Atlan - Der Held von Arkon Nr. 180
In der Hand des Henkers Sie wollen den Kristallprinzen retten - die Toten Augen sol...
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Atlan - Der Held von Arkon Nr. 180
In der Hand des Henkers Sie wollen den Kristallprinzen retten - die Toten Augen sollen ihnen helfen von Clark Darlton Im Großen Imperium der Arkoniden schreibt man eine Zeit, die auf Terra dem 9. Jahrtausend v. Chr. entspricht. Imperator des Reiches ist Orbanaschol III. ein brutaler und listiger Mann, der seinen Bruder Gonozal VII. töten ließ, um selbst die Nachfolge antreten zu können. Gegen den Usurpator kämpft Atlan, der Kristallprinz des Reiches und rechtmäßige Thronerbe, mit einer stetig wachsenden Zahl von Getreuen. Doch mit dem Tag, da der junge Atlan erstmals Ischtar begegnet, der schönen Varganin, die man die Goldene Göttin nennt, hat er noch mehr zu tun, als sich mit Orbanaschols Schergen herumzuschlagen oder nach dem »Stein der Weisen« zu suchen, dem Kleinod kosmischer Macht. Atlan – er liebt Ischtar und hat mit ihr einen Sohn gezeugt, der sich im embryonalen Zustand in einem Lebenserhaltungssystem befindet – muß sich auch der Nachstellungen Magantillikens, des Henkers der Varganen, erwehren, der die Eisige Sphäre mit dem Auftrag verließ, Ischtar zu töten. Um die Varganin vor dem Henker zu bewahren, begibt sich Atlan an Ischtars Statt in die Gewalt Magantillikens. Dann überlistet er diesen und flieht zum Planeten der Stürme. Dort wartet Atlan auf Rettung. Doch er wartet vergeblich, denn bald befindet er sich IN DER HAND DES HENKERS …
In der Hand des Henkers
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Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Kristallprinz in der Gewalt des Henkers. Chapat - Ein Ungeborener wird entführt. Magantilliken - Henker der Varganen. Ischtar, Fartuloon und Ra - Die Varganin, der »Bauchaufschneider« und der Barbar suchen Atlan. Kara - Königin der Koniden. Teron - Ältester der Koniden.
1. Eine der unterirdischen Kammern war so wie die andere. Atlan wußte kaum mehr, wie lange er hier unter der Oberfläche des Planeten Sogantvort herumirrte, immer auf der Flucht vor seinem Verfolger Magantilliken, dem Henker der Varganen. Nur um Ischtar, die Goldene Göttin und die Mutter seines noch ungeborenen Sohnes, zu retten, hatte er sich in seine Gewalt begeben und war dann geflohen. Aber er hatte Chapat mitnehmen können, seinen ungeborenen Sohn, der in dem zylinderförmigen Behälter in der Nährflüssigkeit schwamm und mit seinem Vater in telepathischer Verbindung stand. Aber der Behälter mußte in bestimmten Abständen an entsprechende Kontrollgeräte angeschlossen werden, damit Chapats Leben nicht erlosch. Chapat war es auch gewesen, der Atlan in die ehemalige Station der längst verschollenen Varganen geführt hatte. Sie hatten eine Funkstation entdeckt und Notsignale ausgeschickt, aber sie konnten nicht wissen, wer sie aufgefangen hatte: Ischtar und Fartuloon oder der Henker Magantilliken. So blieben sie also in der riesigen Anlage und warteten. Die Ungewißheit war kaum noch zu ertragen. So alt die vergessene Station der Varganen auch sein mochte, in technischer Hinsicht arbeitete sie noch wenigstens teilweise. Die Notbeleuchtung reichte aus, Atlan seine Umgebung erkennen zu lassen. Doch das dämmerige Licht konnte seine Ungewißheit nicht vertreiben. Magantilliken kannte keine Gnade, und es war sein fester
Entschluß, Atlan zu töten und diesen Embryo ebenfalls. Beide waren gefährlich für ihn und seine Pläne, und vor allen Dingen waren sie gefährlich für seine Aufgabe, die freien Varganen zu liquidieren. Denn zu ihnen gehörte auch Ischtar, die Goldene Göttin. An einer Stelle mußte die Decke undicht sein, denn Wasser tropfte auf den Boden der Gewölbekammer. Die Tropfen kamen in regelmäßigen Zeitabständen, aufreizend und mit ermüdender Sicherheit. Sie unterbrachen die absolute Stille der Station. Aber sie störten auch Atlans Konzentration. Ob Chapat schlief? Er fragte ihn laut: »Störe ich, Chapat?« Die Antwort kam sofort, und da der Embryo ein Hypnotelepath war, der seine Gedanken auch einem Nichttelepathen übermitteln konnte, verstand Atlan, was sein »Gesprächspartner« an ihn dachte: Nein, ich schlafe nicht. Magantilliken plant Unheil. Es wird nicht lange dauern … »Warne mich rechtzeitig, Chapat!« Wenn ich kann natürlich. Die Verbindung brach wieder ab. Wahrscheinlich, vermutete Atlan, mußte sich der Embryo auf die Gedanken Magantillikens konzentrieren, um seine Spur nicht zu verlieren. Vorsichtig setzte er den Zylinder mit der Nährflüssigkeit auf den Boden, um mehr Bewegungsfreiheit zu erhalten. Durch den Gang, den er gekommen war, wollte er nicht zurückkehren. Er mußte einen anderen finden, vielleicht sogar einen, der empor zur Oberfläche führte. Oder zu einer anderen Funkstation. Solange Fartuloon nicht wußte, wo er sich befand, konnte er ihm keine Hilfe bringen. Die Kammer, in der sie sich verborgen hatten, war ungewöhnlich geräumig und be-
4 saß eine hohe Decke. Aber sie war leer, und jede Einrichtung fehlte. Wenn es in den massiv wirkenden Mauern noch weitere Türen gab, so sah Atlan sie nicht. Sie mußten hervorragend getarnt sein. Systematisch suchte er jeden Winkel ab, immer in der Hoffnung, irgend etwas zu finden, das ihm weiterhelfen konnte. Er trug nur eine Raumkombination, in deren Taschen nur noch wenige Hydropillen und Konzentratpäckchen verblieben waren. Eine Waffe besaß er nicht. Der telepathische Impuls Chapats erreichte ihn: Magantilliken hat etwas vor. Er will nicht mehr weitersuchen, weil das unterirdische Labyrinth zu groß ist. Er will sprengen. »Sprengen? Die Station?« Atlan kehrte hastig zu dem Platz zurück, an dem er den Behälter abgestellt hatte. »Er kann doch nicht die ganze Station zerstören!« Nicht die ganze, aber den Teil, in dem wir uns aufhalten. Er muß es wissen es ist aber nicht sicher. »Was rätst du?« Warten! Atlan sah ein, daß sie keine andere Wahl hatten als zu warten. Der Rat des Embryos war logisch. Flucht hatte wenig Sinn, solange Fartuloon nicht in der Nähe war und ihnen beistehen konnte. Ohne Waffen waren sie dem Henker hilflos ausgeliefert, wenn er sie fand. Die Zeit verging in quälender Langsamkeit. Chapat warnte noch mehrmals, konnte aber auch keine näheren Angaben machen. Er wußte nur, daß Magantilliken irgendwo hoch über ihnen damit beschäftigt war, ihnen das Leben in der Unterwelt schwerzumachen. Dann hörte Atlan plötzlich ein fernes Grollen, das zu einem Orkan anschwoll und den Boden unter seinen Füßen erbeben ließ. Gleichzeitig ertönten mehrere Detonationen, die mit Druckwellen verbunden waren. Atlan nahm den Behälter mit dem Embryo und hielt ihn fest, damit er nicht umgeworfen und zerbrochen werden konnte.
Clark Darlton Dann schloß er geblendet die Augen. Genau ihm gegenüber brach die Mauer in der Mitte auseinander, so als sei sie mit einem gigantischen Beil zertrennt worden. Eine grelle Lichtflut brach in die bisher dämmerig erleuchtete Kammer, aber die zerstörerische Wucht einer nahen Explosion blieb aus. Von der Decke herab fielen Felsbrocken, und in ihr entstanden lange, gezackte Risse. Die gespaltene Wand blieb, und das Licht dahinter auch. Atlan überlegte nicht lange. Hier waren sie nicht mehr sicher, denn jeden Augenblick konnten neue Erschütterungen erfolgen. Schnell durchquerte er das bisherige Versteck und trat durch den breiten Spalt, der sich so unvermittelt vor ihm aufgetan hatte. Dahinter lag ein breiter Korridor, aber das Licht stammte nicht aus ihm, sondern seine Quelle mußte weiter vorn liegen. Atlan ging weiter. Er glaubte, ein gleichmäßiges, weit entferntes Summen oder Brausen zu hören, das ihm irgendwie bekannt schien, aber er war sich nicht sicher. Das hat Magantilliken sicher nicht gewollt … Chapat dachte es, und Atlan verstand es, aber er stellte keine Fragen. Wahrscheinlich hätte er auch keine Antwort erhalten. Das Brausen wurde deutlicher, und jetzt erinnerte es an den Gesang von vielen Kinderstimmen. Es wurde lauter und schriller, bis Atlan sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Aber er trug in seinen Händen den wertvollen Behälter. Der breite Korridor endete abrupt in einer riesigen Halle, die so mit Licht erfüllt war, daß Atlan im ersten Augenblick nichts erkennen konnte. Gleichzeitig verspürte er eine eisige Kälte, die wie mit Nadelspitzen in seine Haut eindrang. Er hatte das Gefühl, das seine Hände steif wurden und er den Behälter nicht mehr halten konnte. Er sah, daß sich Reif auf dem Behälter niederschlug. Dieser seltsame Gesang, dieses Licht und diese eisige Kälte …
In der Hand des Henkers Wo hatte er das schon erlebt? Und wann? Und plötzlich wußte er es wieder: auf der versunkenen Welt Margon, auf der ihm zum ersten Mal Magantilliken begegnet war. Dort war es eine kristallene Kugel gewesen, die eine rätselhafte Verbindung zur Eisigen Sphäre der letzten Varganen herstellte. Eine Verbindung, die offenbar auch hier bestand. Selbst wenn er jetzt seinen Füßen den Befehl gegeben hätte, ihn in die ursprüngliche Kammer zurückzutragen, sie hätten ihm nicht mehr gehorcht. Er stand wie gelähmt, den Behälter im Arm, inmitten tanzender Eiskristalle und von dem eintönigen Singsang eingehüllt. Seine Augen hatten sich an die Helligkeit gewöhnt. Er konnte nun besser als vorher sehen und auch Einzelheiten erkennen Einzelheiten jedoch, mit denen er nichts anzufangen wußte. Die Mauern waren dick mit Reif überzogen. Auf dem Boden lagen die Eiskristalle wie frisch gefallener Schnee. Aus dem Nichts heraus materialisierten plötzlich Gestalten aber sie materialisierten nicht vollständig, sondern verharrten in einem halb verstofflichten Zustand. Ihre Füße schienen den Boden nicht zu berühren, sonst hätte Atlan Spuren sehen müssen. Sie wirkten wie Geister, wie ätherische Wesen, durchaus humanoid und fast fraulich zart. Durchsichtige Schleier umwehten sie wie eine Aura, als sollten sie vor den tanzenden Eiskristallen geschützt werden. »Was ist das?« fragte er Chapat fassungslos. Die Antwort kam sofort: Es sind die zwölf varganischen Erinnyen, Atlan! Erinnyen? Was war das denn nun wieder? Chapats Impulse verrieten Erregung und Emotion. Aber auch Verwirrung und Unentschlossenheit. Es würde wenig Sinn haben, ihm jetzt weitere Fragen zu stellen. Wieder versuchte er, die Halle zu verlassen, aber es war, als hielte ihn etwas fest. Chapats Gedankenimpulse teilten mit: Seit undenkbaren Zeiten wurde kein Var-
5 gane mehr geboren … Atlan überlegte, was das mit dem Erscheinen der zwölf Geistergestalten zu tun hatte, die von Chapat »Erinnyen« genannt worden waren. Stellten sie die Verbindung zur Eisigen Sphäre her, in der die letzten Varganen lebten? Und wieder kamen Chapats Impulse: Ich bin für sie wertvoll und unersetzbar! Atlan wußte, daß er nun umkehren mußte. Aber er konnte sich nicht von der Stelle rühren. Unbeweglich stand er da und sah zu, wie die zwölf Gestalten immer näher geschwebt kamen, langsam und unaufhaltsam. Ihm war, als streckten sie ihre Arme nach ihm aus, so als wollten sie ihn mit sich nehmen in ihr Reich der ewigen Kälte. Jezt waren sie bei ihm und kamen nicht mehr weiter, so als sei er wie eine Mauer für sie. Aber sie streckten ihre halb durchsichtigen Arme aus und sie nahmen ihm den Behälter mit Chapat ab. Während sie langsam wieder zurückschwebten, von wirbelnden Eiskristallen eingehüllt, erreichten Atlan wieder die Gedankenimpulse des Embryos. Sie verrieten diesmal Entsetzen und Todesangst. Atlan! Informiere meine Mutter! Nur sie kann mich aus der Eisigen Sphäre befreien, in die man mich bringen wird. Sie muß mich retten! Fliehe! Atlan versuchte laut zu antworten, aber er konnte seine Lippen nicht bewegen. Er dachte: Ich kann nicht fliehen! Aber ich werde versuchen, Ischtar zu finden und es ihr zu sagen. Kann ich jetzt nichts tun? Du kannst nichts tun, Atlan! Aber bald wirst du frei sein, doch dann ist es zu spät, mir zu helfen. Tu, was ich dir sagte … Es war Atlan, als würden die zwölf Gestalten undeutlicher. Auch der Behälter mit Chapat verlor an Substanz und wurde allmählich durchsichtig. Die Wolken der Eiskristalle waren nicht mehr so dicht wie zuvor, und spürbar ließ die furchtbare Kälte nach, die Atlan an seinen Platz bannte und bewegungsunfähig machte.
6 Als der seltsame Gesang schließlich verstummte, waren die zwölf Gestalten verschwunden und mit ihnen auch der Behälter mit Chapat. Vorsichtig versuchte Atlan, sich zu bewegen. Die Starre verlor sich nach und nach, und bald war er in der Lage, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Aus dem Gang strömte warme Luft an ihm vorbei in die Halle, die nun völlig leer war. Das Licht erlosch. Die Dunkelheit kam so überraschend, daß Atlan unwillkürlich stehenblieb und wartete, bis seine Augen sich an die Umstellung gewöhnten. Aber nichts geschah. Es blieb dunkel und lichtlos. Vorsichtig tastete er herum, bis seine suchenden Hände die Mauer des Ganges berührten. Schritt für Schritt trat er den Rückzug an, aber in ihm war keine Hoffnung mehr, ungeschoren die Oberfläche zu erreichen. Irgendwo wartete Magantilliken auf ihn, um ihn zu töten. Was aber war mit Chapat geschehen? Hatte man ihn wirklich in die Eisige Sphäre geholt und warum? Er war selbst ein halber Vargane, oder er würde es zumindest sein, wenn er den Behälter einst verlassen konnte. Er war Ischtars Sohn, und sie war eine Varganin. Er aber, Atlan, war ein Arkonide und er war Chapats Vater. Er tastete sich weiter, und seiner' Schätzung nach mußte er bald die Stelle erreicht haben, an der er sich vorher versteckt gehalten hatte. Er war noch immer blind und konnte nichts sehen. Die Notbeleuchtung war endgültig ausgefallen. Irgendwo waren Geräusche, die er nicht identifizieren konnte. Einmal glaubte er, schleichende Schritte zu vernehmen, dann wieder ein unbestimmtes Scharren und Knirschen. Hatte Magantilliken es aufgegeben? Daran glaubte Atlan nicht. Der Henker der Varganen gab niemals auf, wenn er sein Opfer jagte. Und er wollte Ischtar haben, er mußte sie haben. Ihr Tod war sein Auftrag. Atlan blieb wie angewurzelt stehen, als plötzlich Licht aufflammte und ihn zwang,
Clark Darlton die Augen zu schließen. Er hatte aber noch erkennen können, daß es sich um einen Scheinwerfer handelte, der genau auf ihn gerichtet war. Was dahinter lag, war in absolute Finsternis gehüllt. Magantillikens Stimme sagte: »Es ist aus, Atlan! Sie würden niemals aus der Station herausfinden, zumindest nicht lebendig. Aber ich gehe kein Risiko mehr ein. Nein, ich töte Sie nicht noch nicht. Mein Paralysator ist auf Sie gerichtet, Sie können mir nicht mehr entkommen. Sagen Sie mir vorher, was geschehen ist. Wo haben Sie den Behälter mit Chapat?« Atlan öffnete vorsichtig die Augen. Die Helligkeit tat weh. »Das wissen Sie wirklich nicht, Magantilliken? Sie wissen nicht, daß ihn mir die Erinnyen abgenommen haben, um ihn mit sich in die Eisige Sphäre zu nehmen. Chapat ist für Sie verloren.« »Nicht ganz, Atlan, nur vorläufig und später brauche ich ihn nicht mehr. Ich brauche ihn überhaupt nicht mehr, denn ich habe ja Sie. Wenn ich Ischtar meinen Handel anbiete, wird sie darauf eingehen, denn Sie werden von ihr geliebt. Ihr Leben gegen das Ihre.« »Täuschen Sie sich nur nicht, Magantilliken!« »Wir werden sehen. So, und nun wollen wir die Unterhaltung beenden, damit wir sie unter bequemeren Verhältnissen im Schiff fortsetzen können. Sie werden federleicht sein, denn mein Antigrav funktioniert einwandfrei. Fertig?« Atlan blieb ruhig stehen und gab keine Antwort. Er wußte, daß jeder Fluchtversuch seine Lage nur verschlimmern würde. Der Henker würde ihm kein Haar krümmen, solange er als Geisel diente. Insofern war es von Vorteil, daß Chapat verschwunden war. Das Strahlenbündel des Paralysators hüllte ihn ein. Haltlos sackte er zusammen und konnte kein Glied mehr rühren, wenn er das Bewußtsein auch noch nicht verlor. Magantilliken kam und hob ihn auf. Der Scheinwerfer war nun nach vorn gerichtet, aber At-
In der Hand des Henkers lan sah nicht viel. Sein Kopf hing nach unten. Er spürte, wie die Lähmung sich weiter ausbreitete und auch die Denkzentren angriff. Er wurde bewußtlos.
* Als er wieder zu sich kam, lag er gefesselt auf einem Ruhelager des Doppelpyramidenschiffs, das nun Magantilliken gehörte. Der varganische Henker war nicht zu sehen. Wahrscheinlich hatte er in der Kontrollzentrale zu tun, denn zweifellos hatte das Schiff die Oberfläche von Sogantvort bereits verlassen. Atlan wußte, daß seine Lage hoffnungslos war, wenn Fartuloon mit der FARNATHIA nicht rechtzeitig eintraf. Aber auch Magantillikens Schiff war gut bewaffnet. Der Ausgang eines eventuellen Duells war höchst ungewiß. Die Tür glitt auf, der Henker trat ein. Er trug wieder seinen Umhang mit dem gelben Möbiusstreifen. Mit seinen zwei Metern Größe, dem wallenden rotblonden Haar, der bronzefarbenen Haut und den fast golden schimmernden Augen sah er eindrucksvoll aus. Er blieb in der Tür stehen. »Ich sehe, es geht Ihnen wieder gut. Würden Sie nun die Freundlichkeit besitzen, mir noch einmal alles in Ruhe zu berichten. Jede Einzelheit ist wichtig für mich, auch wenn sie Ihnen unbedeutend erscheinen mag. Wenn Sie mir keine Schwierigkeiten bereiten, kann das nur gut für Sie sein.« »Aber nicht für Ischtar«, begehrte Atlan auf. Magantilliken lächelte maliziös. »Sie ist meine Angelegenheit, nicht die Ihre. Sie hat nichts damit zu tun. Es geht lediglich darum, ob ich Sie später leben lasse oder töte. Also fangen Sie an.« Er setzte sich und wartete. Atlan überlegte nicht lange. Es hatte wenig Sinn, den Zorn des Henkers unnötig herauszufordern. Außerdem wußte der bereits,
7 was in der Halle der tanzenden Eiskristalle geschehen war. Also berichtete er davon und beantwortete geduldig alle Fragen, die ihm gestellt wurden. Seine Frage allerdings, wer die geheimnisvollen varganischen Erinnyen waren, blieb unbeantwortet. Magantilliken schwieg lange, nachdem Atlan fertig war. Sein Gesicht war finster geworden. Es schien, als sei nicht alles so verlaufen, wie er sich das gewünscht hatte. Hatte Magantilliken Gegenspieler? Etwa diese Erinnyen? Endlich sagte er: »Ich werde Ihnen zu essen und trinken bringen, Sie aber gefesselt lassen. Wenn ich auf Sie aufpassen muß, fehlt mir die Bewegungsfreiheit, das werden Sie bestimmt verstehen. Ich weiß übrigens, daß Sie unten von der Station aus einen Funkspruch gesendet haben. Ich hoffe mit Ihnen, daß Ischtar und Fartuloon ihn empfingen. Dann brauchen wir hier nur zu warten.« »Und was werden Sie dann tun?« Magantilliken lächelte böse. »Na, was wohl? Ich werde Sie gegen Ischtar austauschen, wie ich schon erwähnte. Aber vielleicht fällt mir noch eine bessere Lösung ein. Auf jeden Fall kann mich nichts daran hindern, meinen Auftrag durchzuführen.« »Obwohl man Ihnen ins Handwerk pfuscht?« erkundigte sich Atlan. Magantilliken warf ihm einen wütenden Blick zu. »Was verstehen Sie schon davon, Atlan? Mir pfuscht niemand ins Handwerk, und wer es versucht, ist verurteilt. Ich bin der Henker, vergessen Sie das nie! Und ich werde auch Ihr Henker sein, wenn Sie nicht vernünftig sind.« Er stand auf und ging, ließ aber die Tür geöffnet. Wenn Atlan sich ein wenig zur Seite drehte, konnte er in die Kommandozentrale sehen. Der Bildschirm lag genau in seinem Blickfeld. Die Oberfläche des Planeten Sogantvort drehte sich langsam unter dem Schiff hinweg, also hielt es sich in einer
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Clark Darlton
Kreisbahn auf. Magantilliken nahm einige Korrekturen vor, ehe er Atlan einen Krug mit Wasser und einige Konzentrate brachte. Er löste die stählernen Fesseln so weit, daß der Gefangene ohne fremde Hilfe essen und trinken konnte. Dann kehrte er in die Kommandozentrale zurück. Atlan stärkte sich und streckte sich dann auf dem Lager aus. Er wollte versuchen zu schlafen, aber er wußte schon jetzt, daß ihm das nicht gelingen würde. Seine Gedanken eilten zu Ischtar, der Goldenen Göttin, und zu seinem treuen Gefährten Fartuloon, der ihm schon aus mancher Klemme geholfen hatte. Ob es ihm auch diesmal gelang. Und er mußte an Ra denken, den ehemaligen Barbaren von einem unbekannten grünen Planeten, der unsterblich in Ischtar verliebt war. Ra befand sich ebenfalls an Bord der FARNATHIA. Atlan schloß die Augen. Er wußte, daß er sich auf Ischtar verlassen konnte, denn sie liebte ihn. Aber erkannte auch das ungestüme Werben Ras, das keine Rücksicht kannte. In dieser Hinsicht war er der Barbar geblieben, der sich die Frau nahm, die er haben wollte. Aber Ischtar hatte sich bisher seinem Drängen zu entziehen gewußt. Außerdem war da noch Morvoner Sprangk, der alte Haudegen, der auf Ra aufpaßte und vergeblich versuchte, ihm Sitte und Anstand beizubringen. Er würde stets in seiner Nähe bleiben und verhindern, daß es überhaupt zu einem Alleinsein der beiden kam. Obwohl er es nicht erwartet hatte, übermannte ihn die Müdigkeit. Atlan schlief ein …
* Er erwachte, als Magantilliken ihn heftig rüttelte. »Ihre Freunde, Atlan! Sie haben Ihren Notruf wahrhaftig empfangen und kommen.
