig von der Kleidung bedeckt blieb.
Unfasslich! Es ist gar keiner da, der sie sehen könnte und was macht diese eitle Henne? Zupft ihre Federn zurecht! Als ob es nichts Wichtigeres gäbe! Smythe
wandte sich ab, um die aufkeimende Verachtung in seinen Augen vor Lynne zu verbergen. Captain Lynne Crow war die Leiterin einer Washingtoner WCA-Expedition, die das Geheimnis des Kratersees ergründen sollte. Den Posten hatte sie natürlich nur Daddys ordenklirrendem Einfluss zu verdanken - das stand für Smythe außer Frage! Der Astrophysiker verzog die Mundwinkel. Was dabei herauskam, wenn Weiber ihren angestammten Platz am Herd verlassen durften, sah man ja nun: Alle Erfolgschancen der Expedition waren vom Tisch gefegt, die Ausrüstung war Sperrmüll und das Team lag in der Biotonne. Kein Zweifel, die perfekte Hausfrau hatte ganze Arbeit geleistet! Ahnungslos nickte Lynne ihm zu, spreizte ihre Finger und fuhr sich ein paar Mal ordnend durch die langen roten Haare.
Kannst du lassen! Das macht den Braten auch nicht fett!, dachte Smythe gehässig, und nicht einmal im Traum hätte er Gewissensbisse empfunden wegen
solcher Betrachtungen. Schön, er schlief mit Lynne warum auch nicht? -, aber musste er sie deshalb gleich ins Herz schließen? Nein. Sie war jung, sah ganz passabel aus und war zudem der einzige Sprössling des Generals. Drei gute Gründe also, weshalb ein Mann mit Zukunftsplänen diese krankhaft ehrgeizige Person an seinen Körper lassen sollte. Der vierte waren die langen einsamen Nächte. Smythe wuchtete sich auf die Füße, kämpfte einen Moment um sein Gleichgewicht und warf einen Blick in die Runde. Aus dem wellenumspülten Panzer drangen Geräusche. Wie es schien, bauten die beiden Expeditionsmitglieder gerade etwas aus. Hoffentlich das Funkgerät! Wenn es noch funktionstüchtig war, konnte er vielleicht einen Hilferuf absetzen. Aber wohin eigentlich? Der Astrophysiker runzelte die Stirn. Smythe fühlte sich benebelt und unwohl und hatte alle Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen - es war, als läge eine Watteschicht zwischen Gedächtnis und Bewusstsein: Worte wollten ihm nicht einfallen, Bilder kamen nicht zustande und Erinnerungen ließen sich kaum greifen. »Überanstrengt«, murmelte er schließlich und nickte bekräftigend. »Jawohl, das ist es! Ich habe mich total überanstrengt und brauche eine Pause.« »Und wo, zum Teufel, sind wir hier?«, fügte er plötzlich wütend hinzu. Im selben Moment wünschte er sich, er hätte es sich verkniffen: Lynne würde diese Chance auf Revanche garantiert nicht ungenutzt verstreichen lassen! Und prompt: »Am Strand - das siehst du doch!«, rief sie ihm mit einem süßlichen Lächeln zu, das jedoch nicht anhielt. »Aber wo wir sind, spielt eine untergeordnete Rolle,
Jake! Viel wichtiger ist die Frage: Wie sind wir hier hergekommen?« »Ich weiß es nicht«, sagte Jacob Smythe hilflos und fühlte sich plötzlich sehr alt. *
(Wozu dient dieser Versuch, Liob’lan’imaa?) (Um die Verhaltensmuster der Primärrassenvertreter zu studieren, Tana’sil’uun! Es wird Zeit, Versäumtes nachzuholen. Wir hätten die Spanne seit der Landung des Wandlers nutzen sollen, um mehr über ihre Denkstrukturen herauszufinden, anstatt sie lediglich auf ein geringeres Niveau zu reduzieren. Nun drängt die Zeit.) (Niemand hat je ernsthaft in Betracht gezogen, dass diese Primärrassenvertreter zu einer Gefahr werden könnten, Liob’lan’imaa. Wie alle biotischen Einheiten waren sie als Versuchsobjekte eingestuft, die genutzt wurden, um das Ziel zu erreichen.) (Das ist korrekt, Tana’sil’uun. Sie werden auch nur noch für kurze Zeit eine Rolle auf diesem Planeten spielen. Trotzdem kommen wir jetzt nicht mehr umhin, uns näher mit ihnen zu befassen. Der Sol hat angeordnet, sie auf ihre Gefährlichkeit, ihre Handlungsweise und - daraus resultierend - auf ihren Nutzen hin zu überprüfen. Die gefangenen Objekte wurden als repräsentative Vertreter ihrer Spezies gewertet: verschiedene Altersgruppen, beide Geschlechter.) (Sie sind erstaunlich leicht zu täuschen! Wie erklärt sich das?) (Sie scheinen keine faktische Realität zu kennen. Sie vermengen Sinneseindrücke mit Wünschen und
Erfahrungswerten und formen daraus das Abbild eines Lebensraumes, der für sie angenehm ist - zumindest aber kontrollierbar.) (Dieselbe Situation wird unterschiedlich erfasst und gewertet?) (So ist es, Tana’sil’uun. Beide Objekte hatten den gleichen Start und haben Zugang zu einem gewissen Erinnerungspotential. Das weibliche wird dies als Orientierungshilfe nutzen, das männliche hingegen unterdrückt es willentlich.) (Aus welchem Grund, Liob’lan’imaa?) (Um seine dominante Position nicht zu gefährden - was er tun würde, wenn er sein Wissen zuließe und die daraus resultierende Angst zeigt. Es sind Rudelwesen, Tana’sil’uun. Besonders die männlichen Objekte sehen sich permanent gezwungen, ihren Platz in der Gruppe zu behaupten.) (Sollen wir sie trennen?) (Nein. Ich schlage vor, die Maßgaben zu verschärfen.) (Ich stimme zu, Liob’lan’imaa.) * Wind wehte übers Meer heran und zauste die eben geordneten Haare. Captain Crow baute sich vor ihrem Geliebten auf und stemmte ihre Fäuste in die Seiten. »Los, denk nach, Jake! Wir waren auf Tauchtiefe zweihundertsiebzig. Corporal Jackson hatte den Verstand verloren, Blayre sollte das Kommando übernehmen. Aber dann hat er uns mit Panzer 2 angegriffen! Du hast ihn weggeknallt, und dann... dann...« Lynne geriet ins Stottern und brach ab. Dann war da dieses Licht, hätte sie beinahe
hinzugefügt. Aber Jacob sah so angespannt aus, dass sie es nicht für ratsam hielt, sein ohnehin auf wackeligem Fundament stehendes Hirn mit rätselhaften Phänomene zu belasten. Stattdessen bemühte Captain Crow den eigenen Verstand. Was war mit diesem Licht?, fragte sie sich grübelnd, während Smythe leise vor sich hin murmelnd auf die Knie ging: Halb vergraben im Sand steckte sein Driller. Lynne beobachtete, wie ihr Liebhaber die Waffe hervorzog und ihr beinahe zärtlich den Sand abstreifte. Nett - und mir
knallt er seine Faust ins Gesicht!
Unwillkürlich betastete die junge Frau ihr Kinn. Jacob hatte sie niedergeschlagen - gestern, als die Welt im Chaos versank und Tauchpanzer 1 auf das glühende, von Rochen umtanzte Tor der Hölle zu glitt. Aber das war nicht an diesem Strand gewesen, oder? Nein, dachte Lynne. Das war irgendwo im Zentrum des Kratersees! Plötzlich glaubte sie ein Wispern zu hören. Es kam von innen, und sie begriff, dass es das Echo ihrer eigenen Stimme war. Nicht mehr als ein Hauch, aber hell und voller Panik: Gott im Himmel! Es war alles geplant! Lynne hielt den Atem an, während sich ganz allmählich der Vorhang des Vergessens hob und ihre Erinnerungen zurückkehrten. »Wir wollten den Kometen erforschen«, sagte sie langsam, wie erwachend, und nickte ein paar Mal. »Genau. Ich hatte die Truppe aufgeteilt - Blayre, Pole und Jackson waren mit Panzer 2 unterwegs, Bellows und wir in Panzer 1. Dann kamen die Rochen. Sie blieben auf Abstand, aber es wurden immer mehr.« »Bei Tauchtiefe zweihundertsiebzig hatten wir alle bereits Wahnvorstellungen.« Konzentriert und mit nach
innen gerichtetem Blick setzte sich Lynne in Bewegung, den rauschenden Wellen des Meeres entgegen. Als sie an Jacob Smythe vorbeiging, schloss er sich ihr an. »Blayre drehte durch und eröffnete das Feuer auf uns.« Lynne zeigte auf Smythe. »Du hast ihn unter Beschuss genommen und erledigt. Als Panzer 2 explodierte, gab ich Befehl, die Mission abzubrechen. Daraufhin hast du mich bewusstlos geschlagen.« »Ich musste Bellows ausschalten und habe danach Panzer 1 auf den Kometen zu gesteuert«, murmelte der Professor. »Da war dieses Licht...« Lynne blieb stehen und sah ihn erwartungsvoll an, aber Smythe verfiel sogleich wieder in dumpfes Brüten. Also nahm Crow den Gedanken selber auf. »Mit dem Licht kamen die Stimmen - aus dem Kometen direkt in unseren Verstand«, erinnerte sie Smythe. »Sie sprachen zu uns und dann... dann wussten wir es plötzlich, nicht wahr, Jake?« Lynne blieb stehen und legte eine Hand auf seinen Arm. »Es sind Außerirdische!«, wisperte sie, und die Größenordnung dieser Erkenntnis erschütterte Captain Crow bis ins Mark. »Sie kamen mit dem Kometen, um die Welt zu erobern! Und sie wollten uns töten! Wie zum Teufel sind wir ihnen entkommen?« Lynne bemerkte das heftige Stirnrunzeln ihres Begleiters und fragte sich, worüber er nur so angestrengt nachdachte. Sie konnte nicht wissen, dass Smythes Erinnerungen an einem Zeitpunkt abbrachen, der runde zehn Minuten vor ihrem eigenen Vergessen lag - also ehe der Kontakt zu den Daa’muren zustande gekommen war. Plötzlich erhellte sich die Miene des Professors. Er klatschte seine Hand vor die Stirn, sah auf und lachte befreit. »Ich hab’s! Es war nur ein Traum!«
»Sicher, Jake«, sagte Lynne mit langem Gesicht und trat gegen den welligen Sand, dass es nur so staubte. »Nur ein Traum. Was sollte es sonst gewesen sein?« »Hör mich an!« Smythe packte sie ungeduldig und schüttelte sie. »Was wir erlebt haben, war ein Tiefenrausch! Das ist ein bekanntes Phänomen, einfach auszulösen: Du tauchst zu schnell zu tief, schon fängst du an zu spinnen. Wahrscheinlich hat der Druckausgleich im Panzer nicht richtig funktioniert, oder die Sauerstoffzufuhr war falsch eingestellt, was weiß denn ich. Jedenfalls haben wir halluziniert.« »Schön. Und wie sind wir hier hergekommen, Herr Professor?«, höhnte Crow, verschränkte ihre Arme vor der Brust und starrte Smythe herausfordernd ins Gesicht. Dieser Idiot! Ständig musste er Gott und der Welt beweisen, dass er schlichtweg der Größte war, auf alles eine Antwort hatte und... Lynne stutzte, als ihr Blick über Jacobs Schulter auf den Tauchpanzer und die beiden Gestalten fiel, die schwer bepackt aus seinen zerschossenen Flanken ins Freie kletterten. Wie von fern hörte sie Smythe mutmaßen, er habe den Panzer wohl doch noch gewendet und sie irgendwie an Land gebracht. Mehr tot als lebendig. Er ganz allein! Lynnes Augen wurden größer und größer. Smythe fragte etwas, aber sie beachtete ihn nicht: Die beiden Diebe hatten sich in Bewegung gesetzt und rannten hinter Smythes Rücken davon - samt Funkgerät, Waffen und Teilen der Verpflegung ! »Sag mal, das sind doch...«, hob Lynne an, während er bereits ihrem Blick folgte, mit einem Aufschrei herumfuhr und erstarrte. Der Driller flog hoch wie von selbst.
Ohrenbetäubende Explosionen zerrissen die Stille des Strandes. Lynne zog unwillkürlich den Kopf ein. Jacob schoss, was der Driller hergab, und brüllte sich die Seele aus dem Leib. Sein hagerer Körper wurde vom Rückstoß der schweren Waffe durchgeschüttelt wie eine Puppe. Lynne streckte schon halb die Hand aus, um ihn zu stützen, ließ es dann aber bleiben. Sandfontänen explodierten in langer Reihe hinter den Flüchtenden her. Als sie sich senkten und ein harmloses Klick-klick ein leer geschossenes Magazin signalisierte, trat Crow aus ihrer Deckung - gerade rechtzeitig, um die zwei Gestalten unbeschadet zwischen den Uferfelsen landeinwärts verschwinden zu sehen. Keuchend drehte sich Jacob zu ihr um. Sein Gesicht war kalkweiß und von Hass verzerrt, seine Augen funkelten, und ein irres Kichern drang ihm stoßweise aus der Kehle. Lynne bemerkte kleine Speicheltropfen auf seinen Lippen. Großen Schritt zurück!, befahl sie sich angeekelt, scheiterte aber an der eigenen Courage und blieb reglos stehen. Jacob war durchgeknallt, ohne Zweifel. Besser, sie versuchte ihn zu beruhigen. »Wir kriegen sie, Jake, keine Sorge!« »Du hast sie erkannt?« Smythe ruckte vor wie eine Schlange. »Du weißt, wer sie sind?« »Verdammt! Lass meinen Hals los!« Lynne schlug seine Hand beiseite, trat zurück und log: »Nein, ich habe sie nicht erkannt. Wer waren die beiden denn?« Jacob Smythe sagte es ihr, und er zog ein Gesicht dabei, als hätte man ihn mit dampfendem Yakk-Gedärm überschüttet. »Diese Barbarenschlampe Aruula und ihr nichtsnutziger Liebhaber: Commander Matthew Drax.«
*
(Das Objekt wirkt sehr erregt, Wana’sil’eero!) (Es hat den zweiten Raum entdeckt und vermutet Schicksalsgenossen darin, Gu’lan’maaki. Die Kiemenatmer sind gesellig wie die meisten Höherentwickelten.) (Er sollte keine Ablenkung vorfinden. Es war geplant, durch vollständige Isolation eine erhöhte Gedankenfrequenz zu provozieren, um die Datenernte zu vergrößern. Brechen wir den Versuch ab?) (Das wäre verfrüht. Der Kiemenatmer hat eine Kontaktaufnahme versucht und ist gescheitert. Das wird ihn frustrieren. Möglicherweise setzt er sich nun vermehrt mit seinem Tantron-Projekt auseinander. Wir sollten ihn weiter beobachten.) (Ich stimme zu. Wer leitet den anderen Versuch, Wana’sil’eero?) (Liob’lan’imaa und Tana’sil’uun.) (Ist er schon initiiert worden?) (Vor wenigen Momenten, Gu’lan’maaki.) * Kurz bevor Mer’ol von seiner Zelle aus nach Quart’ol rief und Jacob Smythe den zerstörten Tauchpanzer entdeckte, tat sich etwas unter den Wellen des Kratersees. Aus nordwestlicher Richtung kommend, eine halbe Tagesreise von den wilden Stränden entfernt, waren zwei Gestalten unterwegs. Sie hatten sich vor Wochen schon einmal getroffen, waren ohne Streit auseinandergegangen und durch einen Zufall - oder einen jagenden Hai, wie man’s nahm - vor Stunden erst
wieder zusammen gekommen. Gerade waren sie knapp einer Begegnung mit schwärmendem Nesselkrill entkommen und durchkreuzten nun im Eiltempo die flachen Gewässer eines Atolls, das auf ihrer Route lag. Wie die Atolle der Südsee war es bewohnt, und zwar mit einer großen Auswahl an bösartigem Kleingetier. Einen der Reisenden zog es ganz entschieden ans Ufer zurück. »Nein, nein - das ist der falsche Weg! Wir müssen da lang!«, sagte Quart’ol und zeigte über den Rand des Atolls in die Tiefe. Sein Begleiter reagierte auf die Klacklaute des Hydriten mit langgezogenen Pfeiftönen. Quart’ol wurde ärgerlich. »Nicht so laut!«, zischte er und schlug dem Tier die flache Hand auf den Rücken; wohl wissend, dass seine Schwimmhäute und der Wasserwiderstand den Schlag zu einem Klaps dämpfen würden. Ti’u keckerte frech und wippte mit dem Kopf. Dann aber tauchte er folgsam ab - gerade als sich der Hydrit zum wiederholten Male fragte, ob es nicht doch besser gewesen wäre, die Suche nach seinem verschollenen Assistenten allein anzutreten. Quart’ols Ärger kam nicht von ungefähr. Wie schnell ein Aufenthalt im Kratersee zur Todesfalle werden konnte, war ihm nur allzu gut bekannt. Schließlich hatte er dieses Binnenmeer vor kurzem schon einmal betaucht - mit Maddrax, Rulfan, Mr. Black und Mer’ol. Das Ergebnis war eine Katastrophe gewesen. Die Rochen hatten Mer’ol verschleppt.
Möge Ei’don ihn beschützen und am Leben erhalten, bis ich ihn finde, dachte Quart’ol unbehaglich. Und möge er verhüten, dass mich dasselbe Schicksal ereilt!
Luftblasen rauschten in langen Streifen an seinem Körper vorbei, während Quart’ol mit hoher Geschwindigkeit nach unten gezogen wurde - fort vom goldenen Licht der Sonne, das die oberen Wasserschichten durchdrang, und hinein in das dunkle Schweigen des Meeres. Abwechselnd hielt er sich auf dem Weg hinunter mit einer Hand an Ti’us imposanter Rückenflosse fest. Die andere Hand schwebte an seiner Seite, nicht allzu weit entfernt vom Bauchschild und der darin steckenden Waffe. Man tat gut daran, auf einen plötzlichen Angriff vorbereitet zu sein! Nach einer Weile verlangsamte der Delfiin das Tempo, und Quart’ol tippte ihn an, um sich bemerkbar zu machen. »Falls du irgendwo einen Todesrochen siehst, zögere nicht, mir Bescheid zu geben!«, sagte er in der harten, klackenden Hydritensprache, und es ließ sich nicht heraushören, ob die Aufforderung wirklich nur ein Scherz gewesen war. Quart’ol wusste es selber nicht genau. Ti’u schwamm unbeirrt weiter; ganz so, als habe er kein Wort verstanden, und der Hydrit fand sich erneut mit der Frage konfrontiert, was er von diesem Begleiter halten sollte, der ihm so unerwartet begegnet war. Ursprünglich hatte Mer’ol ihn entdeckt, eine Woche vor ihrem Vorstoß zum Kometen, direkt vor ihrer Transportqualle. Sie dümpelte zu jener Zeit in einer Flussmündung nahe der Kristallfestung herum und war an der oberen Außenwand mit kleinen, gerade erst wachsenden Tauchanzügen besetzt. Die beiden Hydriten hatten sie aus dem bionetischen Material der Qualle gezüchtet, um Maddrax und seinen Freunden den Tauchgang zu dem Kometen zu ermöglichen, der in
achthundertsiebenundsechzig Metern Tiefe im Zentrum des Kratersees steckte. Eines Abends war dann plötzlich ein riesiger Schatten neben der Qualle aufgetaucht. Ein kurzer Blick durch die Sichtfenster, ein Stoß, ein Schaukeln - rupf-rupf-rupf -, und die Transportanzüge waren Geschichte. Als Mer’ol mitansehen musste, wie eine Arbeit von Tagen in Sekunden zunichte gemacht wurde, war er bereit gewesen, den hungrigen Delfiin zu erschießen. Quart’ol hatte dies verhindert. Ein Leben ohne Not auszulöschen war für den Quan’rill nicht akzeptabel. Er hatte die Qualle durch die Transportschleuse verlassen; bewaffnet zwar, jedoch in der Hoffnung, den großen Meeressäuger gewaltlos fortzujagen. Es hatte nicht funktioniert.
Den verscheucht nicht mal ein Seebeben! Dafür ist er viel zu neugierig!, dachte Quart’ol und musterte seinen
Begleiter amüsiert. Dass Ti’u ein Delfiin war, daran gab es für ihn keinen Zweifel, auch wenn das äußere Erscheinungsbild nicht unbedingt darauf schließen ließ. Wie alle Kreaturen im und am Kratersee hatte seine Spezies heftige Mutationsschübe durchgemacht. Das gut sieben Meter lange schwarze Tier hatte eine senkrecht stehende Schwanzflosse und einen Streifen dunkelgrauer Hornplatten auf dem Rücken, die mit unfreundlichen Pocken übersät waren, und der reißzahnbewehrte flache Kopf hätte auch einem Krokodil gut gestanden. Allerdings nicht die Augen: Sie waren leuchtend rot und voll heller Klugheit. »Denkst du, dass Mer’ol noch lebt?«, fragte Quart’ol. Natürlich kam keine Antwort - das hatte der Hydrit auch nicht erwartet. Er wollte nur das Schweigen in seinem
Inneren brechen, das so viel Platz bot für diese nagenden, mürbe machenden Zweifel. Sie begleiteten ihn, seit er sich von seinem Freund Maddrax und dessen Gefährten getrennt hatte, um an den Kratersee zurückzukehren und nach Mer’ol zu fahnden. »Ich hielt es für meine Pflicht, Maddrax den Tauchgang zu ermöglichen«, fuhr er leise fort. Quart’ol hatte dem Delfiin schon einiges über die Oberflächenbewohner und das Abenteuer am Grunde des Meeres erzählt - das war angenehmer als schweigend dahin zu schwimmen. Außerdem half es ihm bei der Suche nach einer Erklärung für seinen jetzigen Alleingang diesen selbstmörderischen Versuch, jemanden retten zu wollen, der vielleicht gar nicht mehr zu retten war. »Maddrax zu unterstützen war die richtige Entscheidung! Ich würde es wieder tun! Ohne seinen Vorstoß zum Kometen wüssten wir noch immer nichts von den Daa’muren und ihrem Plan, sich in gezüchteten Körpern auf der Erde auszubreiten.« Quart’ol zögerte. »Und nein - faktisch war es ganz bestimmt nicht meine Schuld, dass Mer’ol entführt wurde. Ich war ja nicht einmal dabei, als es geschah. Also konnte ich es auch nicht verhindern.«
Aber was nützt mir diese Erkenntnis, wenn ich nicht mehr schlafen kann?, dachte er bitter. Quart’ol war ein angesehener Wissenschaftler und als solcher durchaus fähig, sentimentale Gefühle beiseite zu schieben, wenn es dem Wohl der Mehrheit diente. Genau aus diesem Grund hatte er auch zunächst seinen entführten Assistenten zurückgelassen und stattdessen Matthew Drax begleitet, der die wichtigen Informationen nach London bringen wollte. Quart’ol und der Mann aus der Vergangenheit waren
Freunde. Sie hatten viel voneinander gelernt, seit der Geist des Hydriten aus einer Notsituation am Ende seines zweiten Lebenszyklus heraus mehrere Monate im Körper des Humanoiden verbracht hatte. Nun steckte er wieder in den eigenen »vier Wänden«, einem jugendlichen Klonkörper, und es war gut möglich, dass er dieses dritte Leben als unwiderruflich letztes im Kratersee verlieren würde. Tiu-tiu, sang der Delfiin. Quart’ol schrak aus seinen düsteren Gedanken auf und tastete nach dem Blitzstab. »Bitte! Du musst leiser sein!«, klackte er und legte eine Hand auf Ti’us Flanke. »Wir befinden uns hier im Reich der Todesrochen! Dein Gequieke ist meilenweit zu hören, und es wäre fatal, wenn die Biester uns entdecken würden.« Hast du das verstanden?, fügte er in Gedanken hinzu. Ti’u keckerte durch die geschlossenen Zahnreihen und winkte mit seiner herunterhängenden rechten Vorderflosse. Als wollte er auf etwas aufmerksam machen. Zeitgleich hörte Quart’ol eine fremde innere Stimme und nickte zufrieden. Er hat es verstanden! Anfangs war es nur eine Vermutung gewesen, aber inzwischen war sich Quart’ol sicher, dass der intelligente Delfiin mehr zu bieten hatte als Anhänglichkeit und Neugier: Ti’u beherrschte die mentale Kommunikation! Dass Quart’ol und er sich trotzdem wenig zu sagen hatten, lag daran, dass sie in unterschiedlichen Sprachen redeten. Was sich aber, so hoffte der Hydrit, irgendwann überbrücken ließ. Beider Gedankenimpulse fanden ihr Ziel - er musste nur noch den gemeinsamen Schlüssel finden.
