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In der Höhle des Löwen Roman von William F. Conner Maschinenpistolen ratterten. Jemand feuerte mit einer Pistole. Die Detonationen vermischten sich zu einem hämmernden Stakkato. Der Konvoi war zum Stehen gekommen. Raue Stimmen brüllten irgendwelche Befehle. Etwas explodierte. Wahrscheinlich eine Handgranate. Max Steiner und Johann Weiser, die beiden deutschen Rot-KreuzHelfer, ahnten Schlimmes. Bei ihnen im Wagen saß Jim Svenson, der englische Journalist. Die drei Männer wechselten nervöse Blicke. In ihren Gesichtern zuckten die Nerven. Die Tür des Landrovers, in dem sie saßen, wurde aufgerissen. Ein Mann hielt die MPi in den Wagen. Er rief einige Worte in arabischer Sprache und winkte mit der Waffe. Weitere Bewaffnete zeigten sich. Etwas weiter entfernt wurde nach wie vor geschossen. Steiner, Weiser und Svenson hatten nicht verstanden, was der Bewaffnete von ihnen wollte. Vorsichtshalber hoben sie die Hände. »Ich denke, dass wir aussteigen sollten«, sagte Jim Svenson. »Himmel, was wollen die von uns?« »Ja, aussteigen«, radebrechte der Bewaffnete in schlechtem Englisch. »Hände oben lassen. Raus!« Nacheinander kletterten die drei Europäer aus dem Landrover. Nebeneinander stellten sie sich auf. »Aufständische«, murmelte Max Steiner. »Leute von el Sadr. Was die wohl von uns…«
Einer der Kerle rammte Steiner den Lauf der Mpi in den Leib. Der Deutsche quittierte den Stoß mit einem erschreckten Aufschrei und beugte sich nach vorn. Einer der Bewaffneten griff ihm in die Haare. »Du ruhig. Kein Wort mehr - sonst sterben.« Steiner schluckte würgend. Er war überzeugt davon, dass der Überfall auf das Konto von Moktada el Sadr ging. Der radikale schiitische Geistliche führte seinen eigenen Krieg. Seine Anhänger waren es, die den US-Truppen die Stirn boten, die sie sogar aus einigen Städten vertrieben hatten und die ihren sunnitischen Glaubensbrüdern im umkämpften Falludscha zu Hilfe geeilt waren. In Steiners Eingeweiden wühlte die Angst. Sie drückte sich in jedem Zug seines Gesichts aus. Er spürte, wie seine Hände zitterten. Auch Weiser und Svenson waren voller Furcht. Diese fanatischen Kerle, die sie mit ihren Waffen bedrohten, waren unberechenbar. Jeden Moment konnte einer von ihnen den Finger um den Abzug seiner Mpi oder Pistole krümmen. Ein Stück weiter ertönte Geschrei. Jemand wurde aus einem Jeep gezerrt. Es war ein Mann im Tarnanzug der US-Streitkräfte. Eine Mpi-Salve ratterte. Jemand lachte und rief etwas auf arabisch. »Wir sind Angehörige des Deutschen Roten Kreuzes«, entrang es sich Johann Weiser. »Wir sind in Ihrem Land, um zu helfen. Warum…?« Weiser brach entsetzt ab, als er, Steiner und Svenson gepackt und fortgezerrt wurden. Ein Kolbenstoß traf den Journalisten. Er ging stöhnend in die Knie, wurde aber unerbittlich weitergetrieben. Zu beiden Seiten der Straße buckelten Hügel. Am Fuße einer dieser Anhöhen stand ein Lastwagen mit einer Plane über der Ladefläche. Die beiden Deutschen und der Engländer mussten aufsteigen. Ein halbes Dutzend Bewaffnete kletterten zu ihnen auf die Ladefläche. Da gab es hölzerne Sitzbänke. Die drei Gefangenen setzten sich. Auch die Aufständischen ließen sich nieder. Hoffnungslosigkeit und Resignation griff nach den drei Männern, deren Schicksal in absoluter Dunkelheit lag. Die Fahrt ging nach Osten. Nach etwa einer Stunde nahm sie das
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Felsengebirge auf. Das Fahrzeug bog von der Straße ab und benutzte schlechte Feldwege. Staub quoll unter den Rädern in die Höhe. Immer tiefer ging es in die Felswüste hinein. Dann wurde der Lkw in eine Schlucht gelenkt und wenig später angehalten. Stimmen erklangen vorne beim Führerhaus. Dann ging es weiter. In einem Hochtal wurde der Lkw erneut abgebremst. Die Gefangenen mussten absteigen. Ihre Wächter sprangen ebenfalls von der Ladefläche. Steiner, Weiser und Svenson sahen sich um. In einem Unterstand, über den ein Tarnnetz gespannt war, war ein weiterer Lkw abgestellt. Daneben stand ein Jeep. Einige Männer, die sich bei den Fahrzeugen befanden, blickten zu ihnen herüber. Sie wurden auf ein Tor aus Stahlblech zugetrieben, das mit Tarnfarbe gestrichen war und in den Felsen führte. Einige Bewaffnete nahmen sie in Empfang. *** Fort Conroy, South Carolina, Hauptquartier der Special Force One, Büro des SFO-Oberbefehlshabers Montag, 0732 ETZ Das Telefon auf General Matanis Schreibtisch dudelte. General Matani war Oberbefehlshaber der SFO, der Eingreiftruppe, die vor kurzer Zeit ins Leben gerufen wurde und die in den Diensten der UN stand. Der General drückte einen Knopf. Auf dem Monitor der Telefonanlage erschien das Gesicht des SFO-Attaches von Schrader, der beim Sicherheitsrat für die Verbindung der Spezialeinheit zur Politik zuständig war. »Guten Tag, General«, tönte von Schraders Stimme aus dem Lautsprecher. »Ich muss Sie leider schon in aller Frühe mit wenig erfreulichen Nachrichten attackieren.« »Reden Sie nicht um den Brei herum, von Schrader«, grollte Matani. »Worum geht es?« »Soeben wurde durch das Pentagon bekannt gegeben, dass schiitische Aufständler einen Konvoi überfallen haben, der von Bagdad nach Falludscha unterwegs war. Der Überfall fand etwa 10 Meilen
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vor Falludscha statt.« »Dass die Gewalt zwischen den Koalitionstruppen und den Aufständischen im Irak eskaliert, ist uns allen klar«, sagte Matani. »Um mir von dem Überfall zu erzählen, haben Sie mich aber doch nicht angerufen, von Schrader. Also schießen Sie los. Was ist der Grund für Ihren Anruf?« »Es wurden zwei Deutsche und ein englischer Journalist als Geiseln genommen. Bei den Deutschen handelt es sich um Angehörige des Roten Kreuzes. Die Entführer drohen, die Geiseln zu ermorden, wenn die Engländer ihre Truppen nicht innerhalb einer Woche aus dem Irak abziehen.« »Wer steckt dahinter?« »Man vermutet hinter der Aktion Moktada el Sadr als Drahtzieher.« »Natürlich«, murmelte Matani. »Wen auch sonst? Jeder Mann, der im Kampf gegen die Amerikaner sein Leben verliert, ist ein Märtyrer und festigt die Position dieses Burschen. Mit militärischen Mitteln ist ihm nicht beizukommen. Er gewinnt immer mehr Macht und Ansehen.« »Sehr richtig, General. Jetzt verlegt er sich auf Erpressung. Allerdings hat die US-Zivilverwaltung Verhandlungen mit den Geiselnehmern ausgeschlossen. Auch England ist nicht bereit, wegen der Geiseln zu verhandeln.« »Das heißt?« »Dass SFO gefordert ist, General.« »Ist das nicht eine nationale Angelegenheit?«, fragte Matani. »Sache der Engländer? Warum verhandeln sie nicht mit den Kidnappern? »Keine Regierung lässt sich erpressen, General. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Man will aber auch die Geiseln nicht ihrem Schicksal überlassen. Darum wurde im Sicherheitsrat der Einsatz von SFO gefordert.« »Weiß man, wo die Geiseln gefangen gehalten werden?« »Entweder in Falludscha, oder irgendwo in einem Bunker in den Bergen. Aber das ist nur Vermutung.« »Das ist ein Himmelfahrtskommando«, gab Matani zu verstehen.
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»Ja, die Situation ist ernster als je zuvor. Man vermutet, dass es nicht bei der einen Geiselnahme bleibt. Verschiedene nationale Hilfsorganisationen prüfen angesichts der dramatischen Lage ihren Rückzug aus den umkämpften Gebieten.« »Und Bush spricht immer noch von einem Sieg über den internationalen Terrorismus«, knurrte Matani. »Es ist ein Hohn.« »Er ist der mächtigste Mann der Welt«, versetzte von Schrader. »Mag man persönlich von ihm halten, was man will - man sollte es für sich behalten.« Es klang wie eine Zurechtweisung. Matani hatte schon eine scharfe Erwiderung auf der Zunge, schluckte sie aber und sagte lediglich: »Sicher, von Schrader. Ich verstehe.« »SFO hat sechs Tage Zeit, die Geiseln zu befreien«, sagte der Deutsche SFO-Attache. »Eine verdammt kurze Zeit, wenn man bedenkt, dass niemand außer den Entführern weiß, wo die Geiseln festgehalten werden. Es gibt tausend Möglichkeiten.« »Vielen Dank für den Hinweis«, kam es etwas spöttisch von Matani. »Meine Leute werden die tausend Möglichkeiten in Betracht ziehen. In 144 Stunden können sie wahrscheinlich die Welt aus den Angeln heben.« »Sparen Sie sich Ihren Zynismus, Matani«, schnarrte die Stimme von. Schraders. »Er ist angesichts der absolut ernsten Situation unangebracht.« »Ich halte Sie auf dem Laufenden«, versprach Matani, dann beendet er das Gespräch. Er tippte eine Nummer und ging auf Verbindung. Eine dunkle Stimme meldete sich: »Colonel John Davidge, Fort Conroy…« »Matani. Colonel, kommen Sie sofort zu mir. Es gibt Arbeit für Sie und Ihr Team.« »Ich bin in zwei Minuten bei Ihnen, Sir.« *** Fort Conroy, South Carolina, Hauptquartier der Special Force One, Büro des SFO-Oberbefehlshabers Matani,
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Montag, 0742 ETZ »Sechs Tage«, murmelte Colonel John Davidge. Er war Gruppenkommandant der SFO, die aus insgesamt sieben Männern und Frauen bestand. »Eine ausgesprochen kurze Zeit, Sir.« »Ich weiß, Colonel. Niemand weiß, wo die Geiseln festgehalten werden. Das herauszufinden und sie zu befreien, ist Ihre Aufgabe. Es ist sicher nicht einfach. Aber denken Sie daran, dass SFO einen Ruf zu wahren hat. Es gibt auch Gegner dieser Einrichtung, und es wäre Wasser auf deren Mühlen, wenn SFO versagen würde.« »Wann fliegen wir?« »In vier Stunden, würde ich sagen. Besprechen Sie sich mit Ihren Leuten, Colonel. Überlegen Sie sich, wie Sie vorzugehen gedenken. Sie werden mit einer Militärmaschine nach Bagdad geflogen. Sobald Sie abgesetzt werden, sind Sie und Ihre Mannschaft auf sich allein gestellt.« Davidge, der vor dem Schreibtisch des Generals auf einem Stuhl saß, erhob sich und nahm Haltung an. »Wir werden unser Bestes geben, Sir. Ob unserer Mission Erfolg beschieden sein wird, kann ich leider nicht voraussagen. Aber wir werden alles daransetzen…« »Das weiß ich, Colonel. Ich wünsche Ihnen und Ihren Leuten Halsund Beinbruch. Kommen Sie gesund wieder - und kommen Sie vor allem mit einer Erfolgsmeldung zurück. Ich verlasse mich auf Sie.« Matani kam um den Schreibtisch herum und reichte Davidge die Hand. Der Colonel schüttelte sie, dann salutierte er, machte kehrt und verließ das Büro des Generals. *** Fort Conroy, South Carolina Montag, 0750 ETZ »Sie haben die schönsten Augen, in die ich je geblickt habe, Sergeant«, sagte Alfredo Caruso, der italienische Nahkampfspezialist. Er lehnte an der Theke in der Unteroffiziers-Kantine des Forts und aß ein Sandwich. Neben ihm stand eine blondhaarige Sergeantin. Der Verkäufer hinter dem Tresen reichte ihr eine Tüte voll Chips.
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Die Frau lächelte und sagte: »Was wollen Sie damit erreichen?« Ihr Lächeln gerann, ihr Ton wurde um eine Nuance strenger. »Denken Sie, ich falle auf eine derartige plumpe Anmache herein?« Caruso nahm unbeeindruckt einen Schluck von seinem Wasser und spülte damit einen Bissen des Sandwichs hinunter. Er nickte wiederholt. »Ich meine es ernst. Sie haben wirklich die schönsten Augen, die ich je…« »Sparen Sie’s sich, Corporal«, stieß die Sergeantin fast ärgerlich hervor. »Typen wie Sie begegnen mir fast jeden Tag.« Ihre Stimme nahm einen verächtlichen Unterton an. »Süßholzraspler. Darauf kann ich verzichten. Ich bin im Übrigen verlobt.« Die Sergeantin zahlte, nickte Caruso zu, machte kehrt und verließ die Kantine. Caruso machte ein Gesicht, als hätte man ihn mit einer Zitrone gefüttert. Dr. Ina Lantjes lag in ihrer Unterkunft auf dem Bett und las in einem medizinischen Fachbuch. Ihr Gesicht wirkte konzentriert. Als es an ihre Tür klopfte, legte sie das Buch beiseite, erhob sich und ging zur Tür, um sie zu öffnen. Draußen stand Pierre Leblanc, der Kommunikationsoffizier im SFO-Team. »Entschuldige die Störung, Doktor«, sagte Leblanc und hob den Zeigefinger seiner rechten Hand. Er blutete. »Kannst du dich darum kümmern?« »Wie hast du dir den Schnitt zugezogen?« »Ich bin mit Harrer einen Hindernisparcours gelaufen und habe mich an einem Stolperdraht verletzt.« Leblanc grinste entschuldigend. »Hoffentlich habe ich dich nicht gestört.« »Ihr könnt wohl nicht mal in eurer Freizeit Ruhe geben«, stellte die Ärztin fest. »Wer rastet, der rostet.« »Komm herein.« Dr. Lantjes verdrehte die Augen. Der Franzose betrat die Unterkunft der Ärztin. Marisa Sanchez schlief. Sie träumte, dass sie durch den Dschungel schlich. Um sie waren tausend verschiedene Geräusche. Sie war al-
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lein. Die MPi hielt sie an der Hüfte im Anschlag. Sie sicherte unablässig um sich. Irgendwo zwischen den Büschen steckte der Feind. Ihre Sinne arbeiteten mit doppelter Schärfe. Plötzlich legte sich ihr von hinten ein Arm um den Hals. Sie schrie auf, wand sich in dem Griff, spürte die Angst, die wie ein Schwall eiskaltes Wasser kam, und - erwachte. Sie setzte sich auf, das Herz schlug ihr hinauf bis zum Hals. Nur langsam begriff sie, dass es nur ein Traum gewesen war. Sie seufzte. Marisa war die erste Frau gewesen, die der Fuerza Anfibia der Armada Argentina, einer reinen Männerdomäne, beigetreten war. Sie war Spezialistin für Waffensysteme und war unter anderem bei versteckten Operationen in Kolumbien eingesetzt worden. Sie hatte sich - allen Unkenrufen zum Trotz - behauptet und war sogar zur SFO versetzt worden. Mark Harrer stand unter der Dusche. Er war mit Leblanc einen anstrengenden Parcours gelaufen. Als der Franzose sich verletzte, hatten sie abgebrochen. Wohlig spürte der Deutsche das warme Wasser auf seiner Haut. Schweiß und Schmutz wurden abgewaschen. Corporal Miroslav Topak war auf dem Weg in die UnteroffiziersKantine. Er hatte Hunger und wollte sich ein zweites Frühstück genehmigen. Eine junge, blondhaarige Sergeantin begegnete ihm. Sie trug eine Tüte Chips. Er lächelte und grüßte. Sie erwiderte seinen Gruß und stiefelte an ihm vorbei. Ausgesprochen hübsch, dachte Topak und betrat das Casino. Er sah Caruso an der Theke lümmeln. Der Italiener hatte sein Sandwich bereits verzehrt. »Hast du die kleine Blondhaarige gesehen, Miro?«, rief ihm Caruso zu. »Ich glaube, sie ist in mich verliebt.« »Wer nicht?«, fragte der Russe und setzte sich an einen Tisch. »Du bist ein richtiges Gottesgeschenk an die Frauen. Sie lieben dich alle.« Topak grinste hintergründig. Caruso verzog das Gesicht. »Ich glaube, du nimmst mich auf den Arm, Bruder.« »Das würde ich mich nie wagen.«
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Da stürmte ein Soldat in die Kantine. Er trug die Kordel eines Unteroffiziers vom Dienst. Es war ein Corporal. Er rief: »Sergeant Caruso, Corporal Topak, Sie sollen sich sofort zu einem Briefing bei Colonel Davidge einfinden.« »Was gibt’s denn?«, fragte Caruso. »Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass es eilig ist.« »Wir kommen«, sagte Miroslaw Topak und erhob sich… *** Sämtliche Mitglieder des SFO-Teams fanden sich im Besprechungszimmer ein. Zuletzt kam Mark Harrer, der Vertreter Davidges. Er lächelte entschuldigend in die Runde und setzte sich. »Einer kommt immer zu spät«, schimpfte Dr. Lantjes, meinte es aber nicht so ernst, wie es vielleicht den Eindruck hatte. »Tut mit Leid«, erwiderte Harrer. »Ich stand unter der Dusche.« Sie waren vollzählig. Da waren die beiden Ladys des Teams, Dr. Ina Lantjes und Marisa Sanchez. Dr. Lantjes begleitete das Team als Ärztin. Neben ihr hatte Sergeant Alfredo Caruso, der Nahkampf Spezialist, der der italienischen Eliteeinheit ComSubIn angehört hatte, Platz genommen. Außerdem waren noch Pierre Leblanc, der Computerspezialist, und Miroslav Topak, der Motorisierungsexperte, anwesend. Es war eine internationale Besetzung. Jedes Mitglied der Gruppe war für sich ein Spezialist. Einer war im Einsatz auf den anderen angewiesen. Einer für alle, alle für einen. Das war die Devise. Dieser Kodex war ihnen vom ersten Tag an eingeimpft worden. »Okay«, begann Colonel Davidge. »Ein neuer Einsatz steht bevor, Leute. Im Irak haben schiitische Aufständische Geiseln genommen. Zwei Deutsche und einen Engländer. Sie verlangen, dass England seine Truppen aus dem Irak abzieht. In und um Irak sind derzeit etwa 11.000 Briten stationiert. Dazu kommen 15.000 Soldaten aus anderen Nationen. Die größten Kontingente haben Italien, Polen, die Ukraine, Spanien und Holland entsandt. Es besteht die Gefahr, dass weitere Geiseln aus den besagten Ländern genommen werden.«
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»Sollen wir die Geiseln etwa befreien?«, kam sogleich die Frage von Alfredo Caruso. »Warum lenkt die englische Regierung nicht ein?« »Weil die englische Regierung nicht erpressbar ist«, versetzte der Colonel. »Ebensowenig wie die amerikanische, die deutsche, die polnische und so weiter und so fort. Man will dem Terrorismus keinen Hebel bieten. Geht man einmal auf die Forderungen der Geiselnehmer ein, ist kein Ende von Erpressungen ähnlicher Art abzusehen.« »Wir sollen also in den Krieg eingreifen«, stellte Dr. Lantjes fest. »Nicht in den Krieg, Dr. Lantjes«, widersprach Davidge. »Der ist seit einem Jahr vorbei«, fügte er dann mit sarkastischem Unterton hinzu. »Wir sollen Menschen aus der Gewalt der Aufständischen befreien, die mit dem Krieg nichts zu tun hatten, die in friedlicher Mission im Irak unterwegs waren und deren Leben auf dem Spiel steht.« Dr. Lantjes verzog den Mund. »Weiß man denn, wo die Geiseln festgehalten werden?« »Das ist das Problem«, antwortete Davidge. »Man weiß es nicht. Wir haben von heute an gerechnet sechs Tage Zeit, das Versteck der Geiseln herauszufinden und sie zu befreien.« »Das ist kaum zu schaffen«, wandte Caruso ein. »Können nicht amerikanische oder britische Aufklärer…?« Davidge winkte ab. »Nein. Die Geiseln können in einer Stadt gefangen gehalten werden, ebenso gut aber auch irgendwo in der Felswildnis.« »Wir wissen also gar nichts«, mischte sich Mark Harrer ein. »Und das ist nicht viel«, setzte Caruso mit einem schiefen Grinsen hinzu. »Sie haben Recht«, erwiderte der Colonel. »Die Frage ist nun, wie wir vorgehen. Ich schlage vor, dass sich jemand von uns nach Falludscha begibt, also in die Höhle des Löwen. Er muss Informationen sammeln und hat dafür vier Tage Zeit. Spricht jemand von Ihnen arabisch?« »Ich spreche nur deutsch, englisch, französisch und spanisch«, sag-
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te Dr. Lantjes. »Damit komme ich in Falludscha aber nicht durch.« »Englisch kann wohl jeder von uns«, gab Harrer zu verstehen. »Und das muss reichen. Ich bin auch dafür, dass wir zwei oder drei Leute in Falludscha einschleusen.« Pierre Leblanc räusperte sich. »Was halten Sie davon, wenn sich einer von uns als Köder zur Verfügung stellt, Sir? Vielleicht bringen ihn die Aufständischen zum Versteck der Geiseln.« »Oder sie erschießen ihn an Ort und Stelle. Es hat bei dem Überfall auf den Konvoi viele Tote gegeben. Vor allem Amerikaner werden sofort getötet. Nein.« Davidge schüttelte den Kopf. »Das ist viel zu unsicher. Was wir brauchen, ist ein arabisch sprechender Verbündeter, der für uns in Falludscha die Lage sondiert. Und jemand von Ihnen muss zwischen dem Verbündeten und dem Team als Verbindungsmann fungieren.« »Diesen Job übernehme ich freiwillig«, meldete sich Harrer. »Wie werden wir bewaffnet sein?«, fragte Caruso. »Mit der MP7 werden wir unter Umständen nicht allzuviel anfangen können. Sie ist im Nahkampf gut. Möglicherweise aber brauchen wir Scharfschützengewehre. Ich denke an das SR25 mit Schalldämpfer.« »Die MP7 ist gut«, antwortete Davidge. »Sie kann mit einem Laservisier und einem Schalldämpfer versehen werden, sie verfügt über die Feuerkraft einer Maschinenpistole und die Reichweite eines Sturmgewehres. Auf kurze Distanz ist sie wie eine Pistole einsetzbar. Ich denke, die MP7 ist die richtige Bewaffnung für den Einsatz.« »Wann fliegen wir?«, wollte Harrer wissen. Davidge schaute auf seine Uhr. »Gegen Mittag. Wir fliegen mit einer normalen Militärmaschine und werden auf dem Flughafen in Bagdad landen.« »Mir bleibt also noch etwas Zeit, mich von Sergeant Hunt zu verabschieden«, freute sich Caruso. »Ich muss die Zeit nutzen, Colonel. Ist das Briefing beendet? Sind wir entlassen?« »Wer ist Sergeant Hunt?«, fragte Dr. Lantjes und musterte Caruso etwas herablassend von der Seite. »Kelly Hunt«, erwiderte der Italiener. »Gewachsen wie eine eins, und sie geht ab wie ein Düsenjäger, wenn sie richtig in Fahrt ist.«