Sie funken, denn sie vermuten Sie unten auf Sogantvort und nehmen an, Sie sind noch ein freier Mann. Ich bin gespannt, was sie tun werden, wenn Sie nicht antworten.« Atlan wollte aufspringen, entsann sich aber noch rechtzeitig seiner Fesseln. Er sank auf das Polster zurück. »So nehmen Sie doch Verbindung auf, Magantilliken! Warum antworten Sie nicht? Soll ich mit Ischtar sprechen?« »Mit welchem Erfolg wohl?« Magantilliken schüttelte den Kopf. »Das hätte wenig Sinn. Ich glaube, dieses Schiff ist gut genug bewaffnet, um das andere in einem Überraschungsangriff erledigen zu können und damit hätte ich ja meinen Auftrag erfüllt. Ischtar ist tot, und ich habe dann noch immer Sie. Ganz einfach, nicht wahr?« »Sie glauben alle Probleme mit Gewalt lösen zu können. Wenn Sie sich nur nicht irren. Jedenfalls werde ich später, wenn Ihr Plan mißlingt, wesentlich weniger Lust haben, mit Ihnen zu verhandeln …« »Sie können überhaupt nicht verhandeln, denn Sie sind mein Gefangener«, unterbrach ihn Magantilliken höhnisch. »Sie werden später genau das tun, was ich von Ihnen verlange. Es gibt tausend Tode, die man sterben kann.« Er kehrte in die Kommandozentrale zurück. Auf dem Bildschirm erkannte Atlan jetzt die FARNATHIA, den Kugelraumer seiner kleinen Flotte. Ahnungslos näherte sich das Schiff dem Planeten und sandte dabei pausenlos das vereinbarte Rufzeichen aus. Zwischendurch ging Fartuloon auf Empfang, aber er wartete vergeblich auf eine Antwort. Magantilliken hingegen hatte sein Schiff aus der Kreisbahn zurückgezogen und ging auf Angriffskurs. Vielleicht hatte man ihn bereits geortet, vielleicht aber auch nicht. Die FARNATHIA war viel zu sehr damit beschäftigt, Atlan zu finden. Der sah die Katastrophe kommen. Die FARNATHIA hatte eine Besatzung von sechzig Mann, aber was nützte das, wenn der Kommandant, in diesem Fall Fartuloon,
In der Hand des Henkers nicht mit einem Überraschungsangriff rechnete? Selbst wenn er Magantillikens gestohlenes Schiff sichtete, konnte er noch immer nicht wissen, ob der Vargane angriff. Die FARNATHIA war tiefer gegangen und näherte sich der Oberfläche Sogantvorts, damit begab sich das Schiff aber auch gleichzeitig in eine schlechtere Verteidigungsposition. Atlan bemerkte es, aber er konnte nichts dagegen tun. Er war sich selten so hilflos vorgekommen wie in diesen kritischen Minuten. Er begriff nicht, warum Fartuloon nicht reagierte. Spätestens jetzt mußte er das von Magantilliken gestohlene Doppelpyramidenschiff bemerkt haben, das einst Ischtar gehört hatte. Ischtar kannte die gefährlichen Waffen, mit denen es ausgerüstet war. Warum unternahm sie nichts? Magantilliken stürzte sich wie ein gigantischer Raubvogel auf die scheinbar ahnungslose Beute.
* Morvoner Sprangk, der ehemalige Flottenoffizier, hatte selbst die Kontrolle über die FARNATHIA übernommen, als das Schiff im System des Planeten Sogantvort materialisierte. Neben ihm saßen Fartuloon und Ischtar. Ra war zu den leitenden Navigationsoffizieren gegangen und sah zu, wie sie mit Karten und Meßinstrumenten hantierten. Es war, als interessiere ihn die bevorstehende Rettungsaktion nicht. Morvoner sagte nach einem Blick auf den Bildschirm und die Kontrollen: »Die Koordinaten stimmen, Ischtar. Atlan muß von hier aus gefunkt haben. Aber warum antwortet er nicht?« Die Varganin, mit einer blauen und engsitzenden Kombination bekleidet, die ihre Formen nur noch mehr hervorhob, erwiderte zögernd: »Ich weiß es nicht. Fartuloon, übernimm die Orterzentrale. Sie soll feststellen, ob es außer uns noch ein zweites Schiff hier gibt.«
9 Fartuloon, der wie gewöhnlich in seiner uralten Rüstung herumlief, erhob sich unwillig. Aber da er von der Zentrale aus mit den Ortern Kontakt halten konnte, brauchte er nur drei Sessel weiter zu gehen, um ans Ziel zu gelangen. Er begann sofort mit seiner Arbeit. Alle Daten wurden ihm simultan übermittelt. Die Funkpeilung wiederholte die Ergebnisse ihrer Anmessung. Ischtar lehnte sich zurück, während die Oberfläche von Sogantvort schnell näherrückte. »Es gibt überall die unterirdisch angelegten Stationen meiner Vorfahren, so auch hier. In einer von ihnen muß Atlan sein. Er hat auch von dort aus gefunkt. Wir werden die Massetaster einsetzen, um die Station zu finden. Morvoner, weiter verlangsamen, bitte.« Nebenan kam Fartuloon aus seinem Sitz hoch, so schnell es ihm seine beachtliche Leibesfülle erlaubte. »Ortung!« rief er aufgeregt. »Ein Schiff! Ein Doppelpyramidenschiff! Dein Schiff, Ischtar!« Die Goldene Göttin zeigte keine Überraschung. »Also doch Magantilliken! Wie weit?« »Orbit um Sogantvort, Ischtar. Ich weiß nicht, ob er uns bemerkt hat.« »Gut«, empfahl sie. »Dann tun wir auch so, als hätten wir ihn nicht bemerkt. Wir versuchen weiter, Atlan anzufunken.« Morvoner Sprangk, dessen Hände schon auf den entsprechenden Kontrollen gelegen hatten, sah unschlüssig zu Fartuloon hinüber, der als der eigentliche Kommandant fungierte. »Tu, was sie sagt!« knurrte Fartuloon. Nun erschien das Pyramidenschiff auch auf dem Bildschirm. Es hatte den Orbit verlassen und versuchte eine Position zu erreichen, die über jener der FARNATHIA lag. Der Zweck war klar: Magantilliken wollte eine bessere Ausgangsbasis für Verhandlungen haben, oder er wollte angreifen. »Soll ich die Schutzschirme einschalten?«
10 fragte Morvoner. »Das wird nicht nötig sein«, lehnte Ischtar ab, obwohl Fartuloon gerade mit dem Kopf nicken wollte. »Selbst wenn der Henker angreift, wird er eine böse Überraschung erleben. Aber warum sollte er uns vernichten wollen, ohne vorher zu verhandeln?« Sie glitten nun dicht über die Oberfläche des Planeten dahin, in der ungünstigsten Position, die man sich vorstellen konnte. Es gab keine Ausweichmöglichkeiten, falls Magantilliken wirklich angriff und von oben kam. Fartuloon, der protestieren wollte, schwieg verbissen, als er Ischtars Gesicht sah. In ihm war nicht die geringste Spur von Besorgnis zu erkennen, nur verhaltener Triumph. Da die Orter überflüssig geworden waren, kehrte Fartuloon an seinen Platz zurück und setzte sich neben Morvoner, auf dessen Stirn einige Schweißperlen standen. »Immer mit der Ruhe, Haudegen. Ischtar weiß, was sie tut.« Die Varganin warf ihm einen kurzen Blick zu. »Du hast recht«, sagte sie nur. Fartuloon hatte nur noch Zeit für die Bildschirme, auf denen sich Magantillikens Flugmanöver ausgezeichnet verfolgen ließen. Seine Absicht wurde nun völlig klar. Es konnte kein Zweifel mehr daran bestehen, daß er einen Angriff flog. Er mußte annehmen, daß man ihn noch nicht bemerkt hatte. »Soll ich doch nicht lieber den Energieschirm …« begann Morvoner, wurde aber von Ischtar unterbrochen: »Nein!« Inzwischen war Magantillikens Schiff praktisch auf Nahkampfdistanz herangerast. Aber nichts geschah. Das Pyramidenschiff, das einst Ischtar gehört hatte, schoß dicht an der FARNATHIA vorbei, änderte abrupt den Kurs und gewann erneut an Höhe. Morvoner drückte auf die Taste des Feuerleitkomputers und sah Ischtar fragend an. Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß, Morvoner, daß wir ihn jetzt ri-
Clark Darlton sikolos vernichten könnten, aber ich will wissen, was er uns zu sagen, hat. Er muß einen Trumpf in den Händen haben. Ich hoffe nicht, daß es Atlan ist.« Fartuloon übernahm die Funkzentrale. Inzwischen hätte sich Magantillikens Schiff entfernt. Fartuloon suchte die in Frage kommenden Frequenzen ab, bis er schwache Rufzeichen hörte. Sie konnten nur von dem Pyramidenschiff stammen, was durch eine automatische Peilung sofort bestätigt wurde. »Er will etwas von uns«, sagte er. Ischtar übernahm und teilte Empfangsbereitschaft mit. Magantillikens Stimme war klar und deutlich: »Was war das für eine Teufelei? Ich hatte euch im Visier, aber die Geschütze sprachen nicht an. Schade!« Ischtar sagte voller Genugtuung: »Du vergißt, Henker, daß es mein Schiff ist, dem du den Befehl gabst, mich zu vernichten. Kannst du dir nicht denken, daß eine entsprechende Sicherung eingebaut wurde? Du bist nicht in der Lage, auch nur einen einzigen Energieschuß auf mich abzugeben. Dafür sorgt die hypnotechnische Sperre. Doch nun werden wir dich jagen, und du wirst uns nicht entkommen. Wehre dich, Henker!« »Einen Augenblick!« kam es hastig zurück. »Du willst Atlan töten?« Ischtars Gesicht blieb ausdruckslos. »Du bluffst mich nicht noch einmal, Henker! Atlan befindet sich in einer Station der Varganen, tief unter der Oberfläche von Sogantvort. Das weißt du genausogut wie ich.« »Du irrst, Goldene Göttin! Soll ich es dir beweisen?« »Das mußt du schon, wenn ich dir Glauben schenken soll.« »Na schön, dann werde ich die Bildübertragung einschalten, damit du mich sehen kannst mich und deinen geliebten Atlan.« Der Telekomschirm leuchtete auf, als Magantiliiken die Kamera in seinem Schiff dazuschaltete. Deutlich war die Kontrollkabine
In der Hand des Henkers zu erkennen, dahinter die weit geöffnete Tür. Auf einer der Liegen saß Atlan, an den Händen gefesselt und er nickte stumm in die Kamera. »Nun sag schon etwas, damit sie nicht denken, es wäre eine Aufzeichnung«, forderte Magantiliiken ihn auf. Fartuloon rief: »He, Atlan, bist du gesund? Was sollen wir tun?« Der Gefangene lächelte mühsam. »Gesund bin ich schon, aber er hat mich geschnappt. Chapat ist auch fort, sie haben ihn in die Eisige Spähre geholt. Ischtar, bist du dort? Ja, jetzt kann ich dich sehen. Ihr seid dem Angriff entkommen?« »Darüber zerbrich dir nicht den Kopf«, riet sie. »Wir werden schon mit ihm fertig. Ich weiß jetzt, wo du bist und was ich zu tun habe. Ruhe dich aus. Magantilliken, ich warte auf dein Angebot.« Der Bildschirm erlosch. Der Ton blieb. »Ich will dich, das weißt du. Komm mit einem Beiboot her, und ich lasse Atlan frei. Das ist meine einzige Bedingung.« »Ich glaube dir kein Wort, Henker! Abgelehnt.« »Dann muß Atlan sterben!« Sie lachte spöttisch. »Ich kenne dich, Henker! Du wirst niemals deinen einzigen Trumpf ohne Gegenleistung aus der Hand geben und auf keinen Fall wirst du ihn einfach wegwerfen. Wir können weiterverhandeln, wenn du einen besseren Vorschlag machst, der auch mich und Atlan absichert. Denke nach, du hast zehn Minuten.« Sie schaltete ab. Fartuloon, ein wenig blaß geworden, meinte stockend: »Du gehst ein großes Risiko ein, Ischtar. Atlans Leben liegt in der Hand des Henkers. Selbst wenn er dich nicht körperlich vernichtet, so würde er dich moralisch töten, wenn er Atlan umbringt. Vergiß das nicht!« »Er wird ihn nicht umbringen, glaube mir. Sein Auftrag lautet, mich zu töten! Und dazu hat er nur eine Chance, wenn er Atlan als
11 Faustpfand behält. Ich will nur mehr Sicherheit, dann gehe ich auf seine Forderung ein.« »Das willst du wirklich?« Ra war nach vorn zu den Kontrollen gekommen. Er sah Ischtar aus engen Augen an. »Du willst von der Hand des Henkers sterben, um Atlan zu retten?« Sie drehte sich nicht um, als sie erwiderte: »Ich habe nichts davon gesagt, daß ich sterben will, um ihn zu retten. Ich habe nur gesagt, daß ich ihn retten will.« »Und wie?« »Das laß meine Sorge sein. Im übrigen ist es Zeit, wieder auf Empfang zu gehen. Der Henker wird sich gleich wieder melden.« Es war Fartuloon klar, daß Ischtar keinen festen Plan haben konnte. Immerhin beeindruckte ihn ihre Sicherheit. Sie verhandelte mit Magantilliken, als könne sie die Bedingungen stellen, nicht er. Der Henker meldete sich. Als er die Empfangsbereitschaft erhielt, sagte er: »Ich will es kurz machen und gleich betonen, daß es keine Alternative zu meinem Vorschlag gibt. Ischtar, wenn du Atlan lebend wiedersehen willst, komme mit der FARNATHIA nach Zercascholpek. Ich weiß, daß du die Koordinaten kennst, erspare mir also weitere Erklärungen. Sobald du das System erreichst, geh auf Funkempfang und benütze dieselbe Frequenz wie jetzt. Ich werde mich melden und dir den Rest meiner Bedingung stellen. In genau zehn Sekunden gehe ich in Transition. Wir sehen uns wieder auf der Welt des Sehers.« Damit wurde die Verbindung unterbrochen. Fartuloon, der die Bildschirme nicht aus den Augen gelassen hatte, sah das Doppelpyramidenschiff allmählich transparent werden, dann entschwand es urplötzlich seinen Blicken. Magantilliken ging in Transition. Er und Atlan waren Sekunden später vielleicht schon viele Lichtjahre entfernt, im Augenblick unerreichbar für die FARNATHIA.
12 »Zercascholpek? Ausgerechnet Zercascholpek!« Morvoner Sprangk lehnte sich zurück und starrte auf seine Kontrollen. »Was ist damit? Kennst du eine Welt dieses Namens? Wärst du schon einmal dort?« »Ich kenne sie dem Namen nach, Morvoner. Sie gehört zu den Versunkenen Welten und sie gehört dem Satan. Die Natur hat sie zurückerobert, aber in ihrer furchtbarsten Form. Ich kenne niemanden, der je lebend von ihr zurückkehrte. Dort also will er mir seine Bedingungen stellen …« »Muß ja eine hübsche Hölle sein«, kommentierte Fartuloon trocken, obwohl ihm ganz anders zumute war. »Warum hat er sich ausgerechnet diesen Planeten Zer … Wie hieß er doch?« »Zercascholpek!« »Ja, warum hat er sich ausgerechnet diesen ausgesucht?« Ischtar schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich weiß es nicht! Stellt mir keine Fragen, die ich nicht beantworten kann. Er wird schon seine Gründe haben, der Henker. Aber wir haben keine andere Wahl. Wir müssen seine erste Bedingung erfüllen. Atlan darf nicht sterben. Er hat noch einen langen Weg vor sich.« »Einen sehr langen!« bestätigte Fartuloon voller Ahnungen. »Was hat es mit diesem Seher auf sich, den Magantilliken erwähnte?« erkundigte sich Morvoner in fast sachlichem Ton. »Schon mal von dem gehört?« Ischtar brauchte keine Sekunde zum Überlegen. »Es ist Vrentizianex, der Kyriliane-Seher. Der Planet gehört ihm, sagt man. Er hat sich mit der Natur verbündet, sagt man auch. Eine gefährliche Welt und das sage ich! Wollen wir es wagen?« Fartuloon polterte: »Dumme Frage, Ischtar! Natürlich wagen wir es, du hast es doch eben selbst vorgeschlagen. Vor einer hemmungslos sich entwickelnden Natur habe ich keine Angst.« »Zercascholpek war schon in alten Zeiten
Clark Darlton berühmtberüchtigt«, warnte Ischtar trotzdem. »Man erzählte sich Geschichten darüber, aber es gab niemanden, der sie bestätigen konnte. Denn, wie ich schon sagte: niemand kehrte zurück wenigstens niemand, den ich kenne. Ich möchte wissen, was den Henker mit Vrentizianex verbindet.« Ra mischte sich wieder ein: »Eine Urwelt, sagst du, Ischtar? Ich kenne mich mit Urwelten aus, weil ich selbst von einer stamme, wie du sehr gut weißt. Und wenn ich mich recht erinnere, hatten wir beide dort eine sehr schöne Zeit zusammen.« Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. »Inzwischen gibt es Atlan, Ra, vergiß das nicht! Damals kannten wir ihn beide noch nicht. Warum willst du nicht endlich die Vergangenheit ruhen lassen? Sie hätte auch ohne Atlan die Gegenwart nicht verändern können.« Sie lächelte ihm zu. »Ra, sei vernünftig! Was wärest du ohne Atlan? Ein Barbar, den man auf einem der Sklavenmärkte des Arkonidischen Imperiums verkauft hätte. Er war es, der dich befreite und zu seinem Freund machte.« Ra nickte ein wenig beschämt. »Ich bemühe mich immer wieder, es nicht zu vergessen, Ischtar. Aber hast du nicht im Zusammenhang mit unserem Zielplaneten behauptet, die freie Natur sei stärker als alles andere?« »Man kann sie zähmen, Ra, wenn man das will.« Sie nickte ihm aufmunternd zu. »Und du willst es, nicht wahr?« Fartuloon unterbrach die fruchtlose Diskussion: »Also, Ischtar, die Koordinaten! Ich muß sie programmieren. Wir gewinnen nichts, wenn wir noch mehr Zeit verlieren. Je länger wir warten, desto mehr Zeit bleibt Magantilliken, seine Fallen aufzubauen.« »Du hast recht«, stimmte auch Morvoner grimmig zu. »Wir sollten ihm so wenig Zeit wie möglich dazu lassen.« Ischtar zog den Datenaufzeichner zu sich heran, betrachtete ihn einige Sekunden und begann dann, einzelne Tasten einzudrücken. Das Ergebnis schob sie Fartuloon in Form
In der Hand des Henkers einer Plastikfolie hin. »Das sind die Koordinaten. Speise sie in den Transitionskomputer. Ich schätze, daß wir zwischen fünfzehn und zwanzig Sprünge neu programmieren müssen. Die Entfernung ist extrem groß. Ihr werdet verstehen, daß ich erschöpft bin. Ich ziehe mich in meine Kabine zurück und versuche zu schlafen. Vor der letzten Transition weckt mich, bitte! Ich muß dabei sein, und ihr werdet meinen Rat brauchen können.« Morvoner sagte: »Leg dich schlafen, Ischtar. Wir haben die Koordinaten, das genügt. Welcher Sonnentyp übrigens?« »Blaßgelb«, murmelte Ischtar und verließ die Kommandozentrale der FARNATHIA. Fartuloon sah ihr nach, bis sich die Tür geschlossen hatte. »Sie ist verwirrt und verzweifelt. Sie muß sich ausruhen, sonst versagt sie im entscheidenden Augenblick. Wir schaffen das hier schon allein. Ra, übernimm die erste Wache, wenn wir die Transitionspause einlegen. Auch die Maschinen müssen ausruhen, wie du weißt. Morvoner bleibt vorerst hinter den Kontrollen.« Der alte Offizier nickte gelassen. »Natürlich tue ich das.«
* Nach der vierten Transition löste Fartuloon seinen Gefährten Morvoner Sprangk ab. Auch Ra erhielt die Erlaubnis, sich schlafen zu legen. Er ging mit Morvoner in die Messe, um zu essen. Über den Tisch hinweg entwickelte sich ein kurzes Gespräch. »Ob wir es schaffen, Ra?« »Vor einem Urwald habe ich keine Angst.« »Du wirst uns helfen können?« »Ich hoffe es. Wenn es Urwald ist, was Ischtar meint.« »Wo die Natur sich entwickeln kann, entstehen immer Wälder riesige und unübersehbare Wälder.« »Das ist die Regel. Es gibt auch Ausnah-
13 men.« »Du hast recht, Ra, es gibt auch Ausnahmen. Vielleicht lernen wir eine kennen.« Er stand auf. »Also, dann bis später. Wir übernehmen nach der achten Transition.« Sie trennten sich, und Morvoner ging in seine Kabine, um sich aufs Ohr zu legen. Ra blieb hingegen vor seiner eigenen Kabine stehen, sah sich nach allen Seiten um und ging weiter. Er betätigte den automatischen Öffner von Ischtars Kabinentür. Anstandslos gelangte er in ihre Kabine und schloß die Tür hinter sich. Sie lag im Bett, nur mit einer leichten und halb durchsichtigen Decke bedeckt. Ihr Gesicht verriet kein Erstaunen, als sie den Eindringling erkannte. »Was soll das? Ich habe dir schon hundertmal gesagt, daß es sinnlos ist.« Er näherte sich nur zögernd dem Bett und schien allen Mut verloren zu haben. Behutsam setzte er sich. »Ischtar, ich liebe dich, und du weißt es. Warum …« »Und ich liebe Atlan!« unterbrach sie ihn frostig. »Was also willst du hier?« »Hör zu, Ischtar, und unterbrich mich nicht. Bitte! Ich liebe dich, und du weißt selbst, daß die Natur oft stärker ist als jede Vernunft. Auch ich liebe Atlan, denn ich habe ihm viel zu verdanken. Aber weiß er es, daß wir jetzt zusammen sind? Weiß es überhaupt jemand? Nein, nur wir beide wissen es. Und es wird unser Geheimnis bleiben, das verspreche ich dir.« Sie drehte sich so, daß sie auf dem Rücken lag. »Unser Geheimnis? Und du meinst, damit seien alle Probleme gelöst? Ra, ich verstehe dich nicht. Du weißt, daß ich Atlan liebe und daß er mich liebt. Was hättest du davon, wenn ich deine Bitte erfüllte? Deine tierischen Instinkte könnte ich vielleicht befriedigen, aber mehr nicht abgesehen davon, daß ich dich danach hassen würde.« Er lehnte sich ein wenig zurück. »Auf meiner Welt habe ich mir die Frau-
14
Clark Darlton
en auch dann genommen, wenn sie mich haßten. Es war mir egal.« Sie nickte. »Ja, damals konntest du das tun. Du warst ein Jäger, der weiterzog. Aber hier kannst du nicht allein weiterziehen. Wir werden stets um dich sein, und eines Tages Atlan auch. Könntest du ihm dann noch frei in die Augen sehen oder mir?« »Wir könnten es vergessen, Ischtar.« Sie schüttelte den Kopf. »Du bist noch immer ein Barbar, Ra. Man kann nicht mit dem Gedanken lieben, um es gleich wieder zu vergessen. Du mußt versuchen, das zu verstehen. Ich bin kein Objekt, ich bin ein weibliches Wesen. Und nun bitte ich dich, mich zu verlassen. Ich bin müde und möchte schlafen.« Er zögerte. »Und wenn ich mich nur neben dich lege, um auch zu schlafen?« Sie wandte ihm abrupt den Rücken zu. »Geh, bitte! Ich wäre sonst gezwungen, Fartuloon zu rufen.« Er stand auf. »Gut, ich werde gehen, aber ich werde immer wiederkommen und dich fragen. Einmal wirst du mich nicht wegschicken, dessen bin ich sicher.«
* Insgesamt benötigte die FARNATHIA siebzehn Transitionen mit entsprechenden Korrektursprüngen, um das von Magantilliken angegebene Ziel zu erreichen. Sie waren alle in der Kommandozentrale versammelt, als sie außerhalb des Systems rematerialisierten. Die Orter und Massetaster begannen sofort mit ihrer Tätigkeit. Der Bildschirm leuchtete auf. Die Sonne Zercascholpeks war in der Tat ein wenig beeindruckender blaßgelber Stern, der von vier Planeten umlaufen wurde. Der zweite war die gesuchte versunkene Welt, wie Ischtar bekanntgab. Die Vergrößerung zeigte nichts als eine durchgehende grüne Dschungelfläche, nur
von Vulkangebieten und größeren Sumpfseen unterbrochen. Von einer Besiedlung oder einer einst vorhandenen Zivilisation war nichts zu entdecken. Die Massetaster zeigten keine nennenswerten Erzansammlungen an. Aber die Orter entdeckten in dem System ein von intelligenter Hand gesteuertes Objekt mit der ungefähren Masse von Ischtars ehemaligem Doppelpyramidenschiff. Die Berechnungen liefen an. Da die FARNATHIA mit Unterlicht flog und auf eine weitere Transition aus Sicherheitsgründen verzichten mußte, dauerte es einige Stunden, ehe sie in das ausgedehnte Sonnensystem eingedrungen war. Inzwischen hatte das Objekt Kurs und Geschwindigkeit geändert. Es umkreiste nun auf einer stabilen Bahn den Planeten. Die energetischen Schutzschirme waren eingeschaltet. Ischtar bat Morvoner, Funkkontakt mit Magantilliken auf der vereinbarten Frequenz aufzunehmen. Die letzte Entscheidung stand kurz bevor. Zu ihrer aller Verblüffung blieb der Empfänger stumm. Der Henker antwortete nicht. Das war gegen die Abmachung. Fartuloon sagte: »Es kann sein, daß er mit einem Beiboot das Schiff verlassen hat und zur Oberfläche hinabgeflogen ist. Er trifft seine Vorbereitungen, darum nehme ich auch an, er hat Atlan mit genommen. Wir werden bald von ihm hören.« Ischtar war anderer Meinung: »Kann sein, daß er das Schiff verlassen und gesichert hat, aber wir werden nichts von ihm hören wenigstens vorläufig nicht. Er will, daß auch wir auf Zercascholpek landen. Er will uns in eine Falle locken.« »Na schön«, schlug Morvoner vor, »dann tun wir ihm doch den Gefallen. Wir landen mit einem Beiboot und lassen die FARNATHIA ebenfalls im Orbit zurück, ebenfalls genügend abgesichert. Außerdem haben wir ja auch noch eine Mannschaft an Bord.«
In der Hand des Henkers »Ja, und dich als Kommandanten!« nickte Ischtar. Morvoner protestierte energisch: »Immer ich! Ich soll immer zurückbleiben, wenn etwas los ist! Man wird mich dort unten in der grünen Hölle brauchen …« »Hier wird man dich ebenfalls brauchen, Morvoner. Die FARNATHIA benötigt einen Kommandanten, auf den wir uns verlassen können. Fartuloon wird mich begleiten, weil er das Skarg besitzt, und Ra, weil er die Natur kennt.« Sie warf ihm einen vielsagenden Blick zu. »Wir drei nehmen das Beiboot. Und wir bleiben in Kontakt mit dir, solange es möglich ist. Du darfst nichts unternehmen, Morvoner! Du wartest in der Kreisbahn. Diesen Rückhalt werden wir bitter nötig haben!« Morvoner schwankte zwischen Ärger und Geschmeicheltsein. »Nun ja, meinetwegen, wenn die anderen zustimmen …« »Es ist am besten so«, sagte auch Fartuloon. »Und ich möchte dir noch einen Rat geben: Sobald wir die FARNATHIA mit dem Beiboot verlassen haben, schalte sämtliche Schutzschirme ein. Es könnte gut sein, daß Magantilliken auf dumme Gedanken kommt, und wenn Ischtar nicht an Bord ist, werden die Waffen seines Schiffes funktionieren. Vergiß es also nicht!« »Ich vergesse es nicht«, versprach Morvoner, nicht besonders froh gestimmt. »Funkfrequenz bekannt? Wir nehmen die alte.« »Ja, natürlich. Magantilliken muß nicht unbedingt mithören.« Sie zogen sich an und nahmen ihre Waffen an sich. Das Beiboot wartete im Hangar. Als sich die Schleuse öffnete und sie hinausfielen in den leeren Raum, sahen sie unter sich den grünen Teppich eines scheinbar unberührten Urplaneten. Aber sie wußten, daß dort unten der Tod auf sie wartete.