Ti’u war ihm auf diesem Gebiet schon einen Schritt voraus, er konnte zumindest einzelne Worte mit Klängen oder Situationen verbinden und so ihre Bedeutung erkennen. Der schwarze Delfiin hatte seine Lernfähigkeit bereits an der Flussmündung unter Beweis gestellt, indem er ab der zweiten seiner fortan zahlreichen nächtlichen Stippvisiten Mer’ol konsequent aus dem Weg ging und die Tauchanzüge in Ruhe ließ. Ebenso war er in der Lage gewesen, seinem neuen Freund die Erkenntnis zu vermitteln, dass »Ti’u« je nach Betonung nicht nur ein erbärmlich lautes Quieken war, sondern ein Name. Sein Name. Quart’ol sah sich um. Sie hatten den Rand des Riffs erreicht. Vor ihnen gähnte ein lichtloser Abgrund. Eine Tiefseeschnecke kam heraufgeschwebt; schwarzweiß gestreift, mit orangefarbenem Bauch und gut einen Meter lang. Es lag eine gewisse Anmut in der Wellenbewegung des knochenlosen Tieres. Die Schnecke musste irgendein Ziel vor ihren beweglichen Stielaugen haben, denn sie blieb genau auf Kurs, trotz der beiden Reisenden. Quart’ol vermutete, dass sie an den Wanderalgen interessiert war, die im Kratersee dank der hohen Wassertemperatur gut gediehen und häufig als großer grüner Teppich unter der Oberfläche dahinzogen, bis das nächste Unwetter sie wieder auseinander riss. Wie falsch er mit dieser Vermutung lag, wusste Quart’ol nicht. Er sollte es aber gleich erfahren. Schnapp ging es, und die vordere Schneckenhälfte war weg. Ti’u warf den Kopf hoch, um nachzufassen, und durch den Ruck entglitt seine Rückenflosse Quart’ols Griff.
»Herzlichen Dank auch!«, knurrte der Hydrit sarkastisch. Als er die Hand ausstreckte und erneuten Halt suchen wollte, war nichts mehr da; der schwarze Delfiin hatte sich herumgeworfen und verschwand wie ein Schatten zwischen den Felsen an der Kante des Riffs. Auf einmal herrschte unwirkliche Stille ringsum. Quart’ol empfand sie als das, was sie war: eine Warnung. Lauernd aktivierte er den Blitzstab, während er Ti’us Beispiel folgte und eilends abtauchte. Gegen Todesrochen würde diese Waffe nichts ausrichten können, aber die schienen auch nicht der Auslöser für die plötzliche Flucht des Delfiins zu sein. Rasch hatte Quart’ol die sinkende Restschnecke eingeholt. Dünne Fäden strömten aus ihrem Körper. Sie hatten den Geruch blutender Fische, und er wich ihnen aus. Tauchen!, rief plötzlich eine mentale Stimme. Quart’ol gehorchte ohne Zögern. Im nächsten Moment schoss ein gigantisches Maul über seine Schulter hinweg.
Schnapp.
Die Schnecke war verschwunden. An ihrer Stelle wand sich ein meterlanges, bläulich schimmerndes Ungeheuer um sich selbst. Quart’ol erstarrte. Nicht bewegen! Nur ja nicht bewegen! Starre ausdruckslose Knopfaugen verloren sich fast in dem klobigen Kopf, nadelspitze Zahnreihen klappten träge auf und zu, und ein paar Seitenflossen wogten in der Strömung. Es war eine Stachelmuräne, dunkelbraun und von fingerlangen Dornen übersät, zwischen denen etwas zuckte, das wie Fadenwürmer aussah. Tatsächlich waren es Lichtbögen. Quart’ol kannte diesen Tiefseeräuber nur aus
Erzählungen. Stachelmuränen galten als ausgestorben. Ihre elektrischen Entladungen waren absolut tödlich, und über den Beschuss durch einen Blitzstab hätte solch ein schwimmendes Kraftwerk nur gelacht. Bei Ei’don! Was soll ich tun?, dachte er, während die Strömung ihn ganz allmählich davon trieb. Ihn und die Stachelmuräne. Was in ihr vorging, ließ sich nicht einschätzen - Quart’ol wusste nur, dass das Tier extrem kurzsichtig war. Nicht rühren!, befahl die Stimme in seinem Inneren. Ti’u - bist du das?, fragte Quart’ol und lauschte angestrengt. Tatsächlich kam auch eine Reaktion - aber ganz anders als erwartet. Jemand rief seinen Namen, und Quart’ols Herz machte einen Satz. Die Stimme war unverkennbar gewesen: Es war Mer’ol, sein verschollener Assistent! Er lebt!, dachte Quart’ol erleichtert. Auf einmal veränderte sich die Strömung ringsum. Etwas kam heran, das war deutlich zu spüren. Auch für die Stachelmuräne, deren Kopf sofort nach allen Seiten ruckte. Durch die Bewegung wurde sie immer näher gegen Quart’ol getrieben, und der Hydrit konnte dem Impuls kaum noch widerstehen, sich einfach herumzuwerfen und zu flüchten - aber es wäre sein Tod gewesen. Halte durch! Ich komme!, hörte er Ti’u rufen. Im dunklen Wasser blitzten Punkte auf. Es waren lauter kleine Fische, ein ganzer Schwarm. Rechts und links flogen sie erst an dem erschrockenen Hydriten vorbei und dann vor das Maul der Stachelmuräne, die unverzüglich zu schnappen begann. Lautlos glitt ein schwarzer Delfiin an seine Seite. Quart’ol griff nach der Rückenflosse, und Ti’u setzte sich
sofort in Bewegung - fast senkrecht hinunter in die Tiefe. Eile war geboten, diesen Ort zu verlassen, denn als er die Fische am Riff aufgestöbert hatte und sie herzutreiben begann, war ihm das grüne Leuchten begegnet, von dem sein Begleiter erzählt hatte. Dort kamen Todesrochen! * »Da lang! Los, beeil dich ein bisschen! Komm schon, Lynne - worauf wartest du?«, japste Smythe, während er die felsenübersäten Dünen hoch strauchelte. Matthew Drax und seine Barbarin hatten eine deutliche Spur im Sand hinterlassen, der man bequem folgen konnte. Trotzdem galt es keine Zeit zu verlieren! Lynne Crow verzichtete auf einen Kommentar. Schweigend stapfte sie hinter ihrem Geliebten her. Als Drax und Aruula urplötzlich aufgetaucht und gleich wieder verschwunden waren, hatten die beiden Gestrandeten noch in Windeseile den ausgeplünderten Tauchpanzer durchkämmt, ehe sie sich an die Verfolgung machten. Smythe hoffte vor allem auf Munition für seinen leergeschossenen Driller - aber auch sonst sollte kein weiteres Teil in die Hände von Drax’ RebellenExpedition fallen, die Smythe in der Nähe vermutete. Im Inneren des Panzers hatte Chaos geherrscht: keine Konsole, keine Gerätschaft, die nicht zersplittert, zerfetzt oder von Trümmern übersät gewesen wäre. Nur an der Ortung - hinter dem Steuerpult und von schwarz implodierten Bildschirmen umrahmt - war eine kleine Ecke ausgespart geblieben. Wie eine Insel der Stille hatte ein Sitz aus der Zerstörung geragt. Private Bellows hing darin, mit
zerschlitzter Kehle und blicklosen braunen Augen ohne Glanz. Captain Crow war dabei gewesen, ein paar Sachen zusammenzuraffen, und hatte laut geschrien, als sie ihn entdeckte. Smythe hingegen war gänzlich unbeteiligt geblieben, hatte den Toten mit harter Hand zu Boden gezerrt und die Taschen seiner Uniform durchwühlt. Ein Messer und etwas Munition waren seine Ausbeute gewesen. Dann hatten sich die beiden auf den Weg gemacht. Sie waren noch keine zwei Minuten unterwegs, da keuchte Smythe schon wie ein alter Hund. Er sah zum Fürchten aus: nass geschwitzt und krebsrot im Gesicht. Sein Mund war verzerrt, und seine wässrigen, vorstehenden Augen drohten ihm nun endgültig aus dem Kopf zu platzen. Was dem Professor so zu schaffen machte, waren die extremen Wetterbedingungen. Zweiundachtzig Prozent Luftfeuchtigkeit bei sommerhaften Temperaturen und einem Seewind, der die erhitzte Haut zum Frösteln brachte - das ging selbst den ortsansässigen Wilden an die Kondition, geschweige denn einem nicht mehr taufrischen Astrophysiker aus zivilisierteren Tagen. Aber Hass ist ein starker Motor, und er trieb Jacob Smythe zwischen Felsen und Seegras die Dünen hinauf, als befände er sich auf einer glatten Asphaltstraße. »Diesmal kriege ich dich, du elender Mistkerl!«, zischte er den Fußabdrücken im Sand zu. Drax und Aruula hatten Spuren hinterlassen, die größtenteils parallel zueinander verliefen und an den Fersen tief eingesunken waren - ein sicheres Zeichen dafür, dass ihre Verursacher schwer beladen sein mussten.
Smythe schaute auf. Jenseits der Dünen ragte eine windschiefe Zeder empor. Die Spuren führten genau darauf zu, wenn auch wegen der vielen Strandfelsen nicht in gerader Linie. Smythe nahm den Baum als Orientierungspunkt und stolperte vorwärts. Bei einem seiner flüchtigen Blicke nach oben sah er, dass sich ein sehr großer, zerzauster Vogel auf dem Wipfel niedergelassen hatte. Smythe glaubte in dem baumgrünen Tier eine Art Geier zu erkennen: Der Schnabel ragte wie ein Enterhaken aus dem kahlen Gesicht. Auf dem Grat der letzten Düne angekommen, blieb Smythe einen Moment stehen, beschattete seine Augen und sah sich um. Das Gelände vor ihm war abschüssig, der Strand zu Ende. Jenseits der mächtigen Zeder, die im Grenzbereich zwischen Sand und Erde heraufwuchs, breitete sich das Hinterland aus - Meilen um Meilen rau zerklüfteter Wildnis mit Felsformationen und dschungelartigen Wucherungen. Ein Wasserlauf schlängelte sich dem Meer entgegen, und irgendwo in weiter, diesiger Ferne schimmerten die Ringberge im Licht der Sonne. In der Mitte der Ebene stand ein Wäldchen. Zwei Gestalten rannten darauf zu. Smythe entdeckte sie und bekam fast einen Herzinfarkt. »Da! Da!«, giftete er aufgeregt, als Lynne an seine Seite trat, wies mit dem Driller auf Matt und Aruula und drückte ab. »Zum Teufel, Jake!«, fluchte Lynne Crow. Sie war bei dem Schuss heftig zusammengezuckt, der nun als schwächer werdendes Echo über die Ebene rollte.
Die Aktion war auf diese Entfernung natürlich völlig nutzlos gewesen - die einzige Wirkung war die, dass der Air Force Commander und seine Begleiterin herumfuhren. Matthew Drax hob etwas vor die Augen. Und dann winkte er fröhlich zu ihnen herüber. Smythe wimmerte vor Zorn, als ihm bewusst wurde, dass es sein eigener Feldstecher war, durch den der verhasste Feind ihn voll augenscheinlicher Schadenfreude erspäht hatte. »Glückwunsch, Jake! Mit deiner blöden Knallerei hat sich die Frage wohl erledigt, ob wir unbemerkt an Drax herankommen können!«, schnarrte Lynne. Beinahe hätte sie noch mit dem Fuß aufgestampft, was allerdings für einen Captain unschicklich gewesen wäre, weshalb sie es unterließ. Stattdessen warf sie einen Klageblick die Zeder hinauf. Gott! Er ist ein solcher Idiot! Smythe, der schon etwas sagen wollte, folgte ihrem Blick und erspähte zwischen den oberen, weit ausladenden Ästen ein großes Nest im Baum. Flüchtig suchte er den Himmel nach dem dazugehörigen Vogel ab. Im nächsten Moment registrierte er aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Etwas kam über die Dünen auf ihn zugeschossen - in gleicher Höhe mit seinem Gesicht. Smythe reagierte sofort. »Runter!«, brüllte er und ließ sich fallen. Captain Crow hatte diesen Warnruf oft genug gehört und duckte sich. Gerade noch rechtzeitig. Ein eisenharter Schnabel hieb nach ihrem Kopf, verfehlte ihn knapp und schlug stattdessen wie eine Spitzhacke in ihre Schulter. Lynne schrie, geriet ins Taumeln und stolperte über Smythe, der sich eben wieder aufrichten wollte. Durch den Stoß verlor er erst den Driller, dann jeglichen Halt,
ruderte noch mit den Armen - und rutschte den Abhang hinunter. Sie folgte ihm unfreiwillig, eingehüllt in Staubfontänen. Ein Schatten glitt über die beiden hinweg. »Dämliches Vieh! Was ist denn in den gefahren?«, schnaubte Smythe verärgert hinter dem geierartigen Vogel her und rieb sich das Schienbein. Sandbedeckte Steine hatten seinen Sturz am Ende der Düne gestoppt. Lynne kauerte neben ihm und tastete nach ihrer Schulter. Als sie die Hand zurückzog, waren ihre Finger voller Blut. Der Vogel flog weiter. Erst sah es aus, als wollte er verschwinden, doch plötzlich schwenkte er herum, schlug ein paar Mal mit den imposanten Flügeln, um zu beschleunigen - und kehrte zurück. Smythe schluckte. Keine Frage, das Tier würde angreifen! »Verdammt!« Hastig suchte er nach seiner Waffe. Er entdeckte sie meterweit über sich am Rand der Düne. Eigentlich hätte sie ihrem Besitzer in die Tiefe folgen müssen, aber ein Stein hielt den Driller an seinem Platz. Die Mündung zielte auf Smythe. Ein Krächzen ließ den Professor herumfahren: Der Geier - oder was auch immer das für ein Vieh war - näherte sich schnell, nach Raubvogelart mit hängenden Krallen und vorgerecktem Kopf. Smythe wurde klar, dass er sich geirrt hatte und dass es sich keineswegs um einen harmlosen, aasfressenden Geier handelte. Entschlossen zog er das Messer und schleuderte es dem Angreifer entgegen. Doch er war nicht zum Messerwerfer geboren - die Klinge flog meterweit ins Leere. Smythe bückte sich und suchte hastig im Sand nach Steinen.
Dabei ertastete er etwas Schlankes, Hartes. Ein Ast! Smythe packte zu. Als die Schwingen vor ihm scheinbar den ganzen Himmel ausfüllten und ihm der Wind schon ins Gesicht schlug, schnellte sein Arm hoch. Der Hieb traf den Vogel seitlich am Kopf und holte ihn aus der Luft. Kreischend und flatternd kam er herunter und prallte auf Lynne, die ihrerseits zu schreien begann. Mensch und Tier verschmolzen zu einem zappelnden Durcheinander. Smythe sprang auf die Füße, den Stock mit beiden Händen umklammert. Roll dich beiseite, blöde Kuh!, dachte er wütend und versuchte ein klares Ziel für seine Waffe zu finden. Plötzlich stutzte er. Der Ast war kein Ast! Lynne kämpfte sich unter den schlagenden Flügeln hervor und kroch auf allen vieren aus der Gefahrenzone. Smythe zögerte keine Sekunde und schlug zu. Wieder traf er den Vogel, und wieder fing das Tier in höchsten Tönen zu kreischen an. Giftig hackte es nach Smythe, wich dem nächsten Schlag aus und ergriff die Flucht. Anscheinend hatte das Biest den Schnabel voll davon, Beute zu schlagen. Smythe ließ sich in den Sand sinken und atmete auf. Was da kreischend und in weitem Bogen zu seinem Nest in der Fichte zurückkehrte, war ein Hapi’ir. Dieser fast schon wieder ausgestorbene Nachfahre mutierter Seeadler war ein sehr aggressiver Strandräuber. Die Jungen erreichten im ersten Federkleid eine Flügelspannweite von drei Metern, die Altvögel waren Monster. Wer sie kannte, hielt respektvollen Abstand. Smythe und Crow kannten sie nicht. Und sie ahnten auch nicht, dass sie nur an einen Jungvogel geraten waren. Noch nicht...