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»Und ich dachte schon, du hast das Lager gewechselt und bist schwul geworden«, sagte Dr. Lantjes mit einem süffisanten Lächeln um den schön geschwungenen Mund. »Solange es Frauen wie dich gibt, besteht kein Grund zu Sorge«, versetzte Caruso und grinste niederträchtig. *** Unbekannter Ort in der Felswildnis, östlich von Bagdad. Montag, 1700 OZ »Was haben Sie mit uns vor?«, fragte Jim Svenson, der Journalist. Er war, wie auch die beiden Deutschen, auf einem Stuhl festgebunden. Obendrein hatte man ihnen die Hände und Füße gefesselt. Vier Mann bewachten sie. Sie hatten sich vermummt. Von den Gesichtern der vier waren nur die Augen zu sehen. »Wir werden euch töten, wenn in sechs Tagen die Engländer ihre Truppen nicht aus dem Irak abgezogen haben«, erwiderte einer der Wächter in vorzüglichem Englisch. »Ihr drei seid erst der Anfang. Wir werden weitere Ausländer entführen, um sie als Druckmittel gegen die Nationen einzusetzen, die wir aus dem Land werfen möchten.« »Warum hört ihr nicht auf mit diesem Irrsinn? In wenigen Wochen wollen die USA das Land an eine irakische Regierung übergeben. Dann werden nur noch Truppen zur Friedenssicherung hier bleiben und…« »Wir brauchen weder die Amerikaner noch sonst eine Nation dieser Welt!«, stieß der Wächter hervor. »Unser Kampf wird solange fortgeführt, bis der letzte Ausländer den Irak verlassen hat.« »Ihr seid Schiiten, nicht wahr?« »Ja. Wir kämpfen für Moktada el Sadr.« »Er ist ein Außenseiter«, sagte der Engländer. »Im religiösen schiitischen Etablissement von Nadschaf hat er nichts zu melden. Ihm fehlt die theologische Reputation, um im Kreis der Ayatollahs mitzumischen. Deshalb wählt er den Weg an die Spitze, indem er den Aufstand praktiziert. Er…«
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Mit zwei Schritten war der Wächter bei Svenson, und ehe dieser sich versah, schlug er ihm den Handrücken auf den Mund. »Sei still, Engländer!«, zischte der Vermummte. »Niemand darf el Sadr beleidigen. Schon gar nicht ein verdammter Ausländerhund. Also hüte deine Zunge.« Blut sickerte aus der aufgeplatzten Unterlippe Jim Svensons. Es rann über sein Kinn und tropfte auf seine Brust. Der Schmerz von dem Schlag trieb ihm das Wasser in die Augen. »Ich - ich wollte el Sadr nicht beleidigen«, murmelte er. »El Sadr verfügt über Macht und Einfluss«, sagte der Wächter. »Sogar Großayatollah al-Sistani hört auf ihn. Al-Sistani ist unser weithin anerkannter geistiger Führer. Für kurze Zeit stellte er die einzige Hoffnung für die USA dar, der Mann zu sein, der die Kampfhandlungen beenden könne. Das ist vorbei. El Sadr hat Kraft und Stärke bewiesen und al-Sistani ist sich klar darüber geworden, dass fremde Nationen in unserem Land nichts zu suchen haben.« Ein Mann betrat den Raum. Er flüsterte dem Wächter, der mit Svenson gesprochen hatte, etwas ins Ohr. Daraufhin verließen alle den Raum. Die Gefangenen waren allein. Die Tür wurde abgesperrt. Es schepperte metallisch, als zusätzlich ein Riegel in die Halterung gestoßen wurde. »Was denken Sie, Svenson?«, fragte Max Steiner. Seine Stimme klang belegt. Sein Hals war wie zugeschnürt. Er verstand Englisch und hatte den Dialog zwischen Svenson und dem Schiiten mitverfolgt. »Werden uns diese Fanatiker töten, wenn Ihre Regierung nicht klein beigibt.« »Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche«, antwortete Svenson. Max Steiner schluckte würgend. *** Unbekannter Ort in der Felswildnis, östlich von Bagdad, Montag, 2005 OZ Die Tür des Verlieses wurde geöffnet. Steiner, Weiser und Svenson
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schauten erwartungsvoll. Einige Männer drängten herein. Sie hatten Maschinenpistolen umgehängt und waren vermummt. Bei ihnen waren vier Asiaten. Wahrscheinlich Chinesen. Sie waren gefesselt. Die Vermummten bugsierten die Asiaten durch den kahlen Raum, in dem es nur Stühle und einen Tisch gab. Auch die Asiaten wurden auf Stühle gedrückt und festgebunden. Einer sagte etwas in seiner Sprache und erntete dafür einen brutalen Schlag auf den Mund. Der Mann schrie auf. Einer der Vermummten trug eine Videokamera. Er baute sich vor Jim Svenson auf und sagte: »Du wirst jetzt zu deiner Regierung sprechen. Sag den Verantwortlichen, dass du und die beiden Deutschen in sechs Tagen tot sein werdet, wenn Blair nicht auf unsere Forderungen eingeht. Appelliere überzeugend an deine Regierung. Sonst bist du tot.« Svenson erschauerte. Der Gedanke, in sechs Tagen getötet zu werden, trieb ihm eine Gänsehaut den Rücken hinunter. Sein Puls jagte das Blut durch die Adern. Sein Hals war trocken wie Wüstensand. »Was soll ich sagen?«, fragte Svenson und seine Stimme kam ihm selbst fremd vor. »Dass Blair seine Truppen abziehen soll, und zwar bis zum kommenden Samstag. Tut er es nicht, schneiden wir dir und den beiden Deutschen die Köpfe ab und schicken Sie deinem Premierminister.« Der Sprecher richtete die Kamera auf Svenson. »Mach schon!« »Bitte«, entrang es sich Svenson, »ich bitte Sie im Namen der Menschlichkeit…« »Du sollst zu deiner Regierung sprechen!« Svenson holte tief Luft. Die Stimme drohte ihm zu versagen, als er hervorstieß: »Mein Name ist Jim Svenson. Ich bin britischer Staatsangehöriger und als Journalist bei der London Times beschäftigt. Die beiden Deutschen Max Steiner und Johann Weiser sowie ich sind seit gestern Gefangene einer schiitischen Kampfgruppe. Sie unterstehen dem Oberbefehl von Moktada el Sadr. Wenn die britische Regierung ihre Soldaten innerhalb der nächsten sechs Tage nicht abzieht, wird man uns töten. Ich appelliere daher an Sie, Mr. Blair, die Forderung unserer Entführer zu erfüllen. Andernfalls sterben wir.«
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Das Summen der Kamera endete. »Sehr gut«, sagte der Vermummte, dann wandte er sich ab. Über die Schulter sagte er: »El Dschasira wird das Video ausstrahlen. Die Gruppe ›Mudschahedin Brigaden‹ wird noch einmal ihre Forderung formulieren. Und dann werden wir sehen, wieviel ihr der britischen Regierung wert seid.« Die schiitischen Kämpfer verließen den Raum. Die Stahltür fiel wieder ins Schloss. Es gab ein Geräusch, das etwas Unerbittliches, Endgültiges beinhaltete. Svenson zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb. »Was denken Sie?«, fragte Max Steiner. »Haben wir eine Chance?« »Nein«, erwiderte Svenson. »Die englische Regierung lässt sich nicht erpressen. Selbst dann nicht, wenn Blair persönlich Gefangener der Aufständischen wäre. Entweder es gelingt uns, zu fliehen, oder wir sind in sechs Tagen tot.« Ein Ton entrang sich Johann Weiser, der sich anhörte wie ein trockenes Schluchzen. Svenson wandte sich an die Asiaten. Die Gesichter der vier waren bleich. Jeder Zug verriet die Angst, unter der sie standen. In den breitflächigen Gesichtern zuckten die Nerven. »Was seid ihr für Landsleute?«, fragte Svenson. »Chinesen?« »Nein«, erwiderte einer von ihnen. Sein Haar war schon angegraut. »Wir sind Südkoreaner. Im Irak sind 700 südkoreanische Soldaten stationiert. Man hat uns entführt, um unsere Regierung zu veranlassen, ihre Soldaten abzuziehen.« »Aus diesem Grund sind wir auch hier«, sagte Steiner. Er deutete mit dem Kinn auf Johann Weiser. »Wir sind Deutsche. Obwohl im Irak keine deutschen Soldaten stationiert sind, hat man uns entführt, um die britische Regierung zu erpressen.« »Wir sollten uns keine Hoffnungen machen«, murmelte Johann Weiser. »Die Chance, dass sich irgendeine Regierung auf der Welt von diesen ›Mudschahedin-Brigaden‹ erpressen lässt, ist gleich Null. Wir sind auf uns allein gestellt. Von außen können wir kaum Hilfe erwarten. Außerdem befinden wir uns an einem geheimen Ort, wo uns niemand finden wird.« Die Aussichtslosigkeit ihrer Situation war jedem von ihnen be-
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wusst. Und obwohl sie sich zu siebt in dem Verlies befanden, spürte jeder für sich Einsamkeit und Verlorenheit. Max Steiner zerrte an seinen Fesseln. Es waren dünne Kunststoffschnüre, die sich tief in die Haut einschnitten. Die Durchblutung der Hände war nicht mehr gewährleistet. Die Finger wurden taub. Die Fesseln hielten. Im Raum war es ruhig. Nur der keuchende Atem Steiners war zu hören, der nicht aufgab. Die Schnüre scheuerten seine Handgelenke wund. Jim Svenson sagte: »Die einzige Chance haben wir, wenn sie uns das Essen bringen und unsere Fesseln lösen. Füttern werden sie uns ja hoffentlich nicht. Sobald wir unsere Fesseln los sind, müssen wir den Ausbruch riskieren.« »Wir schaffen es nicht!«, stöhnte Max Steiner. »Alles, was wir erreichen werden, wird sein, dass sie uns ein paar Tage früher umbringen.« »Lieber tot, als diese verdammte Ungewissheit«, stieß Svenson hervor. Er gab sich Mühe, seine Angst zu überspielen und versuchte, Courage zu zeigen. Es gelang ihm einigermaßen. Ganz jedoch konnte er nicht verbergen, dass auch ihn die Angst im Klammergriff hielt. »Ich - ich habe zu Hause in Deutschland eine Frau und zwei Kinder«, sagte Johann Weiser mit brüchiger Stimme. »Ich werde sie wohl niemals wieder sehen. O mein Gott, warum hat es ausgerechnet mich erwischt. Ich bin im Irak, um zu helfen. Die Deutschen haben keinen einzigen Soldaten hierher geschickt. Warum?« »Wo kommen Sie her?«, fragte Svenson. »Aus Karlsruhe.« »Und Sie, Steiner?« »München.« »Aaah, Sie sind Bayer.« Svenson brachte ein verzerrte Grinsen zustande. Dann sang er mit holprigem Deutsch: »In München steht ein Hofbräuhaus, eins, zwei, gsuffa…« »Ihren Humor möchte ich haben«, knurrte Max Steiner. »Wir dürfen uns nur nicht selbst aufgeben«, meinte Svenson. »Und solange ein Funke Leben in uns steckt, haben wir eine Chance.« Diese Zuversicht vermochte niemand mit ihm zu teilen.
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*** Fort Conroy, South Carolina, Montag, 1132 ETZ »Geben Sie auf sich Acht.« Mit diesen Worten verabschiedete General Matani seine SFO-Crew. Er schüttelte Colonel Davidge die Hand. Obwohl er sich schon in seinem Büro von dem Colonel verabschiedet hatte, ließ es sich der General nicht nehmen, jedes einzelne Mitglied des Spezialtrupps zu verabschieden und ihm Erfolg zu wünschen. Das schuf ein gutes Verhältnis zwischen der Crew und ihrem Vorgesetzten und motivierte. Jedem einzelnen gab der General die Hand und sprach ein paar aufmunterte Worte. »Wir werden das schon auf die Reihe kriegen, Sir«, sagte Alfredo Caruso, und es klang beinahe gut gelaunt. »Unkraut vergeht nicht. Darum werden wir als siegreiche Helden nach Hause zurückkehren.« »Nach Hause?«, fragte der General lächelnd. »Sehen Sie das Fort zwischenzeitlich als Ihr Zuhause an, Sergeant?« »Man muss aus jeder Situation das Beste machen, Sir. Natürlich kann Amerika ›Bella Italia‹ nicht das Wasser reichen. Aber man kann sich dran gewöhnen.« »Es freut mich, wenn Sie so denken, Sergeant.« Der General wandte sich von Caruso ab und bot Dr. Lantjes die Hand dar. Die schöne Frau schüttelte sie. »Das mit dem Unkraut hat Caruso natürlich nur auf sich bezogen, Sir«, sagte die Ärztin. »Wir anderen verlassen uns lieber auf unsere Erfahrung und unsere Kampfkraft.« »Ich glaube, sie mag mich«, sagte Caruso grinsend zu Mark Harrer. Der Hubschrauber stand bereit. Die Rotoren drehten sich und ließen die Haare fliegen. Als erster stieg Pierre Leblanc ein. Mark Harrer rannte geduckt zu der riesigen Libelle und folgte Leblanc. Dann kamen Caruso, Dr. Lantjes, Marisa Sanchez; Miro Topak und last but not least Colonel Davidge. Der Helikopter hob ab. Der Lärm, den er veranstaltete, verschluckte alle anderen Geräusche.
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General Matani hatte erreicht, dass sich in Bagdad zur SFO ein Iraki namens Abdul Hamadi gesellen würde. Hamadi arbeitete für die CIA und sollte vorübergehend dem Kommando Colonel Davidges unterstellt werden. Die Mitglieder der Mannschaft schwiegen. Sie sprachen auch nicht miteinander, als sie später in einer Militärmaschine saßen und Richtung Bagdad flogen. Sie wussten, dass der Zeitunterschied, gemessen an der Greenwich Mean Time, neun Stunden betrug. In Bagdad war es also schon Abend. Colonel Davidge und Mark Harrer, sein Stellvertreter, saßen nebeneinander in einer der Sitzreihen. Gleichmäßig brummten die Motoren der Maschine. Wenn Harrer aus dem Fenster blickte, sah er weit unter sich eine dichte Wolkendecke, die die Sicht auf den Atlantik verhinderte. »Ich habe schon einen Plan«, gab Davidge zu verstehen. »Und zwar schicken wir Abdul Hamadi und einen von uns nach Falludscha. Das ist die Hochburg des Widerstandes. Abdul Hamadi muss sich als Angehöriger der ›Mudschahedin Brigaden‹ ausgeben. So kommt er vielleicht an Informationen heran, die für uns wertvoll sind.« »Das ist ein Spiel mit dem Feuer«, wandte Harrer ein. »Wenn sie Hamadi auf die Schliche kommen, ist sein Leben keinen Pfifferling wert.« »Das müssen wir riskieren. Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht, herauszufinden, wo die Geiseln gefangen gehalten werden. Abduhl Hamadi muss mit unserem Mann - oder unserer Frau - in Falludscha in Verbindung bleiben. Unser Verbindungsmann - respektive unsere Verbindungsfrau -bleibt mit uns in Kontakt. Sobald wir wissen, wo die Geiseln festgehalten werden, ziehen wir Hamadi und den Verbindungsmann aus Falludscha ab und schlagen gemeinsam zu.« »Wir können uns nicht den geringsten Fehler leisten, Colonel«, sagte Harrer. »Vor allen Dingen ist es notwendig, den Rückzug zu organisieren. Wenn wir die Geiseln befreit haben, sind wir nämlich noch lange nicht aus dem Schneider. Dann kommt wahrscheinlich erst der gefährliche Teil der Aufgabe, nämlich die Geiseln in Sicherheit zu bringen.«
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»Wir müssen drauf bestehen, dass eine Einheit amerikanischer oder britischer Soldaten unseren Rückzug sichert«, erwiderte der Colonel. »Ohne diese Rückendeckung sind wir wahrscheinlich nicht in der Lage, uns und die Geiseln auf Nummer Sicher zu bringen. Wir werden also mit den führenden Militärs in Bagdad Verbindung aufnehmen.« »Ich frage mich, wieso man mit dieser Mission nicht einfach einen Trupp Marines beauftragt hat«, sagte Harrer gedankenverloren. »Diese Frage zu stellen, steht uns nicht zu, Lieutenant. Befehl und Gehorsam. So hat man es uns gelehrt, so halten wir es.« Davidge lächelte hintergründig. »Vielleicht traut man uns mehr zu als einem Trupp Marines. Vielleicht will man auch mal wieder die Berechtigung unserer Existenz prüfen. Wer weiß das schon, Lieutenant.« »Ich bin nicht besonders glücklich, mit diesem Abdul Hamadi zusammenarbeiten zu müssen«, wechselte Harrer das Thema. »Wenn er mit falschen Karten spielt, ist derjenige, der mit ihm nach Falludscha geht, aufgeschmissen.« »Warum sollte er mit falschen Karten spielen?« »Er ist Iraker. Sogar die gemäßigten Ayatollahs schwenken schon in ihrer Gesinnung um und intrigieren gegen die Besatzung. Ich habe gelesen, dass der Aufruf al-Sistanis, die Gewalt im Irak zu beenden, in ziemlich zweideutige Worte gefasst war. Al-Sistani wollte sich damit eine Hintertür offenhalten, falls er sich dem Druck, den el Sadr ausübt, beugen muss. Diese Burschen gehen kein Risiko ein. Sie stellen ihre Fahne immer in den Wind des Stärkeren. Und dieser scheint im Moment el Sadr zu sein.« Harrer wiegte bedenklich den Kopf. Davidge musterte ihn von der Seite. »Sie scheinen gut informiert zu sein, Lieutenant.« »Nun, die Medien bringen es laufend. Und man macht sich eben seine Gedanken. Wir legen das Leben unseres Verbindungsmanns in die Hände eines Irakers. Was ist, wenn auch er in seiner Gesinnung umgeschwenkt und als Doppelagent tätig ist?« »Verdammt, Harrer, Sie verunsichern mich.« »Das ist nicht meine Absicht gewesen, Sir. Aber wir dürfen nichts
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außer Acht lassen.« »Nun, wir werden wohl keine andere Chance haben, als uns auf Abdul Hamadi zu verlassen. Wen, schlagen Sie vor, sollen wir als Verbindungsmann mit Hamadi nach Falludscha schicken?« »Ich stelle mich freiwillig zur Verfügung«, erklärte Harrer mit Bestimmtheit im Tonfall. »Sie?« »Warum nicht? Einer ist so gut wie der andere. Und ich würde den Respekt vor mir selbst verlieren, wenn ich einen der Kameraden in die Höhle des Löwen schicken müsste.« Der Colonel schaute nicht gerade begeistert drein. Schließlich aber stimmte er zu. »Sie werden sich mit Landestracht kleiden müssen, Lieutenant. Außerdem bleiben wir in Verbindung.« *** Unbekannter Ort in der Felswildnis, östlich von Bagdad. Dienstag, 0612 OZ Die Tür des Verlieses öffnete sich. Ein Mann betrat den Raum. Er trug ein Tablett, auf dem einige Tassen standen und einige Fladenbrote lagen. Drei Bewaffnete folgten ihm. Sie hielten ihre MPis in den Fäusten. Zwei der Kerle machten sich daran, die Fesseln der Geiseln zu öffnen. Jeder durfte sich eine Tasse Kaffee und ein Fladenbrot nehmen. »Versucht nur nichts«, warnte einer der Bewaffneten, hob die MPi etwas an und ließ die Mündung der Waffe über die Gefangenen pendeln. Die Gefangenen aßen und tranken. Die Wächter passten auf und ließen sie nicht aus den Augen. Die Waffen waren auf sie angeschlagen. Jim Svenson beobachtete die vier Kerle unter halb gesenkten Lidern hervor. Er suchte nach einer Chance, ihre Wächter zu überrumpeln. In seinen Augen war ein lauerndes Glitzern. »Wo befinden wir uns überhaupt?«, fragte er kauend. »Warum interessiert dich das?«, wollte einer ihrer Bewacher wis-
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sen. »Ich will es eben wissen.« »Du hoffst, dass man euch befreit, ehe das Ultimatum abgelaufen ist, nicht wahr?« »Du sprichst gut englisch«, anerkannte Svenson, ohne auf die Frage einzugehen. »Wo hast du das gelernt? Warst du schon mal in England?« »Ich habe drei Jahre in London studiert. Aber dann begriff ich, dass mich mein Land notwendig braucht. Ich hasse England. Eure Regierung hat zusammen mit den Amerikanern unser Land ins Chaos gestürzt.« »Wollt ihr etwa wieder einen Sadam Hussein?« »Schweig!« »Hat die britische Regierung schon auf eure Forderung geantwortet?« »Nein. Und wenn sie bis zum Samstag nicht antwortet, wirst du der erste sein, dem wir den Kopf abschlagen. Also bete zu deinem Gott, dass Blair einlenkt.« Eine unsichtbare Hand schien Svenson zu würgen. Sein Kehlkopf rutschte hinauf und hinunter, als er mühsam schluckte. Der Bissen, an dem er kaute, blieb ihm regelrecht im Hals stecken. Sein Herz schlug schneller. »Es ist sinnlos«, murmelte Max Steiner. »Die Briten werden nicht auf eure Forderung eingehen. Großer Gott, warum wurden Weiser und ich entführt? Wir sind Deutsche.« »Vielleicht übt die deutsche Regierung Druck auf die Briten aus«, erwiderte der Sprecher der Vermummten. Steiner schwieg. Svenson erhob sich, stellte die Kaffeetasse auf den Tisch und machte ein paar Schritte. Sofort richteten sich drei Waffen auf ihn. Er hob die rechte Hand und zeigte die Handfläche. »Ich will mir nur ein wenig die Beine vertreten«, erklärte er. »Dagegen gibt es doch sicher nichts einzuwenden.« Der Mann, der einige Jahre in England verbracht hatte, sagte etwas auf Arabisch.