2.
15 Obwohl Kara die Königin des Stammes war, mußte sie heute für Nahrung sorgen. Die Reihe kam an jeden von ihnen, auch an die Königin. Das war ein ungeschriebenes Gesetz, dem sich auch die jeweiligen Stammeshäuptlinge zu beugen hatten, ob sie nun weiblichen oder männlichen Geschlechts waren. Kara führte ihren Stamm seit vielen Monden. Sie hatte nicht so viele Finger und Zehen, um sie zählen zu können, aber bisher war es ihr stets gelungen, jeden eventuellen Nachfolger, der sie zum Kampf stellte, zu besiegen. Und das sollte so bleiben. Sie duckte sich in der mächtigen Astgabel des Baumes nieder und beobachtete das Reptil, das sich träge aus dem Uferschlamm des Sees herausarbeitete, bis es trockenes Land erreichte. Das Land aber gehörte Karas Stamm. Kara verhielt sich absolut ruhig. In ihrer freien Hand hielt sie den faustgroßen Gegenstand, der noch von den »Alten« stammte und von denen es nicht mehr viele gab. Wenn man ihn auf die Beute warf, gab es einen lauten Krach, und die Beute war tot und zerfetzt. Nur der jeweilige Häuptling durfte die restlichen »Mongods« bewachen. Das Fenar erreichte das Land, tief unter Kara, die zur ersten Ebene hinabgeklettert war. Ein Baum hatte viele Ebenen, und Karas Stamm lebte in der obersten, dicht unter dem Himmel, aus dem ihre Vorfahren, die »Alten«, einst gekommen waren. Doch das war schon lange her, viele Generationen und unzählige Monde. Denn es gab zwei dicht nebeneinanderstehende Monde, die ihre Welt umkreisten. Sie standen viele Nächte am Himmel, ehe sie für die gleiche Zeitspanne verschwanden, um dann wiederzukehren. Sie waren die Uhr von Karas Stamm. Ein dumpfes Grollen ließ Kara zusammenzucken. Sie hielt sich fest, als der Ast erzitterte und ein plötzlicher Wind über ihr die Blätter aufrauschen ließ. Unter ihr drehte das Fenar um und kroch in sein Element zu-
16 rück. Für heute war die Beute verloren, denn die Feuerberge wollten es nicht anders. Auf der anderen Seite des Sees glomm ein rötlicher Feuerschein auf, dann erfolgte eine plötzliche Eruption, die glühende Steine und Lava in die Höhe schleuderte. Das meiste fiel in den See, aber an manchen Stellen begann der Wald zu brennen, der aus nur wenigen Bäumen bestand, die allerdings so riesig waren, daß man sich keinen Begriff davon machen konnte. Sie waren dreihundert Mal so hoch wie ein Mann von Karas Stamm, und die Äste und Zweige bedeckten ein Gebiet, das zehnmal so groß war wie der See. Aber sie brannten nicht lange, dazu waren sie zu feucht. Feuer bedeutete keine Gefahr in dieser Urwelt, denn überall gab es das Wasser, auch in den Zweigen und Blättern der lebenden Bäume, die eine ganze Welt bedeckten. Kara wartete, bis der Ausbruch des Vulkans vorüber war, dann ging sie erneut auf Pirsch. Sie tat es, ohne einmal den sumpfigen Boden unter sich berühren zu müssen. Sie war in einer Astgabel geboren worden, und der Baum war ihre Heimat. Aber sie kannte auch einige andere Bäume in der Nachbarschaft. Man konnte viele Monde wandern, ohne auf den festen Boden hinabsteigen zu müssen. Bald wurde es dunkel, aber sie konnte nicht ohne Beute zurückkehren. Es wurde immer dann dunkel, wenn die Sonne unterging, und das geschah sechzigmal während eines Mondes. Es gab also dreißig helle und dreißig dunkle Nächte und natürlich sechzig sehr helle Tage. Die beiden Monde spendeten nicht viel Licht, aber es genügte für die Jagd. In dieser Nacht jedoch standen sie nicht am Himmel. Es würde richtig dunkel werden. Kara hatte nur einen einzigen Mongod bei sich. Sie würde ihn nur dann werfen, wenn sie sich ihrer Beute sicher war. Sie war nur mit einem Tierfell bekleidet, Beine und Oberkörper waren frei. Um ihren Hals hing die Kette mit Zähnen, das Zeichen
Clark Darlton des Häuptlings. Im Gürtel aus Leder steckte ein Messer. Die Haare reichten bis über ihre Brüste. Sie hatte es nicht allein ihrer für eine Frau ungewöhnlichen Körperkraft zu verdanken, daß sie die Königin geworden war, sondern wohl mehr ihrer Klugheit und vor allen Dingen ihrer Schönheit. Jeder Mann des Stammes der Koniden hätte sie gern besessen, darum gab er ihr seine Stimme, als der letzte Häuptling starb. Nebenbuhler gab es keine mehr, aber Kara hätte sich nicht vor einem Zweikampf gefürchtet. Kara blieb ihrem Grundsatz »teile und herrsche« treu. Sie nahm sich keinen Mann, so daß sie alle weiter hoffen konnten. Trotzdem zog sie sich damit die Mißgunst der anderen Frauen zu, die sie jedoch ihrer Kampferfahrung wegen fürchteten und nichts gegen sie zu unternehmen wagten. Vorsichtig wanderte sie weiter und hielt sich in der Nähe des Seeufers. Nachts kamen die Fenare gern an Land, und es gab sogar welche, die auf den Baum kletterten. Vor ihnen mußte sich Kara besonders in acht nehmen, denn ein Schlag des kräftigen Schuppenschwanzes genügte, sie in den Sumpf stürzen zu lassen. Wenn das geschah, war sie verloren. Die unteren Äste waren breit, so daß man bequem auf ihnen laufen konnte, bis man den nächsten erreichte und überwechseln konnte. Über Kara war undurchdringliches Grün, das selbst am Tage die Sonne kaum bis in diese Tiefe vordringen ließ. Nur am Ufer des Sees war es hell und sonnig, denn im See wuchs der Baum nicht. Doch jetzt war die Sonne schon untergegangen. Die Monde kamen nicht, also wurde es allmählich finster. Vielleicht sollte sie doch zum Stamm zurückkehren, es würde besser sein. Morgen war noch immer Zeit zur Jagd, und niemand würde bis dahin verhungern. Sie nahm den nächsten Ast, der nach oben führte, und erreichte bald die mittlere Region. Sie hätte den Lichtstab mitnehmen sollen, aber nun war es zu spät, darüber Be-
In der Hand des Henkers trachtungen anzustellen. Der Stamm besaß nur noch einen einzigen funktionierenden Lichtstab, der ebenfalls noch von den Alten stammte. Niemand wußte heute noch, warum er einen grellen, weißen Lichtschein erzeugte, wenn man einen Knopf verschob. Auf allen vieren kroch sie immer höher, bis sie die oberste Ebene erreichte. Hier waren die Äste nicht mehr so dick und stark, aber dafür hatten die Schlingpflanzen regelrechte Matten und Netze gebildet, auf denen man gehen konnte. Allerdings lauerten hier auch die gefährlichen Schillerblumen, die von Fleisch lebten. Kara schob den Mongod in die winzige Tragtasche am Gürtel und zog das Messer. Die Schillerblumen verrieten sich in der Dunkelheit durch ihre schwach leuchtenden Blüten, und wenn man geschickt war, schnitt man einfach ihren Stengel durch, bevor sie angriffen. Dann starben sie. Weit vor sich sah Kara Licht durch das Dickicht schimmern. Das war das Lager. Sie nahm den gewohnten Pfad über die Schlingpflanzen, mit denen ihr Stamm in Freundschaft lebte. Selbst wenn man den Halt in dieser Höhe unter dem Himmel verlor und abrutschte, würde man nie den Boden erreichen. Früher oder später landete man in einem Netz und konnte sich retten. Das Schillern der Blüte warnte Kara rechtzeitig. Am Tage hatte sie den Gegner nicht bemerkt, aber jetzt verriet er sich. Das phosphoreszierende Leuchten kündigte höchste Angriffsbereitschaft an und Hunger. Kara nahm das Messer fester in die Hand und bewegte sich langsamer und vorsichtiger. Sie hätte dem tödlichen Feind ausweichen können, denn er konnte ihr nicht folgen. Seine Wurzeln saßen in einem morschen Ast oder in einer der vielen feuchten Astgabelungen. Aber Kara wußte, daß jede am Leben gelassene Schillerblume schon am nächsten Tag eines der Kinder erwischen konnte. Die Blüte das eigentliche Maul des Ungeheuers hatte einen Durchmesser von der halben Länge eines Mannes. Es öffnete sich,
17 bereit, die willkommene Beute zu verschlingen und wartete. Kara lächelte grimmig, als sie daran dachte, welches Glück es doch sei, daß die Schillerblumen ohne Intelligenz waren. Sie blieb ein kleines Stück vor dem drohenden Ungeheuer stehen und dann schoß ihre Hand mit dem Messer blitzschnell vor. Mit einem gekonnten Hieb säbelte sie den armdicken Stengel durch und sprang zurück. Die Blüte schloß sich sofort, während die Blume selbst umkippte und im Pflanzendickicht liegenblieb. Nun war sie ungefährlich, denn ohne die Befehle ihrer Wurzel konnte sie nicht mehr handeln. Morgen schon würde sie vertrocknet sein. Kara ging weiter, auf das ferne Licht zu. Über ihr waren nur noch wenige dünne Äste und Blätter. Darüber war der dunkle Himmel, nach dem Ausbruch des Feuerberges wieder mit schwarzen Wolken verhangen und nach Schwefel riechend. Selbst wenn die Monde dort gewesen wären, Kara hätte sie nur wie durch einen Schleier wahrnehmen können. Als sie den Rand des Lagers erreichte, blieb sie stehen. Es war immer gut zu wissen, was der Stamm während der Abwesenheit seiner' Königin trieb. Die Hütten standen auf Plattformen aus Holz, die von den größeren Ästen getragen wurden. Dicke Äste und Schlingpflanzen wiederum bildeten einen festen Untergrund für die Steine, die mühevoll bis hier oben heraufgeschleppt worden waren. Man hatte sie so gelegt, daß sie ebenfalls eine Plattform bildeten, auf der das Feuer brannte. Einige Männer hockten um das Feuer, andere saßen vor ihren Hütten, die man aus Ästen und Blättern errichtet hatte. Es war wenig sinnvoll, festere Behausungen zu bauen, weil der Flammenregen der nahen Feuerberge schon mehr als einmal das Baumdorf vernichtet hatte. Zwei Frauen kamen mit Behältern von unten. Sie hatten Wasser geholt. Nur wenn es regnete, sammelte es sich in Astgabeln, und man mußte es nicht vom See holen.
18 Kara wartete nicht mehr länger. Sie kam auf die Lichtung und ging zum Feuer, wo sie sich zwischen die Männer setzte, die sie erwartungsvoll ansahen. Sie konnten an ihr kein Stück der erhofften Beute entdecken, das sie zum Zeichen einer erfolgreichen Jagd mitgebracht hätte. »Gerade als ich das Fenar töten wollte, brach der Feuerberg aus«, sagte sie, als sie die Fragen in ihren Augen las. »Es floh und entkam. Dann war es zu dunkel zum Jagen. Wir müssen bis morgen warten.« »Wir haben noch Fleisch«, meinte einer begütigend. Sie nickte. »Sicher haben wir noch Vorräte, aber auch sie gehen einmal zur Neige. Übrigens müßt ihr morgen die Schillerblüten vernichten. Es sind wieder mehr geworden seit der letzten Ernte. Sie drohen unsere Siedlung einzuschließen. Die Kinder werden nicht mehr sicher sein.« Sie besprachen noch einige ihrer Probleme, die für den Stamm lebenswichtig waren, dann erhob sich Kara. »Ich gehe schlafen. Hat noch jemand etwas zu sagen?« Teron erhob sich. »Ich muß noch mit dir sprechen, Kara. Heute noch.« Er warf den anderen Männern einen Blick zu. »Allein, in deiner Hütte.« Teron war der älteste Mann des Stammes und hatte die besten Erinnerungen. Er allein wußte noch, was damals geschehen war behauptete er wenigstens. Und da er alt war, kam niemand auf dumme Gedanken, wenn er nachts mit Kara allein war. Sein Rat galt viel beim Stamm. Kara nickte. »Gut, Teron, dann komm mit mir. Ich bin neugierig, was du mir zu berichten hast. Du weißt, daß ich gern deinen Geschichten zuhöre, das tat ich schon als Kind.« Die Männer blickten ihnen nach, bis sie in der Hütte verschwanden. Ein Fettlicht verbreitete trübe Helligkeit, aber sie genügte, um die Einzelheiten erkennen zu lassen. Da war das einfache Lager der Stammesköni-
Clark Darlton gin, ein paar Zweige mit dürrem Laub und ein Fell. Daneben so etwas wie ein Regal, in dem ein Ersatzmesser und einige Mongods lagen. In der Wand steckte ein kurzer Ast, der als Haken diente. Der wertvolle Lichtstab lag auf einem Balkenvorsprung, für jeden zugänglich, der ihn im Notfall brauchte. Teron setzte sich auf den wackeligen Schemel, während Kara sich ungeniert auf ihrem Lager ausstreckte. Sie sah ihn fragend an. »Ich habe schon immer gesagt, Kara, daß sie eines Tages wieder kommen jene nämlich, die unsere Vorfahren zu dieser Welt brachten, die wir nun als unsere Heimat betrachten. Du weißt, daß ich noch die alten Aufzeichnungen kenne, die uns die Alten hinterließen. Sie wurden von einem Feuerberg vernichtet, als wir fliehen mußten. Deine Mutter war damals noch ein Kind so lange ist das schon her. Aber ich erinnere mich noch gut. Und auch daran, was ich gelesen habe.« Sie seufzte. »Das hast du mir und den anderen schon oft genug erzählt, Teron. Warum immer wieder diese alten Geschichten? Wir leben ein anderes Leben heute, und die Vergangenheit ist tot.« »Sie ist niemals tot, denn ohne sie gäbe es die Gegenwart und die Zukunft nicht, Kara. Was aber, wenn diese Vergangenheit zu uns zurückkehrte? WTas dann?« »Ich verstehe dich nicht.« Er nickte. »Das kommt daher, weil du nicht zuhören möchtest, Kara.« Nur Teron konnte sich erlauben, so mit der Königin zu reden. Sie hätte jeden anderen aus der Hütte geworfen und vielleicht sogar aus dem Stamm verstoßen, was sicheren Tod für den Unglücklichen bedeutet hätte. »Ich muß dir leider noch einmal von dem berichten, was einst geschah, damit du verstehst, was morgen oder übermorgen geschehen wird. Unsere Vorfahren kamen aus dem Himmel, sagt man noch heute. Und das stimmt. Sie kamen wirklich aus dem Himmel, mit großen Schiffen, die von Stern
In der Hand des Henkers zu Stern flogen, und sie waren wie die Götter. Sie brachten unsere Vorfahren hierher und verließen sie dann wieder. Den Grund kenne auch ich nicht. Sie gaben ihnen nur einige Dinge mit, von denen wir heute noch ein paar besitzen die Mongods, den Lichtstab, die Messer. Und das Ding, mit dem wir Feuer machen. Das ist alles, was geblieben ist.« »Ich bin müde von der Jagd«, erinnerte ihn Kara. »Du wirst schnell wieder munter werden, wenn ich dir sage, daß ich gestern nacht eines dieser Schiffe gesehen habe, mit denen unsere Vorfahren zu dieser Welt kamen.« Sie richtete sich überrascht auf, sank dann aber wieder in die Blätter zurück. »Du hast ein solches Schiff gesehen und berichtest mir erst heute davon? Warum?« »Weil ich erst alles gut überlegen mußte, ehe ich mein Geheimnis preisgab. Du weißt, daß die Männer über mich lachen und daß sie nicht wissen wollen, was einst geschah. Auch der Priester ist dagegen. Der Zauberer erst recht. Dir aber muß ich es sagen, Kara. Ich habe das Schiff gesehen. Es war klar gestern nacht, und die Sterne waren gut zu sehen, weil die Monde nicht da sind. Und einer dieser Sterne wanderte von Horizont zu Horizont.« Kara wirkte enttäuscht. »Warum soll ein Stern nicht über den Nachthimmel wandern? Ich habe schon welche sehr schnell wandern sehen.« »Das ist etwas anderes, Kara. Dieser Stern wanderte langsam und in einer geraden Bahn, so als umkreise er unsere Welt. Es kann kein Stern gewesen sein, sondern nur ein Schiff der Ahnen.« »Warum sollte es wie ein Stern aussehen?« »Auch das habe ich in den alten Aufzeichnungen gelesen. In großer Höhe sehen sie aus wie Sterne, wenn die Sonne untergegangen ist und sie noch anstrahlt. Sie werden zurückkommen.« »Und warum sollten sie, wenn sie unsere Vorfahren hier absetzten und sich selbst
19 überließen falls deine Geschichte überhaupt wahr ist, was ich bezweifle.« »Ich weiß nicht, warum sie zurückkehren, Kara. Vielleicht sind es auch andere, die nichts von uns wissen. Fremde, weißt du …« »Fremde?« »Ja, Fremde! Ich habe gelesen, daß es Wesen gibt, die uns fremd sind, so wie uns auch die Fenars und die Schillerblumen fremd sind. Diese Wesen haben auch Schiffe, mit denen sie von Stern zu Stern eilen können. Wenn sie es sind, die da kommen, müssen wir uns verbergen, denn sie würden uns töten. Das ist es, was ich dir sagen wollte. Sie dürfen uns nicht finden!« Kara wandte ihm ihr Gesicht zu. »Hör zu, Teron! Wenn ich deiner Geschichte Glauben schenken würde, so müßte ich doch versuchen, erst einmal herauszufinden, ob das Schiff Fremden gehört oder den Nachkommen unserer Ahnen. Wie aber soll ich das tun, wenn ich mich verstecke?« Teron machte eine abwehrende Handbewegung. »Noch kann ich nicht sicher sein, ob das, was ich gesehen habe, wirklich ein Schiff ist. Doch ich bin davon überzeugt. Und wenn es landet, irgendwo hier, dann werde ich hingehen und Fragen stellen. Ich bin ein alter Mann, Kara, und ich habe nicht viel zu verlieren.« »Nein!« Sie richtete sich wieder auf, sichtlich erregt. »Du wirst nicht gehen, denn wenn es Fremde sind, werden sie dich ausfragen, und du wirst uns verraten. Wir werden warten.« Sie legte sich wieder hin. »Aber ich glaube nicht an deine Geschichte. Du hast einen Stern gesehen, der gewandert ist. Was soll daran so Besonders sein? Und nun geh schlafen oder zu den anderen ans Feuer. Ich bin müde.« Er stand auf. »Das Feuer sollte nachts gelöscht werden«, sagte er noch und ging. Sie blickte ihm nach und sah, daß er sich zu den anderen Männern ans Feuer setzte und mit ihnen sprach. Jetzt, nachdem er Ka-
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Clark Darlton
ra berichtet hatte, durfte er auch ihnen mitteilen, was er beobachtet hatte. Sollte er, sie würden ihn ja doch nur auslachen. Keiner nahm ihn ernst, wenn ihn auch jeder achtete. Ob er vielleicht doch recht hatte? Kara wußte von ihrer Mutter, daß Teron der einzige von ihnen war, der die verbrannten Unterlagen noch kannte. Er mußte mehr wissen als sie alle. Aber die Geschichten, die er oft erzählte, waren einfach zu phantastisch. Sie drehte der offenen Tür den Rücken zu und versuchte zu schlafen. Aber sie konnte den Stern nicht vergessen, von dem Teron gesprochen hatte.
* Am anderen Tag schickte Kara die Jäger aus. Es ging ihr weniger darum, daß sie Beute machten, vielmehr sollten sie feststellen, ob sich in der näheren Umgebung etwas verändert hatte oder dabei war, sich zu verändern. Teron hatte den Männern von dem wandernden Stern erzählt und von dem, was er vermutete. Eine Gruppe wanderte nördlich um den See herum bis zu den Feuerbergen und dem riesigen, einzelnen Baum, der selbst die höchsten Gipfel überragte und der als heilig galt. Eine andere Gruppe wanderte nach Süden, ein Stück am See entlang und dann in das unerforschte Gebiet der grünen Hölle. Wenn Teron recht hatte und es wirklich fliegende Schiffe gab, dann konnten diese zwar hier nie landen, aber vielleicht sah man sie wenigstens dicht über den Wald dahinstreichen. Die restlichen Jäger verteilten sich und blieben ebenfalls in Wipfelnähe, um den Himmel ständig im Auge behalten zu können. Kara blieb im Lager und beaufsichtigte die Frauen, die Holz sammelten und Wasser holten. Dann nahm sie einige von ihnen mit, um die neu gewachsenen Schillerblumen zu töten.
Später setzte sie sich zu Teron, der vor der noch warmen Asche des Feuers hockte und döste. »Ich habe alles getan, was du vorgeschlagen hast, Teron. Bist du zufrieden?« Er nickte. »Ich möchte wissen, was damals vor vielen Generationen geschah und warum unsere Vorfahren auf dieser Welt blieben. Wenn man den Berichten Glauben schenken kann, gibt es schönere Welten als diese. Es war aber auch von Krieg die Rede und von Meuterei.« »Unser Leben hier ist auch nicht leicht.« »Aber wir sind frei, Kara. Wir haben Gegner, aber wir werden mit ihnen fertig.« »Und doch willst du, daß wir das Schiff von den Sternen finden?« »Aus vielen Gründen, Kara. Ich will Fragen stellen, falls es welche gibt, die darauf antworten. Und wenn das nicht möglich ist, wissen wir wenigstens, daß die verbrannten Berichte nicht gelogen haben.« »Vielleicht ist es besser, wir bleiben in unseren Verstecken.« »Das kannst du noch immer entscheiden, wenn wir mehr wissen.« Den Rest des Tages verbrachte sie damit, den Kindern zu zeigen, wie man sich am leichtesten einer Schillerblüte näherte und sie mit dem Messer abschnitt. Dann ging sie auf die Jagd und erlegte ein noch junges Fenar. Die Frauen zerlegten die willkommene Beute, während die Königin das Feuer entzündete. Es würde erst in einigen Stunden dunkel werden, und bis dahin konnten die Jäger heimkehren. Sie kamen einzeln oder in Gruppen, und keiner von ihnen hatte etwas gesehen, das anders als sonst gewesen wäre. Erschöpft und hungrig von der langen Wanderung durch die Wipfelebene des Waldes ließen sie sich am Feuer nieder und verschlangen hastig ihre Portionen, die ihnen von den Frauen zugeteilt wurden. Teron, der abseits hockte, würdigten sie keines Blickes. Es wurde allmählich dunkel, aber Kara
In der Hand des Henkers ließ das Feuer brennen. Jene Jäger, die nach Norden zu den Feuerbergen gezogen waren, ließen auf sich warten. Der Feuerschein sollte ihnen den Weg weisen. Es wurde später und später, aber die Erwarteten kamen nicht. Erst gegen Mitternacht hörte Kara das Rascheln von Zweigen, das langsam lauter und deutlicher wurde. Jemand näherte sich auf dem bekannten Weg dem Lager, es konnte also nur einer der noch vermißten Männer sein. Endlich trat er in den Schein des Feuers, ein noch junger Mann mit Lendenschurz. Er schob das Messer in den Gürtel zurück und setzte sich zwischen Kara und die anderen noch wachen Krieger. »Es ist zu unserer Welt gekommen, wir haben es mit unseren eigenen Augen gesehen«, sagte er, nach Atem ringend. »Die anderen bleiben in der Nähe, mich haben sie ins Lager geschickt, damit ich berichte. Teron hatte recht.« Kara schickte einen der Jäger, um Teron zu wecken. Der Alte hatte sich schon in seine Hütte zurückgezogen. Dann sagte sie zu dem jungen Mann: »Warte, bis Teron bei uns ist.« Der alte Mann kam bereits nach wenigen Sekunden herbeigestürzt und wäre fast über einen Stein gestolpert, so eilig hatte er es. Noch bevor er sich setzen konnte, fragte er: »Wer ist es, der das Schiff gesehen hat? Du, Bron? Wie groß ist es? Wie sieht es aus? Wo?« »Ja, es war Bron«, sagte Kara und wartete, bis er sich endlich setzte. »Unterbrich ihn nicht, er wird uns alles erzählen.« Teron bezähmte sich und hielt den Mund. Bron aber berichtete, was er gesehen hatte: »Unsere Gruppe hielt sich in der Nähe des Ufers, weil es dort heller ist. Der eine Feuerberg raucht noch immer, und wir hatten Angst, er könnte wieder ausbrechen. Doch sein Gipfel blieb unsichtbar, weil er von den Ästen des Heiligen Baumes überragt wird.