Lynne trottete heran, eine Hand im Rücken und das Gesicht schmerzverzerrt. Stöhnend setzte sie sich neben Jacob Smythe auf den Boden und langte über seine ausgestreckten Beine nach den Vorräten, die sie im Panzer zusammengepackt hatte. Schweigend kramte sie das Erste-Hilfe-Set heraus. Dann griff sie nach dem Aufschlag ihrer blutverschmierten Uniformjacke und sah Smythe erwartungsvoll an. Er rührte sich nicht und starrte nur auf den Stock in seiner Hand. »Was ist - hilfst du mir mal?« »Sieh dir das an, Lynne«, sagte Smythe und hielt den vermeintlichen Ast hoch. Es war der Oberschenkelknochen eines großen Humanoiden. Lynne strich ihre langen roten Haare zurück, beugte sich vor und musterte ihn. Eine steile Falte bildete sich zwischen ihren Augenbrauen. »Das ist nicht gut, Jake!«, sagte sie unbehaglich, ohne den Blick zu heben, und schüttelte den Kopf. »Nein - das gefällt mir ganz und gar nicht! Wir sollten hier verschwinden«. Als wären ihre Worte ein unheilvolles Stichwort gewesen, rauschte es plötzlich hinter ihnen. Über den Rand der Düne kam etwas Dunkles, Riesenhaftes - ein kahler Kopf mit stechend gelben Augen, Krallen, die ein totes Yakkfohlen durchbohrt hielten, und Flügel, deren Schlag genug Wind entfachte, um den Sand gleich wolkenweise aufzuwirbeln. Ein ausgewachsener Hapi’ir! Das Rufen des Jungvogels hatte ihn angelockt. Als er die beiden Eindringlinge sah, die sich in seinem Territorium aufhielten, ließ er seine Beute fallen und stieß einen grässlichen Schrei aus. »Shit!«, fluchte Smythe erbleichend, nicht nur weil das
tote Yakk auf ihn zurollte. Lynne packte seinen Arm und zeigte auf die Zeder. »Los, in Deckung!« Sie wartete keine Antwort ab und rannte um ihr Leben. Smythes gehetzter Blick flog hin und her. Was tun? Der Baum war eigentlich zu weit weg, als dass man ihn sicher vor dem riesigen Tier erreichen konnte. Ein paar Herzschläge noch, dann würde es im Sturzflug angreifen! Sandnebel wogten die Düne herunter... und mit ihnen kam der Driller! Die Erschütterungen mussten ihn von dem Stein gelöst haben. Smythe traf eine Entscheidung... * »Was hältst du davon, Ti’u? Sieht aus wie eine versunkene Stadt, oder?« Quart’ol legte eine Flossenhand auf den Rand der Felsen. Seine Augen verengten sich, während er das seltsame Gebilde musterte, das vor ihm aus der Tiefe schimmerte. Der Delfiin gab keine Antwort. Er hatte neben seinem Begleiter auf den Felsen aufgesetzt, schaukelte in der Strömung leise hin und her und ließ die Flossen hängen. Quart’ol streifte ihn mit einem mitleidigen Blick. Ti’u und er waren inzwischen mehrere Stunden unterwegs gewesen - stetig abwärts, stets auf der Flucht vor kreuzenden Todesrochen und einer anderen Route folgend als der, die Quart’ol bei seinem Tauchgang mit Maddrax genommen hatte. Das Wasser war unangenehm warm - sechsunddreißig Grad, und der Druck hatte sich erhöht. Quart’ol schätzte, dass sie eine Tiefe von etwa vierhundert Metern erreicht hatten. Ti’u schien es hier nicht zu gefallen. Der Delfiin, der sich gern in Küstengewässern aufhielt und gelegentliche
Abstecher in die Flussmündungen unternahm, war zunehmend schweigsam und träge geworden. Zu warm, zu dunkel, zu tief, sagte seine Körpersprache. »Möchtest du lieber umkehren?« Quart’ol wies mit einer vagen Handbewegung nach vorn. In der Ferne war ein schwacher grüner Widerschein zu erkennen, wie Nebelbänke an der Erdoberfläche. »Der Komet muss sich dort drüben befinden. Es sind vielleicht noch zehn, höchstens zwanzig Meilen. Das schaffe ich auch allein.« Keine Antwort. Ti’u kniff die leuchtend roten Augen zu und klinkte den Unterkiefer aus, als wollte er gähnen. Quart’ol tätschelte seine Flanke und wandte sich wieder der Stadt zu. Obwohl diese Bezeichnung natürlich nicht mehr zutraf: Es handelte sich lediglich um ein Trümmerfeld, das einst eine Stadt gewesen war. Hier und da konnte man noch die Umrandungen von Gebäuden und die Linien von Straßen ausmachen. Den deutlichsten Hinweis auf eine ehemalige Menschensiedlung gaben die von Korallen überzogenen, rostigen Autowracks, die der Hydrit hier und da erspähte. Es war ein Wunder, dass nach dem Aufschlag des Kometen überhaupt etwas übrig geblieben war. Quart’ol lief ein Schauer über den Rücken. Er stellte sich vor, wie es gewesen sein musste - damals vor über fünfhundert Jahren, als hier schlichtweg alles in Stücke flog: Flammen am Himmel, Sturmwind, infernalischer Lärm, nie gekannte Angst. Das Sterben der Stadt - und ihrer Bewohner, wenn sie nicht längst geflohen waren konnte nur Bruchteile von Sekunden gedauert haben, so dicht bei der Einschlagstelle »Christopher-Floyds«. Quart’ol schüttelte sich, um die Bilder wieder loszuwerden. Dann wandte er sich an Ti’u und zeigte auf
das Grab in der Tiefe. »Wir nehmen diesen Weg. Die Ruinen bieten genug Deckung vor den Todesrochen. Also komm!« Aufmunternd klopfte er dem Delfiin auf den Rücken. Gemeinsam glitten sie hinunter zu dem Trümmerfeld. Als sie es erreicht hatten, stellte sich heraus, dass die Geisterstadt alles andere als unbewohnt war. Vor den Mauerresten wiegten sich pappelhohe Braunalgen in der Strömung, von kleinen Fischen und Schneckentieren umhuscht. Tellerkrabben, weiß und groß wie Autodächer, bewegten sich seitwärts über die aufgebrochenen Straßen, und in den schwarzen, bodenlosen Spalten, die sich im Meeresgrund aufgetan hatten, blinkten unzählige Lichter. Sie wurden von den Kreaturen der Tiefsee erzeugt, großmäuligen, selbst für das Empfinden von Hydriten ausgesprochen hässlichen Wesen. Es war kein Verlust, dass man sie selten zu Gesicht bekam. Quart’ol und Ti’u hielten sich dicht am Boden und nutzen jede Deckung. Der Delfiin zeigte kein Interesse für das vor ihm flüchtende Kleingetier; es war ungenießbar. Es geschah, als sie den jenseitigen Stadtrand erreichten. Quart’ol bemerkte noch, dass sich von den Bewohnern der Stadt keiner mehr blicken ließ, aber bevor er misstrauisch werden konnte, kam der Angriff wie aus dem Nichts. Die sandige Fläche, die Quart’ol gerade überquerte, wölbte sich plötzlich unter ihm empor. Gleichzeitig tauchte ein kleiner grüner Kristall vor ihm auf, in eine ledrige Stirn eingebettet! Es war ein Todesrochen, der bewegungslos am Boden gelegen hatte, von einer dünnen Sandschicht getarnt! Jetzt fuhr er mit einem Schlag seiner gewaltigen
Schwingen hoch. Sein Schwanz peitschte. Quart’ol erhielt einen solchen Schlag in den Rücken, dass es ihn meterweit davon katapultierte. Dabei musste er froh sein, dass ihn nur die Oberseite des Schwanzendes getroffen hatte - denn aus der Unterseite ragten lange gebogene Dornen, die ihn in Streifen geschnitten hätten. Der Hydrit verlor keine Zeit damit, sich umzudrehen. Er startete durch und schwamm um sein Leben - so dicht wie möglich am Meeresboden entlang. Dass der Rochen ihm dichtauf folgte, konnte er an den Schwingungen des Wassers erkennen. Bei Mar’os’ finsterer Seele! Er war verloren! Es gab nirgendwo ein Versteck, und lange würde er dieses Tempo nicht durchhalten können! Quart’ol spürte förmlich, wie das grässliche Wesen immer näher kam. Und ringsum war nichts als offenes Wasser, vereinzelte kleine Trümmerteile und flache Felsen. Im buchstäblich letzten Moment tauchte doch etwas auf, ein wuchtiger kastenförmiger Klotz, von fahlen Korallen überwachsen und seiner ursprünglichen Form nahezu gänzlich beraubt. Niemand hätte noch erkannt, dass es sich um die Reste eines ehemaligen Linienbusses handelte. Quart’ol schlug einen Haken und steuerte den Kasten an. Wenn es ihm gelang, durch eine der Öffnungen ins Innere zu flüchten, war er gerettet. Zumindest für den Augenblick. Noch fünf Meter. Noch drei... Da wuchs vor ihm etwas Schwarzes in die Höhe! Raue Haut schob sich wie eine Wand in den Weg. Sie hatte ein solches Ausmaß, dass Quart’ol nicht ausweichen konnte aber berühren durfte er sie auch nicht, denn diese Haut, das wusste er, war hochgiftig.
Quart’ol versuchte darunter wegzutauchen. Ein Fächerfisch!, schoss es ihm durch den Kopf, während er haarscharf an dem gefährlichen Tier vorbei schrammte. Ausgerechnet! Er hatte schon in den Weiten des Allatis mit den Meeresräubern Bekanntschaft gemacht. Diese nahen Verwandten der Orkas waren rundum mit aufstellbaren Flossen bestückt, die ein tödliches Hautgift enthielten und messerscharfe Ränder hatten. Das schien selbst den Todesrochen zu beeindrucken, der bereits seine Kopftentakel nach Quart’ol ausgestreckt hatte. In letzter Sekunde zog er sie ein und schwenkte ab - seitlich gekippt, sodass sich der Hydrit plötzlich zwischen den beiden Giganten wiederfand: Der eine bewegte träge das Reißzahn bewehrte Maul, der andere holte mit seinem langen Stachelschwanz zum Schlag aus. Quart’ol erstarrte.
Die Flossen! Warte, bis er sie aufstellt und schwimm dazwischen!, rief ihm Ti’u zu. Quart’ol wollte protestieren,
aber dafür blieb keine Zeit. Schon peitschte die tödliche Schwanzspitze des Rochen heran. Der Fächerfisch sah sich bedroht und fuhr mit einem Ruck sein gesamtes Waffenarsenal aus. Meterlange Flossen klappten hoch. Quart’ol zuckte nach vorn, so tief wie möglich in die Zwischenräume hinein. Es krachte, als der Rochenschwanz mit Wucht auf den stacheligen Körper traf. Die Knorpelbögen mehrerer Flossen zerbrachen wie trockenes Holz, und ihr Besitzer stieß ein gepeinigtes Quarren aus. Er hatte ein eher träges Hirn, aber es reichte, um seine Chancen richtig einzuschätzen: Der Gegner war ihm über. Der Fächerfisch drehte sich um und floh - zurück in das Dunkel, aus dem er gekommen war.
Hinterher!, befahl Ti’u aus sicherer Entfernung. Bin ich verrückt?, dachte Quart’ol, schwamm auf den
versunkenen Bus zu und schoss - Arme voran - durch eine Fensteröffnung ins Innere. Der Stachel des Rochen hatte eine klaffende Wunde in den Fächerfisch geschlagen. Er zog eine Blutspur hinter sich her, und es war nicht ratsam, ihr zu folgen. Allerdings war es noch weniger ratsam, sich bei der Flucht vor einem Daa’murendiener auf ein fünfhundert Jahre altes russisches Gefährt zu verlassen! Rumms ging es, als der sieben Meter lange Rochen wie ein Rammbock gegen die Busflanke krachte - gleich unterhalb der Fenster. Die armdicke Korallenschicht zerbröselte, wirbelte wie Schneeflocken davon und gab längst verrostete Metallstreben frei. Sie stürzten zu Boden. Noch ehe sie ihn erreichten, war der Rochen ein zweites Mal heran. Diesmal trieb ihn sein eigener Schwung tief ins Innere des berstenden Wracks. Quart’ol wäre zerquetscht worden, hätte er sich noch dort befunden. Aber der Hydrit hatte schnell erkannt, dass dieses Versteck zur Todesfalle werden konnte, und war durch die Fensterhöhlen der anderen Busseite geflüchtet - dem kleineren Übel hinterher. Als er den verletzten Fächerfisch einholte, hatte das Tier nach Westen abgedreht und glitt auf ein fernes, zerklüftetes Fransenriff zu, dessen Zackenkrone sich tief schwarz vor der leuchtenden Nebelbank abzeichnete, die irgendwo dahinter lag. Quart’ol nickte grimmig. Den Anblick kenne ich!
Dahinter geht es steil nach unten - und dort befindet sich der verfluchte Komet!
Quart’ol hielt respektvollen Abstand von den giftigen,
messerscharfen Flossen, ließ sich jedoch so nahe wie möglich an den Unterbauch herantreiben. Von dort aus suchte er - vergebens - nach Ti’u. Dabei stellte er fest, dass der Todesrochen zappelnd in den Resten des Busses klemmte. Beim Versuch, sich zu befreien, ließ ihn das Wesen rhythmisch auf den Boden krachen. Quart’ol grinste mit schlecht verhohlener Schadenfreude. Make my day!, bemühte er eines seiner Lieblingszitate. Der Hydrit hatte eine ganze Reihe dieser kernigen Sprüche aufgeschnappt, als er noch in Maddrax’ Geist logierte. Er kannte die Filme gar nicht - was in manchen Fällen vielleicht auch besser war - fand es aber sehr erbaulich, sein Pseudowissen wie absichtslos in eine Unterhaltung einzustreuen und die Reaktionen zu beobachten. Sein Grinsen erlosch, als Quart’ol an seinen Assistenten dachte, der für solche Späßchen nicht das geringste Verständnis hatte. Der Hydrit überlegte, ob er einen mentalen Ruf aussenden sollte. Mer’ol wäre bestimmt sehr erleichtert, wenn er erfahren würde, dass endlich Hilfe unterwegs war. Andererseits... Quart’ol runzelte die Stirn. Auf seiner Reise zur Höhle des Löwen - auch so ein Begriff aus Maddrax’ Erinnerungen - waren ihm etliche Todesrochen begegnet, aber sie hatten nicht den Eindruck erweckt, als ob sie gezielt nach etwas suchen würden. Wenn die Daa’muren
noch nichts von meinem Besuch wissen, wäre es unklug, ihn anzukündigen. Also unterließ er den Ruf.
Der Fächerfisch schwamm auf eine bizarre Felsformation zu. Sie sah aus wie eine Handvoll schlampig übereinander gestapelter Schieferplatten jede davon doppelt so hoch wie er selbst. Überall vor den
Ritzen und Spalten bewegten sich kleine, schlanke, goldenblinkende Fische. Sie erinnerten an Heringe, waren aber dem Anschein nach Höhlenbrüter. Als der Fächerfisch ihre gut fünfhundert Meter lange Brutkolonie erreichte, schossen sie alle wie auf Kommando zwischen die Steine und verschwanden außer Sicht. Dafür tauchte über dem Rand der Felsen der Todesrochen auf! Verdammt! Gibt der denn niemals auf? Quart’ol beeilte sich, wieder unter den Bauch des Fächerfisches zu tauchen. Der Rochen hingegen ließ sich nur ein Stück heruntersinken und wartete. Er wusste, was nun kam. Die kleinen goldenen Fische nämlich. Sie fegten heran wie Lichtblitze, von überall her und zu Hunderten. Im Handumdrehen hatten sie den Fächerfisch umringt und fielen ohne Vorwarnung über ihn her. Quart’ol verlor fast alle Farbe, als er ihre langen spitzen Zähne sah. Es waren keine Heringe und auch nichts Artverwandtes. In den Felsen hauste ein ausgewachsener Sneppa-Schwarm. Piranhas der Tiefe. Ruckartig klappte der Fächerfisch die Flossen hoch. Quart’ol hatte großes Glück; er wurde durch die Bewegung fortgewirbelt, ohne Bekanntschaft mit den messerscharfen Rändern zu machen. Er ließ sich zu Boden sinken und erstarrte, während die Sneppa angriffen. Ihr Opfer hatte keine Chance. Der Fächerfisch versuchte zu entkommen, doch sie formierten sich vor seinem Maul, fetzten es weg und zerrissen ihm die Augen. Gegen das Hautgift waren die Sneppa immun: Sie schnappten nach den Fächerflossen und fraßen sich wie ein Schwarm
kleiner gelber PacMen daran herunter. Innerhalb von Sekunden waren nur noch weiß schimmernde Knorpelbögen übrig. Blut pulste in dunklen Wolken aus dem zuckenden Körper. Quart’ol wurde übel, als ein Regen auf ihn niederging und er erkannte, dass es Fleischfetzen waren. Im Todeskampf wand sich der Fächerfisch ruckartig hin und her. Über ihm sank der mächtige Rochen herab; nicht mehr lange, und das Einzige, was zwischen ihm und dem Hydriten stand, würde verschwunden sein. Weg hier!, dachte Quart’ol - und rührte sich doch keinen Millimeter. Die Sneppa waren überall, und er hatte keine Lust, ebenfalls bei lebendigem Leibe gefressen zu werden. In den Fängen des Rochen zu enden war zwar auch nicht erstrebenswert, aber vermutlich weniger qualvoll. Plötzlich bäumte sich der sterbende Riese auf. Die teuflischen goldenen Zwerge hatten sich durch seinen Leib gebissen und fetzten das Gedärm heraus. Eine einzige seiner Rückenflossen war noch intakt. Fast unversehrt ragte sie zwischen all den gebrochenen, zerkauten Knorpelbögen in die Höhe - hoch genug, um den Rochen zu treffen, der in seiner Gier zu nahe heran gekommen war! Sie schlitzte ihn der Länge nach auf. Seine weiße Unterseite klaffte auseinander wie ein geteilter Vorhang. Schlagartig verfinsterte sich das ohnehin schon blutgeschwärzte Wasser. Quart’ol konnte es kaum fassen: Der Rochen starb! Schon sank das riesige Wesen dem Boden entgegen und Quart’ol wollte sich bereits bei allen bekannten Göttern bedanken, als er sie sah: zwei dunkle Schatten, die sich schnell näherten.
Zwei weitere Todesrochen! Der Hydrit reagierte blitzschnell und tauchte unter den sinkenden Daa’murendiener. Quart’ol wusste, dass es nur eine Möglichkeit gab, den beiden anderen Rochen zu entfliehen. Er musste sich verstecken - und es gab einen Ort, an dem sie garantiert nicht nach ihm suchen würden. Widerwillig kroch er in den toten Körper hinein. Quart’ol schlug das Herz bis zum Hals. Hatten sie ihn gesehen? Saß er in der Falle? Würde sein neues Versteck, wie der Fächerfisch zuvor, von den Sneppa einfach weggefressen werden? Fragen über Fragen. Nur einer konnte sie beantworten. Ti’u! Rede mit mir!, befahl der Hydrit. Sie kreisen, tönte es nach bangen Momenten des Wartens aus der Ferne zurück. Sie suchen etwas. Da!
Jetzt kommen sie herunter!
Ein Ruck ging durch den Rochenkörper. Erschrocken krallte Quart’ol beide Hände in die Eingeweide des Kadavers und beobachtete durch den Bauchspalt, wie sich der Boden weiter und weiter entfernte.
Was geschieht jetzt, Ti’u?
Keine Antwort. Als der Sneppa-Brutplatz in immer schnellerer Geschwindigkeit unter ihm wegzugleiten schien, wusste Quart’ol auch ohne den Delfiin, was geschah: Die Rochen trugen ihren toten Gefährten davon. Wohin die Reise ging, wusste er nicht. Noch nicht... * Sie liebte ihn. Er war ein Egoist, aber sie liebte ihn, das wurde Lynne Crow in Momenten wie diesem bewusst.
Jacob war ihr nicht gefolgt, stellte sie fest, als sie die Zeder erreichte und sich keuchend nach ihm umsah. Der Mann aus einer anderen Zeit war vor der gewaltigen kreischenden Bestie, die wie ein Kampfjet vom Himmel stürzte, nicht geflohen, sondern hatte sich mutig nach vorn geworfen. Dem Driller entgegen. Lynne stockte der Atem, als seine Finger den Lauf knapp verfehlten und die Waffe an ihm vorbei glitt, mit Bugwellen aus Sand. Smythe hechtete hinterher. Bäuchlings landete er am Boden. Dann war der Hapi’ir heran. Sein Schatten fiel auf die Düne und floss in rasender Geschwindigkeit an ihr herunter - genau auf den ungeschützten Rücken des Professors zu. »Jake!«, hauchte Lynne erbleichend. Das anschwellende Kreischen des Raubvogels klang beinahe wie Hab ich dich!, und der Wind unter seinen Flügeln war so mächtig, dass er meterhohe, alles verhüllende Staubwolken aufwirbelte. Darum sah Captain Crow auch nicht, wie Smythe herumfuhr. Sie merkte es nur an dem Feuerstrahl, der plötzlich in die Höhe schoss und den Kopf des Tieres platzen ließ wie eine überreife Brabeele. Blutige Fetzen flogen in alle Richtungen davon. Lynne riss die Hand herunter, als neben ihr ein Stück Vogelhirn mit feuchtem Klatschen gegen den Baumstamm schlug. Wie ein Stein fiel der Hapi’ir zu Boden. Smythe schaffte es irgendwie, sich rechtzeitig beiseite zu rollen, um nicht von dem mächtigen Körper erschlagen zu werden. Den Flügeln aber konnte er nicht mehr entkommen. Lynne rannte los, als sie Jacob unter sich begruben und ein Stakkato heller harter Knackgeräusche erscholl. Es waren zentimeterdicke Federkiele, die beim Aufprall zerbrachen. Wie schräg stehende Zaunlatten ragten die glänzenden
Schwungfedern in die Höhe. Smythe arbeitete sich darunter hervor, krebsrot im Gesicht und mit funkelnden Augen. »Gottverdammtes blödes Mistvieh!«, fluchte er Angst und Wut heraus, den Driller in der Faust. Smythe stand auf und verpasste der toten Bestie einen Tritt. Dann legte er an - und gönnte sich den Luxus einer Handvoll vergeudeter Munition. Sein Adrenalinspiegel dankte es ihm. »Bist du in Ordnung?«, fragte er, als die Schüsse verhallt waren, und seine Stimme klang wesentlich entspannter. Von dem Hapi’ir war kaum noch etwas übrig. Lynne schlang ihre Arme um sein feuchtes Hemd. »Das hast du gut gemacht, Jake!«, sagte sie mit schief gelegtem Kopf und schenkte ihm ein betörendes Lächeln. »Ich weiß«, sagte er selbstgefällig, und das Lächeln erlosch. Arroganter Idiot! Verärgert ließ sie ihn los, wandte sich um und stapfte davon. Weit kam sie nicht: Smythe machte zwei Schritte, langte nach ihrem Arm und riss sie brutal zurück. Lynne schrie auf - ihr Schultergelenk schmerzte noch immer von der Attacke des Jungvogels, aber Jacob erstickte ihren Schrei. Hart presste er seine Lippen auf ihren Mund. Lynne wehrte sich nach Kräften - es gehörte dazu und steigerte ihr Verlangen. Sie war eine leidenschaftliche Frau voll Temperament und einer gewissen Faszination für Gewalt. Zärtlichkeit empfand sie als Zeitverschwendung. Es war das Einzige, was sie mit Jacob Smythe gemeinsam hatte. Wie hungrige Wölfe fielen die beiden übereinander her. Allerdings nicht lange.
Aus der Ebene hallte ein Schuss herüber. Smythes Kopf ruckte herum, als sei er getroffen worden. »Drax!«, zischte er, und seine Augen wurden schmal. Mit fliegendem Atem versuchte Lynne den Geliebten wieder an sich zu ziehen, aber er hatte das Interesse verloren, schlug ihre Hand weg wie ein lästiges Insekt und bückte sich nach dem Driller. Lynne wurde übel vor Zorn. Gab es für Jacob wirklich nichts Wichtigeres als diesen verdammten Commander Drax? Smythe beantwortete ihre Frage, ohne dass sie sie stellen musste. »Hinterher!«, befahl er, marschierte Richtung Ebene los und zeigte im Vorbeigehen mit dem Daumen über die Schulter. »Und vergiss unsere Ausrüstung nicht!« Lynne ballte die Hände zu Fäusten. Was erlaubte er sich? Ich habe hier das Kommando! Schlepp deinen Kram gefälligst selber!, wollte sie ihm hinterher schreien. Aber dann schwappten erneut diese erdrückenden Erinnerungen über sie hinweg wie ein Eimer kalten Wassers und machten ihr bewusst, dass von ihrer glorreichen WCA-Expedition gar nichts mehr übrig war. Nur noch Jacob Smythe und ein Bündel Habseligkeiten. Diese Restbestände mussten gesichert werden. Abrechnen konnte man später. Schweigend raffte Lynne die Sachen zusammen, folgte dem vorauseilenden Mann und schoss ein paar wütende Blicke auf ihn ab. Dieser Idiot! Er hatte die Wahl gehabt zwischen ihr und Drax, und er hatte ganz eindeutig die falsche Entscheidung getroffen! Bei nächster Gelegenheit, das stand für Lynne außer Frage, würde sie ihn dafür bluten lassen. Aber nicht bis zum letzten Tropfen, denn schließlich hieß der wahre Schuldige Matthew Drax. Außerdem brauchte sie Smythe
- mehr als sie es sich je eingestanden hätte. Sie war die Tochter des Generals. Ihre Macht, die aus dieser Tatsache erwuchs, war so groß, dass Lynne manchmal Schwierigkeiten hatte, noch irgendwo eine Grenze zu sehen. Sie konnte nahezu alles tun, was sie wollte - töten, zerstören, herumkommandieren. Ein gutes Gefühl, eigentlich. Aber wenn man tagein, tagaus nur von unterwürfigen Kreaturen umgeben war, die winselnd den Schwanz einzogen, weil Daddy Arthur Crow hieß, nützte die ganze Macht nicht viel. Widerstand war es, was den Reiz ausmachte. Aber den gab es nicht in WCAKreisen. Lynne lächelte versunken. Professor Dr. Jacob Smythe war da anders. Ein Exot, dieser Mann aus der Vergangenheit, der sich nichts sagen ließ. Intelligent, verschlagen, machtbesessen, skrupellos. An ihm konnte man sich messen - in jeder Beziehung - aber bei ihm konnte man auch das kleine Mädchen sein, das den despotischen Vater gleichermaßen verehrte wie fürchtete. Beschützt werden und bekämpfen. Zurückweisung mit Hingabe vergelten und zuschlagen, sobald der andere eine Schwäche zeigte. Hassliebe eben. *
Drax ist auch nicht mehr das, was er mal war!, dachte
Smythe gehässig, während er einen Grasstreifen entlang lief, der auf das Wäldchen zu führte. Trampelt über junge
Wiesen und hinterlässt eine Fährte so breit wie durchziehende Yakks! Dabei hätte er sich nur fünfzig Meter weiter rechts halten müssen - auf der trockenen Erde dort drüben wäre es ein Leichtes gewesen, seine
Spuren zu verwischen!