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Ein anderer antwortete. Der Tonfall seiner Stimme verhieß nichts Gutes. Schließlich sagte der Sprecher der Geiselnehmer: »Setzt dich wieder.« Einen Moment lang vermittelte Jim Svenson den Eindruck, sich auf den Burschen stürzen zu wollen. Doch dann sanken seine Schultern nach unten, er ging zu seinem Stuhl und ließ sich nieder. Er wurde gefesselt. Nacheinander wurden auch Steiner, Weiser und die vier Südkoreaner wieder gefesselt. Ihre Bewacher verließen das Verlies. Svenson stieß hervor: »Verdammt, uns rennt die Zeit davon. Heute ist schon Dienstag. Den heutigen Tag mit eingerechnet haben wir noch fünf Tage Zeit, zu fliehen.« »Wir schaffen es nicht«, murmelte Johann Weiser. »Wir müssen es riskieren, ehe sie uns wie Hammel zur Schlachtbank führen«, presste Max Steiner hervor. Er schaute nacheinander die vier Südkoreaner an. »Macht ihr mit?« »Es ist unsere einzige Chance«, sagte einer der Asiaten. »Ja, wir sind dabei.« »Gut. Wir müssen versuchen, die Kerle abzulenken. Und dann muss alles blitzschnell gehen. Wer kann mit ihren Waffen umgehen?« Keiner meldete sich. Lediglich Svenson sagte: »Wir werden es wohl schaffen, den Abzug durchzuziehen. Das kann ja nicht so schwer sein.« »Ich war bei der Bundeswehr«, erklärte Steiner. »Aber dort haben wir nur den Umgang mit der P1, dem G3 und der Uzi gelernt. Aber sicher werden wir in der Lage sein, mit den russischen MPis ein paar Schüsse abzugeben.« »Wir sind verloren«, stöhnte Johann Weiser. »Sie werden uns…« »Mann«, knurrte Steiner wütend und unterbrach seinen Kollegen. »Kannst du nicht etwas positiver denken? Du ziehst uns alle mit hinunter mit deiner Schwarzseherei.« »Ich denke real«, versetzte Weiser. »Du rechnest dir doch selbst keine Chancen aus. Wir sind nicht Rambo.« Svenson und Steiner wechselten einen schnellen Blick. Schließlich
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sagte Svenson: »Überlassen Sie es mir und Steiner.« »Auszubaden werden wir es alle haben«, prophezeite Weiser. »Es es ist zum Verzweifeln.« *** Die Maschine war auf dem Flughafen von Bagdad gelandet. Ein Amerikaner im Kampfanzug und ein Mann in Zivil erwarteten mit einem Jeep und einem 7,5 -Tonner, über dessen Ladefläche eine Plane gespannt war, das Team. Der Soldat stellte sich als Major Roger McGregor vor. Bei dem Burschen in Zivilkleidung handelte es sich um Abdul Hamadi. »Sie sind eingeweiht in unsere Mission?«, fragte Colonel Davidge, nachdem sie sich begrüßt und gegenseitig vorgestellt hatten. Der Major nickte. »Nur ich, Colonel Sherman und der Chef Verwalter John Wesley. Ihre Mission ist absolut top secret, Colonel.« Sie stiegen in den Jeep, den ein Soldat lenkte. Davidge und Harrer warfen ihre Seesäcke auf die Ladefläche des Fahrzeugs. Die anderen fünf Mitglieder des Teams stiegen mit ihrem Gepäck auf die Ladefläche des Lastwagens und setzten sich auf die Holzbank, die am Boden verschraubt war. Abdul Hamadi gesellte sich zu ihnen. »Wie war der Flug?«, fragte er in vorzüglichem Englisch. »Danke der Nachfrage«, erwiderte Caruso. »Wir können nicht klagen.« »Das freut mich.« Der Motor des Lasters sprang an, dann rollte das Fahrzeug an. »Wohin werden wir gebracht?« »Ins Hotel Palestine«, erklärte der Araber in Diensten der CIA. »Es ist zwar ein wenig ramponiert von den vielen Anschlägen, aber Sie werden dort einigermaßen sicher wohnen können.« Der Jeep fuhr voraus. Davidge und Harrer ließen ihre Blicke schweifen. Vom Flughafen aus hatte man einen guten Blick auf die Skyline von Bagdad. Und selbst auf diese Entfernung konnte man schon einige Ruinen am Stadtrand ausmachen.
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»Bagdad ist zu einem großen Teil zerstört«, erklärte Major McGregor. »Es mangelt an vielen Dingen. Die Iraker, Sunniten und Schiiten wollen einerseits einen schnellen Abzug der ausländischen Truppen, andererseits erwartet eine große Zahl von ihnen aber zuerst den Aufbau und die Wiederherstellung der Ordnung.« »Von Ordnung kann man wohl nicht sprechen«, antwortete Colonel Davidge. Ich würde eher sagen, es geht drunter und drüber hier. Und die jüngsten US-Offensiven machen meiner Meinung nach alles nur noch schlimmer.« »Wir wissen nicht, wie wir dem Chaos Einhalt gebieten können. In Falludscha finden Straßenkämpfe statt. Überall in den Straßen liegen Leichen. Niemand hat Zeit, die Toten zu bergen. Die Zivilisten sind samt und sonders geflohen. Es ist ein Horrorszenarium.« Der Jeep holperte durch die Schlaglöcher. Die Straße war eine einzige Katastrophe. Harrer dachte an seine Kameraden auf dem Lastwagen, die sicher durch und durch geschüttelt wurden. Er sagte: »Was ist Hamadi für ein Mann?« »Er ist Iraker.« »Das meine ich nicht. Kann man ihm vertrauen?« Der Major schaute Mark Harrer verblüfft an. »Wieso nicht? Er ist CIA-Agent.« »Vielleicht sympatisiert er mit den Aufständischen. Ich will wissen, ob wir es uns leisten können, das Leben der Mitglieder unseres Teams in seine Hände zu legen.« »In ihn hineinschauen kann ich natürlich auch nicht«, sagte Major McGregor. »Aber ich gehe davon aus, dass Hamadi loyal zu uns steht. Nein, ich gehe nicht nur davon aus, ich bin überzeugt davon. Hamadi ist sauber.« »Ihr Wort in Gottes Ohr, Major«, sagte Colonel Davidge. Von nun an schwiegen sie. Der Jeep holperte durch die Vorstadt Bagdads. Überall säumten Ruinen die Straße. Armeeposten in Kampfanzügen patrouillierten. Bei Straßenkreuzungen waren Panzer und Mannschaftstransportwagen mit aufmontierten MGs postiert. Auch bärtige Männer in der typischen Kleidung der Einheimischen trugen Gewehre mit sich.
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Bis sie in die Innenstadt von Bagdad gelangten, wurden sie etliche Male kontrolliert. Die ganze Stadt mutete an wie ein Trümmerfeld. Hotels, Restaurants, Moscheen - alles zerstört. Ruinen, wohin man schaute. Ein Bild, das mit erschreckender Schärfe in die Augen sprang. Irgendwo in der Stadt donnerten Schüsse. Die Detonationen trieben heran wie ein Gruß aus der Hölle. Das Team von SFO checkte im Hotel Palestine ein. Anschließend trafen sich die Mitglieder in der Hotelhalle. Major McGregor und Abdul Hamadi waren anwesend. Als sie sich sicher waren, nicht belauscht zu werden, fragte der Major: »Wie haben Sie sich Ihr Vorgehen vorgestellt?« Colonel Davidge antwortete: »Zunächst mal müssen wir herausfinden, wo die Geiseln festgehalten werden. Zu diesem Zweck werden sich Abdul Hamadi und mein Vertreter, Lieutenant Harrer, nach Falludscha begeben. Hamadi soll versuchen, an die Entführer heranzukommen, Harrer fungiert als Verbindungsmann zwischen ihm und uns.« »Gut«, meinte der Major. »Sie wissen, dass sie von jetzt an gerechnet nur noch fünf Tage Zeit haben, die Geiseln herauszuholen.« »Das ist uns bekannt«, gab Harrer zu verstehen. »Wenn wir erst mal wissen, wo sie sich befinden, dürfte der Rest ein Kinderspiel sein. Vorausgesetzt, eine Einheit Marines deckt unseren Rückzug. Auf uns allein gestellt werden wir ein Problem haben.« »Das müsste das Oberkommando entscheiden«, erklärte der Major. »Da Ihre Aktion jedoch unter dem Siegel der absoluten Geheimhaltung läuft, werden wir ein Problem haben. Den Geheimhaltungsstatus aufzugeben, ist nicht ratsam. Es könnte durchsickern, dass eine Spezialeinheit im Land weilt, deren Aufgabe es ist, die Geiseln zu befreien. Dann wäre Ihrer aller Leben keinen rostigen Cent mehr wert.« Harrer kniff die Lippen zusammen, so dass sie nur einen dünnen, messerrückenscharfen Strich bildeten. Sekundenlang herrschte Schweigen. Dann stieß Pierre Leblanc zwischen den Zähnen hervor: »Das heißt im Klartext, dass wir keine Unterstützung von Seiten des Militärs erhalten werden.«
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»Sie agieren inoffiziell. Die britische Regierung weiß von Ihrem Einsatz nichts. Zwischenzeitlich wurden auch vier Südkoreaner entführt. Auch die südkoreanische Regierung wurde über ihre Aktion nicht informiert. Es wird befürchtet, dass ihr Einsatz auf Widerstand stößt. Offiziell weiß man auch im Weißen Haus nichts von Ihrer Mission. Sie existieren sozusagen nicht für uns.« »Das sind ja völlig neue Aspekte« , knurrte Harrer unzufrieden. »Wir können also im Falle des Falles nicht mit Unterstützung rechnen.« »So sieht es aus«, erwiderte der Major. »Im übrigen begibt sich übermorgen wieder ein Konvoi auf den Weg nach Falludscha. Mit ihm können Hamadi und Ihr Verbindungsmann fahren. Sie ahnten zu diesem Zeit noch nicht, dass alles anders kommen sollte, als sie es jetzt besprochen hatten. Ganz anders! *** Unbekannter Ort in der Felswildnis, östlich von Bagdad. Dienstag, 1216 OZ Wieder wurde die Tür des Verlieses geöffnet. Es gab Mittagessen. Hirsebrei und Fladenbrot. Die Fesseln der Gefangenen wurden gelöst. Die drei Bewaffneten passten auf wie Schießhunde. Der Bursche, der das Tablett in den Händen hielt, trug ein Holster mit einer Pistole am Koppel. Als Jim Svenson seinen Teller mit dem Brei und das Brot in Empfang nahm, handelte er. Er ließ den Teller und das Brot fallen, schlug dem Iraki das Tablett aus der Hand und wirbelte ihn herum. Sein linker Arm legte sich von hinten um den Hals des Vermummten, mit der Rechten zog er ihm die Pistole aus dem Holster. Svenson legte mit dem Daumen den Sicherungshebel um. »Fallen lassen!«, stieß er scharf hervor und schwenkte die Mündung der Waffe über die drei Iraker, die ihre MPi’s in den Händen hielten.
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Einer der Vermummten zuckte herum. Ein Feuerstoß aus seiner MPi warf einen der Südkoreaner samt Stuhl um. Im Raum hörten sich die Detonationen an wie Kanonendonner. Der Bunker schien in seinen Fundamenten erschüttert zu werden. Jim Svenson feuerte auf den Iraki, der geschossen hatte. Dem Mann riss es die Beine unter dem Leib weg. Schwer krachte er auf den Boden. Seine MPi schlitterte ein Stück über den Boden. Max Steiner vollführte einen weiten Satz und wollte sich nach der MPi bücken. Da feuerte einer der anderen Vermummten. Steiner wurde von der Kugelgarbe umgerissen. Der Bursche, den Jim Svenson im Klammergriff hielt, rammte den Ellenbogen nach hinten. Er traf Svenson in den Magen. Ein gequälter Ton entrang sich dem Engländer, als ihm die Luft aus den Lungen gepresst wurde. Sein Griff lockerte sich, der Iraki riss sich los und sprang zur Seite. Die MPi dröhnte. Svenson bäumte sich auf, dann stürzte er schwer. Die Pistole fiel auf den Betonboden. Ein letztes unkontrolliertes Zucken durchlief Svensons Körper, dann erschlaffte er. Johann Weiser riss die Arme in die Höhe. »Nicht schießen!«, brüllte er überschnappend. Er war nicht mehr Herr seiner Empfindungen. Die Panik riss ihn mit. Auch die drei Südkoreaner hoben die Hände. Das Grauen ließ ihre Augen flackern. Angst wäre in ihrem Zustand wohl ein zu mildes Wort gewesen, um auszudrücken, was sie empfanden. Der letzte Tropfen Blut schien aus ihren Gesichtern gewichen zu sein. Einer stammelte etwas in seiner Heimatsprache. Einer der Vermummten brüllte etwas. Die Situation war brenzlig. Die Atmosphäre war gefährlich und kaum noch zu ertragen. Einige Bewaffnete stürzten in den Bunker. Stimmen schwirrten durcheinander. Einer derjenigen, die das Essen gebracht hatten, gestikulierte heftig. Immer wieder deutete er auf die reglose Gestalt Svensons. Einer ging zu Svenson hin, hob die Pistole auf und drehte den Engländer auf den Rücken. »Tot«, stieß er hervor. »Das verdammte Schwein ist tot. Bei Allah, wir werden ihn seiner Regierung präsen-
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tieren. Sie sollen sehen, dass wir nicht spaßen.« Er versetzte dem Leichnam einen Tritt. Johann Weiser und die drei Südkoreaner wurden wieder gefesselt. Max Steiner, der tote Iraki und Jim Svenson wurden aus dem Raum gebracht. Einer der Wachposten sagte zu Weiser: »Euch blüht das selbe Schicksal. Auch ihr werdet bald so tot sein wie die.« Weiser zog sich der Magen zusammen. So hautnah war er noch nie mit der brutalen Gewalt des Todes konfrontiert worden. In seinen Eingeweiden rumorte die Übelkeit. Sein Atem ging schneller. *** Büro des englischen Premierministers, London, Dienstag, 1425 MEZ Der Berater des Premierministers sagte: »Der katarische Sender el Dschasira hat ein Video ausgestrahlt, Sir, das den Leichnam Jim Svensons zeigt. Svenson ist der Journalist von der London Times, den die Gruppe ›Mudschahedin-Brigaden‹ vor zwei Tagen entführt hat.« »Diese Verbrecher machen also ernst«, sagte der Premier. »Mein Gott, was tun wir nur? Wir können doch nicht zusehen, wie sie eine Geisel nach der anderen abschlachten. Überhaupt wäre das Ultimatum erst am Samstag abgelaufen. Wieso haben die Aufständischen Svenson schon fünf Tage vor Ablauf des Ultimatums erschossen?« »Niemand weiß, was der Grund war, Sir. Der Kommentar eines Sprechers der ›Mahdi-Armee‹ von el Sadr war, dass die Welt sehen sollte, dass die Kidnapper nicht spaßen.« Der Berater machte eine kurze Pause, dann fuhr er fort: »Natürlich ist es tragisch, dass Svenson ums Leben gekommen ist. Aber die englische Regierung kann und darf nicht nachgeben, Sir. Wenn wir uns erpressen lassen, wären wir nicht mehr glaubwürdig. Die Interessen einzelner müssen in diesem Fall zurückstehen. Zwischenzeitlich wurden auch vier Südkoreaner entführt. Die südkoreanische Regierung ist zu Verhandlungen nicht bereit.« Der Premierminister griff sich an den Kopf. »Kann man denn nichts
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tun?« »Nun, Sir, aus Geheimdienstkreisen wurde bekannt, dass die UN eine speziell ausgebildete Kampfgruppe nach Bagdad geschickt haben. Die SFO wurde mit der UN-Resolution 58.732/879-SEC ins Leben gerufen. Es soll eine Gruppe sein, die aus fünf Männern und zwei Frauen besteht. Näheres weiß ich auch nicht. Die Gruppe operiert auf sich allein gestellt. Sie soll in der Vergangenheit schon beachtliche Erfolge erzielt haben.« »Was will diese SFO ausrichten, wenn nicht bekannt ist, wo die Geiseln gefangen gehalten werden?«, gab der Premierminister zu bedenken. »Wie die Gruppe vorgeht, weiß ich auch nicht. Ich weiß nur, dass sie nach Bagdad geschickt wurde, um die Geiseln herauszuholen.« »Werden wir auf dem Laufenden gehalten?« »Wir werden erfahren, ob die Geiselbefreiung geklappt hat oder nicht, Sir.« »Stellen Sie eine Verbindung mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten her. Ich muss mit ihm sprechen.« »Wegen der Erpressung?« »Ja.« »Seine Antwort glaube ich zu kennen, Sir.« »Ich auch. Trotzdem will ich mich mit ihm kurzschließen. Ich werde auch mit dem deutschen Bundeskanzler Verbindung aufnehmen. Immerhin sind auch deutsche Geiseln betroffen.« »Wir dürfen den Geiselnehmern keine Schwäche zeigen, Sir. Wenn sie merken, dass sie nichts erreichen, werden sie diese niederträchtige Art der Kriegsführung sehr schnell wieder aufgeben.« »Bis dahin werden aber wahrscheinlich viele Geiseln das Schicksal des armen Svenson geteilt haben.« »Das müssen wir wohl oder übel in Kauf nehmen, Sir.« *** Bagdad, Mittwoch, 0835 OZ
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Mark Harrer trug Landestracht, so wie sie die ›Heiligen Krieger‹ auch trugen. Es war ein hemdartiges, langes Gewand, das bis zu den Knöcheln reichte. Beim Gehen schlug der Saum um Harrers Beine. Abdul Hamadi war ähnlich gekleidet. Sein Gesicht hatte er vermummt, so dass nur seine Augen zu sehen waren. Er hatte sich eine russische MPi umgehängt. Es handelte sich um eine von den USStreitkräften erbeutete Waffe. Harrer und Hamadi bestiegen einen Transporter, auf dessen Ladefläche eine Holzbank festgeschraubt war. Eine Plane spannte sich über ihren Köpfen. Insgesamt waren es sieben solcher Laster, drei Jeeps und zwei gepanzerte Fahrzeuge mit aufmontierten MG’s, die nach Falludscha aufbrachen. Ungefähr zwei Dutzend Menschen reisten mit dem Konvoi. Es waren die unterschiedlichsten Gründe, die sie nach Falludscha führte. Auf der Bank saßen bereits vier Männer in Kampfanzügen und mit Gewehren vom Typ M4. Harrer hatte sich im Hotel schon von Davidge und den anderen Kameraden verabschiedet. Da er sich seit drei Tagen nicht mehr rasiert hatte, sah er ziemlich verwegen aus. Er grüßte und setzte sich. Hamadi ließ sich neben ihm nieder. Der Konvoi verließ nach Westen die Stadt. Die Entfernung nach Falludscha betrug knapp 20 Kilometer. Auf dieser Strecke war der Konvoi überfallen worden, mit dem Svenson, Steiner und Weiser gereist waren. Wenn die Fahrzeuge das Tempo beibehielten, würden sie für die kurze Strecke eine halbe Stunde benötigen. Aber die Straße war ausgesprochen schlecht. Sie hatte während des Krieges einiges abbekommen, als der irakische Nachschub ausgeschaltet wurde. Oftmals wies sie richtige Krater auf, die umfahren werden mussten. Das Gelände war bergig. Zu beiden Seiten schwangen sich Abhänge empor. Verschiedene Wege aus den Bergen mündeten in die Straße. Ein gepanzerter Spähwagen fuhr voraus. Man rechnete mit einem Überfall schiitischer oder sunnitischer Freischärler. Den Schluss bildete ebenfalls ein gepanzerter Spähwagen. Bagdad lag etwa zehn Meilen zurück, als der Zauber begann. Auf den Hügeln begannen Maschinengewehre zu hämmern. Ein Jeep
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raste auf einem der Seitenwege heran, schnitt dem Spähwagen an der Spitze den Weg ab, und dann gab es es eine gewaltige Detonation. Einer der Freischärler hatte eine Handgranate geworfen. Die MGs schleuderten ihre rasenden Detonationen über die Fahrzeuge hinweg, die zum Stehen gekommen waren. In den Führerhäusern brachen Fahrer und Beifahrer blutüberströmt zusammen. Aus den beiden Spähfahrzeugen wurde das Feuer erwidert. Von den Lastwagen sprangen Soldaten, eilten in Deckung und schossen die Rohre ihrer Gewehre heiß. Glas klirrte unter den Einschüssen. Mit metallischem Klang durchschlugen Kugeln das Stahlblech der Karosserien. Der Lärm steigerte sich zu einem höllischen Choral. Mark Harrer und Abdul Hamadi lagen flach auf der Ladefläche des Lastwagens. Die vier Soldaten, die sich bei ihnen befunden hatten, waren abgesprungen und kämpften. MG-Kugeln durchschlugen die Plane und pfiffen über Harrer und Hamadi hinweg. Und plötzlich trat Ruhe ein. Hamadi erhob sich und lief zum Ausstieg. Er schaute hinaus. Harrer schob sich neben ihn. Motorengeräusch erklang. Ein Jeep kam querfeldein. Dann war Geschrei zu vernehmen. Eine Pistole wummerte zweimal. Hamadi sprang von der Ladefläche. Er richtete die MPi auf Mark Harrer. »Absitzen, Lieutenant. Die Reise ist zu Ende.« Es traf Harrer wie ein eisiger Guss. Seine Zähne knirschten übereinander. Hart traten die Backenknochen aus seinem Gesicht hervor. »Sie elender Verräter«, presste er hervor. »Ich habe Ihnen gleich nicht getraut.« »Keine langen Reden, Harrer! Steigen Sie ab.« Einige Vermummte gesellten sich zu Hamadi. Er sprach auf sie ein. Rein äußerlich unterschied er sich nicht von ihnen. Was gesprochen wurde, konnte Harrer nicht verstehen. Er sprang vom Lastwagen und blieb stehen. Einige Männer in Kampfanzügen wurden zusammengetrieben und auf Lastwagen verfrachtet, die zwischenzeitlich aus den Bergen gekommen waren. Jemand trat an Harrer heran und stieß ihm den Lauf des MPi in die Seite. »Du bist Deutscher?«, fragte der. Vermummte
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auf englisch. »Ja.« Der Vermummte machte eine ausholende Handbewegung. »Sieh dich um. Die meisten US-Soldaten sind tot. Wir haben insgesamt 12 Gefangene gemacht. Mal sehen, wie viel das Leben dieser Gefangenen den Amerikanern und Briten wert ist.« Hamadi stand inmitten einer Gruppe von Kämpfern. Er sprach mit ihnen arabisch. Bei Harrer kam der Hass in heißen, stürmischen Wogen. Ich habe es gewusst!, durchfuhr es ihn siedend. Dieser dreckige Hurensohn… Er wurde auf einen der Laster dirigiert. Dort saßen schon sechs Männer. Sie trugen Kampfanzüge, die Binden an den Armen wiesen sie jedoch als Angehörige des Internationalen Roten Kreuzes aus. Harrer setzte sich auf den Boden der Ladefläche. Bänke wie auf den amerikanischen Lastern gab es hier nicht. Einige Bewaffnete kamen auf die Ladefläche, um die Gefangenen in Schach zu halten. Seinen Einsatz hatte sich Harrer auch anders vorgestellt. Er hatte Falludscha nicht mal erreicht. Unfreiwilligerweise würde er nun erfahren, wo die Geiseln festgehalten wurden, die zu befreien er mit seinen Kollegen nach Bagdad gekommen war. Aber dieses Wissen brachte ihn nicht weiter. Er war selbst Gefangener der ›Mahdi-Truppen‹ von el Sadr. Davidge und die anderen hatten keine Ahnung, wohin man ihn bringen würde. Harrer sah den Erfolg ihrer Mission auf der ganzen Linie gefährdet. Er verfluchte Hamadi. Aber hatten sie eine andere Chance, als sich auf ihn zu verlassen? CIA-Agent!, durchzuckte es Harrer sarkastisch: Der Schuft hat uns allen Sand in die Augen gestreut. Großer Gott! Er wird auch Davidge und die anderen verraten. Sie sind von jetzt an ihres Lebens nicht mehr sicher. Irgendein Todeskommando von el Sadr wird sich ihrer annehmen. Wie ätzende Säure durchdrang es Harrers Verstand. War das das Ende von SFO? Es überstieg sein Begriffsvermögen. Er wollte es einfach nicht akzeptieren. Es durfte nicht sein. Die Laster fuhren zwischen den Hügeln dahin. Harrer wurde hin und her geschleudert, durch und durch geschüttelt. Der Fahrer des