21 Immer mehr näherten wir uns der Grenze. Wir blieben in der obersten Ebene, um besser sehen zu können. Niemand von uns glaubte, daß Teron recht behalten würde und daß der wandernde Stern, den er gesehen haben wollte, ein Schiff der Ahnen war. Und dann sahen wir es. Wir hatten die Grenze erreicht. Vor uns war das Gebiet des Heiligen Baumes, das verzaubert sein soll. Wir hielten an, um uns zu beraten. Über uns waren keine Äste und Blätter mehr, nur der Himmel, an dem keine Wolken mehr standen. Vor uns, etwas tiefer als wir, lag das grüne Dach des Heiligen Baumes, unermeßlich weit und selbst die Kegel der Feuerberge verdeckend. Einige wollten weitergehen, andere waren dagegen. Das Betreten des Heiligen Baumes ist nicht ausdrücklich von dir verboten worden. Kara, aber wir taten es nie. Niemand von uns weiß, warum er heilig ist, aber schon unsere Vorfahren mieden ihn. Doch heute war das etwas anderes. Noch während wir berieten, es war kurz nach dem höchsten Sonnenstand, erblickten wir hoch über uns einen schimmernden Punkt im Himmel, fast sah er aus wie ein Stern. Aber es war hell, und da gibt es keine Sterne. Er wurde schnell größer, und wir sahen, daß er sich auf den Heiigen Baum herabsenkte.« Teron hielt es nicht mehr aus. Er rief: »Ein Stern? War es wirklich ein Stern?« »Nun warte doch ab!« rief Kara erbost. »Du machst die Geschichte nur noch länger, wenn du immer unterbrichst.« Sie nickte Bron zu. »Rede weiter!« Bron fuhr fort: »Wir saßen versteckt in den Zweigen und sahen zu, wie der Gegenstand immer näher kam, und schließlich über dem Heiligen Baum schwebte, so als kenne er sein Ziel nicht genau. Jetzt erst war zu erkennen, was es war. Teron hat uns immer vom Schiff der Vorfahren erzählt, das von Stern zu Stern fliegen konnte. Dies war so ein Schiff, nur war es viel kleiner, als Teron beschrieb. Fünf oder sechs Mannslängen Durchmesser,
22 nicht mehr. Wie eine Scheibe sah es aus, und in der Mitte war es dicker. Das Schiff ging dann langsam tiefer und landete mitten auf den obersten Ästen des Heiligen Baumes. Dort blieb es eine Weile reglos stehen. Nichts rührte sich. Wir aber blieben in unserem Versteck und warteten. Endlich, viel später, öffnete sich eine Tür in dem kleinen Schiff. Ein Mann kam heraus, und wir erschraken, als wir ihn sahen. Er war ungemein dick und trug in der Hand ein gewaltiges Schwert so wie uns Teron die alten Waffen unserer Vorfahren beschrieb. Er war von oben bis unten bekleidet und sah wirklich furchterregend aus. Ihm folgte ein anderer Mann, stark und kräftig gebaut, mit seltsamen Gegenständen am Gürtel seiner Kleidung. Und schließlich entstieg noch eine Frau dem Schiff.« Er machte eine kleine Pause, aber niemand stellte eine Frage. Selbst Teron blieb schweigsam, wenn seine Augen auch vor Erregung fast aus ihren Höhlen quollen. Der Traum seines Lebens hatte sich verwirklicht. Bron fuhr in seinem Bericht fort: »Eine sehr schöne Frau, so schön wie eine Göttin! Sie trug einen blauen Anzug und Waffen. Und sie gab die Kommandos. Sie muß also eine Königin sein. Die Tür des Schiffes wurde geschlossen, und als sich die beiden Männer und die Frau ein Stück entfernt hatten, flammte plötzlich ein grelles Licht auf, das das Schiff einhüllte. Wir mußten eine Zeitlang die Augen schließen, um nicht geblendet zu werden, und als wir sie wieder öffneten, waren die beiden Männer und die Frau verschwunden. Das Schiff aber, von dem Lichtschein umgeben, blieb stehen. Und es steht noch jetzt dort. Ich kam, es euch zu sagen. Das ist alles.« Kara sah die heftige Debatte voraus und griff vor: »Teron hat das Wort. Er soll uns erklären, warum das Schiff so klein ist, wie Bron es beschrieb. In so einem kleinen Schiff können unsere Vorfahren niemals auf diese Welt gekommen sein.«
Clark Darlton Teron nickte. »Natürlich nicht, Kara. Es handelt sich um ein Beiboot. Das sind kleine Flugkörper, mit denen man das Mutterschiff verlassen kann, um auf einer fremden Welt Erkundigungen einzuziehen. Das Mutterschiff könnte nie auf den Bäumen landen, und wir haben nur wenig freies Land.« »Hast du das auch aus den Aufzeichnungen der Alten?« »Dort stand es so, Kara. Die beiden Männer und die Frau sind nur eine Vorhut. Die anderen warten im Mutterschiff. Sie werden folgen.« »Und wir? Was sollen wir tun?« Teron überwand seine persönliche Neugier und dachte in erster Linie an das Wohl des Stammes. »Es ist gefährlich, in die Nähe des Lichtscheins zu kommen, den Bron erwähnte. Er ist wie kaltes Feuer, das sofort tötet. Wir können nur beobachten. Und nachts sollten wir unser Feuer löschen.« »Wir befolgen deinen Rat, Teron. Bron, du wirst schlafen und morgen mit weiteren Männern zum Heiligen Baum zurückkehren. Haltet euch gut versteckt und schickt jeden Tag einen zurück, der uns berichtet.« Das Feuer war niedergebrannt und erlosch allmählich. Einer nach dem anderen verschwanden sie in den Hütten, um zu schlafen. Teron begleitete Kara bis zu ihrem Lager. »Nun sind sie da, und wir können nichts tun«, sagte er mit unterdrückter Enttäuschung. »Wenn ich nicht so alt wäre, würde ich selbst zu ihnen gehen und meine Fragen stellen. Was mögen sie hier nur wollen?« Kara legte sich hin. »Wenn wir sie nicht fragen, werden wir es nie erfahren«, murmelte sie übermüdet.
3. Zweimal umrundeten sie den Planeten Zercascholpek, ohne auch nur die geringste Spur von Magantilliken oder Atlan zu entdecken. Auch die Massetaster sprachen nicht
In der Hand des Henkers an. Die Oberfläche selbst bestand aus einer einzigen Wildnis, die keinen Durchschlupf bot. Es gab keinen Landeplatz, wenn man nicht gerade in einem Vulkankrater niedergehen wollte. Ischtar überhörte die Flüche Fartuloons und sagte: »Wenn wir überhaupt landen wollen, dann nur im Wipfel eines Baumes. Sie erscheinen mir kräftig genug dazu. Außerdem können wir das Gewicht mit einem Antigravfeld verringern.« »Ich bin noch nie in Bäumen gelandet«, knurrte Fartuloon wütend. »Man muß alles zum ersten Mal tun«, erklärte Ischtar gelassen. »Ich suche den ›Baum der Erinnerungen‹, und genau auf ihm werden wir landen.« Fartuloon warf ihr einen fragenden Blick zu. »Was ist denn das nun wieder? Baum der Erinnerungen?« »Dort sind die Toten Augen des Kyriliane-Sehers. Sie müssen wir finden!« »Davon hast du vorher nichts erwähnt, Ischtar. Ich muß schon sagen, du bist voller Überraschungen.« »Ich weiß nicht viel über ihn, aber er bedeckt mit seinen Ästen und Zweigen mehr als zwei Dutzend Vulkane, so groß ist er.« »Hört sich nach einem Märchen an«, bezweifelte Fartuloon Ischtars Angaben. »So einen großen Baum gibt es überhaupt nicht.« »Du wirst ihn sehen«, versprach die Varganin. Fartuloon studierte die von der automatischen Aufnahmekamera gefertigte Karte und entdeckte in der Tat die gigantischen schwarzstämmigen Bäume, deren Ausmaß alles übertraf, was er je in seinem Leben gesehen hatte. Ein einziger Baum mußte viele Quadratkilometer Fläche bedecken, und dann wuchs auch schon der nächste. Ihre äußeren Zweige überlappten sich und bildeten ungenaue Grenzen. »Wird dir aber schwerfallen, ihn zu finden, denn es gibt überall Vulkane. Was hat
23 es übrigens mit diesen Toten Augen auf sich, wie du sie nennst?« »Das sage ich dir später, Fartuloon. Ra, gib mir bitte die Daten des Planetenanalysators durch, damit wir wenigstens in der Hinsicht nicht überrascht werden können.« Zercascholpek war ein relativ junger Sauerstoffplanet mit einer mittleren Temperatur von 30,5 Grad Celsius, einer Gravitation von 1,3 Gravos und einer Eigenrotation von 32 Stunden. Die beiden eng zusammenstehenden Monde, die eine identische Kreisbahn besaßen, hatten keine Namen und waren bedeutungslos. Die Atmosphäre selbst war durch die ständige vulkanische Tätigkeit getrübt und an manchen Stellen rauchverhangen. Es gab Binnenmeere, eigentlich mehr große Seen. Sie allein unterbrachen die ungehemmt wuchernde Wildnis der Bäume und der pflanzlichen Schmarotzer, die auf ihnen lebten. Intelligentes Leben oder gar Spuren einer Zivilisation zeigten die Instrumente nicht an. Auch die Massetaster blieben in ihrem Resultat negativ. Ischtar meinte: »Ich verstehe das nicht. Es hat auf dieser Welt Stationen der Varganen gegeben. Wo sind sie?« Hier hatte Fartuloon eine logisch klingende Erklärung: »Sieh dir nur die Vulkane an, Ischtar! Sie bilden regelrechte Gruppen und stehen oft dichter als die Riesenbäume. Es könnte doch sein, daß die Station oder die Stationen von ihnen verschüttet wurden. Sie liegen vielleicht unter einer kilometerdicken Schicht von Lava und Asche, und da versagen auch unsere Instrumente. Ich glaube, du kannst diese Reste eurer Zivilisation vergessen. Um so größer wäre das Wunder, wenn dein Baum der Erinnerungen noch existiert.« »Das wäre überhaupt kein Wunder, Fartuloon, denn die Bäume hier scheinen mir widerstandsfähiger gegen die Naturgewalten zu sein als Stationen, die zudem noch unterirdisch angelegt wurden. Wenn sich ein Spalt auftut, können sie bis zum flüssigen
24 Kern absinken. Ich glaube, wir geben die Suche nach ihnen auf.« Morvoner meldete sich verabredungsgemäß auf der FARNATHIA. Er berichtete, daß sich weder Magantilliken noch Atlan gerührt hätten. Das Doppelpyramidenschiff umkreiste unverändert den Planeten. Ra sah interessiert hinab auf die grüne Hölle. Fartuloon vermutete: »Das erinnert dich wohl an deine Heimatwelt, wie?« »Ja, ein wenig. Aber auf meiner Welt gab es auch Steppen und weite Prärien, große Meere und viele Ströme. Dort unten ist hauptsächlich Wald. Ein paar Seen und Vulkane das ist alles. Trotzdem möchte ich sie kennenlernen. Sie ist mir lieber als Betongebirge.« Ischtar nickte ihm zu. »Du wirst sie kennenlernen, Ra, denn wir werden landen. Achtet auf einen gewaltigen Baum, der die Spitzen der Vulkane überragt.« Fartuloon grunzte unwillig: »Ich bin nicht besonders scharf auf diesen Urdschungel, und wenn ich daran denke, daß Atlan vielleicht in ihm herumirrt, von dem Henker begleitet oder verfolgt, wird mir ganz anders. Auf der anderen Seite frage ich mich, was das alles soll? Warum stellt Magantilliken nicht einfach seine Bedingungen? Warum diese Umstände?« »Magantilliken hat immer seine Gründe«, sagte Ischtar. »Er tut nichts ohne logischen Gedankengang. Wir werden es noch erfahren. Aber unabhängig jetzt von Magantilliken und Atlan müssen wir den Baum der Erinnerungen finden. Er hilft uns weiter!« Fartuloon wollte etwas sagen, aber dann schwieg er doch. Ischtar mußte wissen, was sie tat. Sie kannte das Erbe ihrer verschollenen Zivilisation besser als er oder ein anderer. Und sie liebte Atlan. Sie würde alles tun, um ihn zu retten. Das Beiboot sank tiefer und glitt nun dicht über die grünen Wipfel dahin. Diese Wipfel wiegten sich immerhin noch zwischen zwei und fünfhundert Meter über der
Clark Darlton eigentlichen Oberfläche. Was dazwischen lag, war nicht zu erkennen. Die Massetaster zeigten keinerlei Materie anorganischen Ursprungs an. Ein großer See kam in Sicht. Unwillkürlich verringerte Fartuloon die Höhe und ging tiefer. Die Ufer wurden von undurchdringlichem Dickicht begrenzt, das auf und zwischen den Ästen der Bäume wucherte. Im Wasser selbst entdeckte Ra die ersten Lebewesen der Urwelt Echsen. Sie lagen träge irn seichten Sumpfwasser oder krochen faul am Strand herum. Fartuloon sah nach vorn und stieg höher. Er registrierte abermals die Kegel der Vulkanberge und achtete kaum auf sie. Einer von ihnen rauchte. Ischtar hatte einen schärferen Blick. Sie deutete in Flugrichtung und rief erregt: »Das muß er sein der Baum der Erinnerungen! Genau vor uns!« »Ein Baum wie alle anderen«, erwiderte Fartuloon. »Die sind hier alle so groß …« »Ja, sie sind alle so groß, aber er steht allein! Und seine Wipfel umschlingen mehr als zwei Dutzend Vulkane. Das ist sein besonderes Kennzeichen, Fartuloon! Nur ganz oben berühren seine Zweige die Zweige der anderen Bäume. Kannst du dort landen?« »Landen?« Fartuloon schüttelte voller Bedenken den Kopf. »Wo soll ich denn da landen außer auf dem Baum selbst?« »Eben, das meine ich ja! Versuche, einen günstigen Platz zu finden.« Fartuloon hatte sich nie viel aus Frauen gemacht. Er hielt auch nicht viel von ihrer Logik. Das war ein Irrtum, wie er viel später noch einsehen mußte. Seine Sorge galt jetzt nur Atlan und dessen Schicksal. Er hatte ihn als Kind zu sich genommen und erzogen, und Ischtar liebte ihn. Die Kraft der Liebe war auch Fartuloon nicht unbekannt. Also wußte er, daß Ischtar alles tun würde, um Atlan zu retten und sie kannte Magantilliken besser als er. »Ich werde es versuchen«, sagte er. Das Beiboot besaß einen Durchmesser von zehn Metern, war in der Mitte vier Me-
In der Hand des Henkers ter dick und hatte vier Landebeine. Die Kommandokuppel saß in der Mitte auf der Oberseite und war transparent. Die Schleuse lag auf der Unterseite. Der riesige Baum ein ganzer Wald für sich war nun genau unter dem Beiboot, das sich langsam herabsenkte. Mit dem bloßen Auge war nicht abzuschätzen, ob das grüne Dach die Last tragen würde, selbst wenn die Antigravfelder halfen. Die Blätter und Zweige mußten auch die drei Personen halten können, denn sie trugen keine Kampfanzüge mit der entsprechenden Ausrüstung. Fartuloon bemerkte die Netze der Schlingpflanzen, die regelrechte Hängematten bildeten und die stabil wirkten. Darunter lag das undurchdringliche Dunkel einer unbekannten Urwelt. Er entsann sich, einmal eine ähnliche Welt besucht zu haben, auf der die Pflanzen die Tiere bekämpften. Die Tiere lebten von den Pflanzen und umgekehrt. Hier würde es Tiere geben, sie hatten sie schon in den Seen bemerkt. Was aber konnte sich in dieser undurchdringlichen grünen Hölle am Leben erhalten? Sie selbst vielleicht für ein paar Tage. Fartuloon fuhr die vier Landestützen aus, obwohl er wußte, daß sie auf dem Pflanzenteppich keinen festen Halt finden und ihn durchdringen würden. Aber sie konnten für Stabilität auf dem schwankenden Untergrund sorgen. Das Beiboot setzte unendlich sanft auf. Wie erwartet, sanken die Landestützen durch das Dickicht hindurch, erst der flache Körper des Schiffes selbst fand festen Halt. Die dichte, grüne Fläche schwankte zwar hin und her, kam jedoch allmählich zur Ruhe. Fartuloon schaltete den Antrieb ab und das Antigravfeld ein. Er lehnte sich zurück. »Wir sind gelandet«, erklärte er überflüssigerweise. »Um uns und unter uns ist nichts als Vegetation, nur über uns haben wir den Himmel.« Ischtar sagte:
25 »Und irgendwo ist auch fester Boden.« Fartuloon nickte. »Ja.« Er deutete nach unten. »Dort!« Ra drückte sich an der Sichtkuppe] fast die Nase platt. »Ich habe gute Augen. Ganz bestimmt habe ich dort drüben, hinter uns, etwas gesehen, das sich bewegte. Aber jetzt sehe ich nichts mehr. Es muß sich also versteckt haben.« »Vielleicht der Wind, der Zweige bewegte«, vermutete Ischtar. »Und selbst, wenn dort etwas ist«, warf Fartuloon ein, »so kann es uns nichts anhaben. Magantilliken ist bestimmt nicht auf die Bäume geklettert. Es kann sich also nur um ein Tier handeln.« »Was immer es auch sein mag, wir müssen nach unten«, sagte Ischtar bestimmt. »Wenn ihr hier bleiben wollt ich jedenfalls versuche es.« Fartuloon überprüfte die Ortszeit und stellte fest, daß die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte. Es würde noch etwa sieben Stunden hell bleiben. Früh genug jedenfalls, einen ersten Ausflug zu starten. Wortlos schnallte er das Skarg um und stand auf. »Na, dann wollen wir mal …« Ra überprüfte seinen Energiestrahler und schob einige Konzentrate in seine Tasche. Sein Messer vergaß er auch nicht. Ischtar bewaffnete sich ebenfalls und nickte dann Fartuloon zu. »Öffne die Schleuse. Schalten wilden Energieschirm ein?« »Ja, es ist besser. Ich habe die Automatik programmiert. Sobald wir das Boot verlassen haben, schaltet sie den Schirm ein. Und auch wieder ab, sobald wir zurückkehren. Die Automatik reagiert auf unsere Gedankenmuster.« Die Luft war würzig und warm, roch aber ein wenig nach Schwefel. Das kam von den vielen Vulkanen und war nicht weiter verwunderlich. Das Boot ruhte auf einem dichten Gewirr von Ästen, die durch Schlingpflanzen fest miteinander verbunden waren.
26 Das Ganze bildete einen Teppich, der an die Oberfläche eines verfilzten Moorsees erinnerte, über den man hinweggehen konnte. Es war schwer, eine Lücke zu finden. Fartuloon zog kurz entschlossen sein Skarg, das Schwert mit den vielen seltsamen Eigenschaften. Er stieß es in den grünen Teppich und erzeugte in Sekundenschnelle ein Loch, durch das sie hinabsteigen konnten. Ra, der den Dschungel der Urwelt kannte, gab der Befürchtung Ausdruck, daß man vielleicht nicht mehr zurückfände, aber Ischtar konnte ihn beruhigen. Mit Hilfe ihres kleinen Massetasters, den sie mitgenommen hatte, war das Beiboot jederzeit wieder zu orten. Sie erreichten unter dem dichten Dach des grünen Teppichs eine Ebene, die von dickeren Asten durchzogen war und die damit das weitere Vordringen einfacher gestaltete. Dafür wuchsen die merkwürdigsten Pflanzen in den fauligen Astgabeln. Farbenprächtige Blüten reckten sich in die Höhe, dem schwachen Licht der Sonne entgegen, und ein fast betäubender Duft ging von ihnen aus. »Sie sind schön, aber auch gefährlich«, warnte Ischtar. »Geht nicht zu nahe an sie heran. Sie leben von Fleisch.« Fartuloon war stehengeblieben. Nachdenklich betrachtete er den weit geöffneten schillernden Kelch einer solchen Blume. »Sie fressen Fleisch?« vergewisserte er sich. »Was für Fleisch?« Ischtar zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht. Aber man sagt, daß sie sich von Fleisch ernähren. Also muß es hier auch Tiere geben. Vielleicht nur Insekten.« »Müssen aber große Insekten sein, damit die Blumen satt werden«, kommentierte Fartuloon und kletterte weiter, immer tiefer hinab ins halbdunkle Ungewisse, das tausend unbekannte Gefahren in sich bergen mochte. Einmal glitt Ischtar aus und wäre in die Tiefe gestürzt, wenn Ra sie nicht geistesgegenwärtig festgehalten hätte. Immerhin geriet ihr Fuß in die Nähe einer bunten Blüte, die sofort vorschnellte, den Fuß umklammerte und sich dann schloß.