Smythe fühlte sich leicht und beschwingt. Sein Sieg über den Riesenvogel war so mühelos gewesen und gleichzeitig so beeindruckend - zu schade nur, dass ihn außer der blöden Kuh niemand gesehen hatte! Smythe seufzte. Mehr denn je wünschte er sich in seine eigene Zeit zurück, in der die Welt noch in Ordnung war und Helden wie er ihre verdiente Anerkennung fanden - weil es Videokameras gab, um solche Szenen aufzuzeichnen. »Scheiß Komet!«, brummte er und verpasste einer harmlos im Gras herumliegenden Moosechse einen Tritt. Quiekend flog sie davon. »Verfluchter Drax!« »O Mann - das ist ja so krank! Dein ewiges Genörgel über diesen Typ wird dich noch den Verstand kosten, weißt du das?«, hörte er Lynne hinter sich giften. Smythe zog verächtlich die Mundwinkel herunter. Weiber. Was wussten sie schon von den Härten des Lebens? Bereitschaft zeigen und kommen lassen, mehr brauchten sie nicht zu tun! Ganze Kerle aber, Männer wie er, mussten ständig ihren Marktwert testen - und wenn dieser »Markt« in einer feindlichen, fremdartigen Welt lag, an der man selber fast verzweifelte, war es dem Seelenfrieden alles andere als zuträglich, einen Konkurrenten wie Matthew Drax vor der Nase zu haben. Der Kerl hatte sich nicht nur problemlos eingefügt in die Neue Welt und konnte sich darin behaupten - es schien ihm sogar Spaß zu machen! »Verfluchter Drax!«, wiederholte Smythe aus tiefstem Herzen. Dann hatten sie das Wäldchen erreicht. Aus der Nähe betrachtet war es groß, lichtdurchflutet und wegen der vielen hohen Farne schlecht einzusehen. Man musste damit rechnen, dass dort jemand lauerte - bewaffnet und
bereit, menschliche Beute zu schlagen. Smythe nahm den Driller hoch, entsicherte ihn und sah sich gründlich um. Aber da war nichts. Ein sanfter Wind rauschte durch die Wipfel der Bäume, Vögel zwitscherten geschäftig vor sich hin, und irgendwo plätscherte ein Wildbach. Smythe konnte es förmlich spüren: Die Gegend war verlassen. Aufatmend ließ er seine Waffe sinken und setzte sich wieder in Bewegung. »Sieht aus, als wären wir an einer völlig unbewohnten Stelle gestrandet!«, sagte er nach einer Weile über die Schulter zurück. »Das trifft sich gut. Was ich jetzt am wenigstens gebrauchen kann, sind diese degenerierten Wilden und ihr krankhaftes Verlangen, Fremde zu töten.« »Du hast Recht, Jake - man sollte nur töten, wen man kennt«, meinte Lynne sarkastisch, während sie ihm folgte. Smythe verzichtete auf eine Antwort. Er starrte zur Erde, Jagdfieber in den Augen, und seine Nasenflügel bebten: Der Waldboden war mit Jungpflanzen übersät, von denen Matt und Aruula etliche auf ihrer Flucht zertreten hatten. Aber nicht nur das! Bei einigen Pflanzen blinkten dicke Tropfen an der Bruchstelle - ein deutliches Anzeichen dafür, dass diese Spur frisch war. Lange konnte es also nicht mehr dauern, bis er den verhassten Feind endlich vor die Mündung bekam! Eine halbe Stunde später jedoch hatte sich diese Hoffnung noch immer nicht erfüllt. Auch der Wald, der von den Dünen her nicht viel mehr gewesen war als ein kleiner Park, nahm seltsamerweise kein Ende. Smythe wunderte sich darüber, suchte auch nach einer Erklärung, fand aber keine und beließ es schließlich
dabei. »Ich hab Hunger«, maulte Lynne unvermittelt. Als er nicht reagierte, zupfte sie an seinem Ärmel und schmiegte sich an ihn. »He, was hältst du davon, wenn wir eine Pause einlegen? Wir sind ganz allein hier, Jake! Wir könnten uns irgendwo ein gemütliches Plätzchen suchen und...« »Davon wird man auch nicht satt«, unterbrach er sie schroff und riss sich los. Herrgott! Kann sie keine fünf
Minuten an was anderes denken? Sex zum Frühstück, Sex im Panzer, draußen, drinnen, mittags, abends und bei Vollmond. Und mir wirft sie Besessenheit vor!
Natürlich fühlte er sich geschmeichelt. Und natürlich wollte er es ebenfalls. Aber erst musste Matthew Drax ausgeschaltet werden - er und diese Barbarenschlampe hatten sich ein Mal zu viel mit ihm angelegt! Heute wurde abgerechnet. Und danach... Plötzlich hob Smythe den Kopf. Suchend sah er sich um, runzelte die Stirn und lauschte. Lynne sah ihn an und wollte etwas sagen, aber er hob warnend die Hand. Und dann hörte er es - ein leises Geräusch, ganz in der Nähe: Jemand hustete verhalten. Smythe nickte grimmig, tätschelte seinen Driller und huschte los. Jetzt bist du
dran - Maddrax!
* Üblicherweise herrscht auf dem Meeresboden absolute, undurchdringliche Finsternis. Nicht aber hier, im Zentrum des Kratersees: Meile um Meile verbreitete sich ein pulsierender Schein, grün und unwirklich wie alles, was er beleuchtete. Bizarre Gebirge, schwarz verbranntes Lavagestein,
Schluchten, Abgründe und ein aktiver Vulkan, der versteckt unter kollabierten Felsplatten lag und in schnellen Schüben Schwärme von Gasblasen heraus jagte - das war die Unterwasserlandschaft, die der Einschlag »Christopher-Floyds« hervorgebracht hatte. Sie war, wie auch der Komet selbst, übersät von schlanken, einen Meter hohen Kristallen. Jeder für sich leuchtete wie ein überdimensionaler Glühwurm, alle zusammen ergaben das grüne Licht, das den Brocken aus dem All und seine Umgebung dem Dunkel der Meerestiefe entriss. Quart’ol stockte der Atem, als er vorsichtig unter dem Kopf des toten Rochen hervor spähte. Er war schon einmal hier gewesen, mit Maddrax und dessen Expedition, aber sie hatten die Tauchqualle zur Anreise benutzt und sich so nahe wie möglich am Boden gehalten. Von dort war wenig zu sehen gewesen: Ein Wald aus Seegras, dicht und meterhoch, hatte ihnen die Sicht versperrt. Der Wissenschaftler in Quart’ol regte sich, trotz der gefährlichen Situation. Zu gerne hätte sich der Hydrit aus seiner unappetitlichen Transporthülle befreit und hinabsinken lassen, um allein und in Ruhe das Umfeld des Kometen zu erforschen, auf den er dank der beiden Todesrochen geradewegs zusteuerte. Aber natürlich war das nur Wunschdenken. Quart’ol grinste schief: Ehe er freiwillig ausstieg, müssten erst die Rochen verschwinden, die ihn rechts und links so mitleidlos seinem Schicksal entgegen trugen. Ganz zu schweigen von dem stetig anwachsenden Rochenheer, das hier patrouillierte und bereits jetzt schon, gut sechs Meilen vom Kometen entfernt, zahlenmäßig erschreckend war.
Um sich abzulenken, studierte der Hydrit die Umgebung. Das Wasser war unangenehm warm nahezu fünfunddreißig Grad - und der Druck enorm; dennoch gab es Leben hier unten. Im Laufe der letzten fünfhundert Jahre hatten Fische und andere Meeresbewohner sich angepasst. Immer wieder huschten flinke Schatten vorbei, und die Felsen am Boden waren von Schalentieren besiedelt. Einmal sah Quart’ol ein schlankes Wesen in Bogensprüngen den Seegras-Wald durchfliegen, und er fragte sich, was aus Ti’u geworden sein mochte. Er hatte mehrmals nach ihm gerufen, jedoch keine Antwort erhalten. Trotzdem glaubte er nicht, dass sein kluger schwarzer Begleiter den Rochen zum Opfer gefallen war genausowenig wie er noch daran glaubte, dass es sich tatsächlich nur um einen Delfiin handelte. Quart’ol kannte die Sprache der großen Meeressäuger, und er wusste um ihre zum Teil erstaunliche Intelligenz. Aber noch nie war er einem Tier begegnet, das über rationale Informationsverarbeitung hinaus denken konnte - und sogar Kommentare abgab! Ist es möglich?, fragte er sich. Kann es sein, dass wir
unsere Suche damals zu schnell aufgegeben haben und die Legende von Hanoch doch mehr ist als ein romantisches Märchen?
Der Gedanke erschien ihm plötzlich nicht mehr so abwegig wie früher, und Quart’ol - froh um jede Ablenkung von den schweigenden Todesrochen, ließ sich davon fesseln. Er wusste, dass der Planet noch längst nicht vollständig erforscht war, und er hatte Leben gesehen - zu Wasser wie an Land -, das eigentlich nicht sein konnte und dennoch existierte. Daher war es im Grunde vermessen gewesen, die Existenz jener
rätselhaften Riesenmenschen kurzerhand für nichtig zu erklären, nur weil man ihre Stadt nicht gefunden hatte. Hanoch. Ein versunkener, mystischer Ort tief unter den sturmgepeitschten Wellen des Kaspischen Meeres und Metropole einer vergessenen Zivilisation aus Jahrhunderten vor Beginn der Zeitrechnung. Sie hatte ihren Zenit schon überschritten, als Majas und Azteken noch in Höhlen wohnten und am Nil keiner hätte sagen können, was eine Pyramide war. Ihr Leben auf trockener Erde endete, als die Sintflut kam und das Kaspische Meer gebar, das bis zum heutigen Tage voller Rätsel steckt. Es musste ein kleines Volk gewesen sein, das Hanoch bewohnte, denn außer der Hauptstadt mit ihren umliegenden Trabanten war nie eine andere Siedlung erwähnt worden. Überlieferungen gab es so gut wie keine, und eindeutige Beweise für die Existenz der Riesenmenschen noch weniger. Allerdings wurden bis zum Einschlag des Kometen gelegentlich merkwürdige Dinge an Land gespült. Sie tauchten nach besonders schweren Stürmen auf und waren mit nichts Bekanntem vergleichbar, weshalb unter den Anrainern des Meeres das Gerücht von einer geheimnisvollen Unterwasserwelt entstand. Noch ein Atlantis! Quart’ol lächelte dünn. Die Hydriten waren natürlich auch diesen Hinweisen nachgegangen, so wie allen anderen. Schließlich wäre es nicht uninteressant gewesen, Kontakt zu einer Hochkultur aufzunehmen, bei der angeblich selbst die Haustiere noch mit einer Intelligenz gesegnet waren, von der so mancher heutige Mutant nicht einmal träumen konnte, weil ihm die Worte dafür fehlten.
Aber ihre Suche im Kaspischen Meer war vergebens gewesen - und die Frage, ob es den Riesenmenschen tatsächlich gelungen war, eine Naturkatastrophe zu überleben und ihre Körper im Laufe der Jahrhunderte so zu verändern, dass sie unter Wasser weiter existieren konnten, blieb unbeantwortet... Eine plötzliche Abwärtsbewegung riss Quart’ol aus seinen Gedanken und brachte ihn in eine Wirklichkeit zurück, auf die er gern verzichten hätte. Die Todesrochen hatten den Seegras-Wald hinter sich gelassen und hielten im Sinkflug auf den Kometen zu. Er war ein Gigant, mit bis zu acht Kilometern im Durchmesser, der sich mit leichter Schräglage in den Boden gerammt hatte. Quart’ol erinnerte sich: laut Maddrax’ ISS-Karten lag seine tiefste Stelle bei achthundertsiebenundsechzig Metern, wobei etwa vierhundert davon über den Meeresboden hinausragten. Abertausende grüner Kristalle bedeckten seine Oberfläche, und Quart’ol krampfte sich der Magen zusammen, als ihm wieder klar wurde, dass in jedem einzelnen davon der Geist eines Daa’muren steckte. Beim Näherkommen entdeckte Quart’ol etwa zwanzig Meter über dem Boden ein seltsames Gebilde an der Flanke des Kometen. Maddrax hatte es ihm beschrieben, und der Hydrit glaubte es wiederzuerkennen, ohne es je gesehen zu haben: Das musste die »Kommandozentrale« sein, die Mer’ol zum Verhängnis geworden war! Ihretwegen hatte Quart’ols wissenschaftlicher Assistent die Gruppe verlassen und war näher an den Kometen heran geschwommen - geradewegs in die wartenden Tentakel der Todesrochen. Das schwarze Lavagestein des großen gebäudeähnlichen Aufsatzes war im Gegensatz zur
restlichen, naturbelassenen Oberfläche des Kometen glatt und wirkte wie geformt. Und es gab keine Kristalle darauf. Unterhalb des Aufbaus befand sich eine Art Dock. Tentakel voran und aufgereiht wie Perlen an der Schnur verharrten dort zahllose Todesrochen. Eine weitere Hundertschaft patrouillierte auf trägen Schwingen in unmittelbarer Nähe. Quart’ol sah sie und spürte, wie sich sein Flossenkamm sträubte. Wie lange würde es noch dauern, bis man ihn entdeckte? Und überhaupt: Warum schleppten diese beiden Rochen ihren toten Gefährten zum Kometen zurück? Wollten sie ihn entsorgen? Gab es im Inneren eine Art Wiederaufbereitungsanlage? Oder war es eine rituelle Handlung? Es entbehrte eigentlich jeder Logik, aber Quart’ol plagte nicht mehr als ein mulmiges Gefühl, solange die Rochen auf den Kometen zuhielten. Erst als sie überraschend abschwenkten - auf einen Kurs, der hinunter zu den umliegenden Felsen führte -, bekam es der Hydrit mit der Angst zu tun. Sie erfasste ihn aus dem Nichts und steigerte sich in rasender Geschwindigkeit bis an die Grenze des Erträglichen. Quart’ol spürte sein Herz hämmern, während die beiden Rochen zum Meeresboden abtauchten. Und dann sah er es. Verborgen unter seitlichen Auswüchsen des Kometen gähnte ein enger Einschnitt. Das allgegenwärtige grüne Leuchten endete an den Felsen, die ihn umrandeten; die Spalte selbst war ein lichtloses Loch. Dort hinein tauchten die Rochen mit ihrem toten Gefährten, sanken hinab immer tiefer - und landeten schließlich irgendwo in sandiger dunkler Tiefe. Quart’ol ächzte, als das Gewicht des riesigen Wesens auf ihn herunterkam und er
zwischen kalten Eingeweiden und dem Boden eingeklemmt wurde. Anfangs wagte er keinen Mucks, aus Angst, die Todesrochen könnten noch über ihm schweben und ihn bemerken. Doch als der aufgewirbelte Sand sich allmählich senkte und der zerschlitzte Körper in der Dünung sacht zu schaukeln begann, erkannte Quart’ol, dass er allein war. Mühsam zwängte er sich mit der Bewegung des Rochen ein Stück aus dessen Bauchlappen heraus, versenkte die Hand im Boden und schaufelte Sand beiseite. Es war schwierig und dauerte eine Weile, bis der Fluchtweg entstanden war - aber Quart’ol schaffte es und rettete sich ins Freie. Warum haben sie das getan?, fragte er sich, während er einen Blick in die Runde warf. Es war nicht viel zu erkennen in der Finsternis, nur ein milchiges Schimmern hier und da. Hoch über ihm jedoch zeichnete sich deutlich der Spaltenrand ab - durch das vertraute grüne Leuchten, das über die Öffnung hinweg waberte.
Warum haben die Rochen den Kadaver hierher gebracht?
Quart’ol fielen mehrere Möglichkeiten ein: Kultstätte, Endlager, Resteverwertung. Aber indem er neben dem toten Wesen stehen blieb, würde er keine Weisheit erlangen. Wenn er herausfinden wollte, was es mit diesem Einschnitt auf sich hatte, musste er ihn erkunden. Andererseits hatte Mer’ols Schicksal oberste Priorität. Der Hydrit warf einen abschätzenden Blick hinauf zum Rand: Alle paar Herzschläge zog der große Schatten eines Rochen darüber hinweg. Quart’ol war sich darüber im Klaren, dass er kaum eine Chance hatte, an seinen Assistenten heranzukommen.
Nur die Götter wussten, wie es im Inneren dieser »Kommandozentrale« aussah und ob dort überhaupt Gefangene untergebracht waren. Aber eines stand fest: Ohne Plan würde er den rochendurchpflügten freien Raum zwischen Krater und Kometenoberfläche niemals überwinden. Zumindest nicht lebend.
Ich werde noch einen Moment hierbleiben und auf eine Idee hoffen, sagte sich der Hydrit, schwamm ein Stück in die Höhe, pflückte einen großen, blau und grün pulsierenden Seestern von den Felsen und tauchte wieder hinunter. Er wollte sich nur ein wenig umsehen. Dass er auf dem besten Wege war, das Geheimnis der Todesrochen zu lüften, wäre Quart’ol nicht einmal im Traum eingefallen. Und irgendwo in der Dunkelheit öffneten sich zwei fahle Augen... * Unterdessen waren Jacob Smythe und Lynne Crow den Geräuschen gefolgt und hatten eine Spur gefunden. Sie führte an offenes Gelände heran, das von Farnen umgeben war. Dort hatte Smythe Position bezogen und suchte ein Ziel für seine Waffe. Etwas bewegte sich. »Das ist doch nicht Drax!«, flüsterte Lynne Crow an seinem Ohr. Smythe kapitulierte, ließ den Driller sinken und warf einen Beschwerdeblick gen Himmel.
Herr! Warum konntest du die Einfalt unter deinen Schafen nicht gleichmäßiger verteilen? Und warum musstest du das Dümmste ausgerechnet mir anhängen?, fügte er wütend hinzu, fuhr herum und fauchte seine Gefährtin an: »Was du nicht sagst! Ich
hätte schwören können, er ist es! Genau so habe ich Matt Drax in Erinnerung: langhaarig und mit vier Armen!« Smythe stand auf, verließ sein Versteck im Farn und marschierte los. Er gab sich keine Mühe mehr, die Lichtung unbemerkt zu erreichen, an die er sich erst so vorsichtig herangeschlichen hatte. Jetzt, da er wusste, dass er einen Fremden verfolgte statt seinen Erzfeind, war es egal, ob er bemerkt wurde oder nicht. Neben ihm grollte ein leerer Magen. Smythe ruckte herum. Lynne zog die Schultern hoch und schenkte ihrem Begleiter ein schiefes Lächeln. »Was soll ich machen? Ich hab Hunger!« Smythe schnaubte nur unwillig und trat hinaus auf die Lichtung, Driller voran. Ein Mutant hatte sich dort zur Rast niedergelassen - schlank, hellhäutig und mit markanter Hornplattenzeichnung auf Brust, Hand- und Fußrücken. Er war barfuß unterwegs, nur mit Pluderhose und Weste bekleidet. Emsig breitete er seine Vorräte neben dem Lagerfeuer aus, und Smythe schluckte unwillkürlich. Es waren lauter appetitliche Speisen, die sich dort auf fleischigen Blättern türmten: rote und schwarzglänzende Beeren, frisch gebackenes Fladenbrot, Kräuter und ein paar große saftige Bratenstücke. Der Mann sah auf, als Smythe näherkam. Er wirkte misstrauisch, aber nicht wirklich verängstigt. Smythe entsicherte den Driller. Er ist nicht allein
unterwegs! Das Essen reicht für eine ganze Kompanie!
Lynne tippte ihn an. »Hier stimmt was nicht, Jake!«, raunte sie. »Der Typ ist ein... wie heißen sie noch? Ach ja: Rriba’low. Ein kleines Volk. Haust in den Buchten am Strand.«
»Und?« »Das sind Fischer! Was hat ein Fischer im Wald zu suchen?« Smythe wiegte bedächtig den Kopf. »Ein bisschen Abwechslung, nehme ich an. Vielleicht ist er es Leid, immer nur stinkende Muscheln und Kochfisch zu kauen. Wo ist das Problem?« »Du bist das Problem!«, rief sie hitzig. Lynne stemmte die Fäuste in die Seiten. Eine steile Zornesfalte hatte sich zwischen ihren Brauen gebildet. »Du hast dich so in diesen Drax verbissen, dass du die Realität überhaupt nicht mehr wahrnimmst! Deine Besessenheit wird dich eines Tages noch ins Grab bringen. Denk doch mal nach, verdammt: Wir wachen an einem Strand auf, ohne zu wissen, wie wir dort hingekommen sind. Zufälligerweise sind Drax und die Barbarin ebenfalls dort. Ein riesiger Vogel greift uns an, aber du erledigst ihn mit einem einzigen Schuss. Und jetzt treffen wir mitten im Wald einen Fischer. Findest du das normal, Jacob?« Stirnrunzelnd hatte Smythe ihr zugehört. Als sie innehielt - atemlos und mit funkelnden Augen -, setzte er seine strenge, etwas gönnerhafte Professorenmiene auf und räusperte sich. »Posttraumatisches Stresssyndrom«, belehrte er sie. »So nennt man diese Ausbrüche. Du bist erschöpft, Liebes, und deine Nerven sind überreizt. Komm, lass uns versuchen, dem Mann etwas Nahrung abzuhandeln!« Scheinbar fürsorglich streckte er seine Hand nach ihr aus. Lynne stieß sie beiseite, reckte das Kinn hoch und stapfte dem Fremden entgegen. Smythe folgte ihr, und der heimliche Blick seiner Augen war kalt wie Eis. Durchgeknallt!, dachte er. Ihr Spatzenhirn hat den Geist
aufgegeben!
Und jetzt treffen wir mitten im Wald einen Fischer...!