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Lasters fuhr wie ein Verrückter über Stock und Stein. Über eine Stunde dauerte die Fahrt. Dann hielt der Laster an. Der Motor starb ab. »Aussteigen!«, brüllte jemand. Die Männer, die sie bewacht hatten, sprangen von der Ladefläche. Ihnen folgten die Gefangenen. Zuletzt stieg Mark Harrer ab. Sie wurden von vermummten Bewaffneten eingekreist und nach Waffen durchsucht. Man fand bei Mark Harrer das Handy, das ihm Major McGregor überlassen hatte, und nahm es ihm weg. Harrer schaute sich um. Von Hamadi sah er nichts mehr. Er bekam einen Kolbenstoß in den Rücken. Ein erschreckter Ton entrang sich ihm, er stolperte zwei Schritte nach vorn. Sie befanden sich inmitten einer kahlen Gebirgslandschaft. Hier gab es nur Steine und Staub und einen Unterstand, der mit einem tarnfarbenen Netz gesichert war. In diesem Unterstand waren ein 7,5-Tonner und ein Jeep zu sehen. Einige Männer mit Waffen kamen auf die Lastwagen zu. Aufgewirbelter Staub senkte sich auf die Erde zurück. Die nicht besonders weitläufige Ebene wurden von hochragenden Felsmassiven eingeschlossen. In den Felsen, vor dem die Lastwagen angehalten hatten, führte ein Tor aus Stahlblech. Es war mit einer Farbe gestrichen, die sich kaum von der Farbe der Felsen abhob. Dieses Tor wurde jetzt geöffnet. Das Rumoren eines Aggregats war zu vernehmen. Wahrscheinlich wurde damit Strom erzeugt. An den Wänden des Flurs, der hinter der Tür lag, brannten einige Lampen. Die Gefangenen wurden in den Bunker getrieben. Ein Teil von ihnen wurde in einen Raum dirigiert, der mit einer Eisentür abgeschlossen werden konnte. Harrer und vier andere Geiseln trieb man weiter durch den Gang, vorbei an einer Reihe von Fässern, die sicherlich Treibstoff enthielten, und schließlich wurden sie in einen Raum gestoßen, an dessen Decke ein Neonstab Licht spendete. Es gab hier einige Stühle und einen Tisch. Die Wände waren kahl und fensterlos. Muffiger, abgestandener Geruch schlug den Gefangenen entgegen. Sie wurden gefesselt und gezwungen, sich zu setzen. Dann band
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man sie mit dünnen Perlonschnüren auf den Stühlen fest. Einer schlug Harrer ins Gesicht und zischte gehässig: »Du hast wohl gedacht, mit dieser Verkleidung erkennen wir dich nicht als Ausländer. Es war ein Trugschluss. Deine Regierung wird Druck auf die englische ausüben. Wenn nicht, werden wir dich töten. Wie wir den englischen Journalisten und einen der anderen Deutschen auch getötet haben.« Der Vermummte sprach englisch. »Ihr - habt - auch eine der deutschen Geiseln erschossen?«, würgte Harrer hervor. »Ja. Und eine der südkoreanischen. Morgen gehen wir mit dem toten Deutschen an die Öffentlichkeit. Übermorgen mit dem Südkoreaner. Niemand soll denken, dass wir nicht ernst machen. Und wenn in vier Tagen das Ultimatum abläuft, das wir der britischen Regierung gesetzt haben, und sie nicht auf unsere Forderung eingeht, werden wir euch anderen alle töten.« »Ihr seid Barbaren!«, entfuhr es Harrer. Er erntete dafür einen brutalen Schlag ins Gesicht. Dann ließ man sie allein. Die Tür wurde abgeschlossen und verriegelt. Bald wusste Harrer, dass es sich bei den vier anderen Geiseln um Polen handelte. Sie alle waren misshandelt worden. Einer der Männer blutete aus der Nase. Die Unterlippe eines anderen war aufgeschlagen. »Bei Gott«, sagte einer der Polen, »wir sind verloren. Uns wird es wie dem englischen Journalisten ergehen.« »Und einem der deutschen Gefangenen, sowie einem Südkoreaner«, vervollständigte Harrer. »Diese Schufte machen Nägel mit Köpfen. Wahrscheinlich wollen sie bis zum Ablauf des Ultimatums der Welt jeden Tag eine andere Leiche präsentieren, um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen.« Seinen Worten folgte betroffenes Schweigen. ***
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Bagdad, Hotel Palestine Mittwoch, 1032 OZ Major McGregor hatte sich eingefunden. Er saß in der Lobby Colonel Davidge gegenüber in einem der Sessel, die um einen niedrigen Tisch gruppiert waren. Hinter der Rezeption lief ein tragbarer Fernsehapparat. Die beiden Bediensteten des Hotels hatten im Moment nichts anderes zu tun, als fernzusehen. Es war ein arabisches Programm. Selbst wenn die beiden Offiziere hätten hören können, was gesprochen wurde, sie hätten es nicht verstanden. »Der Konvoi wurde überfallen, Colonel«, gab McGregor mit kehliger Stimme zu verstehen. »Es gab über 20 Tote. Zumeist erwischte es die Fahrer und Beifahrer der Fahrzeuge. Aber auch die Männer des Begleitschutzes starben. Ein Dutzend Männer befinden sich als Geisel in der Gewalt der Entführer.« »Was wurde aus Lieutenant Harrer?« , wollte der Colonel wissen. Sein Gesicht war wie aus Granit gemeißelt. Er hatte in den vergangenen Wochen Harrer schätzen gelernt. Der Deutsche war eine absolute Bereicherung für SFO. »Unter den Toten befindet er sich nicht. Ich denke, er wurde zusammen mit elf anderen Männer verschleppt. Man wird sie als Druckmittel gegen die jeweiligen Regierungen einsetzen wollen.« »Was ist mit Abdul Hamadi?« »Auch sein Schicksal ist ungewiss.« »Von welcher Staatsangehörigkeit sind die Männer, die gekidnappt wurden?« »Polen, Ukrainer und Harrer als Deutscher.« Colonel Davidge nagte an seiner Unterlippe. Sein Blick schien sich nach innen verkehrt zu haben. Nach einiger Zeit sagte er: »Man kann also davon ausgehen, dass Harrer und Hamadi noch leben.« Der Major nickte. »Es sieht so aus. Man kann natürlich nicht ausschließen, dass sie verschleppt worden sind und dann umgebracht wurden.« »Malen Sie den Teufel nicht an die Wand, Major.« McGregor zuckte mit den Schultern. »Alles ist möglich. Die auf-
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ständischen Schiiten sind unberechenbar. Sie sehen es daran, dass sie das Ultimatum für den Abzug der Briten auf Samstag festgesetzt haben, gestern aber bereits die Leiche einer der Geiseln präsentierten.« Davidge schlug die geballte Rechte in die geöffnete Linke, dass es klatschte. »Gibt es denn überhaupt keinen Anhaltspunkt, wo sich die Geiseln und ihre Entführer aufhalten?« »Nicht den geringsten. Aus amerikanischen Regierungskreisen wurde bekannt, dass Blair und Bush eine längere telefonische Aussprache führten. Man hat sich geeinigt, nicht auf die Forderungen der Entführer einzugehen. Keine Verhandlungen, ist die Devise.« »Man ist also bereit, das Leben der Geiseln zu opfern«, murmelte Davidge. »Nun, das war nicht anders zu erwarten.« Ein Ruck durchfuhr den Colonel. Seine Schultern strafften sich. »Unser erster Versuch scheint fehlgeschlagen zu haben. Nun müssen wir uns was Neues ausdenken, um den Schlupfwinkel der Geiselnehmer und das Versteck der Geiseln zu orten.« »Was?« »Ich muss mit meinen Leuten darüber sprechen. Wir treten sozusagen auf der Stelle. Unsere Informationen über die Geiselnehmer tendieren gegen Null. Wir wissen lediglich, dass es sich um schiitische Aufrührer handelt, die el Sadr befehligt.« Einer der Angestellten, der in der Rezeption saß und das Programm auf dem Fernseher verfolgte, rief auf Englisch: »Sehen Sie, Major. El Dschasira bringt was Neues über die entführten Ausländer.« Davidge und den Major riss es richtiggehend von ihren Sitzen hoch. Sie eilten zur Rezeption. Das Bild eines toten Mannes wurde ausgestrahlt. Er trug einen tarnfarbenen Kampfanzug. Dann war wieder der Nachrichtensprecher zu sehen. »Übersetzen Sie«, forderte McGregor den Hotelangestellten auf. Der Mann sagte: »Die Entführer haben eine zweite Geisel erschossen. Es handelt sich um den Deutschen Max Steiner. Und für morgen haben die Entführer angedroht, eine der südkoreanischen Geiseln zu erschießen.« »Sonst noch etwas?«
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»Als Begründung ließen die Kidnapper verlauten, dass man mit der Ermordung des Deutschen den Druck der deutschen Regierung auf England und Amerika ankurbeln will. Im übrigen verlautbarte ein enger Mitarbeiter von el Sadr, Kais el Chasaali, in einem Interview, dass el Sadr zu bedingungslosen Verhandlungen mit der USgeführten Koalition bereit sei. El Sadr sei auch bereit, den Empfehlungen der höchsten schiitischen Autorität im Irak, der ›Mardschaija‹, zu folgen und einen Waffenstillstand auszuhandeln.« »Danke.« Davidge und der Major kehrten zu ihren Plätzen zurück. Ratlosigkeit beherrschte ihr Mienenspiel. »Heute eingerechnet noch vier Tage«, murmelte Davidge. »Darin läuft das Ultimatum ab. Wir müssen dann mit einem Blutbad unter den Geiseln rechnen.« »Das ist wohl so, nachdem die Regierungen nicht zum Einlenken bereit sind.« »Es ist frustrierend«, murmelte Davidge. *** Versteck der Entführer, Mittwoch, 1040 OZ »Warum erschießt ihr die Geiseln schon vor Ablauf des Ultimatums?«, fragte Abdul Hamadi einen seiner Gefährten, die im Unterstand herumlümmelten. Er hatte sich nach dem Überfall als Kämpfer für el Sadr zu erkennen gegeben. Und da er gleich eine Geisel lieferte, einen Deutschen, misstraute ihm niemand. Er war von den Aufständischen als einer der ihren anerkannt worden. Jetzt befand sich Hamadi inmitten einer Gruppe Schiiten. Er hatte erklärt, dass er el Sadr blindlings folgen würde, weil el Sadr der kommende Mann im Irak sei. Sein Bestreben, sämtliche Ausländer aus dem Irak zu verjagen, müsse jeden Schiiten, Sunniten und überhaupt jeden Iraker veranlassen, zu den Waffen zu eilen. Hamadi sprach von Verrätern im eigenen Land und erklärte mit aller Entschiedenheit, dass man diese amerikafreundlichen Schurken elemi-
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nieren werde, sobald im Irak eine Regierung im Sinne der Pläne von el Sadr etabliert sei. Er stieß mit seinen Ausführungen auf den Beifall der Männer, die sich in dem Lager verkrochen hatten. Hamadi wusste, dass sich das Lager östlich von Bagdad befand. Riesige Bergmassive schlossen die Ebene ein, in der es sich befand. Es gab nur einen Zugang durch eine Schlucht, durch die ein Weg angelegt worden war, so dass man sie mit 7,5-Tonnern durchqueren konnte. Er musste nach Bagdad, um Colonel Davidge zu sprechen. Aber wie sollte er sich von hier absetzen. Sich ein Fahrzeug anzueignen war viel zu gefährlich. Die Aufständischen standen mit der Außenwelt in Verbindung. Selbst wenn ihm, Hamadi, die Flucht aus dem Lager gelingen sollte, draußen würde man ihn irgendwo abfangen und ihm den Garaus machen. Hamadi beschloss, die Nacht abzuwarten und dann zu Fuß zu fliehen. Bis zur Autostraße würde er zwar gut zwei Stunden laufen müssen. Aber das musste er in Kauf nehmen. Auf der Autostraße patrouillierten amerikanische Soldaten in gepanzerten Fahrzeugen, und an eine dieser Patrouillen wollte sich Hamadi wenden. Hamadi hörte den Mann, dem er eben eine Frage stellte, sagen: »Es war ein Ausbruchsversuch. Der Engländer und der Deutsche versuchten, die Männer zu überwältigen, die ihnen das Essen brachten. Es kam zu einer Schießerei, bei der der Engländer, der Deutsche und ein Koreaner ums Leben kamen. Auch einer unserer Leute wurde getötet.« »Dann wurden die Geiseln gar nicht erschossen, um Druck auszuüben«, stellte Hamadi fest. »Nein. Wir haben nur die Gelegenheit beim Schopf gepackt und der Welt gestern und heute die beiden Leichname präsentiert. Die betroffenen Regierungen sollten damit von der Ernsthaftigkeit unserer Forderung überzeugt werden.« Hamadi verließ den Unterstand und schlenderte in die Nähe des eisernen Tores, das in den Berg führte. Es stand offen. Das Dröhnen des Kompressors, der Strom erzeugte, wurde intensiver, je näher er
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dem Eingang kam. Hamadi ahnte, dass es viele solcher Verstecke in der Felswildnis gab. Sie waren ausgesprochen gut getarnt und kaum zu entdecken. Zwei Wachen waren beim Tor postiert. Sie hatten sich die MPis umgehängt. Die beiden blickten Hamadi entgegen. »Allah sei mit euch«, sagte Hamadi. »Allah sei mit dir«, versetzte einer der Wachposten. »Was willst du? »Mich ein wenig umsehen. Wieviele Geiseln werden in dem Bunker festgehalten?« »Warum willst du das wissen?« »Ein rein persönliches Interesse. Es können gar nicht genug dieser Ausländerhunde sein, die wir festhalten. Ich möchte sie alle höchstpersönlich erschießen.« »Dazu wirst du sicher Gelegenheit kriegen«, lachte einer der Wachposten. »Denn es ist nicht davon auszugehen, dass unsere Forderungen erfüllt werden. Gedulde dich noch ein paar Tage, mein Freund. Dann darfst du auf die Ausländerhunde schießen.« »Also, dann gib mir Antwort. Wieviele dieser Bastarde werden hier festgehalten?« »Es sind noch 16. Morgen werden wir den toten Südkoreaner präsentieren. Und dann sind es nur noch zwei Tage bis zum Ablauf des Ultimatums.« »Habt ihr keine Angst, dass man dieses Lager entdeckt?« Der Wachposten lachte verächtlich auf. »Al Dschasira hat heute Morgen ein Interview mit dem amerikanischen Verteidigungsminister ausgestrahlt. Danach wäre Amerika bereit, die Geiseln mit Waffengewalt zu befreien, was allerdings daran scheitert, dass man keine Ahnung hat, wo sie sich befinden. Nicht mal ihre Aufklärer haben uns bisher entdeckt. Darum haben wir hier nichts zu befürchten.« Hamadi wandte sich ab. Bis zum Abend waren es noch gut acht Stunden. Er musste aber die Nacht abwarten. Sicher waren in der Schlucht Wachposten aufgestellt. Hamadi wusste, dass es nicht einfach werden würde, aus der Hochebene hinauszukommen. Und noch schwieriger würde es sich gestalten, in der Nacht die Richtung beizubehalten. Wenn er sich verlief, würde er in der Wildnis elend zu
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Grunde gehen. Hamadi gab sich keinen Illusionen hin. Die Zeit verrann nur zähflüssig. Als die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte, brachte man den Gefangenen das Mittagessen. Das Essen wurde per Jeep angeliefert, der mit drei Männern besetzt gewesen war. Die Besatzung des Camps bekam das selbe Essen wie die Gefangenen. Es war ein scharfer Brei aus Reis und kleinen Fleischbrocken. Hamadi aß mit gesundem Appetit. Dann begann wieder die Warterei auf die Nacht. Hamadi wanderte in dem Lager umher und prägte sich alle Örtlichkeiten genau ein. *** Der Abend kam, und dann die Nacht. Im Camp kehrte Ruhe ein. Das Tor, durch das man in den Felsen gelangte, wurde geschlossen. Einige Kämpfer blieben in dem Bunker. Andere verzogen sich in den Unterstand. Der Mond ging auf. Er stand im Osten über den Bergen. Ein kalter Wind fegte unter der gelben Mondsichel dahin. Auch Hamadi hatte sich zur Ruhe begeben. Aber er schlief nicht. Er wusste, dass alles davon abhing, dass er keinen Fehler beging. Ob die Geiseln lebten oder starben, war von seinem Erfolg abhängig. Wurde er geschnappt, war auch die letzte Chance für die Geiseln dahin. Der CIA-Agent wartete. Bald verkündeten regelmäßige Atemzüge in seiner unmittelbaren Umgebung, dass die Kerle in dem Unterstand eingeschlafen waren. Hamadi öffnete seinen Schlafsack und schälte sich heraus. Er verursachte kaum Geräusche. Nicht mehr, als er verursachen würde, wenn er sich im Schlaf herumgedreht hätte. Vorsichtig erhob er sich. Geduckt stand er da, lauschte und rührte sich nicht. Einige Sekunden verstrichen. Hamadi bückte sich nach seiner MPi und hob sie auf. Er hängte sie sich um. Dann entfernte er sich langsam in Richtung der Schlucht, durch die man zu der Hochebene gelangte. Der Agent hielt sich hart an den Felswänden. Behutsam setzte er einen Fuß vor den anderen. Er atmete ganz flach. Die absolute Fins-
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ternis in der Schlucht war sein Verbündeter. Leises Säuseln, mit dem der Wind an der Felswänden entlang strich, erfüllte die Nacht. Wenn er entdeckt wurde, war das Spiel aus, selbst wenn ihm die Flucht gelang. Die Aufständischen würden die Geiseln noch in der Nacht an einen anderen geheimen Ort bringen. Dann wäre alles umsonst gewesen. Lautlos wie ein Schatten pirschte Hamadi durch die Finsternis. Als einmal der Lauf seiner MPi gegen den Felsen stieß, blieb er stehen und staute den Atem. Aber das Geräusch war wohl von keinem der beiden Wachposten in der Schlucht vernommen worden, denn es blieb alles ruhig. Die zitternde Anspannung seiner Nerven löste sich nicht. Hamadi stieß die verbrauchte Atemluft aus und ging weiter. Die Schlucht war fast einen Kilometer lang. Manchmal knirschte unter seinen Schuhen der Sand, der den Boden bedeckte. Hamadi kam dieses Geräusch überlaut vor. Doch es versank schon nach wenigen Schritten in der Lautlosigkeit und wurde nur von dem Agenten selbst vernommen. Hamadi benötigte fast eine halbe Stunde, um den Kilometer aus der Schlucht zu überwinden. Er hatte es geschafft und wandte sich nach Westen. Dabei orientierte er sich am Stand des Mondes, der im Osten aufgegangen und in seiner Umlaufbahn noch nicht allzuweit gekommen war. Als der Mond im Südwesten stand, erreichte Hamadi die Autostraße. Sie führte nach Bagdad und verlief von Osten nach Westen. Um die richtige Richtung einzuschlagen, orientierte sich Hamadi wieder am Mond. Über ihm funkelten Myriaden von Sternen. Der Agent fragte sich, ob seine Flucht aus dem Lager zwischenzeitlich entdeckt worden sei. Wenn ja, dann waren die Freischärler gewiss schon hinter ihm her. Hamadi fröstelte es. Er lief am Straßenrand. Es mochte zwei Stunden nach Mitternacht sein. Hamadi gab sich keinen falschen Hoffnungen hin. Es war nicht zu erwarten, dass ihn eine Patrouille ausländischer Streitkräfte aufgriff. Und so traute er seinen Ohren nicht, als weit hinter ihm das Brummen eines Motors zu hören war. Hamadi drehte das rechte Ohr nach Osten. Er hatte sich nicht getäuscht. Das Brummen näherte sich. Er
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versteckte sich hinter einem Felsen am Straßenrand. Dann sah er die beiden Scheinwerfer. Sie erschienen dort, wo sich die Straße zwischen die Felsen bohrte und um einen Knick verschwand. Der Wagen fuhr mit Standlicht. Es gab keine Lichtfinger, die sich in die Finsternis bohrten und sie aufhellten. Nur zwei matte Lichtpunkte, die in der Nacht wie Dämonenaugen anmuteten. Dem Motorengeräusch nach zu schließen, handelte es sich um einen Lastwagen. Er fuhr langsam. Das Fahrzeug fuhr nur Schritttempo. Langsam kam es näher. Bald schälten sich die Konturen schemenhaft aus der Dunkelheit. Es war ein Laster mit einer Plane über der Ladefläche. Hamadi konnte das Kennzeichen nicht erkennen. Im schwachen Lichtschein konnte er jedoch wahrnehmen, dass der Laster mit Tarnfarbe gestrichen war. Das Fahrzeug fuhr vorbei. Hinten war die Plane offen. Hamadi rannte hinter dem Felsen hervor und folgte dem Laster. Er holte ihn ein, stieß sich ab und hing mit beiden Armen an der Bordwand, schwang sich behände nach oben und fiel auf die Ladefläche. Jemand leuchtete ihm mit einer Taschenlampe ins Gesicht. Hamadis Herzschlag übersprang einen Schlag. Doch der Agent brachte den Aufruhr seiner Gefühle sogleich unter Kontrolle. Er setzte sich auf und brachte die MPi in Anschlag. Über dem Lichtstrahl der Taschenlampe sah er ein bärtiges Gesicht. Das Gesicht eines Arabers. Und dann wurde eine Pistole durchgeladen. Hamadi kannte das Geräusch, als der Schlitten durchgezogen wurde. Er begann zu feuern. Die Garbe, die aus der Mündung der MPi stieß, warf zuckende Lichtreflexe gegen die Plane, die die Ladefläche überspannte. Und sie riss auch drei Männer aus der Finsternis, die sich auf der Ladefläche befanden. Sie wurden von den Einschlägen geschüttelt, herumgerissen und stürzten zu Boden. Hamadi hatte keine Ahnung, ob es sich um Verfolger aus dem Versteck handelte. Aber er musste davon ausgehen. Nachdem die Kerle bewaffnet waren, hätte ihm unnötiges Zögern das Leben kosten können. Der Lastwagen wurde abrupt abgebremst. Hamadi rutschte ein Stück über den Boden der Ladefläche. Als der Wagen stand, erhob er sich und sprang ab. Er hielt die MPi im Anschlag.