Clark Darlton Fartuloon hörte den Schrei und kam sofort zurück. Ra hielt Ischtar fest, mehr konnte er nicht tun. Fartuloon schätzte die Entfernung ab und hob sein Schwert. Mit einem zielsicheren Schlag trennte er die Blüte vom dicken Stengel. Ischtar kam sofort frei und konnte von Ra auf den Ast zurückgezogen werden. Sie war etwas blaß geworden. »Danke, Ra«, sagte sie. »Und dir auch Dank, Fartuloon.« Er knurrte so etwas wie »nicht der Rede wert« und ging weiter. Sein Skarg verbrachte wahre Wunderdinge. Wo immer sich ihm ein Hindernis entgegenstellte, das Schwert beseitigte es in wenigen Sekunden. Meistens brauchte Fartuloon nicht einmal stehenzubleiben, so geschickt war er im Umgang mit seiner Waffe. Ischtar hielt sich in der Mitte. Ihre erste Erfahrung mit der fleischfressenden Pflanze hatte sie vorsichtiger gemacht. Sie schien einen Teil ihrer ursprünglichen Sicherheit verloren zuhaben. Ra bildete den Abschluß. Er hielt sich dicht hinter Ischtar und verfolgte jede ihrer Bewegungen mit brennenden Augen. Er stellte sich vor, wie es wäre, wenn er jetzt mit ihr allein sein könnte. Fartuloon war stehengeblieben. Sie befanden sich alle auf einem fast waagerecht verlaufenden Ast, der mehr als einen Meter breit war. Unter ihnen waren Pflanzenteppiche, die sanft hin und her schwankten. »Da vorn ist etwas«, teilte Fartuloon mit, das Skarg in der Rechten. »Ein Tier, halb so groß wie einer von uns, aber humanoid. Sieht nicht sehr gefährlich aus.« »Dann geh doch weiter!« meinte Ischtar. »Nicht bevor ich weiß, was es ist. Wartet hier. Ra, paß auf sie auf!« Der Dicke hob sein Schwert, bis die Spitze nach vorn zeigte, dann ging er vorsichtig weiter. Mit der linken Hand hielt er sich an den lianenartigen Gewächsen fest, die wie Brückengeländer wirkten. Selbst wenn er vom Stamm rutschte, würden sie ihn halten. Er schrak zusammen, als von oben herab etwas Dunkles auf ihn fiel und sich an sei-
In der Hand des Henkers nem massigen Körper festklammerte. Die kleinen, dunklen Hände spannten sich um seinen dikken Hals, aber wohl weniger in der Absicht, ihn zu erwürgen, als sich vielmehr festzuhalten. Dabei stieß das Wesen pausenlos schrille Laute aus, als wolle es damit seine Artgenossen herbeirufen. Fartuloon kam es so vor, als teile das Tier seinem Stamm mit, daß es eine im wahrsten Sinne des Wortes fette Beute gemacht habe. »Dir werde ich helfen!« knurrte er wütend und versuchte, den lästigen Begleiter abzuschütteln. Als das nichts half, blieb er ruhig stehen und fuhr fort: »Ich weiß nicht, ob du intelligent genug bist, mich zu verstehen, aber ich rate dir, eiligst zu verschwinden. Wir wollen nichts von euch, also laßt uns zufrieden. Nun, was ist?« Der kleine Kerl mit fast menschlichen Händen und einem koboldhaften Aussehen kicherte schrill, als lache er Fartuloon aus. Das brachte diesen natürlich erst richtig in Rage. Mit der linken Hand griff er nach hinten und erwischte das zottige Fell. Mit einem harten Ruck riß er das Tier von seinem Rücken und hielt es mit ausgestrecktem Arm vor sich, um es genauer zu betrachten. Es war in der Tat menschenähnlich, wenn es auch mehr einer Karikatur glich. Die fünf Finger waren beweglich und zum Greifen sehr geeignet, aber auch an den Füßen waren Finger, keine normalen Zehen. Das dunkle Fell war dicht und verfilzt. Das Tier war höchstens einen Meter groß. Mit seinen runden, braunen Augen sah es Fartuloon furchtlos an. »Kommt her!« rief er Ischtar und Ra zu, die gewartet hatten. »Das müßt ihr euch ansehen. Harmlos, aber frech und lästig. Ich kann es nicht umbringen.« Ischtar nickte, als sie es betrachtet hatte. »Habe von ihnen gehört. Es gibt sie massenweise hier. Sie leben vegetarisch und vertilgen mit Vorliebe die fleischfressenden Pflanzen, aber die revanchieren sich und sorgen dafür, daß sich die Botiks nicht allzusehr vermehren.«
27 »Botiks?« »So nennen sie manche, den offiziellen Namen kenne ich nicht. Laß ihn laufen, Fartuloon.« »Natürlich lasse ich ihn laufen, aber ich bin davon überzeugt, daß wir weder ihn noch seine Freunde so schnell loswerden. Sie scheinen ungemein neugierig zu sein. Wenn ihr euch vorsichtig umseht, dann werdet ihr bemerken, daß sie uns regelrecht umzingelt haben. Überall stecken sie hinter dem Laub und dem Dickicht und beobachten uns. Sollte mich nicht wundern, wenn sie bald über uns herfallen.« »Was willst du denn tun? Vielleicht hilft es, wenn du sie anbrüllst.« Fartuloon grinste und setzte seinen Gefangenen auf den Ast und ließ ihn frei. Er sagte zu ihm: »Verschwinde, mein Kleiner! Und teile deinen Freunden mit, daß wir keine Zeit für sie haben. Wir haben genug mit uns selbst zu tun. Bleibt uns fern, sonst muß ich euch leider eine Lektion erteilen.« Der kleine Botik oder wie immer sie auch hießen machte einen Satz zur Seite und landete sicher auf einem anderen Ast. Er drehte sich noch einmal um, zog eine Grimasse, als wolle er Fartuloon ärgern, und verschwand mit einem zweiten Satz im nächsten Dickicht. Fartuloon schüttelte den Kopf und ging weiter. Hinter Ischtar flüsterte Ra heiser: »Ist das hier nicht ein Paradies? Hier möchte ich leben, für immer und mit dir, Ischtar. Ganz allein mit dir.« Sie drehte sich nicht um, als sie erwiderte: »Dieses mag deine Welt sein, aber es wäre nicht die meine. Sie ist mir zu wild, zu unberechenbar. Ich möchte hier nicht für den Rest meiner Tage leben. Selbst nicht mit Atlan!« Ra starrte auf ihren wohlgeformten Nacken, enttäuscht über ihre Reaktion. Dann biß er die Zähne zusammen, verzichtete auf eine Antwort und folgte ihr schweigend. Fartuloon war inzwischen damit beschäf-
28 tigt, einen Stamm zu finden, der weiter nach unten führte. Seiner Schätzung nach hatten sie bisher etwa einen Kilometer zurückgelegt. Sie befanden sich noch immer einige hundert Meter über dem festen Boden. Die Botiks hielten sich in respektvoller Entfernung, aber ihr Geschnatter machte Fartuloon langsam nervös. Er befolgte Ischtars Rat und brüllte sie einigemal heftig an, mit dem Erfolg, daß zwar für einen Augenblick Ruhe herrschte, dann aber das Gekeife mit doppelter Lautstärke fortgesetzt wurde. Die Botiks schienen Fartuloons Reaktion für eine Art Spiel zu halten. Sein Schwert schuf immer wieder neue Lücken in dem dichter werdenden Pflanzendickicht. Er schwang es mit einer Beharrlichkeit und Regelmäßigkeit, als habe er nie im Leben etwas anderes getan. Die Wirkung war derart, daß man hätte glauben können, die Pflanzen wichen vor dem Skarg zurück, noch ehe sie Bekanntschaft mit der Schneide machen konnten. Einer der Botiks war zu unvorsichtig. Er näherte sich von vorn und brachte sich dann nicht rechtzeitig wieder in Sicherheit. Jedenfalls schlug Fartuloon dem kleinen Kerl versehentlich den Kopf ab. Die Leiche stürzte in die Tiefe, blieb aber schon nach zwei Dutzend Metern in einer Matte aus Schlingpflanzen hängen. Der Erfolg des Unglücks war ein ohrenbetäubendes Gekreische, das aus allen Richtungen kam und so schrill und laut wurde, daß Fartuloon stehenblieb und sich entsetzt die Ohren zuhielt. Auch Ischtar und Ra verzogen ihre Gesichter, als bereite ihnen der Lärm körperliche Schmerzen. Und dann stürzten sich mehr als hundert Botiks auf Fartuloon. Ra und Ischtar waren etwa zwanzig Meter entfernt. Sie standen am Rand einer Astgabel, die mit trockenem Laub gefüllt war. Sicher handelte es sich dabei um ein Schlaflager der Botiks, in deren Revier sie eingedrungen waren. Als der Überfall erfolgte, wollte Ra Fartuloon zu Hilfe eilen, aber Ischtar hielt ihn
Clark Darlton fest. »Bleib! Er wird allein mit ihnen fertig, und den Strahler kannst du nicht einsetzen. Ich habe keine Lust zu verbrennen.« Als ob Fartuloon es geahnt hätte, rief er: »Bleibt dort, da seid ihr sicher. Ich verjage sie schon …« In der Tat bemühte er sich, die Angreifer in die Flucht zu schlagen, ohne sie zu verwunden oder gar zu töten. Er schrie sie an, schwang drohend sein Schwert und betonte immer wieder, natürlich völlig zwecklos, daß es sich um einen bedauerlichen Unfall gehandelt habe. Die schiere Masse der Angreifer erdrückte ihn geradezu. Er hätte sein Skarg kreisen lassen können, dann wäre kein Botik lebend an ihn herangekommen, aber er brachte es einfach nicht fertig, die im Grunde harmlosen Tiere abzuschlachten. Wären sie bösartig gewesen, hätte es für ihn keine Probleme gegeben, aber so hart Fartuloon einem echten Gegner gegenüber auch sein konnte, in diesem Fall war er hilflos. Er verlor den Halt, rutschte vom Stamm ab und stürzte in die Tiefe. Ra, der sich vorbeugte, verfolgte seinen Sturz und stellte fest, daß die Pflanzen seinen Fall immer wieder abbremsten, bis er auf einem Teppich landete, ihn allerdings mit seinem enormen Gewicht durchbrach und dann verschwand. Zurück blieb nur ein Loch, das seinem Körperumfang entsprach. Die Botiks stießen schrille Schreie aus und verschwanden blitzschnell. Ra war mit Ischtar allein.
4. Es gelang Fartuloon, endlich seinen Sturz abzufangen und zwischen dichten Lianen und bunten Pflanzen hängenzubleiben, die ihm allerdings gefährlicher schienen als die Botiks. Er blieb ganz ruhig liegen und wartete, bis der schwankende Untergrund sich beruhigt
In der Hand des Henkers hatte. Dann sah er auf die Uhr und drückte auf den Knopf des kleinen Telekoms am Armband. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis Ischtar sich meldete. »Bist du noch lebendig, Fartuloon?« »Es gehört mehr dazu, mich umzubringen. Seid ihr noch oben an der alten Stelle?« »Ja.« »Dann hör gut zu, Ischtar. Ich glaube, von hier aus, wo ich jetzt bin, kommt man relativ leicht hinab zum Boden. Aber es ist in einer halben Stunde dunkel. Es wäre zu gefährlich für euch, den Abstieg jetzt zu beginnen, und ich habe keine Lust, nach oben zu klettern und die Nacht irgendwo dazwischen zu verbringen, abgesehen davon, daß ich dann morgen wieder herabklettern müßte. Bleibt also dort, wo ihr jetzt seid. Gibt es einen Platz zum Übernachten?« »Da ist eine Astgabel, trocken und ziemlich groß. Gehört sicherlich den Botiks.« »Nehmt sie, und wenn die Botiks kommen, verjagt sie mit einem Paralyseschuß. Das wird wirken. Morgen früh gebe ich euch von hier aus Anweisungen, wie ihr klettern müßt. Ich habe mir während des Sturzes alles genau angesehen.« »Und das soll ich dir glauben?« Ihre Stimme klang skeptisch. »Es ging doch alles viel zu schnell.« »Immerhin fiel ich fast hundert Meter. Wir bleiben in Verbindung. Ich suche mir einen sicheren Platz und schalte auf Empfang. Wenn bei euch etwas los ist, brauchst du nur zu sprechen. Ich höre euch schon.« »Also gut, Fartuloon. Wir bleiben bis morgen. Und du kannst dich darauf verlassen, daß ich mich melden werde, wenn mir etwas nicht paßt. Ende!« Fartuloon lauschte dem Tonfall nach und glaubte, Bedenken daraus hören zu können. Bedenken wegen der Botiks? Wohl kaum. Ra vielleicht? Er schüttelte den Kopf und sah sich um. Es galt, bevor es dunkel wurde, ein sicheres Versteck zu finden und den bunten Blüten aus dem Weg zu gehen. Er schob das Skarg in die Scheide, um es nicht zu verlieren. Da-
29 für zog er das Messer, schnitt alle in der Nähe stehenden Blüten ab und warf trockene Zweige, von denen es genügend gab, in eine Mulde des Pflanzenteppichs. Die Dunkelheit kam so schnell, wie er es befürchtet hatte. Weit vor sich sah er einen rötlichen Schein durch die Blätter dringen. Das mußte der Vulkan sein, der noch tätig war und jeden Augenblick erneut ausbrechen konnte. Der Baum der Erinnerungen so hatte Ischtar ihn genannt. Was bedeutete das? Welche Erinnerungen waren gemeint? Und warum ausgerechnet auf diesem Urplaneten, auf dem es nicht die geringste Spur einer ehemaligen Zivilisation gab? Rätsel über Rätsel, aber Ischtar schwieg. Sie gab immer nur dann eines ihrer Geheimnisse bekannt, wenn ihr keine andere Wahl mehr blieb. Was bedeuteten zum Beispiel die »Toten Augen« des Sehers Vrentizianex und was hatten sie mit Atlans Rettung zu tun? Fartuloon gab es auf, darüber nachzudenken, als er die ersten Botiks bemerkte, die sich langsam an ihn heranschlichen. Schliefen denn die Biester überhaupt nicht? Er schaltete seinen kleinen Handstrahler auf schwächste Leistung. Er wollte keines der possierlichen Tiere mehr töten, aber er mußte sie verscheuchen. Schließlich mußte er ein paar Stunden schlafen, um morgen wieder fit zu sein. Der paralysierende Strahl erzeugte gerade soviel Licht, daß er die Opfer, die sein Kegel erfaßte, erkennen konnte. Er sah die Botiks in die Tiefe purzeln, einer nach dem anderen, bis keiner mehr vorhanden war. Gleichzeitig trat Ruhe ein. Der Wind hatte sich auch gelegt, kein Blatt rührte sich. Fartuloon grunzte befriedigt und streckte sich erneut auf seinem provisorischen Lager aus. Sein Telekom war auf Empfang. Er hatte es auf höchste Lautstärke gestellt, und wenn Ischtar oder Ra nur in ihr eigenes Gerät flüstern würden, gäbe das einen Krach, der ihn
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aus dem tiefsten Schlaf riß. Beruhigt schloß er die Augen. Er schlief das erste Mal in mehr als zweihundert Meter Höhe auf einem Baum.
* Ra schüttelte das trockene Laub zurecht und sagte zu Ischtar: »Leg dich hin, ich werde mich inzwischen umsehen. Ich bin sicher, das Nest gehört den Botiks. Sie werden kommen und uns sehen, und das gibt Ärger. Vielleicht wäre es gut, wenn ich ein paar Stunden wach bleibe, bis sie einsehen, daß ihr Bett für diese Nacht uns gehört.« »Tu das, Ra. Ich lege mich hin, denn ich bin müde. Hoffentlich wird es nachts nicht zu kalt, wir haben keine Decken mit.« Er lächelte. »Keine Sorge, Ischtar. Ich werde dich wärmen.« Sie schwieg und streckte sich in der Astgabel aus. Den Telekom hatte sie abgeschaltet, aber ein geringfügiger Druck auf den Knopf genügte, um den Sender einzuschalten. Dann würde Fartuloon jeden Laut hören können. Sie hoffte, daß sie das Gerät nicht brauchte. Ra hatte eigentlich zwei Gründe, sich noch nicht sofort zur Ruhe zu begeben, eigentlich sogar drei. Erstens wollte er die Botiks verscheuchen, falls sich wirklich einige von ihnen in der Nähe aufhielten. Dann fehlte ihm der Mut oder die Frechheit, sich jetzt sofort Ischtar zu nähern, und drittens hoffte er, sie leichter überrumpeln und überreden zu können, wenn sie halb schlief. Nie und nimmer aber würde er seine Absichten auf geben. Er entdeckte einige Botiks, die er paralysierte. Die restlichen tauchten im Dunkel der Nacht unter und kehrten nicht zurück. Morgen würden sie feststellen, daß ihre Gefährten nicht tot waren und ihr Nachtlager wieder frei war. Vorsichtig näherte er sich wieder der Astgabel. Obwohl es finster geworden war, hat-
ten sich seine Augen daran gewöhnt. Er konnte das Laublager erkennen, und auch Ischtars Umrisse. Noch war es warm, aber sie hatte nicht einmal die Bluse ihrer Kombination geöffnet. Ra hatte man einen Barbaren genannt, weil er von einer Urwelt stammte, von der er geraubt worden war. Das erklärte seine Einstellung. Um ihn und sein Verhalten jedoch gerecht zu beurteilen, sollte nicht vergessen werden, daß Ischtar sein erster Kontakt mit der Zivilisation gewesen war. Sie hatte ihn in ihr Raumschiff gelassen und sich ihm hingegeben. Das war es, was er niemals vergessen konnte, auch wenn es nun Atlan gab, den Ischtar liebte. Er betrachtete sie voller Begierde, aber da war noch immer etwas, das ihn davon abhielt, sich einfach auf sie zu stürzen: seine Treue zu Atlan, der ihn aus den Händen der Sklavenhändler befreit hatte. Er befand sich in einem Zwiespalt, mit dem er nicht fertig werden konnte. Auf der einen Seite das Gefühl der Loyalität, auf der anderen sein unbezähmbares Verlangen, Ischtar erneut zu besitzen und sei es nur noch für ein einziges Mal. Wirklich nur noch einmal? Würde sein Verlangen nach ihr nicht nur noch größer werden, wenn sie ihm jetzt nachgab? Würde er es vor Atlan verbergen können, falls er noch lebte? Je länger er Ischtar betrachtete, desto besser konnte er sie erkennen. Es war, als würde es heller, aber außer dem fernen Schein des Vulkans gab es kein Licht. Endlich nahm er allen noch verbliebenen Mut zusammen und stieg vorsichtig in die Astgabel hinab. Das trockene Laub raschelte, und Ischtar drehte sich auf die andere Seite, wobei sie etwas Unverständliches murmelte. Er legte sich unmittelbar neben sie, ohne sie dabei zu berühren. Fast hoffte er, sie würde aufwachen und sich umdrehen. Aber sie blieb liegen und atmete regelmäßig weiter. Schlief sie, oder tat sie nur so?
In der Hand des Henkers Er lag neben ihr und wußte nicht, was er nun tun sollte. Sie waren allein im Urwald, fast allein auf einer ganzen Welt. Auf einer Welt allerdings, auf der vielleicht Atlan noch lebte. Und auf der Fartuloon für Ischtars Sicherheit mitverantwortlich war. Doch er selbst war es gewesen, der ihnen geraten hatte, die Nacht in dieser Astgabelung zu verbringen. Behutsam legte Ra seinen Arm um Ischtars Schulter. Sie rührte sich nicht und atmete immer noch gleichmäßig. »Ischtar?« flüsterte er. »Schläfst du schon?« Keine Antwort. Der Druck seines Armes wurde etwas stärker. Er drehte sich auf die Seite und fühlte die Wärme ihres Körpers. Aber er beherrschte sich, denn immer wieder tauchte Atlan vor seinem geistigen Auge auf. Aber Ischtar war auch da, und sie war wirklich da. Und das Verlangen nach ihr wurde unerträglich und war nicht mehr zu bändigen. Er riß sie mit einem Ruck an sich. Sie wehrte sich nicht, aber sie sagte: »Ra, du tust unrecht! Ich hatte gehofft, du wärest mit meiner Nähe zufrieden. Ich bin bei dir, genügt dir das nicht? Du kannst mich beschützen und neben mir schlafen. Das ist alles, was ich dir geben kann und darf. Nimm deine Hand zurück und bleib ruhig.« »Ich kann es nicht. Ischtar«, erwiderte er. »Die Erinnerung an dich ist noch zu frisch, sie ist lebendig wie du und ich lebendig sind. Warum erlaubst du mir nicht wenigstens …« »Ich erlaube dir nichts, Ra, gar nichts! Nur, daß du neben mir liegst. Vergiß Atlan nicht! Muß ich dich immer wieder an ihn erinnern?« Der Griff seiner Hand lockerte sich. »Nein, das mußt du nicht. Ich vergesse ihn nicht, denn ich habe ihm viel zu verdanken. Aber das hat hiermit nichts zu tun!
31 Morgen sind wir vielleicht schon tot, Ischtar. Wäre es dann Atlan nicht egal, was geschehen ist falls er noch lebt?« »Es wäre ihm nicht egal, Ra. Aber wir werden leben, und auch Atlan wird leben. Und du wirst leben, Ra mit der Erinnerung an diese Nacht. Könntest du mit ihr leben, wenn ich deine Wünsche erfüllte?« »Du würdest mich sehr glücklich machen …« »Nein!« Sie wandte sich ihm zu und sah ihn an. »Ich habe dir das bereits oft zu erklären versucht, und ich werde es nicht noch einmal tun. Glaubst du, Fartuloon würde es riskieren, mich mit dir in dieser Nacht allein zu lassen. Sein Telekom ist auf Empfang. Ich brauche nur den Knopf bei meinem Gerät einzudrücken, und er wird jedes Wort hören, das wir sprechen. Noch habe ich den Sender nicht aktiviert, aber ich werde es tun, wenn du nicht sofort zu schlafen versuchst.« Ra blieb regungslos liegen und erwiderte nichts. Er wußte, daß Fartuloon in der Finsternis nicht so schnell zu ihnen heraufkommen konnte, aber das war es nicht, was ihn fast lähmte. Selbst wenn Fartuloon zu spät kam, um Ischtar zu helfen, so war er, Ra, verloren. Sie würden ihn allein auf dieser Urwelt zurücklassen. Seine Freundschaft mit Atlan war dann beendet. »Ischtar«, flüsterte er schließlich. »Du mußt mir verzeihen, aber ich kann nicht anders. Deine Nähe, die Wärme deines Körpers, deine Schönheit … Ich liebe dich, das ist es!« »Wandele das, was du Liebe nennst, in Freundschaft um, Ra, dann habe ich nichts dagegen, wenn du mich in den Arm nimmst und mich wärmst. Und morgen können wir uns und auch Fartuloon in die Augen sehen, ohne uns schämen zu müssen. Nein, keinen Einwand jetzt, Ra! Es ist mein letztes Wort! Oder ich schalte den Telekom ein!« Er gab keine Antwort, aber er lockerte den Griff seiner Hand. Er ließ es auch zu, daß sie sich nun auf den Rücken legte und seine Hand dabei unter ihren Nacken rutsch-
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te. So blieb er liegen, und sie auch. Über sich sah er nur das dunkle Dach des Baumes. Kein einziger Stern war sichtbar in dieser dunkelsten aller Nächte, nur von der Seite her kam der rötliche Feuerschein des Vulkans. Manchmal raschelte es in der Finsternis. Vielleicht waren es Botiks, die nach Nahrung suchten. Er spürte die Wärme ihres Körpers, der ihm nie mehr gehören würde, und allmählich übermannte ihn die Müdigkeit. Er schlief ein. Als er am anderen Morgen erwachte, lag Ischtar noch genauso da wie zu Beginn der Nacht. Sie schlug die Augen auf und sah ihn an. Ohne Scheu und Scham erwiderte er ihren Blick und lächelte.
* Fartuloon meldete sich, als Ischtar ihn über Funk rief. »Alles in Ordnung bei mir. Und bei euch?« »Kein Zwischenfall«, erklärte Ischtar mit einem Seitenblick auf Ra. »Sollen wir nach unten kommen und wie?« Fartuloon lachte dröhnend. »Das Einfachste wäre, ihre ließet euch fallen, dann kämt ihr problemlos bei mir an. Aber vielleicht ist es doch besser, ihr klettert. Da führt ein breiter Ast nach unten, gleich an der Stelle, an der ich abstürzte. Habt ihr heute schon Botiks gesehen?« »Nur in einiger Entfernung. Sie scheinen genug von uns zu haben.« »Gut, dann macht euch auf den Weg. Ich frühstücke inzwischen in aller Ruhe. Übrigens kann man den Feuerschein des Vulkans jetzt schon am Tage sehen. Ich fürchte, er wird uns noch Ärger bereiten.« »Und wir müssen die Wurzeln dieses Baumes finden«, sagte Ischtar mit Betonung. »Über den Wurzeln beginnt der eigentliche Stamm. In ihm finden wir die Toten Augen des Sehers.«
Fartuloon erwiderte: »Vielleicht erklärst du mir bei Gelegenheit, was es mit diesen Toten Augen auf sich hat. Soweit mir bekannt ist, können tote Augen nichts mehr sehen.« »Diese sehen mehr als lebendige«, teilte Ischtar kurz angebunden mit und fügte hinzu: »Wir machen uns jetzt auf den Weg. Bleib auf Empfang.« Diesmal ging Ra voran, den Strahler schußbereit in der Rechten. Mit der Linken hielt er die Zweige solange fest, bis Ischtar gefahrlos vorbei war. Die Botiks hielten sich in respektvoller Entfernung. Sie schienen aus den Ereignissen der vergangenen Nacht gelernt zu haben. So wie Ra auch. Der Ast war breiter als der, den sie nun verließen. Er führte schräg nach unten, und zwar in einem recht steilen Winkel. Ischtar klammerte sich an Ra fest, um den Halt nicht zu verlieren. Seine kräftigen Arme hielten sie, wenn sie ausrutschte, aber er zitterte nicht dabei. Es war, als hätte er die Krise überwunden, aber er selbst wußte am besten, daß sie jeden Augenblick wieder ausbrechen konnte. Endlich konnten sie Fartuloon sehen. Er stand auf einer grünen Wiese wenigstens sah es so aus. Um ihn herum lagen die geköpften bunten Blumen, die so gefährlich werden konnten, wenn man ihnen zu nahe kam. »Schön langsam, gleich habt ihr es geschafft«, rief er ihnen zu. »Ich habe schon den Weiterweg erkundet. Wir werden bald den Boden erreichen. Bin gespannt, wie es dort weitergeht.« »Wir haben noch etwa zehn Kilometer bis zum Stamm«, vermutete Ischtar. »Hoffentlich treffen wir nicht auf Sumpf.« »Dann klettern wir eben wieder in den Baum«, gab Fartuloon zurück. Endlich waren sie bei Fartuloon, der sie gelassen begrüßte und keine weiteren Fragen mehr stellte. Ohne ein Wort zu sagen, übernahm er wieder die Spitze, das Skarg in der Hand und wie es schien voller Zuversicht und Optimismus.