Na und? Mir ist in Berlin Köpenick mal ein Pope begegnet. Habe ich deshalb geglaubt, die Russen kommen? Nein, habe ich nicht. Aber ich bin ja auch normal, im Gegensatz zu dieser Zicke! Lynne Crow hatte derweil den unbekannten Rriba’low erreicht. Er war aufgestanden und wich ein paar Schritte zurück, als sie zu reden begann. Gestenreich versuchte sie ihm klar zu machen, dass sie etwas von seinen Vorräten haben wollte, und Smythe verfolgte mit hochgezogenen Brauen, wie sie fehlende Sprachkenntnis durch Lautstärke ersetzte. »Wir - haben - Hunger!«, brüllte sie den Fischer an. Der verschränkte beide Armpaare vor der Brust und betrachtete Lynne wie eine fehlerhafte Handelsware, kühl und distanziert.
Wahrscheinlich hält er uns für Missgeburten, weil wir nur zwei Arme haben!, dachte Smythe und fragte sich,
ob er das Essen mit Waffengewalt eintreiben sollte. Aber da hatte der Fremde plötzlich verstanden: Ohne eine Miene zu verziehen wies er mit drei Händen auf seine Vorräte und setzte sich hin. Mit der vierten griff er nach dem Bratenfleisch. Smythe hatte noch nicht Platz genommen und den Driller abgelegt, da kaute der Rriba’low schon mit vollen Backen. Braunes glänzendes Fett lief ihm übers Kinn, und er schmatzte wie ein Schwein. Es wirkte übertrieben, fast als wollte er seinen ungebetenen Gästen den Appetit verderben. Bei Lynne schien es zu funktionieren. Sie brach nur ein Stück Fladenbrot ab, zupfte es in kleine Fetzen und schob diese einzeln in den Mund. Der Fischer nickte ihr zu. Er war noch längst nicht fertig, schielte aber bereits nach der nächsten
Fleischportion. Smythe kam ihm zuvor. »Mahlzeit!«, wünschte er, beugte sich vor und suchte ungeniert den größten Brocken aus. Hungrig fiel er darüber her. Plötzlich stutzte er, schaute überrascht auf das Fleisch in seiner Hand, versenkte die Zähne erneut in den saftigen Fasern - und strahlte übers ganze Gesicht. »Rumpsteak!«, stöhnte er mit vollem Mund. »Dass ich das noch einmal schmecken darf! Köstlich, einfach köstlich!« »Rump... was?«, fragte Lynne gedehnt. Smythe winkte ab. »Kennst du nicht. Das war vor deiner Zeit. Hier, probier mal!« Auffordernd hielt er ihr den Braten hin. Lynne beugte sich vor, biss hinein, runzelte die Stirn und nickte. »Spikkar«, sagte sie. Der Rriba’low schnellte vor und nahm sich ein zweites Stück. Smythe verschluckte sich fast. War Lynne noch bei Trost? Er kaute etwas schneller, um Platz zu schaffen, würgte den Bissen hinunter und griff nach dem schnell schwindenden Vorrat auf den Blättern, ehe er antwortete. »Spikkar? So ein Unsinn! Die Viecher schmecken ja nicht schlecht, aber mit einem Rumpsteak sind sie nun wirklich nicht zu vergleichen.« Er stopfte sich den Mund voll und schenkte seinem Nachschlag einen verzückten Blick. »Erstklassig!«, lobte er kauend. »Ich frage mich, woher der Mann das hat!« »Ja, nicht wahr? Besonders wenn es - wie du sagst aus deiner Zeit stammt.« Lynne drehte ihm den Rücken zu, hielt die Hand auf und klaubte ein paar Beeren von den Blättern.
Smythe starrte sie an. »Ich sagte nicht, dass es ein Rumpsteak ist - ich sagte, es schmeckt wie Rumpsteak.« Ärger kochte in ihm hoch. Unausstehlich, die alte Unke!
Recht behalten um jeden Preis, das ist ihr oberstes Prinzip - alles andere kann sich hinten anstellen!
Tief in seinem Inneren wusste Smythe natürlich, dass Lynnes Misstrauen nicht ganz so abwegig war, wie er es sich einzureden versuchte. Schließlich gab es da tatsächlich eine Ungereimtheit: Tauchpanzer 1 war ein anspruchsvolles Spezialfahrzeug gewesen und kein Gummiboot, das man selbst bei völligem Blackout noch irgendwie an den Strand bekam. Doch sein Ego erlaubte diesen Gedanken nicht. Hätte es Zweifel an der These vom Tiefenrausch zugelassen, wäre alles andere ebenfalls fraglich geworden. Und das durfte nicht geschehen. Smythe schlang das Fleisch hinunter, als sein Gegenüber sich schon die Finger ableckte. Ein Bratenstück war noch da. Eigentlich hatte der Professor keinen Hunger mehr, aber er wollte das einzigartige Essen auf keinen Fall diesem Wilden überlassen, der es mit Sicherheit gar nicht zu schätzen wusste. Lynnes Blick wanderten zwischen den beiden Männern hin und her, und ihre Augen weiteten sich, als Smythe überraschend das Messer zog. Wie unbeabsichtigt legte er es neben sich ins Gras, die Spitze voran. »Sag mal, du wirst doch nicht etwa...« »Was?«, fiel er ihr scharf ins Wort. Lynne verstummte und wandte sich ab. Der Rriba’low neben ihr tätschelte seinen Bauch, lehnte sich zurück und rülpste dröhnend. Plötzlich, als habe ihn jemand gerufen, sprang er auf und rannte davon - auf die wogenden Farne zu.
* »Bei Ei’don!«, flüsterte Quart’ol, und der leuchtende Seestern in seiner Hand bebte verhalten. Er hatte sich tief ins Herz des Einschnitts hineingewagt, wo versteckt unter überhängenden Felsen ein Hohlraum gähnte. Nicht ohne Schwierigkeiten hatte sich der Hydrit durch die Dunkelheit gekämpft, eigentlich nur, weil er hoffte, eine geheime Verbindung zum Kometen zu finden. Aber es gab keine - stattdessen war er auf ein Massengrab gestoßen! Ungläubig schaute er sich um. Überall lagen tote Rochen am Boden, kreuz und quer verstreut, in unterschiedlichen Stadien des Verfalls und von Hunderten kleiner Fische umgeben. Dazwischen blähte sich immer wieder dieses milchige Schimmern auf, das Quart’ol angelockt hatte: weiße Riesenblasen, gut und gerne sieben Meter lang. Der Hydrit beugte sich vor und betastete eine von ihnen. Das dünne, zähe Gewebe gab nach, hielt jedoch dem Druck seiner Finger stand und riss nicht ein. Als er sah, was darunter lag, sträubte sich sein Flossenkamm. Im Inneren der Blase schwebte ein Rochenskelett! Der Schädel war an der Stirn über eine bleiche knotige Schnur mit der Hülle verbunden. Er starrte aus leeren Augenhöhlen herauf. Quart’ol fuhr zurück. Das ergibt keinen Sinn!, dachte er verwirrt. Die Hülle erinnert an einen Dottersack - aber
welchen Zweck sollte es haben, ein totes Gerippe darin anzulegen ?
Nachdenklich wandte er sich ab und schwamm zu dem aufgeschlitzten Rochen zurück. Auf seinem Weg über die
Leichen musste er gelegentlich durch eine Wolke der kleinen Fische hindurch, die sich überall aufhielten. Sie machten bereitwillig Platz - nur um den Blick freizugeben auf einen weiteren Kadaver - und Quart’ol erkannte, dass die fingerlangen Tiere verantwortlich waren für den schnellen Verfall ringsum. Es waren Putzerfische. Kleine rosafarbene Aasfresser, eckig, wie aus Papier gefaltet und mit einem imposanten Stachelkamm auf dem Rücken; offenbar wollten sie beim Fressen nicht gestört werden. Das runde Maul mit den Hornspitzen hatten sie auf ihre Unterseite verlegt und die Augen, rot und von einem leuchtenden Ring umgeben, ragten auf beweglichen Stielen über den Kopf hinaus. Hübsch sind sie nicht - aber sie leisten ganze Arbeit, dachte Quart’ol unbehaglich, während sich vor ihm eine dieser Putzerkolonnen auflöste und nichts weiter zurückließ als sieben Meter bleiche Knorpel. Der Hydrit schwamm darüber hinweg, stutzte und kehrte noch einmal um. Etwas an dem abgenagten Skelett hatte nicht gestimmt. Dann erkannte er es: Es war nicht auseinandergefallen. Quart’ol landete seitlich hinter dem Schädel, aus dem die Knorpelbögen der Flossen wuchsen, und ließ seinen leuchtenden Seestern über das Gerippe gleiten; erst ein Stück den Flügel hinunter und dann zur Wirbelsäule hoch. »Das glaube ich nicht!«, klackte er verblüfft. Aber es war keine Frage des Glaubens. Im blau und grün pulsierenden Licht war deutlich zu erkennen, dass dieses Gerippe nicht aus gewachsenen Teilen bestand! »Es ist aus einem Stück geformt.« Quart’ol strich mit dem Finger über die fahlen Bögen. »Keine weichen Verbindungen, ausschließlich Kugelgelenke, fest
verankert und...«, er rüttelte an einem der Knochen, »... solide. Ah! Deshalb sieht man niemals ein Jungtier: Es gibt gar keine! Die Todesrochen sind vom ersten bis zum letzten Tag gleich groß!« Nachdenklich wandte er den Kopf und schaute zurück in die Tiefen des Grabens. Was waren diese Wesen? Eine außerirdische Lebensform? Bionetische Strukturen? Maschinen? Und was hatte es mit den Hüllen auf sich? An einer davon glaubte Quart’ol eine Bewegung auszumachen. Sicher konnte er nicht sein - es war zu dunkel in dieser schaurigen Grabkammer, und das blaugrüne Phosphoreszieren des Seesterns störte mehr als es half. Also legte er ihn auf dem Schädel des Rochen ab und schwamm ein paar Züge vorwärts. Da war es wieder! Quart’ol zögerte. Mit einer Hand an den Felswänden abgestützt, verharrte er in der Dünung und spähte nach vorn. Die Blase war nur als amorpher Fleck zu sehen ähnlich wie Schneewehen in mondloser Winternacht. Darum erkannte der Hydrit auch nicht, was es war, das da schlank und weiß über ihr schwankte. Sein Instinkt jedoch riet ihm zur Vorsicht, und so drehte er ab. Es ist nicht zu fassen!, dachte er verärgert, während er zu seinem aufgeschlitzten Rochen zurückkehrte. Überall
in diesem Meer liegen Daa’murenkristalle herum, aber wenn man mal einen als Lichtquelle gebrauchen könnte, ist keiner da!
Als er den Rochen erreichte, hatten die Putzerfische selbigen gerade in Angriff genommen. Ein ganzer Schwarm der hässlichen kleinen Tiefseebewohner ruckte und zuckte auf dem schwarzem Rücken herum, und wo immer sie wieder aufstiegen, blieb etwas Weißes zurück. Quart’ol ließ die Arme hängen. Was sollte er jetzt tun?
Ein Blick nach oben zeigte ihm, dem Graben keine Option war. Schatten den leuchtenden Rand lebendig! Unschlüssig sank er zu Boden
dass der Ausstieg aus Noch immer kreuzten - und sie waren sehr
und dachte nach. Wie komme ich an den Kometen heran?, fragte er sich mit abwesendem Blick auf den Rochenschädel vor seinen Füßen. Eine Abteilung Putzerfische hatte die flache, wulstige Front besetzt. Sie fraßen eine Spur, die dem Zackengebiss von Shargatoren glich. Quart’ol erinnerte sich, diese Frage auch schon Ti’u gestellt zu haben: Wie kommt man von A nach B, wenn
auf beiden Seiten des Weges Millionen Augen nur darauf warten, dich zu erspähen?, hatte er ihn gefragt und die
Antwort des schwarzen Delfiins für einen Scherz gehalten. »Mach dich unsichtbar!«, wiederholte der Hydrit sie nachdenklich. Im nächsten Moment zog Quart’ol die Beine an und schnellte hoch. Die Putzerfische hatten das Schädeldach des Rochen freigelegt, und der dunkle Kristall darin war herausgefallen - an einer Art Nabelschnur, deren Ende im Kopf verblieb. Sand wirbelte auf, als der Stein den Boden berührte. Quart’ol warf sich herum, suchte den schneckenträge fortwandernden Seestern und kehrte zurück. Inzwischen war der Sand wieder abgesunken und hatte den Kristall unter sich begraben. Die weiße Schnur hingegen begann sich zu zerfasern, wogte schleifenförmig durch die Dünung und wurde - ganz allmählich, ohne Eile - zu einem Netz. Der Hydrit wich zur Seite. Fast hätte es ihn gestreift. Gebannt hingen seine Augen an den bleichen Fasern, die
immer weiter wuchsen und sich wie von unsichtbarer Hand geknüpft verdichteten. Fließend, im Takt der Wellen, wurde aus dem Netz eine Haut. Sie wuchs über den Kopf des Rochen und deckte sacht den toten Körper zu, fast als wollte sie ihn vor den Blicken der Lebenden schützen.
Ein Akt der Gnade - an einem Wesen, das so viel Leid über uns gebracht hat! Quart’ol schüttelte energisch den Kopf. Nicht akzeptabel! Er streckte seine Hand aus, um die Haut von den Knochen zu reißen. Was immer die fertige Hülle bewirken mochte - er würde es verhindern! So glaubte er. Es war sein letzter Gedanke. Der Schlag kam aus dem Nichts. Er traf den Hydriten mit voller Wucht und ließ ihm nicht einmal Zeit für einen Schreckenslaut. Quart’ol wurde zu Boden geschleudert wie ein Spielzeug und verlor das Bewusstsein... *
»Ich fasse es nicht!«, sagte Lynne mit Blick auf Jacob Smythe, der leise pfeifend neben ihr her ging. Er trug einen Lederbeutel auf dem Rücken und sah ungemein zufrieden aus. »Du hast ihm das ganze Essen gestohlen.« Smythe zuckte die Schultern. »Der Rriba’low ist einfach fortgelaufen! Weiß ich, ob er je zurückgekommen wäre?« Ihre Blicke begegneten sich, Lynne bog den Kopf zurück und lachte laut. Er spinnt!, dachte sie. Klaut ein paar Beeren und ein
Stück Fleisch und schleppt das Zeug wie Kriegsbeute in der Gegend herum! Aber ich liebe ihn trotzdem, fügte sie hinzu.
Lynnes gute Laune kam nicht von ungefähr. Etwa eine Meile voraus waren Drax und Aruula zu sehen! Jacob hatte ihre Spur wiederentdeckt, auf einem Pfad unter den Bäumen am Waldrand. Sie führte hinaus in offenes Gelände ohne nennenswerte Deckung, und man konnte davon ausgehen, dass die beiden jetzt nicht mehr entkommen würden. Gelegentlich verschwanden sie hinter einer Bodenwelle, tauchten aber immer wieder auf. Lynne beschattete ihre Augen. »Sie rennen wie die Hasen«, sagte sie zufrieden und sah ihren Begleiter an. Smythes Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. Er nickte. »Gleich haben wir sie!« Die Gewissheit in seiner Stimme hatte etwas Endgültiges, wie ein Todesurteil. Lynne spürte ein Kribbeln auf der Haut. Es war angenehm, und sie genoss es. Jagd war immer ein spannendes Geschäft, aber die Hatz auf Menschen hatte noch einen zusätzlichen Reiz: Tiere jammerten nicht, wenn man sie stellte. Sie bettelten auch nicht um ihr Leben. Sie starben einfach. Drax und Aruula hingegen... »Wie machen wir es? Einen Schuss ins Herz?« Smythe tippte sich an die Stirn, aufrichtig empört. »Bist du noch zu retten? Es hat mich Jahre meines Lebens gekostet, den Kerl zu stellen - glaubst du, da knalle ich ihn einfach ab? Nein, nein! Das geht ganz gemächlich über die Bühne, langsam und mit Bedacht.« Smythe nickte entschlossen. Seine Wangen hatten sich gerötet und sein Atem flog. Lynne fand ihn ausgesprochen anziehend. »Hör mal«, gurrte sie. »Was hältst du davon, wenn du dir Drax vornimmst und ich mir die Barbarenschlampe?«
Jacob Smythe blieb stehen, packte ihr Haar wie das Nackenfell einer Katze und riss sie an sich. Sein Kuss war mehr Beuteschlagen als leidenschaftliches Begehren, aber er zeigte Wirkung: Lynne vergaß ihre immer noch schmerzende Schulterverletzung und fiel über ihn her. Smythe ließ sie einen Moment gewähren, dann stieß er sie zurück. »Später. Dafür haben wir jetzt keine Zeit.« »Herr des Himmels, Jake!«, zischte sie gereizt. »Wirst du dich gefälligst mal entscheiden?« »Schon geschehen.« Smythe setzte sich in Bewegung und zeigte nach vorn. Matt und Aruula überquerten gerade eine Felsformation. »Erst sind die beiden dran. Der Rest kommt später.« Träum weiter, Idiot! Lynne, die es durchaus nicht liebte, als »Rest« bezeichnet zu werden, schoss einen vernichtenden Blick auf ihn ab. Sie kannte dieses Machtspielchen zur Genüge und hatte es gründlich satt: Jacob ließ sie gerne zappeln - sich zu verweigern, wenn sie ihn wollte, gab ihm das Gefühl von Überlegenheit. Schweigend lief sie neben ihm her. Sie hörte kaum hin, als er laut und mit seligem Fernblick auf den Feind überlegte, welches Ende man Commander Matthew Drax bereiten könnte. Ein Hinrichtungsszenario nach dem anderen wehte an Lynne vorbei, ohne dass es sie interessiert hätte. Plötzlich aber horchte sie auf. »Das Beste wäre natürlich, ihn zu häuten«, sagte Smythe gerade. Lynne hob den Kopf, um zu sehen, ob er es Ernst meinte. Sein Blick war voll irrer Vorfreude, und ein leises, anzügliches Lächeln huschte ihm um die Mundwinkel. Lynne nickte. Er meint es ernst! »Drax wird sich nicht freiwillig von seiner Haut trennen. Wie willst du es anstellen, Jake?«
»Hmmm.« Smythe tippte sich nachdenklich ans Kinn. »Sie sind bewaffnet und zu zweit - und sie wissen, dass wir kommen. Das ist ungünstig.« »Du musst zuerst die Schlampe erwischen! Schieß sie an und drohe ihm damit, sie zu töten! So kannst du ihn zwingen, seine Waffe niederzulegen«, schlug Lynne hilfsbereit vor. Smythe winkte ab. »Vergiss es! Diese Aruula ist selbst dann noch gefährlich, wenn sie schon halb tot am Boden liegt.« Da war ein Hauch von Bewunderung in seiner Stimme, und Lynne musste sich abwenden, um ihre Gefühle zu verbergen. Der Hieb hatte gesessen, obwohl er gar nicht gegen sie gerichtet war: Jacob hatte kein wirkliches Interesse an der Barbarin, das wusste sie. Trotzdem verschloss er nicht die Augen vor ihr - weder vor ihrem Mut, noch vor ihrer Schönheit. Lynne sah an sich herunter und dachte an ihren künstlichen Arm und die Hüftprothese aus den Werkstätten des Androiden Miki Takeo. Beide waren perfekt, von natürlichen Körperteilen nicht zu unterscheiden. Aber sie war nicht perfekt. Jung, klug und einflussreich, das waren ihre Attribute. Ein weiteres kam noch hinzu, dank Mr. Black, der sie seinerzeit auf der Insel Cape Canaveral einem bösartigen Monster überlassen hatte. Krüppel. Lynne biss die Zähne zusammen und zwang ihre Tränen zurück. Nein, sie würde niemals wie Aruula sein - schön, mutig, begehrenswert und makellos. Was immer sie tat, was immer sie erreichte, sie blieb Arthur Crows kleines unvollkommenes Mädchen. Die Tochter des Generals.
Gefürchtet? Vielleicht. Aber sicher nicht bewundert. »Ich hasse diese Schlampe«, sagte sie erstickt und fuhr zusammen, als Smythe eine Hand auf ihre Schulter legte. Er hatte keine Ahnung, was in ihr vorging, das merkte Lynne an seiner Reaktion. »Gut!«, lobte er vergnügt, zog seine Hand wieder weg und balancierte einen Felssteg entlang. Abwärts, an stacheligen Sträuchern vorbei. »Das ist die richtige Einstellung, meine Liebe! So wird das Töten zum Vergnügen.« »Du meinst, ich kann Aruula haben?« Lynne folgte ihm mit eiligen Schritten. »Sicher. Warum nicht?« Galant drehte Smythe sich um und half ihr über die Felsen. »Schade, dass wir kein Betäubungsgewehr besitzen! Damit könnten wir sie überwältigen und fesseln - und Drax dabei zusehen lassen, wie du seinem Liebchen die Haut abziehst.« Er lächelte. Lynne spürte ein flaues Gefühl im Magen, beschloss jedoch, es zu ignorieren und stattdessen Jacobs maliziöses Lächeln nachzuahmen. Es gelang. Allerdings nicht lange. Als ihr Blick über seine Schulter auf die Blutlache fiel, fing sie an zu schreien. Jacob Smythe fuhr herum, den Driller im Anschlag und fahl im Gesicht. Drax? Nein, Gott sei Dank nicht! Aufatmend ließ er die Waffe sinken und ging auf den Fremden zu, der sterbend im Gras lag. Er röchelte noch, aber zu retten war er nicht mehr, das konnte man unschwer erkennen: sein halbnackter Körper war völlig zerfetzt. Smythe beugte sich über ihn und fluchte verhalten, als er merkte, dass er versehentlich in das Blut getreten war, das den Boden unter dem Mann durchtränkt hatte. Angewidert wich er zurück und scharrte mit seinen
Stiefelsohlen über das Gras. Der Fremde ächzte ein Wort heraus, das Smythe nicht verstand, brach zusammen und war tot. »Das ist ein Shassun«, sagte Lynne. »War. Das war ein Shassun«, verbesserte Smythe, musterte den Toten mitleidlos und nickte. Lynne hatte Recht: Es handelte sich in der Tat um einen dieser zotteligen Jäger aus den Bergwäldern rings um den Kratersee. In der Hand hielt er noch seinen Bogen, und im Köcher neben ihm steckten drei Pfeile. Tiefe klaffende Furchen überzogen seine Brust, wie von Enterhaken gerissen. Suchend sah Smythe sich um und entdeckte den Verursacher halb verborgen hinter einem Gebüsch - einen ausgewachsenen Kuuga. »Jake!« Jetzt nicht! Stirnrunzelnd ging er zu dem Tier hinüber, das ausgestreckt und wie tot auf der Seite lag. Im Hinterlauf des mächtigen Berglöwen steckte ein Pfeil, mit denselben Federn verziert wie die drei im Köcher des Jägers. Smythe entsicherte seinen Driller, als er merkte, dass der Kuuga noch atmete und keine weiteren Verletzungen aufwies. »Jake!« »Halt die Klappe, Lynne!«, schnarrte er gereizt, während er mit der Waffe im Anschlag das Tier umrundete. Die großen gelben Katzenaugen waren weit geöffnet und lebendig, wirkten aber seltsam blicklos. Warum folgten sie ihm nicht?