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Fahrer und Beifahrertür des Fahrzeuges flogen auf. Zwei Männer sprangen heraus. Hamadi kniete am Straßenrand. Jemand rief etwas, dann sah er die beiden Schemen zur Rückseite des Lastwagens laufen. Soweit Hamadi es im Mond- und Sternenlicht erkennen konnte, war einer der beiden mit einer MPi, der andere mit einer Pistole bewaffnet. Ein Feuerstoß aus Hamadis MPi fegte sie von den Beinen. Die Detonationen wurden von den Echos vervielfältigt, trieben auseinander und verebbten schließlich. Hamadi drückte sich hoch. Er lief zum Führerhaus und schwang sich hinter das Lenkrad. Der Motor lief noch. Hamadi schaltete das Abblendlicht ein. Mit dem Standlicht durch die Ödnis zu fahren traute er sich nicht zu. Dann legte er den ersten Gang ein, ließ die Kupplung kommen und gab Gas. *** Hotel Palestine, Bagdad, Donnerstag, 0425 OZ Ungestüm wurde gegen die Tür des Zimmer gepocht, in dem Colonel Davidge schlief. Der Oberkörper des Colonels ruckte hoch. »Wer ist da?«, rief er schlaftrunken. »Abdul Hamadi. Machen Sie auf, Colonel.« Davidge war wie elektrisiert. In seine Gestalt kam Leben. Er knipste die Nachttischlampe an, schleuderte die Bettdecke von sich und schwang die Beine vom Bett. Mit drei Schritten war er bei der Tür, sperrte auf und öffnete sie. Auf dem Flur brannten einige Wandlampen. Im Lichtschein konnte Davidge den CIA-Agenten erkennen. »Kommen Sie herein, Hamadi« , stieß der Colonel hervor und zog den frühen Besucher am Oberarm ins Zimmer. »Ich kenne die Lage des Verstecks, in dem die Geiseln festgehalten werden«, begann Hamadi. »Es liegt in den Bergen, etwa zehn oder zwölf Kilometer östlich von Bagdad.«
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Hamadi setzte sich auf die Bettkante. Davidge stand abwartend zwei Schritte vor ihm. Er war nur mit einem Schlafanzug bekleidet. »Erzählen Sie, Hamadi«, drängte Davidge. »Lebt Harrer? Was wurde aus den anderen Geiseln?« Hamadi berichtete. Er vergaß nicht zu erwähnen, dass ihn Harrer wohl für einen gemeinen Verräter hielt. Aber um den Kämpfern von el Sadr absolut glaubhaft zu erscheinen, hatte er die Rolle des Verräters beibehalten. Die Zeit, sich mit Harrer abzusprechen hatte er nicht gehabt. Davidge unterbrach den Agenten nicht ein einziges Mal. Erst, als Hamadi geendet hatte, sagte er: »Auf der Straße sind also zwei Tote zurückgeblieben. Man wird sie finden und die entsprechenden Schlüsse ziehen. Wir müssen sofort aufbrechen. Sie werden uns führen Hamadi. Vielen Dank für Ihre Mitarbeit. Ohne Sie…« Colonel Davidge brach ab und wandte sich dem Kleiderschrank zu. Um 0445 Ortszeit waren die Mitglieder von SFO einsatzbereit. Abgesehen von Colonel Davidge stiegen sie auf die Ladefläche des Lastwagens, mit dem Hamadi gekommen war. Die Toten waren abgeladen worden. Davidge nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Noch trugen sie die Helme mit den integrierten Funksystemen nicht. Auf ihren Köpfen saßen schwarze Baretts. Die Helme hingen am Koppel. Jeder von SFO war mit einer MP7 bewaffnet. Laservisiere und Schalldämpfer waren aufmontiert. Am Koppel trugen die Männer und Frauen Scheiden, in denen Kampfmesser steckten. Sie waren auch mit der Schutzweste aus Karbonfasern ausgerüstet, die sie vor Kugeln schützen sollte. Hamadi trug nach wie vor seine Verkleidung. Die MPi hatte er an den Sitz gelehnt. Er erklärte Davidge die ungefähre Lage des Verstecks. »Die Hochebene ist nur durch eine Schlucht zu erreichen«, sagte Hamadi. »Wir können diesen Weg natürlich nicht benutzen. Ich weiß nicht, wo die Schufte ihre Wachposten aufgestellt haben. Und nachdem die Kerle, die mich verfolgt haben, nicht mehr aufgetaucht sind, wird im Lager Alarmbereitschaft herrschen.« »Davon müssen wir ausgehen«, knurrte Davidge. »Über die Berge auf die Hochebene zu gelangen dürfte aussichtslos sein. Dazu
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brauchte man eine Bergsteigerausrüstung, die wir nicht haben. Und selbst wenn - keiner von uns ist im Bergsteigen geschult. Es wäre ein hoffnungsloses Unterfangen.« Sie fuhren in östliche Richtung. Hamadi benutzte verschlungene Gassen, um aus Bagdad hinauszukommen. Die vielen Kontrollen durch die Amerikaner hätten sie nur unnötig aufgehalten. Die Stadt lag in Dunkelheit. Es gab kaum noch funktionierende Straßenlaternen. Die Stromversorgung war nicht gesichert. Sie gelangten ungeschoren aus Bagdad hinaus. Der Mond stand jetzt im Westen und legte einen silbernen Schein auf die Abhänge und zerklüfteten Felsen. Sie passierten die Stelle, an der Hamadi den Lastwagen gekapert hatte. Die beiden Toten waren verschwunden. Hamadi machte Davidge darauf aufmerksam. Davidge sagte: »Dann müssen wir also davon ausgehen, dass die Aufständischen in dem Versteck alarmiert sind. Die Frage ist jetzt nur noch, wie wir in das Versteck gelangen, ohne allzu viele Federn lassen zu müssen. Gibt es wirklich keinen anderen Zugang? Vielleicht eine Kluft, durch die man zu Fuß in die Hochebene eindringen kann.« »Ich weiß es nicht. Am einfachsten wäre es, durch die Schlucht zu gehen und die Wachposten auszuschalten.« Davidge schwieg verbissen. Nach einer halben Stunde Fahrt bremste Hamadi den Lastwagen. »Wir sind in der Nähe der Schlucht«, sagte er. »Weiterzufahren können wir uns nicht leisten. Wir müssen den Rest des Weges zu Fuß überwinden. Es wurde bereits hell. Die Sterne waren verblasst. Der Himmel im Osten zeigte ein fahles Gelb, mit dem sich der Sonnenaufgang ankündigte. »Wie tief ist die Schlucht?«, wollte Davidge wissen. »Sechs- bis siebenhundert Meter etwa«, versetzte Hamadi. »Vergessen Sie’s, Colonel. Ohne Hilfsmittel kommt man da nicht hinauf. Über das Felsmassiv in die Hochebene einzudringen, ist ein Ding der Unmöglichkeit.« »Wir versuchen es trotzdem«, erklärte Davidge.
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»Der Aufstieg dauert einige Stunden«, wandte Hamadi ein. »Während wir in den Felsen herumklettern, schaffen die Aufständischen möglicherweise die Geiseln fort. Und ein zweites Mal wird es nicht mehr so einfach sein, das Versteck ausfindig zu machen. Voraussetzung für das Gelingen unserer Mission ist, dass wir keine Fehler machen. Über den Berg zu gehen aber wäre ein Fehler. Denn es würde viel zu viel Zeit kosten.« »Wahrscheinlich haben Sie recht, Hamadi. Wir werden uns durch die Schlucht vorarbeiten. Das halbe Team bleibt zurück, um unseren Rückzug zu decken.« »Das ist in Ordnung, Colonel.« *** »Scheiß Gegend«, murrte Alfredo Caruso, nachdem er abgesessen war. »Hier möchte ich nicht mal beerdigt sein.« »Das ist mir schon klar«, versetzt Dr. Lantjes. »Hier gibt es keine unbedarften Mädchen, die du flachlegen kannst, Caruso. Also fehlt es an einem deiner Lebenselixiere, und darum gefällt es dir hier nicht.« »Ich sähe schon zwei Mädchen«, versetzte der Italiener grinsend. »Aber diese beiden Mädchen sind nicht unbedarft genug, um auf einen Möchtegern-Casanova wie dich hereinzufallen«, konterte Dr. Lantjes bissig. »Immer diese unqualifizierten Kommentare«, stieß Caruso hervor. »Besinnt euch auf den Einsatz«, wies Davidge die beiden Streithähne zurecht. »Sergeant Caruso, Agent Hamadi und ich gehen woraus. Sergeant Sanchez und Corporal Topak folgen uns in einem Abstand von hundert Schritt. Lieutenant Leblanc und Dr. Lantjes sichern den Lastwagen. Sanchez und Topak, Sie achten darauf, dass Sie immer Sichtkontakt mit uns haben. Während wir drei in die Hochebene eindringen, bleiben Sie im Maul der Schlucht zurück und gebt uns notfalls Feuerschutz, wenn wir mit den Geiseln kommen. Verstanden?« Sie nahmen die Baretts ab, verstauten sie in den Taschen ihrer
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Kampfanzüge und setzten die Helme auf. Der Lastwagen stand abseits der Straße im Schutz eines Hügels. Hamadi ging voraus. Nach zehn Minuten erreichten sie das Maul der Schlucht. Es war jetzt heller Tag. Die Schlucht lag vor ihnen. Die Straße, die sich hineinbohrte, war staubig und von Autorädern zerfurcht. Alles schien ruhig zu sein. An der Basis der Felswände türmten sich heruntergestürzte Felsbrocken. Ein ideales Terrain, um sich anzuschleichen. Mit Korken, die sie mit ihren Feuerzeugen ankohlten, schwärzten sie sich die Gesichter. Davidge, Caruso und Hamadi setzten sich in Bewegung. Sie nutzten jede Deckung aus, die sich ihnen bot. Marisa Sanchez und Miro Topak warteten im Schutz eines Felsens und beobachteten ihre drei Kollegen, die ihnen voraus in die Schlucht gegangen waren. Ehe sie um einen Knick verschwanden, winkte Colonel Davidge. Die argentinische Waffenspezialistin und der russische Motorisierungsexperte folgten, die MPi im Anschlag. Sie holten auf. Davidge, Caruso und Hamadi warteten, bis die beiden Gefährten sie erreicht hatten. Dann glitten sie um den Knick der Schlucht. Sanchez und Topak blieben wieder zurück. Als Davidge, Caruso und Hamadi etwa 100 Schritte entfernt waren, setzten auch sie sich in Bewegung. Ihre Augen waren unablässig in Bewegung. Keinen Augenblick lang ließen sie in ihrer Aufmerksamkeit nach. Die Nerven waren zum Zerreißen angespannt. Anspannung sprach aus jedem Zug ihrer Gesichter. Ununterbrochen sicherten sie um sich. 200 Yards etwa waren zurückgelegt. Der Colonel, Caruso und Hamadi gingen nieder und begannen zu kriechen. Schlangengleich bewegten sie sich hart am Felsen entlang. Hier wuchs dorniges Gestrüpp, das keinerlei Deckung bot. Davidge blickte hinter sich. Sanchez und Topak schmiegten sich an die zerklüftete Felswand. Der Colonel gab ihnen das Zeichen, ebenfalls in der tiefsten Gangart weiterzugehen. Sie ließen sich nieder. 300 Yards lagen hinter ihnen. Colonel Davidge bedeutete seinen beiden Begleitern, hinter einem Haufen übereinander lagernder Felstrümmer zu warten. Er stieg hinauf und spähte über den oberen Rand hinweg tiefer in die Schlucht
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hinein. Dann gab er den Befehl, weiter zu gehen. Niemand stellte sich ihnen in den Weg. Sie glitten immer tiefer in die Schlucht hinein. »Wir haben jetzt etwa die Hälfte«, gab Hamadi leise zu verstehen. »Kommt es Ihnen nicht seltsam vor, Colonel, dass wir auf keinen Wachposten treffen?« »Sehr seltsam«, flüsterte Davidge. »Aber schließlich haben wir erst die Hälfte der Schlucht hinter uns. Von jetzt an ist jedenfalls doppelte Vorsicht geboten.« . »Ich hab so ein seltsames Kribbeln zwischen den Schulterblättern«, raunte Caruso. »Das habe ich immer, wenn…« »Psst!«, kam es von Davidge. »Haben Sie gehört?« Irgendwo klickerte ein Stein über felsigen Untergrund. Die drei Männer, die voraus gingen, hielten den Atem an. Das Geräusch verklang. »Weiter«, flüsterte Davidge. Sie konnten schon das Ende der Schlucht sehen. Die Hochebene, die einen Durchmesser von höchstens 300 Yards hatte, schloss sich an. Schritt für Schritt arbeiteten sie sich dem Schluchtende entgegen. Ein seltsames Gefühl befiel Davidge. Es war wie eine Warnung seines Instinkts. Nichts geschah. Den Stein hatte vielleicht ein fliehendes Tier losgetreten. Vielleicht hatte er sich auch von selbst gelöst und war in die Tiefe gekollert. »Bleiben Sie hier zurück«, sagte Hamadi. »Ich gehe vor und sehe mich um.« Davidge schaute über die Schulter zurück. Sanchez und Topak hatten angehalten. Ihre Gestalten verschmolzen fast mit dem Fels. Er gab ihnen das Handzeichen, abzuwarten. Hamadi schob sich weiter. Er kroch um einen Felsen herum und verschwand. Davidge und Caruso sahen nichts mehr von ihm. Und einen Augenblick dachte Davidge daran, dass Hamadi sie vielleicht in eine Falle lockte, dass er sich tatsächlich der Gruppe ›Mudschahedin Brigade‹ angeschlossen hatte. Davidge versuchte diesen Gedanken zu verdrängen. Aber er ließ ihn nicht los. Und er beschloss, Ha-
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madi zu folgen. »Wir folgen ihm, Sergeant.« Sie schlichen weiter. Dann erreichten sie das Ende der Schlucht. Hamadi lag hinter einem Felsen und spähte darüber hinweg. »Ich weiß nicht«, murmelte er. »Aber mir kommt das ziemlich seltsam vor. Nachdem sie ihre beiden Toten gefunden haben, habe ich erwartet, dass sie sich in Alarmbereitschaft befinden. Dass sie die Wachen scheinbar abgezogen statt verstärkt haben, mutet komisch an. Ich glaube fast, die warten auf uns.« Davidge schalt sich einen Narren, weil er Hamadi misstraute. Die drei Toten, die auf der Ladefläche des Lasters gelegen hatten, hatten Hamadis Aussage untermauert. Nein, Hamadi spielt kein falsches Spiel, sagte sich der Colonel. »Sie denken also, wir sind ihnen in die Falle gegangen«, knurrte Davidge. Er beobachtete einige Gestalten, die sich bei dem Unterstand herumtrieben, auf die man vom Maul der Schlucht aus freien Blick hatte. Davidge sah auch das tarnfarbene Tor, das in den Fels führte und das geschlossen war. In dem Unterstand war ein 7,5Tonner abgestellt. »Es sieht ganz so aus. Verdammt! Wir sollten uns zurückziehen. Ich glaube…« Weit hinter ihnen begann eine MPi zu rattern. Die Detonationen trieben durch die Schlucht heran. Die Männer beim Unterstand rannten in Deckung. Davidge zischte: »Zurück! Es ist tatsächlich eine Falle.« Motorengeräusch wurde hörbar. Es näherte sich. Es war ein 7,5Tonner. Er hielt an, als er ins Blickfeld der Leute von SFO geriet. Eine Leuchtrakete fuhr zum Himmel und zog einen feurigen Schweif hinter sich her. Ein Zeichen! Eine Nachricht an die Leute auf der Hochebene. Der Hinweis, dass sich die Falle geschlossen hatte. Ein Dutzend Männer mit Maschinenpistolen und russischen Schnellfeuergewehren sprangen von dem Laster und verteilten sich zu beiden Seiten der Schlucht. Die Waffen begannen zu rattern. Bei dem Unterstand begann ein MG zu hämmern. Querschläger jaulten. Davidge, Caruso und Hamadi zogen die Köpfe ein und schossen zurück.