In der Hand des Henkers Sie drangen immer weiter nach unten vor, und über ihnen wurde das Dach des Baumes undurchdringlicher und dunkler. Vom Himmel war keine Spur zu sehen, aber man konnte die Sonne ahnen. Ihre Strahlen waren noch immer stark genug, das Pflanzendickicht zu durchdringen, wenn auch nur in Form einer fahlen Dämmerung. Gegen Mittag sahen sie zum ersten Mal den Waldboden unter sich. Sie erkannten ihn nur an einem kleineren Sumpfsee und einigen nackten Felsen, auf denen keine Vegetation wuchs. Überhaupt schienen hier unten, wo es nur wenig Licht gab, weniger Pflanzen zu sein als in dem Baum selbst. Das versprach ein besseres Vorankommen. Fartuloon machte halt. »Ich will versuchen, Morvoner zu erreichen. Er dürfte jetzt über uns sein.« Nach einigen Anrufen erhielt er auch Antwort. »Immer noch nichts?« Morvoner erwiderte: »Ich bin ständig auf Empfang, aber Magantilliken meldet sich nicht. Sein Schiff oder vielmehr Ischtars Schiff umläuft unverändert den Planeten. Es ist mit Sicherheit niemand an Bord. Der Henker und Atlan müssen sich auf dem Planeten aufhalten, dessen Namen ich mir nicht merken kann. Was soll ich tun?« »Weiterkreisen«, erwiderte Fartuloon trocken. »Und vor allen Dingen: gib Bescheid, wenn du eine Spur von Magantilliken entdeckst oder er sich meldet. Wir sind immer auf Empfang, wenn du über uns bist.« »Gut. Viel Glück! Ende!« Fartuloon schaltete ab. Er nahm wieder sein Skarg und kletterte weiter, diesmal steil nach unten. Er nahm das letzte Hindernis mit einem Sprung und landete am Ufer des Sumpfsees im weichen Boden. Mit feierlicher Gebärde hob er beide Arme, zusammen mit dem Schwert, in die Höhe und rief aus: »Damit nehme ich dich, Zercascholpek, in Besitz!« Ischtar kletterte mit Hilfe Ras zu ihm hin-
33 ab. »Zercascholpek gehört den Toten Augen und den Erinnerungen, Fartuloon. Du kommst zu spät. Wie geht es nun weiter?« Ra stand auch auf festem Boden und sah sich forschend um. »Wenn wir den Stamm finden wollen, müssen wir uns nach der Stärke der Äste richten. Je näher dem Hauptstamm, desto dicker.« Fartuloon deutete auf die andere Seite des kleinen Sees. »Also nach dort, klar. Aber wer weiß, was unter der Wasseroberfläche auf uns lauert. Ich glaube, wir überqueren den Sumpf auf althergebrachte Weise im Baum.« Die beiden anderen stimmten zu. Das ruhige und trübe aussehende Wasser wirkte wenig vertrauenerweckend. Sie fanden einen Ast, der wie eine Brücke zum anderen Ufer führte und sich dann im Dickicht verlor. Mühelos kletterten sie hinauf. Da er an einigen Stellen schon angefault war, riet Fartuloon, daß sie einzeln und nacheinander den Sumpfsee überqueren sollten. »Wenn ich heil drüben ankomme, dann ihr bestimmt«, versicherte er. Das Skarg in der Scheide, machte er den Anfang und befand sich bald mitten über dem nicht sehr breiten See, der allerdings rechts und links in Morast endete. Fartuloon balancierte sein Körpergewicht geschickt aus und wirkte fast graziös. »Gleich haben wir es geschafft«, verkündete er stolz und machte den nächsten Schritt, ohne darauf zu achten, daß der Stamm eine dunklere Farbe angenommen hatte. Er rutschte aus und strauchelte. Mit beiden Armen fuchtelte er haltsuchend in der Luft herum, aber keine Schlingpflanze war in der Nähe. Seine letzte Rettung sah er wohl darin, sich blitzschnell zu bücken, um sich mit den Händen festzuhalten. Aber auch das ging daneben. Zwar krallten sich seine Finger in das morsche Holz, aber er zog sie sofort mit einem Aufschrei wieder zurück, wollte sich
34 aufrichten und fiel dann kopfüber in die sumpfige Brühe, keinen Meter unter der Naturbrücke. Es platschte nicht besonders, und die trägen Wellen verrieten den moorigen Charakter des Sees. Fartuloon kam schnaufend wie ein Walroß wieder an die Oberfläche. Er stand bis zum Bauch im Wasser, sackte aber langsam immer tiefer ein. »Nun steht nicht so herum!« rief er und versuchte, sich nicht zu bewegen. »In zehn Minuten spätestens bin ich erledigt. Ra, du mußt aufpassen! In dem Ast hausen fingerlange Insekten, die verflucht unangenehm stechen. Hol mich hier heraus!« Ra, der schon unterwegs war, blieb stehen. »Insekten? Haben sie dich gestochen?« »Was meinst du wohl, warum ich in den Dreck gefallen bin?« Ra sah sich suchend nach allen Seiten um, dann entdeckte er das Stück einer lose herabhängenden Schlingpflanze. So schnell er konnte, rannte er hin und zog an ihr, bis er ein etwa zehn Meter langes Stück abschneiden konnte. Das dauerte einige Minuten, und als er zum Ufer des Sumpfsees zurückkam, reichte das Wasser Fartuloon bereits bis zur Brust. Ra stieg auf den Ast und ging so weit, bis Fartuloon ihn warnte. Dann warf er ihm das provisorische Seil zu, daß Fartuloon nur mit Mühe auffing und dabei wieder einige Zentimeter an Boden verlor. Aber er hielt die Liane fest. Ra schlang das andere Ende mehrmals um den Ast und begann zu ziehen. Unendlich langsam gab der Schlamm auf dem Grund des Sees sein Opfer wieder frei. Fartuloon half mit eigener Kraft nach, bis er endlich unter dem Ast war und ihn mit Hilfe Ras erkletterte. Hastig kehrte er zum Ufer zurück, wo Ischtar wartete. »Ein Schlammbad!« sagte er und betrachtete seine verschmierte Kleidung. »Ist auch nicht das Gesündeste hier …« »Du hast Glück gehabt«, erinnerte ihn Ra. »Wenn ich nicht schnell genug die Schlingpflanze gefunden hätte, wärest du unterge-
Clark Darlton gangen.« »Mistbrühe!« schimpfte Fartuloon und deutete auf den See, dessen Oberfläche wieder wie erstarrt wirkte. »Wie kommen wir jetzt auf die andere Seite? Über diesen Ast können wir nicht. Wir müssen einen anderen weiter oben nehmen.« Ra machte ihn auf andere niedrige Äste aufmerksam, die weiter rechts den Sumpf überspannten. Es war nicht notwendig, daß sie auf den Baum kletterten und ihre Kräfte vergeudeten. Ohne große Diskussion übernahm nun Ra die Führung und brachte sie sicher auf die andere Seite. Die nächsten zwei Kilometer waren einfach zu bewältigen und boten kaum nennenswerte Hindernisse. Von einem nahen Vulkan her war der Lavastrom herabgeflossen und dann erstarrt. Auf ihm wuchs nichts, aber das dunkelgrüne Dach des Baumes spannte sich auch über ihn und bildete ein undurchdringliches Dickicht. Manche der gewaltigen Luftwurzeln hatten versucht, in die Lava einzudringen, um Nahrung und Wasser für den Baum zu finden, aber sie waren nie tiefer als nur einige Zentimeter gelangt. Wie Seile hingen sie von oben herab und schaukelten im schwachen Wind halb vertrocknet hin und her. »Erstaunlich«, stellte Fartuloon fest. »Man kommt sich vor wie in einer riesigen Halle mit einer Decke und Wänden aus Pflanzen. Ich würde mich überhaupt nicht wundern, wenn uns jetzt von dort drüben ein Zauberer entgegenschritte, in der Hand einen Zauberstab, mit dem er uns in Vögel oder Würmer verwandelt …« Ischtar sagte spöttisch: »Du scheinst das Schlammbad gut überwunden zu haben, zumindest hat deine Phantasie nicht darunter gelitten. Einem Zauberer werden wir wohl kaum begegnen, aber vielleicht einem größeren Wunder und Rätsel, nämlich den Toten Augen. Weiter, Fartuloon, Ra!« Erneut drangen sie in das dichte Unterholz ein. In der Tat war deutlich zu bemerken, daß sich die Äste allmählich verdickten.
In der Hand des Henkers Ohne Zweifel näherte man sich dem Stamm. Ra blickte immer wieder nach links, wo der Feuerschein des nächsten Vulkans intensiver geworden war. Aus dem Kegel kamen dunkle Rauchwolken und verpesteten die Luft. Überhaupt war das Dickicht in dieser Richtung dünner und spärlicher, manchmal kam sogar ein Stück Himmel durch das ewige Grün der Pflanzen und Schwarz der Stämme. »Die Rauchwolken gefallen mir nicht«, sagte Ra und blieb stehen. »Sie sind ein Warnzeichen. Nicht mehr lange, dann kommt ein Ascheregen oder ein flüssiger Lavastrom. Wir müssen deinen Erinnerungsbaum bald finden, Ischtar, oder wir erreichen ihn nie.« »Wir sind unter ihm«, erinnerte sie ihn fast kühl. »Noch fünf Kilometer, nicht mehr. Sieh dir die Äste an! Es gibt keine dünnen mehr. Im Wipfel vielleicht, aber nicht hier unten.« Fartuloon sah ebenfalls zu dem Vulkan hinüber, der nur teilweise sichtbar war. Der Rest wurde von dem grünen Vorhang verdeckt. »Ra hat recht, das sieht ganz nach einem bevorstehenden Ausbruch aus. Wir müssen weiter, Freunde. Und wenn es gefährlich wird, klettern wir einfach wieder in den Baum. Hoffentlich schaffen wir es noch, bevor es wieder dunkel wird. Übrigens ist es gleich Zeit, Kontakt mit Morvoner aufzunehmen. Vielleicht hat er Neuigkeiten.« Aber Morvoner Sprangk hatte nichts für sie. Er teilte ihnen lediglich mit, daß er sich fast zu Tode langweile und liebend gern mit ihnen in den Bäumen herumklettern würde. »Wir bringen dir einen Botik mit«, versprach Fartuloon und unterbrach die Verbindung, ehe Morvoner fragen konnte, was das sei. Am späten Nachmittag brach der Vulkan aus. Sie merkten es an der plötzlichen Finsternis über ihnen, als der Ascheregen von oben in das Dach des Baumes fiel. Die trockenen Blätter und Äste fingen sofort Feuer, das
35 aber zum Glück in den tiefer gelegenen Regionen keine Nahrung mehr fand und allmählich erstickte. Vom Vulkan selbst näherte sich ein rotflüssiger Lavastrom. Er walzte die auf dem sumpfigen und teils felsigen Grund recht spärliche Vegetation nieder und setzte sogar einige dickere Äste des Baumes in Brand, dem er damit jedoch nicht viel anhaben konnte. Das Holz hier unten war feucht und zäh, und ehe es Feuer fangen konnte, war die Lava bereits abgekühlt. Aber für Fartuloon, Ra und Ischtar war sie noch immer zu heiß. Und für die Tiere, die nicht oben im Baum lebten. Nun erst zeigte sich, daß Zercascholpek eine reiche Fauna besaß. Riesige Echsen, sonst träge und faul, kamen aus den kochenden Sumpfseen und suchten ihr Heil in eiliger Flucht. Sie beachteten die drei Zweibeiner nicht, sondern hasteten an ihnen vorbei und verschwanden in der entgegengesetzten Richtung. Insekten wanderten in regelrechten Kolonnen daher und suchten nach einem dicken Ast, der bis zur Erde herabreichte, um dann in den Baum hinaufzuklettern. Es gab Schlangen und gefährlich aussehende Großinsekten, kleine und größere vierbeinige Tiere, die alle vor dem Feuer flohen, aber nur die wenigsten von ihnen kamen auf den Gedanken, in den Baum zu steigen, der ihnen Sicherheit geboten hätte. Fartuloon begann zu laufen, und das sah sehr komisch aus. Trotz der ernsten Situation mußte Ischtar lachen, als der dicke Bauchaufschneider nach einem herabhängenden Ast angelte und ihn endlich erwischte. Er zog ihn so weit nach unten, bis ein dickerer Ast in Reichweite kam, der ihn tragen konnte. Er begann, wie ein Affe daran emporzuklettern. »Nun kommt doch endlich!« rief er zurück. »Wollt ihr vielleicht gebraten werden?« Er hatte einen dicken Nebenstamm er-
36 reicht und setzte sich. Ra hob Ischtar empor, damit sie mit ihren Händen den rettenden Ast ergreifen konnte. Dann schob er nach, bis sie neben Fartuloon saß. Für Ra war das alles kein Problem. Geschickt zog er sich an dem Ast in die Höhe, den er wie ein Raubtier angesprungen hatte. Sie blickten nach unten. Der Lavastrom kroch schon langsamer, aber er kam noch immer voran. Er schob ungeschmolzene Steine vor sich her, nahm sie allmählich in sich auf und verflüssigte sie. Eine unerträglich werdende Hitze ging von ihm aus, und Fartuloon sagte: »Es wird wohl Zeit, daß wir höhersteigen und unseren Weg fortsetzen.« Sie fanden einen schräg nach oben führenden Stamm, der allerdings von Lebewesen aller Art bevölkert war. Eine fast zwei Meter lange Echse kroch langsam an ihm hoch und machte Platz, als Fartuloon sie mit der Spitze des Skarg kitzelte. Botiks protestierten mit schrillem Gekreische gegen die Invasion. Fartuloon brüllte ihnen ein paar Schimpfworte zu, dann waren sie für eine Weile ruhig. Etwa fünfzig Meter über dem Lavastrom hielten sie an. Selbst in dieser Höhe war die Hitze noch deutlich bemerkbar, und einige der bunten, fleischfressenden Blüten ließen schon die Köpfe hängen. »Hat also wenigstens auch etwas Gutes, der Vulkan«, stellte Ischtar voller Genugtuung fest. Sie hatte den Zwischenfall, der sie fast einen Fuß gekostet hätte, nicht vergessen. »Weiter, Fartuloon! Wir müssen die Wurzeln des Baumes finden.« Fartuloon rührte sich nicht vom Fleck. Er stützte sich auf sein Skarg und sagte: »Liebe Ischtar, du bist eine wunderschöne Frau, und Atlan liebt dich. Ich bin für deine Sicherheit verantwortlich und tue alles, um meinen diesbezüglichen Auftrag zu erfüllen. Ra übrigens auch. Aber ich wäre dir unendlich dankbar, wenn du endlich mit diesem verdammten Versteckspiel aufhören würdest. Was ist mit diesen Toten Augen, von denen du dauernd redest? Wäre es nicht bes-
Clark Darlton ser, wir versuchten, Atlan zu finden, indem wir mit dem Gleiter diesen Urplaneten systematisch absuchen?« Ischtar war vor Überraschung starr. Auch Ra schien sich über den Wutausbruch seines Freundes zu wundern, denn er war ebenfalls sprachlos. Verlegen spielte er mit seinem Handstrahler, den er aus dem Gürtel gezogen hatte. Fartuloon grunzte und fuhr fort: »Du findest keine Worte, holde Göttin? Soll das heißen, daß du mit meinem Vorschlag einverstanden bist und wir umkehren?« »Durchaus nicht!« fauchte Ischtar ihn an. »Wir gehen weiter, bis wir die Wurzeln gefunden haben. Du kannst mir glauben, daß wir dann früher etwas über Atlan erfahren werden, als wenn wir mit dem Gleiter herumgondeln und planlos suchten. Nun, worauf wartest du?« »Auf eine Erklärung!« Ischtar seufzte. »Ihr Männer behauptet immer, wir Frauen wären neugierig. Ich muß feststellen, daß Männer manchmal noch neugieriger sind. Du bist in dieser Hinsicht ein Musterbeispiel. Ich weiß doch selbst nicht, was diese Toten Augen des Sehers sind. Ich weiß nur, daß sie uns helfen werden. Zufrieden?« »Absolut nicht!« »Dann kann ich dir auch nicht helfen.« Sie wandte sich Ra zu. »Ra, ich gehe weiter. Wirst du mich begleiten?« Damit brachte sie Ra in eine arge Verlegenheit. Er sollte sich zwischen ihr und Fartuloon entscheiden, und das war gar nicht so einfach. Rein instinktiv drängte alles in ihm danach, mit ihr allein zu sein, und wenn er nun ihrer Bitte folgte, wäre das der Fall gewesen. Vielleicht hätte sie sich ihm gegenüber sogar dankbar erwiesen und wäre seinen Wünschen nachgekommen. Auf der anderen Seite war da Fartuloon, der beste Freund Atlans. Wenn er sich ihm entgegenstellte, hatte er nicht nur einen, sondern gleich zwei Todfeinde erworben. Lohnte sich das wirklich? Doch ganz abgesehen
In der Hand des Henkers von dieser Tatsache sagte ihm sein Menschenverstand, daß er und Ischtar verloren waren, wenn sie auf eigene Faust weitergingen. Die Aussicht, mit Ischtar allein auf dieser Urwelt zu sein, war mehr als verlockend. Aber noch verlockender war die Gewißheit, noch einige Jahre leben zu können. »Ich werde dich begleiten, Ischtar«, sagte er endlich. »Aber nur dann, wenn auch Fartuloon mit uns geht. Ich finde seine Fragen überflüssig. Du wirst uns schon alles erklären, wenn die Zeit kommt.« Fartuloon nickte und deutete in die alte Richtung. »Na schön, Ra, gehen wir weiter. Ich hoffe nur, daß du recht hast und Ischtar beizeiten den Mund aufmacht.« Sie wanderten wieder in der ursprünglichen Formation in der untersten Region des Baumes. Die »Landschaft« hatte sich geändert. Etwa fünfzig bis achtzig Meter über der Oberfläche, über die noch immer der Lavastrom hinwegkroch, hatte sich praktisch eine zweite Oberfläche gebildet. Die Äste waren derart verfilzt und von Pflanzen überwuchert, daß sich eine feste und stabile Unterlage gebildet hatte. Fartuloon marschierte als erster durch das hohe Gras, das hier wuchs. Selbst Erde hatte sich angesammelt und bot Nahrung für Hunderte von verschiedenen Pflanzenarten. »Die Wurzeln können nun nicht mehr weit sein«, sagte Ischtar hoffnungsvoll. »Bald werden wir wissen, wo Atlan ist.« Fartuloon öffnete schon den Mund, um eine Frage zu stellen, aber dann schloß er ihn wieder und schüttelte den Kopf, als wolle er sich selbst bestätigen, wie sinnlos Fragen waren, wenn man doch keine Antwort erhielt. Wortlos ging er weiter und verscheuchte einen Botik, der sich zu nahe an ihn heranwagte. Obwohl der Ascheregen nachgelassen hatte, war es dunkler geworden. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, daß die zweite Nacht anbrach. Die zweite Nacht im »Baum der Erinnerungen« …
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5. Die Nacht verlief ohne Zwischenfall. Fartuloon fand eine »Wiese«, um die herum die gefährlichen Blumen wuchsen und einen willkommenen Schutzwall gegen ungebetene Besucher bildeten. Mit dem Skarg hatte er eine schmale Gasse durch sie geschlagen und danach wieder getarnt. Ischtar schlief zwischen den beiden Männern, warm und geborgen. Als der Morgen graute, fand Ra ein riesiges Blatt, in dem sich wie in einer Wanne Wasser gesammelt hatte. Damit war das Waschproblem gelöst. Nach dem frugalen Frühstück, das aus Konzentraten und einigen gutschmeckenden Früchten bestand, sagte Fartuloon: »Wir werden aller Wahrscheinlichkeit nach heute unser Ziel erreichen diese sogenannten Toten Augen, was immer das auch sein mag. Danach, meine liebe Ischtar, werde ich mich nicht mehr davon abhalten lassen, intensiv nach Atlan zu suchen, der auf diesem Planeten sein muß. Das sollte auch in deinem Interesse liegen.« Sie nickte. »Natürlich tut es das, aber zuerst will ich die Augen des Sehers befragen. Sie werden uns Antwort geben.« »So, und woher willst du das wissen?« »Ich weiß es eben«, erwiderte sie kurz. Ihr Benehmen machte Fartuloon langsam, aber sicher rasend. Aber er beherrschte sich, warf Ra einen bezeichnenden Blick zu und erhob sich dann. »Machen wir uns auf den Weg«, sagte er nur. Sie fanden die Lücke in dem tödlichen Blumenwall und gelangten in ein relativ übersichtliches Gebiet der unteren Ebene, etwa fünfzig Meter über dem Erdboden. Der Lavastrom war abgekühlt und bewegte sich nicht mehr voran. Einige geflohene Tiere kehrten bereits in ihr ursprüngliches Revier zurück. Ra, der wieder den Abschluß bildete, rief
38 Fartuloon zu: »Die Äste siehst du sie? Sie gefallen mir nicht.« Fartuloon studierte die langen, dünnen Äste, die wie Schlingpflanzen von oben herabhingen, und erwiderte: »Ich kann nichts Verdächtiges an ihnen finden, Ra. Was ist mit ihnen?« »Sie sehen so lebendig aus, Fartuloon. Wie Schlangen.« »Der Baum ist harmlos, das wissen wir doch.« »Der Baum vielleicht, aber nicht alles, was in ihm wächst. Die dünnen Äste müssen nicht unbedingt zum Baum selbst gehören.« Fartuloon gab keine Antwort, nahm sein Skarg und ging weiter. Nach Ras Warnung wich er den dünnen Ästen aus, obwohl er nicht an eine Gefahr glaubte. Sie hingen lose von der höheren Ebene herab und bewegten sich nicht. Sie erinnerten an Luftwurzeln. Fartuloon wurde danach leichtsinniger, und als wolle er Ras Warnung betont in den Wind schlagen, schob er mit der linken Hand einige der dünnen Äste beiseite, als sie ihm im Weg waren. Nichts geschah. Er drehte sich um und lachte. »Siehst du, Ra? Sie tun nichts! Sie sind harmlos.« Er ging weiter. Ra ließ die verdächtigen Äste keine Sekunde aus den Augen, achtete dabei aber stets auf Ischtar, die unmittelbar vor ihm ging. In der Hand hielt er den Strahler, diesmal auf stärkere Energiestreuung eingestellt. Und dann geschah genau das, was er befürchtet hatte. Ischtar war Fartuloon gefolgt und hatte den lichten Vorhang der dünnen Äste ebenfalls mit der Hand zur Seite geschoben, um nicht ausweichen zu müssen. Im gleichen Augenblick schnellten die Äste, so als wären sie wirklich lebendig, herab und umschlangen die Varganin wie ein Dutzend Reptilien. Im Nu konnte sie sich nicht mehr rühren und hing hilflos in dem Gewirr der geschmeidi-
Clark Darlton gen »Äste«, die sie langsam in die Höhe zogen. Fartuloon hatte den Hilfeschrei Ischtars gehört, war stehengeblieben und sah sich um. Sein Skarg war viel zu kurz, um in diesem Augenblick von Nutzen zu sein. Ra hingegen hob den Strahler und nahm Ziel. Fartuloon wollte ihm eine Warnung zurufen, aber dann sah er zu seiner Erleichterung, daß Ra die Waffe wieder sinken ließ, hastig in den Gürtel schob und dann an einem stabil wirkenden Ast in die Höhe kletterte. »Brenne sie weiter oben ab!« rief Fartuloon hinter ihm her, und seiner Stimme war anzumerken, wie sehr er sich darüber ärgerte, nicht so gelenkig und geschickt zu sein wie der »Barbar«. Ra war bald auf gleicher Höhe mit Ischtar, die bei Bewußtsein geblieben war und ihn mit ihren Blicken gespannt verfolgte. Die lebenden Zweige zogen sie immer weiter in die Höhe. Wahrscheinlich stellten sie die Fangarme einer riesigen fleischfressenden Pflanze dar, die sich ihre Nahrung sogar von der untersten Ebene und vielleicht vom Boden selbst besorgte. Wenn man sie erledigen wollte, dann nützte das Verbrennen der Fangarme nur wenig. Wenn schon, mußte das Zentrum des Ungeheuers selbst vernichtet werden. Das war der Grund, warum Ra das Risiko einging und Ischtar vorerst noch der Ungewißheit überließ. Er blieb in ihrer Nähe und rief ihr mehrmals beruhigende Worte zu. Sie gab keine Antwort und verhielt sich ruhig, auch wehrte sie sich nicht gegen die Umklammerung der Äste. Sie schien zu ahnen, was Ra plante. Als sie nach unten blickte, erkannte sie Fartuloon, der auf dem breiten Ast stand und ihr nachsah. Eine weitere Vegetationsebene befand sich in einer Höhe von etwa hundertfünfzig Metern. In ihr verschwanden die Fangarme. Aber es gab eine Öffnung in ihr, und dicht daneben wurde der Ast, an dem Ra empor-
In der Hand des Henkers kletterte, unsichtbar. Das Grün umwucherte ihn. Trotzdem stieg er weiter, bis er sogar Ischtar überholte und zuerst die untere Seite der Ebene erreichte. Mit der Hand schob er das Moos und das Gras beiseite, kroch durch einen dichten Dschungel und stand dann auf nahezu festem Untergrund. Zehn Meter daneben war ein Loch, und mehr als fünf Dutzend eng gebündelter Fangarme füllten es fast aus. Sie alle endeten in einem Monstrum von Pflanze, dessen Blütenmaul weit geöffnet die Beute erwartete. Ra überlegte ernsthaft, ob es wohl eine Verständigung mit der Pflanze geben könne, aber ihm blieb zu wenig Zeit, es zu versuchen. Die Fangarme glitten langsam nach oben und verschwanden in dem gigantischen Körper des Schmarotzers. Ra zog den Strahler und stellte schärfste Energiebündelung ein. Dann wartete er, bis Ischtar in der dichten Vegetationsdecke erschien und eröffnete das genau gezielte Feuer in das Maul des Ungeheuers. Der Erfolg war verblüffend. Das Maul schloß sich abrupt mit einem schmatzenden Laut, während die Fangarme gleichzeitig ihren Halt zu verlieren schienen. Sie glitten aus der Pflanze zurück wie Ankerketten aus dem Bug eines Schiffes. Ischtar rutschte mit ihnen wieder auf das Loch in dem Vegetationsteppich zu und wäre in die Tiefe gestürzt, wenn Ra nicht blitzschnell gehandelt hätte. Mit einem Satz war er bei dem Bündel von Ästen und packte jene, die Ischtar hielten. Es gehörte eine fast übermenschliche Kraftanstrengung dazu, ihr Gewicht und das der Äste zu halten, aber es gelang ihm. Mit letzter Anstrengung zog er sie auf »festen Boden« und zerschnitt die Fangarme mit seinem Messer, das er nun statt des Strahlers in der Hand hielt. Erschöpft und von dem Schreck geschockt, lag sie schlaff in seinen Armen. In ihren Augen war Dankbarkeit. Vielleicht war es das, was Ra in diesem Moment miß-
39 verstand. Er zog sie höher zu sich heran und küßte sie, so wie er es früher getan hatte. Sie öffnete die Augen, holte mit der Rechten aus und schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. Fast hätte Ra sie losgelassen, aber dann wäre sie vielleicht in das Pflanzenloch gerollt und in die Tiefe gestürzt. Also hielt er sie fest. »Warum?« fragte er fassungslos. Sie fauchte: »Herzlichen Dank für die Rettung, Barbar, aber du glaubst doch nicht, daß ich meine Meinung geändert hätte? Lieber würde ich sterben als Atlan untreu werden. Warum willst du das nicht begreifen?« Ra stammelte hilflos: »Ich glaubte … Ich …« »Denke lieber, Ra! Das ist besser als glauben! Und nun bring mich zurück zu Fartuloon. Er wird sich Sorgen um uns machen.« Sein Griff war ungeschickter als vorher, denn er hatte sein Selbstvertrauen verloren. Trotzdem fand er den Ast wieder, an dem er herauf geklettert war. Obwohl es nun abwärts ging, war es mit Ischtars Gewicht schwieriger, als vorher die Kletterpartie nach oben. Fartuloon stand auf seinem sicheren breiten Ast und gab gute Ratschläge. Er wirkte ungemein erleichtert, daß Ra mit Ischtar zurückkehrte. »Tut mir leid«, bekannte er, als die Varganin sich niederhockte, um sich zu erholen, »daß ich nicht auf deine Warnung hörte, Ra. Wie konntest du nur wissen, daß sie die Fangarme einer fleischfressenden Pflanze waren?« »Es war mehr eine Ahnung, und dazu eine unlogische«, gab Ra zu. »Unlogisch? Wieso?« Ra grinste mühsam. »Hätte das Ungeheuer logisch gedacht, wärest wohl gerade du die bessere Beute gewesen, denn du wiegst eine Menge mehr als Ischtar. Aber sie verschonte dich, was ich niemals begreifen werde.« Fartuloon verzog das Gesicht. »Du entwickelst in letzter Zeit einen merkwürdigen Sinn für Humor für einen
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Humor, den ich gar nicht besonders liebe.« »Humor?« Ra hatte aufgehört zu grinsen. »Ich meinte es gar nicht lustig. Es ist doch wirklich merkwürdig, daß sie dich weitergehen ließ und ausgerechnet Ischtar schnappte, die viel weniger wiegt.« Fartuloon warf ihm einen bezeichnenden Blick zu. »Vielleicht liebt sie Frauenfleisch mehr als das unsere«, sagte er.