Wieso rührt sich das Vieh nicht von der Stelle?
Smythe machte eine heftige Seitwärtsbewegung mit dem Driller - keine Reaktion. Er stampfte auf. Nichts.
Ist das normal? Nein, wohl kaum!
»Hat dich der Schlag getroffen?«, fragte er wütend und
kam ein paar Schritte näher. Der Kuuga zuckte mit keiner Pfote. Smythe betrachtete den erbärmlich kleinen Pfeil, sah zu dem toten Jäger hinüber - und plötzlich schwante ihm etwas. Entschlossen verpasste er dem Berglöwen einen Tritt. Das Tier schaukelte ein bisschen, rührte sich ansonsten aber nicht. Smythe wandte sich an Lynne. »Weißt du, was das ist?«, fragte er mit triumphierendem Lächeln, wies auf den Pfeil und schickte die Antwort gleich hinterher: »Ein Betäubungsgift! Offenbar wollte der Shassun dieses Kätzchen lebend fangen - und er hat noch drei Pfeile übrig gelassen! Ist das nicht nett?« »Nein«, sagte Lynne mit langem Gesicht, als Smythe sich schon in Bewegung setzte, um die Waffen des Jägers zu holen. »Das ist nicht nett, Jake! Das ist ein Zufall zu viel!« »Verflucht!« Smythe wirbelte herum, riss den Driller hoch und schoss. Natürlich nicht auf Lynne. Aber dicht an ihr vorbei. Der Kopf des Kuuga explodierte in einer Blutfontäne. Smythe stapfte los, zornrot und mit blitzenden Augen. »Kannst du nicht endlich dieses verdammte Sirenengeheul unterlassen?«, brüllte er unbeherrscht. »Du gehst mir auf die Nerven mit deinem ewigen ›Hier stimmt was nicht, Jake!‹ Denkst du, das hätte ich nicht selbst bemerkt?« Lynne warf einen hastigen Blick auf den toten Kuuga, strich ihre Haare zurück und fragte unsicher: »Hast du?« »Ja, natürlich. Ich bin doch kein Idiot!« Smythe ging zu dem Jäger, zerrte ihm den Bogen aus der Hand und hängte sich den Köcher um. »Erst rettet uns jemand vor den Riesenrochen, dann gibt es eine Mahlzeit auf Bestellung, dann finden wir genau die Munition, die wir
brauchen - das sind selbstverständlich keine Zufälle, Lynne.« »Und... und wie erklärst du es?« Smythe dachte nach. »Da spielt offensichtlich jemand im Hintergrund mit. Sieht aus, als würden wir... äh... beobachtet.« »Und gelenkt?«, ergänzte Lynne, die Fäuste in die Seiten gestemmt. Smythe wiegelte ab. »Vielleicht. Könnte sein.« Er schob sich den Driller unter den Gürtel und zwinkerte Lynne im Vorbeigehen zu. »Aber das wird sich klären.« »Und es macht dir keine Angst?«, rief sie verblüfft hinter ihm her. Professor Smythe drehte sich um und lächelte. »Warum sollte es? Wer immer der Große Unbekannte ist - er steht auf unserer Seite! Sonst hätte er uns wohl kaum gegen Matthew Drax bewaffnet, oder?« Vielleicht ist es Gott selbst!, dachte Smythe, während er die Fährte im Gras wieder aufnahm. Er hat mich
auserwählt, damit ich Drax zur Hölle schicke. Ja, genau! So wird es sein. Er grinste. He, Gott! Wenn du schon mal dabei bist: Schaff mir doch endlich diese Zicke... Helles, sorgloses Lachen erscholl. Zweistimmig. Ein Mann und eine Frau. Smythe erstarrte mitten in der Bewegung. ... vom Hals!, ergänzte er, während er lautlos in die Hocke ging. Vor ihm, etwas mehr als einen Steinwurf entfernt, ragten Felsen aus dem Boden. Sie waren nicht sonderlich hoch; keine fünf Meter, und sie standen auseinander wie kariöse Zähne. In den Zwischenräumen konnte man Baumwipfel erkennen, ein klares Zeichen, dass das Gelände dahinter abschüssig war. Wieder erscholl dieses Lachen.
Smythe spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte.
Ganz ruhig!, befahl er sich selbst mit Blick auf die Felsen.
Sacht legte er alle mitgeführten Gegenstände ab, die nicht benötigt wurden. Lynne verhielt sich ausnahmsweise brauchbar: Sie schlich heran wie ein Schatten, half ihm aus der Jacke und erklärte mit knappen Gesten, dass sie hinter ihm bleiben würde. Zuletzt fuhr sie sich einmal quer über die Kehle. Smythe nickte ihr zu, hob den Daumen und schlich los. Es war wirklich kaum mehr als ein Steinwurf bis zu den Felsen, und die heimliche Pirsch dort hin dauerte keine zwei Minuten - aber Smythe kam es vor wie eine Schneckenwanderung.
Schneller, schneller!
Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn, er atmete durch den Mund und betete, dass jetzt nur nichts Unerwartetes mehr dazwischen kam. Drax und seine Barbarin saßen praktisch auf dem Präsentierteller vor ihm - sie durften einfach nicht mehr entkommen! Nicht noch einmal! Und das taten sie auch nicht. Smythe erreichte die Felsen, kroch mit äußerster Vorsicht an einen der Zwischenräume und spähte hindurch. Tatsächlich! Da waren sie! Sein Herz machte einen Satz, und er presste die Lippen zusammen, um nur ja keinen Laut von sich zu geben. Ahnungslos saßen Matt und Aruula auf einer Wiese im Schatten der Felsen. Sie drehten Smythe den Rücken zu, turtelten miteinander und aßen eine Kleinigkeit. Das gestohlene Equipment aus dem Tauchpanzer lag verstreut neben ihnen. Smythe entdeckte seinen
Feldstecher und biss sich auf die Lippe vor Wut. »Diese Beeren sind ein Gedicht! Fast so süß wie du«, hörte er Drax Süßholz raspeln und beobachtete, wie der junge Commander Aruula eine Frucht in den Mund schob. Die schöne Barbarin lachte und fuhr sich mit dem Handrücken über die saftfeuchten Lippen. Das war deine Henkersmahlzeit!, dachte Smythe hasserfüllt. Dann hob er sich auf die Knie. Als er den Bogen aufgestellt hatte und nach den Pfeilen griff, begannen seine Hände plötzlich unkontrolliert zu zittern. Er hielt inne, blinzelte nervös und rieb die feuchte Handfläche an seinem Hosenbein ab.
Mach jetzt keinen Fehler, Junge! Ruhig bleiben! Du schaffst das schon! Smythe legte den Pfeil ein. Die vergiftete Spitze wanderte langsam Richtung Matt, wollte aber partout nicht zum Stillstand kommen. Dabei hatte Smythe doch so lange auf diesen Moment gewartet!
Verdammt!
Er spannte den Bogen, immer weiter, bis zum Äußersten.
Hör auf zu zittern!
Wütend visierte er noch einmal an, atmete langsam aus - und ließ die Sehne los. Der Pfeil sirrte davon. Er traf Aruula in den Rücken, gerade als sie sich vorbeugte und Matthew mit zärtlichem Lächeln über die Wange streicheln wollte. Wortlos fiel sie in seine Arme. Er fing sie auf, zu Tode erschrocken und verwirrt. Smythe griff nach dem nächsten Pfeil. Drax musste die Bewegung zwischen den Felsen gesehen haben. Als der Professor erneut anlegte, hob er
den Kopf - und die Zeit blieb stehen. Einen Moment lang starrten sich die beiden verfeindeten Männer über die Pfeilspitze hinweg an. Ein Feuerwerk aus Emotionen lief über ihre Gesichter, das eine mit sinnlosem Hass in den Augen, das andere von klarem Verstand und Schrecken regiert. Erkennen. Begreifen. Handeln. Matt verlor keine Zeit. Während Smythe noch auf ihn zielte, ließ er Aruula ins Gras fallen und hechtete nach seinem Driller... * Der Schlag trieb Quart’ol über den Meeresboden davon wie einen frisch geschlüpften Fisch. Noch immer halb benommen suchte er Halt an einem Stein - was er besser nicht getan hätte. Etwas Weiches, Gummiartiges holte ihn ein, kroch ihm über die Schulter und tastete nach seinem Kopf. Quart’ol wurde herumgerissen - und sah sich einem gigantischen Kraken gegenüber. Das schwarzweiße Riesentier hatte eine phosphoreszierende Hautzeichnung auf der Stirn, die an den Kristall der Todesrochen erinnerte. Böse, intelligente Augen taxierten ihr Opfer, dann preschte der Krake in einer fließenden Bewegung vor und griff an. Quart’ol gelang es noch, seinen Blitzstab zu aktivieren und auf maximale Leistung zu stellen, ehe der tastende Fangarm vor seinem Gesicht sich zusammenziehen und ihm den Kopf zerquetschen konnte. Ohne Zögern rammte er die Mündung in einen der kalten, tastenden Saugnäpfe und drückte ab, obwohl sich die Waffe gefährlich nahe an seinem eigenen Körper befand.
Getroffen zuckte die lebende Schlinge zurück und entrollte sich wie eine Peitschenschnur. Quart’ol war entsetzt: Dieser Energiestoß hätte ausgereicht, einen ausgewachsenen Delfiin zu töten - den Kraken jedoch schien er nur zu verärgern! Seine Hautfärbung begann zu pulsieren, von Schwarz nach Rot und zurück, und die wuchtigen meterlangen Tentakel geißelten den Meeresboden, dass der Sand nur so flog. Aber trotz aller Gereiztheit achtete der Krake darauf, jene Blasenhaut nicht zu treffen, die wie ein gestrandeter Wetterballon in der Dünung schwankte. Dies und die Tatsache, dass Hydriten und Tentakelbesitzer normalerweise friedlich miteinander umgingen, ließ Quart’ol darauf schließen, dass er es nicht mit einem gewöhnlichen Kraken zu tun hatte, sondern vielmehr mit einem Wesen, das den Daa’muren gehörte. Es blieb keine Zeit für die Frage, warum das Monster mit der Kristallzeichnung auf der Stirn einen Friedhof voller Rochen verteidigen sollte - Quart’ol kämpfte um sein Leben! Die Riesententakel waren überall; sie holten ihn immer wieder von den Beinen, schlugen auf ihn ein und zogen sich unbarmherzig um seinen Körper. Zwei Mal schaffte er es noch den Blitzstab einzusetzen - dann hatte der lernfähige Friedhofswärter begriffen, was ihm da solche Schmerzen zufügte. Von hinten kam eine Tentakelspitze herangepeitscht, schlang sich um Quart’ols Handgelenk und riss seinen Arm mit Macht zurück. Die Waffe trudelte davon. Ihr Besitzer stöhnte: Es hatte hörbar gekracht in seiner Schulter, und von den gewaltsam überdehnten Muskeln her schien ein ganzes Bataillon Nesselfische seinen Körper zu durchqueren. Das Wasser ringsum war ein brodelndes Gewirr aus
Luftbläschen, Sand und umherwälzenden Fangarmen. Quart’ol hatte keine Chance zu entkommen. Er wehrte sich verzweifelt gegen den übermächtigen Feind, aber so sehr er auch strampelte und um sich schlug, es nützte nichts. Einer nach dem anderen fanden die Tentakel ihr Ziel, umschlangen den Hydriten mit grimmiger Zärtlichkeit und verschnürten ihn wie ein Fresspaket. Quart’ol drohte zu ersticken - seine Kiemen waren von einer mächtigen Schlinge blockiert. Die Saugnäpfe der Tentakelspitze wanderten in Raupenmanier sein Gesicht entlang, immer um den Kopf herum, und er geriet in Panik. Gleich würde er vollständig eingewickelt sein und zerquetscht werden! Mit Todesangst in den schwarzen Augen mobilisierte er noch einmal alle Kräfte, bäumte sich auf, riss und zerrte und schaffte es tatsächlich, einen Arm zu befreien. Schon hob sich der Krake vom Boden und versuchte ihn unter den sackförmigen Körper zu ziehen. Quart’ol wusste, was sich dort verbarg: ein überdimensionaler Papageienschnabel, so hart, dass er selbst die riesigen Tellerkrabben knacken konnte. Das Herz des Hydriten raste, er drohte zu ersticken und spürte, wie sein Widerstand erlahmte. Neben ihm lag der tote, aufgeschlitzte Rochen in seiner Blasenhaut, die bis an die Oberfläche zu ragen schien. Ein Licht schwebte vorbei. Kaum noch bei Sinnen, wähnte sich Quart’ol an der Pforte zum Ma’ar, dem hydritischen Paradies. Aber es war nur sein blaugrüner Seestern, den das wogende Wasser vorbeitrug. Etwas blitzte grün im Sand auf. Was ist das?, schoss es ihm durch den Kopf. Unaufhaltsam schob sich der Krake über ihn und
versperrte ihm die Sicht. Eisenharte Schnabelhälften klafften auseinander, um ihr Opfer zu zerhacken... und da fiel Quart’ol die Antwort ein.
Der Kristall des Todesrochen!
In höchster Not ertastete er den halb versunkenen Stein, riss ihn hoch, dass die angewachsene Nabelschnur riss - und rammte ihn tief in den Krakenschlund. Blut schoss hervor wie explodierende Wolken, und es wurde Nacht ringsum. Quart’ol verlor die Besinnung. * Wie lange er ohnmächtig gewesen war, hätte er nicht sagen können. Als er wieder zu sich kam, war das Wasser klar und ruhig, der Sand hatte sich gelegt und die Luftbläschen waren verschwunden. Mühsam richtete Quart’ol sich auf, betastete sein schmerzendes Gesicht und sah sich nach dem Kraken um, der ein Stück abgedriftet war und verhakt an einer Felsnadel hing. Er hatte alle Farbe verloren und wogte wie ein Leichentuch in der Dünung. Etwas berührte Quart’ols Bein, und der Hydrit fuhr herum. Die Blasenhaut des Todesrochen lag zerfetzt am Boden. Der Kristall musste sie beim Hochreißen gestreift haben - und was zwischen den Resten zum Vorschein kam, ließ Quart’ol mit einem Schlag hellwach werden: Auf dem fahlen Skelett wuchs neues Fleisch! Bei Ei’don! Also deshalb haben die Daa’muren hier einen
Wächter postiert! Der Krater ist kein Friedhof, er ist eine Wiederaufbereitungsanlage!
Schon kamen die ersten Putzerfische heran. Eifrig fielen sie über ihr Futter her, und Quart’ol schlug sich vor die Stirn. Natürlich! Die Haut dient als Fruchtblase. Sie
schützt das wachsende Leben!
Neugierig geworden streifte der Hydrit noch einmal durch den Graben. Das Ergebnis war erschreckend: Eine komplette neue Rochengeneration entwickelte sich im Schutz dieser weißen Hauthüllen. Quart’ol handelte, ehe er darüber nachgrübeln konnte, ob er hier vielleicht Leben zerstörte. Er zerriss jede Hülle, die er zu fassen bekam, um ihren Inhalt dem Tod zu überantworten. Die Putzerfische nahmen das erfreut zur Kenntnis und folgten dem Hydriten in Schwärmen. Dann erreichte er eine Blase, die nicht wie die anderen in der Dünung schwankte. Sie schien voll und fest und schwer - und etwas ruckte in ihr herum. Quart’ol fetzte mit dem Blitzstab über die Haut und prallte zurück, als er den fertigen Todesrochen sah. Er lebte bereits - das war deutlich an seinen Kiemenbewegungen zu erkennen -, aber er schien noch keine mentale Verbindung zu seinen Herren zu haben. Der Stirnkristall wurde eben erst von der sich verkürzenden Nabelschnur in Richtung Kopf gezogen. Grimmig aktivierte Quart’ol den Blitzstab. Schon beugte er sich vor, um eine gezielte Entladung in die offene Schädelplatte abzufeuern. Da traf ihn plötzlich eine Erkenntnis und er riss die Waffe zurück. Was hatte Ti’u gesagt? Mach dich unsichtbar! Quart’ol nickte. Alles was er dazu brauchte, lag direkt vor ihm.
So lange die Verbindung zu den Daa’muren fehlt, ist dieses Wesen ohne Führung und Verstand. Ideal also, um den Ring der Rochen zu durchbrechen! Quart’ol tauchte, griff nach der Nabelschnur und riss den Kristall ab, ehe er den Kopf erreichen konnte. Hoch mit dir! Er bückte sich unter die Flügelflossen,
verpasste dem Rochen ein paar schwache Stromschläge mit dem Blitzstab und trieb ihn vom Boden fort. Blind für die Welt und das Geschehen darin schwamm das riesige Wesen los - direkt vor den nächsten Felsen. Quart’ol raffte die leere Blasenhaut zusammen und zog sie über seinen Körper. Dann bugsierte er den RochenZombie aus dem Einschnitt heraus und klammerte sich an seiner Unterseite fest. Heller und heller wurde das grüne Leuchten, als der Rochen zu steigen begann. Quart’ol nutzte die Zeit bis zum offenen Gewässer, um darüber nachzudenken, wie er seine Hände frei bekommen könnte - dass er sie zum Lenken benötigte, war ihm spätestens nach dem zweiten Zusammenprall mit den scharfkantigen Felsen klar. Er zögerte einen Moment, dann schob er den Blitzstab unter seinen Brustschild und ergriff die beiden außen liegenden Tentakel am Kopf des Rochen. Sie zogen sich wie Gummi, hielten aber.
Nach links, du dummes Vieh! Links! LINKS!
Aufgebracht zerrte der Hydrit an der kalten Hautwurst in seiner Hand, und tatsächlich ließ sich ein neuerlicher Zusammenstoß mit den Felsen vermeiden. Gleich darauf schrammte der Zombie über den Grubenrand, und Quart’ols Herz machte einen Satz. Von einer Sekunde zur anderen waren sie da - Hunderte von sehr lebendigen Todesrochen. Sie pflügten durch das unwirkliche grüne Licht, in völligem Schweigen und mit weiten majestätischen Flügelschlägen. Quart’ol wagte kaum zu atmen, als sein hirnloser Rochen nach einem unsicheren Schlenker plötzlich auf einen Vierertrupp seiner Artgenossen zusteuerte. In breiter Front kamen sie heran, wohl erwartend, dass der andere ausweichen würde. Quart’ol zog und zerrte an
den Tentakeln herum, was aber lediglich bewirkte, dass der Zombie um seine Querachse zu trudeln begann. Auffälliger hätte er sich kaum benehmen können, und Quart’ol glaubte sich schon entdeckt und verloren. In letzter Sekunde jedoch kippten die Todesrochen wie ein Kampfgeschwader über ihre Tragflächen ab - und zogen vorbei. Danke, ihr Götter!, dachte Quart’ol erleichtert. Der gigantische Komet war nicht mehr weit entfernt, der Aufbau an seiner Flanke deutlich zu erkennen, und darunter die Andockstationen mit den Zugängen. Quart’ol fasste neuen Mut. Er musste nur noch den letzten Patrouillenring durchbrechen... * Professor Dr. Jacob Smythe lächelte höhnisch über Matthews verzweifelten Hechtsprung nach dem Driller. Das Lächeln wurde zu einer Teufelsfratze, als Smythe den Bogen spannte. Im angenehmen Gefühl unendlicher Überlegenheit wartete er, bis Matt die Waffe in die Finger bekam. Doch bevor er sie auf ihn richten konnte, glitten seine Finger von der Sehne.
Fahr zur Hölle, Commander!
Der Pfeil konnte sein Ziel nicht verfehlen. Er war mit zu großem Hass auf die Reise geschickt worden und ein zu starker Gegner für den Mann vor seiner Spitze - egal, wie viele Schlachten er geschlagen hatte und wie tapfer er war. Das Geschoss traf Matt Drax mitten in die Brust. Der junge Commander taumelte zurück. Verbissen kämpfte er darum, sich aufrecht zu halten, aber diesen Kampf konnte er nicht gewinnen. Am Ende zwang das
Gift ihn auf die Knie. Seine Kräfte verließen ihn, und Smythe glaubte Tränen in Drax’ Augen zu sehen, als er noch einmal seine bebende Hand nach Aruula ausstreckte, ehe er zusammenbrach. Ein Zucken, dann war es vorbei. »Guter Schuss, Jake!«, sagte Lynne Crow anerkennend in die Stille hinein und klopfte ihrem Geliebten auf die Schulter. Smythe wehrte sie ab, schweigend und ohne sie anzusehen. Er wartete noch immer auf das Glücksgefühl, das sich längst hätte einstellen müssen. Aber es kam nicht. Egal, wie oft er den besiegten Feind anstarrte und wie angestrengt er nach innen lauschte da war kein Jubel! Nicht einmal satte Zufriedenheit. Oder wenigstens Erleichterung. »Wir sollten uns beeilen«, meinte Lynne. »Ewig wird die Betäubung nicht anhalten, und die beiden müssen gut gefesselt werden.« Ihre Worte hatten einen seltsam vibrierenden Unterton gehabt, und als Smythe sich der Tochter des Generals zuwandte, begegnete sie seinem Blick mit glänzenden Augen. Wie ein Kind unter dem Weihnachtsbaum in Erwartung besonders großer Geschenke. Smythe sammelte Köcher und Bogen ein und erhob sich. Warum verspürte er nicht ebenso Freude und Genugtuung? Zügig machten sie sich auf den Weg den Hang hinunter und über die Wiese auf Maddrax und Aruula zu, die reglos im Gras lagen. Wind spielte mit den langen schwarzen Haaren der Barbarin und verfing sich gelegentlich an den Hemdschößen ihres Gefährten, dessen Hand noch immer nach ihr ausgestreckt da lag nur ein paar Zentimeter entfernt und doch auf ewig getrennt.
Beim Näherkommen musterte Smythe den Pfeil in Drax’ Brust mit einem Stirnrunzeln, das sich mehr und mehr vertiefte: Warum war da keine Bewegung? »Halt das mal!«, befahl er Lynne, gab den Bogen an sie weiter und zog dafür den Driller aus dem Gürtel. Er entsicherte ihn und hielt die Mündung auf Matt gerichtet, während er - vorsichtig geworden - nähertrat.