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Auch Marisa Sanchez und der Russe begannen zu feuern. Ihre Schüsse waren kaum zu hören, da sie Schalldämpfer aufgeschraubt hatten. Das ›Ploppen‹, mit dem ihre Geschoße den Lauf verließen, ging im Stakkato der Schüsse ihrer Gegner unter. Zwischen den Felsen wurden die Geräusche noch verstärkt. Der Lärm war ohrenbetäubend. Davidge, Caruso und Hamadi zogen sich schießend zurück. Sie langten bei Sanchez und Topak an. Ihre Gegner hatten sie zwischen sich. Sie hatten sich hinter Felsen verschanzt, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis die schiitischen Kämpfer die Zange enger schlossen und sie hochnehmen würden. Es war eine nahezu aussichtslose Situation. Es war 0645 Uhr OZ… *** Unbekannter Ort im Gebirge 20 Meilen östlich von Bagdad, Donnerstag, 0650 OZ Die Geiseln, die zusammengepfercht auf einem Lastwagen saßen, atmeten auf. Der Lastwagen war angehalten worden. Das Fahrzeug, das dem Laster gefolgt war, kam ebenfalls zum stehen. Die Sonne stand über den Felsen im Osten und schleuderte ihre Flammenbündel auf das kahle Land. Befehle wurden geschrien. Die hintere Bordwand wurde heruntergeklappt. »Absteigen! Schnell!«, schrie jemand auf Englisch. Die 16 Geiseln, deren Hände gefesselt waren, sprangen nacheinander ab. Lieutenant Mark Harrer bildete den Schluss. Er war es auch gewesen, der immer wieder zu Ruhe und Besonnenheit während der Fahrt gemahnt hatte. Der eine oder andere seiner Mitgefangenen war in Hysterie verfallen, nachdem sie auf den Laster verladen und abtransportiert worden waren. Eine Erklärung wurde ihnen nicht gegeben. Jetzt befanden sie sich in einer ähnlichen Anlage wieder, aus der sie gekommen waren. Sie würden durch ein tarnfarbenes Tor ins Innere eines Felsens getrieben. Auch hier gab es ein Aggregat, das für
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Strom sorgte, auch hier brannten Lampen und sorgten für Helligkeit. Es gab in dem Stollen verschiedene Räume. In zwei davon wurden die Gefangenen eingeschlossen. Harrer und Johann Weiser befanden sich zusammen mit sechs anderen Gefangenen in einem Verlies. »Warum mag man uns verlegt haben?«, fragte Weiser auf deutsch. »Keine Ahnung«, versetzte Harrer ebenfalls in seiner Muttersprache. »Vielleicht war das bisherige Versteck nicht mehr sicher genug. Ich weiß es nicht.« Einer sagte etwas in einer Sprache, die Harrer nicht verstand. Er vermutete, dass es polnisch war. »Sprechen Sie englisch?«, fragte er in dieser Sprache. »Yes«, antwortete der Pole. »Was hat man mit uns vor? Weshalb hat man uns verlegt?« »Das wissen wahrscheinlich nur Gott und die Freischärler. Jedenfalls können wir unsere Hoffnung, befreit zu werden, wahrscheinlich begraben.« Harrer sprach es und dachte an seine Kampfgefährten von SFO. Er vermutete sie in Bagdad. Noch zwei Tage bis zum Ablauf des Ultimatums. Also zwei Tage Galgenfrist. Drei Freischärler betraten den Raum. Zwei hielten die Gefangenen mit MPis in Schach, der dritte deutete auf Harrer und einen der Polen und rief: »Ihr beide - mitkommen!« Harrer und der Pole folgten der Anordnung. Als sie den Raum verlassen hatten, wurde die Tür abgeschlossen. Sie wurden ins Freie bugsiert. Hier standen etwa ein Dutzend Freischärler. Einer hielt eine Videokamera in den Händen. Der Bursche, der sie zum Mitkommen aufgefordert hatte, sagte: »Wir sind verraten worden.« Er schaute Harrer an. »Der Mann, der dich angeblich festgenommen hat bei dem Überfall auf den Konvoi, ist ein verdammter Verräter. Er hat fünf unserer Kämpfer getötet und einen Lastwagen gestohlen. Das können wir natürlich nicht hinnehmen. Daher werden wir euch beide jetzt hinrichten und das Video dem Sender El Dschasira zuspielen, damit die Welt sieht, wie wir auf Verrat reagieren. Hinknien!« »Bitte«, begann der Pole zu zetern. »Nicht erschießen. Ich - ich…«
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Der Bursche mit der Videokamera filmte. Jemand trat dem Polen in die Kniekehlen, er fiel auf die Knie nieder, zerrte an seinen Fesseln und begann zu weinen. »Ich habe eine Familie in Polen, die mich braucht«, stammelte er unter Tränen. »Bitte, erschießen Sie mich nicht. Ich bin nicht in euer Land gekommen, um Krieg zu führen. Ich gehöre zum Internationalen Roten Kreuz. Nach der Genfer Konvention…« »Die Genver Konvention interessiert hier nicht«, knurrte Harrer und kniete sich nieder. »Hören Sie auf zu weinen, Mann. Glauben Sie im Ernst, Sie können einer dieser Kerle mit Tränen rühren?« »Ich - ich will nicht sterben.« »Was wir wollen, danach fragen diese Kerle nicht«, versetzte Harrer mit belegter Stimme. Er hatte abgeschlossen. Hier würde er innerhalb der nächsten zwei Minuten wahrscheinlich ein unrühmliches Ende finden. »Wollt ihr der Welt noch etwas mitteilen?« , fragte der Anführer der schiitischen Freischärler spöttisch. »Nein«, antwortete Mark Harrer. Hinter ihn trat jemand. Sand knirschte unter den Schritten. Harrer spürte einen harten Druck zwischen den Schulterblättern. Es war die Mündung eines Gewehrs. Er hörte den Polen neben sich aufschreien. Harrer schloss die Augen. Dumpf schlug das Herz in seiner Brust. Sein Hals war wie zugeschnürt. Gedanken schwirrten durch seinen Kopf. Da waren Bilder aus seiner Kindheit, da war das Gesicht seiner Mutter. Er dachte an seinen Vater, den er in Deutschland in einer Trinkerheilanstalt zurückgelassen hatte. Es war wie der Schnelldurchlauf eines Films über sein Leben. Neben Mark Harrer wimmerte der Pole steinerweichend. Plötzlich rief jemand etwas. Ein Befehl wurde erteilt. Der Druck verschwand von Harrers Rücken. Der Anführer der Freischärler eilte davon. Harrer drehte den Kopf. Sein Blick folgte dem Burschen. Er lief zu einem Jeep, der an der Felswand abgestellt war und griff nach dem Mikrofon der Funkanlage. Harrer sah den Mann etwas sagen. Dann lauschte er. Schließlich
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nickte er und seine Lippen bewegten sich wieder. Dann übergab er das Mikrofon dem Burschen, der die Funkanlage in dem Jeep bediente. Er kam zurück und blaffte etwas. Harrer und der Pole wurden auf die Beine gezerrt und zurück in den Bunker bugsiert. Gleich darauf saßen sie wieder in ihrem Verlies. Noch nachträglich rann Harrer ein Schauer über den Rücken, wenn er daran dachte, dass er jetzt schon hätte tot sein können Er fragte sich, was den Sinneswandel der Freischärler bewirkt hatte. Die Antwort auf diese Frage erhielt er allerdings nicht. Überschwänglich wurden sie von den anderen Gefangenen begrüßt. Es war, als wären sie froh, dass Mark Harrer nicht getötet worden war, als würde er ihnen Halt und Stärke vermitteln. *** Donnerstag, 0655 OZ, in der Schlucht, in die das SFO-Team eingedrungen war: »Rückzug!«, stieß Colonel Davidge hervor. »Wir müssen uns eben den Weg freischießen.« Die Waffen schwiegen seit wenigen Minuten. »Ich versuche, den Lastwagen zu erreichen«, knurrte Topak. »Ich wette, dass der Schlüssel steckt.« Er machte Anstalten, seinen Entschluss in die Tat umzusetzen. Aber Davidge hielt ihn zurück. »Warten Sie, Corporal. Sie hätten keine Chance, den Laster zu erreichen. Um unser Leben sinnlos auf’s Spiel zu setzen, sind wir nicht hier.« »Aber es wäre eine Chance…« Da erklang erneut Motorengeräusch. Die Gewehre der schiitischen Aufständischen begannen zu hämmern. Querschläger jaulten. Die Schlucht war voll vom Donnern der Schüsse. »Rückzug!«, befahl Davidge. »Das sind Leblanc und Dr. Lantjes.« Die SFO-Leute sprangen auf und rannten schießend ein Stück den Weg zurück, den sie gekommen waren. Sie erreichten das Fahrzeug der Schiiten und benutzten es als Deckung. Der Lastwagen mit
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Leblanc am Steuer holperte durch die Schlucht und kam näher. Einer der schiitischen Kämpfer stürzte von einem Felsen, auf dem er sich verschanzt hatte. Ein zweiter taumelte getroffen aus einem Riss in der Felswand und brach zusammen. Es war die Hölle. Der Laster, mit dem Leblanc und Dr. Lantjes kamen, hielt hinter dem anderen Fahrzeug an. Dr. Lantjes sprang heraus, kniete neben dem Vorderreifen ab und erwiderte das Feuer der Freischärler. Feurige Garben zuckten aus der Mündung ihrer MP7. Geduckt rannten Davidge und seine Leute an der Felswand entlang. Einer der getroffenen Gegner versuchte, davonzukriechen. Nach zwei Schritten blieb er reglos liegen. Marisa Sanchez erreichte den Lastwagen zuerst. Sie ging in Deckung und gab Davidge und den anderen - ebenso wie Dr. Lantjes Feuerschutz. Sie jagten ihre Kugeln in die Schlucht hinein oder hielten auf die Gegner, die sich zu beiden Seiten verschanzt hatten. Als nächster kam Corporal Topak bei dem Laster an, gleich nach ihm Alfredo Caruso und dann trafen auch Davidge und Hamadi ein. Leblanc hatte das Führerhaus ebenfalls verlassen und feuerte das Rohr seiner MPi heiß. Sie zwangen die Gegner mit ihren Geschossen in Deckung. Unter dem Feuerschutz von Davidge, Leblanc und Dr. Lantjes stiegen Sanchez, Caruso und Topak auf die Ladefläche des Fahrzeugs. Sie warfen sich flach auf den Boden. Kugeln durchschlugen die Plane und pfiffen über sie hinweg. Abdul Hamadi rannte ein Stück in der Schlucht zurück. »Sind Sie wahnsinnig?«, brüllte Davidge. Hamadi packte den Burschen, der vorhin davonkriechen wollte, am Kragen und schleppte ihn mit sich. Um ihn herum pflügten Kugeln den Boden. Ein Geschoß streifte ihn am Oberarm. Hamadi schaffte es fast bis zum Lastwagen der Schiiten. Dann wurde er getroffen. Er ließ den Kerl, den er mit sich schleifte, los, taumelte noch zwei Schritte und brach dann zusammen. »Verdammt!«, brüllte Davidge. »Es hat Hamadi erwischt. Wir müssen ihn mitnehmen. Gebt mir Feuerschutz.«
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Leblanc und Dr. Lantjes feuerten, was das Zeug hielt. Geduckt rannte Davidge zu dem reglosen Agenten hin. Neben ihm warf er sich flach zu Boden. Hamadi lebte noch. »Verschwinden Sie, Colonel«, flüsterte er. »Mit mir geht es dahin. Schnappen Sie sich lieber den Schiiten, quetschen Sie ihn aus. Großer Gott, ich - ich spüre keinen Schmerz, Colonel. Gleich - ist - es - vorbei.« Hamadis Kopf rollte auf die Seite. Gebrochene Augen starrten hinauf zum ungetrübten Himmel. Davidge lag neben dem Toten. Wenn er den Arm ausstreckte, konnte er den bewusstlosen Schiiten berühren. Maschinenpistolen hämmerten. Davidge empfand es wie ein Wunder, dass er noch nicht getroffen worden war. Zum Nachdenken hatte er keine Zeit. Einem jähen Impuls folgend, packte er den besinnungslosen Schiiten am Kragen seiner Jacke, dann arbeitete er sich Zentimeter um Zentimeter zurück. Er lag auf dem Bauch und kroch rückwärts. Den schiitischen Kämpfer schleifte er mit sich. Hin und wieder schickte er einhändig einen Feuerstoß aus der MPi in die Runde. Ihm gelang der Rückzug. Sanchez, Caruso und Topak lagen hinter den Bordwänden des Lasters, hatten mit ihren Kampfmessern Löcher in die Plane geschnitten und feuerten die Magazine leer. Davidge erreichte das Fahrzeug der Schiiten, richtete sich in dessem Schutz auf und rannte, den Schiiten am Kragen hinter sich herzerrend, zu dem hinteren Laster. Topak sprang ab und half dem Colonel, den Besinnungslosen auf die Ladefläche zu heben. »Wir verschwinden!«, brüllte Davidge. Er und Topak kletterten auf die Ladefläche. Dr. Lantjes und Leblanc stiegen ins Führerhaus. Dr. Lantjes ging vor dem Armaturenbrett in Deckung. Leblanc beugte sich weit nach vorn, lag mit seinem Oberkörper fast auf dem Lenkrad. Er legte den Rückwärtsgang ein, ließ die Kupplung sausen und gab Vollgas. Die Räder drehten durch, dann griffen sie, und der Laster vollführte regelrecht einen Satz nach hinten. Die Schiiten sprangen aus ihren Deckungen und rannten dem Lastwagen hinterher. Einige stiegen auf das zurückgebliebene Fahrzeug, einer klemmte sich hinter das Steu-
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er. Der Lastwagen mit dem SFO-Team war schon mehr als 50 Yards entfernt. Dr. Lantjes war nicht mehr auf Tauchstation, sondern feuerte aus dem Seitenfenster und traf zwei der Schiiten. Der Laster mit den Aufständischen setzte sich in Bewegung. Dr. Lantjes änderte das Ziel. Sie schoss nicht mehr auf die Schiiten, sondern auf die hinteren Räder des Lasters. Und sie traf. Es gab einen mächtigen Knall, als einer der Reifen platzte. Die Luft entwich schlagartig, der Laster kam ins Schleudern und prallte gegen einen Felsen. Zwei - drei der Freischärler stürzten über die Bordwand und krachten auf den felsigen Boden. Leblanc nahm ein wenig das Gas zurück. Es war nicht einfach, in der Schlucht nur mit Hilfe der beiden Seitenspiegel mit halsbrecherischem Tempo rückwärts zu fahren. Geschosse aus den MPis und Schnellfeuergewehren der Aufständischen fauchten ihnen hinterher. Mehrere Kugeln durchschlugen die Windschutzscheibe und die Rückwand der Fahrerkabine. Doch dann bogen sie um den Knick der Schlucht und waren aus dem Schussfeld. »Hervorragend, Pierre«, rief Dr. Lantjes aufatmend und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. »Ohne deine Fahrkünste…« Sie brach ab. Es bedurfte keiner weiteren Worte, um zum Ausdruck zu bringen, dass Leblanc eine großartige Leistung vollbracht hatte. Als die Felswände etwas auseinander traten, wendete Leblanc das Fahrzeug. Dann rasten sie aus der Schlucht. Sie waren noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen. Als sie sich in Sicherheit wiegen konnten, hielt Leblanc an. Dr. Lantjes stieg auf die Ladefläche um und kümmerte sich um den verwundeten Freischärler. Er hatte eine Kugel unterhalb des Schlüsselbeines in die rechte Schulter bekommen. »Daran stirb er nicht«, erklärte Dr. Lantjes. »Ich frage mich, ob sich die Geiseln noch an dem Ort befinden, den uns Hamadi genannt hat«, knurrte Davidge. Ihre Aktion war ein Fehlschlag gewesen. Er sorgte sich um die Geiseln. Vor allem Mark Harrers Schicksal lag ihm am Herzen. Er wollte auf keinen Fall ohne Mark Harrer in die Staaten zurückkehren.
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›Keiner bleibt zurück!‹ Das war der Kodex, dem sie sich alle unterworfen hatten. Zweifel stellten sich bei Davidge ein. Er fragte sich, ob Harrer überhaupt noch lebte. Wenn er als Angehöriger einer Spezialtruppe identifiziert worden war, war es nicht auszuschließen, dass ihn die sogenannten Freihheitskämpfer sofort liquidiert hatten. Davidge schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass dem nicht so war. Von Hamadi hatte er erfahren, dass Harrer zunächst in das Versteck zu den anderen Geiseln gebracht worden war. Davidge redete sich ein, dass Harrer noch lebte. Er wollte die Hoffnung ganz einfach nicht aufgeben. *** Bagdad, Büro des Kommandeurs der in der Stadt stationierten amerikanischen Streitkräfte Donnerstag, 1346 OZ »Die Kidnapper haben wieder einen Toten präsentiert«, sagte Oberst Sheridan. »Dieses Mal war es ein Südkoreaner. Diese elenden Schufte. Dabei wurde ein Waffenstillstand ausgehandelt. Die Kämpfe in Falludscha sind eingestellt. Es soll Verhandlungen mit einer Delegation der ›Mardschaija‹ geben, um über einen gemeinsamen Ausweg aus der Krise im Irak zu verhandeln.« »Vielleicht beugt sich el Sadr entgegen seiner Ankündigung nicht dem Beschluss der Mardschaija«, gab Major McGregor zu verstehen. »Wenn es so ist, dann gilt auch das Ultimatum, das er den Briten gesetzt hat, um ihre Soldaten abzuziehen. Und dann befinden sich die Geiseln nach wie vor in höchster Gefahr.« Das Telefon auf dem Schreibtisch Colonel Sheridans dudelte. Der Kommandeur griff nach dem Hörer und hob ihn vor sein Gesicht. Er meldete sich, dann lauschte er. Schließlich sagte er »vielen Dank«, dann legte er den Hörer auf und wandte sich dem Major zu. »In Falludscha sind die Kämpfe wieder entbrannt, obwohl eine Aussetzung offensiver Operationen in der Stadt angekündigt war. In Al Gharma haben Aufständische unsere Soldaten angegriffen. Es hat Tote und
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Verletzte gegeben. El Sadr hat Nadschaf mit unbekanntem Ziel verlassen.« »Das ist sicher nicht gut für die Geiseln«, murmelte McGregor. »Übermorgen läuft das Ultimatum ab. Wir haben gerade noch 48 Stunden Zeit, die Geiseln zu befreien. Nach Ablauf des Ultimatums werden die Aufständischen ihre Drohung in die Tat umsetzen. Dass sie es verdammt ernst meinen, haben sie mit drei toten Geiseln bewiesen.« »Solange wir nicht wissen, wo sich die Geiseln befinden, haben wir auch keine Chance, sie zu befreien.« »Es gibt einen gefangenen Aufständischen, Sir«, sagte McGregor. Der Colonel, der sich erhoben und eine unruhige Wanderung in seinem Büro aufgenommen hatte, hielt an und starrte McGregor verdutzt an. »Einen gefangenen Aufständischen?«, echote er. »Ja, Sir. SFO und der CIA-Agent Hamadi haben das Versteck der Geiseln ausfindig gemacht. Allerdings gingen sie, als sie die Geiseln befreien wollten, den Aufständischen in die Falle. Es ist davon auszugehen, dass die Geiseln an einen anderen Ort geschafft wurden. Das SFO-Team hat aber einen der Freischärler gefangen genommen. Er befindet sich im Lazarett, denn er wurde verwundet. Er ist jedoch vernehmungsfähig. Vielleicht spricht er und verrät, so sich die Geiseln nunmehr befinden.« »Diese islamistischen Fundamentalisten sind viel zu fanatisch, um ihre Gefährten zu verraten. Eher sterben sie.« »Es hat während des Krieges schon viele Überläufer gegeben, Sir. Warum also sollten wir den Gefangenen nicht auf unsere Seite ziehen können?« Der Colonel nahm seine unruhige Wanderung wieder auf. Er hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt und hielt den Kopf gesenkt. Er sagte: »Versuchen Sie es, Major. Sie haben freie Hand. Stellen Sie dem Burschen sonst etwas in Aussicht, falls er sich weigert, zu reden. Drohen Sie ihm ruhig. Versprechen Sie ihm andererseits aber alles, was er will, falls er bereit ist, eine Aussage zu machen.« »Vielen Dank, Sir. Wir werden noch in dieser Stunde mit der Einvernahme beginnen.« Der Major erhob sich. »Bin ich entlassen,
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Sir?« »Ja, Major. Halten Sie mich auf dem Laufenden.« »Natürlich, Sir.« McGregor salutierte, schwang herum und ging zur Tür. Ehe er sie jedoch öffnete, wandte er sich noch einmal um. »Auf ein Wort noch, Sir.« »Ja.« »Über dem Irak kreisen doch sicher eine ganze Reihe von Satelliten, die während des Krieges Truppenbewegungen der irakischen Armee ausspionieren sollten. Vielleicht besteht die Möglichkeit, die verschiedenen Satellitenaufnahmen auszuwerten, und wenn wir Glück haben, wurde aufgezeichnet, wohin sich die Entführer mit ihren Geiseln gewandt haben.« »Wenn sie überhaupt den Bunker verlassen haben, den SFO zu stürmen versuchte«, antwortete der Colonel. »Aber ich werde mich darum kümmern, Major. Natürlich, es ist eine Möglichkeit, die wir nicht außer Acht lassen dürfen.« McGregor begab sich ins Hotel Palestine. Dort traf er Colonel Davidge. In Davidges Zimmer sagte der Major: »Ich habe grünes Licht von Colonel Sheridan, den Gefangenen, den sie nach Bagdad brachten, zu verhören. Der Colonel hat mich mit allen Befugnissen ausgestattet. Ich kann dem Burschen die Hölle versprechen, aber auch den Himmel. Es wird an ihm liegen, wofür er sich entscheidet.« »Ich komme mit«, sagte Davidge. »Sicher. Ich muss nur noch für einen Dolmetscher sorgen. Und dann nehmen wir den Burschen etwas in die Mangel.« Eine knappe Stunde später standen sie vor dem Bett, in dem der Verwundete lag. Um seine Brust und seine Schulter schlang sich ein weißer Verband. Der rechte Arm lag in einer Schlinge. Der Schute starrte die drei Männer an, die sich eingefunden hatten. Seine Augen glänzten fiebrig. »Wie ist Ihr Name?«, fragte McGregor. Der Dolmetscher übersetzte. »Gamil Hariri.« »Sie sind Gefangener der US-Streitkräfte, Hariri«, erklärte der Major.
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»Ich weiß.« »Ihre Gruppe hat eine Reihe von Geiseln in ihrer Gewalt. Die Geiseln wurden in einem Bunker in der Hochebene gefangen gehalten, die heute morgen eine Spezialeinheit zu erstürmen versuchte. Es sind jene Männer und Frauen, die Sie gefangen genommen haben, Hariri. Wo befinden sich die Geiseln? Werden sie noch in dem Bunker gefangen gehalten, oder hat man sie an einen anderen Ort gebracht.« »Ich werde Ihnen nichts sagen. Allah wird mir die Kraft geben, zu schweigen.« »Es wäre zu Ihrem Besten, wenn Sie uns Rede und Antwort stehen würden.« »Foltert mich, tötet mich. Ihr werdet von mir nichts erfahren.« Davidge mischte sich ein. »Die Männer, die ihr gefangen habt, gehören keiner Kampftruppe an. Es sind Sanitäter. Die meisten von ihnen wurden vom Internationalen Roten Kreuz in den Irak geschickt. Sie haben auch euren Verwundeten geholfen. Auch Ihnen wurde geholfen, Hariri.« »Wir lassen Sie laufen, sobald Sie gesund sind, wenn Sie sprechen«, fügte der Major hinzu. In Hariris Augen blitzte es auf. »Ich glaube Ihnen nicht, Major.« »Sie haben mein Wort.« »Sind Sie überhaupt befugt?« »Ja.« Das interessierte Glitzern in den Augen des Verwundeten erlosch. »Ich glaube Ihnen nicht. Sie wollen, dass ich meine Gefährten verrate, und Sie denken nicht daran, mich laufen zu lassen.« »Sie haben das Wort eines amerikanischen Offiziers«, knurrte Davidge. »Das ist einem Schwur gleichzusetzen. Also reden Sie schon, Mann. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Ihnen ist doch klar, dass man Sie nicht mit Samthandschuhen anfassen wird, wenn die Geiseln getötet werden?« »Allah wird mich beschützen. Wenn ich gefoltert oder getötet werde, so ist es sein Wille. Allah ist allmächtig.« »Es ist zwecklos.« So wandte sich McGregor an Davidge. »Hariri ist unsere einzige Hoffnung«, erwiderte Davidge. »Natür-
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lich können wir noch einmal versuchen, auf die Hochebene vorzudringen. Vielleicht gelingt es uns auch sogar. Wahrscheinlich kommen wir beim zweiten Mal sogar ungeschoren durch, wenn die Geiseln sich nicht mehr in dem Bunker befinden und die Freischärler abgezogen worden sind. Es wäre verlorene Zeit, Major.« »Wir können Hariri nicht zwingen, zu sprechen. Gewalt will ich nicht anwenden und werde ich auch nicht anwenden. Es würde zu nichts führen. Hariri hat uns seine Einstellung unmissverständlich klar gemacht. Verlorene Zeit ist es, sich noch länger mit ihm zu beschäftigen. Auf welche Weise auch immer.« »Lassen Sie mich mal ran.« »Es ist nutzlos…« »Übersetzen Sie«, sagte Davidge zu dem Dolmetscher. »Sagen Sie ihm, dass er vorzügliche ärztliche Behandlung erfährt und freigelassen wird, sobald er gesund ist. Sagen Sie ihm, dass wir ihn einem irakischen Gericht ausliefern werden, wenn er nicht spricht, und dass ihm ein Todesurteil sicher ist. Fragen Sie ihn, ob er einen sinnlosen Tod sterben möchte. Sein Tod wird nämlich ebenso sinnlos sein wie der Tod der Geiseln. Seine Gefährten erreichen nichts, wenn sie die Geiseln ermorden. Aber auch gar nichts. Ihr Tod und sein Tod werden nichts bewirken.« Der Dolmetscher redete auf den Verwundeten ein. »Wenn ich sterben soll, dann ist das mein Schicksal«, entgegnete der Schute. Er drehte den Kopf zur Seite, Zeichen dafür, dass er nicht mehr bereit war, noch irgendetwas zu sagen. McGregor seufzte. Davidges Blick hatte sich an dem Verwundeten regelrecht verkrallt. Es war, als wollte er ihn hypnotisieren. *** Versteck der Geiseln, Donnerstag, 1423 OZ Mark Harrer zerrte an seinen Fesseln. Sie hielten. Die anderen Gefangenen beobachteten ihn. Einer der Polen sagte:
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»Geben Sie es auf, Harrer. Die Fesseln können Sie nicht sprengen. Es ist unmöglich.« »Warum helfen Sie mir nicht?«, keuchte Harrer. Schweiß rann ihm über das Gesicht und brannte in seinen Augen. »Wie sollte ich Ihnen helfen? Ich kann mich selbst kaum rühren.« »Wir versuchen, mit den Stühlen zusammenzurücken«, erklärte Harrer. »So, dass wir Rücken an Rücken sitzen. Dann versuchen Sie, meine Fesseln zu öffnen.« »Was haben wir davon? Wir kommen nicht hinaus. Wir provozieren diese Mörder allenfalls nur noch.« Johann Weiser stieß hervor: »Sie würden riskieren, dass wir alle erschossen werden, Harrer. Ich war dabei, als Steiner und Svenson einen Ausbruchsversuch unternahmen. Am Ende waren beide tot.« »Versuchen wir es trotzdem«, beharrte Mark auf seinem Beschluss. »Helfen Sie mir.« »Mehr als erschießen können sie uns nicht«, knurrte der Pole. Dann scharrten Stuhlbeine über den Boden. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich Harrer und der Pole Rücken an Rücken gegenübersaßen. Der Pole begann an Harrers Fesseln zu zerren und zu zupfen. Einer seiner Fingernägel brach. »Es hat keinen Sinn«, keuchte der Mann. »Versuchen Sie es weiter«, stieß Harrer hervor. »Es ist unsere einzige und letzte Chance. Wenn wenigstens einer von uns entkommen könnte, um Hilfe zu holen.« »Es wäre der Untergang für die Zurückbleibenden«, erregte sich Johann Weiser. »Zur Hölle mit Ihnen, Harrer. Ich durchschaue sie. Sie riskieren die Flucht und lassen uns zurück. Unser Schicksal interessiert Sie nicht die Bohne. Hauptsache, Sie können Ihren Arsch retten.« »Sie reden Unsinn, Weiser«, murmelte Harrer. »Aber ich schreibe es Ihrer Erregung zu. Wenn Sie nur ein wenig nachdenken würden, dann kämen Sie selbst zu dem Ergebnis, dass die Entführer euch brauchen. Zumindest bis Samstag, um Druck auf die Staaten auszuüben, die Besatzungssoldaten in den Irak geschickt haben. Falls es wirklich zu Verhandlungen kommen sollte, müssen die Entführer euch lebendig präsentieren können.«
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Der Pole zog und zerrte an Harrers Handfesseln. Und plötzlich lockerten sich die Schnüre. »Himmel, Sie schaffen es«, entrang es sich Harrer. »Machen Sie weiter.« Und nach kurzer Zeit. »Hervorragend. Meine Hände sind frei.« Die Schnüre fielen zu Boden. Harrer knüpfte die Schnüre auf, mit denen er auf den Stuhl gefesselt war. Dann massierte er seine Handgelenke. Er verzog das Gesicht, als das Blut schmerzhaft in seinen Fingern zirkulierte. »Befreien Sie uns von unseren Fesseln«, drängte Weiser. »Machen Sie schon, Harrer.« Doch Harrer schüttelte den Kopf. »Wenn ich alleine fliehe, stehen meine Chancen schon schlecht genug. Aber immerhin gibt es eine Chance. Gemeinsam schaffen wir die Flucht aber auf keinen Fall.« »Verdammt, Harrer, ich wusste doch, dass es Ihnen nur darum geht, den eigenen Arsch zu retten. Die Pest an Ihren Hals.« »Halten Sie die Klappe, Mann«, wies ihn einer der Polen zurecht. »Harrer hat recht. Alleine hat er vielleicht eine Chance von neun zu eins. Wenn wir die Flucht gemeinsam versuchen, ist unsere Chance gleich Null.« »Diese verdammten Schiiten werden uns erschießen!«, ereiferte sich Weiser. »Dieses Risiko müssen wir eingehen. Erschießen würden sie uns auch, wenn wir gemeinsam die Flucht versuchen. Ein Mann allein kann sich vielleicht durchschlagen. Als Gruppe aber…« Zähflüssig verrannen die Stunden. Irgendwann wurden Geräusche laut. Jemand schloss die Stahltür auf. Ein Riegel schepperte. Mark Harrer glitt an die Wand neben der Tür heran. Wenn sie aufschwang, war er vom Türblatt gedeckt. Er musste alles auf eine Karte setzen. Die Tür wurde aufgedrückt. Den Gefangenen wurde das Essen gebracht. Drei Bewaffnete begleiteten den Burschen, der das Tablett trug. Sie sahen Harrer nicht hinter der Tür. Als der letzte Mann im Raum war, sprang Harrer ihn von hinten an. Er schlang ihm den linken Arm um den Hals, ein Ruck und der Bur-
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sche erschlaffte. Mit einem Griff hatte Mark Harrer die MPi, die der Schute mit beiden Händen gehalten hatte. Die beiden anderen Bewaffneten wirbelten herum. Aber der Deutsche sprang schon durch die Tür und zog sie zu. Er drosch mit der linken Hand den Riegel in die Halterung. Im Raum begann eine MPi zu rattern. Die Kugeln durchschlugen das Stahlblech der Tür mit Leichtigkeit. Aber Harrer eilte schon auf das Tor zu, das aus dem Berg führte und dessen rechter Flügel offen stand. Bei dem Tor verhielt er. Draußen herrschte Alarmstimmung. Die Schüsse, die in dem Verließ abgefeuert worden waren, hatten die Kerle alarmiert. Einige rannten auf das Tor zu, neben dem Mark Harrer nun auf das linke Knie niederging. Er befand sich in der Deckung des geschlossenen Flügels. Vier, fünf Mann rannten ihn ihm vorbei. Im Verlies schwieg jetzt die MPi. Dafür erhob sich Geschrei. Jemand trat wiederholt gegen die Stahltür. Das dumpfe Geräusch erfüllte den Stollen, der in den Berg führte. Harrer sprang ins Freie und warf den Torflügel zu. Dann rannte er los. Eine MPi begann zu knattern. Harrer stieß sich ab, flog fast waagerecht durch die Luft, rollte sich über die Schulter ab und kam, vom eigenen Schwung getrieben, wieder auf die Beine. Er wandte sich dem MPi-Schützen zu, der sich nicht schnell genug auf das so jäh veränderte Ziel einstellen konnte. Eine Feuergarbe stieß aus der Mündung der MPi, die Harrer erbeutet hatte. Der Gegner wurde getroffen, hing für die Spanne einiger Atemzüge schräg in der Luft, dann krachte er zu Boden. Harrer rannte schnell wie nie vorher in seinem Leben. Sein Ziel war ein Felsspalt, etwa 100 Yards von dem Bunker entfernt. Seine Füße schienen kaum noch den Boden zu berühren. MPis hämmerten. Eine Kugel streifte glühendheiß den Oberarm des Flüchtenden. Er schlug Haken wie ein Hase. Und er erreichte den Riss im Felsen, der ihm zunächst Schutz und Sicherheit bot. Seine Lungen stachen. Sein Atem rasselte. Schweiß rann ihm in Strömen über das Gesicht, und es war nicht nur die Hitze, die ihn ihm aus den Poren trieb.