* Das Dickicht wurde immer undurchdringlicher, je mehr sie sich dem Hauptstamm näherten. Es spielte keine Rolle, auf welcher Ebene sie sich bewegten, überall begegneten ihnen die Lebewesen dieser unheimlichen Urwelt, ob es nun Pflanzen oder Tiere waren. Die Tiere waren nicht so schlimm wie die heimtückischen fleischfressenden Pflanzen, deren Beweglichkeit selbst Ra verblüffen mußte. Aus dem Nichts kamen ihre Fangarme hervorgeschossen und suchten ihr Opfer, und nur den schnellen Reaktionen von Ischtar und Ra war es zu verdanken, daß sie erfolglos blieben. Fartuloon hatte genug damit zu tun, mit dem Skarg einen Weg durch den Dschungel zu schlagen. Obwohl es Mittag war und die Sonne am höchsten stand, war es dunkler geworden. Das Licht drang kaum noch bis in diese Tiefen vor. Alle Lebewesen, die hier unten vegetierten, hatten sich an das ewige Dämmerlicht und an die nächtliche Finsternis gewöhnt. Sie sahen besser als die drei Eindringlinge und besaßen so gewisse Vorteile. Fartuloon hatte die Spitze wieder übernommen, nachdem Ra ihn eine Weile abgelöst hatte. Er schwang sein Skarg, als befinde er sich inmitten einer Schlacht. Was ihm im Weg stand, schlug er nieder. Er wußte, daß die Zeit allmählich knapp wurde. Rücksichtnahme wurde langsam zum Selbstmord. Und noch etwas Unerklärliches kam hin-
zu, das Fartuloons Nervosität von Minute zu Minute steigerte: der Baum der Erinnerungen war anders als die anderen Bäume. Er schien in seiner Art zu leben, auf seine Weise vielleicht sogar zu denken und zu fühlen. Eine Atmosphäre der Drohung umgab ihn und alles, was in ihm lebte oder vegetierte. Es war, als hole er zum entscheidenden Schlag gegen die drei Fremden aus, die nicht auf diese Welt gehörten. Der Ast, auf dem sie vordrangen, besaß bereits einen Durchmesser von mehr als fünf Metern und war wie ein Pfad. Er mußte direkt zum Hauptstamm führen. Und der Hauptstamm wiederum, das wußte jeder, endete in den Wurzeln. »Wir haben es bald geschafft«, behauptete Ischtar optimistisch. Fartuloon blieb stehen und ruhte seinen Arm aus. »Ja, natürlich haben wir es geschafft, wenigstens bis zu deinem Baum der Erinnerungen. Aber schließlich müssen wir den ganzen Weg wieder zurück, ganz abgesehen von den Schwierigkeiten, die uns der Baum selbst noch bereiten kann, und dann kommen noch die Toten Augen hinzu. Ich weiß nicht recht, Ischtar, ob es vernünftig war, deinem Rat zu folgen.« Die Varganin war ebenfalls stehengeblieben. Hinter ihr war Ra mit dem schußbereiten Strahler. »Es war richtig, Fartuloon, das wirst du bald erkennen. Manchmal führt ein kleiner Umweg schneller zum Ziel, als würde man planlos suchen. Wir werden Atlan sehr bald gefunden haben, wo immer er auch sein mag.« Fartuloon knurrte etwas Unverständliches, sah auf seine Uhr und meinte: »Gehen wir weiter, ehe es Nacht wird. Ich möchte die Wurzeln sehen, solange es noch einigermaßen hell ist.« Obwohl das Grün immer intensiver und dichter wurde, gab es weniger Tiere, je weiter sie vordrangen. Dafür begegneten sie immer öfter verschiedenen Arten von fleischfressenden Pflanzen. Das machte ihre Ent-
In der Hand des Henkers deckung ebenfalls schwieriger. Nun benutzte auch Ischtar ihren Strahler, wann immer das möglich war. Pflanzen und Laub waren so feucht, daß sie nur schwer Feuer fingen, wahrscheinlich ein natürlicher Schutz gegen die ständigen Vulkanausbrüche. Allmählich gelangten sie wieder in die unterste Region über dem Erdboden. Dieser bestand aus nacktem Felsen und Sumpfseen, die mit pflanzenüberdeckten Mooren wechselten. In ihnen lagen große Echsen oder Saurier und lauerten auf Beute. Ihre Augen bewegten sich kaum, wenn sie die Bewegung über sich sahen, aber sie warteten. Fartuloon tat ihnen nicht den Gefallen, noch einmal auszurutschen und in ihr weit geöffnetes Maul zu fallen. Er blieb doppelt vorsichtig. Aber dann, als sie schon den Hauptstamm vor sich sahen, passierte es.
6. Der Sumpf lag hinter ihnen, und der Boden schien trockener geworden zu sein. Es wuchsen sogar vereinzelte Büsche mit fingerlangen Dornen zwischen den gewaltigen Wurzeln des Baumes, die von dem Hauptstamm aus in alle Richtungen verliefen. Zwei solche Wurzeln mit einem Durchmesser von mehr als drei Metern rahmten wie Säulen eine dunkle Öffnung ein, die in den Stamm hineinzuführen schien. Davor war glatter Felsen, wie ein künstlich erschaffenes Plateau, in das Stufen eingeschmolzen worden waren. An einigen Stellen wuchs Gras aus den Ritzen. »Vorsicht, Fartuloon!« rief Ischtar plötzlich mit schriller Stimme. »Die Wächterin der Toten Augen! Sie hat uns bemerkt!« Fartuloon, der weitergegangen war, blieb ruckartig stehen. »Wächterin? Wo?« »Dort, beim Höhleneingang!« Angestrengt sah Fartuloon in das dämmerige Dunkel hinab, aber er konnte nur den Stamm, das Loch darin und die Wurzeln er-
41 kennen. Eine dieser Wurzeln, kam ihm vor, schien sich zu bewegen. Genau auf ihn zu. Der Ast, auf dem er mit Ischtar und Ra stand, war höchstens acht Meter über dem Felsplateau. »Fartuloon! Sie kommt hoch zu uns! Ra, nimm den Strahler …« Aber es war zu spät, den Energiestrahler einzusetzen. Die »Wurzel«, gut zwei Meter dick, schnellte plötzlich fast senkrecht in die Höhe und prallte gegen den Ast, auf dem Fartuloon und die anderen standen. Die Erschütterung war so stark, daß Ra taumelte und in die Tiefe gestürzt wäre, hätte er nicht reaktionsschnell seinen Strahler fallen gelassen und sich an den Schlingpflanzen festgehalten. Ischtar, rechtzeitig gewarnt, war zur Seite gesprungen und klammerte sich an einem dünneren Nebenast fest, der ihr genügend Halt gab. Allerdings benötigte sie dazu beide Hände, so daß es ihr unmöglich wurde, den eigenen Strahler einzusetzen. Am schlechtesten erging es Fartuloon, der am weitesten vorn stand und die ganze Wucht des Aufpralls mitbekam. Außerdem behinderte ihn das Skarg, das er in der rechten Hand hielt. Seine linke genügte nicht, das Gleichgewicht wieder herzustellen oder sich irgendwo festzuklammern. Er rutschte ab und landete genau auf dem zuckenden »Etwas«, das alles andere als eine Wurzel war. Es war der kalte, schuppige Leib einer gigantischen Riesenschlange, wie sie selbst Fartuloon noch nie in seinem Leben erblickt hatte. Er fand keinen richtigen Halt, zumal er nur die linke Hand zur Verfügung hatte, und glitt schräg nach unten, bis er das kleine Felsplateau direkt unter sich sah. Mit einem entschlossenen Sprung rettete er sich auf den festen Boden. Ein Blick zum Baum hinauf zeigte ihm, daß Ischtar und Ra in Sicherheit waren. Dann erst hatte er Zeit für die Schlange, deren restliches Hinterteil nun die Höhle verließ. Sie war mindestens dreißig Meter lang.
42 Ihr Kopf kam von oben aus dem an dieser Stelle dicht belaubten Baum auf ihn herabgestoßen. Fartuloon packte den Griff seines Schwertes fester und wich ein wenig zurück, um einen sichereren Stand zu bekommen. Ischtar hatte nichts davon erwähnt, daß es verboten sei, die ›Wächterin der Toten Augen‹ anzugreifen oder zu töten. Außerdem handelte er in Notwehr. Der Kopf der Schlange war riesig. Das breit geöffnete Maul maß einen guten Meter, in ihm waren zwei Reihen scharfer und spitzer Zähne zu sehen, und eine mächtige, gespaltene Zunge kam daraus hervor, als wolle sie die fette Beute abschmecken, die ihr in die Quere gelaufen war. Fartuloon verspürte wenig Lust, sich verspeisen zu lassen. Sein Schwert zuckte vor und schnitt einen Teil der Zunge glatt ab. Der Kopf der Schlange fuhr zurück. Das Monstrum hatte eine Lehre erteilt bekommen, die es sich merken würde. Der Leib ringelte sich zusammen, um dem Kopf mehr Bewegungsfreiheit nach allen Seiten zu geben. Weiter oben machte Ra Anstalten, den Baum zu verlassen. Fartuloon bemerkte es aus den Augenwinkeln heraus. »Oben bleiben!« rief er. »Paß auf Ischtar auf! Ich werde schon allein mit dem Biest fertig.« »Mein Strahler, er liegt dort, wo das Plateau anfängt.« »Das Skarg genügt mir«, gab Fartuloon zurück und fixierte die schillernden Augen der Schlange. Sie schien ihn hypnotisieren zu wollen, wenigstens hatte er diesen Eindruck. Ischtar war auf den dicken Ast zurückgekehrt, auf dem auch Ra stand. Sie schüttelte den Kopf, als er ihren Strahler haben wollte. »Nein, Ra, Fartuloon hat recht. Wir würden ihn nur gefährden, machten wir die Wächterin noch wütender. Wir greifen nur im Notfall ein.« »Ist das hier vielleicht keiner?« »Nein, noch nicht, Ra.«
Clark Darlton Wie gebannt sahen sie wieder auf das Plateau hinab, wo Fartuloon sich auf den nächsten Angriff vorbereitete. Er hielt sein Schwert waagerecht mit der Spitze nach vorn, genau auf den Kopf der Schlange gerichtet, die noch zögerte. Aus der verletzten Zunge quoll eine dunkelrote Flüssigkeit, die auf den Fels tropfte. Dann stieß das Ungeheuer abermals zu. Aber Fartuloon war darauf gefaßt. Mit einer blitzschnellen Bewegung, der weder Ra noch Ischtar mit den Augen zu folgen vermochten, sprang er einen Schritt auf den Angreifer zu und ließ das Schwert einmal kreisen. Ein weiterer Teil der vorgestreckten Zunge fiel dem überraschenden Streich zum Opfer, außerdem ritzte die scharfe Spitze den Hals der Schlange an seiner empfindlichsten Stelle. Auch hier erschien sofort Blut in der tiefen Wunde. »Das nächste Mal schlage ich ihr den Kopf ab!« versprach Fartuloon, über die relativ langsamen Reaktionen seines Gegners ein wenig verblüfft. »Ich glaube, da ist der Panzer am dünnsten.« Der Kopf der Schlange schaukelte langsam hin und her, wobei die Augen Fartuloon unentwegt anstarrten. In der Tat ging von ihnen eine lähmende Wirkung aus, die er jedoch erfolgreich abzuwehren verstand. Er wartete, bis der Hals in die günstigste Schlagposition kam, sprang einen weiteren Schritt vor und hieb mit aller Kraft zu. Das Ungeheuer reagierte abermals viel zu langsam. Es wich nicht einmal zurück, sondern riß das Maul nur noch weiter auf, so als wolle es Fartuloon in einem Stück schnappen und herunterschlucken. Das Maul blieb auch offen, als der Kopf von seinem Rumpf getrennt auf den Fels kollerte und davonrollte. Er fiel in das Dornengebüsch und verschwand darin. Fartuloon blieb stehen und wartete darauf, daß der Körper der Schlange, nun ohne Kopf, endlich in sich zusammensackte, aber er wartete vergeblich. Von oben herab rief Ischtar: »Sie ist nicht tot, Fartuloon! Aufpassen!
In der Hand des Henkers Die Wächterin hat nicht nur einen, sondern drei Köpfe! Sie greift wieder an …« Der Dicke wich vorsichtshalber ein paar Meter zurück, als die beiden angekündigten Köpfe ihn zu gleicher Zeit angriffen und aus dem Dickicht schnellten, genau auf ihn zu. Sie schienen mit dem abgeschlagenen identisch zu sein, wenigstens war kein Unterschied festzustellen. Aber sie kämpften mit einer anderen Taktik und vor allen Dingen gemeinsam. Jetzt wäre Fartuloon ganz froh gewesen, Ra mit dem Strahler neben sich zu wissen. Er hatte den Mund zu voll genommen, aber warum hatte ihm Ischtar auch nicht sofort gesagt, daß die Schlange drei Köpfe besaß? Vielleicht wußte sie es auch erst seit einer Minute. Die Köpfe kamen von beiden Seiten und nahmen ihn in die Zange. Um sie nicht näher herankommen zu lassen, hob er das Schwert bis in ihre Höhe und drehte sich so schnell im Kreis, daß den Köpfen keine Zeit blieb, auf Fartuloon herabzustoßen, wenn er mal dem einen und mal dem anderen für eine Sekunde den Rücken zuwandte. Dann stieß er überraschend zu. Das Skarg drang fast bis zum Griff in das weiche Halsfleisch des einen Angreifers ein, und der nicht abgemilderte Schwung ließ die Scheide seitlich wieder herausdringen. Der Kopf wurde zwar nicht völlig vom Rumpf getrennt, kippte aber nach unten und schien leblos geworden zu sein. Nun hatte die Schlange nicht mehr Köpfe als jede andere auch, allerdings war sie wesentlich größer und nun auch vorsichtiger. Sie begann, sich in die Höhle zurückzuziehen, mit dem Schwanz voran. Ischtar rief: »Wenn sie ihr Versteck im Baum aufsucht, ist sie unbesiegbar. In der Höhle können wir ihr nichts mehr anhaben. Töte sie, Fartuloon! Wir kommen jetzt und helfen dir!« »Ihr bleibt!« donnerte Fartuloon und folgte der Schlange. »Sie läuft doch vor mir weg …« »Sie lockt dich in eine Falle!«
43 Fartuloon winkte ab und bewegte sich schneller, um der Bestie den Rückzug abzuschneiden. Der halbe Körper war bereits in der Baumhöhle verschwunden, als er das Dornendickicht erreichte und darin eindrang. Zum Glück hielten seine Stiefel und der Lederrock den Angriffen der lebendig wirkenden Dornen stand, und als es ihm zu bunt wurde, hackte er eine Gasse in das Gestrüpp. Dann stand er neben den Säulenwurzeln, direkt neben der Höhle. Die Schlange schien seine Taktik nicht bemerkt zu haben. Der Kopf sah in eine andere Richtung und schien ihn zu suchen, während der Leib weiter zurück in die Höhle glitt. Fartuloon hob das Schwert und packte es mit beiden Händen. Die scharfe Schneide schwebte über dem schuppigen Leib, der immer dünner wurde, bis er sich dreifach teilte. Ein Hals war ohne Kopf, am zweiten hing pendelnd der leblose nach unten, nur der dritte war noch voll aktiv vorhanden. Fartuloon wartete, bis der weiche Nacken genau unter dem Skarg war, dann ließ er es mit aller Wucht herabsanken. Später, wenn er die Geschichte von der Riesenschlange mit den drei Köpfen erzählte, behauptete er immer, es sei wie eine Operation gewesen, so glatt habe er den Panzer, den Körper und die vorhandenen Knorpel durchschlagen. Ra half Ischtar, vom Baum zu klettern. Sie wirkte erschöpft, so als habe sie die Schlange besiegt, nicht Fartuloon, der sein Schwert an den Blättern säuberte und sich dann ihr zuwandte: »So, meine Gnädigste, zumindest erwarte ich nun eine Erklärung, was es mit dieser Wächterin auf sich hat. So hast du die Schlange doch wohl genannt, wenn ich mich nicht verhörte.« Sie nickte und lehnte sich gegen die Wurzel neben der Höhle. »Die Wächterin der Toten Augen des Sehers Vrentizianex richtig! Eine Mutation, die eigens für diesen Zweck gezüchtet und hier-
44 her gebracht wurde irgendwann von irgendwoher. Du hast sie getötet, aber das war die einzige Möglichkeit, in die Höhle zu gelangen. Wir müssen über den Leib steigen, er versperrt den Eingang.« »Immer mit der Ruhe«, warnte Fartuloon und hielt sie fest. »Gibt es noch andere Wächter? Von dieser Schlange hast du uns ja auch nichts erzählt bis es beinahe zu spät war.« »Es gibt nur eine Wächterin, und ich wußte nicht, ob sie noch hier war. Darum sagte ich vorher nichts.« »Aha, du wolltest uns nicht beunruhigen sehr rücksichtsvoll. Ra, du sorgst für Rückendeckung, ich werde versuchen, in die Höhle einzudringen.« »Ich komme mit!« sagte Ischtar bestimmt. Fartuloon nickte gleichmütig. »Dagegen habe ich nichts falls du den Schlangengestank aushälfst. Riecht nicht gerade angenehm.« In der Tat schlug ihnen aus der Höhle ein Pesthauch entgegen, der ihnen fast den Atem raubte. Fartuloon schaltete seine winzige Stablampe ein, um besser sehen zu können. Der Stamm des Baumes der Erinnerungen schien völlig ausgehöhlt zu sein, wenigstens im untersten Teil. Rohe Stufen führten in die Tiefe unter den Wurzeln, und zum Glück erreichten Fartuloon und seine Begleiter sehr bald den Schwanz und damit das Ende der toten Schlange. »Es stinkt bestialisch«, stellte Ra überflüssigerweise fest. »Halt einfach die Luft an«, riet Fartuloon. Die Stufen hatten aufgehört. Sie befanden sich nun etwa zehn Meter unter dem Felsplateau. Der Boden war weich und mit fahlem Moos bedeckt, das kein Licht benötigte. In der Dunkelheit leuchtete es sogar selbst ein wenig. Obwohl sie sich unter der Oberfläche aufhielten, sahen sie noch immer Baumwurzeln und verfaultes Holz. Die Höhle selbst war natürlichen Ursprungs, aber jemand hatte kräftig nachgeholfen. Der Kyriliane-Seher Vrentizianex, dessen
Clark Darlton Toten Augen hier verborgen sein sollen? Oder wer? Ra, der seinen Energiestrahler längst wieder an sich genommen hatte, blieb stehen, als Fartuloon und Ischtar den Rundraum erreichten, der zugleich das Ende der Höhle darstellte. Der Schein der kleinen Lampe wanderte über die verschlungenen Baumwurzeln an den Wänden, über den unebenen Boden und die Decke aus verfaultem Holz. Fartuloon sagte schließlich: »Du wirst endlich einsehen müssen, Ischtar, daß es nicht gut war, auf dich zu hören. Drer Tage sind wir durch diese Bäume geklettert und wären fast dreimal gestorben, nun sind wir endlich hier aber ich sehe nichts, was den Toten Augen eines Sehers auch nur ähnlich sähe. Du vielleicht?« »Lösch deine Lampe, Fartuloon.« »Ich soll was? Wozu denn das?« »Lösche sie, dann wirst du die Augen sehen, wenn du dich an die Dunkelheit gewöhnt hast.« »Das ist aber nun auch das letzte Mal, daß ich auf dich höre, meine Liebe. Glaubst du, daß es ein Vergnügen ist, hier in der Finsternis herumzustehen und auf ein Wunder zu warten?« Er schaltete das Licht aus. Der Raum wurde nicht absolut dunkel. Selbst die Wurzeln schienen sanft zu glimmen und verbreiteten eine diffuse Dämmerung, die allmählich intensiver zu werden schien. Das verfaulte Holz an der Decke und auf dem Boden leuchtete ebenfalls, fahl und unheimlich. Es herrschte eine richtige Geisterstimmung. Am Ende des Raumes, so bemerkte Fartuloon nun, war das Leuchten ein wenig stärker. Es kam aus einer Mulde an der Wand und spiegelte sich an der feuchten Decke wenige Meter darüber. »Geh hin und sieh es dir an«, riet Ischtar ruhig. Fartuloon zögerte. »Sind sie das?« fragte er unsicher. »Geh hin!« wiederholte sie. Er hatte sein Skarg längst in die Scheide
In der Hand des Henkers gesteckt, da es ihn hier innerhalb der Höhle nur behindert hätte. Die gelöschte Lampe behielt er in der Hand, um sie jederzeit wieder einschalten zu können. Als er näher an die kleine Mulde herantrat, sah er, daß es zwei fahle Leuchtquellen gab, nicht nur eine. Sie ruhten dicht nebeneinander in der mit Moos ausgefüllten Mulde und sie waren rund wie ein Ball. Oder rund wie Augen? »Siehst du sie?« fragte Ischtar. Fartuloon antwortete: »Ich sehe zwei Kugeln, aber sie sind zu groß für Augen.« »Dann sind sie es die Toten Augen von Vrentizianex! Wir sind am Ziel, Fartuloon, Ra!« Fartuloon blieb skeptisch. »Ich sehe nur zwei schwach leuchtende Kugeln, das ist alles. Wie sollen sie uns helfen, Atlan zu finden? Und überhaupt: was soll das alles bedeuten? Willst du uns nicht endlich er klären …« »Man muß sie aus der Mulde nehmen, Fartuloon. Aber sehr vorsichtig! Sie dürfen nicht verletzt werden.« Fartuloon seufzte und schaltete die Lampe wieder ein, um sich die beiden rätselhaften Gegenstände genauer ansehen zu können. Sie lagen in einem richtigen Moospolster und schienen fest mit ihrer Unterlage verbunden zu sein. Sie waren weißgelb und von feinen Äderchen durchzogen. Aber sie besaßen keine Pupillen, sonst hätten sie in der Tat wie Augen ausgesehen. Ischtar war herbeigekommen, und auch Ra überwand seine Scheu und ging weiter, bis er neben ihr stand. Er starrte verständnislos auf die weißgelben Bälle. »Und jetzt?« erkundigte sich Fartuloon. »Aus der Mulde nehmen«, wiederholte Ischtar. »Aber das ist nicht so einfach, denn sie sind eine Symbiose mit dem Baum der Erinnerungen eingegangen und werden von ihm genährt. Du mußt die Wurzeln finden und durchtrennen.« »Schon wieder eine Operation?« beschwerte sich Fartuloon ungläubig. »Aber es
45 sind doch die Toten Augen, warum sollten die noch ernährt werden? Wenn es also wirklich Wurzeln gibt, die sie mit dem Baum und seinem Kreislauf verbinden, so erscheinen sie mir sinnlos.« »Schneide sie durch!« befahl Ischtar ohne Kommentar. Ra gab Fartuloon sein scharfes Jagdmesser und hielt dafür die Lampe. Der Dicke war trotz aller Zweifel wieder in seinem Element, denn er war ein guter Arzt und Chirurg gewesen ein echter Bauchaufschneider der vornehmen Arkoniden. Vorsichtig berührte er den linken Augenball. Er hatte das Gefühl, daß er aus hartem Gummi bestand, oder aus einer Kunstmasse, die an Gummi erinnerte. Es gelang ihm, das Auge etwa zehn Zentimeter anzuheben, dann erst spürte er den Widerstand. Ra leuchtete, und sie alle sahen die feinen, haardünnen Würzelchen, die in das Moos hineinführten. »Wahrhaftig!« wunderte sich Fartuloon. »Sie sind mit dem Baum verbunden!« »Schneide die Wurzeln durch«, bat Ischtar drängend. Fartuloon zuckte die Schultern, zog das Auge ein wenig nach oben, damit die Wurzeln stramm wurden und schnitt sie durch, eine nach der anderen, bis der Ball frei war. »Halte ihn fest, Ra. Aber nicht fallen lassen! Ischtar kann leuchten.« Ra nahm den Gegenstand nur zögernd an. Er hielt ihn behutsam in beiden Händen und rührte sich nicht vom Fleck. Ischtar nahm die Lampe, beugte sich zu dem gebückten Fartuloon hinab und leuchtete. Die zweite Operation gelang ebenfalls, zumindest passierte nichts weiter. Das zweite Auge kam frei, während sich die Wurzeln in das dichte Moospolster zurückzogen. Fartuloon nahm Ra das erste Auge wieder ab und gab ihm das Messer zurück. Ischtar betrachtete die unbedeutend wirkenden Bälle, und wenn sie Enttäuschung empfand, so zeigte sie es nicht. Es schien, als warte sie auf etwas, aber sie schwieg. »Und nun?« erkundigte sich Fartuloon,