Der Kerl spielt ein ganz blödes Spiel! Stellt sich tot und wartet darauf, dass er mich zufassen kriegt!
»Das kannst du vergessen, Drax!«, sagte er kalt und tippte ihn mit der Stiefelspitze an. »Komm schon - rühr dich!« Keine Reaktion. Smythe presste die Mündung an Matts Schläfe und sah flüchtig zu Lynne auf. Sie hatte sich über Aruula gebeugt und ihr einen Fuß in den schlanken Rücken gestemmt. Mit beiden Händen riss sie den Pfeil heraus. Dann zerrte sie die Barbarin herum. Smythe wandte sich Matt zu. Dessen Augen waren geschlossen, das Gesicht unnatürlich blass. Smythe holte aus und trat ihm mit Wucht in die Rippen. Als selbst dann noch keine Reaktion erfolgte, beschlich den Professor eine schreckliche Ahnung. Er ging auf die Knie, legte seinen Driller ab und tastete nach Matts Halsschlagader. Sie pochte nicht mehr. Die Haut war kalt. »Verdammt!«, schrie Smythe, und seine Stimme überschlug sich. Tränen schossen ihm in die Augen Tränen der Wut. Er ballte seine Hände zu Fäusten und ließ sie wie Vorschlaghämmer auf die stille Brust herunterkrachen. »Verdammte Scheiße!« Andere Worte fand er nicht. Zu groß war der Schock, zu tief die Enttäuschung: Er hatte diesen Mann so lange gehasst und gejagt - und nun das! Smythe glaubte zu
ersticken. Aschfahl sah er zu Lynne auf, die es schon bemerkt hatte und wütend zu ihm herüberstarrte. Matthew Drax war tot. »Du hast auf ganzer Linie versagt, Jacob!« Lynne spie es voller Wut heraus. Denn auch Aruula lebte nicht mehr, und die junge Frau fühlte sich betrogen wie selten zuvor. Unbewusst tastete sie nach ihrem künstlichen Arm. Es gab keine ausgleichende Gerechtigkeit. Die Makellosen und Erfolgreichen wurden von den Göttern selbst am Ende noch beschützt - Lynne Crow hingegen war für alle Zeiten als Verlierer gebrandmarkt! »Hör auf zu heulen!«, zischte sie angewidert. Smythe kniete hysterisch schluchzend neben Drax. Lynne warf ihm den Bogen hin, hob mechanisch seinen Driller auf und presste ihn mit verschränkten Armen an ihre Brust. »Wie konntest du so dämlich sein, Jake? Sie sind beide tot! Warum hast du nicht auf ihre Beine gezielt statt auf ihr Herz?« Sie geht mir auf die Nerven! Ganz langsam ließ Smythe die Hände sinken. Lynnes Gezeter war wie eine Steinlawine auf ihn herabgeprasselt und hatte sein ohnehin schon verletztes Ego noch mehr zerkratzt. Nun war die Schmerzgrenze erreicht. Smythe sah auf. Eine letzte Träne rollte über seine Wange - und er wischte sie nicht weg. »Ein Wort noch! Ein Wort und ich bringe dich um!«, drohte er. Lynne warf den Kopf in den Nacken und lachte höhnisch. »Sicher, Jacob! Klar tust du das.« Sie hätte es besser wissen müssen. Der starre Blick, die weiß hervortretenden Knöchel seiner Fäuste und Jacobs Mund, der sich zu einem Grinsen am Rande des Irrsinns verzog, waren bekannte Indikatoren. Aber Lynne hielt
den Driller in ihrer Hand, und die scheinbare Sicherheit der geladenen Waffe machte sie blind für alle Warnungen. Blind und leichtsinnig. »Na, los - erschieß mich, Jake«, forderte sie und wiegte sich provokant in den Hüften. »Aber vorher musst du mir unbedingt noch erklären, wie du das anstellen willst - wo ich doch die Waffe habe.« »Hör auf, Lynne!«, krächzte Smythe, heiser vor Wut. »Du weißt nicht, was du tust.« »Und was ist mit dir?« Ein spitzer Finger zielte auf ihn. »Du redest nur und suhlst dich in Größenphantasien wie ein Schwein im Dreck! Aber zustande bringst du nichts. Gar nichts.« Schwungvoll drehte sie sich um und schlenderte davon. Smythe starrte ihr aus schmalen Augen nach. Ein Nerv zuckte auf seiner Wange. Seine Hand glitt übers Gras und fand den Bogen. Hält sie jetzt endlich das Maul? Nein, tat sie nicht. Lynne hatte längst jedes Maß verloren, sprach schon mehr zu sich selbst als zu dem Mann aus der Vergangenheit und redete sich den ganzen aufgestauten Frust von der Seele. »Und dann dein krankes Konkurrenzdenken!« Lynne breitete ihre Arme aus, samt Driller. »Ich bin der Captain, mir wurde das Kommando über die WCA-Expedition übertragen - aber wer hat sich ständig als Herr der Dinge aufgespielt, bis das ganze Unternehmen gescheitert war? Jacob Smythe natürlich, wer sonst?« Smythe tastete nach dem Köcher auf seinem Rücken. Einen Pfeil hatte er noch. Zögernd wog er ihn in der Hand. »Nicht zu vergessen Private Bellows«, stichelte Lynne weiter. Smythe ahnte, was kam - und augenblicklich
hatte es sich ausgezögert. Blass vor Wut legte er den Pfeil ein. »Der arme Junge musste sterben! Du hast ihm die Kehle aufgeschlitzt. Und warum? War er nutzlos? Hat er rebelliert? Nein, viel schlimmer: Er war mehr Mann als du. Damit hast du ein richtig großes Problem, nicht wahr, Jake?« Lynne drehte sich um. Das Lachen erstarb auf ihrem Gesicht, als sie sah, dass Smythe einen schussbereiten Bogen in der Hand hielt. Sie versuchte noch den Driller hochzubringen - aber es war zu spät. *
Lange halte ich das nicht mehr aus!, dachte Mer’ol
verzweifelt. Der gefangene Hydrit war müde und erschöpft und musste immer mehr Energie darauf verwenden, sich wachzuhalten. Er hatte, so schien es ihm, seit einer Ewigkeit nicht mehr geschlafen - aus Angst vor seinen Träumen, deren Inhalt er nicht steuern konnte. Gaben sie verräterische Wahrheiten preis, war er verloren. Aber Mer’ol wollte nicht sterben, darum bekämpfte er seine Müdigkeit mit aller Macht. Nun kam noch Hunger hinzu. Mer’ol warf einen missmutigen Blick zur Decke seiner Gefängniszelle. Unverändert klebte die große Luftblase unter dem Lavagestein - doch das Tiefsee-Gemüse war verschwunden. Anstelle der dickblättrigen Ko’onen tummelte sich dort ein Schwarm kleiner Fische. Mer’ol schluckte unwillkürlich. Die silberbraunen Appetithappen waren ihm noch gut bekannt aus alter Zeit, sie schmeckten vorzüglich und hatten eine
angenehm stimulierende Wirkung.
Aber heutzutage verspeist man keine Fische mehr - das wäre Kannibalismus! Außerdem würde es das Wachstum der unseligen Tantron-Drüse anregen, und das wollen wir doch nicht, oder? Nein, der zivilisierte Hydrit ernährt sich vegetarisch und verhält sich wohl gesittet.
Mer’ol ballte seine Fäuste, während er dem verbotenen Essen beim Spielen zusah. Er konnte nur vermuten, wie es in seine Zelle gelangt war, und eigentlich sollte er sich darüber freuen. Offenbar nahmen die Kristallwesen seine erdachte Geschichte von Lu’dak, dem abtrünnigen Wissenschaftler, der in einem geheimen Forschungslabor nach einem Verfahren suchte, die Tantron-Drüse auch ohne den Verzehr von tierischem Eiweiß zu vergrößern, für bare Münze. Daher die Fische.
Sie wollen mich zwingen, tierisches Eiweiß aufzunehmen. Mer’ols Flossenkamm sank. Einer der Fische war vorbei gehuscht, und nur mit größter Willensanstrengung hatte der hungrige Wissenschaftler ihn ziehen lassen. Diese räudigen Seehunde! Beobachten
mich wie eine Labormuschel und warten darauf, dass ich meiner Tantron-Drüse freie Entfaltung gewähre!
»Wollt ihr wirklich wissen, was passiert, wenn ich wütend werde? Ja? Wollt ihr das?«, schrie er unbeherrscht, fuhr herum und rammte seine Faust in die Zellenwand. Das glasartige Material wurde von Mikroorganismen produziert und antwortete mit einem Ring aus feinsten Rissen. Man konnte dabei zusehen, wie sie verschmolzen und wieder verschwanden. Mer’ol hatte es oft genug beobachtet. Er wandte sich ab. Es gab kein Entrinnen, das wusste er. Seine einzige Hoffnung war Rettung von außen gewesen, aber die
Wahrscheinlichkeit, dass noch jemand kommen würde, um ihn zu befreien, schwand mit jedem Tag. Vermutlich hielt man ihn längst für tot. Irgendwie war er das ja auch. Müde zog der Hydrit die Beine an, umschlang sie mit den Armen und legte seinen Kopf auf die Knie. Er dachte an seinen Vorgesetzten, den er schon als weiteren Gefangenen der Kristallwesen in der zweiten Zelle vermutet hatte. Mer’ol hatte ihn gerufen, aber keine Antwort erhalten. In gewisser Weise machte ihn das froh - obwohl es bedeutete, dass er tatsächlich allein war.
Wenigstens ist Quart’ol in Sicherheit. Seinen Verstand werden sie nicht durchwühlen wie ein Haufen Wattwürmer. - Obwohl es bestimmt eine interessante Erfahrung für ihn wäre!, fügte er in einem Anflug von
Galgenhumor hinzu. Schließlich legte Quart’ol bisweilen seltsame Verhaltensweisen an den Tag und zitierte gern und oft etwas, das man bei den Menschen »Film« nannte, das bei seinen Artgenossen aber nur für Verwirrung sorgte. Mer’ol erinnerte sich daran, wie peinlich ihm als Quart’ols Assistent dessen Auftritte manchmal gewesen waren - und wie ablehnend er dem Humanoiden Maddrax gegenübergestanden hatte, den er - zu Recht - für diese Sprüchesammlung verantwortlich machte. In seiner jetzigen Situation jedoch hätte er sich sogar darüber gefreut, dem Commander zu begegnen. Im Grunde ist er ja kein schlechter Kerl, sagte er sich und gähnte verhalten. Sein einziger Makel ist es, als
Mensch geboren zu sein...
Die dunklen Augen des Hydriten wurden immer schwerer. Er spürte es kaum, schreckte aber trotzdem in letzter Sekunde hoch, ehe der Schlaf ihn übermannen
konnte. Ein Schatten zog an seiner Zelle vorbei, riesenhaft und fließend. Verdammte Todesrochen! Mer’ol folgte dem Wesen mit zornigem Blick. Anscheinend war es zu der anderen Zelle unterwegs zumindest steuerte es auf die Felsensäule zu, hinter der das flimmernde Grün seinen Ursprung hatte.
Ist doch jemand da drin? Quart’ol? Vielleicht hat er meinen Ruf nur nicht gehört! Er könnte zu dem Zeitpunkt bewusstlos gewesen sein und... Mer’ol brach ab.
Spekulieren war nutzlos. Taten waren gefragt. Also schloss er seine Augen und zwang den übermüdeten Verstand noch einmal in Aktion. Dann sandte er einen mentalen Ruf aus. Ob er sein Ziel erreichte, blieb Mer’ol verborgen. Seine Augen öffneten sich nicht mehr. Er war einfach eingeschlafen. Etwas huschte in seinen Verstand, sanft wie ein Hauch. Die heimlichen Lauscher erreichten Mer’ol gerade noch, ehe er hinüber dämmerte - auf seine zweite, gefährliche Bewusstseinsebene. Nun nahmen sie erneut ihre Logenplätze in seinen Gedanken ein und warteten. Darauf, dass die Träume begannen... *
Wäre Jacob Smythe gefragt worden, warum, um alles in der Welt, er seine Geliebte erschießen musste, hätte er als Grund für die Tat vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit angegeben. Ein kurzer Blackout, hervorgerufen durch zu viel Stress und Überanstrengung. Aber er wurde nie gefragt. Es wäre auch eine Lüge gewesen. Smythe wusste genau, was er tat. Lynne Crow hatte ganze Arbeit geleistet und ihn mit
allem beworfen, was ihn verletzen konnte. Nun stand sie da - ein paar lächerliche Meter vor dem schussbereiten Pfeil, den seine blutende Seele auf den Weg bringen würde. Smythe hatte nicht wirklich die Zeit, über all dies nachzudenken. Es kam ihm nur so vor. Tatsächlich lagen wenige Sekundenbruchteile zwischen Lynnes Umdrehen und dem Schuss. Daher formulierte Smythe auch keine Worte. Was sein Bewusstsein füllte, waren nagende Erinnerungsfetzen - an Demütigungen, Ablehnung und Verrat. Und an diese Häme. Lynne hatte ausschließlich Angstgegner als Maßstab genommen, gegen die er auf keinen Fall bestehen konnte. Er war kein Matthew Drax, er hatte keinen General Crow zum Vater, und er war auch kein potenter Junghengst. Dass er einen Professorentitel inne hatte, seine Doktorarbeit in Medizin zu einem Standardwerk geworden und er als Leiter der Astronomie Division der US Air Force ein bekannter und geachteter Mann gewesen war, zählte nicht mehr: Die Welt des Professor Dr. Jacob Smythe war vor fünfhundert Jahren untergegangen. Seither befand er sich in einer Zukunft, die nie für ihn bestimmt gewesen war und die er schon deshalb nicht meistern konnte, weil er hier nicht hergehörte. Ähnlich wie Matthew Drax hatte auch er in der Frau an seiner Seite nach einem Halt gesucht - aber anders als Matt hatte er ihn nicht gefunden. Smythe ließ die Sehne los. Der tödliche Pfeil sirrte davon, punktgenau seinem Ziel entgegen, das starr vor Schreck in einer Landschaft ohne
Deckung stand. Smythe wusste, er würde Lynne nicht verfehlen. Das tat er auch nicht. Der Pfeil kam einfach nie an. Eine seltsame Bewegung entstand am Himmel, wie fließendes Wasser. Smythe blinzelte, um die vermeintliche Täuschung wieder loszuwerden. Aber es war keine Täuschung, der Himmel zerfloss tatsächlich. Der Himmel, die Landschaft, der fliegende Pfeil und Lynne Crow. Alles um den Professor herum löste sich auf, selbst der Bogen in seiner Hand. »Was... was passiert hier?«, stammelte er, zu sehr überrascht, als dass Panik in ihm aufwallen konnte. Es war nur ein Zufall, dass Smythe im richtigen Moment den Kopf hob, um zu sehen, dass der halbe Himmel fehlte - er entdeckte die Öffnung über sich gerade noch, ehe sie wieder verschwand. Ihre Ränder hatten grün geflimmert, und dahinter war Lavagestein zu erkennen gewesen - schwarze zerklüftete Stalaktiten, von silberbraunen Fischen umschwirrt. Fische? Wieso Fische?, dachte Smythe noch. Dann hörte er auf zu denken. *
(Was ist geschehen, Liob’lan’imaa?) (Eine Spannungsschwankung im Energiefeld, Tana’sil’uun! Sie ist bereits behoben.) (Hat er es bemerkt?) (Ja. Wir werden dieses Element aus seinem Gedächtnis löschen.) (Das Verhalten der Humanoiden ist nicht schlüssig, Liob’lan’imaa! Das männliche Objekt hat Trauer
empfunden, als sein Gegner gestellt war, und ihn trotzdem getötet.) (Möglicherweise bezog sich das Gefühl nur auf den Verlust der selbstgestellten Aufgabe.) (Auch das weibliche Objekt hat unverständlich reagiert. Es hat den eigenen Tod gefordert.) (Eine unbefriedigende Entwicklung! Wir sollten auch diese Erinnerung löschen.) (Nein. Nur weil wir es nicht verstehen, muss das Verhalten der beiden Humanoiden nicht irrational sein. Wenn es ihr natürliches Gebaren ist, müssen wir uns darauf einstellen. Ich schlage vor, wir entfernen den kompletten Ablauf und beginnen neu, mit einer anderen Ausgangsposition.) (Ich stimme zu, Tana’sil’uun. Um die Primärrassenvertreter zu begreifen und uns ihrer Handlungsweisen zu bedienen, brauchen wir gesicherte Ergebnisse. Schließlich geht es darum, eine ganze Rasse zu bewerten...) * »Los doch! Beeil dich!«, drängte Quart’ol. Träge glitt der seelenlose Zombierochen auf den Kometen zu. Ihm fehlte die Leichtigkeit und Eleganz seiner Artgenossen, die in Scharen das offene Gewässer vor der »Kommandozentrale« kreuzten - er bewegte die Flügelflossen wie ein mechanisches Spielzeug, und statt des Kristalls gähnte ein Loch in seiner Stirn. Noch hatten sie ihn nicht entdeckt. Der heimliche Passagier an seiner Unterseite betete, dass es so bleiben möge - und fuhr entsprechend zusammen, als ihn plötzlich eine mentale Stimme erreichte.
Quart’ol! Bist du da? Kannst du mich hören? Mer’ol?, dachte der Hydrit erst verwundert, dann mit
unendlicher Freude. Sein Assistent lebte also noch, und er war frei genug, um eine telepathische Nachricht auszusenden! Er war so erleichtert, dass er es versäumte, Mer’ol sofort zu antworten. Erst nach Sekunden besann er sich.
Mer’ol! Wo bist du? Wie geht es dir? Keine Antwort.
Mer’ol? Ich bin da! Antworte mir!
Die Freude, die Quart’ol gerade noch empfunden hatte, schwand rapide und wurde von tiefer Besorgnis ersetzt. Was war mit seinem Assistenten und Freund nach dessen Ruf geschehen? Hatten die Daa’muren ihn gehört und Gegenmaßnahmen eingeleitet? Quart’ol spürte ein unangenehmes Kribbeln auf der Haut. Hatten sie auch seinen Ruf empfangen? Alarmiert überprüfte er seine Tarnung. Die weiße Blasenhaut wogte zwar an der Unterseite des Zombies entlang, aber sie schirmte Quart’ol vollständig ab. Vor fremden Blicken war er also sicher. Er warf einen langen Blick auf den Aufbau an der Flanke des Kometen. Befand sich Mer’ol tatsächlich dort? Oder würde er geradewegs in eine Falle schwimmen? Der Ring patrouillierender Rochen lag hinter ihm, das Dock unterhalb der Zentrale war nicht mehr weit entfernt. Ordentlich aufgereiht verharrte dort eine weitere Hundertschaft der schrecklichen Daa’murendiener, Tentakel voraus und nahezu reglos. Freie Plätze gab es kaum. Quart’ol steuerte seinen Zombie auf eine Öffnung zu, die schwarz wie ein Höllenschlund die Kette der Rochen unterbrach. Das geht mir zu glatt!, dachte er mit wachsendem
Unbehagen. Freie Bahn, offene Türen und eine Nachricht von Mer’ol - ich wette, es ist eine Falle!
Quart’ol hätte es nie fertiggebracht, seinen Assistenten im Stich zu lassen. Nun aber, am Eingang zur Höhle des Löwen, befielen ihn Angst und Zweifel. Sollte er wirklich den letzten Schritt wagen - hinein in den Kometen und in eine völlig fremde, feindliche Welt? War das Leben eines Hydriten dieses Risiko wert? Er musste nicht lange überlegen... * Zwanzig, dreißig Herzschläge verharrte Quart’ol in angespanntem Warten im glühenden Niemandsland zwischen Rochenpatrouillen und den Öffnungen im Kometenaufbau. Dreißig Herzschläge, in denen er sein weiteres Vorgehen abwägte. Wohin sollte er sich wenden? Um die Richtung zu bestimmen, hätte Mer’ol noch einmal rufen müssen. Und es stand außer Frage, dass die Daa’muren unverzüglich auf jedwede Kommunikation reagieren würden. Was aber, wenn man den Ruf tarnte? Als etwas scheinbar Harmloses - wie zum Beispiel als Ruf der Zwergrobben? Aber ja!, dachte Quart’ol in plötzlicher Erkenntnis.
Klippenfinn! Das könnte funktionieren!
Klippenfinne waren schnell schwimmende Zwergrobben. Sie lebten ausschließlich in den Küstengewässern vor Britana, waren sehr klein und beliebt in Raubfischkreisen. Bei Gefahr versteckten sie ihren Nachwuchs in der Brandung unter den Felsen und flohen hinaus aufs offene Meer, um die Räuber fortzulocken. War die Gefahr vorbei, gaben sie Laut: rhythmische Töne, eine Art
Peilsignal auf spezieller Frequenz, über Meilen zu hören und als Leitstrahl verwendet, um Eltern und Jungtiere wieder zusammenzuführen. Quart’ol kannte dieses Signal. Mer’ol auch.
Hoffentlich ist er jetzt wieder in der Lage zu antworten,
dachte Quart’ol inständig, konzentrierte sich und schickte eine kurze verschlüsselte Botschaft auf den Weg. Ohne Worte, im Jammerton der Zwergrobben, exakt alle neun Sekunden. Und tatsächlich - nach einigen Versuchen kam die Antwort wie ein Echo. So weit, so gut! Quart’ol nickte angespannt und griff nach den Tentakeln seines Zombie-Rochen. Er hatte ihn eine Schleife schwimmen lassen und manövrierte das Wesen nun zurück auf Kurs. Der Ruf kam aus NordNordwest, von jenseits der Zugänge, und er war laut Mer’ol musste sich also ganz in der Nähe befinden, unweit der äußeren Hülle. Zwei Todesrochen glitten über den Hydriten hinweg, dann noch einer. Ohne den Zombie zu beachten, zogen sie vorbei und verschwanden nacheinander in dem Kometenaufbau. Quart’ol nahm allen Mut zusammen, hängte sich an und folgte ihnen. *
(Er hat uns getäuscht, Wana’sil’eero! Die Traumsequenz ist eindeutig: Es gibt kein Forschungslabor vor Thul’Izelas! Auch das Testverfahren existiert nicht. Der Kiemenatmer weiß, dass er gescannt wird!) (Synaptische Blockaden würden seinen Zugriff auf diese Information sperren, Gu’lan’maaki.) (Nein. Ich halte den Versuch für gescheitert. Ich
schlage vor, wir brechen ab und beschaffen uns ein geeigneteres Objekt.) (Ich stimme zu.) (Moment...) Gu’lan’maaki lauschte. (Ich empfange einen hochfrequenten Ruf.) (Ist er an den Kiemenatmer gerichtet? Ein Artgenosse, der ihm zu Hilfe kommen will?) (Nein, es scheint der Klageruf eines einfachen Meeressäugers zu sein, der sich in die Nähe des Wandlers verirrt hat. Es ist auch kaum anzunehmen, dass ein intelligentes Wesen ein solches Risiko eingehen würde.) Wana’sil’eero war anderer Meinung - nachdem er den Gefangenen erneut gescannt hatte. (Der Kiemenatmer ist erwacht!), teilte er mit. (Er antwortet auf den Ruf!