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Lautes Gebrüll folgte ihm. Harrer rannte weiter. Der Riss war schmal. Der Boden stieg an. Es war wie ein natürlicher Pfad. Der Deutsche hatte keine Ahnung, wo er endete. Er kämpfte sich die Steigung empor, blickte gehetzt hinter sich, konzentrierte sich wieder auf den Weg und verschwand um einen Knick. Hinter dem Felsvorsprung hielt er an und presste die Hand flach gegen seine rechte Seite. Harrers Atem flog. Als er um den Felsvorsprung spähte, sah am Eingang des Risses zwei Männer. Er jagte eine Garbe aus der MPi nach unten. Die beiden wurden von den Treffern geschüttelt und brachen zusammen. Harrer gab sich keinen Illusionen hin. Er war noch lange nicht gerettet. Unten hielt jemand die MPi um den Felsvorsprung und gab blindlings einen Feuerstoß ab. Gesteinssplitter stoben durch die Luft, Querschläger jaulten Trommelfell betäubend. Harrer wartete nicht ab, bis sich Atmung und Pulsschlag dem regulären Rhythmus angepasst hatten. Er arbeitete sich weiter den Weg hinauf. Manchmal löste sich ein Geröllbrocken unter seinen Schritten und polterte den Hang hinunter. Der Deutsche floh immer höher hinauf. Dann endete der natürliche Pfad und er musste klettern. Er hängte sich die MPi um. Behände kletterte er über Felsen und wand sich durch Risse. Seine Lungen pumpten. Er war auf Ausdauer trainiert. Aber dieser Aufstieg war eine Tortur. Er riss sich am scharfen Gestein die Hände wund. Immer wieder rutschte er aus und schlug sich die Knie auf. Er biss die Zähne zusammen und ignorierte den Schmerz. Hinter sich hörte er die Verfolger kommen. Sehen konnte er sie nicht. Aber ihr Geschrei holte ihn ein. Sie waren ihm gegenüber im Vorteil, denn sie kannten diese Gegend wahrscheinlich sehr gut. Die Finsternis würde noch zwei oder drei Stunden auf sich warten lassen. Harrer gelangte in ein Hochtal. Er durchquerte es. Als er wieder zwischen die Felsen lief, wandte er sich um. Seine Verfolger strömten zwischen den Felsen hervor und begannen zu feuern, als sie ihn sahen. Wie giftige Hornissen pfiffen die Kugeln heran. Harrer ging hinter einem Felsen in Deckung und eröffnete seinerseits das Feuer. Die Schiiten rannten in Deckung. Ihre MPis ratterten.
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Mark Harrer lief zwischen die Felsen. Es ging wieder bergan. Er wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß aus den Augenhöhlen. Seine Augen brannten. Staub und Schweiß bildeten eine feine Schicht auf seiner Haut, die seine Poren verklebte. Er konnte nicht mehr. Keuchend lehnte er sich an den Felsen. Gleichgültigkeit befiel ihn. Er wollte resignieren. Seine Chance, seinen Verfolgern zu entkommen, war die eines Schneeballs in der Hölle. Du musst durchhalten, durchzuckte es ihn. Übermorgen läuft das Ultimatum ab. Dann erschießen sie die Geiseln. Du musst durchhalten, Mark, sonst sind sie verloren. Die Sorge um die Geiseln, die er zurückgelassen hatte, peitschte ihn vorwärts. Immer höher ging es hinauf. Harrer kletterte wie eine Bergziege. Von seinen Verfolgern hörte er nichts mehr. Versuchten sie, ihm den Weg abzuschneiden? Harrer fragte sich, wo er sich befand. Nachdem man sie aus dem ersten Versteck gebracht hatte, waren sie über eine Stunde kreuz und quer durch die Berge gefahren. Er orientierte sich am Stand der Sonne. Danach war es später Nachmittag. Sie stand weit im Südwesten. Harrer befand sich wieder auf einer Hochebene. Er wandte sich nach Westen, in der Hoffnung, auf der anderen Seite des Felsmassivs auf eine Straße zu stoßen. Am jenseitigen Rand der Ebene buckelten Felsen. Dahinter erhoben sich himmelstürmende Massive, und Harrer befürchtete schon, sie überqueren zu müssen, was ohne Bergsteigerausrüstung wohl kaum zu schaffen war. Es trieb ihn weiter. Zurück konnte er nicht. Würde er seinen Verfolgern in die Hände fallen, würden sie kurzen Prozess mit ihm machen, nachdem er einige von ihnen niedergeschossen hatte. Harrer schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass die Schiiten ihren Hass und ihre Wut nicht an den anderen Geiseln abreagierten. Seine Beine wurden schwer wie Blei. Die Sonne blendete ihn. Er taumelte nur noch dahin. Die Erschöpfung ließ seine Gesichtsmuskulatur erschlaffen. Seine Beine wollten ihn kaum noch tragen. ***
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Bagdad, Büro des Kommandeurs der in der Stadt stationierten amerikanischen Streitkräfte, Donnerstag, 1812 OZ Major Roger McGregor und Colonel Davidge hatten sich bei Colonel Sheridan eingefunden. McGregor sagte: »Der gefangene Schute ist nicht bereit, zu reden. Jeder weitere Versuch, ihn dazu zu bewegen, dürfte Zeitvergeudung sein.« Der Colonel seufzte. »Die Auswertung der Aufnahmen der Spionagesatelliten haben auch nichts Brauchbares ergeben. Ich habe jedoch ein Aufklärungsflugzeug losgeschickt. Es hat«, der Colonel schaute Davidge an, »entsprechend Ihrer Beschreibung, Colonel, die Hochebene mit dem Bunker entdeckt und Aufnahmen gemacht. Die Schiiten haben sich aus diesem Schlupfwinkel zurückgezogen. Wohin sie sich mit ihren Geiseln begeben haben, konnte der Aufklärer nicht ausfindig machen. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass es weitere, gutgetarnte Schlupfwinkel in der Felswüste gibt.« »Es ist zum Haareausraufen«, knurrte Colonel Davidge. »Haben sich die Entführer zwischenzeitlich gemeldet?« »Nein. Das letzte Lebenszeichen von ihnen gab es, als sie den toten Südkoreaner präsentierten.« »Dann sind wir dazu verdammt, abzuwarten, bis entweder die erpressten Staatsregierungen nachgeben oder die Entführer ein Video an El Dschasira schicken, das die Hinrichtung der Geiseln zeigt.« »Was bedeutet, dass SFO dieses Mal kein Erfolg beschieden ist«, versetzte der Colonel. »So sieht es aus«, gab Davidge zerknirscht zu. Der Colonel widmete seine Aufmerksamkeit dem Major und sagte: »Die Mardschaija hat zwischen der US-Zivilverwaltung und el Sadr einen Kompromiss erwirkt. Danach hat sich die US-Armee verpflichtet, ihre Truppen aus den Wohngebieten von Nadschaf abzuziehen.« »Ein ziemlich einseitiger Kompromiss«, knurrte der Major. »Die Milizen von el Sadr sollen im Gegenzug in eine politische Gruppierung umgewandelt werden, die die Kampfhandlungen einstellt. Es wären demnach keine Aufständischen mehr, sondern eine
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Oppositionspartei im Irak, wenn die US-Armee im Juni die Macht an die Iraker zurückgibt.« »Vielleicht werden im Zuge dieses Kompromisses die Geiseln freigelassen«, meinte Major McGregor. »Die Hoffnung besteht«, erwiderte der Colonel. »Wobei ich mich nicht darauf verlassen will.« Großer Gott!, durchfuhr es Davidge. Dieses Geschwätz bringt mich nicht weiter. Es geht um einen meiner Männer, und es geht um ungefähr anderthalb Dutzend Geiseln, deren Leben an einem seidenen Faden hängt. Wen interessieren in diesem Fall irgendwelche Kompromisse zwischen US-Zivilverwaltung und el Sadr? »Ist meine Anwesenheit noch vonnöten?«, fragte er, und es klang fast ein wenig ungeduldig. »Nein«, erwiderte der Colonel und hob die linke Braue, was seinem Gesicht einen überheblichen Ausdruck verlieh. Er schnarrte: »Ich kann es nicht ändern, Colonel. Ich habe mein Möglichstes getan. Unter Umständen ist Ihr Einsatz gar nicht mehr nötig. Möglicherweise kommen die Geiseln auch ohne Gewaltanwendung frei.« Unter Umständen! Vielleicht! Möglicherweise! Die Wörter klirrten durch Davidges Kopf. Es ist nichts Greifbares, was der Colonel zu bieten hat, durchfuhr es ihn. Eventualitäten! Beim Henker, das ist mir zu wenig. Aber was kann ich tun? Verdammt, verdammt! Ich glaube nicht daran, dass die Geiselnehmer nachgeben. Ihre Forderung steht. Der Kompromiss berührt die Geiselfrage nicht. Von ihrer Forderung abzuweichen, wäre in den Augen der aktiven Kämpfer ein Zeichen von Schwäche. Und Schwäche können sich die Anführer dieser elenden Freischärler nicht leisten. Sie müssten um ihre Glaubwürdigkeit fürchten. »Kann ich auch gehen, Sir?«, fragte der Major. »Ja.« Als sie draußen waren, wandte sich Davidge an McGregor. »Können Sie mir einen Hubschrauber zur Verfügung stellen, Major?« »Wozu?« »Ich würde mir die Hochebene, auf der die Geiseln gefangen gehalten wurden, gerne mal selbst aus der Luft ansehen.«
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»Was haben Sie davon? Sie haben es gehört. Ein Aufklärer hat Aufnahmen gemacht. Die Aufständischen haben sich aus der Hochebene zurückgezogen.« »Dennoch. Ich wäre Ihnen dankbar, Major.« »Von mir aus. Sie sollen Ihren Hubschrauber haben. *** Vor dem Felsmassiv fiel das Terrain ab. Mark Harrer stieg einen Geröllhang hinunter. Die ersten Schatten der Dämmerung woben zwischen den Felsen. Von der Sonne war nichts mehr zu sehen. Sie war hinter den Felsen verschwunden. Unten rastete Harrer. Er setzte sich auf einen halbyardhohen Felsbrocken. Wie es aussah, war er seinen Verfolgern entkommen. Aber er machte sich keine falschen Hoffnungen. Er befand sich mitten in der Ödnis und war ahnungslos, wo er die Straße suchen musste. Er konnte nur auf gut Glück versuchen, sie zu finden. Die Düsternis nahm zu. Den einsamen Mann trieb es voran. Er lief über einen Bergsattel und lenkte seine Schritte hangabwärts. Es ging zwischen die Felsen. Der Untergrund war sandig. Manchmal sank Harrer bis zu den Knöcheln in den Sand ein. Unbeirrbar stapfte er zwischen den Felswänden dahin. Dann lag ein Tal vor ihm. Er wollte schon die Deckung der Felsen verlassen, als er den Unterstand auf der anderen Seite sah. Ein Lkw, über den ein Tarnnetz gespannt war, stand dort. Waren das seine Häscher? Hatten Sie ihm den Weg abgeschnitten und warteten sie hier auf ihn? Harrer glaubte nicht daran. Er war sich aber sicher, dass sich in dem Tal ebenfalls aufständische Schiiten verkrochen hatten. Und sicher waren sie per Feldtelefon oder Funk informiert worden, dass eine Geisel entkommen war und durch das Gebirge irrte. Harrer blieb in dem Felsspalt und beobachtete den Lkw. Einige Männer trieben sich bei dem Fahrzeug herum. Harrer sagte sich, dass es eine Straße geben musste, auf der der Lkw in das Tal chauffiert
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worden war. Vielleicht führte sie zu einer der Überlandstraßen, die die Städte miteinander verbanden. Motorengeräusch erreichte Harrers Gehör. Ein Helikopter. Harrer hob den Blick. Sehen konnte er den Hubschrauber nicht. Das Geräusch aber schien sich zu nähern. Und dann sah Harrer den Helikopter. Es war ein Black Hawk. Er flog so tief, dass Harrer sogar den Piloten sehen konnte. Der Hubschrauber zog über ihn hinweg. Im Tal begann ein MG zu rattern. Der Hubschrauber drehte ab. Aus der Einstiegsluke des Black Hawk wurde das Feuer erwidert. Dort, wo die Kugeln einschlugen, spritzte das Erdreich und wehten kleine Staubfahnen in die Höhe. Dann verschwand der Helikopter. Das Motorengeräusch entfernte sich. Harrer hatte keine Ahnung, dass sich an Bord des Black Hawk Colonel Davidge und der Rest der SFO-Crew befunden hatten. Die Kerle bei dem Lastwagen kletterten auf die Ladefläche. Der Lkw wurde gestartet, rollte an und fuhr einen Bogen. Dann verschwand er zwischen den Felsen. Der Hubschrauber kam zurück. Harrer lief ein paar Schritte aus der Felskluft und ruderte mit den Armen, um auf sich aufmerksam zu machen. Aber der Helikopter zog über ihn hinweg. Er verfolgte den Lkw. MPi-Feuer vermischte sich mit dem Dröhnen des Motors und der Rotoren. Dann gab es eine Explosion. Wahrscheinlich hatte der MPi-Schütze den Benzintank des Lkw’s getroffen. Eine Stichflamme schoss zum Himmel, begleitet von einem schwarzen Rauchpilz. Harrer rannte los. Aber der Helikopter flog schon weiter. »Haben denn die ihre Wärmebildkamera nicht eingeschaltet?«, presste er im Selbstgespräch hervor. Der Black Hawk verschwand. Harrer lief durch das Tal. Zwischen den Felsen quoll Rauch empor. Harrer hoffte, dass vielleicht das Führerhaus des Lkw nicht zerstört und ein Funkgerät installiert war. Vorsicht war geboten. Es war nicht sicher, dass alle Aufständischen ums Leben gekommen waren.