46 und wer ihn genau kannte, hörte aus seiner Stimme den Unterton von Schadenfreude heraus. »Jetzt haben wir die Dinger. Kannst du mir verraten, wie sie uns helfen sollen, Atlan zu finden? Die Toten Augen eines Sehers … Pah!« »Urteile nicht voreilig«, ermahnte ihn Ischtar. »Sie müssen erst unsere Gedanken verarbeiten und erfahren, was wir von ihnen wollen. Alles dauert seine Zeit.« »Unsere Gedanken?« Fartuloon betrachtete die beiden Augen voller Skepsis. »Sind die vielleicht telepathisch?« Ischtar gab keine Antwort. Es schien, als konzentriere sie sich, so als wolle sie jemandem einen stummen Befehl erteilen. Unentwegt blickte sie auf die beiden Augen, die ihren selbst weit geöffnet und fast starr wirkend. Endlich sagte sie: »Ra, du kannst die Lampe ausschalten. Es muß so dunkel sein wie möglich.« Fartuloon lehnte sich gegen die feuchtkühle Wand der Höhle. Er hatte sich fest vorgenommen, den »Zirkus«, wie er es heimlich bei sich nannte, nur noch kurze Zeit mitzumachen, und wenn dann nichts Entscheidendes geschah, würde er Ischtar notfalls mit Gewalt zum Beiboot zurückbringen und sich auf die Suche nach Atlan machen. Das Beiboot vom Typ F1 war ihm lieber als sämtliche Toten Augen aller im Kosmos existierenden Seher. Ischtar sagte in die gespannte Stille hinein: »Fartuloon, diese beiden Augen, die du in deinen Händen hältst und von denen du glaubst, daß sie wertlos sind, haben schon mehr gesehen als wir drei zusammen. Sie haben die Fähigkeit, uns überall dorthin zu führen, wo sie schon einmal waren. Ich weiß, daß sie auch schon den Stein der Weisen gesehen haben …« Es war völlig still in der Höhle, nur das Atmen der drei Personen war zu hören, und das gelegentliche Herabfallen von Wassertropfen. Fartuloon begriff sofort die Bedeu-
Clark Darlton tung von Ischtars Worten. Der Stein der Weisen! Wenn die Augen wirklich die Fähigkeit besaßen, die Ischtar ihnen vielleicht nur andichtete, war Atlans größtes Problem gelöst, denn nur mit Hilfe des Steins der Weisen konnte eisernen verräterischen Oheim Orbanaschol III, den Imperator, stellen und bestrafen. Doch in erster Linie ging es jetzt darum, Atlan zu finden. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder mehr den Augen zu, die er in seinen geöffneten Händen Ischtar entgegenhielt. Sie leuchteten noch immer schwach, aber manchmal war es so, als huschten Schatten oder auch Lichtreflexe über sie hinweg. Die feinen Aderchen pulsierten wie sanft glühende Drähte, und es sah so aus, als wollten sie sich zu ganz bestimmten Mustern ordnen. Das Erstaunlichste war, daß sich beide Augen gleich verhielten, so als wären sie identisch. Obwohl Fartuloons Geduld auf eine harte Probe gestellt wurde, verhielt er sich ruhig und abwartend. Immerhin hielt er keine leblosen Gummibälle in der Hand, wie er langsam begriff. »Sie haben Atlan gefunden«, sagte Ischtar plötzlich und unterbrach das unheimliche Schweigen. »Jetzt haben sie ihn gefunden, und gleich werden wir wissen, wo er sich aufhält.« Nun starrten auch Fartuloon und Ra angestrengt auf die schimmernden und sich ständig verändernden Augen des Sehers, auf denen sich allmählich ein Bild abzuzeichnen begann. Einzelheiten waren noch nicht zu erkennen, denn die Teilstücke drehten sich zusammenhanglos um das Zentrum, wo die Pupille fehlte. Sie mußten sich erst ordnen. Das alles wirkte wie ein Fernsehschirm, der seine Zeilen nicht koordinieren konnte. Ein Bild war vorhanden, aber in chaotischem Zustand und nicht zu definieren. Fartuloon erkannte den Kegel eines Vulkans, mehrfach geteilt und noch nicht zusammengesetzt, dazwischen Bruchstücke ei-
In der Hand des Henkers nes seltsam geformten Baumes, und dann eine Partie von Atlans Gesicht … »Es dauert nicht mehr lange«, flüsterte Ischtar triumphierend. Immer deutlicher wurde das Bild, aber Fartuloon konzentrierte sich in erster Linie auf Atlan. Er lebte! Aber er befand sich in Schwierigkeiten. Der Vulkan war nun vollständig und in seiner Form unverkennbar. Fartuloon wußte, daß er ihn schon gesehen hatte, als sie Zercascholpek mit der F1 überflogen. Auch der Raum, der am Hang des Vulkans wuchs, war leicht wiederzufinden. Atlan war der Gefangene eines Baumes, der ihn mit seinen Zweigen umschlungen hielt. »Wir müssen den Vulkan und den Baum finden!« unterbrach Fartuloon die Stille. »Ischtar, ich glaube, das wird möglich sein. Wir müssen sofort zurück zum Boot.« Er zögerte, während Ra die Lampe wieder einschaltete. Dann fragte er: »Wie ist das alles möglich? Sind es wirkliche Augen, was ich in den Händen halte?« »Es sind die Toten Augen des Kyriliane-Sehers Vrentizianex«, erwiderte Ischtar. Er schnaubte wütend. »Ja, das hast du schon ein paarmal gesagt, aber das ist keine Erklärung. Ich möchte wissen, wie sie funktionieren und besonders nachdem wir die Wurzeln durchgeschnitten haben.« »Wir müssen jetzt gehen«, forderte die Varganin ihn auf. Fartuloon gab es auf. Er schob die Augen in seine Tragtasche, nahm Ra die Lampe ab und ging voran. Die beiden anderen folgten ihm.
* Es war ihnen allen dreien klar, daß Magantilliken ihnen eine perfekte Falle gestellt hatte. Er mußte wissen, daß sie den Vulkanbaum finden würden, und dort würde er auch auf sie warten, um Ischtar, die Güldene Göttin, endlich töten und damit seinen Auf-
47 trag erfüllen zu können, den er aus der Eisigen Sphäre erhalten hatte. Trotzdem blieb ihnen keine andere Wahl, als Atlan zu helfen. Wichtig war, daß er längere Zeit durchhielt. Vielleicht schafften sie den Rückweg zur F1 auch schon in einem Tag, denn nun kannten sie den Weg und die Gefahren. Über den Kadaver der toten »Wächterin« gelangten sie ins Freie. Hier hatte sich nichts verändert. Es war früher Nachmittag, und über dem dicken Vegetationsteppich des Baumes konnte man die Sonne ahnen. Fartuloon deutete auf den nächsten Ast, der in die Höhe führte. »Den nehmen wir und halten uns nicht mehr länger auf. Wir steigen bis dicht unter den Wipfel, dort kommen wir am schnellsten voran. Ischtar wieder in die Mitte, und du, Ra, gehst dicht hinter ihr, den Strahler schußbereit. Schalte auf Lähmwirkung, das genügt. Sollten die Botiks uns aufhalten wollen, betäube sie. Fertig? Dann los!« Während des Aufstiegs nahm er Kontakt mit Morvoner in der FARNATHIA auf und unterrichtete ihn. Eine halbe Stunde später schien die Sonne durch das nur noch dünne Blätterdach des Baumes. Sie kamen gut voran, denn hier oben wuchsen kaum noch fleischfressende Pflanzen, weil sie zwischen den Ästen nicht mehr genug Nahrung und Halt fanden. Immerhin jedoch waren diese Äste noch stark genug, Fartuloon, Ischtar und Ra zu tragen. Die Botiks ließen sich kaum sehen. Einmal nur, am späteren Nachmittag, tauchte ein ganzes Rudel von ihnen auf und versperrte ihnen den Weg. Es steckte keine bösartige Absicht dahinter, und Fartuloon hatte das Gefühl, daß sie einfach nur spielen wollten. Doch zum Spiel war jetzt keine Zeit. Er brüllte sie an, und sie wichen ein wenig zurück. Aber dann hielten sie sein Gebrüll wohl für eine Art Aufforderung, und wie auf Kommando begann ein ohrenbetäubendes Konzert aus mehreren hundert Kehlen. Das war ein schrilles Gekreische mit
48 quietschenden Aufschreien und gellenden Pfiffen, die jedem Schiedsrichter bei einer Sportveranstaltung das Blut in den Adern hätten gefrieren lassen. Fartuloon hielt sich entsetzt die Ohren zu und nickte Ra zu. Ra zögerte. »Ich kann doch nicht einfach … Fartuloon, das wäre grausam. Sie sind so nett und harmlos …« »Atlan ist in Gefahr, wir dürfen keine einzige Minute unnütz vergeuden! Schieß endlich! Es passiert ihnen ja nichts. Wir müssen weiter!« Ischtar hatte einen festen Halt gefunden und ihre eigene Waffe gezogen. Sie begann als erste zu feuern. Ra folgte nun auch ihrem Beispiel. Die Botiks purzelten gelähmt von ihren Ästen und verschwanden zwischen dem undurchdringlichen Grün der oberen Ebenen. Es war so gut wie ausgeschlossen, daß sie allzu tief stürzten, denn früher oder später wurden sie von den Vegetationsteppichen aufgefangen. Es mußte schon ein Zufall sein, wenn einer von ihnen ausgerechnet in das weit geöffnete Maul einer der bunten Blüten fiel, und wenn, dann würde die Wucht des Aufpralls der gefräßigen Blume kaum gut bekommen. Es war ein Spiel, daß den Botiks überhaupt nicht gefiel. In wilder Flucht stoben die von den Lähmstrahlern Verschonten davon und brachten sich eiligst in Sicherheit. Fartuloon nickte seinen Begleitern zu und ging weiter. Als es dunkel zu werden begann, hatten sie eine größere Strecke zurückgelegt als vorher in zwei Tagen. Den Instrumenten zufolge waren sie nur noch zwei Kilometer vom Beiboot entfernt. Fartuloon blieb stehen. »Ich glaube, wir legen eine Rast ein. Dann marschieren wir im Dunkeln weiter. Wir haben ja die Lampe, und jetzt kenne ich den Weg. Es ist derselbe, auf dem wir das Boot vor drei Tagen verließen.« Sie aßen von ihren restlichen Konzentra-
Clark Darlton ten und ruhten sich aus. Um sie herum war die grüne Hölle mit ihren Geräuschen. Überall raschelte es in den Zweigen, und manchmal hörten sie einen Botik kreischen. Aber das beunruhigte sie nicht. Ihre einzige Sorge war, Atlan rechtzeitig zu finden, ehe er seine Kräfte verlor und der Vulkanbaum ihn erwürgte. Vor Mitternacht brachen sie wieder auf. Die Lampe spendete zwar viel Licht, aber der Schein reichte nicht sehr weit. Immerhin genügte es Fartuloon, immer den richtigen Ast zu finden, auf dem es weiterging. Ischtar war nun dicht aufgerückt und kletterte unmittelbar hinter ihm, gefolgt von Ra, der seinen Strahler in den Gürtel geschoben hatte, um beide Hände frei zu haben. Fartuloon sah auf den kleinen Massetaster. »Noch dreihundert Meter, und etwas nach links.« Sie fanden den richtigen Ast, und dann sahen sie im Schein der Sterne die silbern glänzende Kuppel des Beiboots durch die letzten Zweige schimmern. Fartuloon, der sein Skarg längst in der Scheide trug, atmete erleichtert auf. Er hatte selbst nicht fest daran geglaubt, es so schnell schaffen zu können. Doch nun waren sie am Ziel, und nach einigen Stunden Schlaf konnten sie mit der Suche nach Allan beginnen. Er blieb abrupt stehen, als er den Schatten vor sich sah. Vielleicht ein Botik? Er richtete den Strahl der Lampe auf den Schatten und hielt unwillkürlich die Luft an, als er den alten Mann im Lendenschurz vor sich sah. Er stand auf dem Ast vor der F1 und hatte beide Hände zum Zeichen des Friedens erhoben. Seine Augen waren weit geöffnet …
* Als der dritte Jäger mit seiner Meldung zurückkam, daß das Schiff aus dem Himmel noch immer unbeweglich und von seinen Insassen verlassen am gleichen Fleck stand,
In der Hand des Henkers wurde Kara ungeduldig. Sie rief Teron, den Ältesten, zu sich und sagte: »Was ist nun mit den Fremden? Sie stiegen in den Baum der Wunder, und sie kamen nicht zurück. Wurden sie bestraft? Hast du eine Antwort?« »Ich habe keine Antwort, Kara, aber ich bin bereit, sie für uns alle zu holen. Gib mir die Erlaubnis, den Heiligen Baum zu betreten.« »Du willst …« Sie starrte ihn fassungslos an, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich kann dir eine solche Erlaubnis nicht geben, aber ich werde es dir auch nicht verbieten. Genügt das?« »Sage den Jägern Bescheid.« »Einer von ihnen wird dich zum Heiligen Baum begleiten.« Teron brach sogleich auf, denn er wollte keine Zeit verlieren. Die Frage nach der Vergangenheit seines Volkes brannte ihm so auf der Seele, daß er die Antwort wissen mußte, wie immer sie auch ausfallen sollte. Die Fremden würden sie geben können, davon war er überzeugt. Sie erreichten das Grenzgebiet vor der Dämmerung. Die Jäger wurden unterrichtet und ließen Teron passieren. Sie sahen in ihm einen Todeskandidaten, denn niemand betrat ungestraft den Heiligen Baum. Teron aber kletterte mühsam auf der obersten Ebene bis zu dem schimmernden Objekt, das vom Himmel gekommen war. Er hielt sich in respektvoller Entfernung, denn er wußte, daß der helle Schein den Tod bedeutete. Auch das hatte er in den alten Aufzeichnungen gelesen. Es wurde dunkel und dann Nacht. Aber er blieb auf seinem Posten, wenn die Müdigkeit ihn auch fast zu überwältigen drohte. Er saß in einer Astgabel, und selbst wenn er eingeschlafen wäre, hätte er nicht den Halt verlieren und abstürzen können. Kurz vor der Morgendämmerung hörte er ein ungewohntes Geräusch und Sprechen. Seine Stammesbrüder konnten es nicht sein, denn die hielten sich in der entgegengesetzten Richtung auf und waren auch zu weit
49 entfernt. Vorsichtig erhob er sich und sah in der Ferne ein Licht durch die oberen Äste und Zweige wandern. Es war keine Fackel, das erkannte er sofort. Es mußten die Fremden sein, die von ihrem Ausflug zurückkehrten. Er umrundete das kleine Schiff in respektvollem Abstand und ging ihnen ein paar Dutzend Meter entgegen, dann blieb er stehen und erwartete sie.
* Fartuloon überwand seine Überraschung und wußte sofort, daß keine Gefahr von dem alten Mann drohte, wer immer er auch sein mochte. »Wer bist du?« fragte er verblüfft, und er war noch verblüffter, als der Alte ihm in seiner eigenen Sprache antwortete: »Ich bin Teron, der Älteste meines Stammes. Die Königin Kara schickt mich, damit ich dir Fragen stellen kann. Wirst du antworten?« Ischtar drängte sich neben Fartuloon: »Wer ist er und was will er? Wir haben keine Zeit …« Fartuloon schob sie ein wenig zurück. »Frage, aber beeile dich.« »Ihr seid mit einem großen Schiff gekommen, das nun um unsere Welt kreist? Warum kamt ihr?« »Wir suchen jemand. Was ist mit deinem Stamm? Lebt ihr schon immer hier?« »Das ist es, was wir wissen wollen. Es heißt, unsere Vorfahren kamen einst von einer anderen Welt, in einem Schiff, das sie hier absetzte und wieder wegflog. Aber das muß schon lange her sein, viele Generationen. Warum wurden unsere Vorfahren zurückgelassen? Ihr müßt es wissen!« Fartuloon verneinte durch eine Kopfbewegung. »Nein, wir müssen es nicht wissen, denn wir wissen nicht, was damals geschah. Und warum es geschah. Aber es ist möglich, daß eure Vorfahren Meuterer waren, die dazu verurteilt wurden, den Rest ihres Lebens auf
50 dieser unberührten Urwelt zu verbringen. Sie überlebten, ihr seid die Nachkommen.« »Ja, so ist es gewesen!« stimmte Teron zu. »Nun weiß ich, daß die Überlieferungen nicht logen. Ihr seid also nicht gekommen, um uns in die alte Heimat zurückzuholen?« Fartuloon erkannte mit einem Schlag die ganze Tragik der damals Ausgesetzten, aber er konnte ihr Schicksal nun auch nicht mehr ändern. Schon gar nicht das der Nachkommen, die eine neue Heimat gefunden hatten und sich im Großen Imperium der Arkoniden nicht mehr zurechtfinden würden. »Nein, deshalb sind wir nicht gekommen, aber wir werden von eurem Schicksal berichten. Vielleicht kümmert man sich darum. Grüße deine Königin und deinen Stamm. Wir müssen weiter.« »Warum wollt ihr nicht unsere Gäste sein? Es gibt noch viel zu berichten. Versteht doch: Wir haben die Erinnerung verloren.« »Vielleicht ist das gut so, mein Freund.« »Ich bin Teron, der Älteste des Stammes, und ich bitte dich, unsere Einladung anzunehmen: Kara würde mir zürnen, wenn ich ohne euch zurückkehrte.« »Sie wird nicht zürnen«, versprach Fartuloon und griff in seine Tasche. »Hier, nimm das für sie mit, als Geschenk von uns. Es ist ein Instrument, mit dem sich immer und ewig Feuer machen läßt. Du mußt nur auf den Knopf drücken. Ihr werdet es gebrauchen können.« Teron nahm das kleine, flache Kästchen und schob es in die Falten seines Lendenschurzes. »Ihr wollt uns also wirklich wieder verlassen?« »Ja, denn wir müssen, Teron. Lebe wohl, und nochmals: grüße deinen Stamm und Kara. Und nun weiche zurück, bis die Zweige dich schützen. Wir gehen jetzt ins Schiff.« Teron zögerte, dann wandte er sich um und ging. Er tastete sich über den Stamm und hielt sich an den darüberhängenden Zweigen fest, bis er einigermaßen sicheren Boden in Form eines Pflanzenteppichs er-
Clark Darlton reichte. Da blieb er stehen und drehte sich wieder um. Die drei Fremden kletterten durch die Luke unter dem Schiff in dessen Inneres, nachdem der helle Schein wie durch ein Wunder erloschen war. Die Luke schloß sich, und wenig später schwebte das Schiff langsam nach oben, gewann dann schnell an Höhe und verschwand in den von dem Vulkan herantreibenden Wolken. Teron war wieder allein. In seiner Tasche fühlte er den kleinen Kasten, mit dem man Feuer machen konnte. Natürlich kannten die Koniden das Feuer, aber es war immer schwer, eines zu machen, weil das Gerät dazu nicht mehr richtig funktionierte. Jetzt würde es einfacher sein. Er fand in der Dunkelheit den Weg zurück zu den wartenden Jägern und berichtete ihnen von seiner Begegnung mit den Fremden. Sie wollten ihm nicht glauben, aber sie mußten es, als er ihnen das Feuerzeug zeigte. Noch bevor der Morgen endgültig anbrach und es hell wurde, erreichten sie das Lager hoch oben unter den letzten Zweigen. Das Feuer brannte nur mäßig, und einer der Jäger hielt Wache. Er sprang auf, als er die Rückkehrer bemerkte. »Wecke die Königin«, befahl Teron, sich seiner neuen Autorität vollauf bewußt. »Ich werde ihr dann berichten, was geschehen ist.« Kara wirkte verschlafen, aber als sie die Jäger und Keron am auflodernden Feuer sah, wurde sie munter. Schnell kam sie herbei. »Was haben die Fremden gesagt, Teron? Wo sind sie?« Er berichtete wortreich von seiner Begegnung mit den beiden Männern und der Frau, wobei er reichlich übertrieb und seine Rolle als Vermittler hochspielte. »Nun gut, Teron, wir haben Gewißheit und werden sie unseren Kindern weitererzählen. Doch unser Leben geht weiter. Wir gehören hierher, auf unseren Baum und in unser Dorf. Jene, die mit uns verwandt sein mögen, sind nun Fremde für uns. Wir haben
In der Hand des Henkers
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nichts mehr mit ihnen gemeinsam und sie würden uns nur auslachen, wenn wir zu ihnen zurück wollten. Die Fehler der Vergangenheit lassen sich nicht mehr ändern. Sie lassen sich auch nicht rückgängig machen. Bron, du wirst morgen auf die Jagd gehen und ein Fenar mitbringen.« Damit war für Kara das Thema erledigt. Aber auch für die übrigen Jäger und Frauen des Stammes. Die Männer gingen schlafen, denn sie hatten drei Tage und Nächte gewacht, während die Frauen sich an ihre gewohnte Arbeit machten. Auf Teron achtete niemand mehr. Er war für einige Stunden der Held gewesen, nun vergaß man ihn bereits wieder.
* Und noch einen gab es, der mit sich und seinem Schicksal nicht vollauf zufrieden war: Morvoner Sprangk. Er hatte einige Stunden geschlafen und war in den Kontrollraum zurückgekehrt, obwohl es nichts für ihn zu tun gab. Die FARNATHIA umlief auf einer stabilen Kreisbahn den Planeten Zercascholpek, und das Doppelpyramidenschiff blieb immer in der gleichen Entfernung. Magantilliken war noch nicht an Bord zurückgekehrt, was Fartuloons Verdacht bekräftigte, daß eine vorbereitete Falle auf ihn und seine beiden Begleiter wartete. Und er, Morvoner, war nicht dabei! Er versuchte, ständigen Kontakt mit Fartuloon zu halten, was aber immer nur für kurze Zeit möglich war, denn sobald die FARNATHIA unter den Horizont tauchte,
brach jede Verbindung ab. Fartuloon hatte ihm die ungefähre Lage des Vulkanbaums geschildert, in dem Atlan sich aufhielt, aber bisher waren seine Versuche, ihn auf dem Bildschirm zu entdecken, vergeblich gewesen. Trotz der starken Vergrößerung war es ihm unmöglich, den Vulkan und den Baum an dessen Hang zu finden. Sie sahen fast alle gleich aus. »Sie schaffen es diesmal auch ohne mich«, tröstete er sich selbst, als er vor den Kontrollen saß und der Funkkontakt durch den steigenden Horizont unterbrochen wurde. »Hoffentlich …« Unten aber, tief unter den dunklen Rauchwolken der Vulkane, glitt das Beiboot Fl über den Baumdschungel hinweg, nahm größere Fahrt auf und überquerte einen großen See. Auf der anderen Seite erhoben sich die Kegel einiger Vulkane. Fartuloon deutete nach vorn. »Ich bin mir nicht sicher aber das könnten sie sein.« Ischtar warf Ra einen bezeichnenden Blick zu. »Es wird auch Zeit«, sagte sie nur und starrte wieder in Flugrichtung. Ra blieb stumm. Im Innersten seines Herzens begann erneut der unheilvolle Kampf zwischen dem Wunsch, Ischtar zu besitzen und seiner Freundschaft zu Atlan, der gerettet werden mußte.
ENDE
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