Feindliche Aktivität ist nicht auszuschließen. Wir sollten die Diener aktivieren.) (Die Lesh’iye sind bereits unterwegs, Wana’sil’eero. Sie werden den Meeressäuger stellen und entsorgen - egal welcher Spezies er angehört.) * Das Gewölbe, in das Quart’ol vorgedrungen war, war ein unheimlicher Ort: düster, gespenstisch ruhig und von drückender Wärme erfüllt - fast vierzig Grad. Man hatte es als durchgehenden Raum angelegt, was jedoch wegen der Felssäulen und den massigen Stalaktiten aus Lavagestein nicht zu erkennen war. Vielmehr hatte Quart’ol das Gefühl, sich durch ein verschachteltes Labyrinth zu bewegen. Misstrauisch blickte er sich um. Was er sah, erinnerte ihn tatsächlich an eine Art Kommandozentrale - wenn
auch nicht mit der hydritischen Bionetik oder menschlicher Technik vergleichbar. Überall blinkten Kristallsplitter, gab es wie poliert wirkende oder grünlich schimmernde Flächen, ragten die einen Meter hohen, pulsierenden Kristalle aus dem Boden. Trotzdem herrschte dank der schwarzen Wände nur gedämpftes Licht. Die drei Rochen, denen er gefolgt war, waren verschwunden. Ein paar Fische zogen vorbei, klein und silberbraun, sonst war alles still. Sein Zombie verfehlte so manche Kante nur knapp und schleifte Quart’ol immer wieder gefährlich dicht über aufragendes Lavagestein. Der Hydrid hätte ihn gerne irgendwo geparkt.
Ohne dieses Riesenvieh wäre ich viel beweglicher,
dachte er nervös. Aber er konnte auf seinen seelenlosen Begleiter nicht verzichten, schließlich brauchte er ihn noch, wenn er diesen Ort wieder verließ. Ja, wenn! Quart’ol gab sich keinen Illusionen hin. Einen Schritt nach dem anderen!, sagte er sich gerade, da fand das träge Gleiten des Zombies ein unerwartetes Ende - als das Wesen gegen eine Art Felsenkonsole krachte. Quart’ol rutschte aus der Blasenhaut, sank zu Boden und brachte sich mit ein paar hastigen Schwimmstößen in Deckung. Aus den Augenwinkeln bemerkte er ein helles Flimmern - und zwei Umrisse, die nicht ins Restbild passten. Quart’ol stieß einen Fluch aus, richtete sich auf und zog den Blitzstab. Gegenüber der Felsenkonsole schwebten zwei Gestalten! Das sind Menschen!, dachte er verblüfft. Flüchtig schaute er sich nach dem Zombie um; er driftete im Schneckentempo den Gang hinunter, auf eine halb
versteckte Glasröhre zu. Die Blasenhaut hatte sich an seinem stachelbewehrten Schwanzende verfangen und wallte meterlang hinter ihm her. Quart’ol wandte sich wieder seiner Entdeckung zu. In den Tiefen des Raumes, an der hinteren Wand wuchs ein grün flimmerndes Energiefeld über zwei Nischen empor in denen reglos zwei Menschen trieben! Wie gebannt hingen die Blicke des Hydriten an den beiden Gestalten, während er sich ihnen näherte. Ein Mann und eine Frau, zwei Armlängen voneinander getrennt. Man hatte sie entkleidet und eingefettet, um sie vor dem Wasser zu schützen - Quart’ol erkannte den typischen Schimmer auf ihrer Haut. Organische Atemmasken bedeckten ihre Gesichter, durch dünne Tentakel mit einem Tank an der Decke verbunden, in dem Pflanzen wogten. Tiefsee-Ko’onen!, dachte Quart’ol überrascht. Ja,
natürlich, die Dinger produzieren Sauerstoff! Aber warum sind die beiden Menschen hier - und was geschieht mit ihnen? Mitleidig betrachtete er sie. Die Frau war jung und hübsch; ihre langen roten Haare bewegten sich träge im Wasser. Der Mann war schon älter, Mitte bis Ende vierzig, hager und mit hoher Stirn. Seine geschlossenen Augen quollen unnatürlich hervor. Quart’ol erkannte ihn - aber nicht aus eigenem Antrieb. Er fand das Bild in Matthew Drax’ Erinnerungen.
Smythe! Das ist Jacob Smythe, der durchgedrehte Professor!
Plötzlich war ihm alles klar. Natürlich wusste er von der gescheiterten WCA-Expedition und vom spurlosen Verschwinden der beiden Anführer. Jacob Smythe und
Lynne Crow sind also nicht tot wie vermutet. Sie werden
hier von den Daa’muren...
Quart’ols Gedankengang endete abrupt, als etwas seinen Geist berührte. Ohne es zu merken, hatte er eine Hand auf einen Kristall gelegt, der vor den beiden Energiefeldern aus dem Boden ragte. Darin pulsierte in grünem Licht die gefangene Seele eines Außerirdischen. Hastig zog Quart’ol seine Hand zurück und schwamm nach hinten. Hatte der Daa’mure in dem Kristall seine Anwesenheit bemerkt? Alarmierte er jetzt gerade den Rest seines Volkes - und die Armee der Todesrochen? Quart’ol fröstelte trotz der Hitze. Er konnte den Humanoiden nicht helfen - es gab keine Möglichkeit, sie lebend an die Oberfläche zu bringen, selbst wenn er genügend Zeit und die Möglichkeit gehabt hätte, sie auf der Flucht mit Sauerstoff zu versorgen. »Es tut mir Leid«, klackte er mit einem letzten Blick auf die beiden, dann warf er sich herum und schwamm los seinem Zombie hinterher. Wie viel Zeit blieb ihm noch, bis es hier von Rochen nur so wimmelte...? »Halt! Hiergeblieben!« Quart’ol raffte von der wogenden Blasenhaut zusammen, was sich mit einer Hand halten ließ, schlang den freien Arm um einen Stalagmiten und bremste den Zombie aus, bis der schaukelnd in Augenhöhe auf dem Gang verharrte. Doch schon im nächsten Augenblick ließ er ihn wieder los und zückte den Blitzstab. Er hatte seinen Assistenten entdeckt! Mer’ol wirkte verloren in der gläsernen Zelle. Er war erschöpft, sein Flossenkamm hing schlaff herunter und hatte kaum noch Farbe. Seltsamerweise schenkte er seinem Mentor keinen Blick - er schien ihn nicht einmal zu bemerken und starrte wie vom Donner gerührt nach vorn.
Einen Moment lang hoffte Quart’ol noch, dass der mitgebrachte Todesrochen Schuld an diesem Schrecken wäre, doch als er unter dem Zombie hergetaucht war und sich neben der Glasröhre aufrichtete, sah er den wahren Grund - und sein Herz sank. Im Halbdunkel des Ganges, keine dreißig Längen entfernt, schwebte ein gewaltiger Todesrochen. »Flieh!«, klackte Mer’ol mit Panik in der Stimme. Er hatte Quart’ol also sehr wohl bemerkt. »Bring dich in Sicherheit, solange du noch kannst!« »Ruhig bleiben!« Quart’ol ließ den Rochen nicht aus den Augen. Was er sieht, sehen die Daa’muren auch!
Spätestens jetzt wissen sie also Bescheid.
Seine Gedanken überschlugen sich. Nicht nur Mer’ol musste gerettet werden, sondern auch der Zombie. Unbedingt sogar, denn ohne ihn als Tarnung war an ein Durchkommen draußen nicht zu denken. Er wandte sich an Mer’ol - nur mit Worten, um den Todesrochen weiterhin im Blick zu behalten. Die ungleichen Gegner taxierten sich. Quart’ol sah den langen Rochenschwanz in der Dunkelheit umher peitschen. »Hör mir jetzt genau zu, Mer’ol«, klackte er. »Ich versuche deine Zelle mit dem Blitzstab zu zerstören. Wenn es gelingt, schwimm zu dem Rochen hinüber, mit dem ich gekommen...« »Zu dem Rochen?«, fragte sein Assistent entsetzt. »Aber...« »Er hat keinen eigenen Willen und ist ungefährlich«, unterbrach ihn sein Mentor. »Schwimm hin und hülle dich in die Blasenhaut unter seinem Bauch. Und dann steuerst du ihn mit den Tentakeln hier raus. Ich folge dir, sobald ich kann.«
»Ja - aber...«, stammelte Mer’ol. »Nichts aber«, beharrte Quart’ol. »Folge meinen Anweisungen!« Und damit rammte er seine Waffe in die Zellenwand. Ein Blitz zuckte auf, der wie Elmsfeuer an der glasartigen Verbindung aus Mikroorganismen hoch tanzte. Tödliche Lichtbögen schossen durch den Raum, knapp unter dem fliehenden Mer’ol her. Die Wand explodierte in tausend Scherben. Der Lesh’iye preschte los. Quart’ol stieß sich ab. Mit einem hochfrequenten Schrei stürzte er sich auf den viel größeren Rochen; seine ganze Körpersprache drückte Angriffswut und Entschlossenheit aus. Deshalb wurde der Todesrochen auch völlig überrascht, als Quart’ol kurz vor dem Zusammenprall einen scharfen Haken nach rechts schlug. Das massige Tier konnte nicht mehr abbremsen und glitt an ihm vorbei. Der Hydrit stieß ihm den Blitzstab in die Seite, verpasste ihm einen schmerzhaften Schlag und katapultierte sich selbst in die Tiefe des Raumes. Das verschaffte ihm zumindest so viel Spielraum, dass er sich nach Mer’ol umsehen konnte. Sein Assistent hatte den Zombie erreicht und verschwand gerade unter dessen Bauch. Der Angreifer beachtete ihn nicht - für ihn war eindeutig Quart’ol das Ziel. Wie eine Urgewalt kam er durch die Stalaktiten geprescht und riss dabei einen nach dem anderen herunter. Was jetzt? Weiter fliehen? Aber wie lange konnte er dieses »Fang den Fisch«-Spiel noch durchhalten? Der Raum bot außer den Stalaktiten und Stalagmiten keine Deckung.
Oder doch? Verblüfft stellte Quart’ol fest, dass die organischen Scherben von Mer’ols Zelle beim Auseinanderdriften in immer kleinere Fragmente zerfielen und diesen Teil des Raumes wie mit Schneegestöber füllten, dicht genug, um sich darin zu verbergen. Wieder raste der Todesrochen auf ihn zu - und der Hydrit warf sich herum und ergriff die Flucht. Aber nur bis zur nächsten Felssäule. Hinter ihr ging er in Deckung, wartete ab, bis der Rochen vorbei zog und schwamm in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Sein Plan ging auf: Noch bevor das massige Tier gewendet hatte, erreichte er die organische Wolke und verschwand darin. In der nächsten Sekunde wurde ihm der Nachteil dieser Strategie bewusst: Er war praktisch blind, sah die sprichwörtliche Flossenhand vor Augen nicht mehr. Instinktiv reduzierte Quart’ol das Tempo - keine Sekunde zu früh: Seine linke und rechte Schulter schrammten je an einem aufragenden Felsendorn entlang. Wenn er sich nur wenige Handbreit mehr links oder rechts gehalten hätte, wäre er fast ungebremst...
Moment mal - das ist es!
Die Chance erkennen und handeln war für Quart’ol eins. Hastig kehrte er um, ertastete kurz die genaue Position der Stalagmiten und schwamm in gerader Linie weiter, bis er zum Rand der Wolke kam. Der Todesrochen hatte inzwischen gewendet und hielt Ausschau nach dem Feind. Quart’ol tat ihm den Gefallen. Auffällig unauffällig ließ er den Blitzstab kurz aufleuchten, markierte Erschrecken und warf sich wieder zurück in die Wolke hinein. Diesmal drehte er sich auf die Seite, um die Lücke zu
passieren. Er berührte den schorfigen Lavastein nur mit der Flosse seines linken Fußes, dann war er durch und hielt gespannt inne. Er brauchte nicht lange zu warten. In voller Geschwindigkeit und voller Wut raste der Todesrochen in die Wolke hinein. Das gesamte Gewölbe erbebte, als sein Vorwärtsdrang abrupt und nachhaltig gestoppt wurde. Steinsplitter wirbelten Quart’ol um die Ohrlöcher, und das Wasser schmeckte plötzlich widerlich nach Blut. Schnell schwamm der Hydrit weiter. Als er die Wolke auf der anderen Seite verließ, folgte ihm eine einzelne abgetrennte Rochenschwinge. * Quart’ol holte den Zombie - und mit ihm Mer’ol - ein, kurz bevor dieser den Ausgang erreicht hatte. Er half seinem Assistenten, den seelenlosen Rochen abzubremsen und warf vorsichtig einen Blick hinaus. Eine Sekunde später wünschte er sich, es nicht getan zu haben. Draußen im Meer gab es unübersehbare Veränderungen. Die zuvor noch weit verstreuten Todesrochen hatten sich eng um den Kometen zusammengezogen - und sie waren auch nicht länger auf träger Patrouille unterwegs. Es war offensichtlich, dass sie jemanden suchten. Quart’ol hatte keinen Zweifel daran, wen. Neben ihm kam Mer’ol zum Ausgang geschwommen. Er war noch immer in die Blasenhaut eingehüllt und sah aus wie ein Gespenst. »Unmöglich, diese Blockade zu durchbrechen«, klackte er mit einem Fingerzeig auf das Rochenheer. Quart’ol wollte etwas sagen - und fuhr erschrocken hoch: Der
Zombie hatte sich selbstständig in Bewegung gesetzt und glitt an ihnen vorbei nach draußen! Eilends klammerten sie sich am Schwanzansatz fest und hielten sich mehr schlecht als recht mit der Blasenhaut bedeckt. Keine Chance, die Tentakel am Kopf zu erreichen. Ohne Steuermöglichkeit ging es abwärts - als wallendes Anhängsel eines Todesrochen, der keine Antwort geben würde, wenn seine Herren nach ihm riefen. Es war sicher kein Zufall, dass er genau auf den Graben zuhielt, aus dem er gekommen war. Quart’ol betete, dass er den Kurs beibehalten möge - und dass keiner seiner Artgenossen Verdacht schöpfte. »Das geht nicht gut! Das geht nicht gut!«, klackte Mer’ol immer wieder. »Das kann gar nicht gutgehen!« »Nun reiß dich doch zusammen!«, entgegnete Quart’ol gereizt. »Solange wir nicht... o nein!« »Was ist?« Panisch blickte Mer’ol um sich, erkannte aber nicht gleich, was seinen Mentor bereits die Farbe verlieren ließ. Als Quart’ol dann nach unten deutete, sog er scharf das Wasser ein. Über den schwarzen Rand des Einschnitts kam etwas hochgeschwebt - riesenhaft, gespenstisch weiß und aufgebläht. Der Krake! Er war eindeutig tot - so tot wie die Rochenkadaver, deren Hüter er gewesen war, bis Quart’ol ihn erschlug. Seine Tentakel hingen schlaff herab, im Schädel steckte noch der tödliche Kristall. Trotzdem bewegte sich der Krake - vermutlich von sich bildenden Faulgasen getrieben - aufwärts und steuerte genau auf den Zombie und die Hydriten zu. Als wollte er den Daa’muren noch im Tode zeigen, wo der Feind sich versteckt hielt. Es schien ihm zu gelingen.
Ein lautloser Befehl durchlief das Heer der Todesrochen. Eine Hundertschaft nach der anderen schwenkte wie an Fäden gezogen herum und richtete ihre Stirnkristalle auf Quart’ols Zombie aus. »Wir sind verloren«, jammerte Mer’ol. Quart’ol sagte nichts darauf. Jeder Optimismus wäre in ihrer Situation Selbstbetrug gewesen. Stattdessen fixierte er den toten Kraken. Wenn er tatsächlich von Gasen angehoben wurde - warum steuerte er dann schräg auf sie zu, anstatt in gerader Linie nach oben zu treiben? Quart’ol sah noch einmal genauer hin - und entdeckte einen Schatten zwischen den weißen Tentakeln. »Da versteckt sich jemand!«, sagte er überrascht und versuchte seinen Assistenten ebenfalls zum Hinsehen zu bewegen, doch Mer’ol war am Ende seiner Kräfte, mental wie körperlich, und starrte nur noch auf das alptraumhafte Riesenheer. Der Krake und der Zombie-Rochen glitten aufeinander zu. Vierzig Meter noch, dann mussten sie zusammenstoßen. Je weiter das tote Wesen der Dunkelheit entstieg, desto deutlicher zeichnete sich der Schatten unter ihm ab. Einzelheiten wurden sichtbar: raue schwarze Haut, eine gespaltene Schwanzflosse, rote Augen... Das war doch... Quart’ol griff nach seinem Assistenten, zog ihn näher heran und wies auf die gespenstische Erscheinung. Dreißig Meter noch. »Hör zu«, raunte er eindringlich. »Ich weiß, wer da kommt! Frag nicht, vertrau mir! Wir lassen jetzt den Rochen los. Knote dir die Haut um den Körper, so schnell und so fest wie möglich.« »Aber...«
»Sofort!« Quart’ol gab den Rochen frei, zog seine Tarnung herunter und schlang einen breiten Strang um seine Hüfte. Hastig sah er auf: zwanzig Meter. Die beiden Hydriten trieben mit der Dünung auseinander, arbeiteten fieberhaft an den Knoten. Die wogende Haut zwischen ihnen wurde zum Seil. Zehn Meter noch. Ein Ruck ging durch den Kraken. Mer’ol riskierte einen Blick, und seine Augen weiteten sich: Was da unter den Fangarmen hervor lugte, sah aus wie ein mutierter Delfiin! Aber nicht wie irgendeiner, o nein! Es war der Tauchanzüge-Fresser aus der Flussmündung! »Aber das ist doch...« Verblüfft starrte er seinen Gefährten an. Quart’ol nickte. »Ti’u«, sagte er. »Ich erklär’s dir später. Los jetzt!« Der sinkende Zombie prallte gegen den Kraken. Fangarme umschlangen ihn, Luftbläschen sprudelten hervor, das Wasser geriet in Bewegung. Und aus dem Wirrwarr kam ein schwarzer Delfiin gefegt - genau auf Quart’ol zu. Noch im »Anflug« klappte er den Kiefer herunter, warf seinen Kopf hoch und fing den Strang der Blasenhaut ein. Die Hydriten wurden ruckartig herumgerissen, als das Seil sich spannte. Ti’u kümmerte es nicht, dass sie neben ihm her wirbelten wie Spielzeug; er streckte sich und machte, dass er fortkam. Bis die Todesrochen merkten, was überhaupt los war, hatte Ti’u bereits einen beachtlichen Vorsprung herausgeholt. Jetzt rächte sich, dass sämtliche Rochen der Umgebung beim Kometen versammelt worden waren - es gab keinen mehr, der sich den Flüchtenden in den Weg stellen konnte. Der schwarze Delfiin schwamm um
sein Leben, und um das seiner beiden Begleiter. Mit kraftvollen Schwüngen seiner Schwanzflosse steuerte er das weite Seegrasfeld an und entzog sich darin den Blicken der Verfolger. Während die Rochen noch auf dem Weg dorthin waren, folgte Ti’u einem Erdspalt, der sogar noch über das Ende des Feldes hinaus führte, und hängte die Armada endgültig ab. Als der Spalt endete und sie wieder auftauchen mussten, war kein einziger Daa’murendiener mehr zu sehen. * »Wie hast du mich eigentlich wiedergefunden?«, fragte ein sehr erleichterter Hydrit Stunden später, als er mit Mer’ol und dem Delfiin durch eine Schlucht nach Nordwesten schwamm, während irgendwo in der Ferne das Rochenheer ein Seegrasfeld zerwühlte. Ti’u wippte vergnügt mit der Schwanzflosse. Dann ahmte er den Ruf der Klippenfinne nach. Quart’ol klopfte ihm auf die Flanke und wandte sich seinem Assistenten zu. »Maddrax ist mit seiner Expedition auf dem Weg nach Britana. Wenn der HydRat es erlaubt, werde ich dort zu ihm stoßen. Er kann jede Unterstützung gegen die Daa’muren brauchen.« Mer’ol nickte zustimmend. »Ich begleite dich«, sagte er. »Unsere Erkenntnisse über den Kometen werden sehr hilfreich sein.« Quart’ol nickte und dachte dabei an die beiden Menschen, die er in den Zellen entdeckt hatte. Aus Maddrax’ Erinnerungen wusste er, was dieser von Professor Dr. Smythe hielt. Und er fragte sich, ob es nun
ein Segen für die Menschheit war, dass die Daa’muren den verrückten Professor aus dem Verkehr gezogen hatten - oder ein Fluch. Hätte er zu diesem Zeitpunkt geahnt, was die Zukunft bringen würde - er wäre trotz der Todesrochen auf der Stelle umgekehrt, um Jacob Smythe zu töten... ENDE
Sohn der Finsternis
von Bernd Frenz Ein Mann im Feuervogel wird vom Südland kommen und die Welt verändern! Wladov wusste nicht, woher dieser Gedanke stammte, er blitzte einfach auf. So wie immer, wenn sich eine Prophezeiung anbahnte. Doch er spürte, dass ihm die Beschwörungen heute schwerer fielen als sonst. Seine Hoffnung, das Geheimnis diesmal zu ergründen, sanken bereits, als vor seinem geistigen Auge unversehens das Bild eines Mannes entstand. Zu Wladovs Verwunderung war es kein Nosfera, sondern ein Mensch: groß, blond und in grüne Gewänder gehüllt. »Der Mann aus dem Feuervogel«, sprachen die Propheten wie aus einem Munde. »Sein Weg führt nach
Moska!«
»Ist er das?«, fragte Wladov in den Raum hinein. »Ist dies der Sohn der Finsternis?«