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Er erreichte die Felswand und pirschte an deren Fuß entlang. Die MPi hielt er an der Hüfte im Anschlag. Dann hatte er Einblick in die Schlucht und sah den brennenden Lkw. Er stand in hellen Flammen. Das Feuer prasselte und lichtete die beginnende Dunkelheit. Es roch nach verbrennendem Gummi. Nirgendwo entdeckte Harrer Leben. Er schob sich um den Felsvorsprung herum, war angespannt bis in die letzte Körperfaser und bereit, sich sofort hinzuwerfen oder zurückzuspringen, wenn eine Waffe zu hämmern beginnen sollte. Die Kerle auf dem Laster und im Führerhaus aber schienen alle tot zu sein. Harrer rannte hin. Die Ladefläche war ein einziges Flammenmeer. Die Plane war verbrannt. Für die Männer, die sich hier befunden hatten, gab es keine Rettung mehr. Harrer machte einen weiten Bogen um das brennende Fahrzeug. Die Hitze war fast unerträglich. Die vorderen Räder brannten. Harrer sah den Fahrer. Er war über dem Lenkrad zusammengebrochen. Die Beifahrertür stand offen. Die Hitze machte es unmöglich, sich das Führerhaus näher anzusehen. Die Hoffnung, an ein Funkgerät heranzukommen, konnte Harrer begraben. Enttäuscht wandte er sich um. Da sah er die schattenhafte Gestalt tiefer in der Schlucht. Und dann begann auch schon eine MPi zu hämmern. Harrer warf sich flach zu Boden, rollte herum, erwiderte das Feuer. Aber sein Gegner war schon hinter einem Felsen verschwunden. Der Deutsche robbte nach rechts und gelangte ebenfalls in den Schutz eines Felsens. Er spähte darüber hinweg. Sofort wurde er unter Feuer genommen. Harrer zog den Kopf ein, kroch halb um den Felsen herum und gab einen Feuerstoß ab. Auch sein Gegner schoss. Es musste sich um den Beifahrer des Lkw handeln, dem die Flucht gelungen war. Harrer presste sich hart gegen den Fels. Die Beine waren lang ausgestreckt, den Oberkörper hatte er aufgerichtet. Die Rechte lag um den Griff der MPi, die Linke hielt den Schaft. Harrer lauschte, hob etwas den Kopf und äugte über den Felsen hinweg. Sein Gegner schlich sich an. Soeben verschwand er in einem Felsspalt. Der Deutsche hob die MPi und wartete. Der Freischärler
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zeigte sich nicht mehr. Harrer erhob sich. Geduckt schlich er vorwärts. Er stand unter einer ungeheueren inneren Anspannung. In der Schlucht ballte sich der Qualm und hüllte ihn ein. Ein Atemschutzgerät hatte er nicht. Er atmete nur flach, konnte aber nicht verhindern, dass giftiger Rauch in seine Lungen drang. Zoll um Zoll schob sich Harrer vorwärts. Den Blick hatte er unverwandt auf den Felsspalt gerichtet, in dem der Schute verschwunden war. Oberhalb gab es eine Felskanzel, und dahinter erhob sich fast senkrecht die Felswand. Harrers Blick glitt in die Höhe. Und plötzlich sah er seinen Gegner. Er lag bäuchlings auf der Felskanzel. Und jetzt stimmte seine MPi ihr höllisches Lied an. Flammenzungen zuckten in rasender Folge aus der Mündung. Harrer stieß sich ab, rannte in Zickzacklinie zur Schluchtmitte, wirbelte herum und feuerte. Seine Kugeln harkten in den Fels hinter der Felskanzel. Sein Gegner zog den Kopf ein und schob sich zurück. Harrer warf sich herum und rannte zu einem Felsen. Aufjapsend sprang er in Deckung. Sie belauerten sich. Die Dunkelheit nahm zu. Aus dem Wrack des Lasters schlugen nur noch vereinzelt die Flammen. Die Karosserie glühte stellenweise. Als die Dunkelheit dicht genug war, verließ Harrer seine Deckung. Er schlich tiefer in die Schlucht hinein. Sein Gegner schien nicht zu bemerken, dass er sich entfernte. Es war finster zwischen den Felswänden. Harrer konnte bald die Hand vor den Augen nicht mehr erkennen. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Die Gestalt des Deutschen verschmolz mit der Dunkelheit. Am Himmel glitzerten einige Sterne, aber ihr Licht reichte nicht aus, im den Grund der Schlucht zu erhellen. Hin und wieder stolperte der Mann über einen Felsbrocken. Er verlor jegliches Gefühl für die Zeit. Dann endete die Schlucht. Eine Ebene lag im Mond- und Sternenlicht vor Harrer. Er schaute zum Himmel. Der Mond stand im Südosten. An ihm orientierte sich Harrer. Der Weg durch die Schlucht hatte ihn südwärts geführt. Er wandte sich wieder nach Westen. Es wurde frisch. Harrer fröstelte es. Seine Füße schmerzten. Das Schuhwerk, das er trug, war für dieses halsbrecherische Terrain alles
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andere als geeignet. Erneut nahm ihn felsiges Terrain auf. Es ging abwärts. Und dann stieß Harrer auf einen Weg. Er war staubig und von Autoreifen aufgewühlt, und er verlief von Südwesten nach Nordosten. Harrer folgte ihm nach Südwesten. Zu beiden Seiten buckelten Felsen. Sie muteten den Deutschen an wie riesige, schlafende Raubtiere. Hier und dort wuchs ein Strauch am Wegesrand. Kilometerweit folgte Harrer dem staubigen Weg. Die Felsen wurden niedriger und traten schließlich ganz zurück. Hügeliges Land schloss sich an. Die Straße folgte den Windungen zwischen den Hügeln. Der Mond stand zwischenzeitlich im Süden. Harrer spürte die Erschöpfung bis ins Knochenmark. Er musste immer öfter anhalten und Pause machen. In der Ferne waren plötzlich zwei Lichtpunkte auszumachen. Die Scheinwerfer eines Autos. Vielleicht eine amerikanische Patrouille. Der Gedanke daran beflügelte Harrer. Der Wagen kam näher. Das Licht, das die Scheinwerfer verstrahlten, huschte vor ihm her. Harrer ging am Straßenrand in Deckung. Er war vorsichtig. Es konnte sich auch um ein Fahrzeug der aufständischen Schiiten handeln. Es war ein Laster. Harrer konnte das Kennzeichen erkennen. Es war kein amerikanisches. Also hatte er es wahrscheinlich mit Freischärlern zu tun. Egal! Harrer setzte alles auf eine Karte und sprang in die Straße. Die Scheinwerfer erfassten ihn. Der Lkw wurde abgebremst. Dann stand er drei Schritte vor Harrer. Durch die Windschutzscheibe waren zwei Männer zu erkennen. Zivilisten. Die Beifahrertür wurde geöffnet, ein Mann sprang aus dem Führerhaus. Trotz der Dunkelheit erkannte Harrer, dass er bewaffnet war. Er rief etwas auf arabisch. Harrer verstand ihn nicht. Er rief auf englisch: »Heb die Hände hoch! Vorwärts! Dein Gefährte soll aussteigen. Macht schon.« Der Bursche riss die Waffe hoch. Harrer schoss ohne lange zu überlegen. Der Mann kippte um wie ein gefällter Baum. Der Deutsche richtete die Waffe auf den Fahrer des Wagens. Die letzten Kugeln ratterten aus der MPi. Dann schlug der Bolzen in eine leere Kammer. Fluchend schleuderte Harrer die
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MPi von sich. Er bückte sich nach der Waffe des Beifahrers. Es war ein normales Sturmgewehr, das von Einzelfeuer auf Dauerfeuer umgestellt werden konnte. Gedankenschnell glitt Harrer in den Schutz des Lkw’s. Er konnte nicht ausschließen, dass sich auf der Ladefläche Männer befanden. Wie es schien, waren die beiden alleine unterwegs gewesen. Harrer öffnete die Fahrertür und zerrte den Toten ins Freie. Vor seiner Brust baumelte eine MPi am Tragegurt. Harrer nahm sie dem Toten ab und ließ dafür das Sturmgewehr zurück. Dann schwang er sich hinter das Lenkrad. Der Motor war abgestorben. Harrer startete ihn. Dann fuhr er los. An einer günstigen Stelle wendete er. Er empfand so etwas wie Triumph. Etwas Besseres als der Lastwagen hätte ihm gar nicht passieren können. Harrer fuhr etwa drei Meilen auf der staubigen Straße, dann mündete diese in eine Überlandstraße, und Harrer folgte ihr nach Westen. Nach fünf weiteren Meilen sah er Licht vor sich. Er fuhr langsamer. Dann sah er im Scheinwerferlicht einen Mann im Tarnanzug und einem Helm auf dem Kopf. Ein Amerikaner. Harrer atmete auf. Er war auf einen amerikanischen Kontrollpunkt gestoßen. Er brachte den Lkw zum Stehen und stellte den Motor ab. Da wurde auch schon die Fahrertür geöffnet. Ein Soldat hatte das M4 auf ihn angeschlagen. »Hände in die Höhe und aussteigen!«, befahl er. Da Harrer nicht das Opfer eines Irrtums werden wollte, befolgte er die Anordnung augenblicklich. Als er am Boden stand, sagte er: »Mein Name ist Mark Harrer. Ich bin Angehöriger von Special Force One und komme direkt aus dem Versteck der Geiselnehmer. Können sie eine Verbindung mit Major McGregor im Hauptquartier in Bagdad herstellen?« Jemand leuchtete Harrer mit einer Taschenlampe ins Gesicht. Geblendet schloss er sekundenlang die Augen… *** »Special Force One«, sagte der Soldat. »Was soll das denn sein?«
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»Eine Spezialeinheit, die den Vereinten Nationen direkt unterstellt ist. Ich bitte Sie, Soldat. Stellen Sie eine Verbindung mit Major McGregor in Bagdad her. Es ist wichtig. Ich weiß, wo sich die Geiseln der aufständischen Schiiten befinden.« »Sie sehen selbst aus wie ein Schiite oder Sunnit«, knurrte der Posten. Weitere Soldaten kamen näher. Die Mündung des M4 war nach wie vor auf Harrer gerichtet. Bei der geringsten falschen Bewegung seinerseits würde das Gewehr losgehen. Davon war Mark Harrer überzeugt. Die Nerven bei den Soldaten lagen zum Teil blank. Seit Beendigung des Krieges waren viele hundert Soldaten gestorben. Mehr als im Krieg selbst. »Was ist los?«, fragte ein Lieutenant. Er trug wie alle anderen Soldaten einen Kampfanzug und volle Ausrüstung. »Dieser Mister behauptet, zu einer Spezialeinheit zu gehören, die der UN unterstellt ist. Special Force One soll sich der Haufen nennen.« »UN-Resolution 58.732/879-SEC«, stieß Harrer hervor. »Sind Sie der verantwortliche Mann hier?« So wandte Harrer sich an den Lieutenant. »Ja«, bekam er zur Antwort. »Mein Name ist Harrer. Mein Dienstgrad ist Lieutenant. Die SFO ist im Irak, um die Geiseln der el Sadr-Truppen zu befreien. Ich wurde in dieser Verkleidung ebenfalls entführt. Mir ist jedoch am Abend die Flucht gelungen. Jetzt ist es sehr wichtig, dass wir unverzüglich handeln. Drum stellen Sie endlich mit Major McGregor im Hauptquartier in Bagdad Funkverbindung her.« Der Lieutenant nickte. »Ich habe von der Spezialeinheit gehört. Allerdings ist mir nicht bekannt, dass sie derzeit im Irak operiert. Können Sie sich ausweisen?« »Wo denken Sie hin, Lieutenant«, kam es grimmig von Harrer. »Ich sollte mich in dieser Verkleidung zusammen mit einem CIAAgenten nach Falludscha begeben, um etwas über den Verbleib der Geiseln herauszufinden. Ich sollte inkognito operieren. Unser Konvoi wurde überfallen. Ich wurde in den Schlupfwinkel zu den anderen
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Geiseln gebracht. Glauben Sie, dass es gut gewesen wäre, einen Ausweis mit sich zu führen, der mich als Angehörigen einer Spezialeinheit ausweist?« »Wie war Ihr Name gleich nochmal?« »Mark Harrer. Ich bin stellvertretender Gruppenführer von SFO. Gruppenführer ist Colonel John Davidge.« »Na schön«, sagte der Lieutenant. »Das klingt ziemlich glaubwürdig. Wir werden sehen.« Die Stimme des Offiziers hob sich. »Gordon, stellen Sie Funkverbindung mit dem Hauptquartier in Bagdad her. Schnell. Es ist wichtig.« Zwei Minuten später hing Harrer an der Strippe. »Ich bin es, Lieutenant Harrer von SFO, Major. Sie müssen sofort Colonel Davidge informieren. Ich bin den Schiiten entkommen und weiß, wo sich das Versteck befindet. Nach meiner Flucht ist jedoch zu befürchten, dass man die Geiseln wieder in ein anderes Lager bringt. Darum ist höchste Eile geboten.« »Bei welchem Kontrollpunkt befinden Sie sich.« »Augenblick.« Harrer wandte sich an den Lieutenant. »Was ist das für ein Kontrollpunkt?« »Checkpoint Easy.« »Okay«, sagte McGregor, nachdem ihm Harrer die Bezeichnung des Kontrollpunkts genannt hatte. »Ich schicke einen Hubschrauber, der Sie abholt. Er wird innerhalb der nächsten halben Stunde bei Ihnen sein. Meinen Glückwunsch übrigens, Lieutenant, dass Ihnen die Flucht gelungen ist. Ich begebe mich zu Davidge ins Hotel Palestine.« »In Ordnung«, sagte Harrer und beendete den Funkspruch. »Wieweit bin ich von Bagdad entfernt?«, fragte er den Lieutenant. »54 Meilen.« »Danke.« *** Hotel Palestine, Freitag, 0305 OZ
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Das Team von SFO war in der Hotelhalle versammelt. Die Teammitglieder hatten in ihren Seesäcken alles, was für den Einsatz notwendig war. Mark Harrer war noch nicht dabei. Er befand sich in seinem Zimmer und zog sich um. Harrer hatte nicht schlecht gestaunt, als er erfuhr, dass sich in dem Hubschrauber, der am Abend den Lkw samt Besatzung ausgeschaltet hatte, das SFO-Team befunden hatte. Die Gefährten waren ihm also ganz nah gewesen, doch ihre Aufmerksamkeit war von dem Lkw in Anspruch genommen worden und der einsame Mann, der am Rand der Hochebene gestanden und gewunken hatte, war ihnen nicht aufgefallen. Colonel Davidge war erleichtert. Harrer war zurück, und er lieferte sogar noch eine Beschreibung des Schlupfwinkels der aufständischen Schiiten, in dem die Geiseln festgehalten wurden. Major McGregor war anwesend. Dann kam Harrer. Er trug seinen Kampfanzug, an seinem Koppel hingen die MP7 und der Helm. Unter dem Kampfanzug trug er die kugelsichere Weste. Es wurde nicht viel geredet. Sie verließen das Hotel, wurden von zwei Jeeps aufgenommen und zum Stadtrand von Bagdad gefahren, wo drei Black Hawks auf sie warteten. Sie stiegen in einen der Helikopter um. McGregor blieb zurück. Die Hubschrauber hoben ab. Die beiden anderen Black Hawk flogen mit, um die Geiseln aufzunehmen. Während des Fluges wurde nicht gesprochen. Die Frauen und Männer der Spezialeinheit bereiteten alles vor und schlüpften in nachtschwarze Overalls. Sie waren mit Nachsichtgeräten ausgerüstet. Das erste Ziel war der Kontrollpunkt E, von dort aus nahm der Pilot die Richtung in die Berge. Sie überflogen die Schlucht, in der der Lkw ausgebrannt war, dann das Felsmassiv, das Harrer das Letzte abverlangt hatte. Auf einer Hochebene landete der Black Hawk. Die SFO-Leute sprangen ins Freie. Auch die beiden anderen Hubschrauber schwebten zu Boden und setzten auf. Der Lärm, den sie veranstalteten, war unbeschreiblich. Harrer führte das Team durch eine Schlucht. In den grünschim-
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mernden Displays der Nachtsichtgeräte konnten sie ihre Umgebung genau erkennen. Und dann kamen sie in die Schlucht, durch die Harrer und die anderen Geiseln in das Hochtal mit der Bunkeranlage gebracht worden waren. »Ich gehe voraus«, sagte Mark Harrer. »Es ist davon auszugehen, dass der Zugang zu dem Tal bewacht wird. Ich werde die Wachposten ausschalten.« »Ich komme mit Ihnen«, gab Davidge zu verstehen. »Ihr anderen wartet hier. Ich bekommt zu gegebener Zeit von mir den Befehl, vorzurücken. Alles klar?« »Ja, Sir«, kam es mehrstimmig zurück. Harrer und der Colonel pirschten davon. Schon nach wenigen Schritten verschmolzen sie mit der Finsternis. Sie standen über das in den Helmen integrierte Funksystem miteinander in Verbindung. Harrer bedeutete dem Colonel, sich auf die andere Seite der Schlucht zu begeben. Harrer selbst pirschte am Fuß der Felswand entlang, die die Schlucht nach Süden begrenzte. Felsen in allen Größen und Formen lagen herum. Und dann sah Harrer einen Wachposten. Er saß auf einem Stein und wandte ihm das Gesicht zu. Harrer ging auf alle vier nieder. Er zog sein Kampfmesser. Zentimeterweise schob er sich an den Wachposten heran. Der Mann erhob sich, neigte sich nach vorn und schien zu lauschen. Harrer lag still. Er staute den Atem. Deutlich konnte er den Wachposten durch sein Nachtsichtgerät sehen. Einige Sekunden verstrichen. Der Wachposten setzte sich wieder. Mark Harrer kroch weiter. Er bewegte sich um den Freischärler herum, gelangte hinter seinen Rücken und erhob sich. Ohne ein Geräusch zu verursachen glitt er an den Mann heran. Und dann legte sich Harrers linker Arm von hinten um seinen Hals. Harrer rammte ihm das Kampfmesser in die Brust. Der Schute kam gar nicht zum Denken. Er war sofort tot. Harrer ließ ihn zu Boden gleiten und schlich weiter. Das Kampfmesser behielt er in der Hand. Auf der anderen Seite der Schlucht erklang ein erstickender Aufschrei, dann ein dumpfer Fall. Harrer hielt an und lauschte. Er hatte
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das Gesicht in die Richtung gedreht, aus der das Geräusch gekommen war. Da erklang auch schon Davidges Stimme aus dem Lautsprecher. »Ich habe einen ausgeschaltet, Lieutenant. Wie sieht es bei Ihnen aus?« »Auch ich habe einen Posten ausgeschaltet. Die Frage ist, ob nicht noch mehrere Männer in der Schlucht postiert sind.« »Wir arbeiten uns weiter vor. Ende.« »Over«, sagte Harrer und schlich weiter. Er erreichte den Rand des Tales, in dem sich die Bunkeranlage befand, in der die Geiseln festgehalten wurden. »Colonel, bitte kommen«, sagte Harrer leise. »Davidge. Was gibt es?« »Ich bin am Rand der Senke angelangt. Keine weiteren Vorkommnisse.« »Es scheinen die beiden einzigen Wachposten gewesen zu sein, Lieutenant.« »Ja.« Der Captain sagte: »Lieutenant Leblanc, hören Sie mich?« »Oui, Sir.« »Nachrücken. Die Luft in der Schlucht ist rein.« »In Ordnung, Sir.« Es dauerte zehn Minuten, dann trafen die Gefährten ein. »Der Bunker befindet sich auf der Nordseite des Tales«, erklärte Harrer. »In einem Unterstand sind einige Männer postiert. Es ist aber davon auszugehen, dass sich auch in der Anlage Freischärler befinden.« »Sanchez, Leblanc und Topak«, sagte der Colonel, »Sie begeben sich auf die andere Seite der Ebene und nähern sich dem Unterstand von Osten. Harrer, wir beide kommen von Westen. Dr. Lantjes und Sie, Caruso, decken unseren Rückzug. Fragen?« »Keine Fragen«, kam es aus den Kehlen der anderen. Marisa Sanchez, Pierre Leblanc und Miroslaw Topak pirschten davon. Auch der Colonel und Harrer entfernten sich. Dr. Lantjes und Alfredo Caruso gingen in Deckung. Deutlich konnten sie einen Lastwagen und einen Jeep in dem Unterstand an der Nordseite des
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Tales erkennen. Davidge und Harrer hatten sich dem Tor, das in den Bunker führte, bis auf 50 Schritte genähert. Das Tor war geschlossen. »Leblanc, wie weit seid ihr?«, flüsterte der Colonel. »Hundert Schritte noch. Dann sind wir in Position.« »Gut. Melden Sie sich zu gegebener Zeit.« »In Ordnung.« Wenige Minuten verstrichen, dann kam wieder die Stimme des Franzosen. »Wir sind da. Die Entfernung zum Tor beträgt noch etwa 50 Schritte.« »Harrer und ich gehen näher ran«, sagte der Colonel. »Ich werfe eine Rauchgranate, sobald ich die Kerle geweckt habe. Wenn sie den Unterstand verlassen - Feuer.« »Verstanden, Colonel.« Davidge und Harrer schlichen weiter. Davidge holte eine Rauchgranate aus der Tasche seines Overalls. Ebenso Mark Harrer. Dann warf Davidge einen Stein. Er prallte mit einem metallischen Schlag gegen das Führerhaus des Lkw’s. Im Unterstand wurden Stimmen laut. »Jetzt!«, stieß Davidge hervor. Sie schleuderten die Rauchgranaten. Mit dumpfem Knall detonierten sie. Dichter Qualm entwickelte sich. Im Unterstand schrie jemand etwas. Zwei - drei Sekunden verstrichen, dann schälten sich Gestalten aus der Wand aus Rauch. Stimmen schwirrten durcheinander. Harrer und Davidge eröffneten das Feuer. Auf der anderen Seite des Tors zuckten ebenfalls Mündungsblitze durch die Nacht. Einige der Schiiten sanken tot oder sterbend zu Boden. Andere drängten zurück. Die SFO-Leute hielten in die dichte Wolke aus Qualm hinein. Harrer stellte das Feuer ein und sprang auf. Er spurtete zum Tor. Doch jetzt begannen die Schiiten das Feuer zu erwidern. Der Knall ihrer Schüsse verschmolz zu einem einzigen, lauten Donner, der durch die Ebene rollte und von der Bergen zurückgeworfen wurde. Das Tor flog auf. Gestalten drängten heraus. Sie rannten in Harrers MPi-Feuer hinein.
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Davidge folgte Harrer. Die schiitischen Kämpfer wichen zurück. Harrer und Davidge glitten durch das Tor ins Innere des Bunkers. Trübes Licht fiel von den Lampen, die alle zehn Meter an der Decke befestigt waren, auf den Boden. Sie feuerten in das Knäuel der zurückdrängenden Schiiten hinein. Männer wurden umgerissen. Die Kämpfer von el Sadr dachten nicht mehr an Gegenwehr. Sie flohen, soweit sie noch in der Lage waren, tiefer in den Bunker hinein. Unerbittlich holten sie die Geschosse aus den MPis der SFO-Leute ein. Dann lag der letzte der Schiiten am Boden und verblutete. Draußen krachten noch die Waffen. Die Entführer hatten die Schlüssel in den Schlössern der Stahlblechtüren stecken lassen. Harrer bedeutete dem Colonel, eine der Türen zu öffnen. Er selbst öffnete die andere. Die Riegel schepperten. In beiden Räumen brannten die Lichter an der Decke. Die Geiseln saßen bleich auf ihren Stühlen. Mark Harrer betrat den Raum, in dem er gefangen gehalten worden war. Er sah Johann Weiser und die Polen. Sie erkannten ihn nicht unter seinem Helm und dem Nachtsichtgerät vor den Augen. Er nahm das Nachtsichtgerät und den Helm ab. »Keine Sorge«, sagte er. »Sie sind gerettet.« »Harrer!«, entrang es sich Weiser. »Sie schickt der Himmel.« Der Deutsche befreite die Geiseln von ihren Fesseln. Sie erhoben sich und massierten ihre Handgelenke. Draußen war der Kampf noch im Gange. »Gehen Sie auf den Korridor«, sagte Harrer und setzte seinen Helm wieder auf. Er wartete, bis der letzte Mann den Raum verlassen hatte. Dann folgte er. »Warten Sie hier.« Aus dem anderen Raum kamen ebenfalls die befreiten Geiseln. Ihnen folgte Colonel Davidge. »Geben sie uns Feuerschutz, Lieutenant«, gebot der Colonel. Harrer zog sich das Nachtsichtgerät über den Helm, lief zum Tor und spähte hinaus. Der Rauch hatte sich aus dem Unterstand verzogen. Mündungsfeuer zerschnitten die Finsternis. Leblanc, Sanchez und Topak feuerten aus sicherer Deckung. Sie schossen auf die zün-
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gelnden Mündungslichter. Harrer verließ den Bunker und wandte sich in die dem Unterstand entgegengesetzte Richtung. Nachdem er sich postiert hatte, begann er zu feuern. Feurige Garben stießen aus der Mündung seiner MPi. Im Tor erschien Colonel Davidge. Er wirbelte ins Freie und lief auf den Unterstand zu; ein Schemen, der mit der Dunkelheit eins zu sein schien. Der Colonel warf eine weitere Rauchgranate, dann sprang er in die Deckung eines Felsens. Einige der Kerle in dem Unterstand begannen fürchterlich zu husten. Und dann drängten sie aus dem Qualm. »Ergebt euch!«,rief Davidge. »Weg mit den Waffen!« Sie dachten nicht daran und eröffneten das Feuer. Wahrscheinlich hatten sie vor durchzubrechen und das Hochtal beim Beginn der Schlucht abzuriegeln. Es waren Fanatiker, Besessene, die den Tod anscheinend nicht fürchteten. Potentielle Selbstmordattentäter. Der Tod griff von zwei Seiten nach ihnen. Dennoch gelang etwa einem halben Dutzend der Durchbruch. Einer der Kerle fiel noch, dann verschwanden die anderen in der Schlucht. Nur noch einige Schüsse fielen, dann trat Stille ein. Davidge setzte einen Funkspruch an den Piloten des Hubschraubers ab, der sie hergebracht hatte. Schon bald war das Dröhnen der Motoren in der Luft zu hören. Dann war der Lärm direkt über dem Tal. Die roten Positionslichter waren zu sehen. Und schließlich setzten die Black Hawks auf. Leblanc, Sanchez und Topak kamen zum Bunker. Die Geiseln wurden ins Freie dirigiert und mussten in die beiden Helikopter steigen, die extra zu diesem Zweck mitgekommen waren. Die SFO-Leute kletterten in den Hubschrauber, mit dem sie gekommen waren. Dann hoben die Black Hawks nacheinander ab. Die Schiiten, die in die Schlucht geflohen waren, verhielten sich ruhig. Von ihrer Seite fiel kein Schuss mehr. Die Helikopter entfernten sich in Richtung Bagdad. Die Geiseln waren gerettet. ***
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Es wurde hell, als sie in Bagdad ankamen. Dort, wo die Black Hawks landeten, standen zwei Lkw’s bereit, um die befreiten Geiseln und das SFO-Team abzuholen. »Ich glaube, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Harrer«, sagte Johann Weiser auf Deutsch. »Vielleicht können Sie mir nachsehen, dass ich…« Müde winkte Harrer ab. »Schon gut, Weiser, schon gut. Entschuldigung angenommen.« Um seine Lippen deutete sich ein Lächeln an. Mark Harrer wandte den Kopf und schaute Davidge an. »Wie es scheint, habe ich Hamadi Unrecht getan. Er war kein Verräter. Im Gegenteil. Er hat sogar sein Leben geopfert, um mich und die Geiseln aus der Gewalt der schiitischen Aufständischen zu befreien.« »Ich hoffe, Hamadi kann Sie hören, Harrer«, sagte der Colonel lächelnd. »Das gebe Gott«, versetzte Mark Harrer, und es klang ausgesprochen ernst. ENDE
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